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German Pages 266 [270] Year 2022
Luxus Perspektiven von der Antike bis zur Neuzeit Herausgegeben von Elisabetta Lupi und Jonathan Voges
Geschichte Franz Steiner Verlag Franz Steiner Verlag
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contubernium Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte
Luxus Perspektiven von der Antike bis zur Neuzeit Herausgegeben von Elisabetta Lupi und Jonathan Voges
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Georges Seurat. Un dimanche après-midi à l'Île de la Grande Jatte, 1884–1886. The Art Institute of Chicago. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13259-6 (Print) ISBN 978-3-515-13261-9 (E-Book)
INHALT Elisabetta Lupi/Jonathan Voges Luxus – ein Spiegel der Gesellschaft? Einleitung........................................ 7 PARADIGMEN DER FORSCHUNG. LUXUS UND REGIERUNGSFORMEN Jan B. Meister Luxusbeschränkung und antike Demokratie .............................................. 31 DAS SOMBART’SCHE „WEIBCHEN“? LUXUS UND GESCHLECHT Melanie Meaker Von Blumenkränzen, Salbölen und Purpurgewändern. Luxus und Geschlechterrollen im archaischen Griechenland ...................................... 51 Jonathan Voges Ein Luxus(fremd)körper in der ‚nivellierten Mittelstandsgesellschaft‘? Rosemarie Nitribitt und die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland der 1950er Jahre .................................................................... 81 IMITATION UND/ODER ERFINDUNG? LUXUS DER ANDEREN Berit Hildebrandt Vulgäre Imitatoren oder Trendsetter? Antike und moderne Diskurse um den Luxus der Freigelassenen ............................................................ 103 Wolfgang Wüst Luxus macht erfinderisch. Ökonomische Zwänge und Repräsentationsverpflichtung unter Mindermächtigen im Alten Reich. Fallstudien zu Süddeutschland ................................................................. 127 PRESTIGE UND KARRIEREWEGE. POLITIK, ÖKONOMIE UND LUXUS Elisabetta Lupi Der Kleideraufwand des Alkibiades und der Vorwurf der Tyrannis. Ein Diskurs über die sozio-ökonomischen Kosten des Luxuskonsums in der demokratischen Polis Athen .......................................................... 153
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Inhalt
Anabelle Thurn Luxus in der politischen Debatte des antiken Rom .................................. 179 Benedikt Tondera „...und Sie erscheinen an der Türschwelle in all Ihrer Herrlichkeit.“ Die Rolle des Luxus in Autobiographien hoher Beamter im späten Zarenreich ................................................................................ 197 AUSTERITÄT DER ELITEN. LUXUS, (SELBST)BESCHRÄNKUNG UND DISTINKTION Gunnar Seelentag Austerität als Ausdruck von ‚Kartellbildung‘. Das Beispiel Kretas in archaisch-klassischer Zeit ........................................................................ 223 Michaela Hohkamp Luxus – Dispositiv „im Spiel der Macht“. Explorationen zu einem epochenübergreifenden Thema aus der Perspektive einer Frühneuzeithistorikerin ............................................................................ 241 LISTE DER AUTORINNEN UND AUTOREN ..................................... 257 REGISTER ............................................................................................... 259
LUXUS – EIN SPIEGEL DER GESELLSCHAFT? Einleitung Elisabetta Lupi / Jonathan Voges 1. VIER BEISPIELE FÜR EINE STREITGESCHICHTE DES LUXUS I. In der antiken Stadt Cillium, einer römischen Kolonie wenige Kilometer westlich von Kasserine im heutigen Tunesien, befindet sich ein 14 Meter hohes Mausoleum. Errichtet hatten es die Flavier, ein Geschlecht berberischer Herkunft. Die Flavier hatten ihre civitas romana, ihr Bürgerrecht, dem Dienst eines Veteranen in den Auxiliartruppen zu verdanken und zählten im 2. Jahrhundert n. Chr. zur lokalen Elite. Bekannt ist dieses imposante Denkmal vor allem für seine ungewöhnlich lange metrische Inschrift: Zwei Poeme von 90 und 20 Versen (CIL 8.212–213) zu Ehren von T. Flavius Secundus schmücken die Vorderseite.1 Mehr als die Verdienste des Verstorbenen zelebrieren diese jedoch das Bauwerk selbst als ein Monument unvergänglicher Erinnerung.2 Die Errichtung dieses „bewundernswerten Meisterwerks“ (quis non hoc miretur opus), so lesen wir hier, sei die ehrenvollste Art, das eigene Vermögen zu verwenden, da es sich um Ausgaben für die Ewigkeit handele,3 nicht aber um Aufwendungen, „die von verschwenderischer Pracht zur Erfüllung eitler Sehnsüchte“ künden (et fusae vanis in amoribus errans / gloria luxuriae) wie fremdartige Gewänder, Edelsteine oder Kostbarkeiten vom Erythreischen Meer: Alle diese Güter führten nur zum Wettbewerb zwischen den Völkern (quam laedunt gentes vario certamine rerum) und seien des Gedenkens nicht wert. Dennoch fährt die Inschrift mit einer Auflistung von Luxusgütern aus verschiedenen Regionen
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Zur historischen Kontextualisierung des Denkmals, seiner Architektur sowie zur literarischen und epigraphischen Analyse der Inschriften s. Slim et al. 1993. CIL 8.212, 5–8: … imago / per quam prolatos homines in tempora plu[ra] / longior excipiat memoratio multaq(ue) seruet / secum, per titulos mansuris fortius annis. – „...ein Abbild, das das Andenken an die Menschen länger im Gedächtnis verwahrt, sodass sie stets bestehen, und das viele Einzelheiten bewahrt, denn dank der Inschriften wirken die Jahre stärker fort“ (Übers. E.L.). S. auch CIL 8.213, 4: Ecce Secundus adest iterum, qui pectore sancto non monimenta patri, sed noua templa dedit. – „Hier steht Secundus wieder vor uns, der mit reinem Herzen seinem Vater nicht ein Denkmal, sondern die Neuheit eines Tempels widmete“ (Übers. E.L.). CIL 8.212, 16–20: haec est fortuna melius laudanda facultas, / sic tibi perpetuas faciunt impedia sedes, / sic immortales scit habere pecunia mores / aeterno quotiens stabilis bene figitur usu. – „Dies ist die lobenswerteste Art, den Reichtum zu nutzen, denn so verschaffen sich die Aufwendungen eine unvergängliche Stätte, so lässt sich das Geld für die Ewigkeit nutzen, indem es dauerhaft einem endlosen Gebrauch gut dient“ (Übers. E.L.).
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fort: Griechenland biete Knaben, Spanien Olivenöl, Libyen Jagdtiere, der Osten Duftöle, Ägypten feine Gewänder (aus Pharos), Gallien Keramik, Kampanien edle Weine.4 Alles dies verliere schnell seinen Reiz, biete nur einen Moment der sinnlichen Freude und sei allein schon wegen seiner Vergänglichkeit zu vermeiden. Mit dieser Gegenüberstellung setzt diese Inschrift altbekannte republikanische und frühkaiserzeitliche Werturteile über den Luxusaufwand in Szene, die im 2. Jahrhundert n. Chr. auch die lokale Elite der Provinz erreicht hatten. Die Inschrift lädt uns ein, das Mausoleum selbst als Zeugnis des sichtbaren Reichtums der Flavier zu betrachten und koppelt deren Reputation an den Grabluxus und damit an den Aufwand zur Sicherstellung dauerhaften Nachruhms. Zugleich stellt sie mit der Aufzählung der Luxusgüter die vielfältigen Ressourcen des Imperiums dar, an deren Sicherung die Stifter durch ihre militärischen Dienste beteiligt waren. In gewisser Weise führt die Aufzählung der Luxusgüter eine Topographie der Sinnengenüsse und des Begehrenswerten vor Augen und verweist damit auf die Größe des Weltreiches. Mit dem Bauwerk und der Inschrift inszenierten sich die Flavier als Mitglieder nicht nur der lokalen Elite, sondern einer Reichselite, der durchaus ein prominenter Platz in der Erinnerungskultur des Imperium Romanum gebühre. II. „Keine KdF-Gruppen“ – diese Warnung fand sich keineswegs an Herbergen von Kritikern des Nazi-Regimes im europäischen Ausland, sondern mitten im Deutschen Reich der 1930er Jahre, und zwar in Baden-Baden.5 Nicht nur, dass man in der mondänen Kurstadt schon vor 1933 politische Aufmärsche untersagt hatte – eine Abmachung, an die sich offenbar auch die örtliche NSDAP hielt.6 Dies galt freilich nur während der Saison, in der sich die auswärtigen Besucher gestört hätten fühlen können. Sondern man wollte sich auch nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten keinesfalls den Nimbus des „Luxusbades“ dadurch gefährden lassen, dass man sich für alle Schichten der sogenannten ‚Volksgemeinschaft‘ geöffnet hätte. Der Urlaub in Baden-Baden sollte ein exklusives Vergnügen für die Gutbetuchten bleiben und dies insbesondere auch für die haute volée ganz Europas, die ausgerechnet ab 1933 ein ganz besonderes Vergnügen lockte – die Wiedereröffnung der Spielbank. Die Kurstadt blieb so bis zum Zweiten Weltkrieg ein Ort des Luxus, in dem die Vergemeinschaftungsbestrebungen des Nationalsozialismus bewusst unterlaufen wurden, um diesen Status nicht zu gefährden. Dass man die Stadtväter gewähren ließ, dass man ihnen gestattete, ihr Luxusreservat weiter zu betreiben, geschah sicher nicht nur, um den wohlhabenden Industriellen des Reiches einen Ort zu geben, an dem sie ungehemmt ihr Geld ausgeben konnten, sondern auch, um den internationalen Besuchern über die Fortführung des Baden-Badener Luxuslebens die vermeintliche ‚Normalität‘ des nationalsozialistisch beherrschten Deutschlands vorzuführen. Dies ist gerade deshalb so bezeichnend, weil 4 5 6
CIL 8.212, 28–31: Graecia cum pueris, Hispania Pallados usu, / uenatu Libyae tellus, Orientis amomo, / Aegyptos Phariis leuitatibus, artibus actis / Gallia semper ouans, diues Campania uino. Reimer 2005, 54. Reimer 2005, 15.
Einleitung
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Baden-Baden zugleich auch als „Judenbad“ verschrien war7, wohingegen anderswo der Ausschluss von Jüdinnen und Juden vom Kurbetrieb bereits seit dem 19. Jahrhundert üblich war.8 III. Großbritannien in den 1950er Jahren: Durch die Straßen zogen Gruppen von Jugendlichen, die nicht allein durch ihre zuweilen auftretende Gewaltbereitschaft auf sich aufmerksam machten, sondern auch durch ihre Kleidungswahl: „Jugendliche Dandys aus der Arbeiterklasse“ wandelten als Wiederkehrer edwardianischer Gentlemen durch London – und provozierten. Das taten sie eben nicht nur, weil sie recht bald mit gewalttätigen Ausschreitungen in Verbindung gebracht wurden, sondern allein schon wegen ihrer außergewöhnlichen Aufmachung. Sie machten sich einer „modischen Provokation […] gegen die Konventionen der britischen Klassengesellschaft“ schuldig. Jugendliche Arbeiter nutzten die Insignien des englischen Adels der Jahrhundertwende, um sich mit Hilfe des vergangenen Luxus in ihrer Gegenwart selbstbewusst in Szene zu setzen – und damit die strenge Ordnung der Klassengesellschaft, die auch Luxusformen einzelnen Schichten zuteilte, herauszufordern.9 IV. Schließlich noch ein weiterer Zeitsprung, diesmal in die unmittelbare Vergangenheit: Wie schon Genießer des sogenannten Danziger Goldwassers seit Jahrhunderten wissen, ist Gold an sich geruchs- und geschmacksfrei. Wird es Speisen und Getränken zugesetzt, so geschieht dies allein aus symbolischen Gründen – um zu zeigen, dass man es sich leisten kann, ein Edelmetall herunterzuschlucken und dann dem Verdauungstrakt anheimzugeben (der im Grunde nichts damit anzufangen weiß und es unverarbeitet wieder ausscheidet). Welch problematische Symbolik der Verzehr von Gold aussenden kann, musste 2019 der Fußballprofi Franck Ribéry erfahren. Während eines Urlaubs in Dubai – auch dies ein inzwischen sprichwörtlicher Luxus-Ort – inszenierte er sich mit einem Steak, das über und über mit Blattgold belegt war, und brachte damit auch die Fans seines eigenen Vereins in Rage. Während diese sich zeitgleich über steigende Ticketpreise beklagten, befleißigte sich ihr Idol auf derart plumpe Weise eines kaum mehr zu überbietenden „demonstrativen Konsums“ (Veblen). Viel interessanter nun als Ribérys Vorliebe für alles, was glänzt, ist allerdings der Diskurs, der sich die „Affäre um sein Goldsteak“ entspann.10 Allein, dass die Medien von einer „Affäre“ sprachen, deutet darauf hin, dass es um mehr ging als die eventuell verirrten Konsumgewohnheiten eines Topverdieners. Ribérys Verteidigungsstrategie, darauf hinzuweisen, dass sein Privatleben (und damit seine Konsumgewohnheiten) nur ihn etwas angingen, verfing nicht11 – vor allem auch, weil der Koch, der das Steak kredenzte, Videos seiner
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Reimer 2005, 87. Allgemein zum Thema s. Bajohr 2003. Mrozek 2019, 65. Zum Begriff s. Hoß 2019. O.A., „Ich mache in meinem Privatleben, was ich will“, Ribéry und der FC Bayern. URL: https://www.welt.de/sport/fussball/bundesliga/article188838947/Franck-Ribery-ueber-seinGold-Steak-Ich-mache-im-Privatleben-was-ich-will.html; zuletzt aufgerufen am 27.01.2022.
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prominenten Gäste mit dem Stück kostspieligen Fleisch gerne für die eigene Publicity verwendet.12 Während dieser somit Luxus als erstrebenswertes Ziel und als Möglichkeit verkaufte, es den eigenen Idolen (das nötige Kleingeld vorausgesetzt) zumindest im Steakgenuss gleichzutun, entspann sich – wie angedeutet – gleichzeitig eine Debatte um den angemessenen Konsum. Teure Goldsteaks zählten ganz offenbar nicht zum akzeptablen Bereich, jedenfalls erntete Ribéry Häme und Kritik für sein Verhalten. Das konnte auch nicht mit dem Verweis gemildert werden, dass sich auch andere Fußballprofis und -funktionäre das gleiche Gericht hatten servieren lassen. 2. LUXUSDISKURSE ALS SPIEGEL DER GESELLSCHAFT: DIE DEBATTE SEIT DEM 19. JAHRHUNDERT Alle vier Beispiele machen deutlich, welche große Bedeutung Luxus und Luxusdiskurse für die Konstruktion individueller und gesellschaftlicher Identitäten haben und hatten.13 Luxus wird gewährt oder eben unterbunden, je nach politischem und soziokulturellem Kontext sowie nach historischen Akteurinnen und Akteuren, die sich zu einem luxuriösen Konsum hinreißen lassen und ließen.14 Luxus an sich ist sicher, wie es der Ethnologe Marc Abélès annimmt, ein universales Phänomen.15 Was hingegen jeweils als luxuriös angenommen wurde (und was vielleicht im Laufe der Zeit auch nicht mehr), war und ist dagegen historisch variabel und kann sich auch synchron in unterschiedlichen Gesellschaften unterscheiden. Doch nicht nur das, was jeweils als ‚Luxus‘ galt, veränderte sich im Laufe der Zeit; zugleich lässt sich ein fortlaufender Umwertungsprozess feststellen.16 Dieser Prozess ist auch in den wissenschaftlichen Diskursen zu beobachten, wie die Werke von Soziologen und Nationalökonomen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zeigen. Diskutiert wurden hier ökonomische und moralische Aspekte, wobei zwischen akzeptablen und schädlichen Varianten des Luxuskonsums unterschieden wurde. So bezeichnete 1878 etwa der Nationalökonom Henri Baudrillart (1821–1892) in seiner Abhandlung Histoire du luxe privé et public, depuis l’antiquité jusqu’à nos jours den Überfluss („le superflu“) als „chose très-nécessaire“.17 Baudrillart
12 O.A., Auf der Speisekarte von „Salt Bae“. Gold-Steak in Dubai nach Ribéry benannt. URL: https://www.bild.de/sport/fussball/fussball/franck-ribry-gold-steak-in-dubai-nach-ex-bayernstar-benannt-63071300.bild.html; zuletzt aufgerufen am 27.01.2022. 13 S. dazu allgemein Kaartinen/Montenach/Simonton 2015. 14 S. am Beispiel günstigen Schmucks im 19. Jahrhundert Carnevali 2011. 15 Abélès 2018, 9. In einer neueren Geschichte Europas gilt die Vorliebe nach Luxus gar als ein vereinigendes Element der europäischen Gesellschaften. S. Cardini 2017. 16 S. Coquery/Bonnet 2015; Wyrwa 2003. 17 Baudrillart 1878, 57.
Einleitung
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begründete die Aussage durch „l’insuffisance du nécessaire“ für den wirtschaftlichen Aufschwung.18 Angemessen sei für ihn der Luxus, der Arbeitsplätze schaffe und das Kapital mehre, anstatt es zu vergeuden. Aus moralischer Perspektive sei zudem auch der öffentliche Luxus akzeptabel, der das kulturelle Niveau der Masse erhöhe, beispielweise in Form von Freizeitangeboten (wie Festen, Tanzveranstaltungen oder Feuerwerken).19 Baudrillart forderte jedoch auch Einschränkungen des Luxuskonsums, denn es gebe einen „luxe abusif“, welcher zur moralischen Dekadenz beitrage und die Familie und den Haushalt ruiniere. Dies sei ein Luxus, der die Moral, den Anstand und den guten Geschmack („luxe absolu“) unterminiere sowie die finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen überschreite („luxe relatif“).20 Dieser Luxus sei keiner bestimmten Regierungsform vorbehalten – weder der monarchischen, noch der demokratischen oder der oligarchischen –, er finde sich überall.21 Grundsätzlich betrachtete Baudrillart es als ein Zeichen einer „vraie civilisation“, wenn der Luxuskonsum der jeweiligen ökonomischen Lage angemessen und darauf ausgerichtet sei, die Existenz vieler „douce et facile“ zu machen“. 22 Denn indem der Luxus eine größere Masse von Menschen erreiche und zum Allgemeingut werde, fiele er zwangsweise maßvoll aus. Hiermit deutet sich eine Verallgemeinerung des Wahlbedarfes als Programm an, welche für moderne Konsumgesellschaften typisch ist. Die Frage nach Konsumentinnen und Konsumenten sowie Funktionen des Luxuskonsums brachte jedoch nicht nur ideale Gesellschaftsentwürfe, sondern auch gesellschaftskritische Urteile hervor. So vertrat Karl Marx eine gegenüber Baudrillart gegensätzliche Sicht auf den Luxuskonsum. In seinem 1857/1858 verfassten Rohentwurf der Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie betrachtete er „die Luxusproduction“ als „nothwendiges Resultat des Sklavenverhältnisses“, das die „Arbeiter“ vom Konsum selbst ausschließe.23 Die „Ueberconsumtion und verrückte 18 Baudrillart 1878, 58. 19 Baudrillart 1878, 98: „Mettons enfin en regard de ces divagations deux vérités: 1° Nʼest acceptable moralement que ce genre de luxe qui tend à élever le niveau de la masse, au lieu de contribuer à abaisser les âmes et les caractères. – 2° Nʼest acceptable économiquement que ce luxe relatif et permis qui suscite réellement le travail et qui tend à créer plus de capital quʼil nʼen détruit.“ Vgl. Baudrillart 1878, 95: „Un bal, un feu d’artifice, sont des consommations improductives. Cela ne veut pas dire qu’elles sont nécessairement à blâmer: l’homme a besoin de distractions. Les consommations improductives peuvent même avoir un sens, un but très-élevé, par exemple dans certaines manifestations du luxe public.“ 20 Baudrillart 1878, 81–82. Zu Luxus und Moral s. Tellmann 2011. 21 Baudrillart 1878, 114–162. 22 Baudrillart 1878, 71: „Le luxe des époques où fleurit la vraie civilisation change de nature; il vise plus à rendre lʼexistence douce et facile; il est plus sain et de meilleur goût, et ne recherche plus guère un faste souvent gênant; il ne néglige point lʼéconomie et semble souvent un retour vers le naturel trop oublié. Le superflu devient plus sensé; une masse d’hommes plus grande est par cela même appelée à en jouir, et le luxe tend plutôt dès lors à se modérer en se généralisant.“ 23 Marx 2006, 345: „Die Luxusproduction, wie sie bei den Alten auftritt, indeß nothwendiges Resultat des Sklavenverhältnisses. Nicht Ueberproduction, aber Ueberconsumtion und verrückte Consumtion, die ins Ungeheuerliche und Bizarre ausschlagend den Untergang des alten
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Consumtion“ der „Herren“ bringe die ungerechten Verteilungsverhältnisse zum Ausdruck.24 Marx geißelte dabei die „grenzenlose Verschwendung“ der römischen Kaiserzeit.25 Die meisten Sozialwissenchaftler interessierten sich aber für die Wirkungen des Luxuskonsums und weniger für seine Motive. Sahen die einen im Luxus die Möglichkeit zur Verfeinerung des Geschmacks und zum Erleben ungeahnter Sinnesfreuden26, richteten die anderen den Fokus auf die vermeintlich verheerenden Folgen des Luxuskonsums.27 Dieser korrumpiere nicht nur die Konsumentin und den Konsumenten – Luxus wurde somit zum moralischen Problem –, sondern – so das ökonomische Argument – führe zugleich dazu, dass finanzielle Mittel in Bereiche investiert würden, in denen sie keinen wirtschaftlichen Mehrwert erzielten, sondern lediglich verausgabt würden.28 Dass sich auch Nationalökonomen fanden, die wie Baudrillart genau das Gegenteil annahmen, zeigt nur noch deutlicher, mit welchen unterschiedlichen Vorannahmen, theoretischen Konstrukten und weltanschaulichen Hintergründen man versuchte,29 dem (in vielen Fällen im wahrsten Sinne des Wortes30) schillernden Begriff ‚Luxus‘ wissenschaftlich dingfest zu machen. So schrieb etwa Werner Sombart31 dem Luxus eine zentrale Bedeutung beim Entstehen einer kapitalistisch organisierten Wirtschaft zu. In seinem 1913 erschienenen Buch Luxus und Kapitalismus betonte er die produktive Seite des Luxuskonsums, indem er einen Zusammenhang zwischen der Produktion für den Luxusbedarf, der Entwicklung von Gewerbebetrieben, der Ausweitung des Handelsnetzwerkes und schließlich der Mobilisierung von Kapital herstellt. Insgesamt lässt sich also feststellen, dass „Ambivalenz“ den Umgang der Moderne mit Luxus prägte, wie Weder und Bergengruen betonen.32 Ob dies allerdings ein rein modernes Phänomen ist, oder ob sich Vergleichbares nicht auch bereits in der Vormoderne finden lässt, ist eine Frage, die es zu untersuchen gilt. Gerade die angesprochene Heterogenität dessen, was jeweils unter Luxus verstanden wurde, lässt es ratsam erscheinen, keine Luxusdefinition vorzugeben, die
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Staatenwesens bezeichnet.“ Marx (2006, 427) versteht dabei Luxus als „Gegensatz zum Naturnothwendigen“. Zum Luxusverständnis in der DDR s. Merkel 2003. Marx 2006, 345. Marx 2006, 194: „Als geniessender Reichthum, z. B. in der römischen Kaiserzeit, erscheint er [der Wert] daher als grenzenlose Verschwendung, die auch den Genuß in die eingebildete Grenzenlosigkeit zu erheben sucht, durch Verschlingen von Perlsalat etc.“ Dazu s. Stewart 1918; Ferrero 1901. S. z. B. ebenfalls aus dem Umkreis des Luxusdiskurses der Jahrhundertwende Davidson 1892. Baldwin 1899. S. zu dieser Beobachtung auch Rittersma 2010. So zum Beispiel jüngst bei Edelsteinen (s. Siebenhüner 2015 und 2016) oder Gold (s. Grewe 2019). Zu Sombarts Leben und Werk s. Lenger 1994. Weder/Bergengruen 2011.
Einleitung
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in den unterschiedlichen historischen Kontexten Anwendung finden könnte.33 Schon Sombarts Versuch, Luxus als „jede[n] Aufwand“ zu begreifen, der „über das Notwendige hinausgeht“,34 scheitert spätestens mit dem Entstehen der Massenkonsumgesellschaften.35 Diese definieren sich per se gerade über das Faktum, dass in ihnen von immer mehr Personen mehr konsumiert werden kann, als eigentlich zum Leben notwendig wäre. Doch schon zu Sombarts Lebenszeit, einer Epoche, in der intensiv über den richtigen (Luxus-)Konsum gestritten wurde,36 war das „Notwendige“ keinesfalls so eindeutig zu bestimmen und sich dementsprechend zu verhalten, wie es die vermeintlich klare Definition Sombarts nahelegte (wenn man darin mehr sehen will als das reine physiologische Grundminimum). Und das galt auch schon früher: Helen Jacobson beschreibt beispielweise in einem Aufsatz den aufwendigen, ja luxuriösen Lebensstil des frühneuzeitlichen Earl of Arlington (1618–1685). Nur dieser erlaubte es ihm, zum Berater König Charlesʼ II. aufzusteigen; seine Karriere sei also ohne Luxuskonsum nicht denkbar gewesen, ja Luxus sei für ihn geradezu notwendig gewesen, um sein Amt ausfüllen zu können.37 Angesichts dieser statusbezogenen Bedeutung verstand Max Weber in seinem unvollendeten Werk Wirtschaft und Gesellschaft (1919/1920) den Luxus als „nichts ‚Überflüssiges‘“, sondern eben als eines der „Mittel der sozialen Selbstbehauptung“.38 Weber bezog sich dabei auf die Luxusbedürfnisse der feudalen Grundherren, die er den „Massenartikel[n], von denen der moderne gewerbliche Kapitalismus vornehmlich lebt“, gegenüberstellte.39 „Luxus“ sei eine „Ablehnung zweckrationaler Orientierung des Verbrauchs“ und das Ergebnis einer Lebensführung, die „das Gegenteil rationaler Wirtschaftsgesinnung“ erzeuge.40 Somit distanzierte sich Weber in soziologischer sowie ökonomischer Hinsicht von Sombarts Auffassung des Luxuskonsums.
33 Schwierig ist auch der Versuch Lambert Wiesings (2015), Luxus vor allem über das Empfinden und die Erfahrung des Konsumenten und der Konsumentin zu definieren. Dieser philosophische Ansatz kann zwar auf der einen Seite auch Anregungen für eine Erfahrungs- und Emotionsgeschichte des Luxus bieten, er reflektiert aber zu wenig, dass auch diese Gefühle und Erfahrungen gesellschaftlich vorgeprägt sind – um die Frage, was in einer betreffenden Gesellschaft unter ‚Luxus‘ verstanden wird, kommt man also nicht umhin. 34 Sombart 1913, 71. 35 S. mit einer interessanten disziplingeschichtlichen Volte zur Konsumgeschichte, die erst dort ansetzen könne, wo es nicht mehr allein um den Luxuskonsum von Oberschichten gehe, Beck 2003. 36 Insbesondere um die Jahrhundertwende kam es zu einer intensiven Debatte um Luxus, die ihren Niederschlag in der Folge auch in der Luxusforschung fand – und das zum Teil bis heute, weil sie sich noch immer auf diese Theoretiker bezieht. S. zur Debatte im Kaiserreich Breckman 1991. 37 Jacobson 2009. 38 Weber 2005, 449. 39 Weber 2005, 439. 40 Weber 2005, 449.
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Ein anderes Beispiel, das uns die Grenzen des Sombart’schen Ansatzes verdeutlicht, stammt aus der unmittelbaren Vergangenheit: „Ihren exklusiven Geschmack können sich viele Sapeurs eigentlich nicht leisten“ – so eine Beschreibung der „Fashion Battles“ 2018 auf den staubigen Straßen von Brazzaville (Kongo). 41 Dennoch kleideten sich die Mitglieder der Société des Ambianceurs et des Personnes Élégantes in teure Markenoutfits europäischer Provenienz und flanierten damit dandyhaft als Symbol „für Stolz und Selbstbewusstsein der kongolesischen Kultur“ durch die afrikanischen Slums.42 Um sich ein solches Equipment leisten zu können, verzichteten sie auch auf grundlegendere Anschaffungen, wie zum Beispiel gar auf Grundnahrungsmittel, Alltagskleidung oder besseren Wohnraum 43 – also auf das Sombart’sche „Notwendige“.44 Nichtsdestotrotz bieten die Luxustheoretiker der Jahrhundertwende auch heute noch anregende Gedanken, um über die Beziehung von Luxus und Gesellschaft in unterschiedlichen historischen Kontexten nachzudenken. Bei Sombart ist dies sicher zum einen die These der engen Beziehung von Luxus und wirtschaftlicher Entwicklung, die jedoch heute wohl niemand mehr derart teleologisch (mit klarem Fixpunkt in der kapitalistischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts) vertreten dürfte, wie Sombart das noch tat.45 Dasselbe gilt gewiss auch für Sombarts zweite grundlegende Annahme – den engen Konnex von Luxus und wirtschaftlicher Entwicklung auf der einen und die Rolle der Frauen und insbesondere der „illegitimen Liebe“ auf der anderen Seite.46 Denn für ihn spielten die Frauen, und insbesondere die „Maitressen“, als Objekte der männlichen Begierde eine zentrale Rolle als Luxuskonsumentinnen.47 Zwar breitet Sombart zu diesem Fragenkomplex einen ganzen Fächer an empirischen Fallbeispielen insbesondere aus dem Europa der Frühen 41 O.A., Kongos Dandys: Die Sapeurs von Brazzaville, in: Spiegel Online 21.09.2018. URL: http://www.spiegel.de/stil/sapeurs-in-brazzaville-kongos-dandys-a-1229313.html; aufgerufen: 11.03.2022. 42 Sabine Bohland, Demokratische Republik Kongo: Eleganz im Elend. Weltspiegel 19.02.2018. URL: https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/sendung/kongo -sapeurs100.html; aufgerufen am 11.03.2022. 43 Thomasʼ Grundannahme, „die fortschreitende Sättigung materieller Grundbedürfnisse bedingt also eine Zunahme der relativen Wichtigkeit sozialer Konsummotive wie das Streben nach Status und Prestige“ (Thomas 2007, 1; s. auch S. 215), zeigt hier die Grenze ihrer vermeintlichen Allgemeingültigkeit. 44 Interessant sind deshalb auch Luxusdefinitionen, die gar keine materielle Grundlage mehr zu haben scheinen, sondern schlichtweg anhand der Intention der aufgewendeten Mittel zu definieren suchen, wann Luxus vorliege. S. Sidgwick 1894, 3: „The sin of luxury […] lies mainly in the spirit and intention of expenditure.“ Zur Diskussion des Beitrags von Sidgwick s. auch Stewart 1918. 45 Nichtsdestotrotz macht z. B. Smith deutlich, wie eine Ökonomie vorrangig auf Luxusproduktion basieren könne – nämlich die schweizerische. S. Smith 2004. Allgemeiner zu „economies of quality“, denen mit der Luxusproduktion entsprochen werden kann, s. auch Jeggle 2010. 46 Sombart 1913, 45–69. 47 Vgl. Baudrillart 1878, 90: „Nous avons eu sous les yeux les dangers que la vie luxueuse crée pour la femme, peut-être encore plus soumise à la tyrannie des habitudes, plus violemment
Einleitung
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Neueit aus, anhand derer er die Bedeutung von „Kurtisanen“ und „Luxusweibchen“ zu belegen sucht, jedoch sind die Zusammenhänge nicht so eindeutig.48 Das beginnt bereits damit, dass männlicher Luxuskonsum für Sombart gar keine Rolle spielte.49 Ähnliches ließe sich auch über den zweiten zentralen Luxustheoretiker sagen, dessen Auseinandersetzung mit dem Thema ebenfalls in der Epoche der „langen Jahrhundertwende“ erschien, den Soziologe Thorstein Veblen.50 Sein Werk über die amerikanische „leisure class“ des späten 19. Jahrhunderts (1899) ist nicht nur zum soziologischen Klassiker avanciert, sondern wird auch in der Geschichtswissenschaft (quer durch die Epochen, auch das hat er mit Sombart gemein) breit rezipiert. Dies liegt wohl vor allem daran, dass sich seine Begrifflichkeiten durch eine ungemeine Anschaulichkeit auszeichnen. Als „demonstrative Vergeudung von Gütern“ („a waste of goods“) fasste Veblen den Konsum auf, der keinem notwendigen Bedürfnis und finanziellen Gewinn diene, sondern schlicht überflüssig und unnütz sei. Unter diesem „demonstrativen Konsum“ kann man sich auch bereits vorwissenschaftlich etwas vorstellen, alle meinen Personen zu kennen, die „conspicuous“ konsumieren.51 Das Gleiche gilt aber auch in der Wissenschaft: Der Begriff ist schnell bei der Hand, wenn bewiesen werden soll, wie durch (Luxus-)Konsum Grenzen gezogen und Hierarchien verfestigt oder erst einmal aufgebaut werden sollen, denn Veblen stellte Fleiß und Sparsamkeit der „niederen Schichten“ bzw. der „arbeitenden Klassen“ der „demonstrativen Muße“ der „besitzende[n] Oberklasse“ gegenüber.52 Ihn beschäftigten Fragen nach den „Normen der Wohlanständigkeit“, und zwar nach den „Konsumnormen“,53 ebenso wie die Auslegung der Rolle der Frau, die in Veblens Ansicht „nur im Interesse ihres Herrn konsumieren“ darf (Konzept des „stellvertretenden Konsums“)54. Veblen sei somit nicht nur „the best critic of America that America has produced“,55 sondern liefert auch ein soziologisch leicht anwendbares Modell zur Interpretation von Konsumverhalten. Ob der Begriff „demonstrativer Konsum“ tatsächlich immer einen analytischen Mehrwert bringt,
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attachée aux recherches de parure, plus exposée à souffrir des comparaisons que fait naître perpétuellement ce quʼon nomme le monde, plus esclave des compétitions effrénées de la vanité, enfin plus sujette à lʼennui du désœuvrement.“ Und Sombart öffnete mit seinem Beitrag misogynen Interpretationen von Luxus Tür und Tor; Fiske 1922 etwa versuchte gar das vermeintlich typisch weibliche Streben nach Luxus zur Ursache eines jeglichen Krieges zu (v)erklären. Die Bedeutung des männlichen Luxus wird hingegen in einigen Aufsätzen in diesem Sammelband deutlich, in denen Männer und ihr Luxus explizit zum Thema gemacht werden. S. die Beiträge von Meister, Meaker und Lupi. S. zu dessen Biographie nun Camic 2020. Campbell 1995, 38: „The term conspicuous consumption … is not familiar only to most sociologists; it has become part of everyday language.“ Veblen 1997, 51. Veblen 1997, 119–120. Veblen 1997, 83. Mills 1953, vi.
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ist dagegen fraglich, droht er doch zum Allround-Plastikwort der konsumhistorischen Forschung zu verkommen.56 Alle diese Texte stellen nur einige Zeugnisse eines wissenschaftlichen Diskurses dar, der ‚Luxus‘ als Kategorie der politischen und ökonomischen Analyse betrachtet. So beschäftigte das Thema im Zeitraum von 1900 bis 1914 nicht nur Soziologen oder Nationalökonomen, sondern auch die aufkommenden Massenmedien und traf auf das große Interesse eines bürgerlichen Publikums. Hier drückte sich der Anspruch des Bürgertums aus, verantwortlich für das Wohlergehen der Nation zu sein, die Geschmacksführerschaft bewahren zu wollen, gleichzeitig aber auch Luxus als Lohn für Strebsamkeit und Fleiß anzuerkennen.57 Doch diese Texte stehen auch beispielhaft für einige Fragen, welche die Luxusforschung seither beschäftigen: die Verbindung der Luxusentfaltung mit Regierungsformen und soziopolitischen Institutionen (oder andersherum ihre Ablehnung durch jene), die Zwecke des Luxuskonsums und seine ökonomischen Auswirkungen, die soziale Zugehörigkeit der Luxuskonsumentinnen und -konsumenten sowie die Exklusivität ihres Kreises oder die Auswirkung des Luxuskonsums auf soziale Hierarchien. Es ist daher weniger überraschend, dass die Werke Veblens und Sombarts noch immer wichtige analytische Konzepte und Kategorien für die historische Interpretation liefern. Auf ihre Kernaussagen reduziert, stehen ihre Luxustheorien für die sozialen und ökonomischen Auswirkungen des Luxuskonsums.58 Uns geht es mit diesem Sammelband nicht darum, diese Konzepte ad acta zu legen, sondern vielmehr zu fragen, wie sie jenseits der pflichtschuldigen Anführung in Studien, welche sich zum gehobenen Konsum äußern, auch heute noch sinnvoll Anwendung finden und welche anderen theoretischen Modelle neue Perspektiven für die Auslegung der historischen Luxuspraktiken bieten können.
56 Campbell 1995, 38: „Veblen’s term is often used in little more than a vague descriptive sense to refer to any nonutilitarian forms of consumption.“ Campbell kritisiert die fehlende Systematik bei Veblens Behandlung der Motivation, Funktion und Durchsetzungsfähigkeit des demonstrativen Konsums. So bleibe bei der Analyse Veblens der soziale Erfolg eines solchen Konsumverhaltens außer Acht, da zwischen Intention und Wirkung kein zwingender kausaler Zusammenhang bestehe. Dies gilt besonders dann, wenn man das Watzlawick’sche Diktum ernst nimmt, dass es unmöglich sei, „nicht zu kommunizieren“, und man gleichzeitig Konsum immer auch als nach außen wirkendes Kommunikationsangebot versteht. So wird es unmöglich, nicht demonstrativ zu konsumieren. S. auch spezifisch für die Antike die Kritik von Veyne 1988, 96: „Luxus, ostentative Schenkungen, Mäzenatentum und aus Reichtümern stammendes Prestige stellen eine verworrene Einheit dar, innerhalb derer es viele Dinge zu unterscheiden gilt.“ 57 S. für das deutsche Kaiserreich Breckman 1991. 58 Auf Sombarts und Veblens Modell stützt sich neuerlich auch die volkswirtschaftliche Untersuchung von Tobias Thomas (2007). Angesichts der Marktnachfrage für Statusgüter unterstützt Thomas die These, dass das demonstrative Konsumverhalten eine „potentiell effizienzfördernde Wirkung“ auf die Wirtschaft habe und deshalb Luxusgüter nicht besteuert werden sollten.
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3. LUXUSFORSCHUNG: EIN EPOCHENÜBERGREIFENDER DIALOG Betrachtet man exemplarisch die Altertumswissenschaften, so lässt sich feststellen, dass Sombart und vor allem Veblen wichtige Referenzautoren sind, um den Luxuskonsum in den antiken Gesellschaften zu deuten und in einen breiteren soziologischen Rahmen einzuordnen. Dabei ist vor allem die Perspektive der Konsumentinnen und Konsumenten in den Fokus geraten. Die distinktiven Zwecke des Konsums und ihre Folgen für die soziale Rangordnung sind Gegenstand zahlreicher kulturhistorischer Studien.59 Veblens Konsumtheorie stellt ein Deutungsangebot zum Verständnis der Zirkulation und der identitätsstiftenden Funktion von Luxusgütern dar, die hinsichtlich ihrer Materialität sowie ihrer Einbettung in exklusive soziale Praktiken untersucht wurden. Dabei geht es um exquisite Speisen, kostbare Ausstattungen, gemusterte Gewänder sowie auch um Rohstoffe wie feine Wolle und Purpur: Sie alle werden als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Statusgruppe sowie als Markierung der Geschlechterdifferenz verstanden. So widmet sich etwa Beate Wagner-Hasel in zahlreichen Publikationen den ostentativen Zwecken des Kleideraufwandes im homerischen Epos sowie auch in der späten römischen Republik und frühen Kaiserzeit. In Anlehnung an Veblen versteht Wagner-Hasel das Material (etwa feine Wolle), die Farbe (etwa Purpur) oder die Musterung von Textilien als Statuszeichen der homerischen basilees und als Zeugnisse ihres elitären Zugriffs auf überregionale Ressourcen sowie auf Arbeitskräfte für Spinn- und Webdienste.60 Dabei ordnet sie den Konsum von Textilien als Gastgeschenke, Totengaben und Weihgaben in „die homerischen Herrschaftspraktiken“ ein.61 Für die römischen Befunde richtet sich ihr Interesse auf die politische Symbolik des demonstrativen Verbrauchs von Gütern (Speiseluxus und Canusinische Wolle) und sie diskutiert – wiederum ausgehend von Veblens Konsumtheorie – die moralischen Wertaussagen, die in der späten Republik sowie in der frühen Kaiserzeit anhand des Luxuskonsums über politische Ordnungen getroffen werden.62 Auf Veblen rekurriert auch Elke Hartmann, um die senatorische Konkurrenz in Statusfragen zu erfassen und den damit verbundenen Diskurs um den Luxuskonsum zu deuten. Ihr zufolge habe Veblens Konsumtheorie den Vorteil, „die Teilhabe am Konsum nicht als individuelle, sondern als soziale Handlung“ zu verstehen.63 So sei die „ostentative Selbstdarstellung“ „ein entscheidendes Charakteristikum der senatorischen Existenz“, und die Fragen nach dem demonstrativen Konsum seien im Diskurs über Luxus und Aufwand verhandelt worden.64 Hier spiegelt sich das 59 Wagner-Hasel 2016, 40–41. 60 S. etwa Wagner-Hasel 2007, 333. 61 Zum Kleideraufwand als Machtsymbol s. etwa Wagner-Hasel 2007 und Wagner-Hasel 2012, als Gastgeschenk Wagner-Hasel 2000, als Totengabe und Weihgabe Wagner-Hasel 2006, als Mitgift Wagner-Hasel 2009a. 62 Wagner-Hasel 2000, bes. 328–329 zu Veblen, und Wagner-Hasel 2016 am Beispiel der Canusischen Wolle, bes. 40–41 zu Veblen. 63 Hartmann 2016, 152. 64 Hartmann 2016, 151–153.
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Interesse der jüngsten Forschung an der politischen Kultur der Republik und des Principats, welche Macht als kommunikativen Prozess versteht.65 Dabei rücken die Formen und Praktiken zur Inszenierung der Rangordnung, ihre „Sichtbarkeit“ durch Zeichen wie die Kleidung sowie die Wertvorstellungen und Sinnkonzepte ins Zentrum der Aufmerksamkeit.66 So versteht etwa Elke Stein-Hölkeskamp das römische Gastmahl als Ort des Politischen, wo soziale Homogenität und Hierarchie ausgehandelt werden. In Anlehnung an Veblen deutet sie den Verbrauch von Glasund Kristallgefäßen und die extravaganten kulinarischen Leckereien als besondere Form der „demonstrativen Verschwendung“ und deshalb auch als Statusdemonstration.67 Karl-Joachim Hölkeskamp verweist auf Veblen im Hinblick auf den „demonstrative[n] Aufwand bei Begräbnissen und Spielen, Triumphen und Tempelbauten“, der nicht „nur selbstverständlich statuskonform, sondern für die (Erhöhung der) existimatio des nobilis und die Erfüllung der mit seinem Status verknüpften Erwartungen, Verpflichtungen und Funktionen zwingend notwendig [war]“.68 Dient die Beschäftigung mit Veblen hier vornehmlich der Deutung des senatorischen und kaiserlichen Konsumverhaltens,69 bildet die Auslegung der Luxuspraktiken der Aristokratie im archaischen Griechenland eine weitere Grundlage für den Rekurs auf seine Theorie. Stein-Hölkeskamp interpretiert die Beschäftigung der archaischen Aristokratie mit „Kampf, Jagd, Pferdezucht, Sport, Symposien, Musik und Poesie“ als Zeichen für eine „Lebensart einer vom Zwang zu produktiver Arbeit weitgehend freien ‚leisure class‘“.70 In einer solchen „Kultur der Sichtbarkeit der performativen Selbstinszenierung“ würden Rang und Status durch Performanz generiert.71 Oswyn Murray rekurriert ebenfalls auf Veblen, um den „lifestyle designating the privilege of the leisure class“ – so etwa die Teilnahme am Symposion – zu deuten.72 Festmähler, Zechgelage sowie alle „leisure activities“ im Veblenʼschen 65 Hölkeskamp 2017, 464. 66 Hölkeskamp 2017. 67 Stein-Hölkeskamp 2005, 154; Stein-Hölkeskamp 2019, 11 und 90 mit Bezug auf die seidenen Kleider, deren Deutung als Statusdemonstration in der Antike aber nicht unbestritten sei. 68 Hölkeskamp 2011, 229 mit Anm. 232. Vgl. Schneider 2011, 122 mit Anm. 56 mit Verweis auf Veblen: „Der Luxus der senatorischen Oberschicht war Ausdruck einer Verfeinerung der Lebensweise sowie der Alltagskultur und diente außerdem der demonstrativen Zurschaustellung von Reichtum und sozialem Rang.“ Auch die „Freiheit von der Notwendigkeit, sich der dauernden Sicherung der eigenen Existenzgrundlage widmen zu müssen“, und die damit verbundene ausschließende Beschäftigung der römischen Nobilität mit Politik und Krieg erklärt Hölkeskamp 2011, 227–228 mit Anm. 217 und 219 durch Veblens Theorie. 69 Das Konzept vom demonstrativen Aufwand ist daher ein traditioneller Erklärungsansatz des Konsumverhaltens der römischen Senatsaristokratie und der Kaiser geworden, wie noch die Untersuchung von Dubois-Pelerin 2008 über den Luxuskonsum im 1. Jahrhundert n. Chr. zeigt. S. auch die populärwissenschaftliche Publikation Weeber 2015, die auf Veblen implizit rekurriert. 70 Stein-Hölkeskamp 1989, 110. S. Stein-Hölkeskamp 2018, 48 mit Anm. 12. 71 Stein-Hölkeskamp 2018, 52. Dass soziale Praktiken die Zugehörigkeit zur Elite begründen, ist die grundlegende These der Untersuchung von Duplouy 2006. 72 Murray 2009, 521.
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Sinn dienten nach Hans van Wees und Nick Fisher der Konstituierung einer elitären Klasse, indem sie es ermöglichten, den individuellen Status („personal status“) in einen Gruppenstatus („status-group membership“) umzuwandeln.73 Auch Christian Mann meint, dass Veblens Beschreibung von Luxus und Müßiggang die „Lebenswelt“ und das „Prestigestreben“ der archaischen Aristokratie präzise erfasse.74 Neben dem „Zwang zur Prachtentfaltung“ erwähnt Mann „die laut Veblen unproduktiven Tätigkeiten wie Sport, Tanz, Gesang“ sowie „die zugehörigen Institutionen, Gymnasion und Symposion“, welche „als Bestandteile einer exklusiven aristokratischen Lebenswelt betrachtet [wurden]“.75 In jüngster Zeit hat Wolfgang Filser in seiner Analyse der attischen Luxuskeramik Veblens Theorie aufgegriffen, um „die elitären Verhaltensweisen der attischen Elite sowohl im Kontext ihrer eigenen Kultur, als auch über diese hinaus im Vergleich mit anderen zu verstehen.“76 Ihm zufolge sei „das System Veblens bestens dazu geeignet, eine Elite, wie jene Athens es war, also eine auf individuellen Reichtum sich stützende Oberschicht, zu analysieren.“77 Zuletzt hat Jan B. Meister das Konzept des „demonstrativen Konsums“ aufgegriffen, um „Differenzierungs-Möglichkeiten“ im archaischen Griechenland zu beschreiben, wie etwa Kleiderluxus oder „das Symposion als wichtigen Ort des demonstrativen Konsums“.78 Im Vergleich zu Veblens Konsumtheorie hat das Modell Sombarts über die wirtschaftlichen Auswirkungen des Luxuskonsums auf Produktion und Handel weniger Anwendung in der althistorischen Forschung gefunden. Wenn wir davon absehen, dass im frühen 20. Jahrhundert auch Althistoriker wie Eduard Meyer und Ernst Buschor die Existenz eines Zusammenhanges zwischen Urbanisierung, Luxusbedarf, Handelsaufschwung und Arbeitsteilung annahmen,79 hat vor allem Hans Kloft die Bedeutsamkeit der Überlegungen Sombarts für die althistorische Forschung herausgestellt. Er fragt danach, inwieweit Sombarts Schlussfolgerung über die Funktion des Luxus als ökonomischer Entwicklungsfaktor „einige Erscheinungen der römischen Wirtschaft in der Kaiserzeit besser verstehbar machen.“ 80 Kloft betrachtet dabei die ökonomischen Auswirkungen des Konsums von Luxusgegen-
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van Wees/Fisher 2015, 38. Mann 2007, 186. Mann 2007, 186. Filser 2017, 33. Filser 2017, 33. Meister 2020, 146–147. Meister verweist auf Veblen, zugleich hebt er aber auch den Punkt hervor, an dem der demonstrative Konsum für etablierte Oberschichten an Bedeutung verliere und mit symbolischem Kapital ersetzt werde, so Meister 2020, 39. 79 Meyer 1910, 116: „Vielmehr haben wir bereits gesehen, wie sich als das eigentlich treibende Element der Handel und der Export und damit die Fabrikation für den Handel entwickelt hat: erst daraus sind die Grosstädte und der in diesen sich sammelnde Reichtum erwachsen, der den Luxus und die Arbeitsteilung ermöglicht.“ Spezifisch zur antiken „Textilindustrie“ Buschor 1912, 35, der den Kleiderluxus mit einem „gewaltigen Aufschwung des Handels und Verkehrs“ und einem „Aufblühen der [textilen] Industrie“ in Verbindung setzte. 80 Kloft 1996, 115.
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ständen aus afrikanischem Zitrusholz und vertritt dabei die These, dass eine Händlerschicht davon besonders profitierte und diese Produkte auf dem römischen Markt bedeutende finanzielle Transaktionen in Gang setzten, die sich in gewaltigen Preisen niederschlugen. Dabei scheint er aber auch die Grenzen des Modells erreicht zu haben.81 Es sind vielmehr vereinzelte Konzepte, Begriffe und Definitionen, die aus dem Werk Luxus und Kapitalismus entnommen werden, zunächst das Konzept der „Konsumentenstadt“ als eines rein konsumtiven, parasitären Gebildes, welches Sombart für die Beschreibung neuzeitlicher Residenzstädte verwendete und Moses I. Finley in den 1970er Jahren zur Interpretation antiker wirtschaftlicher Verhältnisse übernahm,82 wobei sein Erklärungspotential der antiken Wirtschaft inzwischen stark relativiert wird.83 Darüber hinaus hat Sombarts Definition von Luxus als „Relationsbegriff“, der eine jeweils kontextbezogene Auslegung des „Notwendigen“ (im Sinne von „physiologischer Notdurft“ und „Kulturnotdurft“) erfordere, das althistorische Interesse geweckt. So hält Carmine Ampolo diese Definition für methodisch treffend, um die verschiedenen Formen des Luxuskonsums zu deuten, wie etwa den archaischen Luxus.84 Diese – hier nur exemplarisch behandelte – Beschäftigung der Alten Geschichte mit soziologischen Konzepten aus der Neuzeit zeigt, dass der epochenübergreifende Dialog in gewisser Weise bereits zur Tradition der Luxusforschung gehört. Berücksichtigt man ferner die Rolle, welche die Antike wie auch das Mittelalter zur Exemplifizierung der Luxusentfaltung bei Marx und Weber spielten, stellt man fest, dass die Fragen, welche die historische Untersuchung vom Luxus mit sich bringt, zu historischen Vergleichen einladen. Das Ziel dieses Bandes ist es,
81 S. aber auch die abschließende Bemerkung von Klopf 1996, 129–130: „Aber damit scheinen mir auch schon die Grenzen des Vergleiches und der Betrachtungsweise erreicht zu sein. […] Wichtiger noch aber ist die Erkenntnis, dass sich weder die Veredelung der Naturprodukte noch die Verbreitung der Luxuswaren – und dabei können wir Elfenbein, Edelmetalle, Steine, Gewürze und Aromata mit einschließen – in eine Weiterentwicklung der gewerblichen Produktion fortsetzten, so wie es im 17. Und 18. Jahrhundert der Fall war. Die Herstellung luxuriöser Möbel führte beispielsweise in England bei Firmen wie Sheraton und Chippendale zu einer frühindustriellen Fertigungsweise, welche die Manufaktur in wichtigen Arbeitsgängen hinter sich ließ. So etwas konnte es in der kaiserzeitlichen Wirtschaft aus vielerlei Gründen nicht geben.“ 82 Sombart 1913, 28. Das Konzept der Konsumentenstadt wurde aber erst durch die Ausführungen von Max Weber bekannt. Zum Konzept und seiner Anwendung in der Alten Geschichte s. Wagner-Hasel 2009b und Wagner-Hasel 2011, 215–217, die die Vorläuferschaft von Karl Bücher betont, der bereits 1903 eine Typologie von Städten entwickelte und die antike Stadt als Konsumtionszentrum charakterisierte. 83 Vgl. Harris 2011, 310: „The point is not to debate about the Sombartian ‚consumer city‘, which, with its overtones of parasitism and its tendency to become the city of conspicuous consumption, has not in my view been a very helpful way of understanding the cities or the economy of the Roman Empire.“ 84 Ampolo 1984, 470. Ampolo kritisiert hingegen Veblens Desinteresse für das Konzept von ‚Macht‘ sowie seine fehlende Betrachtung der ökonomischen Prozesse.
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genau einen solchen Dialog zwischen Antike einerseits, Neuzeit und Zeitgeschichte anderseits zu fördern. Während gerade in den älteren Epochen die Frage nach dem Luxus ein häufig diskutiertes Problem ist, zieht die Zeitgeschichte erst langsam nach; diese Verzögerung liegt sicher vor allem auch an der schwierigen Abgrenzung von Konsum auf der einen und Luxus auf der anderen Seite.85 Diese Grenze wird doch gerade in den Massenkonsumgesellschaften, deren Versprechen es war und ist, möglichst allen alles verfügbar zu machen, durchlässiger. Eine Wendung wie „Luxus für alle“, die heute ubiquitär Verwendung findet,86 wäre in anderen Epochen, in denen unangemessener Konsum noch sanktioniert und Konsum allgemein nicht nur durch die Gesetze des Marktes, sondern durch regelrechte Luxusgesetze reguliert war, undenkbar. Nichtsdestotrotz wagen sich insbesondere populärwissenschaftliche Beiträge bis weit ins 20. Jahrhundert vor.87 Im vorliegenden Band interessieren uns Luxusentfaltung sowie auch Luxuskritik und Luxusbeschränkungen sowohl im Hinblick auf ihr Verhältnis zu Regierungsformen, Geschlechterrollen und sozialen Hierarchien als auch hinsichtlich ihrer Funktion für das Erlangen sozialen Prestiges und in der Rhetorik der politischen Kommunikation – auch hinsichtlich ökonomischer Faktoren. Die vorliegenden Beiträge diskutieren empirische Fälle in ihren unterschiedlichen epochalen Zusammenhängen. Die Autorinnen und Autoren gehen aber zugleich konzeptionell an das Thema heran. Sie haben sich die Frage gestellt, inwiefern Veblens oder Sombarts Kategorien für die historische Analyse weiterhin hilfreich sein können, oder ob und für welche Kontexte andere soziologische Modelle infrage kommen. So ist dieser Band ein epochenübergreifender Dialog sowohl im Hinblick auf die untersuchten Fälle, die von der Archaik bis zur Zeitgeschichte reichen, als auch bezüglich der Modelle aus der Neuzeit, die in den jeweiligen Untersuchungen herangezogen werden. Ausgehend von der bisherigen Forschungslage geht es uns mit diesem Band darum, Einsichten aus der althistorischen Luxusforschung mit den Perspektiven aus anderen Epochen ins Gespräch zu bringen. Alle Aufsätze sind so konzipiert, dass sie für die Expert:innen der jeweiligen Epoche eine anregende Lektüre bieten. Zugleich ist es das Ziel, anhand der epochenspezifischen Beispiele unterschiedliche Ansätze einer breit aufgestellten historischen Luxusforschung vorzustellen. Wir verstehen die Aufsätze somit als Angebot, die am konkreten Fall durchgespielten Argumentationen auf ihre Übertragbarkeit auf andere historische Kontexte hin zu befragen. Ausgehend von der oben beschriebenen Schwierigkeit, einen Luxusbegriff zu definieren, der in den unterschiedlichen Epochen und Räumen Anwendung finden könnte, haben wir uns für ein induktives Vorgehen entschlossen. Uns geht es darum, zu fragen, in welchen Situationen der jeweiligen Zeit „Luxus“ von wem warum verwendet wurde. Ausgehend von den präsentierten Luxusdiskursen und -praktiken wird es sicher nicht einfacher werden, zu einer allgemeingültigen 85 S. Trentmann 2016, 413. 86 S. auch schon für das späte 19. Jahrhundert Carnevali 2011. 87 S. McNeil/Riello 2016.
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Bestimmung dessen zu gelangen, was Luxus denn nun sei. Vielmehr zeigen sie die Unterschiedlichkeit der Situationen und Verhaltensweisen, auf die der Luxusbegriff appliziert wurde. Was sich somit also nicht ergibt, ist eine Luxusdefinition. Was die Aufsätze hingegen sehr deutlich zeigen, ist ein Raster von situativen Kontexten, Praktiken und Diskursen, in denen ‚Luxus‘ eine Rolle spielte. Ausgehend von diesem Befund besteht der Sammelband aus folgenden Abschnitten: Paradigmen der Forschung: Luxus und Regierungsformen Der Sammelband beginnt mit einem Beitrag von JAN B. MEISTER, der in die Problematik weniger des antiken Luxus, sondern vielmehr der Forschung zu diesem einführt. Meister geht es um eine konsequente Historisierung der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Luxus in der Antike im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Dabei fokussiert er auf die Frage, seit wann und warum es neuzeitliche Autoren Luxus in Beziehung zur Demokratie diskutierten, und dabei zu Ergebnissen gelangten, die zwar das sprichwörtlich gewordene „Vetorecht der Quellen“ (Koselleck) grundlegend missachteten, sich aber gut in den Zeitgeist der langen Jahrhundertwende einfügten. Das Sombart’sche „Weibchen“? Luxus und Geschlecht In der Sektion „Luxus und Geschlecht“ wird Sombarts grundlegende und erfrischend modern klingende (und letztlich kulturgeschichtliche) Annahme, dass Luxus immer auch etwas mit Geschlechterverhältnissen zu tun habe, diskutiert und einer empirischen Prüfung unterzogen. MELANIE MEAKER greift die Sombart’sche These der engen Beziehung von Luxus und (weiblichem) Geschlecht auf und diskutiert sie anhand der griechischen Lyrik der archaischen Zeit. Ihr geht es darum, deutlich zu machen, dass es nicht die eine Sicht auf weiblichen Luxuskonsum gab. Vielmehr arbeitet Meaker ein Bündel unterschiedlicher kontextgebundener Bewertungsmaßstäbe heraus. Sie kann zeigen, dass die häufig in der Forschung angenommene Deutung des Luxus als Zeichen für ‚Verweiblichung‘ für die Archaik nicht haltbar ist. JONATHAN VOGES dagegen orientiert sich in seinem Beitrag enger an dem Kurtisanen-Milieu, das für Sombart eine derart große Faszination ausstrahlte, dass er um dieses herum seine Luxustheorie entwickelte. Allerdings blickt er in die Zeitgeschichte der 1950er Jahre und diskutiert am Beispiel der „Edelprostituierten“ Rosemarie Nitribitt, wie in einer Gesellschaft, die sich gern als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ verstand, über Luxus debattiert wurde. Dafür nutzt er den Begriff des ‚Luxuskörpers‘. Imitation und/oder Erfindung? Der Luxus der Anderen Was geschieht, wenn Personen vermeintlich luxuriös konsumieren, denen man es aus unterschiedlichen Gründen nicht zugestehen wollte? Um dieser Frage näherzukommen, führt die Sektion „Luxus der Anderen“ einen Beitrag zum Luxuskonsum von Freigelassenen in der römischen Kaiserzeit (BERIT HILDEBRANDT) und einen
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zum Luxus der Mindermächtigen im frühneuzeitlichen Süddeutschland (WOLFGANG WÜST) zusammen. Während es Hildebrandt um die Frage geht, wie antike Autoren den Luxuskonsum der Freigelassen bewerteten und ob es sich dabei tatsächlich um eine Imitation des Konsumsverhaltens der Elite handelte, betrachtet Wüst Praktiken, wie die von ihm thematisierten Akteure einen Luxus konsumierten, den sie sich eigentlich nicht hätten leisten können: „Luxus macht erfinderisch.“ Gerade über die Perspektive auf die eigentlich vom jeweils zeitgenössischen Luxuskonsum Ausgeschlossenen weisen beide Beiträge nach, dass die althergebrachten Luxustheorien mit ihrem klaren Fokus auf elitären Konsum der Erweiterung bedürfen. Wüst bietet eine solche mit Luhmanns Sozialsystemanalyse an, Hildebrandt tut dies über Homi Bhabhas Konzept des dritten Raumes. Prestige und Karrierewege: Politik, Ökonomie und Luxus Die Sektion „Prestige und Karrierewege“ beschäftigt sich mit der Semantisierung des Luxuskonsums in den Lebensbeschreibungen antiker Politiker (ELISABETTA LUPI am Beispiel des Alkibiades und ANABELLE THURN am Beispiel Pisos und Catilinas bei Cicero) sowie in den Autobiographien imperialer russischer Beamte (BENEDIKT TONDERA am Beispiel von Konstantin Konstantinovič Miller und Vasilij Andreevič Tichonov). Diese Beiträge konzentrieren sich auf die Verdeutlichung politischer und ethischer Einstellungen durch die Beschreibung der ausgeübten Luxuspraktiken und nehmen dabei auf Veblens Konsumtheorie Bezug. Soziopolitische Erwartungen werden dabei ebenso ersichtlich wie Debatten um die Frage nach der Angemessenheit des Aufwandes in politischer sowie ökonomischer Hinsicht. Austerität der Eliten: Luxus, (Selbst-)Beschränkung und Distinktion In der letzten Sektion präsentiert GUNNAR SEELENTAG anhand der materiellen Kultur Kretas in archaischer Zeit das Modell der ‚Kartellbildung‘. In seinem Beitrag geht es nicht um demonstrativen Konsum, sondern um einen ebenso ostentativen Verzicht der lokalen Elite Kretas auf Luxuspraktiken, so wie die die archäologischen Befunde für das 6. und ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. beweisen. In Anlehnung an Georg Simmel interpretiert Seelentag den Befund als Manifestation einer „Institutionalisierung von Kooperation“, die den Akteuren ermöglicht, Ressourcen zu sparen, die sie sonst in den Wettbewerb hätten investieren müssten. Austerität zeigt sich als eine weitere Strategie, eine Homogenisierung nach innen und eine Abgrenzung nach außen zu erreichen – sowie der Luxus aber ohne ökonomischen Aufwand. Ein Kommentar von MICHAELA HOHKAMP schließt den Band ab. In Anlehnung an Michel Foucaults Überlegungen versteht Hohkamp Luxus als ‚Dispositiv‘ und diskutiert die Grenzen zwischen angemessenem und unangemessenem Konsum anhand des Konzepts der ‚Hausnotdurft‘ im frühneuzeitlichen Alltagsleben. In den verschiedenen Sektionen zeigt sich die Relevanz epochenübergreifender Themen: Luxus sowie sein Gegenteil, die Austerität, im Kontext sozialer Konkurrenz; die Deutung des Luxuskonsums als Zeichen für Korruption und Ausbeutung
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im Rahmen imperialer Diskursen; das Konsumverhalten des Einzelnen als Ausdruck von politischer und sozialer Zugehörigkeit oder als Geschlechterfrage. So unterschiedlich im Einzelnen Deutung und Funktion von ‚Luxus‘ doch waren, zeigt sich in der epochenübergreifenden Perspektive, dass einige Dinge und Praktiken quer durch die Epochen als luxuriös markiert wurden, so etwa Wagen bzw. Automobile, Perlen und Schmuckstücke, bestimmte Arten von Kleidungen, Tiere und Praktiken wie Pferdesport. Somit zeigt sich der Wert einer methodisch reflektierten Perspektive auf Luxus als diachron wirkendes Deutungsparadigma. Der vorliegende Band ist aus einem epochenübergreifenden Workshop entstanden, der vom 13. bis 15. Februar 2020 in Hannover stattfand. Wir danken allen Beitragenden und Teilnehmenden des Workshops für ihre Impulse und die lebhaften Diskussionen; ausdrücklich danken wir Prof. Dr. Michaela Hohkamp, Prof. Dr. Brigitte Reinwald, Prof. Dr. Michael Rothmann, PD Dr. Hinnerk Onken, die die Veranstaltung mit ihren Moderationen und Kommentaren bereichert haben. Diese Zusammenarbeit am Institut war für uns eine besonders große Freude. Dr. Gisela Vetter-Liebenow hat uns die Möglichkeit eröffnet, im Museum Wilhelm Busch die Eröffnungsveranstaltung abzuhalten sowie die Ausstellung Zum Genießen! Kulinarisches aus den Sammlungen des Museums zu besichtigen. Vielen Dank dafür! Wir sind der Philosophischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover und der Leibniz Universitätsgesellschaft Hannover e.V. für ihre großzügige Unterstützung dankbar. Wir danken zudem Anne Vater für den Tagungsbericht und den studentischen Hilfskräften Katerina Steffan, Till Ewald und Jonathan Riedl für ihre Organisationshilfe sowie für ihr Engagement, das uns an den Veranstaltungstagen Freiräume verschaffte. Wir möchten ebenfalls diejenigen Studierenden danken, die im Wintersemester 2019/20 an der Leibniz Universität Hannover die Lehrveranstaltung Luxuskonzepte und -formen in der Vormoderne und Moderne besuchten und auch die Arbeiten des Workshops mit Interesse verfolgten: Ihre Reflexionen, Diskussionen und Beiträge fanden wir sehr bereichernd. Prof. Dr. Beate Wagner-Hasel hat im Rahmen des Workshops die Einführungsund Abschlussrede gehalten. In ihrer Forschung und Lehre hat sie sich intensiv mit Luxuskonzepten, -gütern und -praktiken beschäftigt. Außerdem ist Wagner-Hasel um jenen interepochalen Dialog bemüht, dem wir uns ebenfalls verpflichtet fühlen. In Anbetracht dieser Forschungsleistungen, die unsere Beschäftigung mit dem Thema Luxus stark geprägt haben, möchten wir ihr diesen Sammelband widmen. Für ihren resilienten Umgang mit allen Bibliothekseinschränkungen und den schweren Arbeitsbedingungen der letzten Jahre sind wir zuletzt und in besonderer Weise den Autorinnen und den Autoren dieses Bandes verpflichtet.
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PARADIGMEN DER FORSCHUNG LUXUS UND REGIERUNGSFORMEN
LUXUSBESCHRÄNKUNG UND ANTIKE DEMOKRATIE Jan B. Meister, Bern 1. EINLEITUNG: DEMETRIOS VON PHALERON UND DAS ENDE DER DEMOKRATIE IN ATHEN 322 v. Chr. verlor Athen den Lamischen Krieg und mit dieser militärischen Niederlage endete auch die athenische Demokratie. Das Regime, das allen Bürgern eine breite Partizipation ermöglicht hatte, wurde durch eine mit Zensusschranken versehene Oligarchie ersetzt. Ab 317 herrschte Demetrios von Phaleron als Statthalter des makedonischen Machthabers Kassander über Athen. Er stützte nicht nur das neue oligarchische Regime, sondern erließ auch einige bereits in der Antike vielbeachtete Luxusgesetze. Das Ende der Demokratie in Athen ging also einher mit einer Begrenzung des Luxuskonsums. Das ist an sich nicht weiter erstaunlich. Luxusgesetze sind ein nicht ganz untypisches Mittel, mit dem soziale Eliten versuchen, den potentiell ruinösen demonstrativen Konsum in den eigenen Reihen zu regulieren. Gleichzeitig limitieren solche Gesetze die Möglichkeiten sozialer Aufsteiger, sich durch ostentativen Konsum gegenüber etablierten Eliten zu profilieren.1 Im antiken Griechenland war das nicht anders: Die Gemeinwesen, in denen Luxuskonsum am stärksten eingeschränkt war, waren mit Sparta und den kretischen Städten relativ exklusive Regime, die gemeinhin als „Oligarchien“ bezeichnet werden. Aus dem demokratischen Athen dagegen ist bezeichnenderweise kein einziges Luxusgesetz überliefert. Der Befund, dass das Ende der Demokratie in Athen den Beginn einer Luxusgesetzgebung markiert, braucht also eigentlich nicht zu überraschen. Umso überraschender ist, dass es doch überrascht. Hans-Joachim Gehrke untersuchte 1978 in einem noch immer grundlegenden Aufsatz das Verhältnis von Politik und Philosophie im Wirken des Demetrios von Phaleron. In diesem Aufsatz geht Gehrke auch auf die berühmten Luxusgesetze ein und sieht, anders als es zunächst naheliegen würde, darin keineswegs eine logische Konsequenz des sich verfestigenden oligarchischen Regiments, sondern erklärt ganz im Gegenteil:
1
Für die römisch-republikanischen Luxusgesetze als Versuch der etablierten Senatsaristokratie, sich gegen aufstrebende Subeliten zu wehren, s. Wallace-Hadrill 2008, 316–355.
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Jan B. Meister „Wir müssen in seinen [Demetrios’] Maßnahmen gegen übertriebenen Luxus im Leben der Frauen, bei religiösen Feierlichkeiten, bei Bestattungen also durchaus — zunächst überraschend — einen demokratischen Zug erkennen. Sie lassen sich mit seiner Politik insgesamt nur vereinbaren, wenn wir sie unter dem Aspekt der Konzession begreifen.“2
Luxusgesetze sind also, in dieser Deutung, keine stimmige oligarchische Maßnahme, sondern eine symbolische Konzession der neuen Machthaber an die entmachtete demokratische Partei. Erklärbar sei dies nur aus der älteren griechischen Geschichte, denn: „Bekanntlich gehören sie [die „Luxusgesetze im weitesten Sinne“] ursprünglich in die archaische Zeit, und zwar in den Kontext von gegen die vorherrschende Aristokratie gerichteten Bestrebungen des δῆμος.“3
Diese gegen den Adel gerichteten Luxusgesetze stünden am Beginn der griechischen Demokratie und vor diesem Hintergrund seien auch die Luxusgesetze des Demetrius um 317 v. Chr. zu deuten. Denn: „Der alte ‚demokratische‘ Charakter der verschiedensten, insbesondere das Verhalten der Frauen betreffenden Luxusmaßnahmen, der in der archaischen Zeit offenkundig ist, hat sich demnach bis ins 4. Jahrhundert am Leben erhalten. Wenn aber diese Vorstellung so aktuell war, wird auch Demetrios mit ihr gerechnet haben müssen.“4
In der Tat war und ist die Vorstellung, Demokratie neige zu Luxusverboten, in der Althistorie weitverbreitet. Für die angeblich demokratischen Luxusgesetze der Archaik führt Gehrke denn auch viele Autoritäten an – aber bezeichnenderweise keine Quellen. Das ist kein Zufall. Denn als Rainer Bernhardt in seiner 2003 erschienen Studie zu Luxuskritik und Aufwandsbeschränkungen in der griechischen Welt das Thema erstmals systematisch in monographischer Form behandelte,5 kam er zu einem diametral anderen Ergebnis: Für die angeblichen Luxusgesetze der griechischen Frühzeit, mit denen ein altes Adelsregime ‚demokratisch‘ beseitigt worden wäre, fehlen eindeutige Quellen: Die wenigen Gesetze sind oft schlecht überliefert und betreffen sehr spezifische Regelungen des Bestattungswesens, die wahrscheinlich nicht soziopolitisch, sondern tatsächlich religiös zu deuten sind. 6 In historisch hellerer Zeit sind Aufwandsbeschränkungen dann zwar sehr wohl politisch, aber gerade nicht demokratisch: „Die Luxuskritik“, so Bernhardt, „hatte eine starke politische Komponente. Sie stand im Dienste der Adelsoligarchie [...]“.7 Demokratie sei dagegen mitnichten luxusfeindlich, sondern ganz im Gegenteil:
2 3 4 5 6 7
Gehrke 1978, 170. Ähnlich auch Engels 1998, 145–147. Gehrke 1978, 167. Gehrke 1978,170. Bernhardt 2003. Grundlegend zu den archaischen Gesetzen gegen Grabluxus s. Blok 2006, die überzeugend für eine religiöse Deutung der Gesetze argumentiert. Bernhardt 2003, 68.
Luxusbeschränkung und antike Demokratie
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„Je weiter in Athen die Entwicklung zur radikalen Demokratie voranschritt, desto mehr brachte diese eine eigene, ihr gemäße Lebensform hervor, die von weitgehender Toleranz gegenüber dem Luxus und einem gewissen Grad von Hedonismus geprägt war.“8
Selbstverständlich gab es auch in Athen Kritik am übermäßigen Luxus Einzelner, doch im Vergleich zu anderen Gemeinwesen waren die antiken Demokraten hier erstaunlich tolerant.9 Wie ich andernorts ausführlich dargelegt habe, lässt sich das soziologisch erklären:10 In einer Demokratie sind elitäre Akteure gezwungen, sich in gegenseitiger Konkurrenz um die Gunst und Aufmerksamkeit des dēmos zu bemühen. Im Unterschied zu Oligarchien, die sich bemühen, elitäre Konkurrenz ‚kartellartig‘ einzudämmen und Luxuskonsum als Mittel dieser Konkurrenz entsprechend zu regulieren,11 befördert die Demokratie also Konkurrenz und damit auch den Einsatz von Luxus als Mittel, um Aufmerksamkeit und Anhänger zu gewinnen.12 Es gibt eine Reihe von Figuren im demokratischen Athen, die für ihren Luxus kritisiert wurden, die aber – und das ist bezeichnend – mit dieser Praxis sehr erfolgreich waren.13 Das bekannteste Beispiel ist Alkibiades, dessen extravaganter Lebenswandel ihn zu einer kontroversen Figur machte, der aber just deshalb auch bewundert wurde und über eine breite Anhängerschaft verfügte. 14 Bezeichnenderweise soll sich derselbe Alkibiades im spartanischen Exil einen ganz anderen, betont frugalen Lebensstil zugelegt haben15 – die Inszenierung von Protz und Prunk war eine Praxis, die im demokratischen Athen Erfolg versprach, nicht aber im oligarchischen Sparta, wo Luxus streng reguliert und argwöhnisch beäugt wurde. Die Eindeutigkeit dieser Ergebnisse führt umso drängender zur Frage, wie es dazu kommen konnte, dass die Forschung über Jahrzehnte genau die gegenteilige Ansicht vertrat, und dies obwohl der empirische Quellenbefund das nicht nur nicht hergibt, sondern dem ziemlich offen widerspricht. Mir geht es also im Folgenden nicht darum, zu zeigen, wie das Verhältnis von Luxus und Demokratie in der Antike ‚tatsächlich gewesen‘, sondern um eine rezeptions- und wissensgeschichtliche Fragestellung. Es soll untersucht werden, wie die Vorstellung einer Verbindung von Luxusbeschränkung und Demokratie entstand und den Status einer allgemein bekannten Tatsache erlangen konnte. Dabei wird sich zeigen, dass die angebliche Luxusfeindlichkeit antiker Demokratien deutlich mehr mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als mit der Antike zu tun hat. 8 9 10 11
12 13 14 15
Bernhardt 2003, 192. Vgl. in eine ähnliche Richtung gehend Braund 1994. Bernhardt 2003, 136–157. Zur Kritik an Luxus und Reichtum s. ferner Mann 2007, 142–164. Meister 2020, 336–371. Zum heuristischen Mehrwert von Simmels Konkurrenzmodell (vgl. Simmel 1992, 323–349), das all diesen Überlegungen zugrunde liegt, s. Meister/Seelentag 2020, 14–21 sowie speziell zum Kartell als Deutungsmodell für sich durch Konkurrenzverzicht stabilisierende Oberschichten Seelentag 2020 und den Beitrag von Seelentag in diesem Band sowie Meister 2020, 224–241. Meister 2020, 336–371, bes. 355–360. Bernhardt 2003, 140–147; Meister 2020, 355–360. Dazu Mann 2007, 205–229 und Meister 2020, 355–356. Vgl. den Beitrag von Lupi in diesem Band. Plut. Alk. 23.3.
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2. LUXUS UND DEMOKRATIE VOR DEM ENDE DES 19. JAHRHUNDERTS Der gedankliche Konnex von Demokratie und Luxusbeschränkung findet sich meines Wissens erstmals im 18. Jahrhundert bei Rousseau. Im Contrat Social äußerte sich Rousseau zu den enormen Schwierigkeiten, die der Verwirklichung einer „echten Demokratie“ im Wege stünden. Dazu gehöre auch, dass eine solche wahre Demokratie „wenig oder gar keinen Luxus“ haben dürfe, denn dieser: „[…] verdirbt Reich und Arm, den einen durch Besitz, den anderen durch Begehrlichkeiten; er liefert das Vaterland aus an Verweichlichung und Eitelkeit; er entzieht dem Staat alle seine Bürger, um die einen zu Knechten der anderen und alle zu Knechten der herrschenden Meinung zu machen.“16
Rousseau ist damit ganz der vormodernen, moralisierenden Luxuskritik verhaftet, verbindet die als notwendig erachtete Luxusbeschränkung jedoch mit der Regierungsform der Demokratie. Allerdings ist eine solche Regierung eine unter Menschen nicht zu verwirklichende Utopie. Denn Rousseau meint schließlich resigniert: „Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht.“17 Das Fehlen von Luxus ist für Rousseau ein Zeichen eines glücklichen, quasigöttlichen Urzustands, der noch nicht durch Zivilisation und Fortschritt verdorben worden ist. Die antike Demokratie Athens ist für diese moralisierend-fortschrittsfeindliche Utopie denn auch gerade nicht der historische Bezugspunkt. Ein Blick auf Rousseaus andere Schriften zeigt deutlich: Das historische Athen mit seinem Hang zu Luxus und Kunst war für Rousseau eindeutig keine „echte Demokratie“, seinem moralischen Ideal entsprach vielmehr das oligarchisch-frugale Sparta, das Rousseau als Republik von „Halbgöttern“ dem moralisch verdorbenen Athen gegenüberstellte.18 Der Rousseau’sche Konnex von Luxusbeschränkung und utopischer Demokratie fand denn auch, soweit ich sehe, in der altertumswissenschaftlichen Beurteilung von Luxusgesetzen keinen Niederschlag.19 Die Umwälzungen der französischen 16 17 18 19
Rousseau 1986, 73 (III 4). Rousseau 1986, 74 (III 4). Rousseau 2012, 33. Duruy 1862 etwa sah keinen Konnex zwischen Luxuskritik und antiker Demokratie und hielt (ebd., 462) fest, dass die Liturgien „comme la rançon des grandes fortunes payée à l’égalité“ seien, hebt aber explizit hervor: „Athènes, moins jalouse que Sparte, consentait à respecter la richesse, mais à condition que celle-ci se montrât patriotique […]“. In der Fußnote wird vermerkt: „Montesquieu approuve les liturgies.“ Das ist insofern bemerkenswert, weil Duruy immer mal wieder auf Montesquieu Bezug nimmt, m.W. aber nie auf Rousseau. Anders als Rousseau hat Montesquieu sich denn auch zu den oft als ‚demokratisch‘ gedeuteten Grabgesetzen Solons geäußert und diese (wahrscheinlich historisch richtig) religiös motiviert gedeutet, vgl. Montesquieu1992, 194 (XXV 7): „In guten Republiken hat man nicht nur den Luxus aus Eitelkeit, sondern auch den aus Aberglauben unterdrückt und der Religion Gesetze der Sparsamkeit auferlegt. Zu ihnen gehören verschiedene Gesetze Solons […]“. Ebenso sieht Fustel
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Revolution verliehen zwar der Vorstellung eines allmächtigen antiken Staates, der die individuelle Freiheit seiner Bürger nicht respektiere, Konjunktur, doch im Fokus stand hier primär Sparta und weniger das demokratische Athen. 20 Soweit ich sehe, fehlt der Konnex von Luxuskritik und antiker Demokratie in den einschlägigen Werken vor dem Ende des 19. Jahrhunderts gänzlich. Die dominierenden Sichtweisen gehen in eine ganz andere Richtung. Ich möchte hierzu zwei breit rezipierte „Griechische Geschichten“ des 19. Jahrhunderts herausgreifen, um diesen Befund exemplarisch darzulegen. Das erste Beispiel ist die monumentale 12-bändige History of Greece des liberalen englischen Politikers und Historikers George Grote aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.21 Dass Demokratie irgendwie gegen Luxus vorgehe, sucht man bei Grote vergeblich. Denn anders als beim moralisierenden Rousseau hatte Luxus für Grote, der in dieser Hinsicht ganz in der Tradition des seit dem 18. Jahrhundert aufkommenden Wirtschaftsliberalismus stand, einen ganz anderen Stellenwert. Sehr deutlich wird dies in seiner Behandlung der spätarchaischen Stadt Sybaris. Das 510 v. Chr. zerstörte Sybaris galt antiken Autoren als Hort des Luxus und der moralischen Verkommenheit – das antike Ideal war die frugale Nachbarstadt Kroton.22 Für Grote jedoch zeugte der Luxus der Sybariten von „industry, good management, and well-ordered government“.23 Er kommt daher zum Fazit: „That luxury, which Grecian moralists denounced in the leading Sybarites, between 560 and 510 B. C., was the result of acquisitions vigorously and industriously pushed, and kept together by an orderly central force, during a century and a half that the colony had existed.“24
Grote spricht in Bezug auf Sybaris zwar durchaus von „excessive indulgences among the rich“, aber eben auch von „comfortable abundance among the mass of
20
21 22 23 24
1866 zwar eine Reihe von „révolutions“, die die Entwicklung der cité sowohl in Griechenland wie in Rom prägten, doch das Machtmittel der Aristokratie ist bei ihm die Religion, wohingegen Geld und Luxus etwas sind, was nicht mit religiösen Schranken belegt ist und daher das Volk stärkt und die Stellung der Aristokratie untergräbt (ebd., 351–352), allerdings sieht Fustel im Fehlen individueller Freiheit (s.u.) die große Schwäche des allmächtigen antiken Staates, was dazu führt, dass politische Gleichheit meist zur Expropriation der reichen Minderheit durch die arme Mehrheit genutzt werde (ebd. 437–447, vgl. Nippel 2008, 208–211). Die Idee, dass die Antike (anders als die Moderne) keine individuelle Freiheit kannte, reicht ins 18. Jahrhundert zurück, erhielt aber vor dem Hintergrund des (angeblichen) Antikekults der Jakobiner und des „terreur“ im postrevolutionären Europa durch Benjamin Constants 1819 publizierte Schrift (Constant 1970) große Popularität und prägte das Antikebild der Altertumswissenschaften bis ins 20. Jahrhundert nachhaltig; s. Nippel 2008, 189–221. Doch während Constant das „Kloster“ Sparta (in radikaler Umkehr der Sparta-Verehrung Rousseaus) zum Inbegriff des unfreiheitlichen antiken Staates stilisiert, hält er klar fest, dass das demokratische Athen „von allen Staaten des Altertums […] derjenige ist, der am meisten den modernen gleicht“ (Constant 1970, 370). Einen spezifischen Konnex von (unfreiheitlichen) Luxusverboten mit antiker Demokratie gibt es hier also explizit nicht. Zu diesem Werk s. einführend Nippel 2010. Zum antiken Sybaris-Bild s. Lupi 2019. Grote 1849, 396. Grote 1849, 397.
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the citizens“.25 Luxus zeugt demnach von einer gesunden Wirtschaft und davon profitieren letztlich alle. Anders als der moralische Diskurs der Quellen sah Grote Luxus also nicht als Zeichen moralischer Dekadenz, sondern als Zeichen für eine florierende Wirtschaft. Dass in den Quellen dem demokratischen Athen durchaus eine gewisse Toleranz gegenüber Luxus nachgesagt wurde, griff Grote aus liberaler Perspektive denn auch dankbar auf. Im sechsten Band seiner History of Greece zitiert er die gesamte Gefallenenrede des Perikles, die er als fulminantes Plädoyer für „liberty and diversity of individual life“ deutet.26 Das von antiken Moralisten bewunderte oligarchische Sparta setze auf Drill und Uniformierung, ganz anders das demokratische Athen unter Perikles: „liberty of individual action“, so Grote, „not merely from the overrestraints of law, but from tyranny of jealous opinion [...] belongs more naturally to a democracy [...] than to any other form of government.“27 Folglich lasse das demokratische Athen – anders als Sparta – Vergnügungen aller Art und damit auch Luxus zu, ohne darin eine Gefahr für die Gesellschaft zu sehen.28 Man hat Grote – nicht ganz zu Unrecht – vorgeworfen, ein idealisierendes und durch die liberale Perspektive verzerrtes Bild zu zeichnen, das mehr mit dem London des 19. Jahrhunderts als mit dem antiken Athen gemein habe. 29 Dennoch ist Grote ein methodisch versierter Historiker, der es versteht, seine zeitgebundene Perspektive mit Quellen zu unterfüttern. Seine Darstellung Athens zeigt denn auch vor allem eins: In der Mitte des 19. Jahrhunderts war der bei Gehrke so selbstverständlich Konnex zwischen Luxuskritik und demokratischer Ideologie alles andere als selbstverständlich, sondern man konnte mit guten Gründen die genau gegenteilige Ansicht vertreten. Das zweite Beispiel für eine alternative Sicht auf Luxus und Demokratie ist die Griechische Geschichte von Ernst Curtius. Das 1857 erschienene Werk erlebte zahlreiche Neuauflagen und war das meistgelesene Handbuch zur Griechischen Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.30 Auch bei Curtius fehlt der Konnex von Luxusverboten und Demokratie. Luxusgesetze sind für Curtius nicht Zeichen einer Demokratisierung, sondern werden mit dem Volkscharakter der griechischen Stämme erklärt. In der fünften Auflage der Griechische[n] Geschichte von 1878 schreibt Curtius zum athenischen Gesetzgeber Solon, der um 600 wirkte, dieser sei gegen Luxus etwa bei Prachtgewändern, bei Hochzeitsfesten und vor allem bei Begräbnissen vorgegangen. „Verboten“, so Curtius, „wurden namentlich das Gepränge mit kostspieligen Grabdenkmälern, verboten die leidenschaftliche Todtenklage, wie sie in Kleinasien zu Hause war und sich von
25 Grote 1849, 396 und 395. Als Grund für diese Prosperität nennt Grote (ebd., 397) u.a. die liberale Bürgerrechtspolitik von Sybaris. 26 Grote 1859, 149. 27 Grote 1859, 150. 28 Grote 1859, 151. 29 Zu Grotes zeitgebundenem Athenbild s. Kierstead 2014. 30 Zu Curtius und seinem Werk s. Christ 1979, 68–83 und Christ 1996, 123–137.
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da durch das heroische Griechenland verbreitet hatte. So prägte sich unter der Zucht des Gesetzes dem asiatischen Ionien gegenüber der Charakter des Attischen aus, und die Gränze zwischen dem Barbarischen und dem Hellenischen, welche sich in dem ungebundenen Leben der Ionier so leicht verwischte, wurde mit schärferen Linien festgestellt.“31
Die Begrenzung des asiatisch-barbarischen Luxus durch die „Zucht des Gesetzes“ ist ein Leitmotiv bei Curtius und findet sich auch in seiner Besprechung der kleisthenischen Reformen von 507 v. Chr. Wie die meisten modernen Forscher sah auch Curtius in diesen Reformen einen wichtigen Schritt hin zur Demokratie.32 Da Kleisthenes die in Phylen eingeteilte Bürgerschaft reorganisierte und dabei auch die alten ionischen Phylennamen durch neue ersetzte, liegt es auf der Hand, dass Curtius auch hier wieder auf das Verhältnis Athens zu den ionischen Griechen Kleinasiens zu sprechen kommt. Er betont die vielfältigen Ähnlichkeiten, hält dann jedoch klar fest: „[...] von dem Uebermaße einer leichtsinnigen und üppigen Genusssucht wusste die attische Landessitte sich frei zu halten; [...] In der Zucht des Staates sind aus Ioniern Athener geworden [...]“.33
Es ist das Interesse an der Nation und dem Volkscharakter, mit dem Curtius in seiner Zeit keineswegs alleine war, das hier die Interpretation leitet. Dass die Athener – anders als die kleinasiatischen Ionier – zu einem gemeinsamen Staat gefunden hatten, der ihre Kultur „durch Zucht“ in die richtigen Bahnen lenkte und sie erst zu wirklichen Griechen machte, ist dabei eine ganz besondere Note. Die Parallele zur zersplitterten deutschen Nation, die ebenfalls nach einem gemeinsamen Staat strebte, ist der zeitgenössische Hintergrund, vor dem solche wertenden Urteile zu lesen sind. Die Vorstellung, dass Luxusbeschränkungen und Demokratie zusammengehen, fehlt also in zentralen Werken des 19. Jahrhunderts. Zur Jahrhundertwende hin taucht die Idee jedoch verschiedentlich auf. Dabei verbinden sich zwei Denkfiguren, die sich gegenseitig verstärken und die Rezeption im 20. Jahrhundert prägen sollten. Einerseits die Idee eines mit Verboten operierenden archaischen „Ständekampfs“ in der Frühzeit und andererseits die Assoziation von Demokratie mit „Klassenkampf“ und einer sozialistischen „Diktatur des Proletariats“.
31 Curtius 1878, 330. 32 Zu diesen Reformen s. jetzt Meister 2020, 323–335, wo der reaktionäre Charakter der Reformen hervorgehoben wird, sowie kritisch zu älteren Ansätzen, die in Kleisthenes einen rationalen Gestalter sahen, (und dem dahinterstehenden Konzept einer „cité de raison“) Duplouy 2019, 12–22. 33 Curtius 1878, 394.
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3. ARCHAISCHE „STÄNDEKÄMPFE“ UND LUXUSGESETZE Bereits bei Curtius begegnet die Vorstellung, dass es in Griechenland ab dem siebten Jahrhundert v. Chr. „Ständekämpfe“ zwischen einem „Adel“ und dem Volk gegeben habe. Solons Reformen werden von Curtius als Überwindung dieses Ständekampfes gedeutet: Die Privilegien der Adligen seien auf die Gesamtgemeinde ausgeweitet worden, so dass nun alle ein „gemeinsames Interesse“ hatten, „den Staat zu erhalten“.34 Von Luxusverboten ist freilich keine Rede. Das sollte sich ändern! 1893 erschien die erste Auflage von Eduard Meyers einflussreicher Geschichte des Alterthums, die bis in die 1950er Jahre zahlreiche Modifikationen und Neuauflagen erlebte. Auch bei Meyer findet sich im siebten Jahrhundert eine „Zeit der Ständekämpfe“, doch er gibt diesen Kämpfen eine andere Stoßrichtung, wenn er schreibt: „So erhebt sich immer mächtiger die Idee der bürgerlichen Ordnung, welche die Adelsprivilegien und seine gesonderte Lebensführung beschränkt und die Gleichheit aller vor dem Gesetz fordert.“35
Privilegien werden nun also nicht mehr ausgeweitet, sondern „beschränkt“. Folglich sind Luxusgesetze, die sich gegen die gesonderte Lebensführung des Adels richten, für Meyer das Merkmal dieser Zeit. Dabei werden die wenigen und schlecht dokumentierten archaischen Gesetze zu einem gesamtgriechischen Phänomen aufgeblasen: „Gleichartig sind“, so Meyer, „alle Gesetzgebungen in der Durchführung der bürgerlichen Zucht. Das Gepränge der adligen Begräbnisse, der Luxus der zahlreichen Klageweiber, die Ausstattung der Todten mit reichen Schätzen wird nicht nur von Zaleukos, Solon, Pittakos (Cic.
34 Curtius 1878, 313: „Die ganze Anzahl freier Bürger war nunmehr eine Gemeinde; durch die Erweiterung des Adelsverbandes war einem Auseinanderfallen der Bürgerschaft für alle Zeit vorgebeugt, und, indem das gewohnheitsmäßige Abhängigkeitsverhältniss sich allmählich umgestaltete, konnte ohne Ständekampf die volle Gleichberechtigung aller Bürger erreicht werden.“ Vgl. Curtius 1878, 324: „[D]er Grundsatz bürgerlicher Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetze war ausgesprochen; dem ganzen Volke war das Heil des Staats, die oberste Pflege des Rechts anvertraut; kein Stand desselben war in einer Lage, welche ihn gezwungen hätte, ein Sklave oder Feind der bestehenden Ordnung zu sein. Vielmehr waren Alle beim Wohle des Ganzen betheiligt, Alle hatten ein gemeinsames Interesse, den Staat zu erhalten. So gelang es Solon, die Stände der Gesellschaft, welche sich in den Nachbarländern […] gleich zwei feindlichen Heeren gegenüberstanden, durch billige Vereinbarung zu versöhnen.“ Als Teil einer ganzen Abfolge von „révolutions“ begegnet die Idee eines in Rom und Griechenland parallel ablaufenden Ständekampfs auch in der einflussreichen Darstellung von Fustel 1866 (dazu o. Anm. 19). 35 Meyer 1893, 556.
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leg. II, 66) und den Gesetzen von Keos beschränkt oder ganz verboten, sondern die Bestattungsgebräuche lehren, dass die gleichen Forderungen in der ganzen Griechenwelt durchgeführt sind.“36
Kurz nach dem Erscheinen von Meyers Buch griff mit Max Weber ein ausgesprochen einflussreicher Denker diese Idee auf. In seinen Agrarverhältnisse[n] des Altertums skizzierte Weber antike Entwicklungen mit großen Linien. Die „Ständekämpfe“ in der Frühzeit spielen dabei als strukturelle Zäsur eine wichtige Rolle. Weber stützte sich hierfür nachweislich auf Meyer, verkürzte und pauschalisierte dessen Ausführungen aber noch weiter und hielt autoritativ fest: „Die strenge Kontrolle des ‚Luxus‘, welche oft bis zu sehr eingreifenden Luxusverboten geht, richtet sich teils vom ständischen, teils vom kleinbürgerlichen Standpunkte gegen die Differenzierung der Lebenshaltung als Bedrohung der bürgerlichen Gleichheit.“37
Bürgerliche Gleichheit wird also durch Luxusverbote forciert – und diese sind damit integraler Bestandteil der angeblichen „Ständekämpfe“, die dann zur Demokratie führen sollten. Wirklich haltbar ist das alles – in Anbetracht der dünnen Quellenlage – nur bedingt und fehlt dementsprechend auch in den älteren Darstellungen. Die Prominenz, die Luxusverbote als Maßnahme des sozialen Ausgleichs nun plötzlich erhalten, verlangt daher nach einer Erklärung. Diese Erklärung hängt unmittelbar mit der zweiten Denkfigur zusammen, die in Ansätzen durchaus älter ist, aber Ende des 19. Jahrhunderts besonders wirkungsmächtig wurde, nämlich der Assoziation antiker Demokratien mit den Vorstellungen von Sozialneid, Sozialismus und einer den Privatbesitz bedrohenden Pöbelherrschaft. Webers Einschub, dass es bei den archaischen Ständekämpfen nicht nur einen „ständischen“, sondern auch einen „kleinbürgerlichen“ Standpunkt zu berücksichtigen gäbe, weist hier den Weg. 4. DER „STAAT DES GLEICHEN STIMMRECHTS“ UND DIE ANGST VOR DER „MASSE“ Die Angst konservativer Eliten im ausgehenden 19. Jahrhundert vor den „Massen“ und der Forderung nach gleichem Stimmrecht ist gut untersucht.38 Weniger gut untersucht ist der Umstand, dass die Skepsis gegenüber der Demokratie und die Furcht vor sozialistischen Umtrieben auch den Blick der Althistorie auf die antike Demokratie in dieser Zeit veränderte. 36 Meyer 1893, 571. Vgl. Meyer 1893, 621 (zu Luxusgesetzen in Korinth unter den Kypseliden) und 660 (zu Luxusgesetzen Solons in Athen). Die Gedanken finden sich analog auch in den späteren Auflagen, s. Meyer 1952–1958, Bd. 5, 512; 521–522; 526–527. 37 Weber 2006, 190; der Satz wurde identisch in die 3. Fassung übernommen, vgl. Weber 2006, 492; zu Meyers Einfluss s. Deiningers Kommentar ad loc. sowie seine Einleitung (ebd., 22). 38 Die Entwicklung des Konzepts einer Massenpsychologie bei Gustave Le Bon sowie die antiegalitären ‚klassischen‘ Elitetheorien des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind vor diesem Hintergrund zu sehen, vgl. Hartmann 2008, 13–42.
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Wirkungsmächtig war hier ein Außenseiter, der aber die Traditionsbildung des Faches zumal in Deutschland nachhaltig prägen sollte: der Basler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt. Der konservative Basler Patrizier war kein Demokrat und stand dem neu errichteten Schweizer Bundesstaat ablehnend (oder zumindest resigniert apolitisch) gegenüber. Diese pessimistisch-konservative Grundhaltung gepaart mit einer elitären Ablehnung der „Massen“ dürfte auch seinen Blick auf die Antike mitgeprägt haben:39 In seiner posthum zwischen 1898 und 1902 erschienen Griechische[n] Culturgeschichte zeichnete Burckhardt ein sehr düsteres Bild des demokratischen Athens. In der Frühzeit, so Burckhardt, sei Griechenland von einer Aristokratie dominiert gewesen, die sich durch ein „agonales“, ritterliches Wettkampfstreben ausgezeichnet habe. Dieser Adel pflegte zwar einen luxuriösen Lebenswandel, doch ökonomisches Gewinnstreben habe ihm ferngelegen.40 Auch in Athen sei die Generation „um 500“ noch „wohllebiger und prachtliebender“ gewesen, doch mit dem Aufkommen der Demokratie änderte sich dies, was Burckhardt auf die „hohen financiellen öffentlichen Zumuthungen“ und den „allgemeine[n] Neid“ zurückführte.41 Mit der Demokratie und der politischen Gleichheit kommt also der Sozialneid, der den Adel in seiner Lebensführung beschränkt. Nun haben wir aber bereits gesehen, dass das demokratische Athen in den antiken Quellen, anders als das frugale Sparta, durchaus mit einem gewissen Hang zu Luxus und Hedonismus assoziiert wurde. Für Rousseau war Athen denn auch weit entfernt von seiner Utopie einer „echten Demokratie“, sondern im Gegenteil ein moralisch verkommenes Sündenbabel. Das Raffinierte an Burckhardts Darstellung ist, dass er diesen Befund in sein Narrativ integriert, indem er einen doppelten Luxusbegriff benutzt. Zwar unterbindet die Demokratie den ständischen Luxus des alten Adels, doch fördert sie umgekehrt einen moralisch verwerflichen, rein auf Genuss und Konsum fokussierten Luxus: „Symposien und Hetären“, so Burckhardt, seien als „der einzige mögliche Luxus“ übriggeblieben „in einer Zeit und Stadt“, in der man keine kostbare Kleidung und Wohnung mehr haben konnte, nur 39 Burckhardts Leben und Werk ist intensiv erforscht. Einführend sei hier lediglich auf den kurzen Abriss bei Christ 1979, 119–158 verwiesen sowie speziell zu Burckhardts Demokratieverständnis und seinem Bild der Polis auf die einschlägige Studie von Bauer 2001, bes. 26–43 zu seiner politischen Einstellung. 40 Zu diesem sehr einflussreichen Bild und seiner Nachwirkung s. jetzt Meister 2020, 177–185. Dass „Luxus“ nicht als Merkmal einer vordemokratischen Aristokratie zu deuten ist, sondern als eine städtische Lebensweise, über die Zugehörigkeit zur Polis inszeniert wird, betonen (aus unterschiedlichen Perspektiven) Duplouy 2019, 152–200 und Meister 2020, 134–157. 41 Burckhardt 2012, 228–229: „Die frühere Generation, um 500, war wohllebiger und prachtliebender als die perikleische. […] Dagegen in der perikleischen Zeit vereinfachte sich die Tracht. Wurde man etwa der hohen financiellen öffentlichen Zumuthungen wegen etwas behutsamer? Der allgemeine Neid wird wohl wesentlich das Wunder vollbracht haben […]“. Allgemein zu Burckhardts Vorstellung (die sich weniger ausgeprägt auch bei Fustel 1866, 437–447 findet), dass politische Gleichheit die Masse dazu verleite, auch ökonomische Gleichheit anzustreben, Demokratie also einen Klassenkampf Arm gegen Reich begünstige, s. Bauer 2001, 175–177; 180–184.
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noch „ordinäre Sklaven“ als Dienerschaft hatte, keine Kutschen und Pferde mehr halten konnte und generell „[a]lles ‚Standesgemäße‘, Rang bezeichnende“ weggefallen sei. „Dass man dennoch nicht reich wurde“, dafür sei „durch Staatslasten und andere öffentliche Leistungen“ vorgesorgt worden.42 Die Unsicherheit des Besitzes unter den Bedingungen der Demokratie habe dazu geführt, dass man seinen Besitz lieber verprasste – in Burckhardts Worten: „Nichts ist sicher, als was Einer täglich mit Genuß an sich selber drauf gehen läßt.“43 Allerdings ist das vierte Jahrhundert bei Burckhardt generell eine Zeit der Dekadenz, und der Luxus in den reichen Kolonien sowie die Exzesse der halbbarbarischen Tyrannen sind ein deutliches Zeichen dieses Niedergangs, der nur durch die völlige „Abkehr vom Staat und vom Agonalen“ denkbar geworden sei.44 In diesem generellen Tableau des moralischen Verfalls steht das demokratische Athen dann wieder gar nicht so schlecht da. So meint Burckhardt: „Im Allgemeinen war zB: der athenische Privatluxus, so sehr im einzelnen Fall gescholten wird, wahrscheinlich noch sehr primitiv und gewiß eins der untergeordneten Phänomene des Sinkens.“45
Nach einer Sichtung der Klagen, die in den Quellen über athenischen Luxus begegnen, hält Burckhardt denn auch fest: „Wenn dieß Excesse waren, so stand es mit dem damaligen attischen Luxus der notorisch sehr Reichen noch nicht gefährlich. Wer Geld hatte, mußte es verfressen und verhuren; denn das Verbauen und Verkutschiren war gefährlich. Ein schönes Haus galt offenbar als Scandal. Das Volk betrachtete offenbar noch den Privatluxus als einen Raub an ihm; [...]“. 46
Hier ist es der im demokratischen Athen Burckhardts omnipräsente Sozialneid, der vor dem Absinken in die völlige Dekadenz bewahrt. Burckhardt hat also zwei Konzepte von Luxus: Einerseits eine luxuriöse ständische Lebensführung des agonalen Adels, die durch das Aufkommen der Demokratie beschnitten wird, andererseits einen rein auf Genuss ausgerichteten privaten Luxuskonsum, dem in der Demokratie eine kompensatorische Funktion zukommt und der gerade deshalb in der Demokratie blüht, der aber gleichzeitig durch den Neid des Volkes in seinen übelsten Exzessen gebremst wird. Man mag das – je nach Ansicht – als komplex oder als widersprüchlich bezeichnen. Doch komplexe Sachverhalte tendieren dazu, in der Rezeption verkürzt zu werden. So auch Jacob Burckhardt: Während das Bild eines agonalen archaischen Adels mit luxuriöser Lebensführung, der von aufstrebenden Wirtschaftsbürgern und ihrer Demokratie verdrängt wurde, eine breite Rezeption erfuhr,47 blieb der Burckhardt’sche Blick auf den gesteigerten Luxuskonsum gerade unter den Be-
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Burckhardt 2012, 277. Burckhardt 2012, 479–480. Burckhardt 2012, 476–477 (Zitat: 477). Burckhardt 2012, 499. Burckhardt 2012, 499. Meister 2020, 177–185.
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dingungen der Demokratie weitgehend ausgespart. Stattdessen erfolgte eine verkürzte Gleichsetzung von archaischem Adel mit Luxuskonsum und Demokratie mit Luxuskritik, die sich wunderbar mit der Denkfigur des Ständekampfs verbinden ließ. Burckhardt war sehr wirkungsmächtig. In seinem Narrativ verband sich das alte Bild des allmächtigen antiken Staates, der seinen Bürgern keine Freiheit gönnt, mit der Furcht vor der Masse, die sich dieses Staates bemächtigt und damit den Adel und die Reichen in ihrer luxuriösen Lebensweise beschneidet. War zu Beginn des 19. Jahrhunderts primär das oligarchische Sparta der Inbegriff des unfreiheitlichen antiken Staates,48 verlagerte sich nun der Fokus zunehmend auf das Schreckensbild einer ‚Pöbelherrschaft‘ und damit auf die antike Demokratie. Sehr deutlich wird dies bei einem etwas jüngeren Zeitgenossen Jacob Burckhardts: Robert von Pöhlmann. Pöhlmann ist gewissermaßen das Gegenteil von Burckhardt: Auf prominenten Lehrstühlen war er zu Lebzeiten gut vernetzt und breit rezipiert, entfaltete aber kaum längerfristige Wirkung.49 Ich greife ihn hier lediglich deshalb heraus, weil bei ihm mit aller wünschbarer Deutlichkeit klar wird, wie die Zeitgeschichte den Blick der Althistorie auf die antike Demokratie an der Wende zum 20. Jahrhundert geprägt und verändert hat. Pöhlmann verfolgte in seinen Arbeiten einen dezidiert sozioökonomischen Ansatz und sah in der Antike eine analoge Entwicklung zur europäischen Moderne. Zwischen 1893 und 1901 erschien in zwei Bänden seine Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus, die 1912 unter dem Titel Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt neu aufgelegt wurde. Im Vorwort zur zweiten Auflage schreibt Pöhlmann denn auch unmissverständlich, worum es ihm geht: „Hier [gemeint ist die Antike] liegt der Prozeß abgeschlossen vor uns, der in dem antiken ‚Staat des gleichen Stimmrechts‘ [...] nicht nur zur Überwindung eines staatswiderigen Aristokratismus und Plutokratismus, sondern sehr oft auch zur systematischen Ausbeutung, politischen Mundtotmachung und bis zur Expropriation der Besitzenden und der fortschreitenden Vergewaltigung der Minderheit durch die Massenmehrheit geführt hat.“50
Daraus leitet der Althistoriker direkte Lehren für die eigene Gegenwart ab. Denn dieser „typische Entwicklungsprozeß“ lasse die „ideologische Täuschung der Gegenwart“ über das eigentliche Wesen der Sozialdemokratie klar erkennen: „Hier“, so Pöhlmann beschwörend, „könnten unsere politischen Doktrinäre mit Händen greifen, zu welchen Konsequenzen ochlokratische Verwilderung und eine ‚den Wünschen der Massen entsprechende‘ Politik notwendig führen muß, was auf der politischen Bühne das entfesselte ‚Ungetüm‘ [...], das nun auch wieder im 20. Jahrhundert ‚mit der großen Schwere des gleichförmigen Massenkörpers herangekrochen kommt an die Tore der Zukunft‘, für Staat und Gesellschaft, für Eigentum, Freiheit und Persönlichkeit zu bedeuten hat.“51
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Constant 1970; dazu Nippel 2008, 201–207 sowie o. Anm. 20. Zu Pöhlmann s. Christ 1979, 201–247. Pöhlmann 1912, Bd. 1, viii. Pöhlmann 1912, Bd. 1, viii–ix.
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Das war hochaktuelle Polemik. Denn die Forderung nach einer Politik, die „den Wünschen der Massen“ entspreche, ist ein direktes Zitat des demokratischen Politikers Friedrich von Payer, der darin ein „Präservativ gegen die Sozialdemokratie“ sah.52 Gegen derartige „Naivität“ wollte Pöhlmann die Lehren aus der Geschichte stellen. Denn politische Gleichheit, so seine These, sei nur der Anfang und führe zwangsläufig zu einer Pöbelherrschaft der Masse und einer sozialistischen Gleichheit im ökonomischen Sinne. „Wenn man“, so Pöhlmann, „die soziale Frage der Gegenwart definiert hat als den ‚zum Bewußtsein gekommenen Widerspruch der volkswirtschaftlichen Entwicklung mit dem als Ideal vorschwebenden und im politischen Leben sich verwirklichenden Entwicklungsprinzip der Freiheit und Gleichheit‘, so hat man damit auch die soziale Frage gekennzeichnet, welche sich als das Ergebnis der inneren Entwicklung des hellenistischen Volksstaates ebenso notwendig einstellen musste wie im modernen Staat.“53
Demokratie sei dabei grundsätzlich gegen Reichtum ausgerichtet. Eine Behauptung, die bei Aristoteles durchaus Nahrung findet. Doch wo Aristoteles von „Reichen“ spricht, spricht Pöhlmann von „Reichtum“ und interpretiert das Ganze als Klassenkampf, der sich generell gegen Reichtum und Privatbesitz richte. Das zeichne die Demokratie von Beginn her aus: „So alt wie die Demokratie ist in Hellas die feindselige Spannung zwischen arm und reich. [...] Sofort nachdem die Masse in die Welt des geschichtlichen Handelns eingetreten, an der Wiege der Demokratie [bei Solon], tritt uns dieser Zwiespalt im Leben des Volkes scharf ausgeprägt entgegen.“54
Die sozialistische Tendenz antiker Demokratie tritt also in der Zeit auf, in der Meyer, Weber und andere „Ständekämpfe“ sehen wollten, doch bei Pöhlmann ist dies erst der Anfang, der zu einer immer weiter fortschreitenden Einschränkung von Besitz und Freiheit führe. Die Indizien dafür, dass Luxuskonsum und die Toleranz für Luxuskonsum gerade im demokratischen Athen besonders ausgeprägt waren, umgeht Pöhlmann mit einem höchst suggestiven Umgang mit den Quellen, die zugespitzt, umgedeutet oder schlicht ignoriert werden. Auch gelegentliche Zitate aus Jacob Burckhardts Griechische[r] Culturgeschichte55 helfen, das Bild eines antiken Pöbelsozialismus heraufzubeschwören. Natürlich wusste Pöhlmann, dass man das auch anders sehen konnte. Gegen die liberale Sicht George Grotes fährt er denn auch eine heftige Polemik. Grote, so die Kritik, projiziere die englischen Verhältnisse auf Athen. Dabei unterschätze der 52 Gegen diese „Naivität“ giftet Pöhlmann in einer Fußnote und verweist auf die „Seiten 347 ff.“ seiner Monographie, wo alles Notwendige zur „Psychologie der Masse und de[n] ‚Massenwünsche[n]‘“ gesagt sei; s. Pöhlmann 1912, Bd. 1, viii. Anm. 2. 53 Pöhlmann 1912, Bd. 1, 291–292. 54 Pöhlmann 1912, Bd. 1, 313. 55 Etwa Pöhlmann 1912, Bd. 1, 332, wo ein „treffendes Wort“ Burckhardts über die Gier des Volkes herangezogen wird, um das „systematischen Hineintragen des Klassengegensatzes in die Justiz“ zu untermauern.
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Brite aber, „daß der antike Hellene und der moderne Engländer ganz verschiedene Volkstypen repräsentieren“.56 Denn anders als dem Engländer läge dem Griechen liberales Denken fern, behauptet Pöhlmann und erklärt: „Man vergleiche nur die nüchterne Verständigkeit des Briten, insbesondere seine zurückhaltende kühle Skepsis in allen Dingen, die das Verhältnis zwischen Staat und Individuum betreffen, mit dem impulsiven Naturell des Griechen, der – gewöhnt, mit seinen Phantasien und Ideen in die Weite zu schweifen, und erfüllt von dem Aberglauben an die Allgewalt der politischen Macht – oft mit erschreckender Leichtigkeit zu bestimmen war, zur Erreichung seiner Ziele auch in der inneren Politik den Weg des Zwanges und der Gewalt zu beschreiten.“57
Der Brite, so kann man dies zusammenfassen, mag dem Individuum seine Freiheit zugestehen, der impulsive Grieche hingegen nutzt Demokratie, um Zwang und Gewalt gegen die Reichen auszuüben. Luxusverbote werden so zu einer stimmigen „demokratischen“ Maßnahme. Pöhlmann war zwar viel gelesen, aber nicht schulbildend – dafür waren seine Analogien zu plump und sein Widerspruch zu den Quellen zu offenkundig. Er zeigt aber mit aller wünschbarer Deutlichkeit, wie das eigene Zeitgeschehen um die Jahrhundertwende dazu führte, dass sich der Blick der Althistorie auf die Antike änderte. Luxusgesetze waren nun nicht mehr das Merkmal einer uniformierenden Oligarchie und auch keine sittlich-moralische Besserung mehr in der „Zucht des Staates“, sondern eine durch die Masse vorangetriebene Gängelung der Reichen. Dieser Gedanke ist bei Pöhlmann besonders ausgeprägt, doch er findet sich eben auch unabhängig davon bei Burckhardt und auf die archaischen Ständekämpfe bezogen auch bei Eduard Meyer und Max Weber. Burckhardts Konzept eines in standesgemäßem Luxus lebenden archaischen Adel, der in historisch hellerer Zeit verschwindet, gepaart mit der Vorstellung archaischer Ständekämpfe, die mit Luxusgesetzen gegen die gesonderte Lebensweise des Adels vorgehen, sollte dann die weitere Traditionsbildung im 20. Jahrhundert maßgeblich prägen. 5. LUXUSGESETZE, DEMOKRATIE UND DAS ABENDLAND IM 20. JAHRHUNDERT Die Gleichsetzung von Demokratie mit Sozialismus, wie sie bei Pöhlmann und etwas weniger ausgeprägt auch bei Burckhardt begegnet, setzte sich im 20. Jahrhundert nicht durch.58 Doch der Gedanke, dass der Beginn der Demokratie im sechsten
56 Pöhlmann 1912, Bd. 1, 340–341. 57 Pöhlmann 1912, Bd. 1, 341. 58 So betont Eduard Meyer in der letzten Auflage der Geschichte des Altertums in Bezug auf die Klassik dezidiert, dass die radikale Demokratie eben nicht eine Herrschaft der „Masse, des Pöbels über den Staat“ gewesen sei (Meyer 1952–1958, Bd. 6, 525), und hebt an anderer Stelle hervor, dass „die Gleichheitstheorie in der Praxis an der gesellschaftlichen Ordnung und an dem Instinkt der Menge“ scheiterte, die weiterhin adlige Führer gegenüber Emporkömmlingen bevorzugt habe (Meyer 1952–1958, 6; 530).
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oder gar siebten Jahrhundert liege und dort mit Luxusgesetzen einhergehe, die die bürgerliche Gleichheit mit Zwang durchsetzten, blieb davon unberührt. Man folgte hier Pöhlmann in der Hinsicht, dass der „Staat des gleichen Stimmrechts“ in der Archaik zur „Überwindung eines staatswiderigen Aristokratismus und Plutokratismus“ beigetragen habe, verwarf dann aber die für demokratische Westhistoriker gefährlich nach Marxismus riechende Idee, dass das dann zwangsläufig zu einer „Expropriation der Besitzenden und der fortschreitenden Vergewaltigung der Minderheit durch die Massenmehrheit“ geführt hätte. So blieb die Idee eines mit Luxusverboten operierenden archaischen Ständekampfs auch bei tendenziell konservativen und dezidiert anti-marxistischen Historikern weitverbreitet.59 Wes Geistes Kind die archaischen Ständekämpfe letztlich sind, zeigt sich aber im verwendeten Vokabular dennoch deutlich. Ein gutes Beispiel hierfür ist Alfred Heuss, der akademische Lehrer von Gehrke, der seinerseits stark von Max Weber und zumindest mittelbar auch von Jacob Burckhardt geprägt war. In seinem Beitrag zu „Hellas“ in den Propyläen Weltgeschichte geht er auf die archaischen Ständekämpfe als wichtiges Strukturmerkmal ein. Von einer „massiven sozialen Krise“ im siebten Jahrhundert ist dort die Rede, von „Spannungen“ zwischen „dem Adel und dem ‚gemeinen Mann‘, dem Volk oder griechisch ‚Demos‘“.60 Heuss spricht von einem „auf der ökonomischen Ebene sich abspielende[n] Klassenkampf“, von einem „grundbesitzlose[n] Proletariat“ und vom „Druck“, der von „verwahrlosten Leuten ohne wirkliches Einkommen ausging“.61 Der deutlichste Ausdruck dieser sozialen Konflikte seien sodann die Gesetzgebungen gegen Luxus als „eine sichtbare Front gegen die Gepflogenheiten des Adels“.62 Diese Denkfigur ließ sich auch mit dem alten, bei Ernst Curtius deutlich gewordenen Gegensatz von Orient und Abendland verbinden. So hob Santo Mazzarino, ein italienischer Wirtschaftshistoriker und Kommunist, in seinem 1947 erschienen Buch Fra Oriente e Occidente die Bedeutung nahöstlicher Üppigkeit (der habrosynē) für die archaische Aristokratie hervor und sah in der Beschränkung dieser Üppigkeit durch Tyrannen und Gesetzgeber eine Maßnahme auf dem Weg zur
59 So etwa deutlich bei Heuss 1973, der die „bürgerliche“ Französische Revolution von den „proletarisch sozialistischen Revolutionen“ der Moderne absetzt (ebd., 3–4); positiv gewürdigt werden dann die „dynamischen“ Revolutionen in der Archaik, die (ganz im Sinne Webers) die Verhältnisse der „Geschlechterstadt“ aufbrechen und zur Bürgerpolis führen – so wie dies (erneut analog zu Weber) auch in den italienischen Städten des Mittelalters geschah (ebd., 8–17). Die „Ständekämpfe“ in Rom werden dann ebenfalls als analoges Phänomen gesehen (ebd., 47–48). Bemerkenswert ist, dass in diesem klar unter dem Eindruck von 1968 entstandenen Aufsatz jeglicher Bezug zu archaischen Luxusgesetzen fehlt, die gut 10 Jahre zuvor noch ein prominentes Merkmal des „Ständekampfes“ waren (s. u.) – vor dem Hintergrund der dezidierten Abgrenzung gegen eine rein marxistische Deutung des Revolutionsproblems zog Heuss es offenbar vor, diese „sichtbare Front gegen die Gepflogenheiten des Adels“ (Heuss 1962, 136) mit Schweigen zu übergehen. 60 Heuss 1962, 137. 61 Heuss 1962, 139. 62 Heuss 1962, 136.
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isonomia und damit längerfristig zur Demokratie.63 Der Grundgedanke, der Mazzarinos durchaus differenzierter Betrachtung zugrunde liegt, findet sich dann auf einen plakativen Orient-Abendland-Gegensatz reduziert in Hermann Bengtsons Handbuch zur griechischen Geschichte wieder, wo Bengtson zwar die diversen Einflüsse des Orients auf die frühgriechische Gesetzgebung hervorhebt, dann aber betont: „Echt hellenisch war der Glaube, das Leben des Staates wie das der einzelnen Bürger durch eigens geschaffene Gesetze regeln und lenken zu können. Die Einzelbestimmungen der Gesetze gegen Luxus, Üppigkeit und Verschwendung [...] lassen das Wehen eines demokratischen Geistes verspüren, der den adligen Lebensformen offen den Kampf ansagt.“64
Die demokratische Luxusbeschränkung und der Glaube an die Macht des Staates als Alleinstellungsmerkmal des Abendlands – viele Traditionsstränge münden hier ein. Es ist dabei gerade nicht eine einzelne Autorität, die diese Denkfigur prägte, sondern der bei verschiedenen Autoren um die Wende zum 20. Jahrhundert greifbare gewandelte Blick auf die Demokratie und die mit sozialistischen Maßnahmen den Privatbesitz (und damit den Luxus) bedrohenden „Massen“. Der Konnex von Luxusbeschränkung und Demokratie und die Idee, dass in einem archaischen Ständekampf ein alter Adel durch demokratische Luxusgesetze beseitigt worden sei, floss in zahlreiche Handbücher ein und wurde dabei derart zur Gewissheit, dass man gar historisch gut fassbare Luxusgesetze wie jene des Demetrios von Phaleron 317 v. Chr. im Geiste der kaum fassbaren ‚demokratischen‘ Luxusgesetze der Archaik zu deuten versuchte. Der Blick auf die Forschungsgeschichte rund um die althistorische Beschäftigung mit Luxusgesetzen und antiker Demokratie zeigt damit nicht nur, wie die jeweilige Gegenwart die Interpretation der Vergangenheit verändert, sondern auch, wie empirisch problematische Denkfiguren innerhalb von Wissenssystemen zu Traditionen und scheinbaren Gewissheiten gerinnen können.65 Gerade in einem Fach wie der Alten Geschichte mit einer langen Forschungstradition und festgefahrenen Denkstilen ist das Analysieren und Hinterfragen dieser Traditionen keine bloße Nabelschau, sondern eine zwingende Notwendigkeit, um zu neuen Perspektiven zu gelangen. BIBLIOGRAPHIE Bauer 2001 = Stefan Bauer, Polisbild und Demokratieverständnis in Jacob Burckhardts „Griechischer Kulturgeschichte“, Basel – München 2001. Bengtson 1969 = Hermann Bengtson, Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit (= Handbuch der Altertumswissenschaften), München 41969.
63 Mazzarino 1947, bes. 191ff.; 214ff. 64 Bengtson 1969, 111. 65 Zur Wissensgeschichte, die gezielter als die klassische Wissenschaftsgeschichte danach fragt, wie kollektives Wissen generiert und durch Denkstile perpetuiert wird, s. etwa programmatisch Zittel 2014.
Luxusbeschränkung und antike Demokratie
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DAS SOMBART’SCHE „WEIBCHEN“? LUXUS UND GESCHLECHT
VON BLUMENKRÄNZEN, SALBÖLEN UND PURPURGEWÄNDERN Luxus und Geschlechterrollen im archaischen Griechenland Melanie Meaker, Mannheim 1. PROBLEMAUFRISS UND FRAGESTELLUNG „Ich habe vorhin die gemeinsamen Züge, die aller Luxus der frühkapitalistischen Epoche trägt, aufgewiesen. Jetzt möchte ich darauf aufmerksam machen, daß der Luxus in diesen fünf bis sechs Jahrhunderten auch Wandlungen erlebt, und möchte zeigen, wie sehr an diesen Wandlungen die Frauen (wie wir sie nun kennengelernt haben) schuld sind.“ 1
Mit diesen Worten leitet der deutsche Nationalökonom und Soziologe Werner Sombart ein Unterkapitel seiner 1913 erschienenen Monographie Luxus und Kapitalismus ein, das den vielsagenden Titel „Der Sieg des Weibchens“ trägt. Das Zitat zeigt auf eindrückliche Weise, in welchem Ausmaß Sombart seine soziohistorische Betrachtung des Phänomens „Luxus“ mit der Kategorie des Geschlechts verknüpfte.2 Ausgangspunkt seiner Überlegungen war bekanntlich die These, dass die steigende Nachfrage nach Luxusgütern um 1500 maßgeblich für die Entstehung des modernen Kapitalismus verantwortlich gewesen sei. Dieser erhöhte Bedarf an Luxusgütern war Sombart zufolge das Resultat zweier engverwobener Entwicklungen: Zum einen habe die seit der Renaissance wachsende Legitimität außerehelicher sexueller Beziehungen – erst an den europäischen Fürstenhöfen, ab dem 17. und 18. Jahrhundert zunehmend in den Kreisen des aufkommenden städtischen Bürgertums – zu einer Ausbreitung des Mätressentums geführt.3 Um Kurtisanen an sich zu binden, sei eine immer opulentere Zurschaustellung von Luxus vonnöten gewesen. Zum
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Ich bedanke mich ganz herzlich bei Elisabetta Lupi und Jonathan Voges für die Möglichkeit, zu diesem Sammelband beizutragen sowie für die gründliche Lektüre des Manuskriptes. Elisabetta Lupi hat darüber hinaus wichtige Hinweise zu weiterer Literatur und zum Aufbau des Aufsatzes gegeben. Ferner danke ich Alexander Meeus und Joshua Zacks für wertvolle Anmerkungen und Vorschläge. Für die Durchsicht des Manuskripts gilt mein Dank Lisa Kemle, Anne Kremer und Judith Schönholz. Sombart 1913, 111. Mit der Ausnahme von Sanford 1992 hat die Frage nach der Rolle der Frau in Sombarts Werken bisher kaum Aufmerksamkeit erfahren. In den Medien werden die misogynen Tendenzen Sombarts gerne beschönigt, wie z. B. der FAZ-Artikel „Die Liebe schuf den Kapitalismus“ von Braunberger 2011 zeigt. Sombart 1913, 45–69.
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anderen habe der ausschweifende Lebensstil vieler Mätressen zu einem Konkurrenzkampf zwischen Ehefrauen und Geliebten geführt, was die Luxusentfaltung abermals vorangetrieben habe.4 Die ‚Luxusgier‘ des weiblichen Geschlechts habe sich schließlich, von der Esskultur5 bis zur Mode, in allen Lebensbereichen niedergeschlagen und sei somit Nährboden des modernen Kapitalismus gewesen. Die tiefsitzende Misogynie der Sombartschen Luxustheorie bleibt in der soziologischen Forschung unübertroffen und spielt auch deshalb im heutigen Wissenschaftsdiskurs kaum mehr eine Rolle.6 Doch was bei Sombart auf solch absurde Art und Weise zum Ausdruck kommt, spiegelt sich auch in anderen soziologischen und historischen Studien wider: Die Wahrnehmung und Beurteilung von Luxuskonsum und Luxuspraktiken scheint von der Vormoderne bis zur Gegenwart in besonderem Maße mit gesellschaftlich fixierten Geschlechterstereotypen verknüpft worden zu sein.7 Die Frage nach dem Verhältnis von Geschlechterrollen und Luxusvorstellungen in unterschiedlichen Epochen und Gesellschaften stellt somit einen bedeutenden Aspekt der historischen Luxusforschung dar. Auch die antike griechische Welt ist hier keine Ausnahme. So konnte in der Forschung etwa herausgearbeitet werden, dass nach den Perserkriegen, die prägend für den griechischen Identitäts- und Alteritätsdiskurs waren und als Zäsur zwischen der archaischen und klassischen Zeit gelten, Luxus vor allem mit dem Osten und damit verbunden mit Weichheit und Unmännlichkeit assoziiert wurde. 8 Im Gegensatz zum klassischen (und später hellenistischen) Griechenland scheint Luxus in der Archaik jedoch ein gänzlich anderes Ansehen genossen zu haben:9 Denn neben einigen wenigen kritischen Stimmen wurde Luxus von den archaischen Dichterinnen und Dichtern vornehmlich zelebriert und gepriesen.10 In der älteren Forschung wurde dennoch immer wieder die These vertreten, dass Luxus im Allgemeinen und bestimmte Luxusgüter und -praktiken im Besonderen bereits in der Archaik vordergründig mit Mädchen und Frauen assoziiert wurden und somit bei Männern als 4 5
S. z. B. Sombart 1913, 68. Sombart 1913, 117, spricht von „einem Zusammenhang zwischen Süßigkeitskonsum und Weiberherrschaft“. 6 Zur Rezeption Sombarts in der modernen Soziologie s. Grundmann/Stehr 2001. Dass Sombart heute vielfach in Vergessenheit geraten ist, liegt jedoch in erster Linie an seiner offenen Nähe zum Naziregime. 7 In der soziologischen Luxusforschung des 19. und 20. Jahrhunderts spielt die Kategorie des Geschlechts etwa bei Georg Simmel (Philosophie der Mode, 1905) und Thorstein Veblen (The Theory of the Leisure Class, 1899) eine bedeutende Rolle. Studien zur historischen Luxus- und Konsumforschung mit Genderfokus sind z. B. Berg/Eger 2003 (Part IV); Berg 2005; Simonton/Kaartinen/Montenach 2015. 8 S. hierzu Kurke 1992. Contra Gorman/Gorman 2014, 31, die diesen Wandel erst im 2. bzw. 1. Jahrhundert v. Chr. in den Quellen erkennen. 9 Spätarchaische bzw. frühklassische Beispiele für den Versuch der Elite, die Zurschaustellung von Luxus in zunehmend demokratischen bzw. oligarchischen Kontexten zu verhandeln, stellen die Epinikien des Pindar und Bakchylides dar. S. hierzu Kurke 2013, 1–12. 10 Hierzu ist noch immer grundlegend Kurke 1992. In der neueren Forschung z. B. Bernhardt 2003, 19–21; Crielaard 2009; Duplouy 2018, 260–269.
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‚weibisch‘ galten.11 Dieser Annahme hat Leslie Kurke bereits 1992 in einem vielbeachteten Aufsatz widersprochen.12 Jüngere Forschungsbeiträge haben der Debatte nun jedoch neuen Aufschwung verliehen.13 Hier ist insbesondere die Monographie Rainer Bernhardts zu Luxuskritik und Aufwandsbeschränkungen im antiken Griechenland zu nennen, in der die These einer besonderen Assoziation von Luxus mit dem weiblichen Geschlecht in archaischer Zeit erneut formuliert wird.14 Die folgende Untersuchung widmet sich deshalb abermals der Frage nach dem Verhältnis von Luxus und Geschlecht im archaischen Griechenland. Im ersten Teil werden einige Grundüberlegungen zum Begriff Luxus sowie zu Luxusgütern und -praktiken in der archaischen griechischen Gesellschaft vorgestellt. Ausgehend von der bisherigen Forschung befasst sich der zweite Teil mit der These der vermeintlichen Verbindung von Luxus mit dem weiblichen Geschlecht und dessen Konnotation bei Männern mit Weiblichkeit und Effemination, wobei zentrale Argumente sowohl älterer als auch jüngerer Beiträge diskutiert werden sollen. Im Rahmen dieses Forschungsüberblicks werden ferner einige Probleme aufgezeigt, die sich bei dem Versuch ergeben, Luxus nicht nur als Mittel der sozialen Distinktion, sondern darüber hinaus als Ausdruck von Geschlechterdifferenz zu verstehen. Hierzu gehört in erster Linie der Mangel an zeitgenössischen Quellen, der die Frage nach der Repräsentativität einzelner Stimmen sowie nach der Belastbarkeit späterer Autoren für diese Epoche aufwirft.15 Der dritte Teil der Untersuchung greift anhand ausschließlich archaischer Überlieferungen die Frage des geschlechtsspezifischen Luxus erneut auf und argumentiert, dass die Beurteilung und Wahrnehmung von Luxus nicht allein von der Kategorie des Geschlechts, sondern auch maßgeblich vom sozialen Kontext des Luxuskonsums und den jeweiligen Akteurinnen und Akteuren abhing. Die Fokussierung auf die archaische Lyrik erlaubt dabei einen direkteren Zugang zur Epoche als klassische und hellenistische Schriftzeugnisse.16 Trotz der fragmentarischen Quellenlage, die kaum Rückschlüsse auf geographische Unterschiede und
11 Zu Luxus im Allgemeinen s. Lombardo 1983, 1083–1085; Hall 1989, 81. Zur These, dass spezifische Luxusgüter mit Frauen assoziiert worden seien und somit als ‚weibisch‘ galten, s. z. B. Beazley 1954 und Slater 1978. 12 Kurke 1992, bes. 99–101. Zu ihrer Argumentation s. u. 13 Neben Bernhardt 2003, z. B. de Paiva Gomes 2018. 14 Bernhardt 2003, 68. S. zu Bernhardts Thesen Abschnitt 3.2. 15 Das Problem des spärlichen zeitgenössischen Quellenmaterials, welches neben den diversen archäologischen Überresten fast ausschließlich die Fragmente archaischer Dichterinnen und Dichter umfasst, beschränkt sich selbstverständlich nicht allein auf Fragen der archaischen Luxusforschung. In Bezug auf die Quellenproblematik der archaischen Frauengeschichte s. z. B. Fantham et al. 1994, 10–11 und Blundell 1995, 65–66. 16 Die Fokussierung auf die archaische Lyrik ergibt sich vor allem daraus, dass der Begriff ἁβϱοσύνη (hierzu ausführlich im nächsten Abschnitt), mit dem sich Luxus im archaischen Griechenland am besten greifen lässt, in den Homerischen Epen keine Verwendung findet. In Abschnitt 4 werden zusätzlich einige Passagen von Hesiod herangezogen. Einen Überblick der einzelnen Untergattungen der archaischen Lyrik mit Themenschwerpunkten und Aufführungskontexten bietet Kurke 2003, 145–147.
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chronologische Entwicklungen erlaubt, lassen sich für die vorliegende Fragestellung dennoch einige Tendenzen herausarbeiten. So gewährt die archaische Dichtung nicht nur Einblicke in unterschiedliche soziale Handlungskontexte (z. B. oikos, Symposion, Kulte), sie lässt durch ihren gefühlsbetonten und ‚persönlichen‘ Charakter17 häufig auch Rückschlüsse auf archaische Wertvorstellungen zu.18 2. LUXUSGÜTER UND -PRAKTIKEN IM ARCHAISCHEN GRIECHENLAND Jede Untersuchung von Luxus im antiken Griechenland sieht sich mit zwei Problemen konfrontiert: Zum einen kennt die griechische Sprache kein direktes Äquivalent des Wortes „Luxus“ und zum anderen bleiben die unterschiedlichen Bedeutungsebenen des Begriffs auch im modernen Sprachgebrauch schwer zu greifen. Die althistorische Forschung ist diesem Problem auf verschiedene Weisen begegnet, wobei häufig auf eine Definition gänzlich verzichtet wird. Sozialhistorische Untersuchungen haben sich hingegen vielfach Thorstein Veblens Theory of the Leisure Class und sein Konzept des demonstrativen Konsums bzw. Müßiggangs zunutze gemacht.19 Obwohl sich Veblens Ansatz bisher als durchaus fruchtbar erwiesen hat, birgt die Anwendung seiner Theorie auf die griechische Welt des 7. und 6. Jahrhunderts20 auch Probleme, denn aufgrund der dünnen Überlieferungslage sind selbst grundlegende Fragen über das Wesen der archaischen Gesellschaft noch immer umstritten. So ist nach wie vor zweifelhaft, ob man bei den archaischen Eliten überhaupt von einer „leisure class“ sprechen kann.21 Darüber hinaus bleibt weiterhin unklar, welche Gesellschaftsgruppen Zugang zu bestimmten Gütern hatten,
17 Dabei kann natürlich nicht davon ausgegangen werden, dass das „lyrische Ich“ mit dem Verfasser bzw. der Verfasserin eines Gedichts identisch ist (zur Debatte s. Kurke 2003; Bagordo 2011, 129–130). Da hier weniger die persönlichen Auffassungen einzelner Protagonistinnen und Protagonisten von Bedeutung sind als allgemeine Wertvorstellungen, wird auf diese Debatte nicht näher eingegangen. Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden nicht konsequent zwischen Dichterin/Dichter und Sprecherin/Sprecher unterschieden. 18 Da einige Gattungen, wie etwa die Chorlyrik, explizit für das Vortragen in der Öffentlichkeit bestimmt waren, kann davon ausgegangen werden, dass die vermittelten Wertvorstellungen für die breitere Gemeinschaft von Relevanz waren. S. hierzu z. B. Henderson 2010, 75. 19 Veblen 1997. Auf Veblen beziehen sich z. B. Geddes 1987; Stein-Hölkeskamp 1989, 110; Miller 1997, 189–217; Mann 2007, 150; Fisher/van Wees 2015, 38–40 verstehen die archaischen Eliten als „leisure class“ im Sinne Veblens; Filser 2017 widmet der Theorie Veblens ein gesamtes Unterkapitel (S. 33–54). S. dazu die Einleitung dieses Sammelbandes. 20 Zeitangaben in diesem Beitrag datieren v. Chr. 21 Exemplarisch soll hier nur auf zwei aktuelle Forschungsbeiträge verwiesen werden: Die These der archaischen Eliten als „leisure class“ formulierten z. B. Fisher/van Wees 2015: „As it happens, class and status coincide at a key point in the social hierarchy characteristic of the ancient world where they separate the propertied classes from the rest of the community: those who owned enough property to be able to live off the labour of others were not just an objective economic class but also a self-conscious status group insofar as they adopted a shared leisured
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was wiederum die Frage aufwirft, wann von demonstrativem Konsum gesprochen werden kann.22 Ob und inwieweit Veblens Thesen auf das 7. und 6. Jahrhundert angewandt werden können, lässt sich somit schwerlich beantworten. Um das Konzept „Luxus“ für diese Epoche greifbar zu machen, bietet sich somit ein induktiver Ansatz an, der nach den Nuancen und Konnotationen griechischer Begriffe fragt, die in zeitgenössischen Texten Verwendung finden.23 In Bezug auf das archaische Griechenland ist die Erforschung von Luxus demnach eng mit dem Begriff ἁβϱοσύνη (habrosynē) bzw. ἁβρότης (habrotēs) und all seinen Derivaten verwoben.24 Übersetzt wird der Begriff, der vom 7. bis zum 5. Jahrhundert vor allem in der Lyrik Verwendung fand,25 zumeist mit „Luxus“, „Prunk“, „Üppigkeit“ und „Weichheit“.26 Da eine solche Übersetzung jedoch zu kurz greift, hat die Forschung sich darum bemüht, die unterschiedlichen Bedeutungsebenen und Konnotationen von habrosynē herauszuarbeiten. Das Wortfeld habrosynē umfasst demzufolge einen ganz spezifischen, extravaganten Lebensstil, der mit dem Osten und insbesondere den Lydern in Verbindung gebracht wurde. 27 Das Aufkommen des Begriffs im 7. Jahrhundert wird mit dem verstärkten Kontakt zwischen Ost und West erklärt, wobei zuerst die griechischen Oberschichten der kleinasiatischen Gebiete und daran anschließend die des griechischen Festlandes diesen Lebensstil übernahmen.28 Wie bereits Leslie Kurke herausarbeiten konnte, wurde habrosynē – im Gegensatz zu späteren Epochen – im 7. und 6. Jahrhundert zumeist in positiven Kontexten verwendet.29 Auf Basis der archaischen Lyrik arbeitete sie die folgenden Güter und Praktiken heraus, die mit habrosynē in Verbindung gebracht wurden:30
22 23 24 25 26 27 28 29 30
lifestyle.“ (S. 38). Gegen die Vorstellung einer müßigen Schicht sprach sich unlängst hingegen Meister 2020, 55–60, aus (konkret gegen den Begriff „leisure class“ in Bezug auf die archaischen Eliten s. S. 56 Anm. 36). So gehen z. B. Fisher/van Wees 2015, 32, davon aus, dass viele Güter, die gemeinhin als Luxusgüter verstanden werden (wie etwa Parfüm und Duftöle), nicht allein von der Oberschicht konsumiert wurden. Lombardo 1983, 1077. Für eine systematische Untersuchung einiger dieser Begriffe s. Gorman/Gorman 2014, 25–46. Der Begriff hat in der Forschung bereits einige Aufmerksamkeit erfahren, sodass ich mich im Folgenden auf die Ausführungen von Mazzarino 1947, 191–246; Lombardo 1983; Kurke 1992; Bernhardt 2003, 19–22 und Gorman/Gorman 2014, 30–34, stützen kann. Das Wortfeld ἁβρότης findet in den homerischen Epen keine Verwendung und lässt sich nur in einem Fragment Hesiods nachweisen, dessen Zuschreibung jedoch umstritten ist (Fr. 339 West). S. auch Kurke 1992, 93 mit Anm. 6–7, mit einer Sammlung der meisten Belegstellen. Z. B. LSJ: ἁβρότης „splendour, luxury“; Montanari: ἁβρότης „splendor, luxury, softness, delicacy“. Mazzarino 1947, 191–249; Lombardo 1983; darauf aufbauend Kurke 1992, 93–96. S. auch Bernhardt 2003, 30–34. Zur Verbindung des Begriffs mit den Lydern in den Quellen s. z. B. Kurke 1992, 93–94. S. z. B. Kurke 1992, 93, und Bernhardt 2003, 19. Kurke 1992, 98–101. Dass ἁβϱοσύνη in der Archaik nicht grundsätzlich negativ konnotiert war, wurde in der Forschung vielfach übernommen, z. B. von Bernhardt 2003, 19–20; Gorman/Gorman 2014, 30–31; Duplouy 2018, 260–261. S. zur Liste Kurke 1992, 96.
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1) Kleiderluxus im Sinne langer, fließender Gewänder aus kostbaren Materialien;31 2) eine lange, frisierte und geschmückte Haartracht;32 3) goldene Accessoires;33 4) das Tragen von Parfümen und Salbölen;34 5) Weingenuss;35 6) Musik;36 7) Sinnlichkeit;37 8) Blumenschmuck;38 und 9) Kopfschmuck (z. B. Stirnbänder).39 Im Bereich der Körperpflege ist ferner häufiges Waschen zu ergänzen. 40 In der Forschung werden darüber hinaus auch andere Güter und Praktiken, wie beispielsweise Parasole und das Fahren im Wagen, mit archaischem Luxus in Verbindung gebracht. Diese werden deshalb im folgenden Forschungsüberblick ebenfalls mitberücksichtigt.41 3. LUXUS ALS MERKMAL DER GESCHLECHTERDIFFERENZ? ANSÄTZE DER FORSCHUNG 3.1 „Nach Weibersitte“? Anakreons Invektive gegen Artemon Insbesondere in der älteren Forschung findet sich häufig die Annahme, dass bestimmte Luxusgüter und -praktiken schon in archaischer Zeit per se als feminin, und bei Männern folglich als „weibisch“ galten. Während sich diese These für die Klassik und den Hellenismus anhand unterschiedlicher Quellengattungen und Autoren plausibel machen lässt, kann hierfür in Bezug auf die Archaik nur eine einzige zeitgenössische Passage angeführt werden.42 Hierbei handelt es sich um die berühmte, von Athenaios überlieferte Schmähung des sozialen Aufsteigers Artemon durch Anakreon (um 575–490): „Früher der Filzhut auf dem Kopf, dazu ein enggeschnürtes Wams, / ärmliche Holzwürfel im Ohr, hängte er um die Rippen sich / ein kahles Ochsenfell, das einst / hüllte den Schild, schäbig und alt; lebte mit Hökerweibern und / Huren im Bund, dieser Filou, dieser Halunke Artemon, /
31 Thuk. 1.6.3; Xenophan. Fr. 3 Gentili/Prato spricht von purpurnen Mänteln (παναλουργέα); Sappho Fr. 100 LP bringt den Begriff ebenfalls mit extravaganter Kleidung in Verbindung. Zur Bedeutung des Kleiderluxus für die archaischen Eliten s. z. B. Stein-Hölkeskamp 1989, 105–107 und Kurke 1992, 96. 32 Semonides Fr. 7 West; Thuk. 1.6.3; Xenophan. Fr. 3 Gentili/Prato. 33 Thuk. 1.6.3 berichtet von goldenen Haarspangen, die das Haar der Männer zurückbanden. 34 Häufiges Baden sowie das Zurechtmachen der Haare finden sich bei Semonides Fr. 7 West. Auch Xenophan. Fr. 3 Gentili/Prato erwähnt lange und gepflegte Haare. Zur Verwendung von Parfüm bei den Griechen s. Lee 2015, 62–65. 35 Anakreon Fr. 373 PMG. 36 Anakreon Fr. 373 PMG. 37 Anakreon Fr. 373 PMG; Sappho Fr. 2 LP; Semonides Fr. 7 West. 38 Semonides Fr. 7 West. 39 Anakreon Fr. 37 Gentili. S. zur Interpretation des Fragments Kurke 1992, 96. 40 Semonides Fr. 7 West. 41 Vgl. beispielsweise Bernhardt 2003, 68, der darüber hinaus z. B. erlesene Speisen und kostbare Trinkgefäße nennt. 42 S. Anm. 15 oben.
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der so sein schmutziges Geld verdient. / Oft in den Holzblock seinen Hals legte er, oft ins Folterrad, / oft ward die Haut ihm mit der Zucht-Peitsche gegerbt und hundertmal / der Bart und Schopf ihm ausgerupft. / Heute jedoch prunkt er im Pracht-Wagen (σατινέων), der Kyke Sohn und trägt / goldenen Schmuck, hält einen Schirm, zierlich mit Elfenbein gestielt, / nach Weibersitte (γυναιξὶν αὔτως)…“43
Anakreons Invektive löste zusammen mit einer Gruppe spätarchaischer bis frühklassischer Vasen eine weitreichende Debatte aus. Die Vasengruppe eint ein hochumstrittenes Bildprogramm, welches sich um 630 erstmals greifen lässt und bis Mitte des 5. Jahrhunderts produziert wurde (Abb. 1).44 Zu sehen sind bärtige Komasten (Zecher) oder Symposiasten mit langen, fließenden Chitonen (leichten Untergewändern) und Himatien (Umhängen), die unterschiedliche Attribute wie Lederstiefel, Ohrringe, mitrai (Stirnbänder), Turbane, Sonnenschirme, Weingefäße oder lydische Musikinstrumente tragen – sprich Dinge, die zum Teil mit habrosynē und dem Osten assoziiert wurden. John Beazley benannte die Gruppe aufgrund eines erhaltenen Vasenfragments, das über einem dargestellten Komasten den Schriftzug „Anakreon“ trägt, „anacreontic vases“.45 Seit der erstmaligen Zusammenstellung der Gruppe durch Ernst Buschor 1923/24 stand die Frage nach dem Geschlecht der dargestellten Figuren und den geschlechtsspezifischen Konnotationen ihrer Attribute und Kleidung im Vordergrund vieler Analysen. Buschor selbst formulierte die These, dass die Vasen gar keine Männer, sondern Frauen abbilden, die zwar falsche Bärte, aber dennoch Frauenkleidung tragen.46 1954 widersprach Beazley dieser Auffassung und konstatierte, es handle sich umgekehrt um Männer, die sich beim kōmos (Gelage) in Athen als Frauen verkleiden.47 Ausschlaggebend für diese Interpretation waren sowohl die abgebildeten Kleidungsstücke (langer Chiton und Himation) als auch die Ohrringe, Sonnenschirme und Kopfbedeckungen, die er als Frauentracht las.48 Keith DeVries 43 Anakreon Fr. 388 PMG : πρὶν μὲν ἔχων βερβέριον καλύμματʼ ἐσφηκωμένα / καὶ ξυλίνους ἀστραγάλους ἐν ὠσὶ καὶ ψιλὸν περὶ/πλευρῆισι βοός, / νήπλυτον εἴλυμα κακῆς ἀσπίδος, ἀρτοπώλισιν / κἀθελοπόρνοισιν ὁμιλέων ὁ πονηρὸς Ἀρτέμων, / κίβδηλον εὑρίσκων βίον, / πολλὰ μὲν ἐν δουρὶ τιθεὶς αὐχένα, πολλὰ δʼ ἐν τροχῶι, / πολλὰ δὲ νῶτον σκυτίνηι μάστιγι θωμιχθείς, κόμην / πώγωνά τʼ ἐκτετιλμένος· / νῦν δʼ ἐπιβαίνει σατινέων χρύσεα φορέων καθέρματα / πάις Κύκης καὶ σκιαδίσκην ἐλεφαντίνην φορεῖ/γυναιξὶν αὔτως (Text Bruno Snell / Übers. Zoltan Franyó/Peter Gan). 44 Die erstmals von Buschor 1923/24 zusammengestellte Gruppe umfasste ursprünglich 15 attische Vasen und wurde von Beazley um 13 weitere Exemplare ergänzt. Kurtz/Boardman 1986 erweiterten die Gruppe auf insgesamt 46 (s. S. 47–50 für eine Liste aller Vasen dieses Bildprogrammes mit vorgeschlagener Chronologie). 45 Beazley 1954, 55–61. Dass die Abbildungen tatsächlich ein realistisches Abbild von Anakreon und seinem Kreis darstellen, wie Beazley und Slater 1978 vermuteten, wird heute zum Großteil bezweifelt (s. z. B. Heinemann 2016, 88–90). Vielmehr wird davon ausgegangen, dass es sich um eine Form der athenischen Anakreon-Rezeption handelt. Dazu Shapiro 2012, 17–20. 46 Buschor 1923/24. 47 Beazley 1954, 55–61. 48 So auch Slater 1978, der eine radikale Neuinterpretation des Artemon-Fragments vorschlug. Ihm zufolge nahmen sowohl Anakreon als auch Artemon an komoi teil, bei denen Männer Frauenkleidung trugen. Die Invektive Anakreons sei somit als gutgemeinte Satire gegen einen
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betonte 1973 hingegen die starken Gemeinsamkeiten der ‚anakreonteischen‘ Kleidung und Attribute mit östlicher und insbesondere lydischer Tracht und stritt somit deren vermeintlich weibliche Konnotation ab.49 Donna Kurtz und John Boardman, welche die Gruppe durch weitere Funde ergänzten, verglichen die Kleidung der abgebildeten Figuren schließlich in einer ausführlichen Detailstudie mit früheren Abbildungen. Auf dieser Basis argumentierten sie ebenfalls, dass die dargestellte Tracht vor dem 5. Jahrhundert typisch für Männer des griechischen Ostens und sogar auf dem griechischen Festland als Männertracht bekannt gewesen sei.50 Auch Turbane seien ursprünglich als männliche Kopfbedeckung aus dem Osten gekommen und auf Abbildungen des 6. Jahrhunderts sowohl von Männern als auch Frauen getragen worden. Die Ohrlöcher einiger früharchaischer Kouroi und männlicher Terrakottafiguren von Rhodos, Chios und Samos seien zudem ein Hinweis darauf, dass Ohrringe nicht allein Frauen vorbehalten gewesen seien.51 Inspiration habe diese Mode wohl in Lydien und Zypern gefunden, wo Ohrringe bei Männern schon länger belegt sind. Schließlich habe, zumindest in der Archaik, auch der Sonnenschirm in erster Linie als orientalisches Symbol männlicher Würdenträger gegolten, wenngleich er auf Abbildungen häufig von Frauen getragen wurde. 52 Nach Boardman gibt es somit keinen Grund zur Annahme, dass die auf den Vasen abgebildeten Kleider und Attribute in der Archaik per se als feminin galten.53 In Bezug auf die scheinbar widersprüchliche Passage Anakreons machte er zudem den Vorschlag, dass sich der Vorwurf „nach Weibersitte“ (γυναιξὶν αὔτως) allein auf den Diminutiv σκιαδίσκην (skiadiskēn), also das Sonnenschirmchen, bezogen haben könnte, welches also lediglich aufgrund seiner kleinen Größe nur für eine Frau angemessen gewesen sei.54 Der im Gedicht genannte „Wagen“ (σατίνη) sei zudem nicht mit „Prachtwagen“ oder „Frauenwagen“ zu übersetzen, sondern schlicht als „Maultier-
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Freund zu verstehen, die auf Veranstaltungen dieser Art üblich gewesen sei. Davies 1981 brachte hiergegen harsche, aber überzeugende Kritik an. DeVries 1973. Kurtz/Boardman 1986, 56–61. Das Tragen langer Chitone, die mit drapierten Mänteln kombiniert werden, findet sich seit der Mitte des 6. Jahrhunderts auch in der ostionischen Plastik, s. z. B. Kistler 2012. Kurtz/Boardman 1986, 62 mit weiteren archäologischen Funden, die auf Ohrschmuck bei Männern hinweisen (s. Anm. 125 mit Literaturhinweisen zu den Terrakottafiguren). Zu den fünf früharchaischen Kuroi mit Ohrlöchern s. auch Castor 2008, 8 mit Anm. 48. Anders zuvor Beazley 1954 und Slater 1978, 189–190. Kurtz/Boardman 1986, 64–65, gefolgt u. a. von Heinemann 2016, 91. Tatsächlich lässt der archäologische Befund für die Archaik keine näheren Aussagen zu. Eine Analyse des Bildmaterials liefert auch Miller 1992. Nichtsdestotrotz schließen beide nicht aus, dass die Athener im Rahmen des sich verändernden Luxusdiskurses nach den Perserkriegen die Kleidung der Komasten zunehmend als feminin ansahen. Kurtz/Boardman 1986, 69. S. auch Kurke 1992, 100 Anm. 38.
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wagen“. Anakreon habe somit vor allem die unterschiedlichen Arten der Fortbewegung betonen wollen: Während Artemon zuvor zu Fuß unterwegs gewesen sei, lasse er sich nun von einem Maultier ziehen.55 Obgleich sowohl die Interpretation der Vasengruppe als auch die des Anakreon-Fragments nach wie vor umstritten sind, ist sich die aktuelle Forschung größtenteils darüber einig, dass die dargestellten Komasten nicht effeminiert, sondern in ionisch-lydischer Luxustracht dargestellt werden.56 Dennoch hält sich die Vorstellung, dass kostbarer Schmuck57, Parasole58 und das Fahren im Wagen59 in der Archaik per se mit Weiblichkeit bzw. mit Effemination assoziiert worden seien, weiterhin hartnäckig – und dies, obwohl die Quellenlage hierfür im besten Fall als unzureichend charakterisiert werden kann. Die Debatte verdeutlicht die Schwierigkeiten, die sich bei der Einordnung einzelner Stimmen der archaischen Lyrik in einen übergeordneten antiken Luxusdiskurs ergeben: Was versteht Anakreon nun genau als „weibisch“?60 Wie repräsentativ ist die Passage für die archaische griechische Welt? Und wie lässt sich der archäologische Befund mit dem literarischen verbinden? Am Beispiel der vermeintlich weiblichen Konnotation von Ohrringen lässt sich dabei gut beobachten, dass den wenigen literarischen Belegen häufig eine größere Bedeutung beigemessen wird als den zahlenmäßig überlegenen archäologischen Darstellungen aus unterschiedlichen Regionen. Die Diskussion um die Übersetzung des Begriffs σατίνη (satinē) macht schließlich die Problematik der Zuschreibung bestimmter Güter und Praktiken als ‚Luxus‘ deutlich. Dementsprechend kann anhand dieses einen Fragments auch keine Assoziation von Luxus mit Weiblichkeit und Effemination nachgewiesen werden.
55 Welche Art des Wagens mit σατίνη gemeint ist, bleibt unklar. Basierend auf den Anmerkungen Leumanns 1933 wird der Begriff häufig als „Frauenwagen“ übersetzt: Campbell 1988, 77, kommentiert σατίνη mit „a womanʼs vehicle“; s. auch Brown 1983, 14 mit Anm. 80 und Stehle 1997, 229. In der archaischen und klassischen Literatur kann der Begriff jedoch insgesamt nur viermal nachgewiesen werden (Hom. h. Aphr. 5 V. 13; Sappho Fr. 44 LP; Anakreon 388 PMG; Eur. Hel. 1311–1314), wobei die Zuschreibung als Frauenwagen Interpretationssache bleibt. Neben Boardman übersetzt Olson 2010 σατίνη ebenfalls mit „mule-cart“. 56 Den Thesen von DeVries und Boardman folgten u. a. Kurke 1992; van Wees 1998, 362; Bruce 2011; Kistler 2012; Heinemann 2016, 90–94. Nach den geschlechtsspezifischen Konnotationen der Attribute und Kleidung suchten hingegen weiterhin Frontisi-Ducroux/Lissarrague 1990; Price 1990, 136 und Bernhardt 2003, 21. 57 In Bezug auf Schmuck s. in der neueren Forschung Bernhardt 2003, 29 und Lee 2015, 140: „Jewelry is clearly gendered feminine in the Greek mindset. […] Throughout Greek literature, gold jewelry enhances a woman’s beauty and also her power over men. Conversely, men who wear jewelry are considered effeminate, old-fashioned, pompous, or foppish“, mit Verweis auf den Schmuck der Göttinnen in der archaischen Dichtung und auf die Kritik des Thukydides (1.6.3), die aber gerade belegt, dass dies in der Archaik nicht der Fall war. 58 In der Forschung wird hier nur selten zwischen Archaik, Klassik und Hellenismus unterschieden; s. z. B. Hurschmann 2016. 59 Bernhardt 2003, 65, 68, der das Fahren im Wagen als Luxuspraktik identifiziert, sowie die pauschale Übersetzung von σατίνη als Frauenwagen (s. zur Debatte Anm. 55). 60 Dass diese Frage aufgrund der Quellenlage kaum zu beantworten ist, formulierte bereits Brown 1983, 14.
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Abb. 1: Kolonnettenkrater des Schweinemalers, um 470–460. Cleveland, Mus. of Art 26.449(BAPD 206434)
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3.2 „Weibischer“ Luxus? Frauen in den archaischen Aufwandsbeschränkungen In der jüngeren Forschung wurde die Frage nach dem Verhältnis von Luxus und Geschlecht aus einer gänzlich anderen Perspektive erneut aufgegriffen. Ausgehend von seiner Analyse der archaischen Luxuskritik und allgemeiner Aufwandsbeschränkungen resümiert Rainer Bernhardt: „Ferner wurde Luxus in besonderem Maße mit Frauen assoziiert und galt bei Männern als weibisch. Das Einschreiten gegen die Zurschaustellung von Luxus – soweit es dazu kam – richtete sich schwerpunktmäßig gegen Frauen.“61
Bernhardts Thesen stützen sich dabei, wie er selbst anmerkt, fast ausschließlich auf Textpassagen, die von deutlich späteren Autoren überliefert worden sind. Aufgrund der eingangs angesprochenen Veränderungen in der Auffassung und Beurteilung von Luxus um die Wende des 6. zum 5. Jahrhundert hält diese Vorgehensweise jedoch einige methodische Probleme bereit.62 So sind die seit dem 5. Jahrhundert in der Historiographie greifbaren Luxusvorstellungen zumeist mit Tyrannen-, Perser- und Dekadenzdiskursen verwoben und auf die Vergangenheit projiziert worden.63 Für eine historische Analyse der Archaik können sie in Bezug auf Luxus somit nur selten herangezogen werden. Dies lässt sich etwa an einer von Herodot (ca. 485–424) überlieferten Passage über den korinthischen Tyrannen Periander (gest. ca. 585) und dessen Ehefrau Melissa festmachen, die hier exemplarisch besprochen werden soll:64 Dem von Herodot angeführten Korinther Soklees zufolge war Melissa von ihrem Ehegatten ermordet, ihre Leiche anschließend geschändet und ohne die vorgesehene rituelle Verbrennung der Kleidung bestattet worden.65 Aus dem Jenseits heraus habe sie 61 Bernhardt 2003, 68. Zum selben Ergebnis kommt er nach der Analyse der Sepulkral- und Kultgesetze auf S. 104: „Demnach verfolgten die Ordnungsvorschriften in besonderer Weise den Zweck der Disziplinierung von Frauen, denen man eine geschlechtsspezifische Affinität zu Luxus und Verschwendung, Indezenz und ‚Maßlosigkeit‘ – auch bei Trauerbekundungen unterstellte. Die gleiche Tendenz haben wir schon in der zeitgenössischen [gemeint ist die archaische] Kritik des allgemeinen Luxus beobachtet.“ 62 Zu Wandlungen des Luxusverständnisses in dieser Zeit s. z. B. Geddes 1987; Kurke 1992. Gorman/Gorman 2014 argumentieren hingegen, die griechische Historiographie habe erst im Zuge des engen Kontakts mit der moralisierenden Geschichtsschreibung der Römer (sprich im späten Hellenismus) den Topos des ‚verderblichen Luxus‘ als treibende Kraft der Geschichte gebraucht. Demzufolge lasse sich beispielsweise aus Herodot nicht herauslesen, dass der Fall des persischen Reiches auf den luxuriösen Lebensstil der Perser und daraus resultierend deren Verweichlichung zurückzuführen sei. 63 Zur Darstellung und Bewertung von Luxus in der moralisierenden Geschichtsschreibung klassischer und hellenistischer Autoren s. Hau 2016, passim (Index s.v. luxury). Für Athenaios, der sich Luxus gegenüber äußerst kritisch gibt und viele hellenistische Autoren zitiert, die heute nicht mehr erhalten sind, haben dies ausführlich Gorman/Gorman 2007 zeigen können. 64 Im Folgenden können nur einige der angeführten Quellenpassagen besprochen werden. Der Fokus liegt dabei auf Kapitel II in Bernhardt 2003, das sich mit der Archaik befasst. 65 Hdt. 5.92 und 3.50. Melissa erwähnen zudem Athen. 13.56; Diog. Laert. 1.94 und 1.100; Paus. 2.28.8 und Nikol. FGrHist 90 F 58.
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sich deshalb darüber beklagt, dass sie nackt sei und friere, woraufhin Periander alle Frauen der Stadt per Edikt im Heratempel versammeln ließ. Auf Geheiß des Tyrannen sei den Frauen dann zuerst die Festtagskleidung geraubt und diese schließlich seiner toten Ehefrau geopfert worden. Bernhardt zufolge sei die primäre Funktion dieser Geschichte zwar, den Schrecken tyrannischer Herrschaft zu unterstreichen, allerdings sei hier möglicherweise auch eine historische Kleiderluxusbeschränkung für Frauen zu erkennen.66 Der Versuch, die von Tyrannentopoi durchtränkte Anekdote auf einen historisch realen Kern zu reduzieren, bleibt jedoch, wie so häufig in der Tyrannenforschung, methodisch problematisch.67 Darüber hinaus ist bei Herodot nur von einem Einzelfall und keineswegs von einer langfristig angelegten, geschweige denn von einer luxusbeschränkenden, Verordnung die Rede. Ähnliches gilt auch für andere angeführte Anekdoten. Einige von diesen, wie die vermeintliche Kleiderordnung des mythischen Königs von Megara, Nisos,68 oder die Luxusbeschränkungen des Nomotheten Zaleukos aus dem unteritalienischen Lokroi, legt auch Bernhardt als ätiologische Legenden oder spätere Erfindungen aus.69 Anderen Berichten, wie den des Hippias von Erythrai (spätes 4. Jahrhundert?), der über die archaischen Tyrannen der Stadt berichtet, dass sie im Winter Frauenschuhe trugen und wie Frauen einen Hang zu Goldschmuck aufwiesen, wird hingegen ein historisch realer Kern eingeräumt.70 Nach welchen Kriterien zwischen authentischen Erzählungen (oder solchen mit authentischer Grundlage) und späteren Erfindungen zu unterscheiden sei, bleibt dabei jedoch unklar.
66 Bernhardt 2003, 24. Bernhardt räumt zudem die Möglichkeit ein, dass es sich dabei um eine „Kultvorschrift, deren Befolgung Periander in drastischer Weise erzwang“ gehandelt haben könnte, wobei er eine stark konstruierte Parallele in der Gesetzgebung Krotons im 6. Jahrhundert sehen will. Auch diese ist jedoch nur durch den kaiserzeitlichen Philosophen Iamblichos (VP 56) überliefert. 67 Zu diesen Topoi gehört etwa die Gewalt gegen Frauen, der Verstoß gegen gesellschaftliche Normen sowie die Entweihung von Heiligtümern. Eine Analyse der häufigsten Tyrannentopoi liefert Luraghi 2015, der ebenfalls darauf hinweist, dass diese Art der Überlieferungen sich nicht für eine historische Analyse der archaischen Tyrannis eignen. Zu Periander und Melissa s. Soares 2014, 227–230 und Schmitz 2010, 42–43. 68 Plut. Mor. 295a. Plutarch zufolge soll Nisos nach dem Tod seiner Gattin ein Gesetz verabschiedet haben, nach dem es den Frauen der Stadt nur noch gestattet war, das gleiche Kleid wie das seiner verstorbenen Gattin zu tragen. Alle späteren Versuche der megarischen Frauen, eine neue Tracht einzuführen, seien durch einen Orakelspruch verhindert worden. S. Bernhardt 2003, 22. 69 Überliefert von Diod. 12.21.1–2. Zaleukos soll Frauen, die keine Hetären waren, unter anderem verboten haben, teure Kleidung und Goldschmuck in der Öffentlichkeit zu tragen. Zur kritischen Beurteilung der überlieferten Gesetze s. z. B. Hölkeskamp 1999, 187–198. 70 FGrHist 421 F 1. Bernhardt 2003, 29, geht bei dem hellenistischen Autor von der Verwendung einer „hochranginge[n] archaische[n] Quelle“ aus. Da sich die von Athenaios überlieferte Passage jedoch einer ganzen Reihe gängiger Tyrannentopoi klassischer und hellenistischer Zeit bedient, scheint es plausibler, dass die Darstellung grundsätzlich von Hippias selbst stammt. Zur hellenistischen Ideologie dieser Stelle s. Simonton 2018, 517 Anm. 96.
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Zeitgenössische Quellen71 kommen hingegen vor allem bei der Besprechung der kultischen Aufwandsbeschränkungen in Kapitel IV des Buches zur Sprache, wo zwei Gesetze der späten Archaik bzw. frühen Klassik angeführt werden. Hierzu zählt eine äußerst fragmentarische Inschrift aus Lakonien, deren ursprünglicher Sinn kaum zu rekonstruieren ist.72 Ob die Inschrift tatsächlich ein Weihungsverbot bunter Kleidung an die Göttin Demeter beinhaltet – das wohl in erster Linie Frauen betroffen hätte –, lässt sich auf Grund des schlechten Erhaltungszustandes nicht nachvollziehen.73 Die zweite lex sacra aus Arkadien, welche die Organisation des Festes der Demeter Thesmophoros betrifft, enthält dagegen eindeutig ein Gesetz, das Frauen, die bunte Kleider tragen, dazu verpflichtet, diese zu weihen.74 Fraglich ist jedoch, ob es sich hier konkret um einen Versuch handelt, gegen Luxus vorzugehen, oder ob der Ursprung des Gesetzes nicht viel eher kultischen Vorstellungen entspricht. Da der Kontext des Inschriftenfragmentes nicht mehr zu rekonstruieren ist75 und Parallelen in anderen Kultgesetzen dieser Zeit fehlen, bleibt die Signifikanz und Aussagekraft der Regelung ungewiss. Ein gezieltes, geschlechtsspezifisches Eingreifen gegen die Zurschaustellung von Luxus in der archaischen Epoche lässt sich anhand dieser Regelungen in jedem Fall nicht nachweisen.
71 Auf die vermeintlichen Bestimmungen Solons, die gelegentlich als genuine archaische Aufwandsbeschränkungen interpretiert werden, kann hier nicht näher eingegangen werden. Hier soll deshalb der Hinweis genügen, dass aus dem von Plutarch (Solon 20) und Pollux (1.246) überlieferten Gesetz der Regulierung der φερνή (Mitgift) ebenfalls nicht auf eine Regulierung ‚weiblichen Luxus‘ geschlossen werden kann: Da die antike Eheschließung in erster Linie eine wirtschaftliche Transaktion zwischen dem zukünftigen Ehemann und dem Vater der Braut war, betraf sie Männer mehr als Frauen. S. zur Mitgift im antiken Griechenland z. B. Schmitz 2007, 34–35 und Wagner-Hasel 2009 (spezifisch zur solonischen Regelung 151–156). Aufgrund der undurchsichtigen Überlieferungslage kann auch das Solon zugeschriebene ‚Sepulkralgesetz‘, welches Plutarch (Solon 21.5) zufolge einen Passus enthielt, der den Kleiderluxus von Frauen in Athen begrenzen sollte, nicht für eine solche These herangezogen werden. So wird vielfach davon ausgegangen, dass dieses von Plutarch fälschlicherweise aus Passagen unterschiedlicher Kult- und Sepulkralgesetze zusammengesetzt wurde. Da die Bestimmungen, die unter anderem eine allgemeine Beschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen beinhalten, viel eher in das Athen des 4. Jahrhunderts passen, vermutete bereits Ruschenbusch 2010, 141, dass es sich hier nicht um ein Gesetz Solons, sondern des Demetrios von Phaleron handelt, den Plutarch an anderer Stelle als Quelle zitiert (Solon 23.3). Die Nennung der Gynaikonomie an dieser Stelle, die wohl unter Demetrios von Phaleron eingeführt wurde, spricht ebenfalls dafür, dass der kaiserzeitliche Autor hier Demetrios selbst folgt, der seinem eigenen Gesetz mit Verweis auf Solon Autorität verleihen wollte. S. hierzu z. B. O’Sullivan 2009, 49–50. Zur Bedeutung der Luxusbeschränkung unter Demetrios von Phaleron s. den Beitrag von Meister im vorliegenden Band. 72 SEG XI 475a; IG V 1 722. 73 S. z. B. Hölkeskamp 1999, 65 Anm. 14. Auch Beattie 1951 geht bei seinem Rekonstruktionsvorschlag des Textes nicht von einem solchen Verbot aus. 74 SEG XI 1112. S. zu diesem Kultgesetz Hölkeskamp 1999, 72. 75 Auf das Fehlen einer Ratifikationsformel oder ähnlichen Einleitung verweist bereits Hölkeskamp 1999, 72, der davon ausgeht, dass es sich um ein zufällig erhaltenes Bruchstück der Vorschrift handelt.
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3.3 Zwischenfazit: Luxuskonsumentinnen und -konsumenten in der archaischen Dichtung Tatsächlich legt der Blick auf die Akteurinnen und Akteure, die in der archaischen Lyrik Luxusprodukte konsumieren oder an Luxuspraktiken teilhaben, viel eher nahe, dass sich hier kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern zeigen. 76 So war es offenbar für beide Geschlechter möglich, durch das Tragen feiner, fließender Gewänder und kostspieliger Mäntel am Kleiderluxus teilzuhaben.77 Den Kleiderluxus von Frauen bezeugt etwa Alkaios (7./6. Jahrhundert), der von Teilnehmerinnen eines Schönheitswettbewerbs auf Lesbos (die Kallisteía) schwärmt, die in „nachschleppenden Gewändern“ (ἑλκεσίπεπλοι) auf und ab liefen.78 Teilt man die Auffassung, wonach die mit raffinierten und farbenfrohen Gewändern gekleideten archaischen Korenstatuen idealisierte Eigenschaften und Verhaltensweisen der weiblichen Mitglieder der Elite darstellen, so legen diese bildlichen Zeugnisse ebenfalls die große Bedeutung des Kleiderluxus für Mädchen und Frauen nahe. 79 Kleiderluxus lässt sich jedoch auch bei männlichen Polisbürgern nachweisen: Schneeweiße und bodenlange Chitone wurden Asios von Samos (7./6. Jahrhundert) zufolge etwa im Rahmen des samischen Herafestes getragen, wo die Gewänder mit schönen Mänteln (εἵμασι καλοῖς) kombiniert wurden.80 Xenophanes (570–467) berichtet
76 So auch schon Kurke 1992, 97–100, sowie Duplouy 2018, 260–261. 77 Für eine kritische Auswertung des archäologischen Materials für Frauenkleidung s. Junker/Tauchert 2015. Zum Kleiderluxus der archaischen Eliten s. z. B. Stein-Hölkeskamp 1989, 105–107. 78 Alkaios Fr. 130 LP, Z. 32–35: ὄππαι Λ[εσβί]αδες κριννόμεναι φύαν/πώλεντʼ ἐλκεσίπεπλοι, περὶ δὲ βρέμει/ἄχω θεσπεσία γυναίκων/ἴρα[ς ὀ]λολύγας ἐνιαυσίας. – „…lesbische Fraun drehn / langgewandet im Tanz hier sich, es schallt ringsum / jubelnd jauchzender Schrei der Fraun und / zum heiligen Fest himmelan tönt ihr Ruf…“ (Übers. nach Max Treu). Page 1955, 199, übersetzt „girls“, allerdings ist hier nicht von παρθένοι, sondern von γυναῖκες (Z. 34) die Rede. Dass es sich hier wohl um ein Ritual für erwachsene Frauen und nicht Mädchen oder parthenoi handelt, formuliert auch Calame 1997, 122. Sappho Fr. 17 LP erwähnt ebenfalls das Fest sowie den Wettbewerb. Möglicherweise wird bereits in der Ilias auf dieses Fest verwiesen; so jedenfalls Nagy 2010, 241–250, ausgehend von Schol. A. Hom. Il. 1.129. 79 So z. B. Schneider 1975, 31–37, zur Kleidung insbesondere 19–23. Zu archaischen Koren s. z. B. Richter 1968 und Stieber 2004. Zum Kleiderluxus archaischer Frauen und Mädchen s. auch Stein-Hölkeskamp 1989, 108. 80 Asios Fr. 13 Kindel: οἳ δʼ αὔτως φοίτεσκον ὅπως πλοκάμους κτενίσαιντο / εἰς Ἥρης τέμενος, πεπυκασμένοι εἵμασι καλοῖς, / χιονέοισι χιτῶσι πέδον χθονὸς εὐρέος εἶχον· / χαῖται δʼἠιωρεῦντʼ ἀνέμωι χρυςς ἐνὶ δεσμοῖς, / χρύσειαι δὲ κορύμβαι ἐπʼ αὐτῶν τέττιγες ὥς· / δαιδαλέας δὲ χλιδῶνας ἄρʼ ἀμφὶ βραχίοσʼ ἕσαντες /τες ὑπασπίδιον πολεμιστήν. – „Diese begaben sich so zu der heiligen Stätte der Hera, / dass sie die Locken frisierten, in schöne Gewänder gekleidet. / Mit ihren schneeweißen Kleidern bedeckten sie weithin den Boden, / golden erglänzte das Haupthaar von Spangen. / Flechten, mit goldenen Bändern gehalten, verwehten im Winde, / kunstvoll gefertigte Ringe bedeckten die Arme /…einen Krieger da unter dem Schilde“ (Übers. [apud Athen. 12.525f] Claus Friedrich). Die Datie-
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darüber hinaus von den purpurfarbenen Mänteln (παναλουργέα φάρε’) der Kolophonier.81 In Athen war es nach Thukydides auch in der Generation der Marathonomachoi noch üblich, dass wohlhabende Bürger einen Chiton aus kostbaren Leinen trugen.82 Auch wenn der Kleiderluxus – wie das Fragment des Xenophanes deutlich macht – gelegentlich von Zeitgenossen kritisiert wurde, so scheint er doch in vielen archaischen Poleis, insbesondere in Ionien und Magna Graecia 83, gängig gewesen zu sein.84 Die Passagen des Asios und Thukydides zeigen darüber hinaus: Das Anlegen von goldenem Schmuck musste keineswegs nur Frauen vorbehalten sein, denn zumindest auf Samos und in Athen trugen Männer ebenso goldene Haarspangen. Asios erwähnt zusätzlich noch goldene Haarbänder und Armreifen. Selbiges lässt sich für die mit Luxus verbundene Körperpflege festhalten. Sowohl das Einsalben von Körper und Haar mit Parfüm und Duftölen, als auch das Tragen langer, gepflegter und frisierter Haare findet sich in den Überlieferungen bei Männern und Frauen gleichermaßen.85 Gerade bei Ersterem sparten auch Männer nicht, wie die Aufforderung in einem Alkaios-Fragment zeigt, wonach man dem Sprecher beim Trinkgelage duftendes Öl über Kopf und Brust gießen möge.86 Wohlriechende Salben, die beim Symposion von Knaben an die Gäste verteilt wurden, nennt zudem
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rung des Fragments ist umstritten, die neuere Forschung geht jedoch von einer Zeitspanne zwischen dem 7. und 6. Jahrhundert aus. S. Zur Interpretation des Fragments Tsagalis 2017, 246–247. Xenophan. Fr. 3 Gentili/Prato: ἁβροσύνας δὲ μαθόντες ἀνωφελέας παρὰ Λυδῶν, / ὄφρα τυραννίης ἦσαν ἄνευ στυγερῆς, / ἤιεσαν εἰς ἀγορὴν παναλουργέα φάρεʼ ἔχοντες, / οὐ μείους ὥσπερ χείλιοι ὡς ἐπίπαν, / αὐχαλέοι, χαίτηισιν †ἀγαλλομεν εὐπρεπέεσσιν, / ἀσκητοῖς ὀδμὴν χρίμασι δευόμενοι. – „Aber sie lernten das nutzlose Schwelgen von Lydern, / vorher noch waren sie frei, ohne belastenden Druck. / Da nun begaben sie sich auf den Markt ganz in Purpur gekleidet, / Tausende, weniger nicht, trugen die Nasen ganz hoch, / ließen sich reichlich bewundern mit prächtigem Haarschmuck, / triefend von Salben mit Duft, künstlich geschaffen für sie“ (Übers. [apud Athen. 12.526b] Claus Friedrich). Thuk. 1.6.3 zufolge waren Chitone in Athen „bis vor kurzem“ Mode. In ihrem vielbeachteten Aufsatz über diese Trendwende geht Geddes 1987 davon aus, dass diese bereits im 6. Jahrhundert in Athen praktiziert wurde (S. 307). Zu dieser Veränderung in der Kleidermode s. Lupi in diesem Band. S. die Beschreibung der Gewänder der Siriten bei Timaios FGrHist 566 F 51. Dass Xenophan. sich mit dieser Kritik gegen die Mehrheit der kolophonischen Elite stellt und somit eine Ausnahmeposition vertritt, zeigt Tor 2020, 31–34. Für weitere Beispiele und zur Anerkennung von Luxus in den archaischen Poleis allgemein s. z. B. Duplouy 2018, 262–270. Für die Verwendung von Parfümen und Duftölen bei Männern s. z. B. Xenophan. Fr. 1 und Fr. 3 Gentili/Prato; Alkaios Fr. 50 LP; bei Frauen: Alkman Fr. 3 PMG; Archilochos Fr. 48 West (die Zuschreibung des Gedichts an Achilochos ist umstritten, wird jedoch von West plausibel gemacht); Semonides Fr. 7 West; Sappho Fr. 94 LP. Das Tragen langer und frisierter Haare bei Männern z. B.: Xenophan. Fr. 3 Gentili/Prato; Asios Fr. 13 Kindel; Thuk. 1.6.3; bei Frauen: Semonides Fr. 7 West. Alkaios Fr. 50 LP, Z. 1–2: κὰτ τὰς πόλλα π[αθοίσας κεφάλας χεε μοι μύρον] / καὶ κὰτ τὼ πολ[ίω στήθεος]. – „Gieß aufs Haupt mir, das so vieles an Leid sehen mußt, duft’ges Öl, / auf die Brust, die schon grau…“ (Übers. Max Treu).
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Xenophanes.87 An (Blumen)kränzen und Girlanden erfreuten sich schließlich nicht nur Sappho und ihr Mädchenkreis, sondern gleichermaßen Xenophanes, Theognis und Anakreon im Rahmen von Symposien.88 Letztlich ist der „Fraueniambos“ des Semonides (7. Jahrhundert) die einzige erhaltene zeitgenössische Quelle, die entschiedene Kritik an Frauen übt, die bestimmten Luxuspraktiken nachgehen.89 Diese eine, explizit gegen Frauen gerichtete Passage, steht dabei jedoch der Kritik des Xenophanes gegenüber, der ausdrücklich die männlichen Polisbürger Kolophons und deren öffentliche Zurschaustellung von habrosynai ins Visier nimmt.90 Die These einer besonderen Assoziation von Luxus mit Effemination und dem weiblichen Geschlecht lässt sich anhand des zeitgenössischen Quellenmaterials für die Archaik somit genauso wenig plausibel machen wie die These spezifisch „weibischer“ Luxusgüter und -praktiken – vielmehr scheinen sie geschlechterübergreifend genutzt und kritisiert worden zu sein. 4. LUXUS IM LICHTE ARCHAISCHER GESCHLECHTERROLLEN Die erhaltenen Fragmente archaischer Dichterinnen und Dichter legen trotz dieser Gemeinsamkeiten auch geschlechtsspezifische Unterschiede in Bezug auf Luxus nahe. Da Frauen der Zutritt zu vielen Gesellschaftsbereichen und Institutionen verwehrt blieb, divergierten beispielsweise die sozialen Kontexte, in denen die Partizipation am Luxuskonsum für Männer und Frauen möglich war.91 In erster Linie ist hier der Ausschluss von Bürgerinnen vom Symposion zu nennen,92 wo der großzügigen Verwendung von Parfümen und Salbölen, dem Tragen von Blumenkränzen sowie reichlich gedeckten Tischen eine große Bedeutung beigemessen wurde.93 Für Mädchen und Frauen lässt sich dies hingegen nur in rituellen und häuslichen Kontexte greifen. Ersteres wird in den Fragmenten Sapphos besonders deutlich, die darauf schließen lassen, dass bestimmte Luxuspraktiken in dem von ihr geleiteten 87 Xenophan. Fr. 1 Gentili/Prato. 88 Zu Sappho z. B. Fr. 94 LP; Xenophan. Fr. 1; Thgn. 1001; Anakreon Fr. 397 PMG. S. zur Bedeutung von Kränzen beim Symposion Blech 1982, 63–74. 89 Semonides Fr. 7 West, Z. 57–70. Eine ausführliche Besprechung der Passage folgt in Abschnitt 4. 90 Xenophan. Fr. 3 Gentili/Prato. 91 Auf diese Beschränkungen verwies bereits Stein-Hölkeskamp 1989, 107–109. 92 Über den Ausschluss von Bürgerinnen beim griechischen Symposion herrscht in der Forschung grundsätzlich Konsens. S. hierfür z. B. Murray 2009 und Corner 2012, die Gegenargumente überzeugend widerlegt. Zum sozialen Hintergrund von Symposionsteilnehmerinnen in der archaischen Lyrik s. Hartmann 2002, 142–148. 93 S. hierzu die Passagen in Anm. 87 und 88. Bei den Ioniern kommt hier noch Kleiderluxus hinzu. Dies legen die Mitte des 6. Jahrhundert in Ostionien aufkommenden Darstellungen der sogenannten „gelagerten Zecher“ nahe, die ähnlich der bereits besprochenen Komasten lange Bärte, fließende Chitone und drapierte Schrägmäntel tragen. Ihre üppige Figur verweist zusätzlich auf ihren Wohlstand, während die gelagerte Position sie als Symposionsteilnehmer auszeichnet. S. zu den rundplastischen Darstellungen der Zecher Baughan 2011 mit Katalog.
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Mädchenkreis eine zentrale Rolle spielten.94 So etwa in Fr. 94 (Voigt), das die Verabschiedung eines Mädchens aus ihrem Kreis thematisiert und dabei auf die gemeinsam verbrachte Zeit rekurriert: „…frohgemut geh und an mich / erinnere dich. Du weißt ja, wie wir (stets) dich umsorgten. / Wenn aber nicht – dann will ich dich / erinnern, und du mach dir klar, / wie viel ( ) und Schönes wir erlebt haben: / Viele Kränze von Veilchen / und Rosen zusammen mit ( ) / ( ) hast du dir ja bei mir umgelegt / und Gebinde, / geflochtene, um deinen zarten Hals, / aus ( ) Blüten gemacht. / und mit (viel) ( ) Duftöl / hast du dir (die Haut) gesalbt / mit Brenthohn – und mit Königsöl, / und auf weichen Lagern / hast du nach zarten ( ) / deine Sehnen gestillt ( ).“95
Hier finden sich, ähnlich wie beim Symposion, Blumenkränze und -girlanden sowie das Einreiben mit kostbaren Ölen im Setting einer erotisch aufgeladenen Stimmung.96 Die genaue Funktion dieses Mädchenkreises ist in der Forschung zwar noch immer umstritten, allerdings herrscht größtenteils Einigkeit darüber, dass dessen Mitglieder ausschließlich parthenoi, also unverheiratete Mädchen bzw. junge Frauen waren.97 Für verheiratete Frauen scheint es hingegen keine vergleichbaren Institutionen gegeben zu haben, sodass sich für sie nur rituelle Feste und andere besondere Anlässe, wie etwa Hochzeiten, als Orte öffentlicher Luxusdemonstration nachweisen lassen.98 Ob Frauen beispielsweise auf der Agora Kleiderluxus zur Schau stellen konnten, wie dies für die Bürger Kolophons belegt ist, bleibt auf Grund der dünnen Überlieferungslage unklar.99 Der „Fraueniambos“100 des Semonides aus dem 7. Jahrhundert zeigt ferner, dass Mädchen und Frauen Luxuspraktiken im eigenen oikos nachgingen. In seinem
94 Z. B. Sappho Fr. 58ab LP; Fr. 81 LP. 95 Sappho Fr. 94 LP, Z. 7–23: χαίροισʼ ἔρχεο κἄμεθεν / μέμναισʼ, οἶσθα γὰρ ὤς σε πεδήπομεν· / αἰ δὲ μή, ἀλλά σʼ ἔγω θέλω/ὄμναισαι [ ]αι / ..[ ] καὶ κάλʼ ἐπάσχομεν· / πό[λλοις γὰρ στεφάν]οις ἴων / βρ[όδων ]κ̣ίων τʼ ὔμοι / κα..[ ] πὰρ ἔμοι περεθήκαο / καὶ πό̣[λλαις ὐπα]θύμιδας / πλέκ[ταις ἀμφʼ ἀ]πάλαι δέραι / ἀνθέων .[ ] πεποημμέναις / καὶ π.....[ ]. μύρωι / βρενθείωι̣[ ]ρ̣υ[..]ν / ἐξαλείψαο κα̣[ὶ βας]ι̣ληίωι / καὶ στρώμν[αν ἐ]πὶ μολθάκαν / ἀπάλαν πα.[ ]…ων/ἐξίης πόθο̣[ν ].νίδων…. Der fragmentarische Zustand des Gedichts erschwert dessen Verständnis. Die hier verwendete Übersetzung stammt von Rösler 2016, der unterschiedliche deutsche Übersetzungen verglichen hat. Trotz einiger Textlücken werden die Luxuspraktiken, auf die Sappho verweist, deutlich. 96 S. auch Sappho Fr. 81 LP. 97 S. z. B. Calame 1997, 210. Gegen die Existenz eines solchen Mädchenkreises spricht sich Stehle 1997 mit Verweis auf die wenigen Belegstellen aus (Kapitel 6). Stehle zufolge trug Sappho ihre Gedichte im Rahmen einer Art ‚weiblichen Symposions‘ vor. Diese These lässt sich anhand der Quellen jedoch noch weniger belegen (s. hierzu Lardinois 1998). 98 Zum Kleiderluxus bei rituellen Anlässen s. o. S. auch Stein-Hölkeskamp 1989, 107–108, in Bezug auf die Möglichkeit für Frauen, am „demonstrativen“ Luxuskonsum teilzunehmen. Wie viele solcher – und möglicher weiterer – Anlässe es in der Archaik gab, ist eng mit der bisher ungeklärten Frage der Bewegungsfreiheit der Frau verbunden. S. hierzu z. B. Blundel 1995, 71–73. 99 Zu Kolophon s. o. Anm. 81. 100 Die Verortung des Aufführungskontextes und die Intention des Fraueniambos sind in der Forschung noch immer umstritten. Osborne 2001 verortet die Passage beispielsweise im Rahmen
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Spottgedicht stellt der Iambendichter den Ursprung unterschiedlicher ‚Frauentypen‘ anhand ihrer – zum überwiegenden Teil negativ konnotierten – Charaktereigenschaften und ihrem Erscheinungsbild zusammen, wobei die Abstammung eines jeden Typus auf ein anderes Tier oder Element zurückgeführt wird: „Und eine stammt vom Luxuspferd (ἵππος ἁβρή), langmähnig, ab, / geht Grobarbeit und Mühen fleißig aus dem Weg: / würd’ keine Arbeit anrühr’n, und das Schüttelsieb / nicht einmal heben! Schafft den Abfall nicht hinaus, / und an den Ofen würd’ sie sich aus Angst vor Ruß / nicht einmal setzen … Zwingt zur Liebe doch den Mann; / wäscht sich an jedem Tage sauber ab den Schmutz / zwei Mal, bisweilen drei, cremt sich mit Duftöl ein, / und immer trägt sie ihre Mähne schön gekämmt, / in dichter Fülle und von Blütenpracht bedeckt / ein schönes Schaustück – sicherlich! – ist solche Frau – / für andre! Dem, der sie besitzt, wird sie zur Last – / es sei denn, er wär’ Zwingherr (τύραννος) oder König (σκηπτοῦχος) 101/ der sich mit solcherlei genüßlich schmücken kann.“102
Die „vom Luxuspferd“ abstammende Frau zeichnet sich demnach dadurch aus, dass sie anstelle der häuslichen Pflichten unterschiedlichen Luxuspraktiken nachgeht: Sie wäscht sich mehrmals täglich, cremt sich mit Duftölen ein, und frisiert ihr langes Haar mit Blumenschmuck. Interessanterweise offenbart sich hier jedoch gerade eine Vermischung von Häuslichem und Öffentlichem: Die beschriebenen Praktiken finden zwar im eigenen oikos statt, allerdings betont der Dichter, dass dieser Frauentypus weniger für den eigenen Ehemann als für andere ein „Schaustück“ sei. Das Resultat dieser Praktiken wird also in die Öffentlichkeit getragen, was zeigt, dass sich „die Ehe, das Haus, das scheinbar Private, als äußert bedeutsamer Ort des Politischen“ erweisen konnte.103 Die ‚Pferdefrau‘ wird somit gewissermaßen selbst zu einer Art repräsentativem ‚Luxusgut‘.104 Der Fraueniambos gibt jedoch nicht nur Auskunft über die sozialen Kontexte des Luxuskonsums, sondern stellt darüber hinaus eine der wenigen archaischen Quellen dar, in der die Ausübung von Luxuspraktiken durch Frauen dezidiert beanstandet wird. Eine Besprechung der Passage knüpft somit zugleich an die übergreifende Frage der archaischen Luxuskritik an. Denn obwohl habrosynē in dieser Epo-
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des Symposions und versteht das Gedicht vordergründig als „dirty joke“. Seelentag 2014 siedelt das Gedicht hingegen im Kontext dörflicher Zusammenkünfte an und sieht dessen Funktion in der „sozialen Kontrolle von Devianz“ (132). Eine Übersicht der Literatur, die den Fraueniambos bespricht, liefert Seelentag 2014, 114 Anm. 2. Wörtlich: Zepterträger. Semonides Fr. 7 West, Z. 57–70: τὴν δʼ ἵππος ἁβρὴ χαιτέεσσʼ ἐγείνατο, / ἣ δούλιʼ ἔργα καὶ δύην περιτρέπει, / κοὔτʼ ἂν μύλης ψαύσειεν, οὔτε κόσκινον / ἄρειεν, οὔτε κόπρον ἐξ οἴκου βάλοι, / οὔτε πρὸς ἰπνὸν ἀσβόλην ἀλμένη / ἵζοιτʼ. ἀνάγκηι δʼ ἄνδρα ποιεῖται φίλον· / λοῦται δὲ πάσης ἡμέρης ἄπο ῥύπον / δίς, ἄλλοτε τρίς, καὶ μύροις ἀλείφεται, / αἰεὶ δὲ χαίτην ἐκτενισμένην φορεῖ / βαθεῖαν, ἀνθέμοισιν ἐσκιασμένην. / κᾱλὸν μὲν ὦν θέημα τοιαύτη γυνὴ / ἄλλοισι, τῶι δʼ ἔχοντι γίνεται κακόν, / ἢν μή τις ἢ τύραννος ἢ σκηπτοῦχος ἦι, / ὅστις τοιούτοις θυμὸν ἀγλαΐζεται (Übers. Joachim Latacz, leicht modifiziert). Wagner-Hasel 1988, 22. Zur Frau als Statussymbol in der archaischen Gesellschaft z. B. Stein-Hölkeskamp 1989, 108 und van Wees 2005, 3.
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che zumeist positiv konnotiert ist, gab es auch vor den Perserkriegen bereits Vorbehalte gegenüber einem allzu ausufernden Lebensstil.105 Die Interpretation und Verortung dieser Stimmen steht in der Forschung noch immer zur Debatte. Viele Forschungsansätze eint jedoch, dass sie die Kritik im Kontext eines gesellschaftlichen Wandels und/oder im Rahmen sozioökonomischer Spannungen einordnen und dabei grundsätzlich von zwei Gruppierungen ausgehen, die sich aufgrund unterschiedlicher Interessen, Ideologien, Abstammung und/oder des sozialen Status antagonistisch gegenüberstanden: z. B. Bauernschaft versus Aristokratie, neureiche Emporkömmlinge versus alteingesessene Elite, „aristocratic ideology“ versus „middling ideology“.106 Im Folgenden soll mit Augenmerk auf den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der archaischen Luxuskritik eine ergänzende Perspektive vorgeschlagen werden. Denn hier scheint die Kritik nicht gegen eine andere (soziale) Gruppierung gerichtet gewesen zu sein, sondern vielmehr spezifisch die jeweiligen Akteurinnen ins Auge zu fassen. Somit liegt dem vorgeschlagenen Ansatz die These zugrunde, dass die in den Quellen greifbare männliche Luxuskritik – eine weibliche Perspektive bleibt uns leider verwehrt107 – sich an unterschiedlichen Geschlechterstereotypen und -erwartungen orientierte. Sprich, der von Männern geübte Tadel am eigenen Geschlecht unterschied sich, so meine These, in Form und Funktion von derjenigen am anderen Geschlecht. Wie bereits angemerkt wurde, richtet sich überhaupt nur ein verschwindend geringer Teil des zeitgenössischen Quellenmaterials gegen den von Frauen gelebten Luxus – ein direkter Angriff dieser Art stellt im Grunde nur der Fraueniambos dar. Selbst hier kann jedoch kaum von einer generellen Luxuskritik die Rede sein. Die Kritik zielt so vor allem auf die maßlose Ausübung der angeführten Praktiken, welche die ‚Pferdefrau‘ von den häuslichen Pflichten abhalte und somit die wirtschaftliche Prosperität des oikos gefährde.108 Ob eine solche Frau als Gattin ‚erstrebenswert‘ ist oder nicht, hängt demzufolge vom sozialen Status und den ökonomischen Ressourcen des Ehemannes ab.109 Dem semonideischen Spott, der spezifisch gegen
105 Zu den vehementesten Kritikern von Kleiderluxus und östlichem Lebensstil gehörte bekanntlich Xenophanes von Kolophon. S. zur archaischen Luxuskritik z. B. Stein-Hölkeskamp 1989, 123–130; Bernhardt 2003, 21. 106 Hier können nur einige Beispiele aufgelistet werden: Bauernschaft versus Aristokratie: Donlan 1973; neureiche Emporkömmlinge versus alteingesessene Elite: Stein-Hölkeskamp 1989, 123– 133 (Luxus sei darüber hinaus auch von denjenigen Adligen abgelehnt worden, die darin keinen Zweck für die Polisgemeinschaft sahen); „aristocratic ideology“ versus „middling ideology“: Morris 2000, 114–130 und 160–190 sowie Kurke 1992. Anders hingegen Fischer/van Wees 2015, 33–35, die eine differenzierte Sichtweise fordern. 107 Sappho tritt ausschließlich als Konsumentin von Luxusgütern in Erscheinung, nicht als Kritikerin. 108 Zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im archaischen oikos s. z. B. Wagner-Hasel 1982, 84–90 und Schmitz 2007, 13. Zum Topos der Ehefrau als ‚Vernichterin von Ressourcen‘ in der archaischen Dichtung s. u. 109 So auch Ormand 2014, 219: „To keep such a woman, in other words, is expensive – and not to be undertaken by those with modest resources. This is the first and most explicit moment in the
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einen vermeintlichen ‚Ehefrauentypus‘ gerichtet ist, stehen die verhältnismäßig vielen Belege gegenüber, die Frauen und Luxus in positiven Kontexten erwähnen. In der archaischen Lyrik lassen sich hier drei Gruppen von Akteurinnen ausmachen: 1. Parthenoi (und selten gynaikes) im Rahmen ritueller Tätigkeiten und Gemeinschaften (wie Mädchenchöre bzw. -kreise inklusive [Chor]leitung),110 2. Bräute,111 3. sowie Mädchen und Frauen als ‚Objekt der Begierde‘.112 Häufig ist dabei nicht zu bestimmen, ob es sich um Hetären oder ‚ehrbare‘ Mädchen und Frauen handelt.113 Von der eigenen Ehefrau ist hier hingegen nie die Rede. Die Darstellung des Luxuskonsums von Mädchen und Frauen in der archaischen Dichtung scheint somit von drei Faktoren beeinflusst: 1. dem sozialen Kontext, 2. der Lebensphase der Akteurin (unverheiratet vs. verheiratet), 3. und der persönlichen Beziehung des lyrischen Ichs zur Akteurin. So wurde die Teilhabe von Mädchen und Frauen am öffentlichen Luxus im Rahmen ritueller Anlässe offenbar als unproblematisch angesehen, wobei parthenoi deutlich häufiger zur Sprache kommen als verheiratete Frauen. Außerhalb ritueller Anlässe und Hochzeiten scheint die Beurteilung hingegen vor allem von der persönlichen Beziehung des Beurteilenden zur Akteurin abhängig gewesen zu sein. Wie sich dies in den Quellen manifestiert, soll im Folgenden anhand Hesiods Lehrgedicht Werke
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poem when the speaker suggests that a difference in class might result in a different response to a particular woman.“ In der Chorlyrik Alkmans: Fr. 1 (interessanterweise werden hier die Chorleiterin Hegesichora und eine gewisse Agido mit stattlichen Rennpferden verglichen, deren Haltung sehr teuer und somit der Elite vorbehalten war), Fr. 3 und Fr. 162 PMG. Erwachsene Frauen erwähnt nur Alkaios Fr. 130b LP, im Rahmen des bereits erwähnten lesbischen Schönheitswettbewerbs. Zu dieser Kategorie zählen auch die erhaltenen Fragmente Sapphos, die aus einer weiblichen Perspektive die eigene Partizipation an Luxuspraktiken sowie die der parthenoi in ihrem Kreis zelebriert: z. B. Sappho Fr. 58ab, Fr. 81 und 94 LP. Der Ausdruck ἁβρά παρθένος taucht z. B. im Kontext mythologischer Hochzeiten auf (Sappho [Fr. 44 LP] verwendet die Phrase in Bezug auf Andromache; Alkman [Fr. 42 LP] für Thetis). S. Kurke 1992, 100. Z. B. Anakreon (Fr. 358 PMG), der sein Verlangen nach einem Mädchen aus Lesbos ausdrückt, welches extravagante Sandalen trägt. Die Erwähnung des Schuhwerkes sticht besonders hervor, da es das einzige Attribut des umworbenen Mädchens darstellt, das in der kurzen Passage genannt wird. S. für eine ausführliche Interpretation des Gedichts Marcovich 1983 sowie Pfeijffer 2000. Archilochos Fr. 48 West beschreibt die Anziehungskraft zweier Mädchen, deren Brust und Haar parfümiert sind. So etwa bei den beiden Mädchen in Achilochos Fr. 48 West. Zur Debatte Swift 2019, 270–271.
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und Tage dargelegt werden, in dem Luxusgüter insbesondere im Zusammenhang mit dem Pandora-Mythos genannt werden.114 Hesiod zufolge wurde die Urfrau Pandora auf Geheiß des Zeus erschaffen, der Rache für den Feuerdiebstahl des Prometheus üben wollte. Ausgestattet mit einem Krug (pithos, ein Vorratsgefäß115) sollte sie dem naiven Bruder des Prometheus, Epimetheus, zur Frau gegeben werden. Um ihren „hündischen“ und „verschlagenen Sinn“ zu verschleiern, habe der Göttervater das Mädchen mit Schönheit und Anmut ausstatten lassen und ihren Liebreiz mit Hilfe luxuriöser Accessoires zu unterstreichen versucht: „Und aus Erde formte sofort der ruhmvolle Hinkfuß / gleich einem edlen Mädchen ihr Bild nach dem Willen Kronions. / Gürtel und Schmuck verlieh ihr die augenhelle Athene, / und die Göttinnen rings, die Chariten, und Peitho, die hohe, / legten goldene Ketten ihr um den Leib, und die Horen / kränzten, die lockenschönen, sie rings mit Blüten des Frühlings. All den Schmuck ihr am Leibe ordnete Pallas Athene.“116
Die Goldketten und Blumenkränze sowie der nicht weiter ausgeführte „Schmuck“ haben somit eine doppelte Funktion: Einerseits tragen sie zur Schönheit und zum Reiz des Mädchens bei, welches als Braut ausstaffiert und inszeniert wird. 117 Andererseits führt die göttliche Aufmachung auch zur Täuschung des zukünftigen Ehemanns, der sich trotz der brüderlichen Warnung blenden lässt.118 Während Zeus die eigene ‚Tochter‘, die „prangte im Schmuck“ (κόσμῳ ἀγαλλομένην) der Athene, den staunenden Göttern und Menschen vorführt,119 erkennt Epimetheus – seinem Namen entsprechend – die List erst im Nachhinein.120 Die Wahrnehmung der mit Luxusgütern ausgestatteten Braut unterscheidet sich hier also je nach Perspektive: Während der Brautvater sein Ziel, die eigene Tochter möglichst begehrenswert erscheinen zu lassen, erreicht hat, muss der zukünftige Ehemann einen Täuschungsversuch befürchten. 114 Hes. erg. 53–105. Der Mythos findet sich auch in Hesiods Theogonie (570–612) und bei späteren Autoren, z. B. bei Apollod. 1.7.2. Allgemein zu Frauen bei Hesiod s. z. B. Marquart 1982; Canevaro 2013; Lye 2018. Ausführlich zum Pandora-Mythos s. z. B. Clay 2003, 100–128. 115 Vgl. Reuthner 2008, 126–130. 116 Hes. erg. 70–76: αὐτίκα δʼ ἐκ γαίης πλάσσε κλυτὸς Ἀμφιγυήεις / παρθένῳ αἰδοίῃ ἴκελον Κρονίδεω διὰ βουλάς· / ζῶσε δὲ καὶ κόσμησε θεὰ γλαυκῶπις Ἀθήνη· / ἀμφὶ δέ οἱ Χάριτές τε θεαὶ καὶ πότνια Πειθὼ / ὅρμους χρυσείους ἔθεσαν χροΐ· ἀμφὶ δὲ τήν γε / Ὧραι καλλίκομοι στέφον ἄνθεσι εἰαρινοῖσιν· / πάντα δέ οἱ χροῒ κόσμον ἐφήρμοσε Παλλὰς Ἀθήνη (Übers. Otto Schönberger). 117 Ebenso wird ihr ein Gürtel angelegt, der sie ebenfalls als Braut auszeichnet. Zur Symbolik des Tragens und Lösens des Gürtels in antiken Darstellungen und Texten s. Schmitt Pantel 2019 (bei Frauen insb. S. 336–338). 118 Zur „deceptive nature of the adornment“ im Rahmen dieses „dressing-up topos“ s. Canevaro 2018, 107–109, mit weiteren Belegstellen in der archaischen Dichtung. S. auch Lefkowitz 1995 und Brown 1997, 27–30. 119 Hes. theog. 587–589 (Übers. Otto Schönberger). 120 Vgl. Reuthner 2008, 121: „Epimetheus zeigt sich ja deutlich als eines jener Exemplare der Männerwelt, das sich durch oberflächlichen Glanz blenden lässt und kluge Warnungen in den Wind schlägt.“
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Unterschiede in der Wahrnehmung von Ehefrau und Tochter lassen sich auch am Topos der ‚unersättlichen Ehefrau‘ aufzeigen, der nicht nur bei Hesiod, sondern auch bei anderen archaischen Autoren häufig zu finden ist. Diesem Topos lag die Vorstellung zugrunde, dass Ehefrauen vornehmlich von der Arbeit anderer (konkret der ihres Mannes) leben, ohne selbst zur Mehrung des Hausstandes beizutragen.121 Hesiod rät etwa seinem Bruder Perses, sich nicht „vom süßen Geschwätz eines sterzwedelnden Weibes, das auf dein Haus aus ist“, betören zu lassen und stattdessen eine junge Frau guten Rufes zu wählen, da nichts schlimmer als eine „schlechte“ (κακῆς) und „fresswütige“ (δειπνολόχης) Ehefrau sei.122 Einen gänzlich anderen Ton schlägt der Autor hingegen in Bezug auf eigene Töchter an. Diese sollen sich im Winter, wenn es draußen friert und die „Tiere zittern“, vor dem kalten Wind schützen und im Haus ihre Zeit mit Baden, Einölen und Ausruhen verbringen:123 „Auch ein Mädchen mit zarter Haut durchbläst er [der mächtige Nordwind] nicht, das drinnen im Haus bei der Mutter verweilt, unerfahren noch in den Werken der goldenen Aphrodite. Sorgsam badet sie den zarten Leib, pflegt ihn mit fettem Salböl und legt sich im innersten Winkel des Hauses nieder am Wintertag.“124
Obwohl Mutter und Tochter hier in einem Atemzug genannt werden, liegt der Fokus bezeichnenderweise eindeutig bei dem jungen Mädchen, welches sich ausgiebig der eigenen Körperpflege widmen soll. Welchen Aktivitäten die Mutter nachgeht, erfahren wir hingegen nicht. Hesiod mahnt jedoch kurz vor dieser Passage, man solle auch im Winter das „Hauswesen tüchtig voranbring[en]“ (μέγα οἶκον, V. 121 Dies wird in Hesiods Theogonie (591) am deutlichsten, wo er Frauen mit Drohnen vergleicht, die von der Arbeit anderer leben: „Von ihr [Pandora] kommt das schlimme Geschlecht und die Scharen der Weiber, ein großes Leid für die Menschen; sie wohnen bei den Männern, Gefährtinnen nicht in verderblicher Armut, sondern nur im Überfluss. Wie in gewölbten Stöcken die Bienen Drohnen ernähren, die sich einig sind in jeder Bosheit, jene aber sich den ganzen Tag bis Sonnenuntergang ständig mühen und weiße Waben bauen, während die Drohnen drinnen bleiben im hohlen Stock und sich fremde Mühe in den Bauch stopfen“ (591–599, Übers. Otto Schönberger). Zur Darstellung Pandoras als untätige und „verbrauchende“ Frau s. Reuthner 2008. S. zu Hesiods Frauenbild z. B. Marquart 1982. Zum Topos der konsumierenden Ehefrau, der sich auch bei Semonides und anderen Autoren großer Beliebtheit erfreute s. z. B. van Wees 2005, 3–4. 122 Hes. erg. 373–375, sowie 698–701 und 704. Bei einer Frau aus der eigenen Nachbarschaft könne man sich über deren Ruf und Charakter vor der Eheschließung informieren. Die Angst vor der eigenen Rufschädigung durch die Ehefrau findet sich sowohl bei Hesiod als auch bei Semonides häufig. S. in Bezug auf Hesiod z. B. Canevaro 2013, 196. Darüber hinaus solle sie möglichst jung und somit noch ‚formbar‘ sein. 123 Canevaro 2013, 195, ist hingegen der Auffassung, dass „despite the gentle tone and the descriptive impetus, Hesiod’s suspicions persist“ und meint auch bei der Beschreibung dieser Aktivitäten eine negative Konnotation herauslesen zu können. Dennoch bleibt der Kontrast bezüglich der Beschreibung des jungen Mädchens und anderer Frauen sehr deutlich. 124 Hes. erg. 519–525: καὶ διὰ παρθενικῆς ἁπαλόχροος οὐ διάησιν, / ἥ τε δόμων ἔντοσθε φίλῃ παρὰ μητέρι μίμνει, / οὔπω ἔργα ἰδυῖα πολυχρύσου Ἀφροδίτης, / εὖ τε λοεσσαμένη τέρενα χρόα καὶ λίπʼ ἐλαίῳ / χρισαμένη μυχίη καταλέξεται ἔνδοθι οἴκου, / ἤματι χειμερίῳ, ὅτʼἀνόστεος ὃν πόδα τένδει / ἔν τʼ ἀπύρῳ οἴκῳ καὶ ἤθεσι λευγαλέοισιν (Übers. Otto Schönberger).
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494, Übers. Otto Schönberger), was nahelegt, dass die Ehefrau dazu angehalten war die typischen Spinn- und Webarbeiten zu verrichten. Wie aber lässt sich diese Diskrepanz zwischen Tochter und (zukünftiger) Ehefrau erklären? Offenbar wurde – zumindest von einigen Autoren – die Ausübung von Luxuspraktiken sowie der Konsum von Luxusgütern bei Frauen entsprechend ihres sozio-ökonomischen Nutzens für den oikos bemessen. Da Luxusgüter und -praktiken in einem engen Verhältnis zu Schönheitsidealen standen und der sozialen Distinktion dienten, liegt die Vermutung nahe, dass diese den ‚Wert‘ der eigenen Tochter ungemein steigern konnten.125 Eheschließungen waren für die Netzwerkbildung der archaischen Eliten von großer Bedeutung und so sicherten ‚wertvolle‘ Töchter wichtige Beziehungen zu anderen Familien.126 Darüber hinaus stellte van Wees die ökonomische Bedeutung einer Tochter heraus, die das Potenzial aufwies bei der Eheschließung eine hohe Brautgabe zu erzielen.127 Hierfür spricht auch die Beobachtung, dass Luxus häufig in Zusammenhang mit parthenoi genannt wird, die unmittelbar vor ihrer Hochzeit stehen.128 Eine solche potenzielle Braut war offenbar für viele Mitglieder der Elite ein begehrenswertes Statussymbol, wobei sicherlich ebenso das agonistische Potenzial der Brautschau von Bedeutung war: Hier galt es sich als bester Kandidat durchzusetzen.129 War dieses Ziel jedoch erst einmal erreicht, konnte offenbar vor allem der hohe ökonomische Aufwand einer solchen Ehefrau ein Grund zur Sorge sein, denn nicht jeder konnte oder wollte diesen finanzieren.130
125 S. hierzu oben. 126 Zur Bedeutung von Heiratsverbindungen für die archaische Elite s. z. B. Schmitz 2007, 28. 127 Zur Diskussion s. van Wees 2005, 5–7. Wagner-Hasel 2000, 141–146, betonte hingegen die Bedeutung der Fertigkeiten der Ehefrau, die als profitabel galten und sicherlich ebenfalls eine Rolle spielten. 128 So wird beispielsweise häufig das bereits besprochene Fragment 94 LP von Sappho interpretiert: Das Mädchen muss aufgrund ihrer anstehenden Hochzeit den Mädchenkreis verlassen. Stehle 1997, 32, formuliert in Bezug auf die spartanischen Mädchenchöre die These, dass die öffentliche Aufführung der Chorlieder die Funktion innehatte „to show off marriageable women to the community to advantage to potential suitors.“ 129 Dies lässt sich wohl am besten am Beispiel der berühmten Brautschau der Agariste, Tochter des Tyrannen Kleisthenes von Sikyon, festmachen. Herodot (6.126–130) zufolge soll Kleisthenes nach einem Sieg im olympischen Viergespann angekündigt haben, dass er als Gatten für seine Tochter den besten aller Griechen suche und plane, in Sikyon Wettkämpfe um die Hand seiner Tochter abhalten zu lassen. Diesem Aufruf seien viele Aristokraten aus der griechischen Welt gefolgt und Kleisthenes habe binnen eines Jahres von den Freiern „ihren Mannesmut, ihre Gemütsart, ihre Bildung sowie ihren Charakter“ auf die Probe gestellt. Nach Herodot sei das Geschlecht der Alkmeoniden in ganz Griechenland bekanntgeworden, nachdem Megakles sich in diesem Wettbewerb durchgesetzt hatte. Die Geschichte weist dabei natürlich enge Bezüge zur Brautschau Helenas auf. S. zur Stelle z. B. Hornblower 2014. 130 S. zu den ökonomischen Überlegungen in Bezug auf die Frauenkritik bei Hesiod und Semonides insbesondere Seelentag 2014 und Meister 2020, 93–114.
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Ferner galten bestimmte Luxusgüter und -praktiken bei Frauen als besonders aufreizend, wie diverse Passagen der archaischen Lyrik deutlich machen.131 Die Klage des Semonides, die ‚Pferdefrau‘ sei vor allem für andere eine Freude, spielt so möglicherweise auf die Furcht einiger Ehemänner an, die eigene Gattin möge zu viel ungewünschte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Auch deshalb wurde wohl häufig auf Hetären als Statussymbole zurückgegriffen, bei denen im Gegensatz zur eigenen Ehefrau nicht die Gefahr bestand, dass sie den oikos nicht in angemessener Weise nach außen vertraten.132 Die betörende Wirkung des ‚weiblichen Luxus‘ wurde dementsprechend auch mit der (sexuellen) Macht über Männer assoziiert.133 Neben dem bereits erwähnten Pandora-Mythos lässt sich dies aus der bekannten Passage der Ilias schließen, in der Hera in betrügerischer Absicht ihren Ehemann Zeus verführt.134 Hierfür nimmt die Göttin vorab ein ausgiebiges Bad, salbt sich und frisiert ihr schimmerndes Haar. Zusätzlich legt sie ein Kleid „reich geschmückt an Verzierungen“ (ἐνὶ δαίδαλα πολλά, V. 179) sowie Perlohrringe an. Eine im Luxus lebende Ehefrau konnte somit – ähnlich wie Pandora – für den Ehemann Fluch und Segen zugleich sein. Die vorgestellten Überlegungen zur männlichen Kritik an ‚weiblichem Luxus‘ stützen sich auf eine recht dünne Quellenbasis und können somit selbstverständlich nur Tendenzen aufzeigen. Dennoch wird meines Erachtens an den erhaltenen Passagen deutlich, dass Luxuskritik an Frauen und Männern einen gänzlich anderen Ausgangspunkt aufwies: Während die an Männer gerichtete Kritik die Gemeinschaft im Blick hatte, betraf die an Frauen gerichtete die Auswirkungen auf den eigenen oikos. 5. RESÜMEE UND AUSBLICK Wie steht es nun mit dem eingangs angesprochenen transepochalen Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung und Beurteilung von Luxus und gesellschaftlich definierten Geschlechterrollen? Für die griechische Archaik ergibt sich ein ambivalentes Bild: Die These einer besonderen Assoziation von Luxus mit Frauen und Effemination in dieser Epoche kann zurückgewiesen werden, ebenso eine spezifische Verknüpfung bestimmter Luxusgüter und -praktiken mit dem weiblichen Geschlecht. Dennoch lassen sich geschlechtsspezifische Unterschiede in den jeweiligen Kontexten, in denen die Teilhabe am Luxus für Frauen und Männer möglich war, sowie in Bezug auf dessen Beurteilung, plausibel machen. Die Wahrnehmung von Luxus in den archaischen Quellen unterscheidet sich demnach wesentlich von der in späteren griechischen Texten. Hieraus geht hervor, dass das Verhältnis von Luxus und Geschlechterrollen nicht statisch war und stets neu ausgelotet wurde. So 131 Z. B. Salböle und aufwendiges Schuhwerk. S. hierfür die Verweise in Anm. 112. Zu weiblichen Schönheitsidealen in den archaischen Quellen s. unlängst Massey 2020, 9–36. 132 S. zur Hetäre als Statussymbol Kurke 1997, 130–135. 133 In Bezug auf Schmuck s. etwa Lee 2015, 15. 134 Hom. Il. 14.170–186.
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arbiträr die antiken Epocheneinteilungen auch sind, der unter anderem von den Perserkriegen stark geprägte Wandel zwischen Archaik und Klassik ist in Bezug auf Luxus sehr suggestiv: Es gilt also auch in anderen Epochen zu fragen, wie sich wirtschaftliche, ideologische, politische und soziokulturelle Entwicklungen auf die Bedeutung und Beurteilung von Luxus auswirkten. In Bezug auf die vormoderne Frauengeschichte ist, so wie auch in diesem Aufsatz, häufig nur ein diskursiver Ansatz möglich, der vor allem die männliche Wahrnehmung in den Blick nehmen kann: Die Erfahrungswelten des weiblichen Geschlechts, sei es beim eigenen Konsum von Luxusgütern oder der Beurteilung des Konsums anderer, bleiben uns damit größtenteils verschlossen. ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS LP = Edgar Lobel/Denys Lionel Page, Poetarum lesbiorum fragmenta, Oxford 1955. LSJ = The Online Liddell-Scott-Jones Greek-English Lexicon (URL: http://stephanus.tlg.uci.edu/ lsj/, abgerufen am 18.10.2020). Montanari = Franco Montanari, The Brill Dictionary of Ancient Greek, Leiden 2014. PMG = Denys Lionel Page, Poetae melici Graeci, Oxford 1962. SEG = Supplementum Epigraphicum Graecum, ab 1923.
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EIN LUXUS(FREMD)KÖRPER IN DER ‚NIVELLIERTEN MITTELSTANDSGESELLSCHAFT‘? Rosemarie Nitribitt und die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland der 1950er Jahre Jonathan Voges, Hannover 1. EINLEITUNG: DIE „EDELHURE“ ALS SPIEGEL DER LUXUSDISKURSE IHRER ZEIT? Der Fall der Rosemarie Nitribitt war ein gefundenes Fressen für die illustrierte Presse der DDR; kirchliche und staatliche Stellen hätten zum einen dafür gesorgt, so die Neue Berliner Illustrierte 1958, dass der westdeutsche Film, der sich der Geschichte der im Jahr zuvor ermordeten Prostituierten Rosemarie Nitribitt annahm, um einige Szenen gekürzt werden musste. Zum anderen sollte er nicht bei der Biennale in Venedig gezeigt werden. „Der Film sei eine Verleumdung der wirtschaftswunderlichen Wirklichkeit!“, referierte die Zeitschrift die Einschätzung der „westzonalen […] sittenstrengen Moralhüter“. Und man schloss: „Gemeinhin bellen getroffene Hunde. Und das Gekläff ist nun tatsächlich laut genug, um die biederen Masken etwas anzuheben.“1 Für die DDR-Journalisten war der Film und die gesamte Affäre um Rosemarie Nitribitt so Ausdruck der verkommenen, korrupten und dabei gleichzeitig bigotten Wohlstandsgesellschaft der Bundesrepublik.2 Durch die Verbotsversuche des Streifens wurde dessen Signifikanz nur noch erhöht. Zieht man die Rhetorik des Kalten Krieges von der sarkastischen Suada des Artikels ab, so bleibt aber zumindest die Erkenntnis, dass „Leben, Lieben und Tod von Bonns strichschlanker Lebedame Nr. 1“3 interessante Einblicke in die bundesrepublikanische Gesellschaft der 1950er Jahre gewähren kann. Im Folgenden geht es genau um diesen sich an der Nitribitt entwickelten Diskurs, der sich über eine Operationalisierung des Luxusbegriffs analysieren und auf seine Bedeutung für die Geschichte Westdeutschlands in seiner Frühzeit befragen lässt.4
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Zwei Beine, die Staub aufwirbelten, in: Neue Berliner Illustrierte. 18.10.1958, 3. Gerade derartige Berichte über die medial aufbereiteten Skandale Westdeutschlands in der DDR-Presse lassen auch für diesen Bereich eine gemeinsame Geschichte beider deutscher Staaten wünschenswert erscheinen. S. zu dieser Forderung auch Fulbrook 2004. Zwei Beine, die Staub aufwirbelten, in: Neue Berliner Illustrierte. 18.10.1958, 3. S. dazu auch Steinbacher 2011, 308.
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Dies funktioniert auch deshalb so gut, weil die „Edelhure“ Rosemarie Nitribitt geradezu wie eine moderne Inkarnation der zahlreichen „Kurtisanen, „Weibchen“, „Cortegiana“, „Konkubinen“, „Maitressen“ und „Grandes Amoureuses“ wirkte, die das Werk eines der zentralen Luxustheoretiker der Jahrhundertwende bevölkerten – Werner Sombart.5 Rosemarie Nitribitt versah sich (bzw. ließ sich versehen) mit den zentralen Luxusattributen der 1950er Jahre; sie wusste sich so selbst als Luxusprodukt für zahlungskräftige und -willige Männer der Bundesrepublik zu inszenieren – zum Beispiel für Harald Krupp von Bohlen und Halbach aus der bekannten Krupp-Dynastie.6 Auf diese Inszenierung der eigenen Person als ‚Luxus‘ und den eigenen Körper als ‚Luxuskörper‘ wird in der Analyse besonderer Wert gelegt. Gleichzeitig muss auch gefragt werden, wie eine derartige Selbstinszenierung in einer Gesellschaft wahrgenommen wurde, die sich selbst gern als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky) verstand, dies aber keinesfalls war.7 Insbesondere ihr – bis heute nicht geklärter – Tod bietet Anlass, die Diskurse um die Nitribitt unter dem Luxusparadigma in den Blick zu nehmen; hier wurde die inzwischen sprichwörtliche Ambivalenz des Luxusbegriffs wie unter Laborbedingungen vorexerziert:8 Auf der Seite überbot man sich in der lüsternen Darstellung all der Devotionalien und des Equipments aus dem vermeintlichen Luxusleben einer in den höchsten Kreisen verkehrenden Prostituierten und konnte sich gar nicht satt lesen und sehen an teuren Kostümen, luxuriösem Schmuck, schnellen Autos und Rassehunden. Auf der anderen verband man diese Schilderungen stets mit gutbürgerlicher moralischer Entrüstung. Selbst der berühmt-berüchtigte Jesuitenpater Johannes Leppich, der die 1950er und 1960er Jahre mit konservativ-kulturkritischen Invektiven gegen alles Mögliche bereicherte, ließ sich mit den Worten zitieren, dass er „Geldspenden von weniger als zehn Mark“ nicht anzunehmen gedenke: „die hätte die Nitribitt aus der Hand geschlagen.“9 Im Folgenden geht es darum, essayistisch zu erkunden, welche Potentiale im Fall Nitribitt für eine zeithistorische Diskussion des Luxusbegriffs liegen. Sombarts klassische Definition, dass es sich dann um Luxus handele, wenn über das Notwendige hinaus konsumiert werde,10 funktioniert für die Konsumgesellschaften des 20. Jahrhunderts nicht mehr wie – wenn überhaupt – in den anderen Epochen: Es ist gerade ihr Wesensmerkmal, dass über das zum Leben hinausgehende konsumiert wird und das von einer immer größeren Anzahl Menschen. 11 Will man so nicht Luxus im Konsum auflösen beziehungsweise beide Begriffe gleichsam synonym verwenden, muss mit einer anderen Luxusdefinition gearbeitet werden, um zu überprüfen, welche Rolle Luxus in den entsprechenden Gesellschaften spielte. Deshalb
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S. Sombart 1986, 76. Steinbacher 2011, 309. S. Abelshauser, 1987, 51. S. Weder/Bergengruen 2011, 11. Personalien: Johannes Leppich, in: Der Spiegel, 29.01.1963. Sombart 1986, 85. S. zu einem neueren Überblick zur Geschichte der Konsumgesellschaften Trentmann 2016. S. auch die Einleitung dieses Bandes.
Ein Luxus(fremd)körper in der ‚nivellierten Mittelgesellschaft‘?
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liegt es gerade für die Zeitgeschichte nahe, Luxus erstens vor allem auch als Quellenbegriff zu verstehen und zu analysieren, in welchen Kontexten er wie, warum und von wem verwendet wurde. Zweitens (und damit zusammenhängend) muss in Gesellschaften, die geradezu dadurch definiert sind, dass sie über das Notwendige hinaus konsumieren, auch die Sombart’sche Definition angepasst werden – es geht nunmehr nicht mehr um das unbedingt Notwendige, sondern um das gesellschaftlich Akzeptierte; beziehungsweise um das, was genau darüber hinausgeht. Gerade ein „Skandal“12 wie der der „Edelprostituierten“ Nitribitt bietet die Möglichkeit, einen Einblick in die Luxusdiskurse einer Epoche zu erhalten, in denen es immer darum ging, was eine Gesellschaft als „acceptable and desirable“ gelten lassen wollte und an welchem Punkt diese Grenze überschritten war.13 Dass eine Prostituierte aus einfachen Verhältnissen durch ihren Beruf bestimmte Reichtumsmarker besaß und diese auch zeigte, war genau ein solcher Anlass, an dem Luxus zum allgemeinen Debattengegenstand wurde. Im Folgenden geht es deshalb auch weniger um die Person Nitribitts oder um den noch immer ungeklärten Kriminalfall, der von Ermittlungspannen oder bewusster Vertuschung geprägt war – schließlich vermutete man Nitribitts Kunden nicht nur unter ohnehin notorisch bekannten Playboys wie Gunter Sachs, sondern auch in den höchsten Rängen der bundesrepublikanischen Politik. Auch geht es nicht darum, längst geschlagene Schlachten um die moralische Aburteilung der vermeintlich biederen 1950er Jahre nochmals zu führen: „Es war Rosemarie Nitribitt, die sterbend den Schleier der Wohlanständigkeit von der jungen Bundesrepublik wegzog und deren Doppelmoral entlarvte.“14 Sätze wie dieser sind schlichtweg feuilletonistischer Kitsch, der mit der zeithistorischen Erforschung der Kultur und der Gesellschaft – auch in Hinblick auf die Sexualmoral – nicht schritthalten. Es geht vielmehr um den Diskurs, der sich um Nitribitt entspann, und in diesem nahm die Wahrnehmung von Luxus, Sexualität und Moral, deren diskursive Verarbeitung und gesellschaftliche Deutung eine zentrale Rolle ein; es geht nun nicht darum, diesen moralischen Diskurs als heuchlerisch zu verurteilen, sondern ihn zu analysieren. 2. „SIEGESZUG DES WEIBCHENS“? THEORETISCHER HINTERGRUND Ein „Siegeszug des Weibchens“ vermeinte Werner Sombart in seiner prominenten Studie zur gemeinsamen Entstehung von Luxus und Kapitalismus beobachten zu können – die in der Taschenbuchwiederauflage nicht zu Unrecht (wieder) den zu einer Trias erweiterten Titel Liebe, Luxus und Kapitalismus trägt.15 Zwar wertete Sombart über weite Strecken statistisches Material vergangener Jahrhunderte aus
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S. allgemein zu Bedeutung von Skandalen für die Zeitgeschichte Bösch 2009. S. Kaartinen/Montenach/Simonton 2015. Rose/Sichtermann 2016, 102. Sombart 1986.
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(wie es sich für einen Ökonomen gehörte);16 zugleich aber erwies er sich als an kulturgeschichtlichen Fragen interessierter Wissenschaftler. Ein Thema hatte es ihm dabei besonders angetan – das Kurtisanenwesen an den europäischen Höfen der Frühen Neuzeit, die „illegitime Liebe“ und die Kosten, die männliche Verehrer dafür aufbringen mussten, die begehrten Damen mit den Dingen zu überhäufen, für die sich dann der Sammelbegriff „Luxus“ einbürgerte.17 Nicht umsonst lautete der Schlusssatz seiner Studie: „So zeugte der Luxus, der selbst, wie wir sahen, ein legitimes Kind der illegitimen Liebe war, den Kapitalismus.“18 Nun gut, an Sombarts Verständnis der Geschlechterrollen ist vieles im Denken des 19. Jahrhunderts verankert,19 vor allem auch feministische Kritikerinnen haben darauf hingewiesen. Zugleich, auch das findet sich zum Beispiel im Vorwort Silvia Bovenschens zur Neuausgabe, sind die Frauenfiguren, die Sombart in seiner Kapitalismusgenese auftreten lässt, selbstbestimmte, „geschmackskompetente“ Akteurinnen: „Unter der Regie von Frauen wurde – immer noch nach Sombart – eine Form des persönlichen, egoistischen und qualitativen (im Unterschied zur rein quantitativen Anhäufung von Gütern und Dienstleistungen) Luxus überhaupt erst kreiert. Die Frauen schufen den Entwurf des Luxus, sorgten für seine Verfeinerung, bis zur ‚Überfeinerung‘, und für seine Verbreitung.“ 20
Ausgehend von diesen Beobachtungen, die Sombart im beginnenden 20. Jahrhundert auf die Jahrhunderte zuvor warf, mag der Blick in die Zeitgeschichte nach 1945 allzu abrupt erscheinen. Ob es die Sozialfigur der „Kurtisane“ oder „Hetäre“ in der von Sombart beschriebenen Form noch gab und gibt, mag dahingestellt bleiben. Vielmehr geht es darum, einige der von Sombart diagnostizierten und im Anschluss daran in der feministischen Lesart der Sombart’schen Thesen diskutierten Fragen zu Geschlecht und Luxus aufzugreifen.21 Mit dem Ethnologen Marc Abélès möchte ich mich dafür ins „pays du luxe“ begeben; auch er betont die Bedeutung von „l’amour et de la sexualité“. 22 Er stellt dabei heraus, wie der (Frauen-)Körper selbst für den Mann zum ‚Luxusgut‘ werde und die illegitime Liebe im Laufe der Jahrhunderte zur Spielweise zunächst der Monarchen, des Adels und bald der Neureichen geworden sei.23 Besonders begehrte Kurtisanen seien in der Lage gewesen, die Exklusivität ihrer Dienstleistungen zu garantieren.24 Am Beispiel besonders luxuriöser Automobile – und mit einem Automobil sollte auch Nitribitt bis weit über ihren Tod hinaus verbunden bleiben – 16 17 18 19 20 21 22 23 24
Zu Sombarts Biographie s. Lenger 1994. S. Sombart 1986, 118–136. Sombart 1986, 194. Wie überhaupt am gesamten Ansatz Sombarts vieles die Zeit atmet, in der er schrieb: Er ist so nicht nur ein interessanter Theoretiker des Luxus, sondern zugleich auch ein wichtiger Quellenlieferant für den Luxusdiskurs der Jahrhundertwende. Vgl. Breckman 1991. Bovenschen 1986, 9. S. dazu auch den Aufsatz von Meaker in diesem Band. Abélès 2018, 51. S. Abélès 2018, 51. S. Abélès 2018, 52.
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schreibt Abélès: „Là encore, c’est le vendeur qui intronise l’acheteur, en lui ouvrant les portes du club très fermé des propriétaires de voitures rarissimes.“25 Etwas anbieten zu können, was viele wollten, aber nur wenige bekämen, zeichne die Anbieter von Luxusgütern aus.26 Gleiches gelte auch für die Elite der Prostitution, die man wohl noch am ehesten mit den bei Sombart genannten Kurtisanen und Hetären vergleichen könnte; sie bau(t)en sich einen exklusiven Kundenstamm auf, wussten und wissen ihre Exklusivität zu wahren, ließen und lassen sich mit Luxusgütern bedenken und inszenierten und inszenieren sich mit diesen selbst wie ein Luxusprodukt. Zuweilen gerieten sie so zu einiger Berühmtheit, auch wenn ihr Kundenkreis aus naheliegenden Gründen im Verborgenen zu bleiben wünschte.27 Während sie also durchaus demonstrativen Konsum pflegten, ja – ähnlich wie es Abélès für Stars beschreibt – durch einen solchen ihren Marktwert zu erhöhen wussten,28 konnten die Nutzer ihrer Dienstleistungen diese nur bedingt „conspicious“ konsumieren.29 Einem eng umzirkelten inner circle männerbündisch organisierter Freunde und Kollegen mag man noch mit den Geschenken an die ‚Geliebte‘ imponieren können und sich mit den üppigen Gaben, die die Geliebte stellvertretend zu konsumieren hatte, einen Überbietungswettkampf liefern; darüber hinaus ließen sich derartige Botschaften aber nur schwer aussenden, solange man darauf bedacht war, die Aura des Bürgerlich-Wohlanständigen aufrecht zu erhalten.30 Ein besonders prominenter Fall einer „Edelhure“ ist eben Rosemarie Nitribitt, die nicht erst mit ihrem Tod 1957 zur Person des Frankfurter öffentlichen Lebens wurde.31 Das Spannende an Nitribitt für ein zeithistorisches Nachdenken über Luxuspraktiken ist, dass ihre mediale Prominenz nicht nur in eine Zeit fiel, die man mit Prüderie und konservativer Sexualmoral verbindet – ein Eindruck, den neuere kultur- und geschlechtergeschichtliche Arbeiten zumindest zum Teil revidiert haben.32 Gleichzeitig waren es auch Jahre, in der die bundesrepublikanische Gesellschaft meinte, sich in der inzwischen sprichwörtlichen gewordenen „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ eingerichtet zu haben glaubte.33 Der von Ludwig Erhard versprochene (kleine) „Wohlstand für Alle“34 war Ende des Jahrzehnts nahezu flächendeckend erreicht. Luxus allerdings passte demgegenüber nicht so recht ins Bild einer soziale Unterschiede negierenden Gesellschaft.
25 Abélès 2018, 35. 26 S. Abélès 2018, 36. 27 S. für die Gegenwart zum Beispiel die Selbstdarstellungen der Prostituierten Salomé Balthus, die vor allem immer wieder in der Süddeutschen Zeitung erscheinen, Balthus 2020. 28 S. Abélès 2018, 73. 29 Zur Begrifflichkeit des „demonstrativen Konsums“ s. Veblen 2011, 79. 30 S. zu derartigen Debatten Steinbacher 2011. 31 S. Steiger 2007, 12–14. 32 S. allen voran Steinbacher 2011. 33 S. Schelsky 1965. 34 S. zur Idee Erhard 1964.
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3. (K)EINE „GESELLSCHAFT IM ÜBERFLUSS“ Einer der soziologisch-ökonomischen Bestseller der 1950er Jahre war auch in der Bundesrepublik George Kenneth Galbraithʼ The Affluent Society; der deutsche Titel spitzte die Grundthese des Buches noch zu; konnte man „affluent“ noch mit „wohlhabend“ oder „begütert“ übersetzen, wählte man stattdessen den reißerischen Titel: Gesellschaft im Überfluß.35 Der bundesdeutsche Leser ließ sich von Galbraith darüber aufklären, dass „jeder [amerikanische] Durchschnittsbürger Zugang zu allen Annehmlichkeiten“ habe, dass er „oft gar nicht mehr weiß, was er sich eigentlich noch wünschen soll“.36 Dinge und Dienstleistungen, „die vor einem Jahrhundert nicht einmal den reichsten Leuten zur Verfügung standen“, würden nun Allgemeingut: „Man soll sich ja nicht einbilden, daß das Postulat eines allgemeinen Wohlstandes sehr bequem oder angenehm sei. Im Gegenteil, es gefährdet Prestige und Stellung vieler einflußreicher Zeitgenossen.“37
Wen Galbraith genau mit dieser gefährdeten Wohlstandselite meinte, ließ er unerwähnt, als er hier en passant eine Grundannahme jeglicher Luxusforschung beschrieb – dass das, was einst Luxus war, schon bald allgemein zugänglich sein könnte;38 überhaupt war das Buch selber weit weniger alarmistisch, als es sein Titel vermuten ließ, der sich in der Folge in der Bundesrepublik vor allem auch als Abgrenzungsmetapher eignete: keinesfalls lebe man auch in Westdeutschland im „Überfluss“, was der amerikanische Ökonom beobachtete, gelte allein für die USA. Die Bundesrepublik dagegen richte sich im bescheidenen Wohlstand ein.39 Der konservative Soziologie Helmut Schelsky lieferte dafür die populäre Selbstbeschreibung: Die Bundesrepublik sei eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“. Zwar standen dieser These deutliche empirische Befunde (so z. B. zur fortbestehenden sozialen Ungleichheit) entgegen, sie bot allerdings Orientierung und Sicherheit in einer Zeit, in der der Zweite Weltkrieg noch keine eineinhalb Jahrzehnte her war und in der weitere katastrophische Entwicklungen durchaus im Rahmen des Erwartbaren lagen.40 So richtete man sich in einer verallgemeinerten Bürgerlichkeit ein, die nicht mehr sozioökonomisch auf einen gesellschaftlichen Teilbereich festzulegen war, sondern die bürgerlichen Werte – Sparsamkeit, Fleiß, Selbstständigkeit, Familie – diffundierten durch die gesamte Gesellschaft. Die Bundesrepublik wurde so – in den Worten Eckart Conzes – zu einer „‚bürgerlichen‘ Gesellschaft“, genauer
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Galbraith 1959. Galbraith 1959, 12. Galbraith 1959, 13. S. z. B. Beck 2003. Interessanterweise gilt dies nicht für alle Luxusprodukte – manche (wie z. B. Markenuhren) bleiben exklusiv. 39 S. z. B. Wildt 2005. 40 S. Schildt 2001. Kaelble geht gar davon aus, dass in Europa der Konsum noch immer viel stärker zur sozialen Distinktion diente, als das in den USA der Fall war. S. Kaelble 1997, 180. Zum nivellierenden Konsumverständnis in den 1950er Jahren s. auch Gasteiger 2009.
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einer „kleinbürgerlichen oder ‚verkleinbürgerlichten‘ – um nicht zu sagen: […] ‚gut-bürgerlichen‘“.41 Diese sozio-kulturelle Konstellation hatte auch Auswirkungen auf das Konsum- und Freizeitverhalten; Axel Schildt hat schon früh darauf hingewiesen, dass sich eine zunehmende Privatisierung des Konsums feststellen lasse: das heimische Fernsehen ersetzte den Besuch im Kino, das Radio das Konzert und das unmittelbare soziale Umfeld der eigenen Familie den Gang ins Restaurant bzw. für die 1950er Jahren eher in die Kneipe.42 Diese allgemeingesellschaftlichen Trends sind konsumgeschichtlich inzwischen gut aufgearbeitet und in ihren Implikationen für Familienverhältnisse, Geschlechterbeziehungen und Demokratisierungsprozesse durchleuchtet.43 Was demgegenüber zu kurz kommt, ist, dass die Nivellierung nicht nur in dem Sinne nicht funktionierte, als dass die sozialen Unterschiede von unten zur Mitte hin überwunden werden konnten – Armut gab es weiterhin.44 Erst in jüngerer Zeit wird auch für die Bundesrepublik an einer sozial-, kultur- und wirtschaftshistorisch informierten Geschichte des Reichtums gearbeitet.45 Auch wenn sich Reiche – z. B. in der Person des Unternehmers – häufig als besonders frugal lebend zu inszenieren wussten46 und sich in ihrem Lebensstil einer „demonstrativen Austerität“ befleißigten47, standen für sie gleichzeitig Konsumangebote bereit, die exklusiv waren, dem Massenkonsum entzogen blieben und die so auch weiterhin der erweiterten Sombart’schen Luxusdefinition eines über das Normalmaß hinausgehenden Aufwandes entsprachen.48 4. DAS MÄDCHEN ROSEMARIE Der „Manager“ war ein schwieriger Begriff in der Bundesrepublik der 1950er Jahre; allzu amerikanisch, allzu technokratisch und allzu weit entfernt vom Unternehmenspatriarchen des rheinischen Kapitalismus erschien diese in den 1950er an Bedeutung gewinnende Sozialfigur.49 In Nobelkarossen fuhren sie über das immer weiter ausgebaute Straßennetz der Bundesrepublik, nahmen – falls notwendig – wie selbstverständlich das Flugzeug, überarbeiteten sich dabei bis zur landläufig
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Conze 2004, 534. S. Schildt 2004, 10. S. Wildt 2005. S. dazu Gajek/Lorke 2016; Boldorf 2008. S. allgemein Süß/Jorendt 2016; für die Zeitgeschichte spezifischer Gajek/Kurr/Seegers 2019. S. am Beispiel des wohlhabenden Hamburger Bürgertums Seegers 2014. S. dazu am Beispiel des archaischen Kretas den Beitrag von Seelentag in diesem Band. Allgemein zu derartigen Erzählungen über die Reichen in der Bundesrepublik auch Gajek 2016, 51. 48 S. Coquery/Bonnet 2015, 4. 49 S. zur Wahrnehmung des Managers in der Bundesrepublik auch die Rezeption der Schrift von Burnham 1951.
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sogenannten „Managerkrankheit“50, pflegten teure Hobbys wie den Pferdesport und leisteten sich im sparsamsten Falle eine Geliebte, sonst auch mehr. Dieses Bild gewann zumindest der Leser des Romans Rosemarie: Des deutschen Wunders liebstes Kind, den der Schriftsteller Erich Kuby 1959 veröffentlichte. 51 Dieser basierte auf dem realen Fall der kurz zuvor ermordet aufgefundenen Rosemarie Nitribitt, der man Kontakte in die obersten Ränge von Wirtschaft und Politik der Bundesrepublik nachsagte.52 Wie im Brennglas führte der Fall, der, gerade weil er so deutlich Sex, Macht und Reichtum miteinander verknüpfte, auf viel Interesse stieß, der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit vor Augen, wie die ökonomische Elite des Landes zu konsumieren pflegte. Gleichzeitig musste sie aber auch einen neuen Begriff lernen: „Edelhure“. Rosemarie Nitribitt wurde 1933 geboren und erlebte das, was man gerne pauschal als schwierige Kindheit bezeichnet: Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, mit elf Jahren wurde sie von einem Soldaten (andere Quellen sprechen von einem anderen Jugendlichen) vergewaltigt, mit 13 habe sie sich mit zwei Prostituierten angefreundet und sich von diesen in ihr ‚Handwerk‘ einführen lassen.53 In den 1950er Jahren habe sie erkannt, dass wieder Geld vorhanden war – und auch, wo man dieses finden konnte, nämlich in der im Wiederaufbau befindlichen Mainmetropole Frankfurt, wo sich wieder alles zu tummeln begann, was reich und mächtig war.54 Rosemarie Nitribitt nannte sich inzwischen Rebecca, verwendete bald auch weitere Pseudonyme, verfügte zunächst über einen Opel Kapitän, den ihr ein Verehrer übereignet hatte: „Sie geht nicht auf den Strich, sie fährt auf den Strich“, zitieren Barbara Sichtermann und Ingo Rose einen zeitgenössischen Beobachter.55 Und sie fand sich in ein Milieu ein, das literarisch, essayistisch und journalistisch zwar zuweilen porträtiert worden ist56, dessen zeithistorische Aufarbeit ung aber trotz erster Ansätze zu einer Geschichte des Reichtums noch immer in seinen Anfängen steht57: „In den Metropolen entstand, gut abgeschottet gegen die brave Normalität, ein hedonistisches Milieu, in dem reizende Mädchen posierten, Jazz dröhnte, Sekt strömte und kubanische Zigarren geraucht wurden.“58
50 S. dazu Kury 2012, 118. 51 Hier wird nach der Taschenbuchausgabe zitiert, die für eine noch weitere Verbreitung des Textes sorgte. Kuby 1961. 52 S. Keiffenheim 1998, 6–8. 53 S. Rose/Sichtermann 2016, 99. 54 S. Rose/Sichtermann 2016, 100. 55 Rose/Sichtermann 2016, 100. 56 S. z. B. den Enthüllungsroman von Temper 1982. 57 S. Gajek/Kurr/Seegers 2019. 58 Rose/Sichtermann 2016, 99.
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Ob die Gegenüberstellung von ‚Normalität‘ auf der einen und hedonistischem Luxusmilieu auf der anderen Seite tatsächlich stichhaltig ist, müsste überprüft werden – viel wichtiger ist noch, dass Sichtermann und Rose annehmen, dass dieses Milieu abgeschottet von der Öffentlichkeit ihren Freuden nachgegangen sei. Dabei verkennen sie vollkommen die gesellschaftspolitische und kulturelle Bedeutung, die auch schon in den 1950er Jahren die sogenannte Klatschpresse, die „bunten Blätter“, hatte.59 Sicher berichtete diese niemals realitätsnah von dem, was die sprichwörtlich Schönen und Reichen so trieben, sicher erfand sie mindestens ebenso viele Geschichten, wie sie fand – nichtsdestotrotz trug sie die Informationen dieser Luxuswelt in die Gesellschaft.60 Eine Bewohnerin dieser Welt war eben Rosemarie Nitribitt, deren Rolle gerade deshalb so interessant ist, weil sie sich selbst als Luxusobjekt zu inszenieren wusste, weil sie sich bewusst rarmachte, um den eigenen ‚Marktwert‘ zu erhöhen, weil sie Bildungspatente genau zu demselben Zweck erwarb und weil sie sich mit den Insignien des Luxus der damaligen Zeit umgab – der Mercedes Sportwagen mit roten Ledersitzen, teure Pelze, einen (natürlich reinrassigen) weißen Pudel, Schmuck, Handtaschen etc.61 Zugleich setzte sie aber auch ihren Körper als Luxuskörper in Szene. Sichtermann und Rose interpretieren Nitribitts zuweilen erfolgten Indiskretionen als Folge ihrer mangelnden Vorsicht62 – ebenso könnte aber gefragt werden, ob diese Indiskretionen nicht auch dem Zweck dienten, sich selber anzupreisen. 5. DIE „SL-LEIHDAME“. ROSEMARIE NITRIBITT UND DER LUXUS IN DEN 1950ER JAHREN „Und überhaupt: dieser Mercedes und dieser Nerzmantel, dieser Brillantschmuck. Luxus wurde ein Thema, seine Nähe zur Sünde fiel auf. Die Bundesrepublik musste der Tatsache ins Auge sehen, dass es da noch mehr gab als schaffende Ehemänner und putzende Ehefrauen.“ 63
Auch wenn Sichtermann und Rose auch mit diesem Statement sicher die bundesrepublikanische Öffentlichkeit der 1950er Jahre als reichlich naiv einschätzen,64 haben sie doch sicher insofern Recht, als dass gerade der Tod Nitribitts 1957 Luxus
59 S. dazu Seegers 2008; am Beispiel der HÖR ZU auch Seegers 2004. 60 Zur Bedeutung der Prominentenberichterstattung für die soziale und kulturelle Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland s. Seegers 2010. 61 Damit war Rosemarie Nitribitt auch ein gefundenes Fressen für die Ausstatter der Verfilmung von 1958. S. dazu Rolf Thiele (Regie), Das Mädchen Rosemarie, Deutschland 1958 [Film]. 62 Rose/Sichtermann 2016, 101. 63 Rose/Sichtermann 2016, 103. 64 „Tatsächlich war Sexualität in diesen Jahren [den 1950ern; J.V.] ein großes Thema und bezeichnete eines der zentralen Felder politischer und sozialer Auseinandersetzungen.“ Steinbacher 2011, 7.
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(in Verbindung mit einer Prostituierten mit einem „gertenschlanken, sehr gepflegten und eleganten“ Luxuskörper) zum Diskursgegenstand werden ließ.65 Insbesondere Schriftsteller und wenig später dann auch Filmemacher witterten die Brisanz des Themas und machten sich an mehr oder weniger detailgetreue Aufarbeitungen des Stoffes. Am bekanntesten ist wohl die romanhafte Adaption Erich Kubys, die – sicher in entlarvender Absicht – in das Milieu des reichen Frankfurt einführte, in dem eine kostspielige Geliebte im Grunde zum Standardrepertoire eines jeden (männlichen) Repräsentanten des beginnenden Wirtschaftswunders gehöre. „Drei [der Protagonisten des Romans; J.V.] hatten sich ihrer Frauen mit Hilfe von Rechtsanwälten entledigt und zwischen 1950 und 1955 jüngere und hübschere geheiratet, die besser zu ihrem neuen Reichtum paßten.“66
Und nur wenig später auf der Seite bekundet eine der neuen Ehefrauen über die untreuen Ehemänner der Wiederaufbaugesellschaft: „Ich kann nicht verstehen, was es da zu erpressen gab. Wir wissen doch alle, wie unsere Männer herumschlafen.“67 Auch Erich Kuby kam nicht umhin, all die Insignien des Luxus zu zitieren, die man mit der Welt der bundesrepublikanischen High Society verband – die eben gerade keine Veblen’sche leisure class war, weil sie nicht nur den „demonstrativen Müßiggang“ – das dann aber durchaus in der von Veblen beschriebenen Form, z. B. beim Pferderennen – pflegte68, sondern sich zugleich auch als hart arbeitende Geschäftsleute verstand und inszenierte. Was Kuby in seinem Roman aber besonders deutlich machte, ist, in welcher Form die vorgeführten Industriellen die – in den Worten Sombarts – nicht legitimen Frauen dazu verwendeten, ihnen den „stellvertretenden Konsum“ zu ermöglichen, den Veblen noch gut puritanisch allein den eigenen Ehefrauen zuschrieb,69 und über die Ausstattung der eigenen Geliebten mit kostspieligen Kleidern, Automobilen und Wohnungen Distinktion zu den anderen Mitgliedern des eigenen Milieus herzustellen. Geschäftspartnern und Konkurrenten konnte so die eigene finanzielle Potenz (und damit Macht) vor Augen geführt werden. Dass das titelgebende „Mädchen Rosemarie“ dafür mit einer piefig-kleinbürgerlichen Wohnung, ausgestattet mit alldem, was als Geschmacksverirrungen der Zeit galt, zufrieden war, inszenierte Kuby als besonders bittere Pointe für den Finanzier: „Hartog mietete Rosemarie eine Wohnung. Ein Zimmer, ein Bad und eine kleine Küche. In einer kleinen Straße draußen bei Dornbusch, das ist ein Stadtteil von Frankfurt. Er gab ihr Geld, weil die Vorstellung, die Wohnung selber einrichten zu dürfen, das Mädchen in Entzücken versetzte. Beim ersten Besuch in der fertigen Wohnung sah Hartog sofort, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er hätte die Einrichtung einer Firma überlassen müssen. Der runde Tisch vor
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Rose/Sichtermann 2016, 100. Kuby 1961, 10. Kuby 1961, 10. Veblen 2011, 51. Veblen 2011, 89.
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der Couch zeigte Rohrgeflecht unter einer Glasplatte. Blumentöpfe standen auf einer dreistöckigen Etagere. Der Teppich hatte Muster, die Vorhänge hatten Muster. Und Rosemaries Morgenmantel hatte ein anderes Muster. Auch die Seitenteile der Couch waren geflochten. Sie führte ihn stolz herum; im Bad wenigstens gab es kein Rohrgeflecht und keine Bilder. Sie war selig, schmiegsam und dankbar. Sie hatte das Große Los gezogen.“ 70
So klandestin, wie man das angesichts der vermeintlich strikten Sexualmoral der 1950er Jahre annehmen könnte, verlief das Leben Rosemarie Nitribitts allerdings nicht, so Thomas Flemming und Bernd Ulrich: „Der menschliche Körper, bekleidet mit einem anthrazitfarbenen Kostüm, den die herbeigerufene Polizei an diesem 1. November 1957 vorfand – grotesk verrenkt, mit einem Bein auf dem Cordsofa, während der Oberkörper auf dem Teppich davor lag – gehörte zu Lebzeiten der 24jährigen stadtbekannten Prostituierten Rosemarie Nitribitt.“ 71
Spannend an dieser Einleitung aus einem populärwissenschaftlichen Buch, das sich bedeutenden Kriminalfällen der Zeit nach 1945 widmet, ist gar nicht einmal so sehr, dass die Autoren noch fast 50 Jahre nach dem Tod Rosemarie Nitribitts ihren (toten) Körper den voyeuristischen Blicken der Leserinnen und Leser freigaben, als hätten sie ein Anrecht darauf. Viel interessanter ist dagegen der Hinweis auf die Prominenz des Mordopfers, das „stadtbekannt“ gewesen sei. In einem Text für die Süddeutsche Zeitung, der nur wenige Tage nach dem Tod Rosemarie Nitribitts erschien, machte Erich Kuby deutlich, wie sie für sich warb: „Rosemarie hatte die Zeichen der Zeit verstanden, sie wusste, wie deren Leitbilder aussehen, und hatte sich mit dem Leitbild aller Leitbilder, dem des Erfolgs, ausgedrückt in elegant verkleideten PS, identifiziert.“ Und diese Selbststilisierung über Luxusobjekte als Signifikanten für wirtschaftlichen Erfolg sei auch genau das gewesen, was die Kunden an ihr zu schätzen gewusst hätten: „Damit machte sie ihr blühendes Geschäft und nicht mit den Versprechungen irgendwelcher Sexlektionen.“72 Die mediale Berichterstattung begann erst dann wirklich ungeahnte Ausmaße anzunehmen, als nicht nur der schnell geschriebene Roman Kubys, sondern auch die Verfilmung mit Nadja Tiller in der Hauptrolle anstand – und der Film dann auch noch zu den Internationalen Filmfestspielen nach Venedig eingeladen wurde. „Kinobesitzer und katholische Filmbegutachter“ liefen „in seltener Einmütigkeit“ gegen den Film Sturm; der Versuch, der Produktionsfirma, den Film zu rechtfertigen, verfing nicht: „Das Luxusmädchen Nitribitt, argumentierten sie, sollte dabei ‚lediglich als Symbol des Wirtschaftswunders dienen.‘“ Dem Film ging es darum, „Rosemaries Aufstieg zur teuersten Hure der Bundesrepublik […] möglichst authentisch zu rekonstruieren.“ Erich Kuby, der das Drehbuch zum Film geschrieben hatte, noch bevor er seinen Roman vorlegte, machte für die Widerstände politische Argumente geltend – im Grunde gleichlautend mit der DDR-Illustrierten aus der Einleitung: „Gewisse Kreise reagieren auf das Projekt Nitribitt empfindlich, weil
70 Kuby 1961, 22–23. 71 Flemming/Ulrich 2005, 53. 72 Zitiert nach Flemming/Ulrich 2005, 57.
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sie mit Recht vermuten, daß der Kundenkreis dieses Mädchens in unserem Film eine große Rolle spielt.“ So weigerte sich Mercedes Benz, eine ansonsten übliche Form des Product Placement im Film anzubieten – zwar war auch im Film der inzwischen berühmte Mercedes SL zu sehen, der den gediegenen Opel Kapitän ersetzt hatte, allerdings nicht von der Firma bereitgestellt, sondern „anderweitig besorgt“.73 Die Berichterstattung über den Film blieb dabei nie bei der künstlerischen Verdichtung des Stoffes – die Kritiker hätten wohl auch bestritten, dass es überhaupt eine solche gab; sie nutzten die Filmkritik immer auch dazu, um auf den Fall Nitribitt zu verweisen und dabei immer auch beschreibende Wendungen zu nutzen, die Nitribitt explizit mit Luxus in Verbindung brachten. So verwahrte sich ein Immobilienbesitzer in einem Spiegel-Bericht dagegen, dass im Film die Wohnadresse Nitribitts genannt würde. Schnell ging man im Artikel allerdings zum „DirnenOpus“ als solchem und zur „SL-Leihdame“ im Speziellen über.74 Spannender noch als die Klage des Hausbesitzers, dass das Apartmenthaus – gegen seinen Willen – zum Wallfahrtsort für Nitribitt-Interessierte und (pubertäre) Späßetreiber geworden sei, die sich vor dem Haus anzüglichen Albernheiten hingaben, ist genau diese Verbindung der Prostituierten mit dem Sportwagen des Edelautoherstellers Mercedes. Noch die Berichte mehrere Jahre nach ihrem Tod nehmen also die Nitribitt’sche Selbstdefinition auf und präsentieren sie nicht nur als „Lebedame“75, sondern als ‚Luxusprodukt‘ sui generis, die Wortbildung „SL-Leihdame“ (zu dieser Zeit nannte man die Wagenreihe von Mercedes ebenfalls mit Bindestrich „SL-Modelle“) machte es deutlich; zur Premiere des Films in der Bundesrepublik schrieb Der Spiegel gar – noch näher an Sombart – von der „SL-Kurtisane“.76 Ja, in der Affäre Kilb77, einem der ersten großen Bestechungsskandale der alten Bundesrepublik, in der auch der dem Ministerialrat Kilb von Mercedes zur Verfügung gestellte Fuhrpark eine Rolle spielte, präsentierte man den Mercedes 190 SL gar als den „durch Rosemarie Nitribitt berühmt gewordenen Typ“ (Abb. 1).78 Die „delikate Sache“ selbst, also Nitribitts Mercedes, ging nach ihrem Tod nach Hamburg; dem „skandalumwitterten Mercedes 190 SL“ der „Geschäftsfrau“, der „mit echten Lederpolstern, Radio und Weißwandreifen ausgestattet war und einen Neuwert von rund 19 000 Mark besaß“, wie sich Der Spiegel nicht entblödete zu berichten, bleibe „das Fluidum knisternder Erotik in den Polstern“ haften. Er zog das Interesse immer neuer Geschäftsmänner auf sich, der Wert des Wagens steigerte sich – und das, obwohl er nach einem Unfall inzwischen nicht mehr schwarz, sondern silbergrau war. Nach mehreren Zwischenstationen gelangte er an einen Kaufmann, der 13 300 DM für den Gebrauchtwagen mit Unfallschaden bezahlte; obwohl das Auto schon verkauft war, präsentierte ein Autohändler es noch als
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Nitribitt. Glückauf, in: Der Spiegel, 13.08.1958. Noch einmal Nitribitt, in: Der Spiegel, 12.08.1959. Noch einmal Nitribitt, in: Der Spiegel, 12.08.1959. Film: Neu in Deutschland, in: Der Spiegel, 03.09.1958. S. dazu Engels 2019, 44–51. Kilb-Affäre. Kanzler-Karosserie, in: Der Spiegel, 25.11.1958.
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Highlight bei der Hamburger Gebrauchtwagenbörse – mit einem eigens gemalten Schild: „Von zarter Hand aus Frankfurt. Rosemarie“ und hatte sich dafür das originale Frankfurter Kennzeichen nachmachen lassen.79 Rosemarie Nitribitt diente nunmehr offenbar auch dazu, Produkte, die mit ihr in Verbindung standen, durch ihre Aura zu adeln – und damit zu verteuern.
Abb. 1: Die Frankfurter Prostituierte Rosemarie Nitribitt mit ihrem Hund und ihrem MercedesCabriolet. Süddeutsche Zeitung Photo. Bild-ID: 00028441
Später bei der Prozessberichterstattung gegen einen engen Bekannten Nitribitts, der des Mordes verdächtigt wurde, sprach man dann von „Nachkriegsdeutschlands namhaftester Dirne, der motorisierten Rosemarie Nitribitt“, die gleichzeitig als „teilalphabetisch und sexuell ambivalente Kurtisane“ und im Besitz eines „mit kleinbürgerlicher Prachtentfaltung aufwartenden Appartments“ beschrieben wurde. Zugleich sprach Der Spiegel ihr allerdings die „zeitgeschichtlichen Ehren […], wie sie in früherer Zeit und auf höherem sozialen Niveau etwa der Lola Montez [einer Kurtisane des bayrischen Königs Ludwig I; J.V.] und in der Gegenwart der ermordeten Italienerin Wilma Montesi, [ein ebenfalls tragisch zu Tode kommendes italienisches Fotomodell mit Beziehungen in die italienische High Society; J.V.], zuteil wurden“, ab. Interessant an dieser Einschätzung ist vor allem, dass die Zeitschrift 79 Gesellschaft: Nitribitt-Auto. Von zarter Hand, in: Der Spiegel 21.10.1958.
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Nitribitt den Stil und die Manieren einer Neureichen unterstellte, der es am Habitus einer ‚wahren‘ Kurtisane gemangelt habe – auch derartige Zuschreibungen erinnern an Bourdieu.80 Denn zwar hatte sie inzwischen das ökonomische Kapitel, sich die Dinge der Reichen zu erwerben, verfügte aber nicht über das kulturelle Kapitel, diese so zu nutzen und zu präsentieren, wie es als angemessen galt. Der gewollt zynische Artikel zum „Pohlmann-Prozess“ zielte vor allem darauf ab, deutlich zu machen, dass Nitribitt das, was ihr an ‚Klasse‘ fehlte, durch Luxusinsignien zu ersetzen suchte – sie erscheint als „finanziell sehr erfolgreiche PKW-Hetäre“ und „als „Symbol neudeutscher Wohlstands-Unmoral“. Und er konnte sich nicht entscheiden, ob er sich über die vermeintlich mit allerhand Unzulänglichkeiten ausgestattete Nitribitt mokieren („Zwar hatte Fräulein Rosemarie, die sich gelegentlich auch ‚Rebekka‘ oder ‚Gräfin Mariza‘ nannte, im Laufe der Zeit zwar fast aller Länder Herren zu Besuch, aber gleichzeitig große Mühe, ihren Namen zu schreiben“), ihre kleinbürgerlich-genaue Arbeitsweise bewundern („Die strebsame Art der selbstständigen Gewerbetreibenden, die ihren Kunden zumeist nur 50 bis 100 Mark abnahm“) oder aber den von ihr repräsentierten vermeintlich anstrengungslosen Luxus verdammen sollte. So zitierte man im letzten Satz – zustimmend – eine Zeugin des Prozesses: „Fressen und saufen wollen sie alle, aber schaffen will niemand mehr.“81 ‚Luxus‘ wurde so als Geschmacksverirrung einer Neureichen präsentiert, der man die Kompetenz absprach, auf gehobenem Niveau ‚richtig‘ konsumieren zu können. Die „früh gemordete Second Lady finanzstarker Bundesdeutscher“82 wurde so nicht allein zum Gegenstand einer schlüpfrigen Berichterstattung mit sich überbietenden Wortspielarabesken, sondern gleichzeitig auch zum Gegenstand einer breiteren Debatte über Luxus und Moral in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1950er Jahre. Und damit ein Stück weit auch zum Vorläufer eines Prostitutionsjournalismus, der zum einen betonte, wieviel Geld in diesem ‚Gewerbe‘ zu verdienen sei und der zum anderen auch wiederum auf die Verdienstunterschiede unter den Prostituierten verwies: „Heute kassiert selbst eine Amateurin nach Feierabend soviel wie tagsüber hinterm Ladentisch und eine rührige Großstadt-Professionelle in einer Nacht soviel wie ein Bergmann in der Woche (200 bis 250 Mark) – ganz zu schweigen vom Hurenadel mit Scheckheft, Pudel und Kollier [sic!], die venus vulgivaga (mot.), wie der ‚Welt‘-Redakteur Bernd Nellessen Deutschlands Kabrio-Kurtisanen beschrieb.“83
Die Prostituierten, so der Artikel weiter, seien inzwischen nicht nur gut verdienend bei vergleichsweise geringen Arbeitszeiten (über dieses verquere Bild von Prostitution muss an dieser Stelle wohl nichts gesagt werden), sondern darüber hinaus auch perfekt auf „die Gepflogenheiten einer modernen Konsumgesellschaft eingestellt“.
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S. Bourdieu 1987, 71–210. Verbrechen: Pohlmann-Prozess. Schaffen will keiner mehr, in: Der Spiegel, 05.07.1960. Film: Neu in Deutschland, in: Der Spiegel, 03.09.1958. Gesellschaft: Prostitution. Hausen und Hegen, in: Der Spiegel, 06.04.1965.
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Der Artikel deklinierte die unterschiedlichsten ‚Angebote‘ durch, verwies darauf, die Prostituierten inzwischen ihre Freier auch tagsüber empfingen und keine „stark riechenden Parfüms“ mehr verwendeten, um die Ehefrau daheim nicht misstrauisch zu machen, etc. Neben diesen Angeboten der Niederungen der Bahnhofsviertel-Konsumgesellschaft (mit „bis zu 40 Geschäftspartnern binnen 24 Stunden“), gebe es aber auch die Prostituierten-Elite – insbesondere in Frankfurt mit Preisen von „300 bis 800 Mark“. „Ein Resultat der ebenfalls im modernen Prostituiertenwesen verbreiteten Konsum-Weisheit, daß einer luxuriösen Verpackung preistreibende Wirkung zukommt. Lydia Gross, 25, ein Münchener Exemplar der Spezies ‚venus vulgivaga (mot.)‘, lädt Herren, bei denen sie nicht sicher mindestens 400 Mark in der Tasche wähnt, gar nicht erst in ihren Wagen ein. Seit Rosemarie Nitribitt selig gibt es eine Halbwelt-Hautevolee, die im 180-PS-Coupé über die schiefe Bahn dahinrollt und ihre Blößen mit Nerz bedeckt.“84
Die knappe Schilderung des Lebensstils der Edelprostituierten macht vielerlei deutlich; der Umstand, dass die Frauen ihre Freier im eigenen Wagen abholten und damit – zumindest ein Stück weit – auch eine größere Sicherheit genossen als ihre unmotorisierten Kolleginnen bleibt erstaunlicherweise vom Autoren unreflektiert. Viel spannender aber ist, dass auch die als Quasi-Nachfolgerin Nitribitts vorgestellte Prostituierte ihrem Gewerbe nicht heimlich nachging, sondern durchaus auf öffentliche Wirkung aus war – ihr Name stand immerhin im weit verbreitetsten Nachrichtenmagazin der Bundesrepublik. Zugleich verwies der Autor darauf, welche Funktion Luxusprodukte für die schnippisch als „chanelumwölkten Dirnenadel“ bezeichneten Prostituierten mit Beziehungen zu den obersten Kreisen der Wirtschaft hatten;85 sie dienten der Selbstinszenierung, der Stilisierung der eigenen Person als Luxusprodukt, das nur bestimmte Personenkreise ‚konsumieren‘ konnten und durften. Daran schließt sich ein interessanter Zirkelschluss an, denn es waren genau diese Personen, die Rosemarie Nitribitt durch die Finanzierung des „stellvertretenden Konsums“ diese Inszenierung ermöglichten. Was sich beobachten lässt, ist so die Gleichzeitigkeit von Inszenierung und Selbstinszenierung. Wiederum einige Jahre später – 1976 – machte Der Spiegel mit einer Titelgeschichte auf, in der er sich vornahm, den „neuen Salons der käuflichen Liebe in Westdeutschland“ nachzuspüren: „Sie residieren in den Etagen citynaher Patrizierhäuser, in Luxusvillen der Prominenten-Vororte, aber auch in swimmingpool-bestückten Bungalows auf dem flachen Lande.“ Verwundert zeigte sich der Autor darüber, dass „trotz Pille, Penicillin und Beate Uhse“ die „Mietlust-Branche“ keineswegs verschwunden sei, sondern floriere – „nicht in den kahlen Kontakthöfen und tristen Vollzugs-Kammern von ‚Eros-Centres‘ [sic!] und Dirnen-Wohnheimen“, sondern „in Villen mit Park und Swimming-Pool, in Etagenwohnungen mit bester Adresse, in Landhäusern weit draußen in ruhiger Lage rings um die großen Städte“. Die – auch von der Polizei sogenannte – „gehobene“ Prostitution breite sich aus:
84 Gesellschaft: Prostitution. Hausen und Hegen, in: Der Spiegel, 06.04.1965. 85 Gesellschaft: Prostitution. Hausen und Hegen, in: Der Spiegel, 06.04.1965.
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Jonathan Voges „‚Dezentes Licht, weiche Fauteuils, sanfte (mitunter sogar klassische) Musik, frische Blumen auf den Tischen, wohlsortierte Bar, angenehme Sauna… Mädchen in Abendkleidern, die zu plaudern verstehen und nicht animieren‘, berichten überraschte Besucher von ‚Klubs‘ und ‚Privatsalons‘. Die sich in vornehmer Umgebung diskret etabliert haben.“
Wie diskret das wirklich vor sich ging, zeigte der folgende Absatz, der Namen und Adressen von derartigen Etablissements in Berlin, Hamburg, Köln und anderswo auflistete. All das habe in den 1950er Jahren seinen Anfang genommen: „Die Nachfolgerinnen der (1957 ermordeten) Luxus-Dirne Rosemarie Nitribitt bieten dort, einzeln oder zu mehreren, ihren Service unauffällig zum Teil in angezahlten Eigentumswohnungen, die sie auf diese Art zu erwerben hoffen.“86
Bezeichnend an diesen Beschreibungen ist vor allem, dass nunmehr nicht mehr die Luxusausstattung der Prostituierten selber, sondern der Raum, in dem Prostitution stattfand, mit den Insignien des Luxuriösen belegt wurden. 6. SCHLUSS: EHRENRETTUNG DER „INDUSTRIEKAPITÄNE“? Manchmal ist es ein Zufall, der zu interessanten Paarungen führt: 1958 erschien wieder einmal ein Artikel in der Wochenzeitschrift Der Spiegel, der sich mit der Verfilmung des Rosemarie-Stoffes befasste. Genau auf derselben Seite warb die Lufthansa für ihren „Luxusdienst Senator“: „Der sprichwörtliche LUFTHANSAService mit der exclusiven Atmosphäre.“ Das Flugunternehmen adressierte mit diesem Angebot ganz offensichtlich diejenigen, die sich vom Nitribitt-Film herausgefordert fühlten; jedenfalls wiesen drei Mitglieder eines Ausschusses der Freiwilligen Selbstkontrolle („der evangelische Filmpfarrer Hess, der Vertreter des Bundes, Dr. Theo Fürstenau, und ein Fräulein Körner“) darauf hin, dass den Unternehmern im Film allzu schlecht mitgespielt worden sei: Es könne beim Publikum „leicht der Eindruck [entstehen], als seien die tatsächlich gezeigten Mißstände in hohem Maße symptomatisch und allgemeingültig für diese Gesellschaftsklasse (der Industriekapitäne)“.87 Ein derartiges Bild des deutschen Unternehmers wollte man keinesfalls vermittelt sehen.88 Und hieran wird auch schon der erste Aspekt deutlich, der den Fall Nitribitt so wichtig für eine zeithistorische Auseinandersetzung macht. Die „Edelhure“ und ihre Kontakte dienten zum einen linksliberalen Kritikern der bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft dazu, die vermeintlich saturierte AdenauerZeit in ihren Grundpfeilern zu attackieren – und das waren Elemente wie Wohlanständigkeit, Fleiß und ein bis zur demonstrativen Austerität gepflegter zurückhaltender Lebensstil. Nitribitt diente Intellektuellen wie Erich Kuby – und vor allem
86 „Das geht so gehoben zu.“, in: Der Spiegel, 28.03.1976. 87 Nitribitt: Die notwendige Klarheit, in: Der Spiegel 17.09.1958. 88 Zur Bedeutung von Unternehmerbildern und damit einer gelungenen Zusammenführung von Unternehmens- und Kulturgeschichte vgl. Plumpe 2014.
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auch der DDR-Propaganda, die den Fall nur allzu gern aufgriff89 – dazu, über die Präsentation eines vermeintlich luxuriösen Lebensstils der Unternehmerelite der Bundesrepublik genau dieses Selbstbild als Fassade zu enttarnen und die vermeintliche Biederkeit als Bigotterie zu desavouieren. Die Anbieter von Luxusprodukten merkten recht schnell, in welch (für sie) problematischer Art und Weise ihre Waren und Dienstleistungen auf der Leinwand repräsentiert würden; Mercedes verweigerte, wie gesagt, die Bereitstellung der entsprechenden Automobile, die Steigenberger-Gruppe legte Wert darauf, dass das zwar im Film als Kulisse genutzte Hotel Frankfurter Hof für den Zuschauer nicht mehr als dieses zu erkennen sein sollte und dass der im Film auftretende Portier „seinen Stammkunden nicht mehr [mitteilt], daß sie die Vermittlung von Call-Girls getrost als ‚Kundendienst‘ betrachten können“.90 Die negative Einschätzung von Luxus als unsittlich und – im Falle der Nitribitt – geschmacklich zumindest fragwürdig teilten ganz offenbar auch die Kritiker der medialen Aufbereitung des Nitribitt-Stoffes: Auch sie verstanden den Konsum von Luxusprodukten als problematischen Charakterzug – gerade in der Verbindung mit Sexualität –, legten aber Wert darauf, zu betonen, dass derartige Konsumformen allenfalls eine Ausnahme seien, dass das Gros der deutschen Unternehmer genau dem Bild entsprach, dass man gerne von sich zeichnete. Beinahe noch wichtiger als diese über die mediale Aufbereitung der Affäre Nitribitt ausgebrochene Luxusdebatte ist die Frage, welche Erkenntnisse eine akteurInnenzentrierte historische Luxusforschung aus der Beschäftigung mit dem „Mädchen Rosemarie“ ziehen kann. Zum einen scheint sie zumindest zum Teil genau in die von Sombart beschriebene Kategorie des „Luxusweibchens“ zu fallen, deren Geschichte der Sozialwissenschaftler bis weit zurück in die Geschichte verfolgte. Spannender noch als diese bloße Feststellung wird es jedoch, wenn man Nitribitt nicht nur als Opfer der Zeitläufte und der männlichen Freier versteht, sondern ihr ein Mehr an agency zugesteht. Lässt man all die Verniedlichungen weg (die schon bei der Bezeichnung „Mädchen“ beginnen) und schiebt auch die lüsternen Beschreibungen in der zeitgenössischen Presse für einen Augenblick beiseite und nimmt stattdessen performative, praxeologische und inszenatorische Ansätze der Kulturwissenschaften ernster – ganz im Sinne von doing gender könnte man so auch von doing luxury sprechen –, so lässt sich anhand von Nitribitt ein interessantes Phänomen beobachten, das eventuell auch für andere Epochen und Zusammenhänge von Bedeutung sein könnte: In der Sprache des Neoliberalismus gesprochen gelang es jemandem in den 1950er Jahren ganz offenbar, den eigenen Marktwert
89 In einem Hörspiel fanden sich neben einem aufrechten kommunistischen Redakteur, einem Staatsanwalt mit einschlägiger NS-Vergangenheit, einer vor der katholischen Kirche kuschenden Exekutive und viel Geheimdienstpersonal auch Dialoge wieder dieser: „Strecker: Wer hat Dir eigentlich den Morgenrock bezahlt? Diese Ausführung kostet mindestens zweihundert Mark? […] Nitribitt: Das ist mir gleich. Wenn sich einer meiner Freunde um meine anderen Freunde kümmert – das trübt unser Verhältnis sehr schnell.“ Ledig 1958, 29. 90 Nitribitt: Die notwendige Klarheit, in: Der Spiegel 17.09.1958.
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(bzw. den Marktwert des eigenen Körpers) massiv zu erhöhen. Das geschah zum einen durch Investitionen in „kulturelles Kapital“91 – hier die z. B. Erlernung von Fremdsprachen, wie es Nitribitt zumindest versucht haben soll –, zum anderen durch die Akquisition (bzw. Geschenke) von Luxusprodukten (allem voran der berühmte Mercedes SL). Drittens bürgten die „Kunden“ selbst für die Exklusivität Nitribitts, die in Frankfurt eine stadtbekannte Erscheinung war. Die Geschichte der Rosemarie Nitribitt lädt so ein, nicht nur über eine bislang noch nicht geschriebene Geschichte der Prostitution in der Bundesrepublik nach 1945 nachzudenken – interessanterweise gibt Rosemarie Nitribitt heute einer Selbstorganisation von Prostituierten den Namen, die in ihr sowohl die selbstbewusste Unternehmerin ihres eigenen Körpers sehen wie auch ein Sinnbild der spezifischen Gefahren dieses Gewerbes92 –, sondern auch dazu, stärker Praktiken und die Performanz von Luxus in den Blick zu nehmen. BIBLIOGRAPHIE Abélès 2018 = Marc Abélès, Un ethnologue au pays du luxe, Paris 2018. Abelshauser 1987 = Werner Abelshauser, Die langen fünfziger Jahre. Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, 1949–1966, Düsseldorf 1987. Balthus 2020 = Salomé Balthus, „Jede Frau hat das Recht, mit Sex Geld zu verdienen.“ Reden wir über Geld mit Salomé Balthus, Süddeutsche Zeitung, 21.02.2020. Beck 2003 = Rainer Beck, Luxus oder Decencies? Zur Konsumgeschichte der Frühneuzeit als Beginn der Moderne, in: Reinhold Reith/Torsten Meyer (Hrsg.), „Luxus und Konsum“ – Eine historische Annäherung, Münster et al. 2003, 29–46. Boldorf 2008 = Marcel Boldorf, Die „Neue Soziale Frage“ und die „Neue Armut“ in den siebziger Jahren. Sozialhilfe und Sozialfürsorge im deutsch-deutschen Vergleich, in: Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht. Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, 138–156. Bösch 2009 = Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und die Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009. Bourdieu 1987 = Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1987. Bovenschen 1986 = Silvia Bovenschen, Werner Sombart. Über eine Wissenschaft, die aus der Mode kam, in: Werner Sombart, Liebe, Luxus und Kapitalismus. Über die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der Verschwendung, Berlin 1986, 7–15. Breckman 1991 = Warren G. Breckman, Disciplining Consumption. The Debate about Luxury in Wilhelmine Germany, 1890–1914, in: Journal of Social History 24:3, 1991, 485–505. Burnham 1951 = James Burnham, Das Regime der Manager, Stuttgart 1951. Coquery/Bonnet 2015 = Natacha Coquery/Alain Bonnet, Avant-propos, in: Natacha Coquery/Alain Bonnet (Hrsg.), Le commerce du luxe. Production, exposition et circulation des objets précieux du Moyen Âge à nos jours, Paris 2015, 3–7. Conze 2004 = Eckart Conze, Eine bürgerliche Republik? Bürgertum und Bürgerlichkeit in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 30:3, 2004, 527–542.
91 Bourdieu 1987, 143. 92 S. Nitribitt. Gegen Diskriminierung und Doppelmoral, in: Sexarbeit. Prostitution – Lebenswelten und Mythen. Anlässlich der Ausstellung im Frauenmuseum Bonn, Bremen 2005, 215.
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IMITATION UND/ODER ERFINDUNG? LUXUS DER ANDEREN
VULGÄRE IMITATOREN ODER TRENDSETTER? Antike und moderne Diskurse um den Luxus der Freigelassenen Berit Hildebrandt, Kopenhagen 1. EINLEITUNG: DAS GASTMAHL DES TRIMALCHIO Reiche Freigelassene werden in der altertumswissenschaftlichen Forschung oft als „vulgär“, „geschmacklos“ und/oder als (gescheiterte) „Imitatoren“ der römischen Elitenkultur beschrieben. Der Fokus liegt dabei wesentlich auf der Interpretation antiker literarischer Texte, unter denen das Gastmahl des Trimalchio hervorsticht, das mit großer Wahrscheinlichkeit zwischen 60 und 65 n. Chr., d. h. zur Regierungszeit Neros, verfasst worden ist.1 Der Autor des Gastmahls wird meist mit Petron, dem „Schiedsrichter des feinen Geschmacks“ (arbiter elegantiae) des Kaisers Nero, gleichgesetzt. Petrons historische Gestalt ist schwer greifbar, doch scheint er
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Ich möchte Elisabetta Lupi und Jonathan Voges für die freundliche Einladung zu ihrer Tagung und den Teilnehmenden für ihre Anregungen in der Diskussion danken. Ich danke auch den VeranstalterInnen der Tagung der Association of Ancient Historians 2019 an der Emory University in Atlanta, besonders Cynthia Patterson, Judith Evans Grubbs und John Black, für die Möglichkeit, die Parallelen zwischen dem Konsum „schlechter Kaiser“ und Freigelassener dort erstmals zur Diskussion stellen zu können, sowie den Teilnehmenden für ihr Feedback. Zur Datierung s. Rose 1971. Zu den Bewertungen der literarischen Figur des Trimalchio, die den Charakter der Zuschreibung benennen, aber diese letztendlich nicht aufgeben, zuletzt McLean 2018, 173: „Petronius represents Trimalchio’s behavior as an empty imitation of elite customs and values.“ Auch Mouritsen kommt nach einer kritischen Besprechung des Stereotyps des vulgären Freigelassenen zu dem Schluss, dass „(a)ssumptions of vulgarity were hardwired into the Roman perception of freedmen’s wealth, and this expectation would eventually become self-fulfilling since their lifestyle and preferred forms of display came to represent the current standard of poor taste“ (Mouritsen 2011, 117). So auch Bang 2008, 153 Anm. 71: Trimalchio als „the stereotypical freedman, vulgar and greedy beyond measure“ und Hartmann 2016, 157 Anm. 52 (mit Verweis auf Mouritsen 2011): „Das am ausführlichsten ausgearbeitete Beispiel für den fehlenden Stil und die nicht vorhandende Bildung ist Petrons Trimalchio.“ Zu den Bewertungen reicher Freigelassener als „vulgär“ in der archäologischen Forschung s. z. B. die Untersuchungen von Hales 2009; Wrede 1981, 169 und demgegenüber Petersen 2006, Petersen 2009 und Petersen 2015, die vor den Zirkelschlüssen warnt, die entstehen, wenn literarische Texte als Grundlage für die Interpretation antiker Befunde wie der Ausstattung von Häusern und Gräbern genommen werden, die wiederum zur Bestätigung der Realitätsnähe der literarischen Texte verwendet werden. S. auch Mouritsen 2011, 115: „Trimalchio’s vulgarity is integral to his identity as a freedman, and that in turn determines the character of his possessions.“
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u.a. das Amt des Konsuls bekleidet zu haben und gehörte damit zu den Kreisen der traditionellen römischen Elite.2 Wie auch bei anderen literarischen Darstellungen reicher Freigelassener ist die Perspektive auf das Gastmahl des Trimalchio die der traditionellen Elite. Es gibt keine literarischen Texte von Freigelassenen, die unser Bild modifizieren könnten.3 Bereits Lauren Petersen hat davor gewarnt, die literarischen Beschreibungen als ein Abbild antiker Lebenswirklichkeiten Freigelassener zu lesen; sie begreift sie stattdessen als „insights ... about the elite’s desires and struggles for self-definition“.4 Auch moderne künstlerische Interpretationen und Bezüge auf den Text wie Federico Fellinis Satyricon5 oder Francis Scott Fitzgeralds Werk The Great Gatsby (das ursprünglich „Trimalchio“ heißen sollte6) haben zu anachronistischen Projektionen auf antike Freigelassene inspiriert. Bereits Henrik Mouritsen machte darauf aufmerksam: „The stereotypical Roman libertus is a recognisably modern one, full of social tension, economic dynamism, and status anxiety.“7 Das Ziel dieses Beitrags ist es, die moderne Interpretation der Konsumpraktiken reicher Freigelassener in den literarischen Diskursen der späten Republik und frühen Kaiserzeit einer kritischen Neubewertung zu unterziehen. Besonders Bewertungen wie „vulgär“ oder „leere Imitation der Eliten“ suggerieren, dass der antiken Kritik vor allem Stil- und Geschmacksfragen zugrunde lagen.8 Dies setzt aber voraus, dass es einen allgemein anerkannten „guten Stil“ bzw. Geschmack gab, der durch die Oberschicht definiert und gelebt wurde und an der sich die anderen gesellschaftlichen Schichten orientierten, wie er z. B. Pierre Bourdieus Theorie des Habitus in den Feinen Unterschiede[n] und Thorstein Veblens Theorie der feinen Leute zugrunde liegt.9 Dieses Konzept stößt für die römische Antike jedoch auf einige Probleme. Zum einen gab es das Ideal der als einfach gedachten altrömischen Sitten und Gebräuche, mit denen u.a. Selbstbeherrschung, Moral, Männlichkeit, kriegerische Tüchtigkeit und die Fähigkeit zum Regieren verbunden wurden und
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Unter „traditioneller Elite“ verstehe ich die Ritter und die Senatoren, vgl. dazu auch Hartmann 2016, bes. 150. Dies wurde betont von Hartmann 2016 und Mouritsen 2011. Im Gegensatz dazu sind von Freigelassenen reiche epigraphische Selbstzeugnisse erhalten, s. z. B. McLean 2018; Amiri 2012; Rüpke 2004. Petersen 2009, bes. 209; 212. Paul 2009. Mouritsen 2011, bes. 6. Mouritsen 2011, bes. 279–280. S. auch Petersen 2009. Die Definition von „vulgarity“ folgt der Cambridge Dictionary, nach dem der Begriff „the quality of not being suitable, simple, or beautiful, or not in the style preferred by rich or welleducated people“ bezeichnet: https://dictionary.cambridge.org/dictionary/english/vulgarity, aufgerufen am 31.1.2020. Bourdieu 1992; Veblen 2007. Auch Emanuel Mayer geht davon aus, dass die „Mittelklassen“, zu denen er Freigelassene zählt, sich trotz eigenständiger Variationen der Dekorthemen an der Kultur der senatorischen Elite orientieren: Mayer 2011, bes. 169–170.
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dem der Luxus des Ostens entgegengesetzt wurde, der mit Verweichlichung, Unmoral, weiblicher Schwäche und tyrannischer Einzelherrschaft einherging. 10 Dieses Ideal wurde aber mitnichten von allen wohlhabenden Römern der Elite geteilt, wie die archäologischen Funde luxuriöser Villen und Bäder, die Aufwandsgesetzgebung und die Klagen über Luxus in der Literatur zeigen.11 Besonders eindrucksvoll zeigen sich diese Spannungen in einer von Tacitus geschilderten Senatssitzung zur Zeit des Tiberius, in der über Aufwandsbeschränkungen beschlossen werden soll: Während sich einige Senatoren vehement gegen den Luxus aussprechen, sehen andere ihn als angemessene Kompensation für die Verpflichtungen und Gefahren, die die Elite u.a. im Krieg für das Gemeinwesen auf sich nehmen muss.12 Der ostentative Konsum kostbarer Güter in der Republik und frühen Kaiserzeit besaß zudem eine starke politische Dimension und wurde daher oft rhetorisch eingesetzt. Die Anklage, dem Luxus verfallen zu sein und damit sich selbst nicht beherrschen zu können, stellte die Befähigung eines Mitglieds der Elite in Frage, politische Führungspositionen zu übernehmen, deren Erreichen höchstes soziales Prestige versprach.13 Die Beurteilung des Konsums von Luxusgütern konnte je nach Quellengattung, Kontext und Konsumierenden allerdings ganz unterschiedlich ausfallen.14 Beate Wagner-Hasel liest die Diskurse um den Luxus in der späten Republik und frühen Kaiserzeit daher als Zeichen von Aushandlungsprozessen um den sich ändernden Status der traditionellen Eliten in der neuen Staatsordnung des Prinzipates.15 Zu diesen Faktoren kommt ein weiterer hinzu, nämlich dass es in der römischen Statushierarchie nicht ausreichend war, guter Abstammung zu sein, um zur Elite zu gehören. Man musste außerdem ein Mindestvermögen besitzen. Reiche Freigelassene legten diese „status dissonance“, wie Mouritsen sie nennt, offen, die besonders verarmte Adelsfamilien traf.16 Die traditionelle Elite reagierte darauf u.a. damit, einen Unterschied zwischen dem Reichtum von Freigelassenen und Freigeborenen zu postulieren und ferner zu behaupten, dass Freigelassene ihn weder verdient hätten, noch in der Lage seien, angemessen mit ihm umzugehen, womit der Wert von Vermögen als soziales und moralisches Gut relativ statt absolut gedacht wurde.17 Allerdings hat bereits Paul Veyne darauf verwiesen, dass ein reicher Freigelassener
10 Edwards 1993. Vgl. den Beitrag von Thurn in diesem Band. 11 Edwards 1993; eine populärwissenschaftliche Zusammenstellung der Quellen bei Weeber 2003. 12 Tac. ann. 2.33. S. dazu ausführlich im Folgenden. 13 Edwards 1993. 14 S. Hildebrandt 2015 für das Beispiel Seide. 15 Wagner-Hasel 2002. 16 Mouritsen 2011, 111; Hartmann 2016, bes. 147–148; 173–178. 17 Mouritsen 2011, bes. 112–114. Auch Elke Hartmann stellte fest, dass zu den stereotypischen Eigenschaften reicher Freigelassener neben „vermeintliche(n) Verstöße(n) gegen Etikette und Stil sowie ein(em) Mangel an Bildung … der fehlende Sinn für das angebrachte Maß des Konsums“ gehörten: Hartmann 2016, 157.
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trotz seines Vermögens kein parvenu sein und daher nie in den Kreisen der traditionellen römischen Elite ankommen konnte, da ihm durch den früheren Status als Sklave die notwendige gute Abstammung fehlte und damit die traditionelle politische Ämterlaufbahn versagt war.18 Wenn aber der ostentative Konsum der Freigelassenen per Definition keine politische Zeichenhaftigkeit besitzen konnte, warum war er dann für die traditionellen Eliten überhaupt von Interesse, zumal wenn er leicht als Zeichen des „schlechten Geschmackes“ und „leerer Imitation“ abgetan werden konnte? Um die Bewertung des ostentativen Konsums reicher Freigelassener in der römischen Literatur näher zu beleuchten, werde ich im Folgenden vier Fragen nachgehen: 1. Gibt es Beispiele für aufwendigen Konsum, die sowohl Freigelassenen als auch Mitgliedern der traditionellen Elite zugeschrieben werden? Ändert sich dessen Bewertung, wenn Mitglieder der Elite konsumieren? 2. Welche antiken Begriffe werden im Zusammenhang mit der Bewertung des Konsums gebraucht, und unterstützen sie moderne Interpretationen wie „vulgär“, „schlechter Geschmack“ oder eine „leere Imitation“ von Elitekultur? 3. Warum ist der Konsum reicher Freigelassener für die Elite von Interesse? 4. Gibt es in der antiken Literatur Beispiele dafür, dass Freigelassene über die Konsumformen der traditionellen Elite hinausgingen oder sogar neue Formen wählten, die die Hypothese der Imitation in Frage stellen? Dabei werde ich mich auf Beispiele für den ostentativen Konsum konzentrieren, die dem Bereich des Bankett-, Kleider- und Bauluxus zugeordnet werden können, und das Gastmahl des Trimalchio als Ausgangspunkt nehmen.19 Da, wie oben argumentiert wurde, das Konzept der Elitenimitation auf Grundlage von Bourdieus und Veblens Theorien nicht ohne Probleme auf die Zeit des frühen Prinzipates angewendet werden kann und zudem die Möglichkeiten des wechselseitigen Austauschs nicht oder nur begrenzt einbezieht, wird hier Homi Bhabhas Konzept von Kultur als Raum für einen dynamischen Aushandlungsprozess zugrunde gelegt.20 Bhabhas Ansatz ist für die Untersuchung der Repräsentation von Freigelassenen insofern fruchtbar, als einer seiner Ausgangspunkte der kulturelle Austausch zwischen britischen Kolonialherren und Kolonisierten in Indien ist. Bhabha zeigt, dass (in den Worten Cornelia Siebers) das „historisch gewachsene Oppositionsschema
18 Veyne 1961, 213. S. auch Mouritsen 2011, 112. Seltene Ausnahmen galten für Freigelassene der Kaiser, s. u. 19 Dies schließt u.a. die Usurpation von politisch konnotierten Statussymbolen durch Freigelassene aus (s. dazu Reinhold 1971) sowie den Vorwurf mangelnder Bildung, der oft im Zusammenhang mit der „Vulgarität“ der Freigelassenen und ihrem Wunsch nach Imitation der traditionellen Eliten herangezogen wird. Florian Hurka hat allerdings gezeigt, dass Petron in der Figur des Trimalchio Verweise auf Bildung und Unbildung auf äußerst raffinierte Weise verknüpft: Hurka 2007. 20 Bhabha 1994.
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‚wir‘/Norm/Ideal versus ‚die Anderen‘/Abnormität/Mangel“ – das auffällige Parallelen zu den bereits angesprochenen Dichotomien römischen Denkens aufweist – den „Legitimationsdiskurse(n) des frühneuzeitlichen und modernen europäischen Kolonialismus“ diente. Stattdessen geht Bhabha von einem „dritten Raum“ aus, der von Hybridität und Ambivalenz geprägt ist und in dem die Akteure, auch die Kolonisierten, „die kulturellen Zeichen und Praktiken mit jeweils subjektiv und situativ aktualisierten Bedeutungen belegen“ anstatt sich nur anzupassen (von Bhabha als „mimicry“ bezeichnet).21 Hier soll im Folgenden untersucht werden, ob solch ein „dritter Raum“, jenseits einer buchstäblich vorbildlichen römischen traditionellen Elite und defizitären, die Elite imitierenden Ex-Sklaven und Nicht-Römern, auch für das Feld der Statusrepräsentation und besonders der Beiträge zu neuen Konsumformen von Seiten reicher Freigelassener fruchtbar gemacht werden kann. 2. DER KONSUM DES TRIMALCHIO IM VERGLEICH ZUM KONSUM DER TRADITIONELLEN ELITE Kenneth F. C. Rose hat in seiner grundlegenden Studie zum Satyricon von 1971 bereits auf die zahlreichen Parallelen zwischen der literarischen Gestalt des Trimalchio und den Darstellungen Neros verwiesen und diese zur Datierung des Textes genutzt sowie zur Diskussion der Frage, ob Petrons Werk eine Parodie auf den Kaiser darstellte.22 Allerdings wurden Roses Beobachtungen noch nicht konkret bezüglich der Frage untersucht, was diese Ähnlichkeiten in Hinblick auf die gesellschaftlichen und politischen Dimensionen des aufwendigen Konsums von Freigelassenen aussagen.23 Die möglichen Anspielungen auf Nero beginnen bereits in dem Moment, in dem Trimalchio beim Gastmahl erscheint. Der Erzähler des Satyricon beschreibt die Szene folgendermaßen: „Bei diesen Delikatessen waren wir, als Trimalchio zu musikalischer Begleitung herbeigetragen wurde, und, wie er da zwischen winzigen Kissen lag, uns, die wir das nicht kannten, ein Lachen herauspresste. Denn aus seinem scharlachroten (coccineo) Mantel (pallio) hatte er seinen kahl geschorenen Kopf hervorgestreckt und um den Nacken, auf dem das Gewand schwer auflag, ein Tuch (mappam) mit breitem rotem Streifen (laticlaviam) geschlagen, woran hier und dort Fransen (fimbriis) hingen.“24
21 Sieber 2012, bes. 97; 100; Edwards 1993 zu römischem Denken; Bhabha 1994. Der „Third Space“ richtet sich gegen die Vorstellung von einer historisch homogenen, „originalen“ und „reinen“ Kultur, während Hybridität „den Prozess und den Raum des Aushandelns von Bedeutung“ umfasst (s. dazu Sieber 2012, 99–106 mit Verweisen). 22 Rose 1971; s. auch Vout 2009. 23 Wichtige Fragen hat aber bereits Hartmann 2016 in die Diskussion eingeführt. 24 Petron. 32: In his eramus lautitiis, cum ipse Trimalchio ad symphoniam allatus est positusque inter cervicalia munitissima expressit imprudentibus risum. pallio enim coccineo adrasum excluserat caput circaque oneratas veste cervices laticlaviam immiserat mappam fimbriis hinc atque illinc pendentibus (Übers. nach Niklas Holzberg).
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Die Reaktion des kommentierenden Betrachters, das Lachen, suggeriert, dass Trimalchio buchstäblich einen ‚lachhaften‘ Anblick bot. Das Gelächter kommt häufiger im Zusammenhang mit der Repräsentation von Freigelassenen vor und wird von den Autoren aus dem Umkreis der traditionellen Elite gebraucht.25 Aufschlussreich ist der Zusatz, dass es sich beim Kommentator und seiner Begleitung um Personen handelte, die nicht mit dem, was ihnen von Trimalchio dargeboten wurde, vertraut waren (imprudentes). Die Komik der Szene musste zudem für die Mehrzahl eines römischen Publikums verständlich sein. Vor diesem Hintergrund kann angenommen werden, dass die Elemente, die beim Aussehen des Trimalchio hervorgehoben werden, als in irgendeiner Form abweichend von den Erwartungen eines römischen Publikums empfunden wurden. Dies wird deutlich beim geschorenen Kopf, der als typisch für einen ehemaligen Sklaven, aber auch als Hinweis auf altersbedingten Haarverlust gelesen werden kann.26 Das Halstuch mit dem breiten Streifen (laticlavus) könnte auf den breiten Purpurstreifen an der römischen Amtstracht der Senatoren anspielen,27 allerdings waren im Osten des Mittelmeerraumes Streifen auch als dekorative Verzierung an der Kleidung beliebt.28 Fransen waren in Rom kein Bestandteil römischer Männerkleidung, während sie im östlichen Mittelmeerraum, z. B. in Syrien, nicht ungewöhnlich gewesen zu sein scheinen.29 In ägyptischen Mumienporträts, die Mitglieder der Elite in römischer Zeit abbilden, tragen sowohl Frauen als auch Männer Tücher mit Fransen, möglicherweise als Brusttücher.30 Diese Kleidungsdetails könnten auf die asiatische Herkunft des Trimalchio verweisen, auf die im Gastmahl mehrfach angespielt wird und die er mit anderen Freigelassenen teilt.31 Es ist außerdem bemerkenswert, dass er anstelle des römischen Bürgergewandes, der Toga, das pallium, einen Mantel, der vor allem mit dem griechischsprachigen östlichen Mittelmeerraum verbunden wurde, trägt.32 Dessen rote Farbe könnte ebenfalls eine Anspielung auf östliche Sitten sein, nämlich die Purpurmäntel hellenistischer Eliten.33 Es ist auffällig, dass der Autor des Satyricon Elemente für Trimalchios Selbstdarstellung wählt, die dessen Herkunft aus dem östlichen Mittelmeerraum unterstreichen und – im Fall des geschorenen Haares – auf seine Vergangenheit als Sklave verweisen könnten. Diese Beobachtungen stellen die Annahme in Frage, dass Trimalchio wünschte, die traditionelle römische Elite zu imitieren.
25 26 27 28 29 30 31 32
Hartmann 2016, 183. S. auch die Beispiele im Folgenden. Petersen 2009, 203; Schmeling mit Setaioli 2011, 114. Petersen 2009, 203; Schmeling mit Setaioli 2011, 115. Beispiele bei Paetz gen. Schieck 2010, bes. 87; s. auch Petersen 2009, bes. 204. Suet. Caesar 45. Heyn/Raja 2019, 45. Paetz gen. Schieck 2010, 81; 87–88. Der Bildausschnitt lässt keine genaue Deutung zu. S. u. Zur Symbolik der Toga s. Vout 1996. Die Toga hatte im Gegensatz zum Pallium einen halbkreisförmigen Saum. Tertullian hat dem Gegensatz zwischen Toga und Pallium ein ganzes Werk gewidmet (De pallio). 33 S. dazu im Folgenden sowie Reinhold 1970 Kap. III.
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Parallelen zu Trimalchios Kleiderwahl finden sich allerdings in Suetons Beschreibung des untraditionellen Erscheinungsbildes des Nero: „Für sein Äußeres und seine Kleidung hätte er sich gewaltig schämen müssen (circa cultum habitumque adeo pudendus): sein Haar, das er stets gestuft und gelockt trug, ließ er auf seiner Reise durch Griechenland sogar bis in den Nacken wachsen. In der Öffentlichkeit zeigte er sich meist in einem Dinnergewand (synthesinam) mit einem (Schweiß-)tuch (sudario), das er um den Hals geschlungen hatte, ohne Gürtel (sine cinctu) und Schuhe (discalciatus).“34
Es ist auffallend, dass Sueton genau wie Petron die Frisur, das Gewand und das Halstuch zur Charakterisierung der Andersartigkeit des Nero nimmt. Nero trug sein Haar nach Art des griechischen Apollo Citharoedus in langen Lockenreihen.35 Statt der Toga wählte er eine synthesis, die Suetons Kritik nach zu urteilen üblicherweise gegürtet wurde.36 Bezeichnenderweise wurde die synthesis laut Martial während der Saturnalia getragen, der Festtage, an denen die Rollen zwischen Freien und Sklaven getauscht wurden.37 Auch das sudarium, das (Schweiß-)tuch, gehört nicht zur üblichen Bürgertracht und ist erst recht eines Princeps nicht angemessen. Darüber hinaus trägt Nero keine Schuhe. Insgesamt verletzt also auch Nero die implizierten traditionellen Sitten und Gebräuche, was Sueton zu der Bewertung führt, dass er sich seines Aussehens schämen müsse.38 Neros Grenzüberschreitungen als Princeps bestanden laut Aloys Winterling vor allem darin, dass er sein Verhalten nicht an traditionellen römischen Idealen auslegte, sondern an denen griechischer Agonistik. Dagegen legte Caligula (auf den im Folgenden einzugehen sein wird) die doppelbödige Kommunikation, die vorgab, dass die Republik noch existierte, zwischen Kaiser und Aristokratie und damit seine monarchische Position offen. Beide Kaiser experimentierten mit nicht-römischen, dem Osten zugeschriebenen Formen der Selbstrepräsentation.39 Neros Hinwendung zu hellenischen Gepflogenheiten könnte auch in seiner Anweisung gespiegelt sein, den Gebrauch von teurem tyrischen und Amethystpurpur zu verbieten, d. h. diese Sorten für sich zu monopolisieren. Purpurkleider waren bereits Herrschaftszeichen der hellenistischen Könige gewesen.40 In der Spätantike, als die Monarchie auch für die römischen Kaiser als Regierungsform akzeptiert war (was zur Zeit des Prinzipats noch nicht der Fall war), wurde der seidene Purpurmantel zum Inbegriff der kaiserlichen Macht.41 Das Purpurverbot des Nero könnte 34 Suet. Nero 51: Circa cultum habitumque adeo pudendus, ut comam semper in gradus formatam peregrinatione Achaica etiam pone verticem summiserit ac plerumque synthesinam indutus ligato circum collum sudario prodierit in publicum sine cinctu et discalciatus (Übers. nach Hans Martinet). 35 Schultz 2019, 289. 36 Es ist unklar, wie dieses Gewand genau ausgesehen hat. 37 Mart. 14.1.1–2. 38 S. dazu auch Barton 2002. 39 Winterling 2018. 40 Suet. Nero 32. Reinhold 1970, 50 und Kap. III. 41 Steigerwald 1990, bes. 238.
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auch der Grund dafür sein, dass Trimalchio keinen purpurnen Mantel, sondern „nur“ einen roten Mantel trug. Neros Grenzüberschreitungen waren jedoch nicht auf sein Aussehen begrenzt, sondern erstreckten sich auf seinen Palast, die domus aurea, das „Goldene Haus“. Sueton berichtet: „In den übrigen Räumlichkeiten war alles mit Gold überzogen, mit Edelsteinen und Perlmutter verziert. Die Speisezimmer hatten Kassettendecken, deren Platten beweglich waren, so daß man von oben Blumen streuen konnte; die Platten hatten auch feine Röhren, um von oben Öle versprengen zu können. Der Hauptspeisesaal war rund; sein Kuppeldach wurde unablässig Tag und Nacht herumgeführt, ganz nach Art des Weltalls.“42
Auch dieser Bauluxus findet in Trimalchios Gastmahl Parallelen, an die Petron Beispiele für Trimalchios Tafelluxus anschließt: „…denn auf einmal fing die getäfelte Decke an zu knacken, und das ganze Triklinium erbebte … Und sieh da, plötzlich schob sich die Decke auseinander, und es wurde ein riesiger Reifen, offenbar von einem gewaltigen Fass abgeschlagen, herabgelassen, an dessen ganzer Rundung goldene Kränze mit Salbfläschchen hingen. Während wir aufgefordert wurden, diese als Giveaways an uns zu nehmen, blickte ich zum Tisch zurück und ... schon war dort ein Tablett mit ein paar Kuchen aufgestellt worden, dessen Mitte ein vom Konditor gemachter Priap einnahm, und dieser trug auf seinem enorm ausgeweiteten Schurz Früchte aller Art und Weintrauben auf gewöhnliche Weise (more vulgato) … alle Kuchen und alle Früchte begannen auch bei leichtestem Druck der Hand Safranwasser zu verspritzen, und der unangenehme Saft traf uns bis ins Gesicht.“43
Insbesondere ähneln sich Neros und Trimalchios Speisezimmer in Bezug auf die beweglichen und technisch raffiniert ausgestatteten Decken sowie den Gebrauch von Gold und den Parfümölen, die von oben auf die Gäste herabgelassen bzw. gesprengt wurden. Der Begriff more vulgato, den Petron bei der Beschreibung der Speisen gebraucht und der hier von besonderem Interesse ist, bezieht sich aus dem Kontext jedoch auf eine (anscheinend essbare) Priapusfigur, auf deren Schurz „auf die übliche (oder: bekannte) Weise“ Früchte arrangiert waren. Dies bezieht sich wohl auf einen bekannten Darstellungstypus des Gottes und nicht auf einen „gewöhnlichen Leuten“ eigenen Repräsentationsstil. Ein Beispiel ist eine Marmorstatue des Priapus aus den Sammlungen des Boston Museum of Fine Arts. Sie trägt üppige Früchte, darunter Trauben, die über den Rand eines von der Tunika gebildeten Schurzes herabquellen, der durch den erigierten Phallus des Fruchtbarkeitsgottes gestützt wird 42 Suet. Nero 31: In ceteris partibus cuncta auro lita, distincta gemmis unionumque conchis erant; cenationes laqueatae tabulis eburneis versatilibus, ut flores, fistulatis, ut unguenta desuper spargerentur; praecipua cenationum rotunda, quae perpetuo diebus ac noctibus vice mundi circumageretur (Übers. Martinet). 43 Petron. 60: Dum haec apophoreta iubemur sumere, respiciens ad mensam…iam illic repositorium cum placentis aliquot erat positum, quod medium Priapus a pistore factus tenebat, gremioque satis amplo omnis generis poma et uvas sustinebat more vulgato… omnes enim placentae omniaque poma etiam minima vexatione contacta coeperunt effundere crocum, et usque ad os molestus umor accidere (Übers. Holzberg).
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(Abb. 1). Mit dem Verweis auf den Phallus erhalten auch die spritzenden Speisen eine sexuelle Zweideutigkeit. 44
Abb. 1: Priapusfigur, Museum of Fine Arts Boston no. 206.
44 S. auch Schmeling mit Setaioli 2011, 248–249. Allerdings konnten auch Freigelassene als „vulgaris“ bezeichnet werden, daher könnte Petron hier mit dem Begriff spielen: In einer Anekdote des Valerius Maximus lässt sich ein Senator von seiner Frau scheiden, nachdem sie in der Öffentlichkeit in einem Gespräch mit einer libertina vulgaris gesehen worden war (Val. Max. 6.3.11, s. Mouritsen 2011, 21).
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Derartiger Bau- und Speiseluxus wird allerdings nicht nur Nero und Trimalchio zugeschrieben. Auch Caligula, der wie Nero als „schlechter Kaiser“ in die Geschichtsschreibung eingegangen ist, wird – wieder von Sueton – dieser Vorwurf gemacht: „In seiner Verschwendungssucht (sumptibus) übertraf er alles, was man sich bisher hatte einfallen lassen. Er erfand eine neue Art von Bädern und die phantastischsten (portentosissima genera) Gerichte und Speisen; er badete zum Beispiel in warmem und kaltem Salböl, schlürfte die wertvollsten Perlen in Essig aufgelöst, setzte seinen Gästen Brote und Speisen mit einer Goldglasur vor, wobei er oft bemerkte, man müsse entweder ein sparsamer Mann oder Kaiser sein.“45
Caligulas Aufwand, der laut Sueton neue Maßstäbe für aufwendigen Konsum setzte, findet ebenfalls Parallelen in Trimalchios Gastmahl. Auch Trimalchio servierte ungewöhnliche Speisen46 und verwirrte seine Gäste mit Speisen, die zwar nicht vergoldet waren, aber deren Material auf den ersten Blick ebenfalls nicht essbar schien, womit er sich auf einen Scherz bezog, der vor allem an den Saturnalien üblich war.47 Die in Essig gelösten Perlen spielen auf die Anekdote des Plinius an, nach der Kleopatra eine Wette mit Marcus Antonius um den Konsum der teuersten Speisen beim Gastmahl gewann, indem sie eine teure Perle in Essig auflöste und das Gemisch trank.48 Schließlich erfand auch Trimalchio eine neue Art von Parfümbädern, die Petron folgendermaßen beschreibt: „Ich schäme mich zu berichten, was dann folgte. Es war nämlich ganz unerhört (inaudito enim more): Langhaarige junge Sklaven brachten Salböl in einem silbernen Becken und salbten damit die Füße der bei Tisch Liegenden, nachdem sie zuvor die Schienbeine und Knöchel mit kleinen Kränzen umwunden hatten.“49
Der Wortgebrauch des lateinischen Textes legt nahe, dass Trimalchios Erfindung „unerhört“ war, weil sie nicht den traditionellen Sitten (mores) entsprach. Daher schämt sich der Erzähler (pudet referre), davon zu berichten. Auch in Suetons bereits erwähnter Charakterisierung Neros wird dessen Missachtung der althergebrachten mores als „schamlos“ (pudendus) aufgefasst. Gleichzeitig wird nicht nur 45 Suet. Cal. 37: Nepotatus sumptibus omnium prodigorum ingenia superavit, commentus novum balnearum usum, portentosissima genera ciborum atque cenarum, ut calidis frigidisque unguentis lavaretur, pretiosissima margarita aceto liquefacta sorberet, convivis ex auro panes et obsonia apponeret, aut frugi hominem esse oportere dictitans aut Caesarem (Übers. nach Martinet). 46 S. o. Unter den zahlreichen weiteren Beispielen seien exemplarisch mit Dornen gespickte Quitten genannt, die Seeigeln ähnelten: Petron. 69. 47 Bei Petron. 69 glauben die Gäste zunächst, die Speisen seien aus Wachs oder Ton gemacht, wie es in Rom bei den Saturnalien üblich war. 48 Plin. nat. 9.119–121. 49 Petron. 70: Pudet referre quae secuntur: inaudito enim more pueri capillati attulerunt unguentum in argentea pelve pedesque recumbentium unxerunt, cum ante crura talosque corollis vinxissent (Übers. Holzberg). Parfümierte Bäder wurden auch andernorts Freigelassenen als Erfindung zugeschrieben: Hartmann 2016, 167.
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Caligula die Erfindung neuer Konsumformen zugeschrieben, sondern auch Trimalchio. Die Parallelen zwischen den „schlechten“ Principes und dem reichen Freigelassenen Trimalchio erstrecken sich in den genannten Beispielen auf neue und dadurch unrömische Formen des ostentativen Konsums auf den Gebieten der Kleidung, des Speiseluxus und der Wohnarchitektur, wobei Speisezimmer und Bäder hervorgehoben werden. Den Handelnden gemein ist, dass sie ihren Reichtum für extravaganten Aufwand einsetzen, dem höchstens der Geldbeutel Grenzen setzt und der sich oft an den Repräsentationsformen der Eliten des griechischen Ostens orientiert. Dies wird in den angeführten Beispielen mit einer Missachtung der traditionellen, als einfach gedachten altrömischen Sitten und Gebräuche, dem mos maiorum, gleichgesetzt.50 Damit geht die Luxuskritik sowohl an den „schlechten“ Kaisern als auch an der literarischen Figur des Trimalchio über Geschmacksfragen hinaus.51 Sie hat eine moralische Komponente, die in Rom eine starke politische Dimension hatte, und entfaltete sich entlang der Gegensatzpaare männlich – weiblich, öffentlich – privat und römisch – nicht-römisch/barbarisch und folgte damit Schemata, die über Jahrhunderte konstant blieben. Wie Catherine Edwards gezeigt hat, dienten die Anwürfe wesentlich der Kontrolle innerhalb der Elite: Einen männlichen Gegner der Luxussucht zu bezichtigen, hieß, ihm mangelnde Selbstbeherrschung und damit mangelnde Fähigkeiten, ein Gemeinwesen zu lenken, zu unterstellen. 52 Daher konnten auch diejenigen des Luxus angeklagt werden, die ihn in ihren Schriften selbst anprangerten.53 Die aufwandskritische Sicht überwiegt in den erhaltenen Texten, was u.a. auf die Auswahl christlicher Mönche beim Kopieren antiker Literatur zurückgeführt wird.54 Dass die Stimmen der Befürworter eines aufwendigen Lebensstils nicht in gleichem Maße erhalten sind, heißt jedoch nicht, dass es sie nicht gab. Dies zeigt die bereits angesprochene Senatsdiskussion über Luxus, bei der sich Aufwandsgegner und -befürworter gegenüberstanden und auf die in Kürze genauer einzugehen sein wird.55 Wie bereits gesehen, war auch Caligula laut Sueton der Auffassung, dass eine extravagante Form des Konsums einem Caesar gemäß sei. Dies widersprach der römischen Ideologie der traditionellen Einfachheit und des princeps als „erstem unter Gleichen“, aber entsprach dem hellenistischen Herrscherideal des Ostens. Wir wissen von nicht-römischen Autoren, dass die Repräsentation der neuen römischen Machthaber mit ihren wollenen Togen und ihrem sparsamen Gebrauch von Purpur bei den Untergebenen im Osten des Reiches Verwunderung hervorrief und als Gegensatz zu römischer Macht und dem Status der Amtsinhaber empfunden
50 S. allg. zu diesen Topoi Edwards 1993. 51 Bereits Pierre Bourdieu verwies auf die gesellschaftliche Dimension von „Geschmack“ als Teil des „Habitus“ einer gesellschaftlichen Klasse und Zeichen der Zugehörigkeit: Bourdieu 1992. 52 Edwards 1993, bes. 4–5; 9–12. 53 S. Edwards 1993, bes. 1–19 und im Folgenden. 54 Edwards 1993, 32–33. 55 Tac. ann. 2.33.
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wurde.56 Mit den Eroberungen im Osten wurden den römischen Machthabern zudem neue Güter zugänglich, die Begehrlichkeiten weckten und Gegenstand von Diskursen um Distinktionszeichen wurden, die in der neuen Prinzipatsordnung Rang und Status signalisierten.57 3. VERKEHRTE WELT? STATUSREPRÄSENTATION UND MACHTANSPRUCH Diese politische Dimension der Luxusdiskurse führt uns auf die eingangs gestellte Frage zurück, warum der Konsum von Freigelassenen, die sich als ehemalige Sklaven nicht um hohe politische Ämter bewerben konnten, überhaupt zum Thema in der Literatur wurde. Einen Einblick gibt Tertullian, der im späten 2. Jahrhundert n. Chr. klagt: „Wohin sind denn jene Gesetze gekommen, die den Aufwand und den Ehrgeiz (sumptum et ambitionem) einschränkten, wodurch verordnet wurde, nicht mehr als hundert Aß zu einer Mahlzeit zu verwenden. …und welche nicht gestatteten, die Abzeichen von Würden und gebürtigem Adel sich vermessen und ungestraft anzumaßen (dignitatum et honestorum natalium insignia non temere nec inpune usurpari sinebant)? Denn ich finde, dass diese Hunderter-Gastmähler jetzt diese Benennung bekommen müssten nach den Hunderttausenden von Sesterzen, und (ich sehe), dass das Silbermetall zu großen Schüsseln verarbeitet wird nicht für Senatoren - das wäre noch nichts -, sondern für Freigelassene oder sogar für solche, auf denen noch Peitschen zerschlagen wurden (parum est si senatorum et non libertinorum vel adhuc flagra rumpentium).“58
Für Tertullian stellt es ein Problem dar, dass Beschränkungen des Aufwands und des damit verbundenen politischen Ehrgeizes nicht mehr greifen, aber noch vielmehr, dass der ostentative Konsum, an dem man andere teilhaben lassen konnte, um seine Stellung innerhalb der römischen Gesellschaft sichtbar zu machen und Prestige zu erwerben,59 nicht mehr das Privileg des Geburtsadels ist, sondern von niederen sozialen Gruppen mit einem entsprechenden Vermögen usurpiert werden kann. Als Beispiele führt Tertullian teure Gastmähler und den Gebrauch von Silbergeschirr an. Letzteres erachtet er bei Senatoren für angemessen, aber nicht bei
56 Reinhold 1970, 40; Edwards 1993, 16; Vout 1996, 212. Judas Maccabaeus verlieh seinem Erstaunen darüber Ausdruck, dass die mächtigen römischen Senatoren weder Diademe noch Purpur trugen, wie es Herrschern angemessen sei: Makk. 8.1.14. 57 Wagner-Hasel 2002. 58 Tert. apol. 6.3: Quoniam illae leges abierunt sumptum et ambitionem comprimentes, quae centum aera non amplius in cenam subscribi iubebant,... quae dignitatum et honestorum natalium insignia non temere nec impune usurpari sinebant? video enim et centenarias cenas a centenis iam sestertiis dicendas, et in lances (parum est, si senatorum et non libertinorum vel adhuc flagra rumpentium) argentaria metalla producta (Übers. K.A. Heinrich Kellner, URL: https://www.tertullian.org/articles/kempten_bkv/bkv24_08_apologeticum.htm). 59 Wagner-Hasel 2002; Hartmann 2016, 151.
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Freigelassenen und schon gar nicht bei solchen, die als ehemalige Sklaven die Narben früherer körperlicher Züchtigungen tragen, die im römischen Denken einen schweren Makel darstellten.60 Auch Cicero unterstreicht die fundamentale Bedeutung der gradus dignitatis, der Abstufungen der dignitas, deren Unterschiede für ihn auf einer natürlichen Ordnung beruhten. Damit schuf absolute Gleichheit zwischen Menschen Ungleichheit, da die natürlichen Unterschiede zwischen Menschen ignoriert werden. 61 Eine derartige „Statusskala“ half zu Beginn des Prinzipates, als römisches Bürgerrecht provinzialen Eliten zugänglich wurde, Unterschiede zwischen Neubürgern zu machen, zu denen mit dem Bürgerrecht belohnte Führungspersonen der römischen Provinzen ebenso gehörten wie Freigelassene.62 Auch Augustus soll die Bedeutung der Unterschiede zwischen den verschiedenen ordines unterstrichen haben.63 Tertullians Gegenüberstellung von Geburtsadel und Freigelassenen und seine Klage um ursupierte insignia geben einen wichtigen Hinweis auf die Wurzel des Konfliktes: ein Freigelassener mit dem Reichtum eines Trimalchio war in der Lage, auf der Ebene der Zeichen mit dem traditionellen Adel zu konkurrieren. Diese Konkurrenz berührte auch das Wetteifern um einflussreiche Freunde und Unterstützer, die man sich bei opulenten Gastmählern geneigt machte.64 Dass die traditionellen Eliten den Einladungen der Freigelassenen durchaus folgten (so wie auch Petrons Ich-Erzähler die Gastfreundschaft des Trimalchio gerne beansprucht), behauptet Martial: „An deinem Geburtstag, Diodorus, liegt der Senat als Gast / bei dir zu Tische, und nur wenige Ritter sind nicht eingeladen, / zudem spendiert deine Sportula [eine Art Geschenkkörbchen] je dreißig Sesterze. / Trotzdem glaubt keiner, Diodorus, dass du geboren bist (nemo tamen natum te … putat).“65
Diodorus, der einen für ehemalige Sklaven typischen griechischen Namen trägt, hat keinen Personenstatus, da er als Sklave nach römischem Recht ein „Ding“ war. Damit kann er keine „Geburt“ und keine Eltern beanspruchen, die ihn in der Gesellschaftshierarchie verorten könnten. Trotzdem ist er offenbar zu Wohlstand gekommen und kann mit dem reichen Adel mithalten, was zeigt, dass er mittlerweile den Status eines Freigelassenen hat. Darüber hinaus bewirtet er Senatoren und Ritter,
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Mouritsen 2011, 33, 58–59 und öfter. Mouritsen 2011, 66 mit Verweis auf Cic. rep.1.53. Mouritsen 2011, 90–91. Mouritsen 2011, 91. DʼArms 1999. Mart. 10.27: Natali, Diodore, tuo conviva senatus / accubat, et rarus non adhibetur eques, / et tua tricenos largitur sportula nummos. / Nemo tamen natum te, Diodore, putat (Übers. Paul Barié und Winfried Schindler).
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die bei ihm verkehren und willig seine Geldgeschenke und Gastfreundschaft annehmen.66 Mit mächtigen Freunden machen reiche Freigelassene jedoch der traditionellen Elite auf dem Gebiet der politischen Einflussnahme Konkurrenz, was erklärt, warum ihr Konsum als bedrohlich empfunden wurde.67 Aus der Perspektive des Hofdichters Domitians, Statius, kann Reichtum den Mangel an nobler Geburt sogar ausgleichen. Statius schreibt über Claudius Etruscus, der Sohn eines prominenten Freigelassenen war, der unter verschiedenen Kaisern (darunter Domitian) in der Administration des Reiches gedient hatte und zu Wohlstand gekommen war: Etruscus sei zwar nicht erlauchter Abstammung (clara gentis linea) mit lang zurückzuverfolgendem Stammbaum (proavis stemma), aber sein Vermögen (fortuna) mache diesen Makel wett und verberge ihn. 68 Hier zeigt sich, dass die Bewertung des Reichtums von Freigelassenen bzw. ihrer Nachkommen u.a. von der Quellengattung abhängt und besonders im Zusammenhang mit den Freigelassenen der Kaiser bzw. ihrer Familien positiv ausfallen konnte. Dies sah Seneca zur Zeit Neros ganz anders. Er schrieb in seinen Briefen an Lucilius: „Calvisius Sabinus war zu meiner Zeit ein reicher Mann. Er besaß das Vermögen und den Verstand eines Freigelassenen. Niemals habe ich einen Menschen kennengelernt, der auf unanständigere Art (indecentius) glücklich war.“69
Die Interpretation des Textes variiert in der Forschung. Einige nehmen an, dass Calvisius Sabinus selbst ursprünglich unfrei gewesen sei und sein Vermögen buchstäblich von einem Freigelassenen geerbt habe.70 Das von Seneca gebrauchte Wort, indecens, das einen unangemessenen Lebensstil impliziert, kann aber als Vorwurf nur dann treffen, wenn der Beschuldigte einen gewissen Rang in der römischen Gesellschaft bekleidete. Daher kann der Text auch dahingehend gelesen werden, dass Sabinusʼ Art zu leben und seinen Reichtum zu gebrauchen nicht den altrömischen Idealen entsprach, was ihn im Denken des Seneca in die Nähe reicher Freigelassener rückte.71
66 Auch in anderen Zusammenhängen mischten sich reiche kaiserliche Freigelassene und traditionelle Elite, etwa als Patrone von collegia: Burton 1977, 164. 67 Edwards 1993, 202. 68 Stat. silv. 3.3.43–46: Non tibi clara quidem, senior placidissime, gentis / linea nec proavis demissum stemma, sed ingens / supplevit fortuna genus culpamque parentum / occuluit. 69 Sen. epist. 3.27.5: Calvisius Sabinus memoria nostra fuit dives: et patrimonium habebat libertini et ingenium. numquam vidi hominem beatum indecentius (Übers. nach Gerhard Fink). S. dazu auch Hurka 2007, 214. 70 So z. B. McCarthy 1998, 181–182. 71 Es war in Rom ein gängiger Topos, dass Freie, die sich zu sehr von Freigelassenen und Sklaven beeinflussen ließen, selbst die Züge von Sklaven annahmen: Mouritsen 2011, 21. S. auch die Ähnlichkeiten zwischen dem Freigelassenen Narcissus und dem Kaiser Claudius bei Seneca: Winter 2019. Eine weitere Möglichkeit ist, dass er als Freigelassener der bekannten Politikerfamilie der Calvisii Sabini sowohl ein einflussreiches Netzwerk als auch Vermögen hatte, was ihn ähnlich den Freigelassenen der Kaiser in zu große Nähe zur traditionellen Elite rückte.
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Die Beziehung zwischen gesellschaftlichem Rang, Vermögen und der Art des Konsums wird bereits bei Cicero thematisiert, der gegen L. Calpurnius Piso vor dem Senat argumentiert: „Seinen üppigen Lebensstil (luxuriem) dürft Ihr nicht zu freundlich beurteilen – es gibt ja eine Spielart, die (obwohl Üppigkeit stets etwas Verkehrtes und Schändliches ist) einem selbständigen und freien Manne eher ansteht (dignior). Doch bei ihm: nichts, was Vornehmheit (lautum), was Geschmack (elegans), was Kennerschaft (exquisitum) verriete. Ja, ich muss meinen Feind loben: er besitzt nichts Kostspieliges – abgesehen von seinen Ausschweifungen.“72
Es geht hier um dignitas, Würde, und die Beurteilung von luxuria relativ zum Status einer Person. Einem Freigeborenen und freien Mann steht eine gewisse Form von Luxus im Denken des Cicero offenbar zu – doch muss auf eine bestimmte Weise konsumiert werden (lautum, elegans und exquisitum verweisen darauf), die eine den eigenen Stand spiegelnde Kennerschaft und Verfeinerung des Geschmackes verrät.73 Es scheint fast, als ob Cicero hier in seinen Worten Pierre Bourdieus Habitus beschreibt, nach dem der eigene Geschmack durch den Sozialisationsprozess der Gesellschaftsschicht, der man zugehört, geformt und geprägt wird und damit als Erkennungszeichen für die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe dienen konnte.74 Allerdings zeigt sich in Ciceros Anschuldigung, dass Piso gar keinen dieser Codes kenne, der rhetorische Charakter des Vorwurfs des „schlechten Geschmacks“: Piso gehörte zu einer der vornehmsten Adelsfamilien Roms, und Cicero selbst wurden von anderen Autoren die Laster vorgeworfen, deren er Gegner wie Piso bezichtigte. Darüber hinaus fügt Cicero als Beispiel für Pisos Mangel an Verfeinerung dessen überaus einfache Gastmähler an, die Parallelen im idealisierten einfachen altrömischen Lebensstil finden, wie er von Plinius, Horaz oder Livius beschrieben wird.75 Hier wird das von anderen Autoren gepriesene altrömische Ideal von Cicero ins Gegenteil verkehrt, was auch belegt, dass zwischen dem idealisierten Bezug auf den als einfach gedachten Lebensstil der Vorfahren und seiner Umsetzung bzw. dem tatsächlich gelebten Stil bereits zur Zeit Ciceros ein beträchtlicher Unterschied bestand. Was angemessen war, wer konsumieren durfte und wie konsumiert werden durfte, war nicht nur nicht festgelegt und Gegenstand beständiger Aushandlungsprozesse, sondern konnte auch innerhalb der Elite stark variieren. Dies zeigt beson-
72 Cic. Pis. 67: Luxuriem autem nolite in isto hanc cogitare. est enim quaedam quae, quamquam omnis est vitiosa atque turpis, est tamen ingenuo ac libero dignior. nihil apud hunc lautum, nihil elegans, nihil exquisitum — laudabo inimicum — quin ne magno opere quidem quicquam praeter libidines sumptuosum (Übers. Manfred Fuhrmann). Catherine Edwards 1993, 200–201 versteht den Text etwas anders: Sie übersetzt: „Don’t attribute to him the sort of luxury which, though reprehensible and shameful, is yet more worthy of a free-born gentleman“ und bezieht den Vorwurf gegen Piso auf sein Streben nach sinnlichen Freuden und den Mangel an Verfeinerung bei seinen Gastmählern. Vgl. Thurns Beitrag in diesem Band. 73 S. auch Hartmann 2016, bes. 152–153. 74 Bourdieu 1992. 75 Edwards 1993, 10; 200–202 mit Literatur.
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ders facettenreich die bereits mehrfach erwähnte, von Tacitus ausgeschmückte Senatssitzung des Jahres 16 n. Chr., in der Aufwandsbeschränkungen beschlossen werden sollten (man einigte sich schließlich darauf, massives Goldgeschirr beim Bankett und Seidenkleidung für Männer zu untersagen).76 Für den Luxus des Senatoren- und Ritterstandes argumentierte der Senator Asinius Gallus folgendermaßen: „Man [könne] doch bei der Dienerschaft, dem Silbergeschirr und allen sonstigen Gebrauchsgegenständen … von einem Zuviel oder einem richtigen Maß nur im Verhältnis zur Vermögenslage des Besitzers sprechen. Herausgehoben sei der Senatoren- und Ritterzensus, aber nicht weil sie Menschen anderer Art seien; sie sollten vielmehr wie durch ihre Plätze im Theater, ihren Stand, ihre Rangstellung, so auch in allem bevorzugt werden, was der geistigen Erholung oder dem körperlichen Wohlbehagen diene – sonst müssten gerade die erlauchtesten Männer mehr Sorgen und größere Gefahren auf sich nehmen, die Mittel aber, die [diese] erträglich machen, entbehren. Willige Zustimmung brachte dem Gallus das mit ehrenhaften Begriffen beschönigte Eingeständnis seiner Untugenden und die ähnliche Gesinnung seiner Zuhörer.“77
Von besonderem Interesse ist die Behauptung, die sich auch bei Cicero fand, dass das richtige Maß an Aufwand im Verhältnis zum Vermögen und zum Stand bestimmt werden müsse. Daher sollten Senatoren und Ritter – die ein bestimmtes Vermögen besitzen mussten, um diese Ränge zu bekleiden – durch Annehmlichkeiten und Privilegien für die Gefahren, die sie z. B. im Krieg im Dienst für die res publica auf sich nähmen, entschädigt werden. Wer dieses richtige Maß bestimmen solle, ist für Cicero offensichtlich: die „führenden Männer“ (principes), das heißt der alte senatorische Adel. Dass dies in der Praxis nicht immer gelang, zeigt das von Cicero angeführte Beispiel des Senators Lucullus, der sich anscheinend an seinen rangniederen Nachbarn, einem Ritter und einem reichen Freigelassenen, orientierte: „Denn ebenso wie das Gemeinwesen als Ganzes von den Begierden und Fehlern der führenden Männer angesteckt zu werden pflegt, so wird es auch durch deren Selbstbeherrschung verbessert und auf die richtige Bahn gebracht. Man sprach von Lucius Lucullus, einem bedeutenden Mann und Freund von uns allen, als ob er eine sehr passende Antwort gegeben hätte, nachdem man ihm die Pracht (magnificentia) seiner Villa in Tusculum vorgehalten hatte: Er habe zwei Nachbarn, oberhalb einen römischen Ritter, unterhalb einen Freigelassenen. Da deren Villen prachtvoll (magnificae) seien, müsse ihm dasselbe zugestanden werden, was den Leuten erlaubt sei, die einem niedrigeren Stand (inferioris ordinis) angehörten. Siehst du nicht, Lucullus, dass
76 S. auch Hartmann 2016, 153. 77 Tac. Ann. 2.33.3: Neque in familia et argento quaeque ad usum parentur nimium aliquid aut modicum nisi ex fortuna possidentis. distinctos senatus et equitum census, non quia diversi natura, sed ut locis ordinibus dignationibus antistent, ita iis quae ad requiem animi aut salubritatem corporum parentur, nisi forte clarissimo cuique pluris curas, maiora pericula subeunda, delenimentis curarum et periculorum carendum esse. facilem adsensum Gallo sub nominibus honestis confessio vitiorum et similitudo audientium dedit (Übers. Carl Hoffmann).
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du schuld daran bist, dass jene Leute dies begehrten, denen dies nicht erlaubt wäre, wenn du nicht dasselbe tätest?“78
Die prachtvolle Villa des reichen Freigelassenen wird in einem Atemzug mit der Villa eines Ritters genannt, und beide konnten offenbar den ranghöchsten Nachbarn, den Senator, in Zugzwang bringen. 4. DIE FREIGELASSENEN DER KAISER Der Erwerb von Vermögen, die mit denen von Senatoren konkurrieren konnten oder sie sogar übertrafen, ist vor allem für Freigelassene der Kaiser belegt. 79 Wie hoch ihre tatsächliche Zahl war, ist umstritten. Der Eindruck, dass die Zahl der „superreichen“ kaiserlichen Freigelassenen seit der frühen Kaiserzeit deutlich zunahm, kann ihrer literarischen Prominenz geschuldet sein, die wiederum die Ängste der senatorischen Elite spiegelte.80 Von einem Beispiel, bei dem ein Freigelassener sogar einen vermögenden Politiker übertrumpfte, berichtet der ältere Plinius: „Cornelius Balbus stellte in seinem Theater vier mäßig große [Onyx-Säulen] als besondere Sensation auf. Wir haben 30mal größere in dem Speisesaal gesehen, den sich Callistus, ein durch seine Macht bekannter Freigelassener des Kaisers Claudius, hatte erbauen lassen.“ 81
Hier wird außerdem zwischen Aufwand für die Öffentlichkeit durch die Ausstattung eines Theaters und privatem Aufwand unterschieden und durch den Luxusdiskurs das Verhältnis zwischen den Interessen Einzelner und des Gemeinwesens verhandelt.82 Callistus macht Balbus nicht nur in der Repräsentation Konkurrenz, sondern als Günstling des Kaisers Claudius auch in seinem politischen Einfluss. Callistus wurde sogar, wie auch den kaiserlichen Freigelassenen Pallas und Narcissus, von
78 Cic. leg. 3.30–31: Ut enim cupiditatibus principum et vitiis infici solet tota civitas, sic emendari et corrigi continentia. Vir magnus et nobis omnibus amicus L. Lucullus ferebatur quasi commodissime respondisset, cum esset obiecta magnificentia villae Tusculanae, duo se habere vicinos, superiorem equitem Romanum, inferiorem libertinum: quorum cum essent magnificae villae, concedi sibi oportere quod iis qui inferioris ordinis essent liceret. Non vides, Luculle, a te id ipsum natum ut illi cuperent? quibus, id si tu non faceres, non liceret (Übers. Rainer Nickel). 79 Hartmann 2016, 148. Immer noch grundlegend: Weaver 1972. Allerdings soll Nero es als beschämend empfunden haben, dass einige Freigelassene ein größeres Vermögen als sein Lehrer Seneca besaßen (pudet referre libertinos qui ditiores spectantur): Tac. ann. 14.55. 80 Hartmann 2016, 149 mit Anm. 18 und Verweis auf Mouritsen 2011, 118; 125–141; 228. 81 Plin. nat. 36.12.60: ...namque pro miraculo insigni quattuor modicas in theatro suo Cornelius Balbus posuit; nos ampliores XXX vidimus in cenatione, quam Callistus Caesaris Claudi libertorum, potentia notus, sibi exaedificaverat (Übers. Roderich König mit Joachim Hopp). 82 Wagner-Hasel 2002. Wenn Freigelassene ihren Reichtum durch Stiftungen teilten, konnten auch sie als erfolgreich wahrgenommen werden: Hartmann 2016, 150.
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antiken Autoren vorgeworfen, nach der Königswürde zu streben.83 Auch der Name „Trimalchio“ wurde als Kombination aus dem Griechischen Präfix „tris“ und dem semitischen Wort „melech“ gedeutet, also als „Dreimal König“.84 Reiche Freigelassene aus der familia des Kaisers – obwohl freigeborenen Bürgern aufgrund ihres früheren Sklavenstatus sozial, politisch und juristisch niemals gleichgestellt – konnten in Bezug auf ihr Vermögen mit den reichsten Senatoren und Rittern mithalten und politisch durch ihre Kaisernähe sogar diejenigen an Einfluss überholen, die öffentliche Ämter bekleideten. Gleichzeitig blieben sie dem Kaiser auch nach ihrer Freilassung verpflichtet und durften ihren Einfluss nicht gegen ihn verwenden.85 Sie scheinen vor allem unter den später von der senatorischen Elite als „schlecht“ gebrandmarkten Kaisern wie Caligula, Claudius, Nero und Domitian großen Einfluss erlangt zu haben und nach Hartmann „gegen die Machtstellung der oberen ordines gezielt aus(gespielt)“ worden zu sein.86 Faktisch war damit die soziale, politische und ökonomische Ausnahmestellung der senatorischen Aristokratie gebrochen.87 Hinzu kam die von den alten Eliten als Erniedrigung empfundene Notwendigkeit, sich mit den neuen „Gatekeepers“ für den Zugang zum Kaiser gut zu stellen.88 Graham Burton fasst treffend zusammen: „Here is a social and moral universe turned upside down.“89 Die Reaktion der traditionellen Elite auf diese Umkehrung der sozialen Ordnung lässt sich u.a. beim jüngeren Plinius fassen, der über den Freigelassenen Pallas berichtet, einen ehemaligen Sklaven der Mutter des späteren Kaisers Claudius, unter dem Pallas große Macht erlangte: „C. Plinius grüßt seinen Montanus. Du wirst lachen, dann empört sein, dann wieder lachen, wenn Du liest, was Du nicht glauben könntest, läsest Du es nicht. An der Via Tiburtina befindet sich, noch innerhalb des ersten Meilensteins, das Grabmal des Pallas … mit folgender Inschrift: Der Senat hat ihm wegen seiner Treue und Anhänglichkeit (ob fidem pietatemque) gegen seine Schutzherren die Insignien eines Prätors (ornamenta praetoria) bewilligt, außerdem 15 Millionen Sestertien; bei letzterem Gnadengeschenk begnügte er sich mit der Ehre (honore). Ich habe mich niemals über etwas gewundert, was eher dem Glück (fortuna) als echtem Verdienst (a iudicio) entsprungen war. Doch hat mir diese Inschrift so recht zu Bewußtsein gebracht, wie possenhaft und unangemessen (mimica et inepta) doch ist, was bisweilen für solchen Dreck, solchen Schmutz vertan wird, was schließlich dieser Galgenstrick (furcifer, wörtlich: ein Gabelkreuzträger – eine Methode zur Bestrafung von Sklaven, die ein Vergehen begangen haben) teils anzunehmen, teils auszuschlagen und als Probe seiner Bescheidenheit (moderationis exemplum) gar der Nachwelt zu überliefern sich erdreistet hat. Doch warum ärgere ich mich?
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Mouritsen 2011, 99 mit Anm. 148 Bagnani 1954. Das betonte schon Burton 1977, 165. Hartmann 2016, 149. Cicero behauptet sogar, dass der Reichtum des bevorzugten Freigelassenen des Diktators Sulla, Chrysogonus, von der Plünderung vieler nobler Familien herrührte: Cic. S. Rosc. 133–134. 87 Burton 1977, bes. 164. 88 Mouritsen 2011, 97–100. 89 Burton 1977, 165.
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Besser, man lacht darüber; sonst glaubt diese Gesellschaft wohl gar, etwas Besonderes erreicht zu haben, die es durch Glück so weit bringt, daß man über sie lacht. Lebʼ wohl!“ 90
Für Freigelassene gab es in den Augen der alten Elite keine Möglichkeit, angemessen mit Reichtum und Einfluss umzugehen, daher konnten sie sich auch nicht des Maßhaltens, der modestia, rühmen, selbst wenn sie Geldsummen ausschlugen. Die Annahme der insignia politischer Ämter aus dem traditionellen cursus honorum seitens ehemaliger Sklaven war ein Affront, selbst dann, wenn sie einem Freigelassenen angetragen worden waren.91 Wenn die derart Begünstigten auch noch unter dem Schutz des Kaisers standen, blieb der alten Elite nur die Verneinung der Anerkennung ihres Prestiges durch Auslachen.92 5. FREIGELASSENE ALS HÄNDLER VON KOSTBAREN GÜTERN AUS DEM OSTEN Doch zur Akkumulation von Reichtum und Macht in den Händen von Freigelassenen kam für die alte Elite noch ein weiteres Problem, das der Zugänglichkeit zu exotischen Importgütern, durch die Status verhandelt wurde. Das Problem traf vor allem verarmte Adelsfamilien, die nicht die Mittel für einen standesgemäßen Konsum hatten, aber auch solche, die nicht durch Statthalterschaften oder Netzwerke über einen direkten Zugang zu diesen Gütern verfügten.93 Da die Erhältlichkeit von Gütern von vielen nicht oder nur teilweise zu beeinflussenden Faktoren abhing, wie z. B. politischen Veränderungen in den Herkunfts- und Handelsregionen, Naturkatastrophen, räuberischen Überfällen auf Schiffe und Karawanen und der Konkurrenz durch andere Händler und deren Netzwerke, konnte es selbst für die Kaiser schwer sein, an begehrte Importgüter heranzukommen.94 Reiche Freigelassene hatten nicht nur das Vermögen, um diese Güter selbst zu erwerben, sondern sie saßen als Händler oft auch an der Quelle, ein Faktor, der in der Forschung noch nicht ausreichend gewürdigt worden ist. Besonders im Handel
90 Plin. epist. 7.29: Ridebis, deinde indignaberis, deinde ridebis, si legeris, quod nisi legeris non potes credere. Est via Tiburtina intra primum lapidem ... monimentum Pallantis ita inscriptum: ‚Huic senatus ob fidem pietatemque erga patronos ornamenta praetoria decrevit et sestertium centies quinquagies, cuius honore contentus fuit.‘ Equidem numquam sum miratus quae saepius a fortuna quam a iudicio proficiscerentur; maxime tamen hic me titulus admonuit, quam essent mimica et inepta, quae interdum in hoc caenum, in has sordes abicerentur, quae denique ille furcifer et recipere ausus est et recusare, atque etiam ut moderationis exemplum posteris prodere. Sed quid indignor? Ridere satius, ne se magnum aliquid adeptos putent, qui huc felicitate perveniunt ut rideantur. Vale (Übers. Helmut Kasten). 91 Burton 1977, 164 betont, dass durch diese insignia die politische Macht der jeweiligen Freigelassenen öffentlich anerkannt wurde. 92 Zum Lachen s. auch Hartmann 2016, 183, und oben. 93 Edwards 1993, bes. 16; Wagner-Hasel 2002, bes. 346; 348–349. 94 S. Hildebrandt 2017 anhand des Beispiels Seide.
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mit dem Osten sind Freigelassene als Akteure auf römischer Seite vielfältig belegt.95 Petrons Trimalchio, der sein Vermögen u.a. im hochrisikoreichen Seehandel erworben hatte, brüstet sich, selbst „Pilzsamen“ aus Indien beschaffen zu können.96 Eine Inschrift aus dem Jahr 169 n. Chr. nennt einen Seidenhändler (negotiator sericarius), einen gewissen Aulus Plutius Epaphroditus, dessen Name ins Freigelassenenmilieu verweist und der durch den Handel mit Seiden aus dem Osten offenbar so reich geworden war, dass er einen Venustempel samt Ausstattung und jährlichen Banketten stiften konnte. Er war offenbar Teil eines familiären Netzwerkes, das auch Weber und Purpurfärber umfasste.97 Inschriften für Berufe, die mit Schmuck und Edelsteinen (von denen viele aus Indien kamen) in Verbindung gebracht werden können, nennen ebenfalls überwiegend Freigelassene.98 Der purpurne, mit Gold und indischen Edelsteinen verzierte Seidenmantel, den Kaiser Caligula laut Cassius Dio getragen hatte, hätte vom Import der Rohmaterialien bis zum fertigen Produkt von Freigelassenen und ihren Handwerkernetzwerken hergestellt werden können.99 6. FAZIT: FREIGELASSENE ALS TRENDSETTER? Dies bringt mich zu meiner letzten Frage, ob reiche Freigelassene über die Konsumformen der traditionellen Elite hinausgingen oder sogar neue Formen wählten. Bei Trimalchios neuartigen Fußbädern war dies der Fall, und auch seine indischen „Pilzsamen“ und aufwendigen Speisen könnten darauf hinweisen. Laut Petron kamen sowohl Trimalchio als auch sein Gast Ganymedes aus Asia.100 Es darf angenommen werden, dass solche Freigelassenen mit Formen der aufwendigen Statusrepräsentation östlicher Monarchien vertraut waren. 101 Ihr kultureller Hintergrund, ihr möglicher Zugang zu Luxusgütern aus dem Osten und ihr Status als Ex-Sklaven, die nicht in gleicher Weise wie der traditionelle römische Adel dem Ideal des mos maiorum verpflichtet waren, könnten ihre Experimente mit neuen Formen des ostentativen Konsums begünstigt haben. Auch auf anderen Gebieten ist der Impuls von Freigelassenen als „Trendsettern“ für die traditionelle Elite jüngst belegt worden. Rose McLean hat anhand von Grabinschriften argumentiert, dass die traditionelle Elite im Prinzipat Strategien der Selbstdarstellung von Freigelassenen übernahm, die nicht auf einen cursus honorum verweisen konnten und daher traditionelle Werte wie fides, obsequium und industria hervorhoben. Diese Werte erlaubten auch der traditionellen Elite, sich selbst 95 Broekaert 2016, bes. 14–15 nennt als Beispiele vestiarii, einen Gemmenschneider und einen Purpurhändler; s. auch Ruffing 2013. 96 Petron. 76.38. 97 CIL XIV 2793. Amiri 2012; Rüpke 2004; Hildebrandt 2017, 42–43. 98 Evers 2017, 51. S. auch Anm. 3 für die Häufigkeit von Inschriften Freigelassener. 99 Cass. Dio 59.17.3; Hildebrandt 2015. 100 Petron. 44.75; s. auch Hartmann 2016, 146. 101 Es war ein Topos in der römischen Literatur, dass Luxusgüter aus dem Osten kamen: Edwards 1993.
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darzustellen, ohne mit dem Princeps zu konkurrieren.102 Auch Elke Hartmann hat argumentiert, dass die Errichtung öffentlicher Bäder ursprünglich von Freigelassenen als „Nische“ für ihren Euergetismus entdeckt wurde, bis dieses Feld später von den Kaisern beansprucht wurde.103 Während die von McLean und Hartmann angeführten Beispiele zeigen, wie Freigelassene in ihrer Selbstdarstellung die direkte Konkurrenz mit der traditionellen Elite einschließlich des Kaisers vermieden haben, habe ich hier zu zeigen versucht, dass sie sich mit großer Wahrscheinlichkeit beim Bau-, Speise- und Kleiderluxus in direkte Konkurrenz mit der traditionellen Elite begeben und sogar neue Trends gesetzt (oder sie zumindest verstärkt) haben. Aufgrund dessen konnten sie literarisch mit den „schlechten“ Kaisern und verschwenderischen Angehörigen der Senatoren und Ritter verglichen werden.104 Statt dabei „nur“ die traditionelle Elite zu imitieren, scheinen sie verschiedene Elemente der Repräsentation aus dem östlichen Mittelmeerraum mit römischen Traditionen verbunden zu haben, wofür der von Homi Bhabha beschriebene kulturelle Raum als Feld von Aushandlungsprozessen zwischen unterschiedlichen Akteuren, der von Hybridität geprägt ist, einen theoretischen Rahmen bietet.105 Wie Bhabha zudem gezeigt hat, konnte auch eine zu gut gelungene Anpassung der Kolonisierten an die Kolonialherren Ängste auslösen, da sie damit das binäre Denken der Machthaber und die Legitimität von Machtstrukturen in Frage stellten und zudem die Machthabenden auf eine Weise imitierten und spiegelten, die einem „sich Lustigmachen“ nahekommen konnte.106 Vor diesem Hintergrund stellen in ihrer Selbstdarstellung innovative und ostentative reiche Freigelassene eine Bedrohung dar, da sie den Anspruch der traditionellen Eliten auf Vorbildcharakter, der ihrer Legitimation zugrunde lag, bedrohten. Die traditionelle Elite musste daher den Konsum der Freigelassenen als a priori unangemessen definieren und setzte dazu die traditionelle Luxuskritik als rhetorisches Instrument zur Verunglimpfung ein. Die Diskurse um den Konsum der Freigelassenen spiegeln sowohl die Konflikte der traditionellen römischen Elite in Bezug auf Macht, Status und die Bedeutung der freien Abstammung, und die Auseinandersetzungen späterer Forschender mit sozialen Aufsteigern ihrer Zeit. 107 Die Bewertung des ostentativen Konsums reicher Freigelassener als „vulgär“ und „schlechter Imitation“ ist in diesem Kontext zu lesen.
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McLean 2018, bes. 32–33. Hartmann 2016, bes. 167–168. S. auch Hartmann 2016, 181 zur direkten Konkurrenz beim ostentativen Konsum. Bhabha 1994. Sieber 2012, bes. 105–106, mit Verweisen auf die Werke Bhabhas. Hartmann 2016, 158; Mouritsen 2011, bes. 93, 279–280; Wagner-Hasel 2002, 20.
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Berit Hildebrandt
Wrede 1981 = Hans Henning Wrede, Consecratio in formam deorum. Vergöttlichte Privatpersonen in der Kaiserzeit, Mainz 1981.
LUXUS MACHT ERFINDERISCH Ökonomische Zwänge und Repräsentationsverpflichtung unter Mindermächtigen im Alten Reich. Fallstudien zu Süddeutschland Wolfgang Wüst, Erlangen-Nürnberg 1. AUFTAKT Im Fokus meiner Betrachtung steht die Frage, ob wir im höfischen, städtischen und territorial-protostaatlichen Kontext mindermächtiger süddeutscher Reichsstände1 über die zahlreich überlieferten, oft seriell angelegten Quellen zur materiellen Kultur Luxus als fehlendes oder zumindest nicht in Gänze vorhandenes Kulturgut fassen können. Im täglichen Streben nach dem zivilisatorischem Mehr 2 und nach einem repräsentativ-zeremoniell ausgelegten Haushalt und Lifestyle in Residenzen, Schlössern, Städten, Regierungszentren, Ämtern und Kanzleien werden luxuriöse Träume umschrieben und über entsprechende Ersatzhandlungen konkretisiert. Ein weiterer, ebenso wichtiger Aspekt tritt uns viel konkreter als es breit rezipierte Luxusdefinitionen in Folge der Forschungen von Werner Sombart 3 oder Thorstein Veblen4 vermögen, in den Luxusverboten der frühen Neuzeit gegenüber. Sie sollten die von Niklas Luhmann trefflich umschriebenen Sozialsysteme im alten Europa stabilisieren.5 Sie betrafen insbesondere die Städtelandschaften6 und den urbanen Raum, in dem wir im Kreis der süddeutschen Reichs- und Residenzstädte wie Nürn-
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In der Frühneuzeitforschung besteht seit längerer Zeit ein Diskurs über die sogenannten mindermächtigen Reichsstände, die als nicht armierte Territorialmächte von meist kleiner bis mittlerer Größe ein besonderes Interesse an einer aktiven Reichspolitik mit Schutz- und Friedensgarantie hatten. Die Vielzahl mindermächtiger Kreis- und Reichsstände führte vor allem im deutschen Südwesten zu föderalen Strukturen, die in der Reichskritik des 19. und 20. Jahrhunderts als „Flickenteppich“ verzeichnet wurden. Vgl. dazu: Wüst 2020. Elias 1978; Stollberg-Rilinger 1997. Sombart 1992. In der Alten Geschichte bedient sich der Definition von Sombart: Ampolo 1984. Zur Biografie: Lenger 2012. Veblen 1997. Über die Anwendung der These von Veblen s. u.a.: Lenz 2013; Camic 2010; Tilman 1999. Epochenüberschreitend für die Alte Geschichte: Stein-Hölkeskamp 1989, 110; Mann 2007, 150; Filser 2017, 33–54. – S. die Einleitung dieses Sammelbandes und außerdem zu Fragestellung und Theoriebildung des Luxusphänomens das an der Leibniz Universität Hannover konzipierte „Paper“: Lupi/Voges 2020. Luhmann 1984; Luhmann 1985; Hirschbiegel 1993; Hirschbiegel 2002. Flachenecker/Kießling 1999.
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berg, Lindau oder Würzburg ebenfalls auf das Phänomen benachteiligter Bevölkerungsgruppen stoßen, die trotz Verbot nach patrizischen und adeligen Luxusgütern strebten. Empirisch können wir dieses Forschungsfeld über ungezählte Hoffahrtsund Kleider-7, Pfand-8, Policey-9, Hochzeits-, Speise- und Zensur-Verordnungen10 quellenorientiert fassen (Abb. 1–3). Zusätzlich bieten Zeitschriften wie das in den Jahren 1787 bis 1812 in Weimar mit 27 Jahrgangsbänden gedruckte Journal des Luxus und der Moden zeitgenössischen Lesestoff zur alltagsorientierten Verwendung des traditionellen Luxusbegriffs (Abb. 4).11
Abb. 1: „Verneuerte Hochzeit ordnung“ der Stadt Nürnberg. „Wie es mit/ und bey den Erbarn und andern verlegten Hochzeiten allhier in der Stadt gehalten werden soll“, Nürnberg 1652. Bildnachweis: Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, H00/4 CMR-V 8; VD
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In Auswahl: Peters 2015; Freist 2013; Hoede 2010; Simon-Muscheid 2010; Deutschländer 2003. 8 Heide Klink 1976. 9 Wüst 2018a. 10 Wüst 2007. 11 Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek Weimar, Journal des Luxus und der Moden, Ausgabe: Januar 1787.
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Abb. 2: Nürnberger Hoffahrts- und Kleiderordnung („Hoffarts Ordnung in die Cantzley gehörig“), 8.8.1568. Bildnachweis: Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg, Amts- und Standbücher 236a
Abb. 3: Fürstlich-Ellwangische erneuerte und verbesserte Policey-Ordnung, Ellwangen 1747. Bildnachweis: Universitätsbibliothek Tübingen, L IV 36.4, 7. Stück.
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Abb. 4: Journal des Luxus und der Moden, hg. v. F[riedrich] J[ustin] Bertuch und G[eorg] M[elchior] Kraus, 2. Bd., Weimar 1787, Ausgabe: Januar 1787. Bildnachweis: Herzogin-AnnaAmalia-Bibliothek Weimar, ZDB-ID 2874496-2.
Die These könnte demnach lauten: Nicht vorhandener Überfluss, sondern gerade fehlender Luxus sorgte für zusätzliche integrative Reize und definitorischen Erfindergeist. Überregionale Bekanntheit eines luxusorientierten Erfindergeistes erfuhr die technische Ausstattung der Märchenschlösser des bayerischen Königs Ludwig II. in Neuschwanstein oder Herrenchiemsee. Bewegliche Tische dienten dort
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über Stockwerke dem Luxus des ungestörten herrscherlichen Essens.12 Die Suche nach zusätzlichen Personal- und Finanzquellen, nach steuerlichen „Drittmitteln“ des 17. und 18. Jahrhunderts an weltlichen oder geistlichen Höfen, unter den vielfach mitregierenden adeligen Domkapiteln13, in den Konventen einzelner Klöster und Stifte, beim Landadel, in städtischen Patrizier- und Bürgerkreisen14, ja selbst in der dörflich-agrarischen Oberschicht, sorgte für die Bodenhaftung der Herrschaft und die stets neu zu zeigende administrative Kompromissbereitschaft. Als Fallstudien wählten wir für den Quellennachweis die süddeutschen Hohenzollern mit ihrer Residenzstadt Ansbach (Abb. 5), die sächsischen Ernestiner mit der Coburger Hofhaltung15 und für das Hochstift Augsburg die Bischofsresidenz in Dillingen a.d. Donau (Abb. 6–7). Man war auf örtliche Vernetzung höfischer Bedürfnisse angewiesen, und wenn es nur die Suche nach geeigneten Gasthöfen war, wenn die Logis im luxuriösen Schloss nicht mehr zu haben war.
Abb. 5: Ansbacher Stadtansicht mit Residenz und Hofgarten, Kupferstich von Wenzel Hollar (1607–1677), 1642. Bildnachweis: Stadtarchiv Ansbach.
Am Ansbacher Fürstenhof schickte man deshalb wiederholt den Schloss- und Hausvogt als Vertreter des Fürsten aus, um in der Region für höfische Standards zu sorgen. Auch die simple Speisenfolge in den Landgasthäusern wurde bisweilen vor Ort bis nach Merkendorf im Oberamt Gunzenhausen durch höfisch-luxuriöse Zusätze angereichert. Zum dortigen Aufenthalt eines 1718 vor Fertigstellung des Gesandtschaftsbaus in der Ansbacher Residenz logierenden Diplomaten vermerkte das Hofprotokoll: „Den Abend ist er noch im Wirtshauß geblieben, man hat aber zu deß Würths seinen 4 Eßen auch 4 Eßen und eine Pyramide Confect von Hoff gegeben und solches in Silber anrichten,
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Wolf et al. 2011, 119–137. Brendle 2010. Wüst 2018b. Henker et al. 1997.
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Wolfgang Wüst auch Laquayen dabey auffwarten laßen und haben herr Ober-Amtmann von Stein zu Burgthann und Herr von Leonrodt, Ober-Amtmann zu Gunzenhaußen, mit ihme gespeißet.“16
Höfisch-luxuriöser Glanz sollte sicher brillieren, doch musste das Blendwerk regional verankert sein. Die am Hof nur unvollkommen voranschreitende „Domestizierung“ des Adels – in den unbewehrten geistlichen Staaten17 boten zudem Militärlaufbahnen nur bedingt Ersatz für fehlende Hofämter – und das buchhalterische Rechnen am Regierungssitz selbst waren für unsere Fragestellung nicht unbedingt ein Nachteil. Fehlende Finanzen konkretisierten sich dabei in wiederholt vorgetragenen Konsum- und Ausstattungswünschen seitens der Hof-, Amts- und Fürstendiener. Die Ressourcen arrondierter Flächenstaaten im Bild frühmoderner Staatsrechtler18 mit intakten Stadt- und Landämtern und gleichmäßig über das Land gestreuten Adelssitzen dienten als Strukturersatz für eine unterfinanzierte Hofhaltung. Die Region wurde dort kulturell vielfach erst im 19. Jahrhundert nach Säkularisation und Mediatisierung zur Provinz.19 Ebenso wie die oft improvisierten Ersatzprogramme für fehlenden Luxus kann der bewusste Verzicht auf Luxus und Macht aufschlussreich sein. „Karriereverweigerungen“ am Hof und in der Residenzstadt, wie sie für das Hochstift Augsburg nachweisbar sind, machen unter dieser Prämisse Sinn. Negativ können sie auch als fehlende Mobilitätsbereitschaft gedeutet werden; positiv gesehen ermöglichen sie uns Konkretisierungen frühmoderner Luxuskritik. 1785 lehnte der Landpfleger (Landvogt) Wilhelm Joseph Couven aus dem südlich von Augsburg gelegenen Amtssitz Bobingen20 jedenfalls seine Ernennung zum Hofkammerrat und stiftischen „Bau departementarius“ in Dillingen mit einem üppigen Jahresgehalt von 800 Gulden nebst 18 Scheffel Getreide ab. Couven bat, in seiner bisherigen Stellung verweilen zu dürfen, „weil er eines theils vorsehe, daß er mit so großer Haußgenossenschaft die Nothdurft nicht bestreiten könnte, ungeachtet des ihm ausgeworfenen ansehlichen Gehalts. Andernseits besorge, daß ihm die Dillingische Luft nicht anschlagen, weil er sonst auch diese Luft nicht habe ohne sehr beschwerliche und gefährliche Kranckheit ertragen mögen.“ Was auch immer der Kandidat von der Dillinger „Luft“ zu wissen glaubte, es war eine Entscheidung gegen die Attraktivität des Fürstenhofs und des Regierungssitzes. Ein Ämtertausch mit dem in der Nähe des Bischofhofs liegenden Ort Schretzheim, um von dort das Baudepartement zu leiten, scheiterte ebenfalls. Der Schretzheimer Amtmann wollte sich „zum Abzug eben so wenig bequemen“, da er „schon sehr alt und in die Ruhe gesetzt zu werden verdiente“.21
16 Plodeck 1972, 143; Wüst 2006. Zur Quelle: Staatsarchiv Nürnberg, Brandenburger Literalien, Nr. 56, fol. 312. Vgl. außerdem: Bahl 1974. Zur Bauentwicklung: Maier 2005. 17 Andermann 2000; Hersche 1989; Wüst 2002. 18 Weber 1992; Weber 2002. 19 Wüst 2005. 20 Wüst 1994. 21 Staatsarchiv Augsburg, Hochstift Augsburg, Neuburger Abgabe (= NA), Akt 741, „Neue systematische Einrichtung des fürstlichen Hochstifts Augsburg“ vom 27. April 1785. Bericht des bischöflichen Statthalters Johann Nepomuk Ungelter von Deisenhausen vom 25. August 1785.
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Abb. 6: Das Hochstift Augsburg, 1791. „Das Bisthum Augsburg mit der freyen Reichsstadt Augsburg, Nr. 184“, nach Franz Johann Joseph von Reilly (1766–1820). Bildnachweis: Privat
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Höfische Speisenfolge, wie sie im selbständigen Herzogtum Sachsen-Coburg üblich wurde, illustriert ferner Luxusverzicht als Folge budgetkonformer Sparzwänge. Hoftafeln waren an kleineren und mittleren deutschen Fürstensitzen extrem abhängig von der Leistungsfähigkeit exterritorialer, meist städtischer Zulieferer und vom Kassenstand in der Fürstenschatulle. So musste in der fürstlichen Residenz schon Herzog Johann Casimir (1564–1633) seine Hoftafel aus finanziellen Gründen von ursprünglich 213 Personen – sie wurden noch zweimal täglich an 24 Tischen verköstigt – bei seinem Regierungsantritt um mehr als die Hälfte reduzieren. Zuletzt gab es seit 1607 nur noch acht Tische. Und eine haushälterische Speiseordnung legte penibel fest, wie viele Essen aufgetragen werden durften. Dabei mussten bereits am sogenannten Truchsessen-Tisch – hier saß immerhin noch der Hofmarschall – zum Teil bereits die Reste von der Fürstentafel verzehrt werden. Und was dort übrig blieb, verspeisten wiederum die Köche. Am Ende der Coburger Tafelhierarchie des 17. Jahrhunderts standen die Hofwächter und herrschaftlichen Vogelfänger, die von den Resten der Reste, die ihrerseits bereits zweimal übriggeblieben waren, mehr schlecht als recht von höfischen Abfällen lebten.22 Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass selbst nachgeordnete Hofdiener an der letzten Fürstentafel noch den Luxus genossen, im herzoglichen Umfeld warm zu essen.
Abb. 7: Die 1802/03 säkularisierte Bischofsresidenz Dillingen an der Donau, 2013. Bildnachweis: Wikimedia, Tilmann 2007.
22 Henker et al. 1997, 136–137.
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2. FINANZNÖTE, IMPROVISATION UND LUXURIÖSE TRÄUME: HOFMUSIK UND HOFTHEATER IM HOCHSTIFT ALS BEISPIELE 2.1. Fürstendiener als Multitalente Zu den systemtragenden Charakteristika kleiner Hofhaltungen zählte die Vielseitigkeit von Hofstaat und Dienerschaft. Dies galt insbesondere für das höfische Fest-, Musik- und Schauspielprogramm. So gab es in der Dillinger und Augsburger Bischofsresidenz fast kein Mitglied des Orchesters, das nicht durch profane Tätigkeiten ein Zubrot verdient hätte.23 Vielseitigkeit war meist auch Bedingung für die Bestallung neuer Hofmusiker wie sie in einer „neue[n] systematische[n] Einrichtung“ im Augsburger Hochstift 1785 grundsätzlich festgeschrieben wurde. „Wenn ein Trompeter, oder Paucker Platz in Erledigung kommt, so wäre fordersamst darauf zu sehen, daß kein neue angestellt werde, der nicht in rechnen erfahren, und ein gute Handschrift hat, und sich zugleich im voraus verbindet, hof- reiß- fouriers- kuchel- und keller Schreibers dienste ohne weitere Zusatz unentgeltlich zu versehen.“ 24
Dillingen und Augsburg standen bei der erfinderischen Suche nach luxuriöser Orchesterausstattung und niveauvoller Hofmusik im Einklang mit anderen Kleinresidenzen. Jill Bepler untersuchte das spartanische Innenleben der Residenz der Herzöge von Braunschweig-Bevern, in der unter Herzog Ferdinand Albrecht (1636–1687) ein italienischer Kapellmeister die Aufsicht in der Küche führte und aus der sich ein Hofharfenist 1678 wegen der als untragbar empfundenen Lebensbedingungen in Abhängigkeit des Herzogs nur nach abenteuerlicher Flucht aus den oberen Stockwerken vorübergehend entziehen konnte, bis er – landesweit steckbrieflich gesucht – aufgegriffen und erneut kaserniert wurde.25 Am Hofe der beiden letzten Augsburger Fürstbischöfe Joseph von Hessen-Darmstadt und Clemens Wenzeslaus von Sachsen agierten selbst der italienische Violinen-Direktor Joseph Almerigi (1757–1769) als Hoflakai (Abb. 8), ein Fagottist als Tafeldecker und Lakai sowie ein Waldhornist und Paukenschläger als Hofkoch. Die langen Dienstjahre der Musiker mit Zweit- und gar Drittfunktionen am Augsburger Hof zeigen aber auch, dass die Hof- und Kammerorchester im 18. Jahrhundert selbst in Fürstbistümern als professionell-exklusive Orchester nicht mehr zu finanzieren waren. Not und die Gier nach Luxus machten erfinderisch und sorgten für ein Spektrum höfischer Tätigkeiten ohne ausgeprägte Spezialisten. Es kam dem luxusorientierten Musenhof zugute, wenn man die Orchester supraterritorial verteilen konnte. Nur so konnte man gut dotierte Musiker wie den aus Brescia stammenden bischöflichen Kapellmeister Pietro Pompeo Sales26 (um 1729–1797) am Dillinger Hofe halten, da man ihn seit 1787 aus dem Haushalt des Kurfürstentums Trier entlohnte. Seine
23 Layer 1979; Layer 1983. 24 Staatsarchiv Augsburg, Hochstift Augsburg, NA, Akt 741, „Neue systematische Einrichtung des fürstlichen Hochstifts Augsburg“ vom 27. April 1785, § 2. 25 Bepler 1992, 184–185. 26 Layer 1963; Mančal 1985.
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Gage hob man mit der Verleihung des Ehrentitels Hofkammerrat aus einem weiteren, keineswegs der Hofmusik zugeordneten Finanztopf zusätzlich an. Weitere Möglichkeiten, renommierte Komponisten und luxuriöse Tafelmusik ausreichend zu dotieren, boten speziell den Kirchenstaaten die Ressourcen der Pfarreien und der Domkapitel. Anton Simon Ignaz Praelisauer, der sich als Hofkomponist 1743 erstmals in einem zu Ehren des Fürstbischofs von der Augsburger Jesuitenbühne präsentierten Musiktheater empfahl, hatte seit 1725 beispielsweise eine Dompfründe inne. 1736 avancierte er zum Kapellmeister – eine Position, die er als hoch- und domstiftischer Musiker bis zu seinem Tod behielt. Seine Dotation konnte zur Entlastung des bischöflichen Haushalts über das Augsburger Domkapitel bestritten werden. Luxus ließ sich aber auch über pfarrliche Ressourcen herstellen. Die Kirchenmusik von St. Peter in Dillingen, die unter Fürstbischof Johann Christoph von Freyberg (1665–1690) in die Hofmusik integriert wurde, stützte unter Leitung örtlicher Stiftskanoniker das repräsentativ-luxuriöse Bild saturierter Musenhöfe. 2.2. Hoftheater ohne Kosten Luxusorientierter Erfindergeist, wie er sich für die Hof- und Tafelmusik entwickelte, erfasste auch die Hoftheater. Über die bischöfliche Theaterförderung, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht hatte, sind wir allerdings schlechter unterrichtet, als dies für die Musik gelten kann. Förderung hatte hier einen immateriellen Stellenwert, wenn der Fürst selbst auf die Bühne trat. Bekannt ist Bischof Joseph von Hessen-Darmstadt für seine Theatervorliebe, die sich schon in der Jugend entwickelte und die ihn nicht nur auf die passive Rolle des Zuschauers beschränkte. So spielte er 1716 als Siebzehnjähriger in Mantua, wo sein Vater als habsburgischer Gouverneur in Diensten stand, die Rolle Alexander des Großen. Als regierender Fürst besuchte er bei seinen Reisen zu befreundeten Höfen in Stuttgart, Mannheim und Schwetzingen auch die dortigen Hoftheater. Seine Kulturreisen sind als Kompensation für eine fehlende Hofbühne vor Ort zu interpretieren. Wer eigenen Luxus vermisste, genoss ihn bisweilen in der Fremde. Nicht zuletzt durch die Konkurrenz des reichsstädtischen Theaters und der jesuitischen Schauspieltradition an Universität und Gymnasium bildete sich in Dillingen kein beständiges Hoftheater aus. Zumindest während der Sommermonate mussten vom Augsburger Hochstift aber zu (Markt-)Oberdorf (Abb. 9) angesichts zahlreicher Visiten benachbarter Fürstenhäuser Theater inszeniert werden. Luxus machte jetzt erfinderisch. Der Reichsfürst stellte Teile der schwäbischen Reichskreistruppen ab, deren theatertalentierte Söldner nun ihre Langeweile in Friedenszeiten überspielen konnten. Die Rechnung des Hofzahlamts von 1767/1768 listete jedenfalls ein Handgeld für die eine „Comedie spihlenden Solta-
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tesca“ und ein Tafelgeld für den soldatischen „Comedianten in Oberdorff“ bei Auftritten vor der hochfürstlichen Tafel zu je elf Gulden auf.27 Begleitende Illuminationen und Feuerwerke überließ man ebenfalls gerne der Artillerie der Reichskreistruppen. Jedenfalls verrechnete der Hofzahlmeister 25 Gulden an diese Klientel wegen deren „villen Bemühung bey der Illumination vnd Feyrwerkh“. 28 In dieser Tradition stand das Augsburger Hochstift keineswegs isoliert, denn waffenliebende Abenteurer und stellenlose Feuerwerker priesen ihre Künste vielenorts an. So bewarb sich 1779 der elsässische Korporal Andoine Dietrich in Augsburg als „Fechtmeister, Feuerwercker oder Visirer“ und machte dabei allerhand soldatische Erfahrung geltend: Teilnahme im französischen Heer am Siebenjährigen Krieg (1756– 1763), Regimentsfreiwilliger nach dem Friedensschluss von 1763 für drei Jahre und eine sich anschließende elfjährige Dienstzeit in der bayerischen Artillerie. Dort erwarb der Korporal seine Fähigkeiten, von denen er glaubte, dass sie ihn als perfekten Fecht- und Feuermeister auswiesen. Nach eigenen Angaben beherrschte er die hierfür nötigen Grundlagen, als da waren: „die Mathes in vollem Umfang als Algebra, die theoretisch- und practische Geometrie, gradlinichte Trigonometrie, Stereometrie, Palistic, Mechanic, Hydraulic, Hydrostatic, Cometrie, Nivellier- und Ingenieur-Kunst, Theorie von denen Mienen, dann die in die Artillerie einschlagende fäll in Lust- und Ernstfeuerwerck, auch angebung des groben Geschüz nebst desen Zugehör und Bestandtheilen und die Vixierung eines Faß, eines Cylinder oder was imer fleißigen Materie.“29
Theater und Feste blieben im Hochstift ohne Rückgriff auf exterritoriale Helfer nicht denkbar. Als der bayerische Kurfürst Maximilian III. Joseph 1767 in der Sommerresidenz Oberdorf weilte, ließ der Fürstbischof seine Hofdienerschaft durch Leibköche aus dem benachbarten Fürststift Kempten30 und aus den Reichsstädten Augsburg und Kaufbeuren verstärken. Für einen luxuriösen Gala-Abend zu Ehren des wittelsbachischen Adels erhielten fremde Hofmusiker den Zuschlag, und 150 Gulden ließ Joseph von Hessen-Darmstadt „den machinisten Gottlib Mayr von Memmingen anweisen, für ein in hochster anwesenheit beeder churfürstl. durchlauchtigkeiten aus Bayern den 28.ten 7.bris [1767] abgebrandes Feyrwerkh“.31 Helfer konnten auch aus den umliegenden Pfarreien kommen, wobei sich in dieser Richtung sicherlich die geistlich-weltliche Orientierung der Hochstifte vorteilhaft auswirkten. Freilich bot dieser Kreis seine Dienste nicht kostenlos an. Erfolgte Zahlungen blieben aber überschaubar. Sie beschränkten sich meist auf Reiseauslagen und Material. So erhielt ein „Messner zu Kauffbeyren wegen überbrachten Tappeten zur welschen Commoedie nachher Oberdorff“ und Briefporto allenfalls zwei Gulden und 26 Kreuzer.32
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Staatsarchiv Augsburg, Augsburger Pflegämter, Nr. 2067, 227. Ebenda, 228. Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Theater 21/1 (Almosenamt), Supplik vom 15.7.1779. Jahn et al. 1998. Staatsarchiv Augsburg, Hochstift Augsburg, Augsburger Pflegämter, Nr. 2067, 228–229. Staatsarchiv Augsburg, Hochstift Augsburg, Augsburger Pflegämter, Nr. 2067, 230.
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Die luxuriöse Ausrichtung höfischer Kultur und Feste durch fremdes Personal wirkte sich für den Gastgeber nicht standesmindernd aus. Im Gegenteil, der Augsburger Fürstbischof kokettierte 1767 förmlich mit dieser für die Hofkasse günstigen Lösung. So erschien beim Empfang des bayerischen Kurfürsten zu Oberdorf fremdes Küchenpersonal aus dem Fürststift Kempten. Dem Leibkoch des Fürstabtes wurden „pro discretione“ 50 Gulden vom Hofzahlmeister ausgehändigt. Gleiches widerfuhr Köchen aus Augsburg und Kaufbeuren.33 Schließlich profitierte das Hochstift auch vom Engagement der reichen Handels- und Reichsstadt Augsburg im Wettbewerb um standesgemäßen Luxus, Gesellschaft und Geselligkeit. Akrobaten, bestaunte Abnormitäten und die Ensembles der Commedia dell’arte34 verlängerten beispielsweise häufig ihren Aufenthalt in der Stadt, um anschließend auch am Bischofshof vorgelassen zu werden. Freilich wirkten sich die Absenzen des Landesfürsten – sie waren zum Teil Folge der über Personalunionen 35 geführten Doppel- und Dreifachverpflichtungen sowie der Konflikte mit der reformatorisch gesinnten Reichsstadt36 – bisweilen nachteilig aus, wenn, wie im Falle des Vorzeige-Riesen Maximilian Christoph Müller, „gleichwohlen aber auch des herrn bischoffens allhier hochfürstl. durchlaucht meine statur gnädigst zu sehen verlangen, und [ich] allso nit weiße, wan deroselben […] belieben wirt, mich vor sich zu erfordern“.37 War der luxuriösen Repräsentation zu Hof wegen fehlender Ressourcen also Grenzen gesetzt, so boten erfindungsreiche Personal-, Struktur- und Finanzanleihen Ersatz. Die Gier nach Perfektion und Luxus förderte dabei auch die interterritoriale Kooperation.
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Staatsarchiv Augsburg, Hochstift Augsburg, Augsburger Pflegämter, Nr. 2067, 229. De Michele 2010; Martino 2010; Schindler 1998. Wüst 2002. Wüst 1993. Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Almosenamt, Theater 32/13.
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Abb. 8: Fürstbischöflicher „distinguirter“ Hoflakai unter Clemens Wenzeslaus von Sachsen (1739–1812), nach 1768. Bildnachweis: Landesarchiv Koblenz, Abtl. 1 C
Abb. 9: Leichenzug für den verstorbenen letzten Augsburger Fürstbischof Clemens Wenzeslaus am 4. August 1812. Ziel ist die Schlosskirche neben der hochstiftischen Sommerresidenz. Bildnachweis: Privat.
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3. Exklusivität: Luxus und Kleidung Städtische Kleiderordnungen waren eine weitere wichtige Quellengattung. Sie verdeutlicht, wie sich einerseits städtische Oberschichten – sie titulieren sich in Reichs- und Residenzstädten als Patrizier – an Luxusgütern des Reichs- und Landadels orientierten und wie sich andererseits urbane Mittel- und Unterschichten an gehobene Schmuck-, Pelz- und Modeausstattung anlehnten. Luxus wurde so über Kleiderordnungen zum begehrten Konsumgut. Luxusgüter waren für Viele über lange Zeit entweder verboten und sorgten deshalb für erfinderischen Gesetzesbruch oder sie dienten der Standesverteidigung. Wir werden die Luxusver- und gebote unter anderem für Nürnberg, Lindau und Würzburg konkretisieren. Nürnberg stand als eine Stadt ohne politische Zünfte nach den gescheiterten Handwerkeraufständen im Mittelalter prototypisch für eine oligarchisch verfasste frühmoderne Stadt. Das Patriziat bildete mit ihren politisch, wirtschaftlich und kulturell führenden Familien – als Beispiele dienen hier für die Pegnitzstadt die Tucher, Geuder, Fürer, Pfinzing, Imhoff, Stromer, Haller, Muffel oder Groß – ein bestens vernetztes Machtzentrum. Von dort wurden alle einflussreichen Ratsbesetzungen gesteuert. Die Nobiles Norimbergenses38 unterschieden sich auch äußerlich im urbanen Alltag durch ihren Reichtum in Schmuck, festlicher Kleidung, Küche und Haus. Über die Kritik an niederständischem Luxus und Hoffart sowie ausführenden Kleider- und Hochzeitsordnungen versuchte der Nürnberger Rat, textile Standesund Statussymbole dauerhaft zu zementieren. Am 28. April 1618, am 1. Januar 1652 (Verneuerte HOchzeit ordnung)39, am 17. Dezember 1657, 1672 und am 23. Februar 1693 (Eines HochEdlen und Hochweisen Raths der Stadt Nürnberg verneuerte Kleider-Ordnung und Verboth der Hoffahrth)40 regelte man vieles, um hier nur einige Mandate des 17. Jahrhunderts anzusprechen.41 Bereits 1568 hatte der Nürnberger Rat eine frühe Hoffarts- und Kleiderordnung erlassen, wobei der sich ausbreitende Begriff „Hoffart“ jenen höfischen Vorbildern gerecht wurde, die für Teile des städtischen Patriziats zur Richtschnur eigenen Handelns wurden. 1583 regelte dann die „verneute Policeyordnung vnd verpot der Hoffart/ vnd was einem jeden seinem stande nach/ von Klaidung vnd anderm zu tragen gebuert/ vnd zugelassen ist“ in Nürnberg die Standesexklusivität der patrizischen Oberschicht. „Den alten Erbern vnd Adenlichen geschlechten aber/ ist erlaubt vnd zugelassen/ sich zu bekleiden/ wie hernach folgt: Nemlich moegen sie sich inn damaßkate/ ormasine/ oder von dergleichen/ vnd nicht hoeherm zeug/ Bald oder leibroeckle kleiden/ vnd zu jren schauben/ schamlot oder samatin/ gebrauchen/ dieselben aber mit keinem ho ehern oder besserm/ dann rueckmadern futter/ vnterfuetern lassen.“42
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Diefenbacher 2012. Vgl. ferner: Diefenbacher 1993. Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, H00/4 CMR-V 8. Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, H61/4 TREW.X 19.21/29. Vgl. dazu insbesondere: Lehner 1984; Bulst/Lüttenberg/Priever 2002. Universitätsbibliothek Würzburg, 50, Rp XIII, 483, „Eins Erbarn Raths der Stadt Nuermberg / verneute Policeyordnung […]“ vom 10.8.1583.
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Hoffarts- und Kleiderordnungen wurden auf Betreiben des Patriziats in Nürnberg bis 1693, in Schweinfurt zuletzt 1780 publiziert. Hinzu kamen wichtige Ämter, wozu in Nürnberg auch das dem Patriziat vorbehaltene Amt der beiden Losunger zählte (Abb. 10). Äußerlich spielte dabei auch das Tragen goldener Ketten eine Rolle. Sie galten den ehrbaren Ratsgeschlechtern als Statussymbol. Damit waren sie Patriziern vorbehalten. 1618 regelte zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs eine Ordnung entsprechendes: „Guldene ketten/ vnd die obgemelte von Golt gezierdte Hutschnuer/ auch die Silbern Vergulten knoepff an den Wammasen vnnd Gollern/ seind vermo eg der alten Ordnung/ den Alten Rathsfehigen Erbarn Geschlechten/ die es von alters hero befugt gewesen/ vnnd dann auch allein den jenigen Personen/ deren Vaetter und Voreltern solche getragen/ vnd weider niemanden/ zugelassen/ Es soll aber derselben keiner (außgenommen die Rahtspersonen/ denen auß erheblichen vrsachen hierinn kein maß gegeben) einige Guldene Ketten/ die ueber einhundert und zwantzig gulten Reinisch in Golt wigt/ oder werth ist/ zutragen nicht macht haben/ bey straff fu enfftzig gulden.“43
Patrizier hoben sich zunehmend vom Bürgertum ab sowohl im öffentlichen Auftreten als auch – modern gesprochen – im damaligen Lifestyle. Gebärden, Rang – städtische Rangordnungen44 regelten hier im Einzelnen die Präzedenz der Patrizier –, Auftreten und Sprachschatz – auch die Beherrschung von Fremdsprachen45 – zählten zu diesen elitären Attributen. Patrizier strebten grundsätzlich die Gleichstellung mit der oberdeutschen Reichsritterschaft an. Sie orientierten sich an kaufmännischer Enthaltung, die wirtschaftliche Prosperität und Luxus voraussetzten. Dem traditionsreichen Handwerk war der Aufstieg in diese Führungsschicht grundsätzlich bis zu den vom Wiener Reichshofrat forcierten Reformen am Ende des 18. Jahrhunderts verwehrt. In Nürnberg gelang es lediglich der Familie Fütterer in den „Kleinen Rat“ aufzusteigen dank außergewöhnlich erfolgreicher Finanzgeschäfte. Kleidung und Luxusartikel spielten eine große Rolle, um die ständische Exklusivität sichtbar einzufordern. Zur Veranschaulichung interpretieren wir weitere Kleider- und Luxusvorschriften46 aus einer anderen Reichsstadt. Wir blicken in die Reichs-, Handels- und Hafenstadt Lindau. Das Reglement von 1673 galt nicht dem dortigen Gesellschaftsstand finanziell unabhängiger Patrizier. Es war vielmehr eine Warnung an vornehme Kauf-, Zunft- und Handelsleute, an nicht graduierte Kirchen- und Stadtbedienstete und ihre Familien, keinen patrizischen Lebensstil zu imitieren. Sie sollten sich deshalb „der kostbarkeit in guldenen ringen, haarbörtlin, florhauben, silbern gürteln und messerscheiden, schlupfern, hohen seidenen zeugen, gold und silbern galonen, seiden und leinen spizen –
43 Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, H61/TREW.X 19.21-29/27, Druckschrift vom 16.8.1618. 44 Wüst 1995. 45 Häberlein 2014. 46 Bulst 1988; Bulst 1993a; Reith/Meyer 2003. Für Bayern: Baur 1975; Peters 2015.
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Wolfgang Wüst sonderlich solche fliegend aufzusezen47 –, belz, futer, zu groß gemachten haar zöpffen und dergleichen; item der mit gold und dergleichen politten gezierter sommerhauben, wie auch mit ring geschmelztem gold vnd vilen perlen geschmickhter ohrenrößlin ganzlich 48 enthalten.“
Erlaubt waren nur, „disem stand obstehende halbseidene zeug und dann ferner zu ganzen kleidern, brüstlin und fürfleckh zutragen zugelassen tobin, ormesin, terzenell 49, doppeltaffet, doch ausgenohmen hohe und cermosierte farben.“50
Um die Oligarchie zu schützen, warnte der Lindauer Rat 1673/1697 vor sozial unverträglicher Pracht und materiellem Überfluss im Alltag der Bürger: „Demnach nicht nur bey außfertig- und außsteuerung der kinder, sondern auch in andere weg, bey theilß burgern und dero weibern ein übermässige cöstlichkeit wie nicht weniger ein überfluß in lein- und bettgewand, kästen und bettstatten, auch anderem haußraht, manchmal über deß einen und deß andern stand, bey etlichen auch ein überfluß oder menge der feüertäglichen und costbaren ehrenkleider erscheinen thut und damit ohnnötiger pracht getriben, vil gelts (welcheß vil nutzlicher angewendt werden köndte), darauff verwendet, auch dardurch gemeiner statt steuren so wol alß die nahrungs mittel geschmählert werden, so ermahnen wür hiemit alle und jede haußvättern und haußmüttern alleß ernsts, daß sie den ohnnötigen überfluß in kleidern und haußraht und alle ungebührende köstlichkeit so wol für sich selbst alß für ihre kinder fürterhin meiden.“51
Konsum- und Luxusbeschränkungen trafen bisweilen aber auch die Oligarchen selbst. Für die urkundlich erstmals 1358 erwähnte Lindauer Patriziergesellschaft „Zum Sünfzen“52 – aus ihr rekrutierten sich über Jahrhunderte die Ratskonsulenten, Stadtschreiber, Amtmänner und Ärzte – folgten im 17. Jahrhundert Einschränkungen. „Die geschlechtere und gesellschaft im Sünffzen sambt ihren frawen und kindern sollen sich enthalten der kostbarkeit in ganzen castor hüeten, perlinen hüetschnüeren, mit gold und silber gestickhten wehrbehenckten halßbänden von edelgesteinen, ganzer kleidungen von guhtem sammet, allzu grossen falschen haarzöpfen53 und dergleichen. Dargegen sind ihnen oder ihren frawen erlaubt guldin ketten (doch daß selbe nicht allzu schwehr oder sonst nicht übermessig seyen), armband ohne edelgestein54, doch nicht von übermessigem hohen wehrt, über gült und silberin gürteln, bestöckh und messerscheiden von gegossen oder durchbrochner arbeit, gulden, silbern vnd leinen spizen, doch von bescheidenlichem wehrt und grösste Niderländische leinrath zu krägen, überschlägen und dergleichen. Item terzenell, ormasin, geblümt taffet, damast.“55
47 48 49 50 51 52 53 54 55
Die Ergänzung ist am Rand nachgetragen. Der Satz wurde vom Semikolon bis zu diesem Wort ebenfalls am Rand ergänzt. Synonym für Damast. Wüst 2001, 187–188; Staatsarchiv Augsburg, Reichsstadt Lindau, Münchener Bündel, n.S., Lit. 34. Wüst 2001, 173. Heiermann 2005. Am Rand ergänzt: „sommerhauben mit perlen, maschen und borten geziehrt“. Nachgetragen: „halßband von mittelmässigen perlen, allerhand guldin ring mit edelgestein“. Wüst 2001, 188–189.
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Abb. 10: Leonhard I. Tucher (1487–1568) als „Vorderer“ Losunger mit seinen beiden Ehefrauen Magdalena Stromer und Katharina Nützel. Bildnachweis: Stadtarchiv Nürnberg, Großes Tucherbuch, fol. 118.
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Andere Reichsstädte wie Augsburg und Ulm legten ähnliche Konsumvorschriften auf. Die für die Patrizier aufschlussreichen Luxusverbote stellten ferner einen Zusammenhang von Kleidung, Gold- und Silberwaren, Juwelen und Perlen her. So empfahl Lindaus Rat Patriziern zumindest auf „perlinen hüetschnüere“ sowie auf „gold und silber gestickhte wehrbehenckte halßbänder von edelgesteinen“ zu verzichten.56 Neben dem Gewürzhandel waren es aber die Gold- und Silberschmiede, die die reichsstädtischen Märkte mit Produktion und Konsum früh dehnten und globalisierten. Augsburg galt bereits im ausgehenden 15. Jahrhundert als Zentrum des Goldschmiedehandwerks. Und das aufsteigende Patriziat zählte zum festen Abnehmerkreis. Kleider- und Luxusvorschriften57 waren kein reichsstädtisches Spezifikum. In Kurmainz, das im Oberstift zum fränkischen Kulturraum zählte, debattierte man über die gleichen Themen, zumal sich in den kurfürstlichen Städten58 ebenfalls ein Patriziat entwickelt hatte. Für das Würzburger Fürstbistum, dessen Bischöfe als Herzöge zu Franken59 in der Germania Sacra eng vernetzt waren, galt ähnliches. Kurfürst Johann Philipp von Schönborn (1644–1673) – er regierte in Personalunion in Mainz, Würzburg und Worms – erließ 1664 für die Stände in seinen Landen differenzierte Textilordnungen, jeweils getrennt nach Frauen- und Männertracht. Seine Würzburger Kleider-Policey differenzierte nicht nur bei Gold und Silber, bei Pelzen, Seide und Samt sowie bei Wucherpreisen auf das Genaueste. Der „erste“ Stand – zu ihm zählte vor allem der Stiftsadel – blieb im Zentrum des Geschehens. Und an den Inhalten orientierten sich städtische Patrizier in ihren Landschlössern60, für die der Landadel als Vorbild diente und für deren Familien Standeserhebungen und Namenszusätze nicht ausblieben. „So viel nun den ersten grad der weiber betrifft, denen soll allen sammet zu leib- oder oberroecklein, dann zu vnder-roecken, fuertuechern vnd maentelein zum hoechsten damasth, vnd alles was darunter ist, zum beleg aber guter sammet, attlas, vnd alles was den manns-persohnen dieses grads oben vergoennet worden, zugelassen seyn. Die gueldene ketten, sie wuerden vmb den hals oder leib an statt der guertel getragen, wie auch die kleynodien mit guten steinen, vnd gueldene armbaender, vnd was darueber ist, sollen ihnen gaentzlich verbotten seyn, bey straff zwantzig reichsthaler. Was aber silberne guertel belanget, sollen dieselben, falls sie schon zuvorvergueldt gewesen keine newe vergueldte machen lassen, sondern vnverguelte guertel zwoelff reichsthaler werth, wie auch vier gueldene ring vff einmal zu tragen. Ingleichem seidene struemff, aber ohne gueldene oder gestickte zwickel. Item sammete hauben mit otter-hertzen vnd was darunder ist, verbrembt, jedoch daß diese vber acht biß zehen reichsthaler im preyß nicht seyen.“61
56 57 58 59 60 61
Ebenda. Eisenbart 1962; Bulst 1993a; Bulst 1993b. Pabstmann 2012. Merz 2000. Dazu beispielsweise: Metzger/Heiß/Kranz 2006. Wüst 2003, 458.
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Luxuriöse Vorrechte, die primär auf oligarchischem Geburtsrecht und nur sekundär auf Lebensleistung gründeten, wurden in der städtischen Gesellschaft allerdings zunehmend in Frage gestellt. In Kleiderordnungen des 18. Jahrhunderts kommt dies deutlich zum Ausdruck. Entsprechende Ordnungen wurden wegen fortlaufender Übertretungen entweder nicht mehr publiziert oder zuständige Räte klagten im Vorwort, dass der „heilsame“ Schutz patrizischer Privilegien missachtet werde. Für die Reichsstadt Schweinfurt bedeutete dies 1780 konkret: „Obwohlen Wir in Unserer, Anno 1720. zum offenen Druck gekommenen Policey=Ordnung Tit X. Pag. 195. und deren Anno 1738. und 1764. nachgefolgten Revision, ebenfalls Tit. X. wegen des so sehr über Hand nehmenden höchstschädlichen Kleider=Prachts und Hoffarts, einige wohlgemeynte Verordnung bereits gethan, und, in Kraft Unsers tragenden Obrigkeitlichen Amts; Männiglich alles Ernstes erinnert haben, daß ein Jeder nach seinem Stand sich kleiden, und darinnen keine Uebermaaß brauchen solle; So haben wir jedoch schon viele Jahre her mit Unserm äussersten Mißfallen gleichwohl sehen und wahrnehmen müssen, daß dieser Unserer, zum eigenen Besten Unserer lieben Bürgerschaft abgezielten, heilsamen Verordnung so wenig nachgefolget, und dieselbe gebührend beobachtet worden […]“. 62
Die im 18. Jahrhundert zunehmende Ablehnung starrer Luxus- und Kleidervorschriften und der Erfolg frühmoderner Konsumwelten führten dazu, dass – parallel zum Repräsentationsstreben mindermächtiger Hochstifte und Fürstenhäuser – sich Kreise ohne ausreichende ökonomische Basis am luxuriösen Lebensstil orientierten. Der Gesetzgeber reagierte darauf mit der Empfehlung, „daß ein Jeder nach seinem Stand sich kleiden, und darinnen keine Uebermaaß brauchen solle“.63 4. ERGEBNISSE Mindermächtige Reichs- und Landstände konkurrierten ebenso wie die über Kleiderordnungen benachteiligten Bürger im politisch-rechtlichen System des Alten Reiches bei der Suche nach dem mit Standesherrlichkeit und Bürgerstolz verbundenen Kapital Luxus mit finanzstärkeren Repräsentanten. Auf dem Weg zur luxuriösen Gleichstellung schlugen sie bisweilen erfindungsreiche Wege ein. Sie negierten Vorschriften und Normen, sie nahmen logistische und finanzielle Anleihe in der Nachbarschaft, sie setzten auf die Multifunktionalität ihrer Diener und Beamten und sie reformierten und rationalisierten ihre Verwaltung. Diese Charakteristika frühmoderner Politik betrafen nicht nur die geistlichen und weltlichen Territorien, sondern auch die Reichs- und Residenzstädte. An süddeutschen Beispielen versuchten wir, das Phänomen Luxus „auf Pump“ quellenorientiert zu belegen. Es zeigte sich gerade auch an den Beispielen unterfinanzierter Hofhaltung und mindermächtiger Staatenwelten, dass Luxusdiskurse stets kommunikative Akte vorausoder freisetzten und dass die jeweiligen Akteure Phantasie entwickelten, um Defi-
62 Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, H00/4 JUR-I 516 b oder 06LG09/XI 455, Druckschrift von 1780. 63 Ebenda.
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zite an tradierten Luxusgütern und -praktiken auszugleichen. Das in der transdisziplinären Grundlagenforschung zum Thema Luxus unter anderem aus der Feder von Werner Sombart, Norbert Elias oder Niklas Luhmann unterstellte extrinsische Streben nach Distinktion und Prestige war (und ist) vor allen bei den Personen und an den Orten ausgeprägt, die im gesellschaftlichen Rangsystem nicht an vorderer Stelle stehen. QUELLENVERZEICHNIS Staatsarchiv Augsburg, Augsburger Pflegämter, Nr. 2067, 227. Staatsarchiv Augsburg, Hochstift Augsburg, Augsburger Pflegämter, Nr. 2067, 228–229. Staatsarchiv Augsburg, Hochstift Augsburg, Neuburger Abgabe, Akt 741, „Neue systematische Einrichtung des fürstlichen Hochstifts Augsburg“ vom 27. April 1785. Staatsarchiv Augsburg, Reichsstadt Lindau, Münchener Bündel, n.S., Lit. 34. Staatsarchiv Nürnberg, Brandenburger Literalien, Nr. 56, fol. 312. Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Almosenamt, Theater 32/13. Stadtarchiv Augsburg, Reichsstadt, Theater 21/1 (Almosenamt), Supplik vom 15.7.1779. Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, H00/4 CMR-V 8. Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, H00/4 JUR-I 516 b oder 06LG09/XI 455, Druckschrift von 1780. Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, H61/4 TREW.X 19.21/29. Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, H61/TREW.X 19.21-29/27, Druckschrift vom 16.8.1618. Universitätsbibliothek Würzburg, 50, Rp XIII, 483, „Eins Erbarn Raths der Stadt Nuermberg/ verneute Policeyordnung […]“ vom 10.8.1583.
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PRESTIGE UND KARRIEREWEGE POLITIK, ÖKONOMIE UND LUXUS
DER KLEIDERAUFWAND DES ALKIBIADES UND DER VORWURF DER TYRANNIS Ein Diskurs über die sozio-ökonomischen Kosten des Luxuskonsums in der demokratischen Polis Athen Elisabetta Lupi, Hannover 1. EINLEITUNG: KLEIDERLUXUS UND TYRANNIS Kleiderluxus und Tyrannis gehören im antiken Denken über die attische Demokratie zusammen. Bereits in den 50er-Jahren arbeitete Andreas Alföldi einen attischen Topos der politischen Invektive heraus, nämlich die Charakterisierung des äußeren Erscheinungsbildes von Tyrannen und Despoten durch kostbare Gewänder.1 Alföldi berücksichtigte dabei literarische und ikonographische Darstellungen vom 5. Jahrhundert2 bis zum Mittelalter, um die Nachwirkung dieser „attischen Ideenprägung“ zu veranschaulichen. Die Griechen hätten demnach Kleiderpracht als „weibisch“ und „barbarisch“ empfunden sowie als Zeichen „ungriechischer Überheblichkeit“ aufgefasst.3 Denn das „weibische Prachtkleid des Tyrannen“ mit seinem Goldglanz und Purpur hätte den ethischen Gegensatz zum schlichten „Hellenenkleid“ und zur „unverhüllten Schönheit eines griechischen Tugendhelden“ veranschaulicht.4 Diese Assoziation des Kleiderluxus mit dem „barbarischen“ Osten und einer despotischen Herrschaftsform hat Mario Lombardo in den 1980er Jahren auf ein neues Wertesystem zurückgeführt, das sich in Griechenland unmittelbar nach den Perserkriegen (490, 480/479) entwickelt und auf grundsätzlichen Gegenüberstellungen basiert habe: Europa versus Asien, Freiheit versus Versklavung, Armut versus Reichtum, Männlichkeit versus Verweiblichung.5 Im Rahmen der Beziehungen zwischen Griechenland und dem Osten sieht Lombardo auch eine Entwicklung der athenischen Bürgerkleider von der Prachtentfaltung hin zur Schlichtheit,6 worüber Thukydides (geb. ca. 460) berichtet. Der Geschichtsschreiber stellt die
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Alföldi 1955. Alle Zeitangaben dieses Beitrags datieren v. Chr. Alföldi 1955, 23. Zur Deutung des Luxuskonsums als „weibisch“ s. die Ausführungen von Meaker in diesem Band. Alföldi 1955, 34. Vgl. Miller 2011. Lombardo 1983, 1102. Lombardo 1983, 1080.
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Schlichtheit der Gewänder seiner Zeit der „verfeinerten Art“ (τὸ ἁβροδίαιτον) der chitones (leichten Untergewänder) in der nahen Vergangenheit gegenüber: „Die allerersten, die das Eisen ablegten, waren die Athener, die die alte Straffheit lockerten und sich mehr den Annehmlichkeiten (ἐς τὸ τρυφερώτερον) zuwandten. Noch ist es ja nicht so lange her, dass die älteren Athener aufhörten, in ihrer verfeinerten Art (διὰ τὸ ἁβροδίαιτον) leinene Chitone zu tragen und sich durch Einführen goldener Zikaden die Haupthaare zu einem Schopf aufzustecken; weshalb auch in dem verwandten Ionien unter den älteren Leuten lange Zeit diese Tracht herrschte. Die heutige knappere Art der Kleidung stammt von den Spartanern, die ja auch sonst zwischen der Menge und den größeren Besitzern die Unterschiede der Lebensweise ziemlich aufgehoben haben.“7
Die Ablehnung des ionischen Luxus führt Lombardo auf das Scheitern des ionischen Aufstandes zurück. Diese Niederlage habe eine Ablehnung ebendieser Lebensführung zur Folge gehabt: Der ionische Luxus (habra) sei dabei als Dekadenz gedeutet und mit tyrannischen Erfahrungen in Verbindung gebracht worden.8 Die Forschung hat dementsprechend den Luxuskonsum als eine identitätsstiftende Kategorie der ethnographischen Beschreibung verstanden, welche eine vielfältige Rolle in der Alteritätskonstruktion einerseits und – durch die Gegenüberstellung mit der griechischen Schlichtheit – in der Selbstdefinition der Griechen andererseits spielte. In diese Interpretation fügt sich etwa die Untersuchung von Edith Hall aus dem Jahre 1989 ein, die den Luxus als topisches Motiv der Repräsentation (und Konstruktion) der „Barbaren“ in der attischen Tragödie des 5. Jahrhunderts herausgearbeitet hat.9 Auf die politische Signalwirkung der schlichten Kleider für den inneren Zusammenhalt hat dagegen Ann Geddes hingewiesen. Geddes erklärt in ihrer Studie Rags and Riches von 1987 die Veränderungen in der athenischen Bürgertracht durch soziale und politische Transformationen, welche im Zeitraum vom 6. bis zum 5. Jahrhundert die Entwicklung Athens von einer timokratischen Gesellschaft hin zur Stadt der Hopliten begleiteten.10 In diesem Kontext habe die Kleidung die ideale Gleichheit zwischen allen Bürgern der demokratischen Polis zum Ausdruck gebracht, welche im Zusammenhang mit den Kleisthenes-Reformen eine Trennung zwischen Besitz und Macht erforderte. So stehe das himation (Mantel) für „equality“, „fitness“ (als Kleidung für das gymnasion) und für „leisure“ (als ungeeignete
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Thuk. 1.6: Ἐν τοῖς πρῶτοι δὲ Ἀθηναῖοι τόν τε σίδηρον κατέθεντο καὶ ἀνειμένῃ τῇ διαίτῃ ἐς τὸ τρυφερώτερον μετέστησαν. καὶ οἱ πρεσβύτεροι αὐτοῖς τῶν εὐδαιμόνων διὰ τὸ ἁβροδίαιτον οὐ πολὺς χρόνος ἐπειδὴ χιτῶνάς τε λινοῦς ἐπαύσαντο φοροῦντες καὶ χρυσῶν τεττίγων ἐνέρσει κρωβύλον ἀναδούμενοι τῶν ἐν τῇ κεφαλῇ τριχῶν· ἀφʼ οὗ καὶ Ἰώνων τοὺς πρεσβυτέρους κατὰ τὸ ξυγγενὲς ἐπὶ πολὺ αὕτη ἡ σκευὴ κατέσχεν. μετρίᾳ δʼ αὖ ἐσθῆτι καὶ ἐς τὸν νῦν τρόπον πρῶτοι Λακεδαιμόνιοι ἐχρήσαντο καὶ ἐς τὰ ἄλλα πρὸς τοὺς πολλοὺς οἱ τὰ μείζω κεκτημένοι ἰσοδίαιτοι μάλιστα κατέστησαν (Übers. Georg Peter Landmann). 8 Lombardo 1983, 1102. So auch Dorati 2003. 9 Hall 1989, 79–84. 10 Geddes 1987, 322–323: „It seems to me that clothes responded to the social changes that took place when the old way of exercising power gradually became ineffective, as the ‚hoplite‘ city developed.“
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Kleidung für körperliche Tätigkeiten) und somit für das Idealbild des guten Bürgers.11 Im Gegensatz dazu sei der Kleiderluxus als ein Symbol des Übermuts und tyrannischer Ordnung erachtet worden.12 In einer Studie Mäntel machen Bürger von 2010 hat Elke Hartmann die Position von Geddes aufgegriffen. Sie versteht die Schlichtheit und Uniformität der Mäntel in den Abbildungen von Männern im klassischen Athen als eine idealisierte Vorstellung des Bürgers, der kein schäbiges, aber auch kein luxuriöses Gewand zu tragen hatte. Hartmann richtet ihre Aufmerksamkeit jedoch auf die durch üppige Unter- und Überkleider hervorgerufenen Assoziationen im politischen Raum: Diese seien mit Weichlichkeit und Weiblichkeit assoziiert worden und hätten somit die Männlichkeit des Trägers und „die Befähigung und das Recht, als aktiver Bürger die Belange der Polis mitzugestalten“, infrage gestellt.13 Ferner sieht auch Leslie Kurke, die in den 1990er Jahren dem Konzept der habrosyne, der Prachtentfaltung, nachgegangen ist und diese als Form aristokratischen Selbstdarstellung deutet, einen ideologischen Hintergrund für die Diskreditierung des Luxuskonsums und speziell des Kleiderluxus im klassischen Athen: Diese seien als offensichtlicher Widerspruch zur isonomia (Gleichheit aller Bürger) empfunden worden.14 Neben diesem ideologischen Argument erkennt Kurke aber auch einen ökonomischen Hintergrund, der mit der Konkurrenz um Ressourcen zu tun habe: „If the nobles spend their money on their own private luxury, they cannot be spending it on the service of the state.“ 15 Auch wenn Kurke das Thema nicht weiter vertieft und ein rein monetäres Konzept von Reichtum vertritt, bietet ihr Ansatz doch einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der ökonomischen Bedeutung des Kleideraufwandes im klassischen Athen. Um eben diesen ökonomischen Aspekt, der in der althistorischen Forschung gegenüber der „ethnischen“ und „politischen“ Deutung vernachlässigt wurde, geht es mir hier.16 In Anlehnung an Kurke möchte ich zeigen, dass bei der Ablehnung von Kleiderluxus ökonomische Überlegungen insofern eine Rolle spielen, als die Aussagen zum Kleideraufwand in einen Diskurs um das angemessene Konsumverhalten in der Polis gehören. Es geht um die alte Frage des Eigen- und Gemeinnutzens: Wem und wozu dient der Konsum? Ausgangspunkt meiner Untersuchung bilden Aussagen um den Luxusaufwand, den Alkibiades betrieben haben soll und der im klassischen Athen auf unterschiedliche Resonanz stieß. Alkibiades erregte durch
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Geddes 1987, 323–325. Geddes 1987, 321. Hartmann 2010, 165. Kurke 1992, 103–104. Kurke 1992, 104. Vgl. Bernhardt 2003, 121–136; 160–169. Bernhardt stellt zum einen die Rolle des Luxuskonsums bei der griechischen Charakterisierung der Lydier, Perser, Meder und anderer orientalischer Völker heraus. Zugleich weist er darauf hin, dass Luxuskonsum in der politischen Debatte als Ausdruck der Maßlosigkeit des Tyrannen verstanden wurde, der sich über die Regeln des sozialen Lebens in einer demokratischen Ordnung hinwegsetzte und die Gleichheit unter den Bürgern missbilligte.
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seine Lebensweise sowohl Ablehnung als auch Bewunderung. Sein immenser „Kapitaleinsatz für Luxus“, so die Formulierung von Christian Mann,17 polarisierte die Bürgerschaft: Nach Aristophanes war Alkibiades gleichermaßen begehrt und gehasst.18 Während Jan B. Meister jüngst auf den Aspekt der sozialen Anerkennung, die Alkibiades erfuhr, eingegangen ist und somit auch die Luxuspraktiken erfolgreicher Politiker im demokratischen Athen untersucht hat,19 möchte ich mich der Kritik an dessen Luxusaufwand zuwenden und dem damit verbundenen Vorwurf nachgehen, Alkibiades habe eine tyrannische Politik verfolgt. Die Ambivalenz, die Luxus im demokratischen Athen besaß, wird dabei ersichtlich. Zunächst geht es mir daher um das Konsumverhalten des Alkibiades und dessen politische Relevanz (2). Dabei gehe ich von einem allgemeinen Konsumbegriff aus, der für den Erwerb und Verbrauch von (Luxus-)Gütern und für die damit verbundenen Ideologien steht. Den diskursiven Kontext bildet der Vorwurf, nach Tyrannis zu streben, wobei die Begriffe dapanē, polyteleia und polyteles im Zentrum stehen. Sie alle betrachten den Luxus, den Alkibiades auslebte, aus der Perspektive der damit verbundenen hohen Kosten. Mir geht es weiterhin um die Einordnung dieses Diskurses in einen breiteren Diskurs, der um das richtige Ausgabeverhalten kreist, d. h. um den richtigen Gebrauch des Reichtums und um dessen Nutzen für die Gemeinschaft (3). Im Rahmen dieses Diskurses lässt sich der Luxuskonsum als nutzlose, für das Zusammenleben in der Polis problematische Ausgabe deuten. Er wird, so lässt sich zeigen, als Protz semantisiert, d. h. als ein unangemessener Habitus zur eigenen Selbstdarstellung stigmatisiert. Schließlich möchte ich aufzeigen, inwiefern der Kleiderluxus zu diesem Diskurs gehört (4), und welchem politischen Kontext die ‚neue‘ Schlichtheit der athenischen Kleider zuzuordnen ist (5). 2. DAS KONSUMVERHALTEN DES ALKIBIADES: LUXURIÖSE VERSCHWENDUNG UND TYRANNISCHE HALTUNG Kurz vor der Expedition nach Sizilien 415 versetzte ein Skandal die Stadt Athen in eine bedrohliche Stimmung: In einer Nacht wurden fast alle Hermen beschädigt. Im Zuge der Ermittlungen zeigte sich, dass es überdies Nachahmungen der Mysterien in einzelnen Häusern gab. Diese Freveltaten galten nicht nur als ein böses Omen für die bevorstehende Expedition, sie wurden ebenso als Anzeichen für eine oligarchische Verschwörung gedeutet, die einen Umsturz der demokratischen Ordnung zum Ziel hatte.20 Bei der Suche nach den Verantwortlichen, die Thukydides zufolge
17 Mann 2007, 227. 18 Aristoph. Ran. 1425. Auf die „erotische“ Anziehungskraft des Alkibiades geht Wohl 2002, 124–170 näher ein. 19 Meister 2020, 355–360. Vgl. den Beitrag von Meister in diesem Band. 20 Graf 2000 interpretiert den sogenannten Hermenfrevel als „eine jener in allen Geheimbünden bekannten Solidarisierung durch eine kollektive Untat“ (S. 120) und die Nachahmung der Mysterien im Anschluss an ein Symposion als eine „Mode“, die einen gewissen Reiz in jungen
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hektisch verlief, beschuldigten Zeugen und Denunzianten angesehene Athener, unter anderen den wohlhabenden Alkibiades, der damals als Stratege für die Sizilienexpedition bevollmächtigt war.21 Dass es sich dabei bereits um erste Schritte des Alkibiades hin zur Abschaffung der Demokratie gehandelt habe, begründeten seine politischen Gegner auch damit, dass seine Lebensweise, auf Griechisch seine ἐπιτηδεύματα (epitēdeumata), durch undemokratische Züge (οὐ δημοτικὴν παρανομίαν) gekennzeichnet sei.22 Im klassischen Athen gehörten epitēdeumata zum Raum des ‚Politischen‘. Wie Pauline Schmitt Pantel gezeigt hat, bestand nämlich ein Zusammenhang „zwischen der Beschreibung der Sitten sowie der Konstruktion der Persönlichkeit und dem politischen Handeln der Akteure“.23 Welche Lebensweise Alkibiades nun genau verdächtig machte, legt Thukydides bereits bei der ersten Erwähnung desselben offen. Ihm zufolge habe die Mitbürger vor allem sein Konsumverhalten verschreckt, das vom Streben nach Tyrannis zeuge: „Denn hoch angesehen in der Stadt, frönte er großen Leidenschaften über sein Vermögen mit den Pferden, die er hielt, und sonstigem Aufwand (ταῖς ἐπιθυμίαις μείζοσιν ἢ κατὰ τὴν ὑπάρχουσαν οὐσίαν ἐχρῆτο ἔς τε τὰς ἱπποτροφίας καὶ τὰς ἄλλας δαπάνας). Und grade das wurde einer der Hauptgründe für den Untergang Athens. Denn da die Menge erschrak vor dem Übermaß seiner persönlichen, ganz überbürgerlichen Lebensführung wie auch vor dem geistigen Schwung (φοβηθέντες γὰρ αὐτοῦ οἱ πολλοὶ τὸ μέγεθος τῆς τε κατὰ τὸ ἑαυτοῦ σῶμα παρανομίας ἐς τὴν δίαιταν καὶ τῆς διανοίας), womit er jedes einzelne vorkommende Geschäft betrieb, so wurden sie, als wolle er Tyrann werden (ὡς τυραννίδος ἐπιθυμοῦντι), seine Feinde, und während er in seinem Amt für den Krieg die besten Anordnungen traf, stießen sich die einzelnen Bürger an seinem Gehaben, gaben die Vollmachten andern und rissen gar bald damit die Stadt zu Boden.“24
Thukydides verweist konkret auf die Kosten für die Pferdehaltung (ἱπποτροφία), belässt es aber ansonsten bei einem allgemeinen Verweis auf den sonstigen Aufwand (δαπάναι). Der Begriff δαπάνη (dapanē) deutet zum einen auf eine Vergeudung des Vermögens für den Sinnengenuss und die Annehmlichkeiten des Lebens, zum anderen auf einen (status-)angemessenen Aufwand hin. Er steht daher an einer
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„Clubs“ aufgrund der Bedeutung des Kultes für die Stadt, des Umgangs mit dem Unterirdischen und der Weitergabe von Geheimgehaltenem haben musste (S. 126). Thuk. 6.27–29 und 60. Vgl. And. 1.13 und 16. Thuk. 6.28.2. Vgl. Thuk. 6.15.4. Unter der undemokratischen paranomia des Alkibiades versteht Wohl 2002, 129–144 vor allem sexuelle Ausschweifungen, Extravaganz, Verweichlichung und Luxusleben; s. u. Schmitt Pantel 2012, 124. Thuk. 6.15.3–4: ὢν γὰρ ἐν ἀξιώματι ὑπὸ τῶν ἀστῶν, ταῖς ἐπιθυμίαις μείζοσιν ἢ κατὰ τὴν ὑπάρχουσαν οὐσίαν ἐχρῆτο ἔς τε τὰς ἱπποτροφίας καὶ τὰς ἄλλας δαπάνας· ὅπερ καὶ καθεῖλεν ὕστερον τὴν τῶν Ἀθηναίων πόλιν οὐχ ἥκιστα. φοβηθέντες γὰρ αὐτοῦ οἱ πολλοὶ τὸ μέγεθος τῆς τε κατὰ τὸ ἑαυτοῦ σῶμα παρανομίας ἐς τὴν δίαιταν καὶ τῆς διανοίας ὧν καθʼ ἓν ἕκαστον ἐν ὅτῳ γίγνοιτο ἔπρασσεν, ὡς τυραννίδος ἐπιθυμοῦντι πολέμιοι καθέστασαν, καὶ δημοσίᾳ κράτιστα διαθέντι τὰ τοῦ πολέμου ἰδίᾳ ἕκαστοι τοῖς ἐπιτηδεύμασιν αὐτοῦ ἀχθεσθέντες, καὶ ἄλλοις ἐπιτρέψαντες, οὐ διὰ μακροῦ ἔσφηλαν τὴν πόλιν. τότε δʼ οὖν παρελθὼν τοῖς Ἀθηναίοις παρῄνει τοιάδε (Übers. Landmann, Hervorhebung der Verf.).
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Schnittstelle zwischen der schädlichen Verschwendung für den eigenen Luxus und den angebrachten Ausgaben zur Erlangung von Prestige. Pascale Hummel, welche die Bedeutung des Begriffs dapana bei Pindar untersucht hat, interpretiert ihn als eine Handlung bzw. Bemühung zur Selbstdarstellung und Inszenierung des eigenen Reichtums: Gemeint sei damit eine persönliche Einstellung und Haltung, nicht etwas Materielles außerhalb des Subjekts.25 Meines Erachtens ist jedoch eine Trennung zwischen Handlung, Mittel und Zweck nicht möglich. Der Begriff dapanē bezeichnet sowohl den Akt des Ausgebens an sich als auch die Art der Ausgabe und ihren Zweck, was in Verbindung mit dem Geschlecht, dem Status und der finanziellen Lage des Subjekts den Unterschied zwischen angemessenen und unangemessenen Ausgaben bildet. Im Ploutos des Aristophanes (388) werden als dapanai z. B. die angemessenen Ausgaben für die Braut bezeichnet, und zwar konkret für bunte Gewänder, die zusammen mit Betten, Decken und Salben als Bestandteil des Brautvermögens präsentiert werden.26 Dagegen beschreibt der Begriff dapanē in der Komödie Wolken (423) die verschwenderische Haltung der bürgerlichen Nichte des Megakles, die der Einfachheit ihres bäuerlichen Bräutigams Strepsiades gegenübergestellt wird.27 In den Wespen (422) sind mit dapanai die hohen Kosten für die Anfertigung eines weichen persischen Gewebes (καυνάκη) gemeint, das allein schon ein Talent für Wolle verschlinge, was die Missgunst des Philokleon hervorruft.28 Der Begriff gehört daher im 5. Jahrhundert zu einem Diskurs über das angemessene Maß an materiellem Luxus,29 in den sich auch die Textstelle des Thukydides einordnen lässt. Denn die dapanai des Alkibiades, die wir mit Veblens 25 Hummel 1996. 26 Aristoph. Plut. 523: οὔθʼ ἱματίων βαπτῶν δαπάναις κοσμῆσαι ποικιλομόρφων / καίτοι τί πλέον πλουτεῖν ἐστιν τούτων πάντων ἀποροῦντα; – „… und ihr werdet die Braut nicht mit kostbar in bunten Farben gefärbten Kleidern schmücken. Was also ist mehr das Reichsein noch wert, wenn ihr all diese Dinge entbehret?“ (Übers. Peter Rau). 27 Aristoph. Nub. 46–55: ἔπειτʼ ἔγημα Μεγακλέους τοῦ Μεγακλέους / ἀδελφιδῆν ἄγροικος ὢν ἐξ ἄστεως, / σεμνήν, τρυφῶσαν, ἐγκεκοισυρωμένην. / ταύτην ὅτʼ ἐγάμουν, συγκατεκλινόμην ἐγὼ / ὄζων τρυγός, τρασιᾶς, ἐρίων, περιουσίας, / ἡ δʼ αὖ μύρου, κρόκου, καταγλωττισμάτων, / δαπάνης, λαφυγμοῦ, Κωλιάδος, Γενετυλλίδος. / οὐ μὴν ἐρῶ γʼ ὡς ἀργὸς ἦν, ἀλλʼ ἐσπάθα, / ἐγὼ δʼ ἂν αὐτῇ θοἰμάτιον δεικνὺς τοδὶ / πρόφασιν ἔφασκον· ὦ γύναι, λίαν σπαθᾷς. – „Dann heiratetʼ ich die Nichte eines Megakles, / des Sohns des Megakles, ich vom Land die Städterin, Vornehm, verwöhnt, Verkörperung der Koisyra. / Als ich die heiratete, legt ich mich zu ihr / und roch nach Most, nach Darre, Wolle, Überfluss, / Doch sie nach Myrrhe, Safran und nach Zungenküssen, / nach Luxus, Schlemmen, Aphrodites Segensfest. / Ich sag nicht, dass sie faul war, nein, sie zettelte. / Und ich hielt ihr wohl dies mein Mäntelchen vor zum Beweis und sagte: ‚Frau, zu viel verzettelst du‘“ (Übers. Rau). 28 Aristoph. Vesp. 1145–1149: {Βδ.} πόθεν, ὦ ʼγάθʼ; ἀλλὰ τοῦτο τοῖσι βαρβάροις /ὑφαίνεται πολλαῖς δαπάναις. αὕτη γέ τοι /ἐρίων τάλαντον καταπέπωκε ῥᾳδίως. /{Φι.} οὔκουν ἐριώλην δῆτʼ ἐχρῆν αὐτὴν καλεῖν / δικαιότερόν γʼ ἢ καυνάκην; – „ANTIKLEON: Ach was, mein Guter! Nein, von den Barbaren wird / mit teurem Aufwand dies gewebt. Der Mantel hier / hat leicht ja ein Talent für Wolle wohl verschluckt. / PHILOKLEON: Soll man ihn da nicht etwa ‚Wollschlund‘ richtiger / benennen als ‚Kaunake‘?“ (Übers. Rau). 29 Dies verdeutlicht bereits Thgn. 1.911–924, wo als dapanē Ausgaben für die Annehmlichkeiten des Lebens gelten, insbesondere für die Genüsse des Magens.
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Worten als „demonstrative“30 Aufwendungen wie etwa Kleiderluxus interpretieren können, überstiegen laut Thukydides die Möglichkeiten des eigenen Besitztums (τὴν ὑπάρχουσαν οὐσίαν).31 Genau dies musste das Konsumverhalten des Alkibiades verdächtig machen. So liest man in der zeitgenössischen Tragödie Herakles von Euripides (416), dass die dapanai das eigene Gut für den Müßiggang (ὑπ’ἀργίας) verschlungen haben: Dies sei eine Gefahr für die Polis, weil solche Menschen, die trotz ihrer nun armen Verhältnisse für Reiche gehalten werden, Aufruhr stiften und die Stadt zerrütten, um fremdes Gut zu rauben.32 Dass das Konsumverhalten des Einzelnen für politisch und sozial relevant gehalten wurde, zeigt ebenfalls die Rede des Nikias bei Thukydides, welche die Athener dazu bewegen sollte, Alkibiades politisch zu misstrauen. Auch in diesem Fall kommt das Konsumverhalten desselben im Zusammenhang mit der Pferdehaltung zur Sprache: „Und wenn einer, gern ins Feldherrnamt gewählt, euch zur Ausfahrt rät, nur auf sich selber bedacht, zumal wenn er noch zu jung ist dafür, um sich bestaunen zu lassen für die Rosse, die er hält, und wegen des großen Aufwandes (διὰ δὲ πολυτέλειαν) auch einen Gewinn zu ziehen aus seinem Amt – auch diesem seid nicht willfährig, dass mit der Gefahr der Stadt der Einzelne glänze, sondern denkt, dass solche Männer sich am Staatsgut vergreifen, das eigne vertun, und dass die Sache zu folgenschwer ist, als dass ein Jüngerer sie beschließen oder hitzig betreiben sollte.“33
Der Begriff, den Nikias verwendet, ist πολυτέλεια (polyteleia). Gemeint ist damit ein kostspieliger Aufwand, welcher Nikias mit einer Vergeudung des Eigenen und einer eigennützigen Orientierung bei der Durchführung des Strategenamtes in Verbindung bringt. Er sieht dabei einen Zusammenhang zwischen dem Verschwenden des Eigenen (τὰ δὲ ἴδια ἀναλοῦν) und dem ungerechten Verhalten dem Gemeinwesen gegenüber (τὰ μὲν δημόσια ἀδικεῖν).34
30 Veblen 1997, 79–107 versteht unter „demonstrativem Konsum“ einen „spezialisierten Güterkonsum als Zeugnis finanzieller Macht“ und eine „Vergeudung von Gütern“ als „Zeuge der Wohlanständigkeit“. Die Kleidung spielt für ihn eine entscheidende Rolle dabei. 31 Thuk. 6.15.3. Vgl. die Gegenüberstellung zwischen dem bescheidenen Konsumverhalten des Sokrates, das seinen finanziellen Mitteln entspricht, und der statusangemessenen Prachtentfaltung (σχῆμα ... καὶ τὴν δόξαν) des Kritoboulos, die dagegen sein Vermögen überschreitet, in Xen. oik. 2.4. Der Begriff σχῆμα kann sich auf die Kleidung beziehen, vgl. [Xen.] Ath. pol. 2.7. 32 Eur. Herc. 588–592: πολλοὺς πένητας, ὀλβίους δὲ τῶι λόγωι / δοκοῦντας εἶναι συμμάχους ἄναξ ἔχει, / οἳ στάσιν ἔθηκαν καὶ διώλεσαν πόλιν / ἐφʼ ἁρπαγαῖσι τῶν πέλας, τὰ δʼ ἐν δόμοις / δαπάναισι φροῦδα διαφυγόνθʼ ὑπʼ ἀργίας. 33 Thuk. 6.12.2: εἴ τέ τις ἄρχειν ἄσμενος αἱρεθεὶς παραινεῖ ὑμῖν ἐκπλεῖν, τὸ ἑαυτοῦ μόνον σκοπῶν, ἄλλως τε καὶ νεώτερος ὢν ἔτι ἐς τὸ ἄρχειν, ὅπως θαυμασθῇ μὲν ἀπὸ τῆς ἱπποτροφίας, διὰ δὲ πολυτέλειαν καὶ ὠφεληθῇ τι ἐκ τῆς ἀρχῆς, μηδὲ τούτῳ ἐμπαράσχητε τῷ τῆς πόλεως κινδύνῳ ἰδίᾳ ἐλλαμπρύνεσθαι, νομίσατε δὲ τοὺς τοιούτους τὰ μὲν δημόσια ἀδικεῖν, τὰ δὲ ἴδια ἀναλοῦν, καὶ τὸ πρᾶγμα μέγα εἶναι καὶ μὴ οἷον νεωτέρῳ βουλεύσασθαί τε καὶ ὀξέως μεταχειρίσαι (Übers. Landmann, Hervorhebung der Verf.). 34 Thuk. 6.12.2.
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Aus demselben Wortfeld von polyteleia stammt auch das nominalisierte Adjektiv im Superlativ πολυτελέστατα (polytelestata), das in der Rede Gegen Alkibiades die exzessive Verschwendung des Politikers bezeichnet. Diese Rede ist unter den Schriften des Andokides überliefert, stammt aber vermutlich aus dem Zeitraum 403–396.35 Demnach stellen die Aufwendungen des Alkibiades eine Grenzüberschreitung zwischen eigenem und fremdem Vermögen bzw. der Kasse des Gemeinwesens dar, d. h. einen Zugriff auf das, was ihm nicht zustand: „Jeder, der nun einige seiner Taten wagte, seinen Haushalt in den Ruin getrieben hätte, während er [Alkibiades] viel dergleichen tat und gleichwohl bei den kostspieligen Exzessen (ἅπαντα πολυτελέστατα) sein Vermögen verdoppelte. Seid ihr also etwa der Meinung, dass sparsame und vorsichtig haushaltende Menschen geldgierig sind, so urteilt ihr nicht richtig; die, welche viel verbrauchen (μεγάλα δαπανώμενοι) und daher viel nötig haben, sind die schmutzigsten Geizhälse.“36
Die Kostspieligkeit des Aufwandes sowie die Tatsache, dass diese Lebensweise seinen Haushalt nicht in den Ruin trieb, soll die Korruption des Alkibiades und zugleich seine tyrannische Handlungsweise demonstrieren.37 Der anonyme Autor verfolgt dabei das Ziel, das Unrecht des Alkibiades gegenüber Verwandten, Mitbürgern und Fremden, also gegen alle Gruppierungen innerhalb der Bürgerschaft nachzuweisen.38 Erwähnt werden in der Rede die Unterschlagung von Tributen der Bundesgenossen,39 Gelderpressung,40 eine doppelte Aneignung der Mitgift der Ehefrau Hipparete bis hin zum Mordversuch an seinem Schwager, um sich dessen Vermögen anzueignen.41 Sollten sich die Fragmente der Rede Politikos des Sophisten Antiphon (ca. 480–411) tatsächlich auf Alkibiadesʼ Verhalten beziehen, wie Helmut Häusle annimmt, dann wird ihm auch an dieser Stelle die Verschwendung eigenen und fremden Vermögens vorgeworfen:42 „Antiphon verwendet im Politikos das Verb kataristan, ‚wenn man seine eigenen Mittel oder die seiner Freunde verschwendet hat.‘“
35 Zur Datierung und Interpretation der Rede s. Heftner 1995, 75–104. 36 [And.] 4.31–32: Εἰ δὲ βούλεσθε σκοπεῖν, εὑρήσετε τῶν πολλάκις τούτῳ πεπραγμένων ἕκαστον ὀλίγον χρόνον πράξαντάς τινας ἀναστάτους τοὺς οἴκους ποιήσαντας· οὗτος δʼ ἐπιτηδεύων ἅπαντα πολυτελέστατα διπλασίαν οὐσίαν κέκτηται. Καίτοι ὑμεῖς γε νομίζετε τοὺς φειδομένους καὶ τοὺς ἀκριβῶς διαιτωμένους φιλοχρημάτους εἶναι, οὐκ ὀρθῶς γιγνώσκοντες· οἱ γὰρ μεγάλα δαπανώμενοι πολλῶν δεόμενοι αἰσχροκερδέστατοί εἰσιν. 37 [And.] 4.27. 38 [And.] 4.10: Ἃ δὲ περὶ τὴν πόλιν εἴργασται καὶ τοὺς προσήκοντας καὶ τῶν ἄλλων ἀστῶν καὶ ξένων τοὺς ἐντυγχάνοντας, ἀποδείξω. 39 [And.] 4.11. 40 [And.] 4.27. 41 [And.] 4.14–15. Vgl. Plut. Alkibiades 8, wo von einer doppelten Aneignung einer Mitgift von jeweils zehn Talenten die Rede ist. 42 VS 87, 73 (apud Athen. 10.423a): καταριστᾶν δὲ εἴρηκεν Ἀ. οὕτως· (Übers. Claus Friedrich).
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Diese Textpassagen zeigen, dass das luxuriöse Konsumverhalten des Alkibiades eine politische Relevanz hatte. Entscheidend war die Art der Ausgabe, genauer ihr Zweck. Das zeigt auch die ‚Selbstverteidigung‘ des Alkibiades bei Thukydides. Gegen derartige Vorwürfe, welche seine eigenen Angelegenheiten (τὰ ἴδια) betrafen, aber auf die Diskreditierung seiner öffentlichen Rolle (τὰ δημοσία) abzielten,43 wendet Alkibiades ein, dass er mit seinen Ausgaben (τοῖς ἰδίοις τέλεσι) nicht nur sich selbst, sondern auch der Stadt Vorteile verschafft habe: „Und was ich wiederum in der Stadt mit Aufführungen oder sonst an Pracht entfalte, weckt bei den Städtern gewiss Neid – das ist in der Natur –, die Fremden sehn auch darin Stärke. So ist diese Torheit nicht überflüssig, wenn einer auf eigne Kosten (τοῖς ἰδίοις τέλεσι) nicht bloß sich selbst, sondern auch der Stadt Vorteil schafft (μὴ ἑαυτὸν μόνον ἀλλὰ καὶ τὴν πόλιν ὠφελῇ).“44
Alkibiades rekurriert hier auf ein gängiges Argument der athenischen Politik, nämlich den sozialen Nutzen. Um seine Aufwendungen zu bezeichnen, wird hier der Begriff τέλος (telos) verwendet, der in den Kontext der pflichtgemäßen Ausgaben in Form von Steuern, Abgaben und sonstigen Verbindlichkeiten gehörte. Hohe Aufwendungen – so lautet die Argumentation – sollen geduldet werden, solange sie nicht nur dem Individuum in Form von sozialer Anerkennung im Rahmen des Wettstreits um Ehre, sondern auch der Stadt Nutzen bringen. Alkibiades erwähnt dabei die Choregie, eine Sonderform der Leitourgie (Leistungen für das Volk), welche die Ausstattung eines Chores für dramatische oder lyrische Aufführungen vorsah. Darüber hinaus dürften auch die Kosten für die Pferdehaltung gemeint sein, die dazu beitrugen, dass er Olympiasieger im Wagenrennen werden konnte.45 Einen interessanten Vergleich bietet die Figur des Kritoboulos im Oikonomikos Xenophons (etwa 430–354): Laut Sokrates ist das Vermögen des wohlhabenden Besitzers – neben sonstigen Ausgaben für die eigenen Lieblingsbeschäftigungen (παιδικὰ πράγματα) – von statusangemessenen Ausgaben belastet, wie etwa dem Halten von Pferden, der Darbietung von Opfergaben und verschiedenen Formen von Leitourgien.46 Der Diskurs über den Konsum von Alkibiades kreist daher um den Nutzen seiner Aufwendungen: Die demonstrative Verschwendung zum eigenen Vorteil steht im Gegensatz zu den Aufwendungen für die Polis im weitesten Sinne, der Eigennutz im Gegensatz zum Gemeinnutz. Dass Alkibiades aufgrund seiner Ausgaben für die Polis für sich eine politische Sonderrolle in Athen beanspruchte, zeigt jedoch, dass für Thukydides die Übernahme der Choregie nicht unbedingt Ausdruck demokratischer Gesinnung war. Alkibiadesʼ Verhalten verfolge bewusst „nicht Integration in die Polis, sondern eine einsame Ausnahmestellung“, meint Christian Mann.47 Im 4. Jahrhundert war der 43 Thuk. 6.16.6. 44 Thuk. 6.16.3: καὶ ὅσα αὖ ἐν τῇ πόλει χορηγίαις ἢ ἄλλῳ τῳ λαμπρύνομαι, τοῖς μὲν ἀστοῖς φθονεῖται φύσει, πρὸς δὲ τοὺς ξένους καὶ αὕτη ἰσχὺς φαίνεται. καὶ οὐκ ἄχρηστος ἥδʼ ἡ ἄνοια, ὃς ἂν τοῖς ἰδίοις τέλεσι μὴ ἑαυτὸν μόνον ἀλλὰ καὶ τὴν πόλιν ὠφελῇ (Übers. Landmann). 45 Thuk. 6.16.2. Vgl. Domingo Gygax 2016, 153. 46 Xen. oik. 2.5–8. 47 Mann 2007, 208.
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Nutzen der choregischen Ausgaben für die Reputation schon deshalb begrenzt, weil die Choregie (so wie auch die Pferdehaltung) im Vergleich zu den militärischen Leitourgien gering geschätzt wurde.48 Die im Kern undemokratische Argumentation des Alkibiades verdeutlicht den Konflikt zwischen Eigennutz und Gemeinnutz bereits im 5. Jahrhundert und spricht nach Marc Domingo Gygax für einen problematischen Aufwand seiner Leitourgien, die an der Schwelle zum Wohltäterwesen stünden.49 In diesem Kontext ließen sich die Bemühungen des Nikias erklären, Alkibiades als „a false benefactor“ darzustellen.50 Die Debatte um die Ausgaben des Alkibiades zeigt daher, dass der Umgang des Einzelnen mit dem Reichtum mit einer strengen politischen Rhetorik belegt wurde und sein Verhältnis zum dēmos im positiven wie auch im negativen Sinne beeinflusste. 3. KONSUM UND GERECHTIGKEIT: DER NUTZEN DES REICHTUMS Der Verdacht, den Alkibiades mit seinem Verhalten auf sich zog, ist in die zeitgenössischen Überlegungen zur Bedeutung eines angemessenen Konsums einzubeziehen. Hesiod (vor 700) und Solon (um 600) hatten einen rechtmäßigen (durch die Arbeit) von einem unrechtmäßigen (durch die Gewalt) Erwerb des Vermögens unterschieden und im Streben nach unermesslichem Besitz die Ursache des Unrechts gesehen.51 Im klassischen Athen scheint sich die Argumentation eher umgekehrt zu haben: Im Zentrum steht hier vielmehr die Art des Ausgebens, nicht des Erwerbs, mit ihren politischen Folgen. So hält Aristoteles demjenigen, der sein Vermögen in der richtigen Weise ausgibt, für lobenswerter als den, welcher sich nichts auf ungerechte Weise nimmt bzw. aneignet.52 Offenbar hatte es eine Interessenverschiebung in der Frage nach dem korrekten Umgang mit dem Reichtum dahingehend gegeben, diesen weniger vom Nehmen als vielmehr vom Geben her zu verstehen. Ein guter Nutzen des Reichtums wurde dabei von einem schlechten Nutzen unterschieden und erst aufgrund unangemessener Konsumpraktiken wurden Vorwürfe über unrechte Vermehrung des privaten Vermögens erhoben.
48 Vgl. Liddel 2007, 269; Rohde 2009, 280–281. Nach Rohde habe sich Ende des 4. Jahrhunderts die Choregie in der Wahrnehmung vollständig aus dem Zusammenhang von finanzieller Leistung und Gemeinwohl gelöst. Als „logische Konsequenz der allgemeinen Entwicklung“ versteht Rohde die Errichtung der Agonothesie, welche die „Gemeinwohlorientierung der wohlhabenden Bürger“ besser als die als eigennützig geltende Choregie präsentiere (S. 281). Zu den Risiken der Leitourgien s. Christ 2008, 212–213 mit weiteren Literaturhinweisen. 49 Domingo Gygax 2016, 55; 155. 50 Domingo Gygax 2016, 152. 51 Vgl. Hes. erg. 225–247; 298–326; 381–382; Sol. Fr. 4.1–20; Fr. 13.7–10; Fr. 34 West. Vgl. dazu die Beobachtungen von Elke Stein-Hölkeskamp in Stein-Hölkeskamp/Hölkeskamp 2018, 50–51. Sie ordnet den Diskurs um die ungerechte Vermehrung des Vermögens in Rahmen von Konkurrenzsituationen zwischen Oikosbesitzer ein. 52 Aristot. eth. Nic. 4.1120a.
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Einer angemessenen Einstellung zum Reichtum (und auch zur Armut) wurde eine solche politische Relevanz zugesprochen, dass Thukydides seinen Perikles in der Grabrede für die Verstorbenen nach dem ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges den athenischen Umgang mit dem Reichtum preisen lässt und ihn als ein besonderes Merkmal der politeia (Verfassung) betrachtet: Reichtum (ploutos) diene bei den Athenern „der wirksamen Tat, nicht dem prahlenden Wort“ (πλούτῳ τε ἔργου μᾶλλον καιρῷ ἢ λόγου κόμπῳ χρώμεθα).53 Perikles unterscheidet hier zweierlei Nutzen des ploutos: als Mittel (kairos) zu Taten (ergon) sowie als Prunk (kompos) für die Rede (logos). Die Athener hätten sich für den ersten Gebrauch entschieden und den zweiten vermieden. In der Gegenüberstellung von ergon und logos erkennt Domenico Musti einen Unterschied zwischen Reichtum als Prestigegut und Reichtum als Anlage und Antrieb zur Arbeit.54 Mit erga seien nicht nur Werke für das Gemeinwohl, sondern auch Betriebs- und allgemeine Produktionstätigkeiten der Athener gemeint, die dank eines produktiven Gebrauchs des Reichtums finanziert werden konnten. Einer Mentalität der Akkumulation von Prestigegütern werde hier eine Ideologie der Investition des Geldes in ökonomische Aktivitäten gegenübergestellt, die den Armen zugute komme. Diese spiegele sich in den monumentalen Bauarbeiten auf der Akropolis wider, wo verschiedene Arten von Handwerkern dank des „Kapitalzuflusses“ beschäftigt werden konnten.55 Die Politik von Perikles stehe dadurch in der Traditionslinie der Politik von Solon und Peisistratos, die beide Förderer von handwerklichen Tätigkeiten gewesen seien.56 Jedoch sehe ich an dieser Stelle weniger eine Ideologie der politischen Investition, sondern eher eine Reflexion über den Nutzen des Vermögens, was an dem Verb χρώμεθα (chrōmetha, sich durch etwas Nutzen schaffen) deutlich wird, und somit auch über die Verantwortung reicher Personen gegenüber der Gemeinschaft. Die Bautätigkeiten auf der Akropolis bilden deshalb kein gutes Beispiel, weil sie auf Kosten des Gemeinwesens ausgeführt wurden.57 Perikles bezieht sich hingegen auf das private Vermögen, wie die daraus folgende Ergänzung des Strategen erklärt:
53 Thuk. 2.40. 54 Musti 1981, 102–103. So auch Faraguna 1994, 566. 55 Musti 1981, 105–106 mit Verweis auf die Schilderung der Bautätigkeiten auf der Akropolis in Plut. Perikles 12. Vgl. Ciriaci 2011, 188 Anm. 259, wo auch die Besoldung für die Ausübung politischer Rechte und die sozialen Maßnahmen (Bezahlung des Lebensunterhalts für Kranke und Alte) als Teil perikleischen Politik mit dem Ziel des ökonomischen Wohlstands und der sozialen Eintracht erwähnt werden. S. aber die Berechnungen von Pritchard 2015, 114–120: Die Liste der öffentlichen Ausgaben, welche uns über die Prioritäten des dēmos Auskunft gibt, zeigt eindeutig, dass in den 20er Jahren des 5. Jahrhunderts (sowie auch weiterhin im 4. Jahrhundert) die größten Summen für militärische Aufwendungen ausgegeben wurden. 56 Musti 1981, 104; Musti 2006, 374–376. 57 Zur Finanzierung der Bautätigkeiten s. ausführlich Marginesu 2010, 95–131.
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Für die athenische Lebensweise sei „nicht die Armut als solche schimpflich, sondern nicht zu versuchen, ihr durch Tätigkeit zu entgehen“. 58 Gemeint ist also der Umgang der Athener mit dem eigenen Reichtum und der Armut. In dieser idealen Gemeinschaft erfüllen sowohl Reiche als auch Arme dank ihrer Taten für die Polis ihre soziale Rolle. Jeffrey Rusten schreibt hierzu: „Pericles envisages a society where a man’s financial condition can serve only as a stimulus to action, either to use his wealth or to escape his poverty.“59 Erklären lassen sich diese Idealvorstellungen von Perikles durch einen Vergleich mit dem vorherigen Abschnitt der Rede, in welchem der Stratege die Besonderheiten der demokratischen politeia beschreibt: In Athen hätten demnach alle Bürger, und zwar unabhängig von irgendeiner Zugehörigkeit, gleichen Anteil am Gemeinwesen, indem sie vor dem Gesetz gleichgestellt seien und auch gleiche Chancen auf politisches Ansehen genössen.60 Sogar Armut stelle in dieser idealisierten61 Demokratie keinen Nachteil dar, weil in Athen jeder durch seine Leistungen, nicht durch seine familiäre Herkunft Anspruch auf Ruhm habe. Beiden Passagen liegt die Vorstellung zugrunde, dass allein die Verdienste für die Polis soziales Ansehen erbringen. Während die angesprochenen Leistungen der Armen mit ihrer Tätigkeit als Ruderer auf den Kriegsschiffen gleichgesetzt werden können,62 entstehen solche Verdienste, so ergänzt Perikles in der zweiten Passage, auch aus einem angemessenen Gebrauch des Reichtums. Bedeutsam ist diesbezüglich die Gegenüberstellung von kairos, dem angebrachten Nutzen, und kompos, der Prahlerei bzw. ‚Angeberei‘: Der Reichtum soll nach Perikles idealerweise nur Ersterem, nicht Letzterem dienen. Die sozialen Vor- und Nachteile, die ein ‚richtiger‘ oder ‚schlechter‘ Umgang mit dem privaten Vermögen nach sich ziehen, werden in einer sophistischen Schrift behandelt, welche vermutlich aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts stammt und im Rahmen des Werkes Protreptikos („Aufruf zur Philosophie“) von Iamblichos anonym überliefert ist.63 Das Ausgabeverhalten des Einzelnen wird dabei von der Gerechtigkeit der politischen Ordnung und von der Existenz sozialen 58 Thuk. 2.40: καὶ τὸ πένεσθαι οὐχ ὁμολογεῖν τινὶ αἰσχρόν, ἀλλὰ μὴ διαφεύγειν ἔργῳ αἴσχιον (Übers. Landmann). 59 Rusten 1985, 17. Rusten erkennt in Thuk. 2.40.1–2 eine Unterscheidung zwischen den individuellen Tätigkeiten zum Erwerb von Reichtum und denen im Sinne von Philosophie und Politik. 60 Thuk. 2.37.1. 61 Vgl. Mann 2007, 163: „Privater Reichtum stellte für die Rangordnung innerhalb der athenischen Gesellschaft ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Kriterium dar. Daran änderte auch die Einführung der Demokratie nichts, und der thukydideische Perikles übertreibt sicherlich […], wenn er die Statusrelevanz von Reichtum in Frage stellt.“ 62 Vgl. Thuk. 2.42.4. 63 Zur Datierung des Werkes halte ich die Position von Michela Lombardi, dass es sich um eine Schrift aus den letzten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts handelte, für überzeugend. S. Lombardi 1997, 270–271; Lombardi 2011, 143. Ciriaci 2011, 64–74 hat aufgrund sprachlicher und stilistischer Argumente eine Datierung auf das Ende des 5. Jahrhunderts vorgeschlagen. Für die Forschungsgeschichte zu dieser Schrift s. ebenfalls Ciriaci 2011, 28–51.
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Vertrauens abhängig gemacht.64 Hier ist nicht vom ploutos, sondern allgemein von χρήματα (chrēmata) die Rede, und zwar von „Vermögen“ und im engeren Sinne von „Gebrauchsgütern“.65 Es geht außerdem nicht explizit um die demokratische (Ideal-)Praxis, wie im Fall der Rede des Perikles, sondern um die Gegenüberstellung zwischen einer ‚guten‘ und einer ‚schlechten‘ Ordnung. Im Falle einer guten Ordnung, εὐνομία (eunomia, welche nach ihrem etymologischen Ursprung vom Verb νέμεσθαι mit einer gerechten Verteilung des Gemeinguts unter den Bürgern gleichzusetzen ist), sei das auf den Gesetzen beruhende Vertrauen von großem Gewinn für das Gemeinwesen, weil dadurch das Vermögen „gemeinsam“ wird (κοινὰ γὰρ τὰ χρήματα γίγνεται ἐξ αὐτῆς), d. h. es wird zugunsten des Gemeinwohls genutzt. In diesem idealen Zustand widmen sich die reichen Bürger ganz ihren eigenen Geschäften (ἔργα) und nicht politischen Tätigkeiten (πράγματα), woraus ökonomische Vorteile entstehen, welche auch den Bedürftigen dank der gegenseitigen sozialen Kontakte und des Vertrauens (διὰ τὴν ἐπιμειξία66 τε καὶ πὶστιν) zugutekommen. So genügt das Vermögen, auch wenn es von geringer Größe ist, weil es „umläuft“ (τὰ χρήματα … κυκλούμενα). Dass hier von konkreten Ausgaben des privaten Vermögens die Rede ist, zeigt die weitere Darstellung der politischen und sozialen Lage, welche im Fall einer ungerechten Ordnung, ἀνομία (anomia), eintritt.67 Die Bürger einer Stadt, die sich von Krieg, Bürgerkrieg und politischen Krisen bedroht fühlen, beschäftigen sich mit politischen Angelegenheiten (πράγματα) und vernachlässigen ihre eigenen Geschäfte (ἔργα).68 So sind Menschen in reichen Verhältnissen Gefahren ausgesetzt, während sich die Lage der Bedürftigen verschlechtert. Aufgrund ihres Misstrauens und mangelnder Kontakte häufen die Reichen das Vermögen nur an und teilen es
64 VS 89, 7.1–7. 65 Für die Interpretation von χρήματα im Sinne von „Gebrauchsgüter“ (χρήσιμα) s. Lombardi 2011, 132–134. Sie lehnt Mustis und Faragunas Verständnis des Begriffs als „Geld“ ab. 66 Untersteiner 1967, 135 übersetzt den Begriff ἐπιμειξία mit „commercio“ (Handel) und versteht die Passage dadurch als ein Lob der Investition privaten Vermögens in ökonomische Tätigkeiten, die dem „Proletariat“ eine Beschäftigung ermögliche. Es handelt sich hierbei um eine modernistische Sichtweise. Der Begriff ἐπιμειξία kommt in Kontexten vor, in denen von sozialen Kontakten und Austausch die Rede ist. Zur allgemeinen Bedeutung des Begriffs als „Austausch“ im weitesten Sinne s. Lombardi 1997, 279–280; Lombardi 2011, 134–135. 67 VS 89, 7.7–12. 68 Faraguna 1994, 587 erkennt hierbei eine Gegenüberstellung des homo oeconomicus mit dem homo politicus, die für eine politische Position des Anonymen im Sinne einer gemäßigten Demokratie mit einer begrenzten Teilnahme der Bürger an der Politik stehe. In dieselbe Richtung geht auch die Interpretation von Lombardi 1997, 283–285; Lombardi 2011, 144; 147 identifiziert den Anonymen mit einem Aristokraten, der für eine gemäßigte Demokratie plädiere, aber zugleich die konservativen Aristokraten auf ihre sozialen Verpflichtungen hinweise. Mit πράγματα sind aber meines Erachtens vornehmlich die zusätzlichen und für den Einzelnen als Last empfundenen Tätigkeiten in den Gerichten gemeint. S. auch die Überlegungen von Ciriaci 2011, 190–195, der auf die politischen Umwälzungen und Unruhen am Ende des 5. Jahrhunderts verweist.
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nicht (τά τε χρήματα … ἀποθησαυρίζουσιν ἀλλ’οὐ κοινοῦνται). So wird das Vermögen knapp, auch wenn es ausreichend vorhanden ist. Schließlich kommen Tyrannen an die Macht, welche die Unterstützung und den Schutz der Bedürftigen übernehmen.69 Ein ähnliches Bild kommt auch in einem weiteren Fragment des Sophisten Antiphon vor. Hier wird die Geschichte eines reichen Mannes erzählt, der keinen Kredit gewährt und stattdessen seine Schätze so lange vergraben hält, bis diese gestohlen werden. Als er mit Verzweiflung darauf reagiert, wird ihm geraten, so zu tun, als ob nichts passiert wäre: Der Dieb habe gar keinen Schaden verursacht, weil vergrabene Schätze ohnehin keinen Nutzen erbrächten.70 Auch in dem frühen platonischen Dialog Euthydemos ist zu lesen, dass Reichtum (πλοῦτος) und Besitz (κτῆσις) per se nichts Gutes darstellen, sondern nur im Fall eines richtigen Gebrauchs (ὀρθῶς χρῆσθαι) nach Einsicht (φρόνησις) und Weisheit (σοφία) gewinnbringend sind und glückselig (εὐδαίμονες) machen.71 In der Tragödie Hiketiden (Die Schutzflehenden) von Euripides (421) ist von „nutzlosen Reichen“ (οἱ ὄλβιοι ἀνωφελεῖς) die Rede sowie von den sozialen Folgen ihrer Nutzlosigkeit, nämlich Zwietracht zwischen Reichen und Armen.72 Hinter all diesen Schriften verbirgt sich die Vorstellung, dass aus privatem Vermögen ein Nutzen entstehen kann, wenn es nicht angehäuft, sondern stattdessen in Umlauf gebracht wird. Gemeint ist damit nach Musti die Bezahlung von Arbeitsleistungen, welche eine Umverteilung des Geldes zur Folge habe. 73 In Anlehnung an Musti versteht Michele Faraguna die Textpassage des sogenannten Anonymus Iamblichi ebenfalls als Beleg für die sozioökonomischen Folgen von „Investitionen“ in produktive Tätigkeiten und verweist dabei auf einige Passagen aus dem Areopagitikos von Isokrates (nach 355), in welchem es um die ökonomischen Vorteile der antiken politischen Ordnung (patrios politeia) geht.74 Hier heißt es, dass damals die reichen Bürger den ärmeren Mitbürgern Ländereien für eine geringe 69 VS 89, 7.12–14. 70 VS 87, 54. 71 Plat. Euthyd. 280b–282a. Vgl. Xen. oik. 1.9: Σὺ ἄρα, ὡς ἔοικε, τὰ μὲν ὠφελοῦντα χρήματα ἡγῇ, τὰ δὲ βλάπτοντα οὐ χρήματα. – „Du betrachtest also, wie es scheint, das Nützliche als Besitztum“ (Übers. Gert Audring). 72 Eur. Suppl. 238–245. Vgl. Xenophan. Fr. 3 Gentili/Prato. Xenophanes bezeichnet die Prachtentfaltung (Purpurgewänder, schön verzierte Haaren, Salbenkonsum) der Kolophonier als eine „nutzlose“ habrosyne lydischer Herkunft und setzt diesen Lebensstil in Verbindung mit einer tyrannischen Herrschaft. S. dazu Geddes 1987, 317: „there is perhaps a stronger suggestion in Xenophanes that the [Colophonians] were heading for tyranny like the Lydians because they were luxurious.“ Überzeugender die Auslegung von Dorati 2003, 508: „le ἁβροσύναι ‚apprese‘ dai Lidi – non la qualità astratta ma le forme specifiche derivate dalla Lidia – non sono la causa della rovina [...] ma solo il lato visibile e il segno di una sudditanza culturale e politica rivelatasi alla lunga fallimentare.“ 73 Musti 2006, 376. Vgl. Faraguna 1994, 582–583; 586. 74 Faraguna 1994, 583. Für Lombardi 2011, 134 Anm. 26 ist denkbar, dass Isokrates in seiner Rede auf den Text des sogenannten Anonymus Iamblichi Bezug nahm. Das Datum des Areopagitikos gelte daher als terminus ante quem für die Datierung des Textes.
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Pacht überließen. Sie schickten zudem einige von ihnen zu Handelsgeschäften aus und zahlten Kredite, um den Armen Gelegenheit zu anderen Arbeiten zu geben. 75 Das moderne Konzept von „Investition“ kann jedoch täuschen. Meines Erachtens handelt es sich in der Schrift des sogenannten Anonymus Iamblichi – wie auch in der Textpassage des Isokrates – eher um die Verteilung des eigenen Vermögens (Landbesitz, aber bei Isokrates auch Geld für Kredite) zur Unterstützung von Bedürftigen und zur Pflege des sozialen Austauschs (ἐπιμειξία).76 Auf solche Aufwendungen bezieht sich auch Xenophon im Oikonomikos, in dem Sokrates am Beispiel von Kritoboulos die Pflicht der Reichen beschreibt, die Bürger zu bewirten und ihnen zu Lasten des eigenen Vermögens zu helfen.77 Michela Lombardi versteht ebenfalls das Konzept des Umlaufs und der „Vergesellschaftung“ des Vermögens so, dass dieses gemeinsam verbraucht wird. Sie verweist dabei auf das Modell Kimons,78 der laut Plutarch „die mythische Gütergemeinschaft der Zeit des Kronos“ (τὴν ἐπὶ Κρόνου μυθολογουμένην κοινωνίαν εἰς τὸν βίον) wieder einführte, indem er die Gewinne aus der Kriegsbeute zugunsten seiner Mitbürger verwendete. 79 So habe Kimon Kleider verteilt und den gemeinsamen Nutzen seines Besitzes ermöglicht, sein Haus als gemeinsame Speisehalle zur Verfügung gestellt und den Bedürftigen die Früchte seines Landes zu nehmen erlaubt. Im Gegensatz zu den Demagogen, die sich auf Kosten des Gemeinwesens bereicherten, habe er sich dabei als unantastbar und unbestechlich erwiesen.80 Lombardi erkennt dahinter ein demokratisches Konzept des politischen Nutzens von Gütern, das sich von Spenden und somit von aristokratischem Euergetismus unterscheidet.81 Letzteren kritisiert der anonyme Autor ausdrücklich, da die Verschwendung des Vermögens durch die Spenden nach einer ständigen Vermehrung des Vermögens verlange, was ohne soziale Eintracht und politische Gerechtigkeit zur Verarmung führen kann. 82 Von welcher Art von Aufwendungen noch die Rede sein kann, verdeutlichen einige Passagen aus der Nikomachischen Ethik von Aristoteles (384–322), die von 75 Isokr. 7.32 und 35. 76 S. Anm. 67. 77 Xen. oik. 2.5: … ἔπειτα δὲ πολίτας δειπνίζειν καὶ εὖ ποιεῖν, ἢ ἔρημον συμμάχων εἶναι. Auch in Xen. Lak. pol. 7.4 wird der soziale Nutzen des Vermögens angesprochen, da Xenophon behauptet, in Sparta sei die Chrematistik nicht einmal nötig, um etwas für Mitglieder der gleichen Zeltgemeinschaft aufzuwenden: Lykurg habe nämlich erklärt, dass jemand, der ihnen durch körperliche Anstrengungen helfe, größeren Ruhm verdiene als einer, der dies durch das Ausgeben des eigenen Vermögens (δαπανᾶν χρήματα) versuche. 78 Lombardi 2011, 135; 145–146. 79 Plut. Kimon 10. 80 Plut. Kimon 10.8. 81 Lombardi 2011, 146. Vgl. Schmitt Pantel 2009, 47 mit Bezug auf den Vergleich Kimon/Lucullus bei Plutarch: „D’un même atout dans la vie, la richesse, l’un [Lucullus] choisit de faire une utilisation individuelle et privée, l’autre [Cimon] une utilisation altruiste et publique.“ Dagegen versteht Faraguna 1994, 582 die Großzügigkeit Kimons als ein Beispiel für den schädlichen Euergetismus – s. aber unten: Der anonyme Autor kritisiert die reine Verschwendung des Vermögens im Zusammenhang mit einem Klima politischer Unsicherheit. 82 VS 89, 3.4–6.
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der „Großartigkeit“ (μεγαλοπρεπεία) berichten, womit ein angemessenes Ausgeben des Vermögens gemeint ist.83 Als „angemessen“ gelten hierbei große Aufwendungen für würdige und erstaunliche Werke (τὰ ἔργα), wobei der großartige Mensch nur darauf achtet, „wie es am schönsten und würdigsten herauskommt, als darauf, was es kostet und wie man es am billigsten machen kann“.84 Gemeint sind verehrte Aufwendungen, und zwar jegliche Ausgaben für die Götter und für die Durchführung von Kulten wie die Darbietung von Weihgeschenken, Zurüstungen und Opfern. Ebenso gehörten Ausgaben für Leitourgien in Form von Choregie und Trierarchie sowie für die Organisation von Festmahlen dazu. Auch im privaten Bereich (τῶν δὲ ἰδίων) gebe der Großartige sein Vermögen nicht für sich selbst (οὐ … εἰς ἑαυτόν) aus, sondern für das Gemeinwesen (εἰς τὰ κοινά):85 Hierzu zählen die Aufwendungen für Hochzeiten und ähnliche Gelegenheiten, welche die ganze Stadt betreffen, sowie für den Empfang und die Verabschiedung der Gäste durch den Austausch von Geschenken und Gegengeschenken.86 Als sozial akzeptabel gelten bei Aristoteles daher nur diejenigen Aufwendungen, welche im Zusammenhang mit Selbstbeherrschung und Anständigkeit die Reziprozität aufrechterhalten. 87 Hinter seinen Reflexionen lässt sich das Konzept der philotimia (Ehrliebe, Wetteifer) erkennen, ein, wie Nick Fisher herausgestellt hat, mehrdeutiges Konzept, das zwischen „good and bad types of philotimia“ oszilliert.88 Im Rahmen eines solchen Diskurses um soziale Reziprozität steht die Kleidung als unmittelbares Medium der alltäglichen Kommunikation unter Beobachtung. Wenn angemessene Aufwendungen für häusliche Einrichtungen in den Augen von Aristoteles noch akzeptabel sind, zumal sie statusgemäß erscheinen, 89 wird der Kleideraufwand hinsichtlich der ethischen Einstellung seines Trägers einer Prüfung unterzogen. Diejenigen, die sich mit den Kleidern schmücken (καὶ ἐσθῆτι κοσμοῦνται), sind nach Aristoteles Prahler (χαῦνοι), törichte Menschen, die dadurch ihren Wohlstand (τὰ εὐτυχήματα) sichtbar machen wollen, als ob sie dadurch Ehre und Ansehen erlangen könnten.90 Kleiderluxus galt also für Aristoteles als Zeichen der Prahlerei, was auch eine mögliche Interpretation des Begriffs kompos in der Rede des Perikles zulässt. Es stellt sich nun die Frage, von der wir bereits ausgegangen sind: Warum wird Kleiderluxus im klassischen Athen abgelehnt und als Merkmal einer tyrannischen Haltung angedeutet? Um dies zu beantworten, ist darüber nachzudenken, welche Stellung Textilien im Rahmen des bereits untersuchten demokratischen Diskurses um
83 Aristot. eth. Nic. 4.1122a. 84 Aristot. eth. Nic. 4.1122b 8–10: καὶ πῶς κάλλιστον καὶ πρεπωδέστατον, σκέψαιτ' ἂν μᾶλλον ἢ πόσου καὶ πῶς ἐλαχίστου (Übers. nach Olof Gigon). 85 Aristot. eth. Nic. 4.1123a. 86 Aristot. eth. Nic. 4.1123a. 87 Zu Leitourgien und Reziprozität s. jüngst Rohde 2009, 237–250. 88 Fisher 2003, 192. 89 Aristot. eth. Nic. 4.1123a. 90 Aristot. eth. Nic.4.1125a.
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das richtige Ausgabeverhalten einnahmen. Auch in diesem Fall bilden die Zeugnisse über das Konsumverhalten des Alkibiades eine gute Quellenbasis für die Fragestellung. 4. DER KLEIDERLUXUS DES ALKIBIADES UND DER ÖKONOMISCHE UND IDEOLOGISCHE WERT VON TEXTILIEN In den hellenistischen und römischen Biographien werden der Aufwand des Alkibiades und sein tyrannisches Verhalten konkret durch seinen Kleiderluxus veranschaulicht. Athenaios zitiert den Biographen Satyros aus Kallatis (3. Jahrhundert?), der behauptet, Alkibiades habe als Chorege in der Prozession der großen Dionysien ein purpurnes Gewand getragen, welches die Bewunderung von Männern und Frauen erregt habe.91 Laut Plutarch (um 45–vor 125 n. Chr.) soll Alkibiades in purpurfarbenen Kleidern aufgetreten sein, welche er auf der agora hinter sich herzog, was für den kaiserzeitlichen Biographen ein klares Signum einer verschwenderischen Lebensführung war.92 In beiden Kontexten handelte es sich um einen unangemessenen Habitus,93 den Plutarch zusammen mit anderen Lebensepisoden des Alkibiades als Zeichen des Tyrannischen und Fremdartigen (τυραννικὰ καὶ ἀλλόκοτα) beschreibt.94 Über die Textilien im Besitz des Alkibiades liegen uns auch epigraphische Zeugnisse vor: Hierbei handelt es sich um die fragmentarischen Listen des beschlagnahmten Besitzes bei den Konfiskationen des Jahres 414/413.95 Die Beschuldigung des Hermen- und Mysterienfrevels hatte Alkibiades nämlich nicht nur das Amt des Strategen gekostet. Zum Tode verurteilt und auf der Flucht, 96 musste er ebenso wie die anderen Beschuldigten97 den mutmaßlichen Verrat mit der Konfiskation seines Vermögens büßen. Dies war eine übliche Maßnahme, die ergriffen wurde, wenn der Verdacht der Errichtung einer Tyrannis bestand. Zum Schutz der Volksherrschaft wurden Hab und Gut des ‚Stadtfeindes‘ versteigert, der Gewinn beschlagnahmt und ein Anteil davon (laut einem Dekret des Jahres 410 ein Zehntel) der Göttin geweiht.98 In diesen Listen, welche vermutlich im Eleusinion, südöstlich
91 Satyr. F 20 Schorn (apud Athen. 12.534c). 92 Plut. Alkibiades 16.1. 93 Gegen die Annahme, dass am Ende des 5. Jahrhunderts das Tragen prächtiger Gewänder für einen choregos nichts Außergewöhnliches sei, argumentiert Fisher 2003, 189–191 dahingehend, dass dabei nur die prächtige Ausstattung des Chores und nicht die eigene Prachtentfaltung des choregos sozial akzeptiert sei. 94 Plut. Alkibiades 16.2. 95 IG I3 421–430. 96 Thuk. 6.61. 97 Liste in Pritchett 1953, 231–232. 98 And. I 96–98 über ein Gesetz aus dem Jahr 410. Vgl. Horster 2004, 80–84.
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der Agora, aufgestellt waren,99 sind neben landwirtschaftlichen Erträgen, Nutztieren, Waffen, Sklaven, Panathenäischen Preisamphoren, Möbeln, Kissen, Teppichen und anderem Hausrat auch verschiedene Gewänder und Schuhe verzeichnet: 100 35 himatia,101 ein Wollgewebe (κρόκη),102 sieben tribones,103 fünf Sklavenkleider (ἐξωμίς),104 Männerschuhe (κρηπίδια),105 lakonische Schuhe (Ἀμυκλαίδια)106 und Winterschuhe (ἀσκέρα).107 Welche von diesen Gütern zum Haushalt des Alkibiades gehörten, lässt sich infolge des Zustandes der Inschrift nicht genau sagen. Aufgrund des Vergleichs mit der Liste der konfiszierten Gegenstände des Alkibiades, die bei Pollux überliefert ist, und auf der Grundlage einer Ergänzung der Zeile 158 der Inschrift IG I3 421 kann dennoch vermutet werden, dass ein Großteil der himatia, insgesamt 30, sowie die Wollgewebe zu seinem Haushalt gehörten.108 Obgleich Wertangaben der Güter nicht erhalten sind und der Zustand der Inschrift zur Vorsicht mahnt, spricht das Zeugnis für einen deutlich überdurchschnittlichen Reichtum im Haushalt des Alkibiades,109 wie auch in den literarischen Quellen überliefert ist.110 Da jede Beschreibung der konfiszierten Textilien fehlt, lässt sich das literarische Bild vom prunkvoll gewandeten Alkibiades nicht bestätigen. Es ist aber auffällig, dass Kleidung einen großen Anteil an den konfiszierten Gütern ausmachte, sich das Vermögen also offensichtlich auch am Kleideraufwand – so an der Anzahl der im eigenen Besitz befindlichen himatia – bemaß. Diese Liste stellt daher einen eindeutigen Beleg für den ökonomischen Wert der Textilien dar, wobei die Frage offenbleiben muss, wie viele davon vom Markt111 oder aus der Mitgift der Hipparete stammten, die sich nach Plutarch auf die enorme Summe von 20 Talenten belief.112 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110
So Pritchett 1953, 234–235. Pritchett 1956. IG I3 421, 182–183; 222–249; IG I3 427, 101–105. IG I3 421, 185. IG I3 422, 120–126. IG I3 427, 106–111. IG I3 422, 246. IG I3 422, 244. IG I3 422, 163. Vgl. Mann 2007, 222–223. So Mann 2007, 223. Vgl. Xen. mem. 1.25: τοιούτων δὲ συμβάντων αὐτοῖν, καὶ ὠγκωμένω μὲν ἐπὶ γένει, ἐπηρμένω δʼ ἐπὶ πλούτῳ, πεφυσημένω δʼ ἐπὶ δυνάμει, διατεθρυμμένω δὲ ὑπὸ πολλῶν ἀνθρώπων, ἐπὶ δὲ πᾶσι τούτοις διεφθαρμένω καὶ πολὺν χρόνον ἀπὸ Σωκράτους γεγονότε, τί θαυμαστὸν εἰ ὑπερηφάνω ἐγενέσθην; – „Sie [Kritias und Alibiades] waren beide stolz auf ihre Geburt, sie waren vom Reichtum hochgetragen, sie waren berauscht durch ihre Macht, sie waren umschmeichelt von vielen Menschen, zu all dem waren sie verdorben und lange Zeit von Sokrates entfernt; wie sollte es da zu verwundern sein, wenn sie übermütig wurden?“ (Übers. Peter Jaerisch). Vgl. auch [And.] 4.30–32. 111 Reuthner 2019, 248 stellt die Hypothese auf, dass ein Teil der konfiszierten himatia des Alkibiades auf dem Kleidermarkt erworben worden sei, wo die persischen Kleider aus der Beute zum Verkauf angeboten worden sein könnten. Vgl. Anm. 117. 112 Plut. Alkibiades 8.
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Entgegen der Annahme, dass die Produkte der häuslichen Textilverarbeitung am Ende der archaischen Zeit mit dem Aufschwung des Textilhandels und der Entstehung der Marktwirtschaft an Wert verloren,113 hat Rosa Reuthner in ihrer Untersuchung über die weibliche Textilarbeit im klassischen Athen dargelegt, dass Textilien „trotz einer gewissen Ausbreitung der Geldwirtschaft mit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts […] die Funktion von beweglichem Reichtum“ behielten,114 den sie nach den Zeugnissen des homerischen Epos ursprünglich besessen hatten.115 In der Zeit, als Textilien auf dem Kleidermarkt bereits gekauft werden konnten,116 begegnen sie uns in den Schriften von Historikern und Gerichtsrednern des 5. und 4. Jahrhunderts weiterhin als Kriegsbeute, Pfand bei Leihgeschäften, beliebtes Diebesgut, umstrittenes Erbe, vor allem aber als Mitgift. Denn Textilien waren von hohem Wert, welcher zum einen vom elitären Zugriff auf Ressourcen, zum anderen von der Fertigkeit der Braut abhing, und sie dienten dementsprechend auch als wichtige Grundlage für das weibliche Prestige.117 Umgekehrt verdeutlicht die Geschichte des Marathonkämpfers Aristeides, dem Plutarch als Beispiel seiner ärmlichen Lebensverhältnisse den Besitz eines einzigen, noch dazu schäbigen tribōn (eines ärmlichen kurzen Umhangs) zuschreibt, dass sich Armut im Mangel an Kleidung ausdrückte.118 Festzuhalten ist daher, dass die konfiszierten Kleider einen erheblichen ökonomischen Wert darstellen, welcher für uns allein aus der Quantität abzuleiten ist, aber sicher auch von Faktoren wie Wollqualität, Färbemittel, Musterung und Gewebe (d. h. Zeitaufwand)119 beeinflusst wurde. Allein aufgrund ihrer
113 So van Wees 2005, 49–50. Bereits Buschor 1912, 35 hatte den Kleiderluxus mit einem „gewaltigen Aufschwung des Handels und Verkehrs“ und mit dem „Aufblühen der [textilen] Industrie“ in Verbindung gesetzt. Der Zusammenhang zwischen Urbanisierung, Luxusbedarf, Handelsaufschwung und Arbeitsteilung in der Antike findet sich auch in Meyer 1910, 116 und stimmt mit Sombart 1913, 70–206 überein. 114 Reuthner 2006, 182–190. 115 Zum Kleiderreichtum im Epos vgl. Wagner-Hasel 2000, 131–165. 116 S. Reuthner 2019, 245–247. Die Begriffe himatiopoles/himatiopolis (Verkäufer/Verkäuferin von Textilien) sind im 4. Jahrhundert in Attika epigraphisch belegt, IG II 2 1673, 46: Στεφάνου ἱματιοπώλου; 11254, 1: Ἐλεφαντὶς ⋮ ἱματιοπῶλις. Pollux (VII 78) überliefert den Begriff himatiopolis agora als Bezeichnung für das Viertel der athenischen agora, in dem Textilien zum Verkauf standen. Und wenn nicht das fertige Produkt, dann werden Färbemittel und Wolle zum Verkauf angeboten, denn Wollmärkte belegen für die klassische und hellenische Zeit die Koexistenz von häuslicher Produktion und Handel der Rohstoffe. S. Wagner-Hasel 2006, 320. 117 Dazu insbesondere Wagner-Hasel 2009, 158; 168. Vgl. Wagner-Hasel 2000, 246–260 für die archaische Zeit. Hartmann 2010, 163 schreibt den Bürgerkleidern einen hohen symbolischen Wert zu: „Ein Mann, der sich im schön gewebten Mantel auf der Straße zeigte, stellte die Fertigkeiten der Frauen und die wohl geordneten Verhältnisse seines Hauses zur Schau.“ 118 Plut. Aristeides 25.5–6. Zur Interpretation der Stelle s. Wagner-Hasel 2009. 119 Das Center for Textile Research (CTR) in Kopenhagen hat eine Methode entwickelt, die es ermöglicht, ausgehend von in archäologischen Kontexten gut erhaltenen Webgewichten die Spannung und Dichte der Gewebefäden und dadurch die Feinheit der Gewebe, d. h. den Produktionsaufwand, zu bestimmen.
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Anzahl kann man – in Anlehnung an Sombarts Konzept des „quantitativen Luxus“120 im Sinne einer „Vergeudung von Gütern“ – von „Luxusgütern“121 sprechen, die auf den sozialen Status des Trägers hinwiesen. Auch zeigt das literarische Bild des purpurgewandeten Alkibiades, dass Textilien im Prozess der Selbstverständigung der Athener hinsichtlich ihrer politischen Ordnung ein hoher diskursiver Wert zukam. Wir haben es also sowohl mit einem ökonomischen als auch mit einem ideologischen Wert der Textilien zu tun, wobei beide Werte – so lautet meine These – zusammenhängen. Dass der ökonomische Wert auch ideologisch aufgeladen war, zeigen die Äußerungen von Xenophon und Aristoteles über die Gewänder der spartanischen Homoioi. Nach Aristoteles tragen die Begüterten Spartas Kleider, wie sie sich auch jeder Arme beschaffen kann, was für ihn einem demokratischen Prinzip entspricht.122 In der Verfassung der Spartaner, wo es um Lykurgs Verbot jeder Gelderwerbstätigkeit für die freien Männer geht, stellt Xenophon ebenfalls die politische Bedeutung des Kleideraufwandes heraus: „Warum auch sollte man dort nach Reichtum trachten, wo er durch die Festsetzung gleicher Beiträge zu dem gemeinsamen Lebensunterhalt und durch eine Lebensweise in Gleichheit erreichte, dass man nicht nach Reichtum strebte, um sich ein angenehmes Leben zu machen? Aber nicht einmal wegen der himatia müssen sie verdienen, weil nicht mit dem kostspieligen Aufwand für Kleider (ἐσθῆτος πολυτελείᾳ), sondern mit einem gesunden Körper schmücke man sich.“123
Die Aufwendungen für Kleider stehen hier im Zusammenhang mit einem eigennützigen Streben nach Reichtum, mit der Anhäufung von Vermögen und der Chrematistik sowie im expliziten Gegensatz zu einer Lebensweise in Gleichheit.124 Der dafür verwendete Begriff polyteleia gehört – wie oben bereits gezeigt – zum Diskurs
120 Sombart 1913, 72. 121 So Hartmann 2010, 163 mit Anm. 22. 122 Aristot. pol. 4.1294b: περὶ τὴν Λακεδαιμονίων πολιτείαν. πολλοὶ γὰρ ἐγχειροῦσι λέγειν ὡς δημοκρατίας οὔσης διὰ τὸ δημοκρατικὰ πολλὰ τὴν τάξιν ἔχειν … καὶ τὴν ἐσθῆτα οἱ πλούσιοι τοιαύτην οἵαν ἄν τις παρασκευάσαι δύναιτο καὶ τῶν πενήτων ὁστισοῦν·. Vgl. Demosth. or. 3.25–26: ἰδίᾳ δʼ οὕτω σώφρονες ἦσαν καὶ σφόδρʼ ἐν τῷ τῆς πολιτείας ἤθει μένοντες. […] τὰ δὲ πρὸς τοὺς θεοὺς εὐσεβῶς, τὰ δʼ ἐν αὑτοῖς ἴσως διοικεῖν μεγάλην εἰκότως ἐκτήσαντʼ εὐδαιμονίαν. Demosthenes konstatiert die ideologische Gleichheit unter den Bürgern als Merkmal der demokratischen politeia, die er am unterschiedslosen Aussehen der Athener festmacht. 123 Xen. Lak. pol. 7.3: καὶ γὰρ δὴ τί πλοῦτος ἐκεῖ γε σπουδαστέος, ἔνθα ἴσα μὲν φέρειν εἰς τὰ ἐπιτήδεια, ὁμοίως δὲ διαιτᾶσθαι τάξας ἐποίησε μὴ ἡδυπαθείας ἕνεκα χρημάτων ὀρέγεσθαι; ἀλλὰ μὴν οὐδʼἱματίων γε ἕνεκα χρηματιστέον· οὐ γὰρ ἐσθῆτος πολυτελείᾳ ἀλλὰ σώματος εὐεξίᾳ κοσμοῦνται (Übers. nach Stefan Rebenich, Hervorhebung der Verf.). 124 Zu den soziopolitischen Voraussetzungen für die Luxusbeschränkungen in Sparta und insbesondere zur Ablehnung des Kleiderluxus s. Hodkinson 2000, 209–213; 219–220.
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um das richtige Konsumverhalten. Dies ist auch die Lehre, welche aus den Erzählungen über die Purpurgewänder des Alkibiades bei Plutarch und Satyros 125 zu ziehen ist: Sie verdeutlichen die missbilligte Prunksucht von Alkibiades,126 welche für ihn nicht ohne politische Konsequenzen blieb.127 Dadurch wird die Vorstellung eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen politischen und ökonomischen Prozessen sowie ethischen Einstellungen ersichtlich. Dies zeigt auch die Darstellung der polis tryphōsa (der üppigen Stadt) bei Platon (428/427–348/347), in der die Überschreitung des Lebensnotwendigen und das Trachten nach dem Überflüssigen eine Steigerung des Konsums mit sich bringen und die Ungerechtigkeit in die Stadt tragen.128 Als Beispiel für den von den Bewohnern dieser Stadt praktizierten Wahlbedarf129 wird hier die bunte Weberei (ποικιλία) erwähnt.130 In Anbetracht des postulierten Zusammenhanges zwischen dem Überschreiten des Lebensnotwendigen und dem Ursprung der Ungerechtigkeit erklärt sich auch ein bestimmtes Verbot in den Gesetzen Platons: Danach war es nicht gestattet, als Mitgift je nach Zugehörigkeit zu einer von vier Vermögensklassen einen höheren Wert als 50 Drachmen, eine Mine, anderthalb oder zwei Minen zur Kleiderausstattung auszugeben. Ansonsten würde man der Kasse des Gemeinwesens dieselbe Summe schulden.131 Eine höhere Mitgift hätte nämlich bei den Frauen Übermut hervorgerufen und die Männer zu Knechten des Vermögens gemacht, d. h. es wäre Maßlosigkeit in die Stadt eingeführt worden. Wie einer Stelle bei Theophrast (ca. 371/370–287/286) zu entnehmen ist, verlieh nämlich eine hohe Mitgift Anspruch auf weiteren Aufwand und damit auf einen Konsum zum eigenen Genuss.132 Kleider spielten daher eine zentrale Rolle im Rahmen des Diskurses um den gerechten Konsum. Der Kleiderluxus spiegelte eine Lebensweise wider, in der das Vermögen zur Prahlerei und zum Müßiggang genutzt wurde. Dies betraf sowohl Einzelne, wie Alkibiades, als auch das Gemeinwesen, so laut Thukydides die Athener der Vergangenheit. Über die Entstehung eines solchen Diskurses im Zusammenhang mit der am Anfang dieses Beitrags erwähnten Veränderung der athenischen Tracht um die Mitte des 5. Jahrhunderts möchte ich abschließend einige Hypothesen aufstellen.
125 S. o. 126 Vgl. Hippias FGrHist 421 F 1 über den antidemokratischen Putsch in Ortyges, der die Pracht der Gewalthaber für das Streben nach Mehrbesitz und Macht veranschaulicht. 127 Vgl. Fisher 2003, 190. 128 Plat. rep. 2.372c–374d. Der spezialisierte Konsum ist bei Platon Zeichen einer „aufgeschwommenen“ Stadt (372e 8: φλεγμαίνουσα πόλις). 129 S. auch die gründlich erforschte Topik des Fisch-Konsums in der altattischen Komödie in Davidson 1999, 25–57.Vgl. Möller 2011. 130 Plat. rep. 2.373a. 131 Plat. leg. 774c–e. 132 Theophr. char. 28. Vgl. auch die Darstellung des von der Ehefrau des Strepsiades betriebenen Aufwandes in Aristoph. Nub. 46–55. S. Anm. 27.
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5. DIE IDEALE SCHLICHTHEIT DER ATHENISCHEN KLEIDER Zur Einordnung des politischen Diskurses um die Kleider sind meines Erachtens die politischen Transformationen zu berücksichtigen, welche die Vormachtstellung Athens im Attisch-Delischen Seebund mit sich brachte. Der athenische Expansionsdrang hatte zu einer stärkeren Politisierung der Athener geführt. Zum einen förderte das vom Militärischen geprägte Leben zusammen mit der Mobilität der Flotte die Bindung an das politische Zentrum und dadurch auch die Herausbildung einer Bürgeridentität, die nun durch die gemeinsamen Erlebnisse umso mehr auf der politischen Gleichheit aller Bürger beruhte. Zum anderen führten die Herausforderungen der ‚imperialen‘ Politik zu einer Erweiterung der Partizipation am Politischen, während ihre Profite eine Besoldung für die Teilnahme an demokratischen Gremien ermöglichten.133 So stand die Ausübung der demokratischen Praxis, welche seit den Reformen des Ephialtes die Form einer radikalen Demokratie angenommen hatte, in vielerlei Hinsicht in Verbindung mit der athenischen Vormachtstellung (archē). Während die Herrschaftsrhetorik auf jegliche moralischen Argumente zur Legitimation der Machtverhältnisse zu verzichten schien, nahm der „radikale Utilitarismus“134 der Athener offensichtlich auch die Ausbeutung der Bundesgenossen zum Wohl der Polis in Kauf. Die Tribute auf der Orchestra des Dionysos-Theaters mussten eine beeindruckende Vorstellung dieser Gewinne gewesen sein, wobei die Frage nach der Gerechtigkeit der Einnahmen im Hintergrund blieb. Vielmehr gewann die Frage nach der Umverteilung der Erträge der Seeherrschaft an politischer Relevanz. Die Komödien von Aristophanes belegen insofern die Bedeutung eines solchen demokratischen Diskurses, als dass die Handlungen des Dēmos in den Rittern von tyrannischer135 Gier geprägt sind und Antikleon in den Wespen die Formen der sozialen Verteilung der Profite kritisiert.136 Dies erklärt auch die politische Relevanz des Vorwurfs der Korruption,137 wobei nicht die Illegitimität der Einnahme per se, sondern eher die Monopolisierung von Vorteilen zum Schaden des dēmos als störend für das soziale Gleichgewicht empfunden wurde. Das Thema der Korruption muss ebenfalls an Relevanz gewonnen haben im Zusammenhang mit den
133 Vgl. die Analyse von Flaig 2005, 52–53. 134 Flaig 2005, 54. 135 Vgl. Kopp 2015, der in der Komödie eine Darstellung des Dēmos als eine des persischen Großkönigs herausarbeitet. 136 Aristoph. Vesp. 666–685. 137 Vgl. Mann 2007, 153: „Doch in der athenischen Literatur des 5. Jahrhunderts ist Korruption ein solch häufiges Thema vor allem in der Komödie, aber auch in anderen Gattungen, daß dies ein Reflex auf die politische Realität sein muß: nicht unbedingt in dem Sinne, daß Korruption im System der athenischen Demokratie ein größeres Problem war als in anderen Zeiten und Ländern, wohl aber in dem Sinne, daß die politische Auseinandersetzung in Athen von dem Vorwurf der Korruption durchdrungen war. Offenbar wurde reichen Athenern pauschal unterstellt, ihren Wohlstand mit unlauteren Mitteln erworben zu haben, und der Reichtum eines Angeklagten stellte nach manchen Texten eine Hypothek für diesen dar.“
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neuen Verwaltungsaufgaben der archē, welche zu einer Rationalisierung der Ausgaben im Bereich der Polis und des oikos (Haushalt) führten.138 Dank der archē stand Athen außerdem im Zentrum eines Zuflusses von Luxusgütern, der offenbar auch den Kleidungsstil (σχῆμα) betraf.139 In diesem Kontext scheint es mir plausibel, dass auch die Kleidung der Bürger verstärkt der demokratischen Rhetorik der politischen Gleichheit unterlag. Hohe Ausgaben für Kleidung waren in diesem Kontext verdächtig, zum einen, weil der Aufwand als Motiv für die Einnahme öffentlichen Geldes angesehen werden konnte, und zum anderen, weil solche Aufwendungen nur der „Prahlerei“ des Einzelnen dienten und sich deshalb der Maßlosigkeit des Tyrannen annäherten. Der demonstrative Konsum der Beschuldigten für den Hermen- und Mysterienfrevel bestätigt aus antiker Sicht diese enge Verknüpfung zwischen Konsumverhalten und Zugehörigkeit zu oligarchischen Zirkeln. Die Beschlagnahme des Vermögens der Verschwörer kann in diesem Sinne wohl als Wiederherstellung der gefährdeten Ordnung verstanden werden, da dieser Reichtum durch die Versteigerung nun dem Gemeinwohl dienen konnte. 6. FAZIT: LUXUS – NUR PROTZ UND PRUNK? Der Diskurs über das Konsumverhalten des Alkibiades zeigt, dass Luxus den dēmos zu beeindrucken vermochte und für Aufmerksamkeit sorgen konnte, in der politischen Kommunikation jedoch auch angeprangert werden konnte.140 Kleiderluxus wurde in diesem Kontext als Protz semantisiert: ein unnötiges Gut, das die undemokratische Haltung des Trägers offenlegte, sowie eine reine Verschwendung, die keinen Nutzen außer der Selbstbehauptung hatte. Deshalb spielt der Luxuskonsum eine wichtige Rolle in den antiken Biographien, um nicht nur den sozialen Status, sondern vielmehr ethische und politische Einstellungen des Trägers darzulegen. Dies ist besonders ersichtlich in der Rhetorik um die Kleidung, die als biographisches Kennzeichnungsmerkmal verstanden werden kann. Der Luxuskonsum stellt daher im Diskurs um das richtige Ausgabenverhalten im klassischen Athen keinesfalls eine sinnvolle Investition des Vermögens dar, sondern eine reine Vergeudung 138 Faraguna 1994, 572–576. Er verweist dabei auf die ökonomische Bedeutung des Begriffs ἀκρίβεια (Genauigkeit, Sorgfalt, aber auch Sparsamkeit) sowohl mit Bezug auf die Verwaltung der Kasse des Gemeinwesens als auch auf die Haushaltsführung zur Zeit der athenischen archē und als Voraussetzung für die ökonomischen Reflexionen des 5./4. Jahrhunderts (vor allem von Xenophon und Aristoteles). 139 [Xen.] Ath. pol. 2.7. 140 Mann 2007, 142–153 deutet den Verzicht auf Pferdesport und den um die Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert nachweisbaren Rückgang der Ausgaben für Grabluxus und Wohnluxus als Hinweis auf den normativen Druck seitens des athenischen dēmos, welcher die öffentliche Demonstration ökonomischer Ungleichheit auf der politischen Bühne nicht geduldet habe. Nach Meister 2020, 357–360 ist hingegen der ostentative Einsatz von persönlichem Reichtum in der athenischen Demokratie eine Strategie der Selbstinszenierung, welche nicht auf die Kritik des Volks, sondern nur auf die der potentiellen Demokratiegegner und „Peers“ stieß.
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desselben, welche die soziale und politische Ordnung gefährdet. Nichts könnte weiter entfernt sein von Werner Sombarts Auffassung des Luxus als einer ökonomischen Ressource. ABKURZUNGSVERZEICHNIS VS: Hermann Diels/Walther Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 2, Berlin 181996.
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LUXUS IN DER POLITISCHEN DEBATTE DES ANTIKEN ROM Anabelle Thurn, Freiburg 1. DIFFAMIERUNGEN ANHAND DES LUXUSVORWURFS Im lateinischen Sprachraum kommt man scheinbar der Wurzel des Luxus auf die Spur – zumindest etymologisch entspringt der Begriff dem luxus (-us, m.), der üppigen Fruchtbarkeit bzw. dem üppigen Wachstum der Gewächse und des Erdbodens. Auf die Gesellschaft übertragen steht er für Ausschweifung, Liederlichkeit, für übermäßige Verschwendung und Pracht in Essen, Trinken, Kleidung, Schlemmerei, kurz: in überflüssigem Aufwand.1 Er zeichnet sich als Gegensatz zu temperantia (der Maßhaltung) und frugalitas (der Mäßigkeit bzw. Enthaltsamkeit) aus. Spätestens seit der späten Republik sind luxuria bzw. luxuries als Vergnügungssucht, Genusssucht oder Prunkliebe belegt. In den Altertumswissenschaften hat diese negativ konnotierte luxuria ihren lexikalischen Niederschlag als Grenzüberschreitung oder Exzess gefunden und wird dabei insbesondere auf die Lebensführung bezogen. Hier wird sie als Laster geführt, da sie in der Regel mit Prahlerei und Verschwendung in Verbindung trete.2 Besondere Berühmtheit hat Ciceros Gegenüberstellung von verachtenswertem individuellem Luxus – privata luxuria – und achtbarer, dem Allgemeinwohl dienenden Prachtentfaltung – publica magnificentia – erlangt.3 Ausgehend von Thorstein Veblens Konzept des „demonstrativen Konsums“ als Mittel der Elitenbildung, ordnet Elke Hartmann die magnificentia publica in eine „euergetische Dimension“, die luxuria privata in eine „ornamentale Dimension“ des Konsums ein. Beinhaltet die Erstere „was im Rahmen der Erfüllung vom Amtspflichten oder zur Versorgung bzw. Unterstützung der plebs urbana an Mitteln aufgebracht wird“, umfasst die Letztere „was den Rang einer Person ausweist, die Person schmückt und für die Umwelt als einer bestimmten Gruppe zugehörig ausweist“.4 Innerhalb dieser „ornamentalen Dimension“ steht hier der negativ kon-
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Gowers 1993, 13 weist auf die Verbindung von üppigem Pflanzenwachstum und der vor Luxus strotzenden res publica bei Plinius d. Ä. hin (nat. 18.17: luxuriantis rei publicae). So Corbier 1999, 534. Cic. Mur. 76: odit populus Romanus privatam luxuriam, publicam magnificentiam diligit. Zum Zwecke der Heuristik wird die „ornamentale Dimension“ (I) von der „euergetischen Dimension“ (II) und der „sozial-investiven Dimension“ des Konsums (III) unterschieden. S. Hartmann 2016, 155. Dass Cicero selbst eine Graduierung der luxuria vornimmt, also gewissermaßen eine Differenzierung innerhalb einer ornamentalen Dimension, zeigt beispielsweise Pis. 67, s. u.
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notierten luxuria privata der positiv konnotierte decor gegenüber. Dies deutet ein Spannungsfeld an, das im Folgenden genauer betrachtet werden soll. In der politischen Debatte der römischen Republik wurde luxuria zum Argument des persönlichen Angriffs, der Diffamierung. Einen reichhaltigen, elaborierten Fundus solcher systemischen Beleidigungen findet sich in Ciceros politischen Reden, die darum im Zentrum dieser Betrachtung stehen. Dass luxuria zu einem beleidigenden, rhetorischen Argument werden konnte und musste, lässt sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und historischer Rahmenbedingungen der römischen Republik erklären. Denn das Argument der Diffamierung ist eingebettet in einen Moraldiskurs, der darauf zielte, Konkurrenz innerhalb der Senatsaristokratie einzuhegen.5 Vor dem Hintergrund der Expansion, die sowohl die konsensual ausgerichtete Senatsaristokratie als auch die ursprünglich auf die urbs ausgerichteten Verwaltungsstrukturen herauszufordern begann, wird Luxuskonsum als „Konflikt um die Verteilung und um die Partizipation an den Genüssen des Weltreiches“ verstanden.6 An zwei Beispielen aus Ciceros Reden gegen seine politischen Kontrahenten, Lucius Calpurnius Piso und Lucius Sergius Catilina, wird im Folgenden eruiert, welchen Stellenwert übermäßiger Protz und Prunk in politischen Auseinandersetzungen der spätrepublikanischen Gesellschaft des 1. Jahrhunderts7 besaß. Diese späte römische Republik gilt als Krisenzeit, in der sich gesellschaftliche Spannungen angestaut hatten und schließlich im Untergang der Republik und dem Übergang zur monarchischen Ordnung des Principat (der Kaiserzeit) kulminierten. Ein nicht geringer Anteil an diesen sozialen Spannungen kommt dem Bestreben von Mitgliedern der Senatsaristokratie zu, sich gegenüber den ebenbürtigen Mitgliedern der Elite hervorzutun. Vielleicht sind es gerade individuelle Ambitionen und Gelegenheiten, die persönliche Dignität (dignitas) und Autorität (auctoritas) in zuvor ungesehenem Maße zu überhöhen, die den Weg bereiteten für den Umbruch von der aristokratischen zur monarchischen Herrschaft in Rom. Dem Phänomen liegt das Bestreben nach sozialer Distinktion zugrunde. Für die römische Republik kann ein nach außen repräsentierter Wohlstand als zentrales elitenbildendes Distinktionsmerkmal verstanden werden.8 Vermögen war in Rom allein schon deshalb statuskonstituierend, da der Zugang zum Senat und damit die Zugehörigkeit zur Senatsaristokratie über einen Mindestzensus geregelt war.9 Gleichzeitig kennen wir bereits aus der Mittleren Republik Gesetze, die zur Beschränkung des Aufwands erlassen wurden. Zum Beispiel werden den Ausgaben für Kleidung, Schmuck, 5 6 7 8
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Dazu Wagner-Hasel 2017, 146. Wagner-Hasel 2017, 146–147. Sämtliche Zeitangaben datieren v. Chr. Gerade im Konsum waren Vermögen und Sozialprestige miteinander verwoben, so Hartmann 2016, 150 sowie 151 mit Verweis auf Mratschek-Halfmann 1993, 232: Reichtum korrelierte mit Wertbegriffen wie nobilitas, virtus, peritia und honores, während Verarmung Sittenlosigkeit, fehlende mores und daraus folgend unehrenhaftes Handeln implizierte. Für den senatorischen Mindestzensus s. z. B. Nicolet 1976, 144–174. Für die Möglichkeiten des sozialen Auf- und Abstiegs, der durch Vermögensgewinn und -verlust ungeahnt dynamisch ausfallen konnte, s. Hartmann 2016, 147 mit Verweis auf Klingenberg 2011, 50–55.
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Transportmittel oder das Gastmahl Obergrenzen gesetzt.10 Des Weiteren ist mit der zensorischen Rüge auch ein Instrument bekannt, um auf Einhalt solcher Gesetze zu dringen.11 Nicht nur in der Theorie konnte im republikanischen Rom eine zu üppige, lasterhafte Lebensführung zum Ausschluss aus dem Senat führen.12 In dieser spannungsgeladenen Zeit nahm die politische Kommunikation an Verve, aber auch Bissigkeit zu. Wesentliches Kommunikationsmittel in der politischen Auseinandersetzung war die ‚öffentliche‘ Rede,13 die dazu diente, die eigene Dignität und Autorität zu erhöhen, oder aber die Dignität und Autorität politischer Gegner anzugreifen.14 Luxus wurde dabei zu einem Argument, das sowohl zur kontrastiven Selbstinszenierung als auch zur Diffamierung anderer in vielfältiger Weise genutzt wurde. Auch in Rhetorikhandbüchern, in denen Anweisungen vorzufinden waren, mit welchen Argumenten der Diffamierung einem politischen Gegner Lasterhaftigkeit angekreidet werden könne, wird luxuria geführt. Hier findet sie sich in Gesellschaft von Lastern wie amentia (Wahnsinn), avaritia (Habgier), impudentia (Schamlosigkeit/Unverschämtheit), libido (Begierde), audacia (Dreistigkeit), furor (Raserei) oder crudelitas (Grausamkeit).15 Der wortgewandte Anwalt und Politiker Cicero nutzte den expliziten Vorwurf luxuria in Reden gegen seine politischen Gegner, um sie zu diskreditieren, um sie zu unwürdigen Mitgliedern der Senatsaristokratie und ungeeigneten Amtsträgern zu erklären. Auch luxuria wird von Cicero als rhetorisches Argument in dem Be-
10 Eines der bekanntesten Gesetze zur Aufwandsbeschränkung liegt gewiss in der lex Oppia von 215 vor, Culham 1982. Zu erwähnen wären des Weiteren die lex Orchia de censis von 182 oder die lex Fannia cibaria von 161, Baltrusch 1989, 77–85. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen politischen Entstehungshintergründe und adressierten Lebensbereiche legen solche Gesetze zur Aufwandsbeschränkung aufgrund ihrer Existenz Zeugnis über ihre Notwendigkeit ab. Ihnen ist gemein, dass sie der Eindämmung von Vermögensverschwendung dienten, Baltrusch 1989, 102. 11 Die nota censoria konnte den sozialen Status von Bürgern verändern, einen Bürger beispielsweise aus dem Senatorenstand entfernen. S. dazu und zum Zusammenhang der nota censoria mit möglichen Folgen für die politische Laufbahn der Gerügten den Lexikoneintrag von Gizewski 2000 sowie Bur 2018, 150. 12 Zum Phänomen der Infamie und deren Verfahren im republikanischen und frühkaiserzeitlichen Rom Bur 2018. 13 Von Öffentlichkeit kann für die untersuchte Zeit, wie Eich (2000, 382) gezeigt hat, nicht gesprochen werden. Ciceros Reden sind zudem vor wechselndem Publikum wie dem Senat oder der Volksversammlung gehalten worden. Nichtsdestotrotz sind die Reden – sogar, wenn sie niemals gehalten, sehr wohl aber verschriftlicht wurden – für ein breites Publikum konzipiert und dienen der Verbreitung einer bestimmten Meinung bzw. dem Erreichen bestimmter politischer Ziele. 14 Dass in der antiken Rhetorik regelmäßig Lob und Tadel einander gegenübertreten, findet seine theoretische Grundlage im Prinzip des wirkungsvollen Tadelns (lat. vituperatio, griech. psogos): die Erwähnung (eigener) lobenswerter Charakterqualitäten dient dabei zur Kontrastierung anderer, fremder tadelnswerter Charaktereigenschaften, dazu Koster 1980, 17; Schmidt 2001, 958; Weißenberger 2001, 957; Corbeill 2002, 199–200; Powell 2007, 4. 15 Dazu Merrill 1975, 12; 203.
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mühen genutzt, das Urteil über Mitglieder der Senatsaristokratie zu lenken bzw. das eigene Prestige zu mehren.16 2. DAS BEISPIEL PISO: GRENZEN DES STATUSANGEMESSENEN KONSUMS Ein Beispiel findet sich in der berühmten Invektive gegen Piso, einer Rede Ciceros vor dem Senat aus dem Jahr 55. Hier spricht er die Senatoren direkt auf Pisos luxuria an. Es ist eine Aufforderung an die Zuhörer: Denn gerade Pisos „Genusssucht (luxurie[s])“, warnt Cicero, „dürft ihr nicht zu freundlich beurteilen!“17 Denn es sei notwendig, Pisos spezifische Genusssucht nicht mit einer weniger schändlichen Form der Genusssucht zu verwechseln. So führt er weiter aus: „Es gibt ja noch eine Spielart der Genusssucht, die – obwohl sie eigentlich immer lasterhaft und schändlich ist – einem anständigen und freien Mann eher ansteht.“18 Es wird deutlich, wie der luxuria-Begriff hier zwischen einer zulässigen statuskonstituierenden, feinen Lebensweise (decor) und einer unzulässigen Übersteigerung (luxuria privata) changiert.19 Cicero macht kurz zuvor deutlich, dass Piso jener zweiten, verwerflichen luxuria anheimgefallen sei, denn er betont in einer langen Reihe klassischer Vorwürfe invektiver Rede, dass niemand als genusssüchtiger gelte als Piso (nihil luxuriosius).20 Weiter entwickelt Cicero das Argument, indem er schlussfolgert, dass Piso, wenn er dem Laster der besonders negativen Genusssucht nicht widerstehen könne, seinen Anspruch auf Freiheit (liber) und Anstand (ingenuus) verwirke.21 Ciceros Argumentation gibt uns einen tieferen Einblick in die Haltung der römischen Aristokratie: Während eine bestimmte Zurschaustellung des Wohlstandes und der Prachtentfaltung auch im eigennützigen Raum (also als decor) tolerabel
16 Dazu Hildebrandt in diesem Band mit Verweis auf Edwards 1993. Walter (2014, 103) nennt rhetorische Angriffe gegen „moralische Dekadenz durch Reichtum und Luxusgüter“ und damit das luxuria-Argument zu Recht „Handwerkszeug im politischen Tageskampf um Posten und Prestige“. 17 Cic. Pis. 67: Luxuriem autem nolite in isto hanc cogitare. est enim quaedam quae, quamquam omnis est vitiosa atque turpis, est tamen ingenuo ac libero dignior. 18 Diesen Aspekt der Passage diskutiert Hildebrandt in diesem Band mit einer Einordnung in Bourdieus Habitus-Begriff. Auch sie stellt den rhetorischen Charakter des Vorwurfs eines „schlechten Geschmacks“ ausgerechnet gegen Piso heraus, da er doch einer der vornehmsten Familien Roms entstammte. 19 Für die funktionale Unterscheidung des decor von der luxuria privata innerhalb einer ornamentalen Dimension des demonstrativen Konsums Hartmann 2016, 155. Interessant sind dazu auch Überlegungen von Lupi in diesem Band zur dapanē in der griechischen Literatur. 20 Cic. Pis. 66: (…) nihil scitote esse luxuriosius, nihil libidinosius, nihil protervius, nihil nequius. – „[…] dann müßt ihr wissen, daß es nichts Ausschweifenderes, nichts Genußsüchtigeres, nichts Verworfeneres, nicht Schlechteres gibt als ihn“ (Übers. Manfred Fuhrmann). In dieser Aufzählung ist luxuria lediglich einer von vielen Vorwürfen. Dass Cicero luxuria dann aber herausgreift, verleiht ihr besonderes Gewicht. 21 Dazu auch Hartmann 2016, 153.
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zu sein schien, ja eine Notwendigkeit war, bewegten sich die Senatsaristokraten auf einem schmalen Grat zwischen dieser und luxuria. Denn sie hatten kaum eine andere Wahl als gegen eine luxusnivellierende ‚öffentliche‘ Meinung zu verstoßen, wenn sie den an sie gestellten Ansprüchen an die Teilhabe am Konsum, die einer sozialen Haltung gleichkam, gerecht werden wollten.22 Zumindest im Dienste der charakterbezogenen Diffamierung – wie Cicero sie virtuos betreibt – war es argumentativ ein Leichtes, das Pendel hin zu ‚Verdorbenheit‘ und ‚Lasterhaftigkeit‘ (luxuria) ausschwenken zu lassen. In seinen Reden instrumentalisiert und forciert Cicero regelmäßig Wertekonflikte der spätrepublikanischen Gesellschaft.23 Die Genusssucht steht in einem Konflikt zu den althergebrachten römischen Werten, den mores maiorum, die sich durch Frugalität und Enthaltsamkeit auszeichneten.24 Im Gegensatz zu diesen in die Vergangenheit projizierten Werten wurde die lasterhafte luxuria als neu dargestellt. Aus dem griechischen Osten hätte das römische Militär sie einst ‚eingeschleppt‘ und nun führte sie – einmal in Rom angekommen – zur Verrohung der römischen Nobilität. Spätrepublikanische Geschichtsschreiber wie Sallust und Livius nutzen dieses rhetorische Argument,25 wenn sie von einer luxuria peregrina26 sprechen, die ihren Ursprung in einer allzu laxen und zu Ausschweifungen neigenden – luxuriose – Heeresführung römischer Generäle in Asia genommen habe. 27 Auf diese Neuartigkeit der luxuria zielt dann auch ein weiteres Diffamierungsargument Ciceros gegen Piso. So erhebt Cicero den Vorwurf, dass Pisos Kriegsbeute – genauso wie die seines Amtskollegen im Konsulat – mit einer neuartigen, unerhörten Genusssucht (nova inaudita luxuries) verprasst worden sei.28 In einem Seitenhieb 22 S. Hartmann 2016, 152 mit Verweis auf Friedländer 1919, 127. 23 Thurn 2018, 26. Der vorliegende Beitrag ist eine Fallstudie, die sich auf die in der Monographie erarbeiteten Grundlagen stützt. 24 Der Verschwendungssucht zum Kontrast dienen römische Tugenden wie Zurückhaltung (moderatio), Mäßigung (modestia), Selbstbeherrschung (continentia), die Enthaltsamkeit (abstinentia), dazu Thurn 2018, 108–109. 25 So Walter 2014, 103 für die Allgegenwärtigkeit des rhetorischen Arguments. 26 Liv. 39.6: luxuriae enim peregrinae origo ab exercitu Asiatico invecta in urbem est. – „Denn die fremdländische Üppigkeit wurde von dem Heer aus Asien in Rom eingeschleppt“ (Übers. Hans Jürgen Hillen). 27 Sall. Catil. 11.5: Huc accedebat, quod L. Sulla exercitum, quem in Asia ductaverat, quo sibi fidum faceret, contra morem maiorum luxuriose nimisque liberaliter habuerat. Loca amoena, voluptaria facile in otio ferocis militum animos molliverant. – „Dazu kam, daß Lucius Sulla sein Heer, das er in Kleinasien geführt hatte, um es sich ergeben zu machen, gegen den Brauch der Vorfahren üppig und allzu großzügig gehalten hatte. Die Reize und Verlockungen dieser Gegenden hatten dann während der Friedensruhe die wilden Krieger rasch verweichlicht“ (Übers. Josef Lindauer). 28 Cic. Pis. 48: Ecce tibi alter effusa iam maxima praeda (…) cum partim eius praedae profundae libidines devorassent, partim nova quaedam et inaudita luxuries, partim etiam in illis locis ubi omnia diripuit emptiones, (…). – „Genauso der andere: als die gewaltige Beute vertan war, […] als diese Beute teils von dem Abgrund seiner Begierden, teils von einer neuartigen, unerhörten Genußsucht, teils sogar von Käufen (und zwar in Gegenden, wo er alles raubte!), teils von Tauschgeschäften verschlungen war, die er tätigte […]“ (Übers. Fuhrmann).
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spielt Cicero mit dem Hinweis auf die unerhörte bzw. noch nie gehörte luxuria seines Vorgehens auch auf eine fremde Herkunft Pisos an, was wieder einen weiteren Allgemeinplatz der Diffamierung darstellt.29 Und das, obwohl Piso einer der vornehmsten Familien Roms entstammte. Das Argument funktioniert vor dem Hintergrund, dass der Umgang mit und das Verteilen der Kriegsbeute strikten Regeln unterlag und statuskonstituierend für die am militärischen Erfolg Beteiligten wirkte.30 Auch im Triumphzug spielte sie eine wichtige Rolle und hatte einen festen Platz inne.31 Ein ‚Verprassen‘, das diesem Gewohnheitsrecht widersprach, musste als gesellschaftlicher Affront empfunden werden. Darüber hinaus, so argumentiert Cicero, sei die Beute nicht nur von der luxuria, sondern auch von abgrundtiefen Begierden (profundae libidines) und vollkommen sinnlosen Käufen (emptiones) verschlungen worden. Neuerdings habe Piso sich nämlich auch solche Dinge käuflich erworben, die er für gewöhnlich geraubt hätte.32 Das Beispiel zeigt, wie der Vorwurf der luxuria mit verschiedenen anderen Argumenten der Diffamierung verbunden wird, die sich auf unangemessene Handlungsweisen und Verhaltensmuster beziehen. Zum einen handelt es sich um den Vorwurf, in seinem Tun und Handeln von unbeherrschten Begierden angetrieben zu werden (Kontrollverlust), zum anderen um einen inadäquaten Umgang mit finanziellen Mitteln.33 Dieses Argument bezieht sich sowohl auf das der eigenen Person zur Verfügung stehende Vermögen als auch auf den Umgang mit Mitteln der res publica im Rahmen einer Amtstätigkeit.34 Im Zentrum dieser Vorwürfe steht ein Umgang mit Geld oder Gütern, der unangemessen, weil verschwenderisch oder raffgierig erscheint. So weisen derartige Diffamierungen Aspekte auf, die sowohl die Folgen von Luxuskonsum ansprechen, wie Verschuldung und Bankrott, als auch die Mittel bzw. Ursachen der Verschwendung betreffen können, wie das Glücksspiel bzw. Würfelspiel. Beide werden angewandt als Dokumentation dessen, womit Armut bzw. Verarmung korrelieren, nämlich der Sittenlosigkeit, fehlender mores und wiederum daraus folgender unehrenhafter Handlungen.35
29 Dazu MacDowell 1964, 9–10. Piso stammte mütterlicherseits nicht aus Rom. 30 In der Regel wurde die Beute zwischen dem Gemeinwesen, dem Befehlshaber und den Soldaten aufgeteilt, Le Bohec 1999. 31 Die Anziehungskraft, die Beute und Prestige auf die römischen Aristokraten ausübten, manifestierte sich in Triumphzügen, so Wagner-Hasel 2017, 145 mit Verweis auf Woolf 2015, 109. 32 Cic. Pis. 48: in illis locis ubi omnia diripuit. 33 Die Unterscheidung in einen richtigen, statuskonstituierenden und einen falschen, verschwenderischen Umgang mit Vermögen ist auch in der griechischen Literatur nachzuvollziehen, s. Lupi in diesem Band. 34 Als Kontrast zur negativen Ausformung dieser Argumente wird der positive Umgang mit Finanzen der Republik zum Lob genutzt, wie z. B. im Falle Catos des Jüngeren, der sich zum idealen Verwalter der Republik stilisiert, s. van der Blom 2016, 204–247. 35 S. Hartmann 2016, 151.
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3. DAS BEISPIEL CATILINA: DEVIANZ BEIM GASTMAHL Argumente, die eine Person durch den Vorwurf der luxuria als mangelndes Maßhalten diffamieren, stehen in der späten römischen Republik für ein verändertes ostentatives, elitenbildendes Konsumverhalten der Nobilität. Als Ursache für eine veränderte Haltung zu Konsum wurde bereits die Übernahme griechischer und hellenistischer Praktiken angesprochen.36 Dieser Luxusdiskurs wird mit Akkulturationsprozessen verbunden,37 die das konsumorientierte Verhalten in Rom beeinflussten. Der Einbezug der Peripherie erzeugte neue Konkurrenzsituationen innerhalb der Aristokratie durch den Zugriff auf neue, reichhaltige Ressourcen. In seiner Untersuchung zu Rome’s Cultural Revolution zeigt Andrew Wallace-Hadrill, dass der von den Griechen übernommene Luxus-affine Lebenswandel aber weniger als Verhaltensmuster zu verstehen sei, als welches es aus den Quellen herausgelesen werden könnte und wurde, sondern eher als gesellschaftliches ‚Leitbild‘ (er spricht von „concept“).38 Dem Diskurs rund um Luxuskritik, zu dem Cicero wesentlich beiträgt, liegt mit Uwe Walter gesprochen eine als Störung wahrgenommene „Ordnungszersetzung“ zugrunde, die u.a. eben auch den Lebenswandel der Eliten betraf.39 Womöglich wird eine solche Ordnungszersetzung auch in besonderem Maße vom homo novus Cicero empfunden, zumindest wird sie von ihm in hohem Maße kommentiert. Wie gesagt zeigt sich in den Schriften Ciceros allenthalben eine ideologische Konkurrenzsituation zwischen griechischen Bräuchen und Vorstellungswelten sowie traditionell römischen Werten und Bräuchen. In Teilen der römischen Nobilität hatte sich eine ablehnende und kritische Haltung gegenüber bestimmten als griechisch und negativ stigmatisierten Einflüssen entwickelt.40 Die spätrepublikanischen römischen Autoren, die eine solche Luxuskritik überliefern, wie natürlich Cicero oder Sallust, greifen dabei auf große historiographische Vordenker Griechenlands, Polybios und Poseidonios zurück. Diese hatten ihrerseits der tryphē
36 Beispielsweise diskutiert von Bringmann 1977, 28‒49; Veyne 1979, 3‒29; Hölscher 1990, 73‒84; Edwards 1993, 92 oder Flaig 1999, 81‒112. 37 Dazu Gotter 2000, 384–399. Auf den ersten Blick täuscht der Akkulturationsbegriff zudem über die Wechselseitigkeit von kulturellen Einflüssen zwischen Rom und Griechenland hinweg, deren Gleichzeitigkeit herauszustellen ist, so auch schon Griffin 1967, 88. 38 Wallace-Hadrill 2008, 315–355, hier: 338. Lateinische Autoren fügten sich somit in eine gattungskonventionelle griechische Tradition ein, wenn sie die luxuria von Zeitgenossen ankreideten. 39 Walter 2014, 91, hier bezogen auf Ciceros „Reaktion auf eine wahrgenommene Störung“ mit seinen Werken De re publica und De legibus. 40 Bringmann 1977, 35; Edwards 1993, 177–178; Wagner-Hasel 2002, 344; Kunst 2010, 32. Gleichzeitig verehrten Autoren wie Cicero die griechische Kultur mit ihrer literarischen und philosophischen Tradition. Für Cicero s. Zimmermann 1999, 242–248. Walter (2004, 278) resümiert aus Ennius’ Annalen, dass es im frühen zweiten Jahrhundert auch einen Teil der Nobilität gegeben habe, der keinen Anteil an einem luxus- und griechenkritischen Diskurs gehabt habe.
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eine entscheidende Rolle in ihren Dekadenzmodellen zugeschrieben. 41 Konkrete Handlungsweisen und Verhaltensmuster, die Cicero mithilfe der Konkurrenzsituation zwischen römischen und griechischen Lebensweisen komponiert, sind Fehlverhalten beim Gastmahl oder das Tragen als griechisch gelesener Bartmode.42 In den Kontext des Gastmahles ist beispielsweise der Tafelluxus zu verorten. Im 2. Jahrhundert können wir in Lucilius’ Satiren die Verbindung von luxuria mit Tafelluxus in der Form des römischen Spott fassen.43 Ian Goh attestiert schon Lucilius eine Ambiguität zwischen der Partizipation am Luxuskonsum und dessen Verurteilung bzw. Verarbeitung im Spott.44 Diese Ambiguität wird zum omnipräsenten Phänomen der gesamten Senatsaristokratie.45 Als eine Antwort auf die eine Seite der Medaille, das Streben der Aristokratie nach Geltungskonsum,46 werden auch die zahlreichen Gesetze zur Aufwandsbeschränkung verstanden, die in der Republik bis zum Zwölftafelgesetz des 5. Jahrhunderts zurückreichen.47 Wiederum ins 2. Jahrhundert datieren dann Gesetze, die den Aufwand des Gastmahls regulierten.48 Es wurde nicht nur die Anzahl der Gäste gesetzlich geregelt (lex Orchia, 182), sondern z. B. auch die genaue Höhe erlaubter Ausgaben für Gastmähler (lex Licinia, vor 103) oder die Anzahl und Auswahl importierter Speisen und Getränke (lex Fannia, ersetzt 161 die lex Orchia, lex Aemilia, 78).49 Solche Gesetze zur Einschränkung von Ausgaben zielten vor allem auf die Eindämmung von Vermögensverschwendung, was wiederum einer übermäßigen materiellen Ausdifferenzierung und damit allzu großer sozialer Unterschiede entgegenwirken sollte.50 Wenn Cicero seine politischen Kontrahenten wegen ihres vermeintlich frevelhaften Konsumverhaltens angreift, macht er sich ein gesellschaftliches Thema zunutze, dessen sich alle Mitglieder der Senatsaristokratie rhetorisch bedienen konnten und mithilfe dessen sie jederzeit angegriffen werden konnten.51 Dieser Luxusdiskurs wird mit den
41 Dekadenzmodelle, die auf Erfolge Luxus und schließlich einen Niedergang folgen lassen, sind tief in der griechischen Literatur verwurzelt, Wallace-Hadrill 2008, 339; Lupi 2021. 42 Für die rhetorische Strategie, illustrative „Handlungsweisen“ und „Verhaltensmuster“ anzuwenden, um beim ‚Publikum‘ ein eingeschliffenes Narrativ bestimmter charakterlicher Mängel abzurufen, Thurn 2018. 43 Lucil. frag. 1127–1128. 44 Goh 2018, 255–278; s. auch Thurn 2018, 65–66; 150–151. 45 S. Wagner-Hasel 2002, 329 mit Verweis auf Veblen 1997. 46 S. hierzu Veblen 1997. 47 Hier ist vor allem an Einschränkungen des Bestattungsaufwandes auf Tafel X des Zwölftafelgesetztes zu denken, Haury 1976, 430; Flach 2004. 48 Baltrusch (1989, 77) weist darauf hin, dass sich die römischen Aufwandsgesetze am häufigsten mit dem Tafelluxus beschäftigten, der auch in Lucilius’ Satire zu finden ist. 49 Berry 1989, 605–606. Als Gesetz, das mehr den ambitus der Senatsaristokraten als die Teilnehmerzahl beim Gastmahl adressierte, versteht Baltrusch (1989, 81) die lex Orchia. Die lex Fannia nennt er sodann „das erste Speisegesetz im eigentlichen Sinn“ (Baltrusch 1989, 84). 50 S. Kolb 1977, 239–240; Baltrusch 1989, 102. 51 Dazu auch Hildebrandt in diesem Band sowie besonders S. 113: „Daher konnten auch diejenigen des Luxus angeklagt werden, die ihn in ihren Schriften selbst anprangerten.“
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großen Eroberungen der Punischen Kriege verbunden. Aus ihm wurden lange moralische Probleme individueller Maßlosigkeit und Habgier herausgelesen.52 Tatsächlich bewegten sich die Aristokraten, wie Beate Wagner-Hasel es formuliert, zwischen materieller „Normkonformität und Distinktionsbemühen“.53 Aushandlungsprozesse auf diesem Bereich lassen sich beispielsweise durch die zensorische Infamie fassen.54 Diese weist eine potentiell konkrete Folge luxuriösen Fehlverhaltens aus. So macht in der politischen Debatte, die den Status der Beteiligten tangieren konnte und sollte, die Furcht vor einer (metaphorischen) Infamie und damit die Beschädigung der dignitas den luxuria-Vorwurf zu einer schlagkräftigen rhetorischen Waffe.55 Kritisiert Cicero Verfehlungen beim Gastmahl, ist diese Konsumkritik in ein traditionelles Bestreben der Senatsaristokratie einzuordnen, auch convivialen Luxus einzudämmen. Es wird auch von Cicero persönlich geteilt. Möglicherweise entspringt es einem Wunsch nach Nivellierung der Unterschiede in derjenigen Statusgruppe, welcher der homo novus Cicero als erster seiner Familie angehörte und in der er seinen eigenen Standort zu finden und zu verteidigen suchte. 56 Denn da der Einfluss eines Aristokraten von der Anzahl der Gefolgsleute abhing, die er an sich zu binden vermochte, kann der Luxuskonsum, der ebensolche Bindungen herstellen und erhalten konnte, als direktes Abbild des politischen Einflusses verstanden werden.57 So spielt das Gastmahl, in dessen Kontext man Luxus demonstrierte und vor allem zum Erzeugen von Verbindlichkeiten andere an diesem Luxus teilhaben lassen konnte, für derartige Bindungen eine außerordentlich große Rolle.58 Gerade vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass auch Diffamierungen der Anhängerschaft, die Cicero allenthalben in seinen Reden platziert, häufig in den Kontext des Gastmahls gerückt werden.59 Denn das Werben um diese Anhängerschaft beim gemeinsamen Zechen, beim Vergnügen mit Dirnen während des Mahls oder in anderen Situationen bietet sich an, um die politische Macht und den politischen Einfluss eines Standesgenossen zu verleumden.
52 Wagner-Hasel 2017, 146: Speise-, Kleider- und Bauluxus „lassen die Weltreichsbildung vordergründig als ein moralisches Problem individueller Maßlosigkeit und Habgier erscheinen, ein Deutungsangebot, das lange Zeit ernst genommen worden ist.“ 53 Wagner-Hasel 2002, 329. 54 Belege der tatsächlich erfolgten zensorischen Infamie finden sich gesammelt bei Bur 2018. 55 Zur metaphorischen Infamie am Rande Bur 2018, 260. 56 Dazu Gotter 1996, 109; Humpert 2001, 76. 57 Dazu Wagner-Hasel 2002, 338, Stein-Hölkeskamp 2010, 101–111. 58 So beispielsweise Plut. Caes. 28.3. S. dazu Wagner-Hasel 2002, 338 mit Verweis auf Jehne (1995, 73 Anm. 121), demzufolge Plutarch in dieser Szene die Verhältnisse bei Gesetzesanträgen und Wahlen (Wahlbestechung mithilfe von Gastmählern) vermische. An derartigen Ambitionen ansetzend, dienten Gesetze sodann zur Einschränkung der Gastmahlteilnehmer oder zur Regelung der politischen Nutzbarkeit von Gastmählern, s. Baltrusch 1989, 101. 59 Zur Diffamierung der Anhängerschaft als rhetorische Strategie Thurn 2018, 236–257.
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Früher als die Diffamierungen gegen Piso, hat Cicero Vorwürfe gegen Catilina und seine Anhänger ausgearbeitet. Als er im Jahre 63 den Höhepunkt seiner politischen Ämterlaufbahn, das Konsulat, erreicht hatte, deckte er eine Verschwörung gegen die Republik auf. Als Rädelsführer bekämpfte er Lucius Sergius Catilina, der sich ebenfalls für das Jahr 63 um das Konsulat beworben hatte, dessen Kandidatur aber am Erfolg Ciceros und Gaius Antonius Hybridas gescheitert war. In der zweiten Rede gegen Catilina, die in eben dieses Jahr 63 datiert und vor dem Volk gehalten wurde, stellt Cicero die Verschwörer als unzurechnungsfähige, verlotterte, sittenvergessene Gesellen dar, indem er sie in ein maßlos conviviales Setting versetzt. Er wettert: „Wenn [die Verschwörer] nur nach Wein- und Spielgelagen und Dirnen verlangen würden, müsste man zwar an ihnen verzweifeln, könnte sie aber noch irgendwie ertragen; wer aber könnte aushalten, dass diese feigen Leute einen Anschlag […] planen? Die rülpsend von der Ermordung der Guten und von der Einäscherung der Stadt reden, während sie bei Gastmählern herumliegen und unsittliche Weiber umschlungen halten, von Wein schläfrig, vollgestopft mit Speisen, mit Kränzen umwunden, von Salben triefend und durch Unzucht geschwächt?“ 60
Während wir in den Gesetzen, die den Tafelluxus einschränkten sollten, Regulative bezüglich der Anzahl der Teilnehmerzahl, der Kosten, Qualität und Quantität von Speisen nachvollziehen können,61 zeigen die illustrativen Argumente Ciceros, wogegen sich die Luxuskritik das Unterhaltungsangebot und den Lebenswandel betreffend richtet. Von Cicero ist auch zu erfahren, worauf sich ein achtbares, römisches convivium nach der Sitte der Vorfahren hätte konzentrieren sollen. Im Zentrum dieser abendlichen Zusammenkunft sollte das ausgewogene, geistreiche Gespräch unter den Teilnehmern stehen.62 Ein Motiv, das auch von Platon bekannt war.63 Speis’ und Trank sollten in diesem Szenario nur gerade so viel Raum einnehmen, dass die menschlichen Grundbedürfnisse gestillt wären.64 Jenseits des gesellschaftlichen Austausches und der zurückhaltenden Verköstigung bedürfe das
60 Cic. Catil. 2.10: quodsi in vino et alea comissationes solum et scorta quaererent, essent illi quidem desperandi, sed tamen essent ferendi; hoc vero quis ferre possit, inertes homines […] insidiari, […]? qui mihi accubantes in conviviis conplexi mulieres inpudicas vino languidi, conferti cibo, sertis redimiti, unguentis obliti, debilitati stupris eructant sermonibus suis caedem bonorum atque urbis incendia (Übers. A.T.). 61 S. dazu Baltrusch 1989, 101–102. 62 Cic. off. 1.134 und 135: sit ergo hic sermo (…) lenis minimeque pertinax, insit in eo lepos. (…) habentur autem plerumque sermones aut de domesticis negotiis aut de re publica (…). – „Es soll also dieses Gespräch […] locker und keinesfalls rechthaberisch sein, und es soll Anziehungskraft ausstrahlen. […] Meistens werden aber Gespräche über private Angelegenheiten, über politische Themen […]“ (Übers. Rainer Nickel). 63 Siehe Plat. leg. 2.671c–d mit Verweis auf νόμοι συμποτικοί. 64 Cicero inszeniert Cato Maior zum Vertreter der maiores als „dauerhafte Garanten des allgemeinen Grundkonsenses“ und damit zur Idealverkörperung der althergebrachten „kollektiven Tugenden“, Hölkeskamp 1995, 45. Bezogen auf das Gastmahl so zum Beispiel in Cic. Cato 13.45: epulabar igitur cum sodalibus omnino modice (…). – „Ich speiste mit den Tischgenossen also ganz und gar maßvoll“ (Übers. A.T.).
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convivium keiner weiteren (körperlichen) Vergnügungen.65 Das römische convivium solle so ein Sinnbild der modestia, der Maßhaltung, darstellen. In der Gastmahl-Szene, die Catilina als sittenvergessen und unrömisch brandmarkt, finden sich im Unterhaltungsprogramm zahlreiche Anklänge an das ausschweifende griechische Symposion, das nach Ciceros strategischem Dafürhalten in Rom nichts verloren hatte. Wieder kann man in Ciceros ausgewogener Komposition eine Graduierung nachvollziehen zwischen einem Fehlverhalten beim convivium, das gerade noch so ertragen werden könne, und der Grenze hin zur luxuria, die von den Verschwörern deutlich überschritten werde. Es kann durchaus verwundern, dass Cicero einen Teil dieser Szenerie noch einigermaßen positiv beurteilt (sed tamen essent ferendi), ist hier doch von Gelagen die Rede, die Wein, Würfelspiel und Dirnen Raum bieten. In die ‚guten, alten Zeiten‘ wird verortet, dass die römische cena der comissatio zeitlich vorangestellt war, wobei der wesentliche Inhalt der cena der Verzehr von Speisen war, während die comissatio eher einem dem symposion ähnlichen Trinkgelage nahekam – also einer Form des Zusammenseins, die den traditionellen Idealvorstellungen vom idealen convivium widersprach.66 Bei den comissationes der Verschwörer um Catilina stehen nun Wein und Würfelspiel im Fokus. Beide Attribute werden in Ciceros Diffamierungen als Chiffre für Kontrollverlust genutzt. Kontrolle über sich selbst und wenn möglich oder nötig über andere muss aber als konstituierend für das römische Männerbild verstanden werden.67 Fremdbestimmtheit steht dem diametral als Chiffre für Unmännlichkeit gegenüber.68 Auch dem luxuria-Begriff des convivium ist eine Dimension der Kontrolle inhärent. Ausgehend vom Aspekt des physischen Wachstums von Pflanzen, ist es die Kontrolle des Geistes über den Körper, die verliert, wer sich übermäßigem kulinarischem Genuss hingibt.69 Übermäßiger Weinkonsum wird von Cicero häufig als Ursache für Kontrollverlust eingesetzt. Ebenso überlässt der Glücksspieler dem Glück bzw. Schicksal seine eigene Zukunft. Letztlich schwingt in dem Motiv des Glücksspiels auch die Gefahr der pekuniären Zerrüttung mit, die wiederum ein Argument des verbalen Angriffs gegen politische Gegner aus dem Bereich der luxuria darstellt. Die Szene zeigt erneut, wie Cicero verschiedene Diskursfelder in einem 65 Cic. Cato 13.45: neque enim ipsorum conviviorum delectationem voluptatibus corporis magis quam coetu amicorum et sermonibus metiebar. – „Denn die Freude an den Gastmählern selbst bestand für mich weniger in körperlichem Vergnügen als vielmehr im Zusammensein mit meinen Freunden und den dabei geführten Gesprächen“ (Übers. A.T.). 66 Schon bei Fabius Pictor und damit vor dem 2. Jahrhundert tritt Weinkonsum in Verbindung mit Luxus und moralischer Haltlosigkeit. Für die Sequenz, in der sich eine Frau Zugang zu einem verschlossenen Weinkeller verschafft habe, Walter 2004, 241. 67 Für die Strategie, dem Gegner einen Mangel an (Affekt-)Kontrolle vorzuwerfen, der in verschiedenen Argumenten der Diffamierung nachvollzogen werden kann, Thurn 2018, bes. 117–118; 133 Anm. 88; 145 (Kontrollverlust im geschlechtsspezifischen Rollenbild); 169–170 (unkontrollierter Weinkonsum); 281 (animalische Unkontrolliertheit). 68 Besonders Selbstkontrolle wird als Rollenbild konstituierend verstanden, s. Edwards 1993, 57; Williams 2010, 138–142. 69 Wagner-Hasel 2002, 325 mit Verweis auf Gowers 1993, 13: „An over-indulged stomach was thought to disturb the equilibrium of a body where desires ought to be ruled by the head.“
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illustrativen Angriff zusammenführt und wie er gleich mehrere Dimensionen des luxuria-Vorwurfes miteinander zu verbinden weiß. Zum letzten Aspekt der catilinarischen comissationes, die angeblich ja noch nicht einmal die schlimmsten seien, führt Cicero scorta – Dirnen – an. Auch in diesem Hinweis liegt ein Seitenhieb auf das griechische symposion verborgen. Während nämlich in Rom die Ehefrauen der Aristokraten üblicherweise an den convivia teilnahmen oder auch direkt als Gastgeberin fungieren konnten, waren die griechischen Ehefrauen vom symposion ausgeschlossen. Am griechischen Gastmahl nahmen dafür Hetären teil, die wiederum beim römischen convivium keinen Platz hatten.70 Wenn die Catilinarier bei ihrem Gelage die Anwesenheit von Dirnen der Anwesenheit ihrer Ehefrauen vorzogen, widersprach auch dies den Gepflogenheiten des römischen Gastmahls. Mit all diesen Konnotationen sind nun erst vier von Ciceros Stichworten abgehandelt. Vor dem geistigen Auge des Zuhörers oder Lesers hat sich aber schon das Bild eines Gastmahls entwickelt, das den althergebrachten römischen Tugenden so gar nicht entsprach. Ciceros Hinweis auf die Duldsamkeit gegenüber diesen Entartungen des Gastmahls dürfen wir wohl entnehmen, dass diese Form der comissatio ein Anblick gewesen sein muss, der einem spätrepublikanischen Aristokraten – und einer spätrepublikanischen Aristokratin – nicht allzu fremd gewesen sein dürfte. Was danach folgt, ist eine weitere Steigerung des Luxuskonsums. Der Wein habe nämlich seine Wirkung schon vollends entfaltet und die Catilinarier träge werden lassen (vino languidi). Sie seien in einen Zustand geraten, in dem sie dem zu jeder Tageszeit gültigen Ideal der magistratischen Geschäftigkeit, dem negotium, nicht mehr gerecht werden konnten. Cicero steigert das Argument so weit, dass er sie schließlich nur noch rülpsend sprechen lässt (eructant). Diese Darstellung bringt eine drastische Abwertung des ohnehin lasterhaften überhöhten Weinkonsums zum Ausdruck. Neben den Weinkonsum stellt Cicero den Speisekonsum. Die Catilinarier seien nämlich obendrein noch vollgestopft von zu vielen kulinarischen Genüssen (conferti cibo). Kosmetik und Schmuck, die die Catilinarier konsumieren, entfremden sie weiter vom römischen Männerbild, da beide Konsumgüter nur im griechischen Kulturraum Platz im Leben eines Mannes haben (sertis redimiti, unguentis obliti).71 Zum Abschluss der Passage wird schließlich das Ziel der gesamten Argumentation ausgesprochen: Diese Menschen würden den guten römischen Bürgern, den Verteidigern der alten Ordnung72 (caedem bonorum) und der gesamten Stadt (urbis incendia) großen Schaden zufügen. So stellt Cicero zwischen zwei Momenten einen Zusammenhang her: a) zwischen der luxuria Catilinas und seiner Anhänger, versinnbildlicht durch den Hang zum Trinkgelage und durch ihren dauerhaft benebelten Zustand, und b) der Catilinarischen Verschwörung. Übermäßiger Weinkonsum steht dabei stellvertretend für unkontrollierte libido. Der zur Schau gestellte unangemessene Konsum, der sich auf Luxusgüter bezieht, 70 Wichtig ist dabei zu beachten, dass Fremde und Sklavinnen, die am symposion teilgenommen haben, nicht pauschal als Hetären bezeichnet werden können, s. Hartmann 2002, 135–183. S. außerdem Roller 2006, 103–106. 71 Zum Körper des vir mollis in Rom Meister 2009, 73–81. 72 S. dazu Walter 2014, 95 mit Verweis auf Knopf 2013, 51–72.
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geht mit den negativen Konsequenzen einer Verschuldung und somit der Abhängigkeit von Standesgenossen, dem Verlust der Patronagefähigkeit einher. Dagegen schlagen sich die negativen Konsequenzen des übermäßigen Konsums von Wein in Trägheit und Untätigkeit (vergleichbar mit inertia) nieder, die in Opposition zu den Tugenden industria und dem idealen Ausüben des negotium stehen. Solche Passagen lassen sich in Ciceros Reden zahlreich aufspüren. Auch seinem Erzfeind Clodius wirft Cicero vor, von übermäßigem Wein- und Nahrungskonsum so ermattet zu sein, dass er seiner Führungsrolle nicht mehr nachkommen konnte.73 Ein Senator, der dem Laster der vinulentia anheimfällt, also dem übermäßigen Weinkonsum, richtet nicht sein ganzen Sehnen und Langen auf das Wohle der res publica aus, wie es Ciceros philosophischen Idealvorstellungen entspräche, sondern trägt sogar zum Schaden der res publica bei, was wiederum den größtmöglichen Frevel bedeutet. Mit der modernen Verbindung von Alkoholismus mit Krankheitskonzepten, die zu Zeiten der Aufklärung entwickelt wurden,74 hat der antike Vorwurf der vinulentia nichts gemein: In Ciceros Diffamierungen stellt ein derartiges verschwenderisches Konsumverhalten vielmehr eine vermeintliche Charakterschwäche dar. Diesen Duktus des übermäßigen Konsums im Kontext des statuskonstituierenden und politisch unersetzlichen, abendlichen Zusammenkommens beim convivium treten in Ciceros Diffamierungen in weiteren unterhaltsam illustrativen Nuancen auf. Piso wird beispielsweise von Cicero gefragt, ob er eigentlich mehr Wein getrunken, oder mehr davon erbrochen und verschüttet habe. 75 Zum Übermaß an Weinkonsum tritt in den Beschimpfungen des Antonius zudem die Dauerhaftigkeit des verwerflichen Luxuskonsums. Denn dieser habe sich Unmengen der edelsten Tropfen nicht nur täglich, sondern auch rund um die Uhr zu Gemüte geführt.76 Besonders die Formulierung des ‚Durchzechens‘ – perbacchatus – strotzt wiederum von griechischen, also fremdländischen Einflüssen und von einer Maßlosigkeit, die bei einer derartigen Herkunft für typisch gehalten werden soll. Therese Fuhrer hat 73 Cic. Mil. 56: adde inscitiam pransi, poti, oscitantis ducis. – „Man denke ferner an die Unfähigkeit des von Speise und Trank beschwerten, vor Mattigkeit gähnenden Anführers“ (Übers. Fuhrmann). 74 Dazu Feuerlein 2008, 16–17. 75 Cic. Pis. 22: quid ego illorum dierum epulas, quid laetitiam et gratulationem tuam, quid (…) intemperantissimas perpotationes praedicem? (…) quod quidem istius in illis rei publicae luctibus quasi aliquod Lapitharum aut Centaurorum convivium ferebatur; in quo nemo potest dicere utrum iste plus biberit an vomuerit an effuderit. – „Was soll ich jetzt von den Festschmäusen reden, die damals stattgefunden haben, von deiner Freude und Ausgelassenheit, von den zügellosen Zechgelagen […]? […] Das nahm sich in jenen Tagen der Staatstrauer wie ein Bankett der Lapithen und Zentauren aus, und niemand vermag zu sagen, ob der Gastgeber dabei mehr getrunken oder erbrochen oder verschüttet hat“ (Übers. Furhmann). 76 Cic. Phil. 2.6: (…) cum omnis impuritates impudica in domo cotidie susciperes vino lustrisque confectus. „[…] wo du in deinem schamlosen hause Tag für Tag alle nur denkbaren Schändlichkeiten vollführtest, ausgezehrt durch Wein und Unzucht!“ (Über. Fuhrmann). Cic. Phil. 2.105: at quam multos dies in ea villa turpissime es perbacchatus. – „Und wie viele Tage hast du dich auf diesem Landsitz dem schimpflichsten Treiben ergeben!“ (Übers. Fuhrmann).
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darum zurecht darauf hingewiesen, dass Antonius als Bacchus mit einem Kult in Verbindung gebracht wird, der in Rom „seit dem Bacchanalien-Skandal mit der Vorstellung der Störung der moralischen und politischen Ordnung verbunden wurde“.77 Es handelt sich dabei um ein Motiv, das sich später im ideologischen Kampf zwischen Octavian und Marcus Antonius noch verstärken sollte. Während Marcus Antonius sich als Dionysos gerierte, distanzierte sich Octavian als Apollon weit von jeglichen mit Ausschweifung assoziierbaren Kontexten. An dieser Stelle wäre es auch interessant zu überlegen, welche Bedeutung Augustus’ ‚moralisierendes Programm‘ auf die Nachwelt nehmen sollte. Es wäre eine gesonderte Betrachtung wert, nach dem Aktans und dem Reaktans in dieser spätrepublikanischen Auseinandersetzung zwischen dem verschwenderischen, in Zügen orgiastischen, lebensbejahenden Kult um Dionysos und dem enthaltsamen, rationalen, zur Kasteiung neigenden Apollonkult zu fragen. In groben Zügen lässt sich nämlich beobachten, dass sich der Ton der Luxuskritik in der Kaiserzeit (wieder) mehr und mehr zum Spott entwickelte und seine politische Implikation sich im Vergleich zu Ciceros Zeiten merklich reduzierte. Der beißende, invektivische Vorwurf von Luxuskonsum hat im politischen Diskurs der Kaiserzeit an Schlagkraft verloren, wobei natürlich auch nicht zu unterschätzen ist, wie stark sich der gesamte politische Diskurs unter monarchischer Herrschaft veränderte hatte.78 4. RESÜMEE Der Blick auf Ciceros rhetorische Strategien, die luxuria für die verbalen Angriffe nutzen, hat drei Dimensionen der Luxuskritik konturiert. Erstens ist dies der Umgang mit Ressourcen der res publica. Wird Beute verschwendet, verstößt dies nicht nur gegen das Gebot der Maßhaltung im Umgang mit privatem Vermögen, das einer Verschuldung und damit dem Verlust der Patronagefähigkeit entgegenwirken soll, sondern auch gegen die traditionellen Maßnahmen der Umverteilung. Durch diese Abkehr von der Norm wird die Konkurrenzsituation innerhalb der Statusgruppe in eine Schieflage gebracht. Als Folge entsteht das Bedürfnis nach einem ausgleichenden Moment, das sich im standardisierten verbalen Angriff auf fehlerhaften Umgang mit Vermögen niederschlägt. Zweitens ist dies die individuelle Intensivierung des Geltungskonsums. Dieser ist mit persönlichem Kontrollverlust verbunden. Ein solcher desavouiert den Beschimpften als der Amtsführung unwürdig, wodurch er zur Bedrohung der politischen Ordnung wird. Wie in Ciceros Argumenten diese
77 Fuhrer 2011, 376 mit Verweis auf Kienast 1969, 440‒442. Wie unterschiedlich konnotier- und enkodierbar Dionysos in der römischen (Religions)Politik trotz allem geblieben ist, zeigt Fuhrer (2011, 381‒389) in der Rehabilitierung des Gottes nach der Auseinandersetzung zwischen Marcus Antonius und Octavian. 78 Veränderungen ritualisierter Kommunikationsräume werden im althistorischen Teilprojekt des in Dresden angesiedelten Sonderforschungsbereichs „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“ als „Invektivität in Arenen ritualisierter Kommunikation während der römischen Republik und Kaiserzeit“ untersucht, beispielsweise Jehne 2020.
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beiden Dimensionen, die unrechtmäßige Bereicherung und der überhöhte Geltungskonsum, in Verbindung treten können, zeigt das Beispiel der Pisoniana. Drittens ist dies der Kontrollverlust über Standesgenossen. Ein kollektives Kontrollinstrument droht in dem Moment verloren zu gehen, in dem die Luxuskritik nicht mehr nivellierend wirkt – in dem Moment also, in dem der mos maiorum seine Orientierungsmacht verliert. Eine Graduierung zwischen akzeptablem und inakzeptablem Luxus deutet in diese Richtung. Im Kontext römischer Moralvorstellungen, die im mos maiorum Werte wie Frugalität, modestia, moderatio und temperantia verorteten, nimmt es kaum Wunder, dass Luxuskritik eine gängige Methode der personenbezogenen Diffamierung darstellte. Dass in denselben Reden (und Briefen) und für dieselben Autoren und Redner, von denen Luxuskritik mit zerstörerischer Wucht zur moralischen Diskreditierung ins Feld geführt wurde, Bekenntnisse zur eigenen ‚neuen Vornehmheit‘ in kulinarischen Fragen79 oder censorische Rügen wegen frevelhafter Lebensführung wie für Sallust belegt sind, zeigt deutlich das Nebeneinander der beiden konkurrierenden Konzepte zum Thema Luxus in der spätrepublikanischen Gesellschaft (auch in Personalunion). Luxuskonsum – auch übermäßiger – war längst salonfähig und unumgänglich geworden,80 während sich gleichzeitig ein philosophierender, moralisierender Diskurs vehement vergangenheitsnostalgisch zeigt und in seinem Eifer eine längst vergangene Enthaltsamkeit konstruiert, die es so womöglich nie gegeben hat. Was wir beobachten können, ist darum vermutlich eine diskursive Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, befeuert von individueller Geltungssucht einer gesellschaftlichen Krisenzeit. BIBLIOGRAPHIE Baltrusch 1989 = Ernst Baltrusch, Regimen morum. Die Reglementierung des Privatlebens der Senatoren und Ritter in der römischen Republik und frühen Kaiserzeit, München 1989. Berry 1989 = Christopher J. Berry, Luxury and the Politics of Need and Desire. The Roman Case, in: History of Political Thought 10:4, 1989, 597–613.
79 Cic. Fam. 9.16.8: nec tamen eas coenas quaero, ut magnae reliquiae fiant; quod erit, magnificum sit et lautum. ante meum adventum fama ad te de mea nova lautitia veniet; eam extimesces. (…) neque est, quod in promulside spei ponas aliquid, quam totam sustuli. – „Doch frage ich nicht nach solchen Mahlzeiten, bei denen viel übrig bleibt; was es gibt, muß fein und appetitlich sein. […] Bevor ich eintreffe, kommt die Kunde von meiner neuen Vornehmheit zu Dir; vor der wirst Du es mit der Angst kriegen! Auf das Vorgericht brauchst Du Deine Hoffnung nicht setzen; das habe ich mir ganz abgewöhnt“ (Übers. Helmut Kasten). Die Übersetzung von lautitia als „Vornehmheit“ spiegelt anschaulich den Konflikt des Übersetzers mit der Person Ciceros und seinen Eigenstilisierungen auf der einen Seite und der hier nun eingeführten lautitia auf der anderen Seite wider, die, um dem Cicerobild gerecht zu werden, abgeschwächt als ‚Vornehmheit‘ anstelle von ‚Luxus‘ oder ‚Aufwand‘ übersetzt wird. 80 Denn welchen Wert kann Vermögen in einer Gesellschaft, in der Vermögen Status konstituiert, haben, wenn man es nicht zeigt, bewundert, verteilt und verbraucht? Dazu Hartmann 2016, 151.
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„...UND SIE ERSCHEINEN AN DER TÜRSCHWELLE IN ALL IHRER HERRLICHKEIT“ Die Rolle des Luxus in Autobiographien hoher Beamter im späten Zarenreich Benedikt Tondera, Oldenburg 1. EINLEITUNG: DIE GLEICHZEITIGKEIT DES UNGLEICHZEITIGEN „Als wir den Dnjestr überquert und bessarabisches Gebiet betreten hatten, gesellte sich eine Kavalkade von einem Dutzend in farbenprächtige Staatsröcke gekleideter Reiter zu uns; sie umringten meinen Wagen, galoppierten um uns herum, suchten ihre Pferde anzufeuern und auf alle mögliche Weise ihre Reitkunst und ihren Eifer zu zeigen.“1
Einen gewissen Spott konnte sich der Gouverneur Fürst Sergej Dmitrievič Urusov (1862–1937) bei der Schilderung einer Inspektionsreise durch Bessarabien im Jahre 1903 nicht verkneifen. Um dem Verwaltungsoberhaupt ihre Ehre zu erweisen, hatten die Einwohner der zwischen den knapp 60 Kilometer entfernten Städten Soroki (heute Soroca) und Mogilev (Mohyliw-Podilskyj) gelegenen Gemeinden Delegationen ihrer begabtesten Reiter versammelt, um dessen Dienstfahrt einen feierlichen Anstrich zu geben. Den Aufwand hätten sie sich allerdings sparen können. Denn Urusov hielt den „eigenartigen Naturaltribut“ der Bessarabier für Zeitverschwendung und Tierquälerei: „Ich stieg aus dem Wagen, wandte mich an die Reiter, die mich umringten, lobte ihre Pferde, äußerte meine Bewunderung über ihre Reitkunst, bat sie aber trotzdem, mich nicht weiter zu begleiten, da es mir sehr unangenehm sei, durch meine Fahrt irgend jemand unnötige Mühe und Anstrengung zu machen.“2
Die Schilderung dieser scheinbar nebensächlichen Begebenheit aus seiner Amtszeit in Bessarabien (1903/04) war kein Einzelfall in Urusovs Notizen eines Gouverneurs (Zapiski gubernatora), die 1907 zunächst in Sankt Petersburg publiziert und noch im selben Jahr auch für die Deutsche Verlags-Anstalt übersetzt wurden.3 1 2 3
Urussow 1907, 197. Für die deutsche Übersetzung wurde eine eingedeutschte Variante von Urusovs Namen verwendet. In diesem Aufsatz wird dagegen die wissenschaftliche Transliteration verwendet. Urussow 1907, 197–198. Urussow 1907. Die Veröffentlichung seiner Memoiren hatte für Urusov einige Jahre später ein Nachspiel: Wegen der in dem Buch vermeintlich vorgenommenen Diffamierung eines Protagonisten des Pogroms von Chișinău im April 1903 wurde Urusov 1912 zu einer mehrmonatigen Haftstrafe verurteilt, s. Chailova 2009, 8.
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Vielmehr monierte er an vielen Stellen die Ineffizienz, Rückständigkeit, Korruption und Immoralität der zarischen Verwaltungsstrukturen. Die in der spätimperialen russischen Gesellschaft unter Alexander III. und Nikolaus II. wieder aufblühende Kultur personalisierter Herrschaft mit ihren öffentlich inszenierten Dominanz- und Unterwerfungsgesten stand in Konflikt mit an Einfluss gewinnenden Teilen der staatlichen Bürokratie, die sich auf rationale und rechtsstaatliche Prinzipien beriefen und als deren Vertreter sich auch Urusov sah.4 Ob diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die sich in allen europäischen Imperien des ausgehenden 19. Jahrhunderts beobachten ließ, ein „auswegloses Dilemma“5 darstellte oder ob es sich hier eher um eine prinzipiell ergebnisoffene Begleiterscheinung politisch-gesellschaftlicher Transformationsprozesse handelte, ist in der Imperiumsforschung eine viel diskutierte Frage.6 Graf Sergej Urusov, der als junger Erwachsener viele Jahre in der adeligen Selbstverwaltung im Gouvernement Kaluga tätig war, im mittleren Alter in den hohen Staatsdienst aufrückte (am Höhepunkt seiner Karriere im November 1905 war er kurzzeitig stellvertretender Innenminister) und schließlich 1906 als Mitglied der Konstitutionell-Demokratischen Partei (Kadetten) in der ersten Duma in Konflikt mit dem Zaren geriet, sah sich selbst als Akteur des Übergangs. Einerseits liberaler Reformer, andererseits Fürst mit Großgrundbesitz, vereinte er die Widersprüche einer im Wandel befindlichen imperialen Gesellschaft in seiner Person. Es ist insofern kaum verwunderlich, dass sowohl seine zu Lebzeiten erschienenen „Notizen“, vor allem aber die posthum veröffentlichten Memoiren7 kein kohärentes Bild seiner Persönlichkeit ergeben. Urusov blieb trotz massiver Kritik an Nikolaus II. und der autokratischen Herrschaftspraxis ein überzeugter Monarchist; und ungeachtet einer pedantischen Sparsamkeit in privaten wie beruflichen Angelegenheiten hegte er eine Faszination für den mondänen Lebensstil des russischen Landadels. Die Komplexität dieser Persönlichkeit, die sich in seinen Selbstzeugnissen spiegelt, ist kein Einzelfall für diese Epoche: Hohe russische Beamte verfassten in der zweiten Hälfte und insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten des langen 19. Jahrhunderts zunehmend Tagebücher und Memoiren.8 Es handelte sich dabei auch 4 5 6
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Figes 2008, 53–59; s. hierzu auch Baberowski 2008. Baberowski 2008, 19. S. für jüngere Arbeiten, die das komplexe Nebeneinander von bürokratischen Modernisierungsbestrebungen und traditionalen Herrschaftsformen beleuchten, etwa Osterkamp 2018; Rolf 2020; Campbell 2017 und Khodarkovsky 2011. Für die Unvermeidbarkeit des Zerfalls der Großreiche in Nationalstaaten argumentierte jüngst Connelly 2020, 131–326. Diese wurden erstmals versammelt in Chailova 2009. Das quantitative Wachstum publizierter Autobiographien und Tagebücher von hohen Beamten spiegelt sich auch in den einschlägigen Bibliographien des sowjetischen Historikers P. A. Zajonc̆ kovskij wider. So wächst der Umfang der Kategorie „Politische Struktur“ (politic̆ eskij stroj), unter der Publikationen von in staatlichen (und hier nicht mitgezählten kirchlichen) Institutionen tätigen Autoren versammelt sind, von 30 Seiten in Band 2.1 (1801–1856), was 0,5 Seiten pro Jahr entspricht auf 57 Seiten (1,5 pro Jahr) in Band 3.2 (1857–1894) und 48 Seiten (2,2 pro Jahr) in Band 4.1 (1895–1917), s. Zajonc̆ kovskij 1977, 82–111; Zajonc̆ kovskij 1980, 7–64; Zajonc̆ kovskij 1983, 140–187. S. dazu auch Schmid 2000, 38.
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um eine Reaktion auf den sich beschleunigenden gesellschaftlichen Wandel, der die imperialen Offiziellen dazu motivierte, verstärkt über ihre eigene Rolle zu reflektieren und ihre Lebenserfahrung in den öffentlichen Diskurs einzubringen.9 Die Arbeit mit dieser Art von Autobiographien hat gerade in den letzten Jahren im Rahmen des imperial turn und der postcolonial studies starken Auftrieb erfahren.10 Für diesen Beitrag werden neben Sergej Urusov zwei weniger bekannte hohe russisch-imperiale Beamte auf ihre Haltung zum „Luxus“ untersucht. Dabei handelt es sich zum einen um den Deutschbalten Konstantin Konstantinovič Miller (1836–1911), der den Großteil seiner Laufbahn als Vize-Gouverneur und Gouverneur in den polnischen Gebieten des Zarenreiches absolvierte und zum anderen um den Priestersohn Vasilij Andreevič Tichonov (1849–1913), der es aus bescheidenen Verhältnissen zum Vizedirektor der Forstabteilung im Ministerium für Staatsdomänen brachte. Als Quellengrundlage dienen für Urusov und Tichonov deren publizierte Lebenserinnerungen; für Miller wurden dessen im Moskauer Staatsarchiv hinterlegten Tagebücher herangezogen.11 Die grundsätzliche These dieses Beitrages lautet, dass Luxus (roskoš') als narrative Schlüsselkategorie für die imperialen Biographien der vorgestellten Akteure eine zentrale Rolle spielte. Zuschreibungen von Luxus-Praktiken und -Konsum erfüllten dabei verschiedene erzählerische Funktionen, die sich einerseits auf Kollektive bezogen, andererseits zur Verdeutlichung individueller Einstellungen dienten. Von besonderem Interesse sind dabei die unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausgangslagen von Urusov, Miller und Tichonov. Ausgerechnet der von Kindesalter an mit umfassenden Privilegien ausgestattete Urusov trat als stärkster Luxuskritiker in Erscheinung. Miller bezog sich eher indirekt auf diese Thematik. Bei Tichonov wiederum tauchte sie häufig in Formen von Allegorien auf. Er verknüpfte Personen, Orte oder Situationen mit Luxus und stellte sich dazu in Beziehung. Gemeinsam ist allen Dreien, dass sie Luxus nur sehr selten auf sich selbst bezogen – meist nutzten sie diese Kategorie, um sich davon abzugrenzen. Luxus fungierte hier also als „Relationsbegriff“ im Sinne Werner Sombarts; er diente dazu, Lebensweisen, Konsumpraktiken und berufliches Handeln anderer Personen moralisch zu verorten.12 Anders als bei Sombart soll dabei in diesem Aufsatz jedoch nicht zwischen „subjektiven Werturteilen“ und „objektivem Maßstab“ unterschieden werden, denn letztlich liefen die Luxusbeschreibungen der Beamten immer auf subjektive Einschätzungen hinaus. Die interessantere Frage ist vielmehr, wie soziale Herkunft, 9
Zu den Gründen des (Auto-)Biographien-Booms in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, s. Schmid 2015, bes. 164 sowie Holquist 2015, hier 210 und 224. 10 S. alleine für den russischen Kontext etwa die Sammelbände von Rolf 2014, Buchen/Rolf 2015a, Aust/Schenk 2015 sowie die Dissertationsprojekte von Herzberg 2013, Hildt 2018, Cordin 2019 und von Winning 2021. Für eine aktuelle Rückschau auf die einschlägige jüngere Forschung s. auch das entsprechende Diskussionsforum in den Jahrbüchern für Geschichte Osteuropas mit den Beiträgen Aust/Schenk 2021 und Rolf/Tondera 2021. 11 Im Einzelnen sind dies Urussow 1907; Chailova 2009; Tichonov 1912a; Tichonov 1912b sowie Miller 1893–1905. 12 S. Sombart 1913, hier 71.
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berufliche Position und biographisch erworbener Habitus (hier im Sinne Pierre Bourdieus verstanden als Summe der im Lebenslauf angesammelten Kapitalsorten) die Wertvorstellungen der Beamten prägten.13 Dass diese sich in ihren Autobiographien immer wieder zu diesem Thema äußerten, verdeutlicht die gestiegene Bedeutung von Lebensstilfragen in dem kompetitiven Feld des zivilen russischen Staatsdienstes des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der von Thorstein Veblen nicht zufällig in dieser Zeit geprägte Begriff des „demonstrativen Konsums“ spielte als Distinktionspraxis auch in diesem Bereich eine zunehmend wichtige Rolle.14 2. REICHE LANDSCHAFTEN, BESCHEIDENE MENSCHEN: (FEHLENDER) LUXUS IN DER BESCHREIBUNG VON REGIONEN UND GESELLSCHAFTLICHEN GRUPPEN Dass für die Kartierung von mental maps auf Landschaften und Personengruppen projizierte Kategorien wie Armut und Wohlstand eine wichtige Rolle spielen, ist gerade auch für das osteuropäische Beispiel vielfach untersucht worden.15 In dieser Hinsicht bieten auch die hier untersuchten Autobiographien ein ergiebiges Untersuchungsfeld. Sergej Urusov nutzte so die narrative Gegenüberstellung von Genügsamkeit und Exzess in verschiedenen Kontexten, um ein Sittengemälde der russischen Gesellschaft zu zeichnen. Auf seiner mentalen Landkarte verortete Urusov so die im Gouvernement Kaluga gelegene Kreisstadt Peremyšl' eindeutig im Zentrum eines buchstäblich geerdeten, ursprünglichen Russlands. In den Erinnerungen an seine dortige Tätigkeit als Kreisadelsmarschall in der zweiten Hälfte der 1880erJahre schilderte er den Ort als Urbild einer vormodernen Lebensweise: „Peremyšl' – eine kleine Stadt, in ihr lebten zu dieser Zeit kaum mehr als zweitausend Einwohner. Holzhäuschen, lange Zäune, ungepflasterte Straßen, die nahezu vollständige Abwesenheit von Bürgersteigen und Straßenbeleuchtung verliehen der Stadt ein graues, bescheidenes Antlitz. Aber sie besaß eine beachtliche Fläche an Ackerland und wertvolle Flußauen von der Oka, dank welcher die Stadtbewohner, die über Ländereien verfügten, der Stadt nicht nur keine Steuern zu zahlen brauchten, sondern im Gegenteil von der Stadt jährliche Zahlungen erhielten.“16
Ohne diesen Kontrast explizit zu machen, stellte Urusov Peremyšl' als Gegenbild des großstädtischen Russlands dar. Der Reichtum des Städtchens lag hier nicht in der Architektur oder der Infrastruktur begründet, sondern in der landwirtschaftlich günstigen Lage. Passend dazu erschienen dessen Einwohner:innen und ihre Sitten
13 Pierre Bourdieu machte sich dafür stark, die Biographie weniger vom Subjekt her zu denken als von dessen struktureller Einbindung in seine soziale Umgebung, die dessen biographisches Handeln in Form des Habitus unbewusst beeinflusst, s. Bourdieu 2012. 14 S. das entsprechende Kapitel zum „demonstrativen Konsum“ in Veblen 1997, 79–107. 15 Am Bekanntesten ist die Studie von Larry Wolff zu den in Westeuropa kursierenden Vorstellungen über „Osteuropa“, (s. Wolff 1994), die eine breite Kontroverse ausgelöst hat und die osteuropabezogene Forschung zu mental maps in den Folgejahren befeuert hat, s. Schenk 2013. 16 Chailova 2009, 162.
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als bodenständig und ehrlich. Bei der Beschreibung der Unterbringung und Bewirtung von in der Siedlung gastierenden Zemstvo-Wahlhelfern durch die lokalen Würdenträger hob Urusov hervor, dass letztere „familiär“ (semejno) und „bescheiden“ (nebogato) wohnten und daher „natürlich keine luxuriösen (roskošnye) Empfänge ausrichten konnten“.17 Urusov – als Adelsmarschall selbst Gastgeber der Wahlhelfer –, schloss sich diesen lokalen Gepflogenheiten nach eigenem Bekunden gerne an: „Aber der Luxus (roskoš') des Adelsmarschall-Abendessens drückte sich lediglich darin aus, dass zu den gewöhnlichen, von meiner einzigen weiblichen Dienerin zubereiteten Koteletts aus meinem Haus [gemeint ist der Landsitz Urusovs in Jaroslavl'] mitgebrachter kalter Stör oder kaltes Wildfleisch gereicht wurde. Die Ergänzung durch Kaviar, Käsehäppchen, irgendwelche Konserven und zwei bis drei Flaschen günstigen Weines verlieh dem Tisch einen fast festlichen Charakter [...]“.18
Im Vergleich zu der eindeutig positiv konnotierten russischen Provinz waren die Beschreibungen Bessarabiens gekennzeichnet von Ambivalenzen. Offen räumte Urusov ein, vor seiner Ernennung zum Gouverneur von dem an der südwestlichen Grenze des Imperiums gelegenen und erst im 19. Jahrhundert ins Russische Reich inkorporierten Gouvernement „soviel wie über Neuseeland, wenn nicht noch weniger“ gewusst zu haben.19 Ähnlich wie im Fall von Peremyšl' entwarf Urusov dabei in seinen einführenden Bemerkungen zur Gouvernementsstadt Kišinev (Chișinău) zunächst eine kurze Charakteristik von deren Erscheinungsbild. Auffallend ist dabei die Beschreibung des in der Nähe des jüdischen Viertels gelegenen Flusses Bîc, den er in einer „kleinen, abscheulich stinkenden, stellenweise nur ellenbreiten Pfütze ohne jede Strömung, ohne jedes Wachstum ringsumher erkannte“.20 Der städtische Fluss – im Falle der Oka noch ein Symbol des Ressourcenreichtums – stand hier stellvertretend für alle negativen Eigenschaften von Kišinev. Diese verknüpfte Urusov zunächst auch mit dem jüdischen Stadtviertel und seinen „niedrigen, schlechten Häusern“.21 Überhaupt beschäftigten sich die Erinnerungen des Fürsten ausführlich mit der Lage der Juden in Bessarabien und dem Zarenreich, die nach dem Pogrom im April 1903 auf großes internationales Interesse stieß.22 Urusov war hier sichtlich darum bemüht, ein ausgewogenes Bild zu zeichnen und sich damit von dem grassierenden Antisemitismus in der russischen Bürokratie abzuheben. Wenngleich ihm zuweilen selbst die Ausdrucksweise entglitt (im Zusammenhang von Korruption bezeichnete er die darin involvierten jüdischen Akteure als „Eiterbeule Bessarabiens“23), sah er die Juden als Opfer einer jahrzehntelangen
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Chailova 2009, 168. Chailova 2009, 168. Urussow 1907, 7. Urussow 1907, 30–31. Urussow 1907, 30. Der Pogrom und dessen beachtliche internationale Rezeption sind gut erforscht, beispielhaft genannt seien hierfür Penkower 2004 sowie Zipperstein 2018. 23 Urussow 1907, 53.
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antisemitischen Politik, die diesen jegliche Chance auf faire ökonomische Teilhabe vorenthielt: „Diese ganze arbeitende Bevölkerung nistet sich in Winkeln und Sackgassen in fürchterlicher Enge und schrecklicher Armut ein und verschafft sich mit Mühe das tägliche Brot, wobei ein fauler Hering mit Zwiebeln als Gipfelpunkt des Luxus und Wohlstandes (verchom roskoši i blagopolučija) gilt.“24
Die Abwesenheit von Luxus diente auch hier als auszeichnendes Merkmal, wenngleich sie von den Umständen erzwungen und daher weniger als noble Bescheidenheit denn als äußerer Zwang daherkam. Weiterhin schilderte Urusov die Juden im Vergleich zu dem „gemütlichen Moldauer“25 als strebsam und fleißig; Eigenschaften, die dieser Bevölkerungsgruppe in seinen Augen einen legitimen Anspruch auf Zugehörigkeit zur imperialen Gesellschaft verschafften. Anders sah es mit dem bessarabischen Adel aus. Urusov kontrastierte diesen mit dem großrussischen Landadel und auch hier nutzte er das Verhältnis zum Luxus als Bewertungsmaßstab. Während für Letzteren ein „paar Hunde für die Herbstjagd, ein Dreigespann selbstgezüchteter Pferde und irgendein Lieblingsfüllen […] den ganzen Luxus des Gutsbesitzers“ darstellten, könne man dagegen auf den „Gütern reicher bessarabischer Grundbesitzer […] großen Luxus (roskoš') antreffen, es fehlte aber jene alte Vornehmheit, die auf unseren Gütern seit den Zeiten Katharinas und Alexanders I. zu Hause ist“.26 Zu dieser „Vornehmheit“ (veličavost') zählte Urusov unter anderem „Öllampen im Empirestil“ statt elektrischer Beleuchtung sowie „französische Enzyklopädien des achtzehnten Jahrhunderts in Ledereinbänden mit Goldschnitt“ statt mit neuesten Romanen gefüllte Bücherschränke. Für ein Mitglied der Kadetten klang die Kritik an der bessarabischen Elite dabei erstaunlich konservativ und zeugte von einer gewissen Nostalgie für eine idealisierte imperiale Ordnung: „Vielleicht ist bei ihnen vieles bequemer als bei uns, aber trotzdem bleiben ihre Landhäuser stets schön möblierte Zimmer und werden nie und nimmer altrussische Adelsnester. […] Prahlerischer Luxus (roskoš'), Genuss der Annehmlichkeiten des städtischen Lebens, das Bestreben, viel einzunehmen und noch mehr auszugeben – das waren die in die Augen stechenden Züge der bessarabischen Gutsbesitzer, die die Adelsgüter Bessarabiens des erblichen und sesshaften Charakters beraubten.“27
Es zeigt sich hier, dass Urusov den roskoš'-Begriff nicht nur sehr breit auslegte, sondern ihn zudem je nach Kontext als legitime oder abzulehnende Praxis kennzeichnete. Ein extrem bescheiden ausgeprägter Luxus konnte – wie im Fall der jüdischen Bevölkerung – das Elend der verarmten Gesellschaftsteile illustrieren; ein „gemäßigter“ Luxus die vermeintliche Bodenständigkeit des russischen Landadels betonen; ein „exzessiver“ Luxus wiederum den dekadenten Lebenswandel der bessarabischen Eliten hervorheben. 24 25 26 27
Urussow 1907, 249–251; russisches Original aus Chailova 2009, 462. Urussow 1907, 273. Urussow 1907, 113; Chailova 2009, 394–395. Urussow 1907, 113–114.
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Auffallend ist, dass Urusov seine auf Regionen und Bevölkerungsgruppen projizierten Vorstellungen von Luxus stärker von der eigenen Person abstrahierte als Vasilij Tichonov und Konstantin Miller. Die Memoiren bzw. Tagebücher letzterer Männer waren im Gegensatz zu Urusovs „Notizen“ nicht für eine breite Öffentlichkeit gedacht; entsprechend erscheint es naheliegend, dass sie Vorstellungen von Reichtum und Armut stärker auf die eigene Situation bezogen. Darüber hinaus war selbst ein vermeintlich bescheidener Luxus für sie keine biographische Selbstverständlichkeit. So freute sich Vasilij Tichonov bei seiner ersten Anstellung als vom Ministerium für Staatsdomänen entsandter „Beamter für besondere Aufgaben“ (činovnik po osobym poručenijam) in Kamanec-Podol'skij (Kamjanez-Podilskyj), Hauptstadt des Gouvernements Podolien an der südwestlichen Grenze des Reiches, dass seine mit dem Bruder geteilte „sehr gute“ Wohnung „trocken, hell, mit hohen Wänden, bemaltem Boden und vier angenehm geschnittenen Zimmern“ ausgestattet war.28 Er orientierte sich bei seinen Wohn- und Lebensumständen zwar auch am Standard seiner sozialen Umgebung, vor allem aber verglich er diese mit seiner eigenen Vergangenheit. Als kärglich bezahlter Volksschullehrer in der bei Voroneš gelegenen Siedlung Buturlinovka hatte er im Schulgebäude gewohnt und sich das Wohnzimmer und die Küche mit einem Kollegen und dessen Familie geteilt; insofern markierte schon die eigene Wohnung einen sozialen Aufstieg. Ähnlich wie Urusov hatte Tichonov durchaus ein Faible für die russische Provinz und ihren Reichtum an natürlichen Ressourcen; allerdings war das großstädtische Leben für ihn nicht nur dessen negatives Gegenbild, sondern auch ein Symbol für soziale Aufwärtsmobilität. Bei seinem ersten Besuch in Moskau als junger Erwachsener staunte er über die reiche Architektur der Stadt und den dort zu beobachtenden technischen Fortschritt. Die imperiale Metropole wies Tichonov einen Weg aus dessen provinzieller Existenz. Das Studium an der dortigen Forstwissenschaftlichen Akademie diente ihm als Bestätigung des Leistungsprinzips. Spöttisch grenzte er sich von den dort ziellos vor sich hin studierenden Zöglingen wohlhabender Familien ab.29 Im Rückblick auf die späteren Jahre weicht die Faszination am großstädtischen Leben allerdings einer gewissen Ernüchterung darüber, im imperialen Zentrum keinen wirklichen Zugang zur höheren Gesellschaft gefunden zu haben. Aus der Perspektive des gealterten Memoirenschreibers – bei Erscheinen seiner Erinnerungen war Tichonov 63 Jahre alt – bezeichnete dieser seine wichtigste Beförderung vom Förster in der südlich von Petersburg gelegenen Siedlung Lisinskoe zum Abteilungsleiter am Ministerium für Staatsdomänen im Jahr 1885 im Alter von 36 Jahren als einen Akt „unverfrorener und sogar roher Gewalt“ (besceremonnoe i daže gruboe nasilie).30 Dieser habe ihn aus einem naturnahen und familiären Arbeitsumfeld zum Umzug in die Hauptstadt gezwungen, wo er in der neuen Position zwar ein sehr einträgliches Gehalt verdiente, die Lebensumstände sich aber dennoch 28 Tichonov 1912b, 30. 29 Tichonov 1912a, 88–89. 30 Tichonov 1912b, 161.
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deutlich unangenehmer gestalteten.31 Als Ministerialbeamter in Petersburg nahm Tichonov eher widerwillig am gesellschaftlichen Leben seiner Kollegen teil. So zeigte er sich verwundert darüber, dass der Besuch anrüchiger Nachtclubs dort zum guten Ton gehörte: „In der Folgezeit ging ich gehorsam mit den Anderen an diese Orte mit und schaute und hörte mir diese Scheußlichkeit (merzost') an, in dem Wunsch, meine niedere Herkunft und meinen schlechten Geschmack (grubie vkusy) zu verbergen.“32
Der sarkastische Verweis auf die als Herabsetzung der eigenen moralischen Normen empfundene habituelle Anpassungsleistung verdeutlicht die doppelte Hürde, die Außenseiter wie Tichonov auf ihrem Karriereweg zu überwinden hatten: Neben der hohen finanziellen Belastung mussten sie sich dem Habitus der höheren Gesellschaftskreise annähern. Wie sich vielen Stellen von Tichonovs Erinnerungen entnehmen lässt, vollzog sich dieser schmerzhafte Lernprozess nicht im Verborgenen, sondern als Abfolge von mehr oder weniger erfolgreich absolvierten gesellschaftlichen Anlässen im Kollegenkreis. Dass es sich dabei keineswegs um einen Einzelfall handelte, verdeutlichen auch die Erinnerungen des Wirklichen Staatsrats Ivan Koško an seine Zeit als Gouverneur von Perm (1911–1914).33 Dort berichtet dieser über den Kanzleileiter der Gouvernementsverwaltung Ven'jamin Ivanov, der ähnlich wie Tichonov aus einer Priesterfamilie stammte und sich nur mühsam die Umgangsformen und den Kleidungsstil aneignete, der seiner gesellschaftlichen Stellung entsprach.34 Der wohlwollend-herablassende Tonfall, mit dem Koško die Bemühungen Ivanovs kommentiert, verdeutlicht die Kontinuität paternalistischer Beziehungsstrukturen in der spätimperialen Verwaltungsspitze.35 Die Abhängigkeit aufstrebender Beamter von der Protektion ihrer Vorsitzenden war laut Susanne Schattenberg das kennzeichnende Merkmal der neuzeitlichen russischen Verwaltung bis Mitte des 19. Jahrhunderts und offensichtlich hatte sich daran auch im fin de siècle wenig geändert.36 Angesichts der Enttäuschung, die Tichonov im Rückblick mit Petersburg verband, verwundert es kaum, dass dieser ähnlich wie Urusov die russische Provinz idealisierte. Der romantisierende Blick war hier allerdings geerdet durch eine klare Sicht auf die Härten des bäuerlichen Lebens und ein durch eigene Erfahrungen 31 Tichonov 1912b, 162. 32 Tichonov 1912b, 283. 33 Während ein Teil von Koškos Erinnerungen noch zu dessen Lebzeiten 1916 erschien, wurden dessen Aufzeichnungen über die Zeit als Gouverneur von Perm erst 2007 publiziert, vgl. Pavlovskij 2007. 34 Pavlovskij 2007, 134–139. 35 Die Rückbesinnung auf eine personale, autoritäre und obrigkeitsstaatliche Herrschaftsausübung seitens der Verwaltung werden insbesondere mit der Herrschaftsepoche Alexander III. (1881–1894) und der Tätigkeit von Innenminister Dmitri Andrejevič Tolstoi (1882–1889) in Verbindung gebracht. Thomas Pearson sprach im Kontext der federführend von diesen Akteuren betriebenen „Gegenreformen“ auch von „bureaucratic paternalism“, vgl. Pearson 2004, bes. 153–180. 36 Schattenberg 2009, 90–102.
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grundiertes Wissen um die infrastrukturellen Mängel entlegener Regionen. Tichonov verdeutlichte die empfundene Einfachheit und Unverdorbenheit des Landlebens am Beispiel einer abgeschieden lebenden fünfköpfigen jüdischen Familie, bei der er als junger Mann auf einer Dienstreise durch das Gouvernement Cherson für einige Tage unterkam. Das gemeinsame Abendessen mit der Familie erinnerte ihn an „ein Bild aus Zeiten des Evangeliums“.37 Der Wunsch, ein ähnlich einfaches, aber erfülltes Leben in der Provinz zu führen, durchzieht Tichonovs Memoiren wie ein roter Faden. Sein Dilemma bestand darin, sich aufgrund seiner Herkunft aus den höheren gesellschaftlichen Kreisen ausgeschlossen zu fühlen, zugleich aber aufgrund seines beruflichen Aufstiegs immer mehr Zeit in diesen verbringen zu müssen. Ähnliche Sorgen trieben auch Konstantin Miller um, dessen entbehrungsreicher Dienst an der Verwaltungsspitze in den polnischen Gebieten des Zarenreichs ihm nicht die gewünschte Anerkennung in Petersburg einbrachte. Als neu ernannter Gouverneur von Petrokovsk (Piotrków) wandte er sich im März 1900 mit einem Schreiben an den Generalgouverneur im „Weichselland“, General Alexander Imeretinsky, damit dieser ihm bei der Beschaffung eines ruhigeren Postens in Petersburg helfen möge.38 In diesem Brief (wie auch sonst an vielen Stellen in seinem Tagebuch) stellte Miller seinen Dienst an der westlichen Peripherie des Imperiums als täglichen Kampf dar, der ihn seiner Gesundheit beraubte. Dabei wird deutlich, dass Miller mit der Tatsache haderte, während seiner 35-jährigen Amtszeit aufgrund der exponierten beruflichen Stellung nur selten zur Ruhe gekommen zu sein. Das imperiale Zentrum stellte für den im Baltikum aufgewachsenen Miller sowohl zu Beginn als auch am Ende seiner Karriere einen enttäuschenden Sehnsuchtsort dar, der ihm zunächst die erhofften Karriereoptionen verweigerte und ihm erst spät (vier Jahre nach dem Brief an Imeretinsky) eine Art Vorruhestand auf einem anspruchslosen Posten im Senat ermöglichte. Die westliche Grenzregion hingegen war Ort der Bewährung und der Marginalisierung zugleich: Hier gelang Miller nach einer gescheiterten Militärkarriere der Aufstieg in das Amt des Gouverneurs; aber gleichzeitig galt er wegen seiner Nähe zur polnischen Bevölkerung (seine erste Frau war Polin und er besaß weitreichende Verbindungen innerhalb der lokalen Bevölkerung) in konservativen Petersburger Kreisen als „polonophil“.39 Ähnlich wie Tichonov verzweifelte Miller letztlich daran, dass seine empfundene Selbstaufopferung für den Staat und die eigene Karriere ihm lange Zeit keinen vollwertigen Zugang zu höheren imperialen Kreisen und vor allem ein „angemessenes Gehalt“ in ruhiger Stellung oder eine auskömmliche Pension verschaffte. Seine Karriere gestaltete sich aus seiner Perspektive als jahrzehntelanger Kampf um eine gesicherte, sorgenfreie Existenz in räumlicher Nähe zum Zaren.
37 Tichonov 1912b, 18. 38 Miller 1900, 107. 39 S. Cimiak 1999, 103.
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Die Wahnehmung des Imperiums war bei allen drei Protagonisten insofern stark geprägt von der eigenen gesellschaftlichen Position. Für Miller und noch ausgeprägter für Tichonov stand beim Blick auf Städte, Landschaften und Menschen die Frage im Mittelpunkt, ob diese zusammengenommen einen „Möglichkeitsraum“40 für das eigene professionelle und soziale Fortkommen und das „gute Leben“ im Privaten bildeten. Urusov hingegen legte eine mental map verschiedener Bevölkerungsgruppen und Regionen an, die stärker auf einen politisch-gesellschaftlichen Diskurs abzielten. „Luxus/roskoš'“ stellte für ihn ein wichtiges, zugleich aber auch recht beliebig definiertes Kriterium für Zugehörigkeit und Ausschluss aus der imperialen Gemeinschaft dar. Bei Miller und Tichonov hingegen markierten Luxusvorstellungen das Bedürfnis nach Anerkennung von Lebensleistungen und Akzeptanz unter der peer group der hohen Beamtenschaft. 3. LUXUS ALS BIOGRAPHISCHES ELEMENT: STATUSINSZENIERUNG UND „DEMONSTRATIVER KONSUM“ ALS KARRIERESTRATEGIE Als der junge Absolvent Vasilij Tichonov nach seinem Studium an der Forstwirtschaftlichen Akademie in Moskau seine erste Stelle als „Beamter für besondere Aufgaben“ am Ministerium für Staatsdomänen erhielt, riet ihm ein polnischer Kommilitone, die Neuberufung gebührlich in Szene zu setzen: „Machen Sie es so, wie unsere Szlachta-Angehörigen in diesen Fällen: versuchen Sie, am Vorabend eines Sonn- oder Feiertages zu sich in die Heimat zu fahren. Übernachten sie irgendwo im Nachbardorf; am Morgen legen sie ihre Uniform an, setzen ihre Kopfbedeckung mit dem Abzeichen seitlich auf und fliegen auf einer Postkutschen-Troika mit großem Tamtam zu den Toren des elterlichen Hauses – vor den Augen der gesamten Gemeinde, die sich vor der Kirche versammelt hat. Im Haus sind alle in heller Aufregung von dem Lärm der Schellen und dem Aufruhr, und Sie erscheinen an der Türschwelle in all Ihrer Herrlichkeit.“41
Die Form der Selbstdarstellung, die Tichonov nach eigener Darstellung von seinem Bekannten nahegelegt wurde, entsprach genau jener symbolischen Überhöhung des eigenen gesellschaftlichen Status, die der eingangs zitierte Urusov so vehement ablehnte. Was aus dessen Sicht ein Relikt vormoderner gesellschaftlicher Traditionen darstellte, gehörte für den Kommilitonen zur normalen Etikette des aufstrebenden Beamten. Tatsächlich zeigt die unterschiedliche Haltung zu dieser Form des demonstrativen Konsums, dass die Sichtweise auf angemessene Formen des öffentlichen Auftretens neben einer politischen auch eine soziale Komponente beinhaltete. Die symbolische Zurschaustellung des beruflichen Erfolges war gerade für Angehörige der niederen Adelsränge und Nichtadelige ein probates Mittel, um den ge-
40 Buchen/Rolf 2015b, 17. 41 Tichonov 1912b, 4–5.
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sellschaftlichen Aufstieg öffentlich sichtbar zu machen oder gar vorwegzunehmen.42 Durch einen die tatsächlichen finanziellen Möglichkeiten weit übersteigenden Kleidungsstil und Lebenswandel demonstrierten ambitionierte junge Männer ihren Aufstiegswillen. Indem sie einen Habitus einnahmen, der nicht ihrer eigentlichen gesellschaftlichen Stellung entsprach, gingen sie eine Wette auf die Zukunft ein, die existenziellen Charakter hatte. Der 28-jährige Konstantin Miller verschuldete sich so in den 1860er Jahren nach einer gescheiterten militärischen Karriere bei Freunden und Verwandten, um auf der Suche nach einer „angemessenen“ Einstiegsstellung im Staatsdienst mit geeigneter Garderobe bei potenziellen Vorgesetzten antichambrieren zu können.43 Ein derartiges Vortäuschen von ökonomischer Potenz, die devote Haltung gegenüber Höhergestellten und die ungelenke Nachahmung hochadeliger Umgangsformen bildeten die Zutaten bekannter Beamtensatiren des 19. Jahrhunderts.44 Literaten wie Nikolaj Gogol und Michail SaltykovŠčedrin überzogen die Engstirnigkeit, Pedanterie und Faulheit der russischen Staatsdiener, aber eben auch ihren verzweifelten Kampf um sozialen Aufstieg mit beißendem Spott. Die Kritik bezog sich dabei allerdings immer auch auf die gesellschaftlichen Strukturen, die den niederen Beamten ein derartiges Verhalten nahelegten. Denn neben dem Militär war der Staatsdienst eine der wenigen Institutionen in der weitgehend statischen russischen Ständegesellschaft, die seit Peter I. sozialen Aufstieg bis hin zur Nobilitierung ermöglichte.45 Das Erklimmen der Karriereleiter gestaltete sich allerdings außerordentlich mühsam. Der reguläre Beförderungsmechanismus der Rangtabelle enthielt einen eingebauten Bremsmechanismus für Personen von niedrigem Stand und mit geringer Bildung.46 Wer es trotzdem ohne einflussreiche Protektion in die oberen Ränge schaffen wollte, musste daher einerseits die Aufmerksamkeit und Gunst seiner Vorgesetzten erlangen, um etwa durch die Verleihung von Orden für besondere Verdienste das berufliche Fortkommen zu beschleunigen. Er sah sich andererseits mit der Herausforderung konfrontiert, die habituelle Eignung für eine herausgehobene Position unter Beweis zu stellen. So empfand Tichonov als Vize-Abteilungsdirektor im Ministerium für Staatsdomänen die 42 Ein bekanntes literarisches Beispiel des Beamten-Emporkömmlings beschrieb Nikolaj Gogol am Beispiel des fiktiven Charakters Pavel Čičikov in Die toten Seelen (1842). In der historischen Forschung wurden die vielfältigen gesellschaftlichen Barrieren, die berufliche Aufwärtsmobilität im Zarenreich erschwerten, hingegen meist nur in Ansätzen beschrieben, vgl. etwa Becker 1988, 117–118 und Bennett 1980, 180–182, wo die Ordensverleihung an Beamte als Steigbügel für den gesellschaftlichen Aufstieg beschrieben wird sowie Armstrong 1972, dessen Fokus allerdings auf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegt. Eine gute Übersicht (etwas) jüngeren Datums über die nur langsam zunehmende Aufwärtsmobilität im Zarenreich und der Forschung hierzu mit Schwerpunkt auf die Lage in den polnischen Gebieten findet sich in Chimiak 1999, 79–88. 43 Miller 1893, 133. 44 S. Schattenberg 2008, 11–12. 45 S. Raeff 1979; Bennett 1980. 46 Der Einstiegsrang und die Dauer für Beförderungen waren im Russischen Reich abhängig vom Stand und der Bildung der Beamten, vgl. dazu das erste Kapitel aus Zajončkovskij 1978, 25–105.
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Einladung seines Ministers zu einer privaten Abendgesellschaft als „Examen“, bei dem es darum ginge, „zu schauen, ob ich zu etwas tauge: d. h. ob ich es verstehe, bei Tisch zu sitzen, Konversation zu führen, zu lachen“. 47 Für ihn wie für andere Beamte, die aus vergleichsweise bescheidenen Verhältnissen stammten, standen ungeachtet ihrer beruflichen Erfolgsgeschichte zu gesellschaftlichen Anlässen immer ihre soziale Existenz, zumindest aber ihr guter Ruf auf dem Spiel. Beispiele für das Empfinden von Minderwertigkeitskomplexen und Unsicherheit in hoher Gesellschaft fanden sich so auch bei Konstantin Miller. Zu Beginn seiner Karriere als Beauftragter für die Umsetzung der Landreformen in den polnischen Gebieten verzichtete er auf die geselligen Abende mit seinen Kollegen – unter anderem aus Mangel an Geld. Im Arbeitsalltag musste er finanzielle Belastungen auf sich nehmen, um seine Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit zu demonstrieren. So verwies er darauf, dass er auf seinen Dienstreisen die Verpflegung durch die polnischen Bauern bewusst aus eigener Tasche bezahlte.48 Die Klage über pekuniäre Engpässe diente aber offensichtlich – ob bewusst oder unbewusst – auch als Kommunikationsstrategie, um Verbesserungen der eigenen Position zu erreichen. So erwirkte Miller von seinem Vorgesetzten die Zusage einer Beförderung, nachdem er die Durchführung einer Dienstreise aus Mangel an Geld zunächst ablehnte. Doch selbst nach dem Aufstieg zum „Kommissar für Landfragen“ blieben finanzielle Nöte ein zentrales Thema für Miller. Er habe weder Geld für eine Köchin noch für andere „häusliche Annehmlichkeiten“ gehabt und nicht mehr als die Hälfte des „Lakaien“ seines Vorsitzenden verdient.49 Sowohl für Miller als auch für Tichonov war das Gehalt kein angenehmer Nebeneffekt ihrer Beamtentätigkeit, sondern eine Ressource, die sozialen und beruflichen Aufstieg überhaupt erst möglich machte. Ob man vor diesem Hintergrund Marc Raeffs Feststellung, dass Staatsdienst im Zarenreich Wohlstand ermöglichte und nicht umgekehrt Wohlstand die Grundlage einer erfolgreichen Karriere darstellte, zustimmen kann, hängt dabei ganz entscheidend von der Frage ab, wie man „Wohlstand“ definiert und ob man auch die Masse der Menschen in den Blick nimmt, die sich vergeblich um eine Anstellung im Staatsdienst bemühten.50 Der alleinige Blick auf die wachsende Beteiligung nichtadeliger Gesellschaftsschichten an der unteren und mittleren Beamtenschaft im Zarenreich unterschlägt jedenfalls die prekären Lebenslagen der niederen Beamtenränge und die Masse an Personen, die sich unter erheblichen Ausgaben vergeblich um eine Stelle in der Bürokratie bemühten.51 Mit Bourdieu gesprochen begegneten sich im höheren Staatsdienst des Zarenreichs zunehmend Angehörige verschiedener Klassen, deren „Neigungswinkel“ der
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Tichonov 1912, 257. Miller 1893, 60–61. Miller 1893, 81–82. Raeff 1979, 401. S. zu diesen Überlegungen auch Becker 1988, 116–122.
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Laufbahn (trajectoire) in unterschiedliche Richtungen zeigten.52 Damit einher ging eine stärkere Heterogenität dessen, was Bourdieu als „Angepasstheit an die in der Position angelegten Anforderungen“ bezeichnete.53 Tichonov als Aufsteiger und Miller als sich gegen den sozialen Abstieg stemmender Adeliger bewegten sich mit spürbar größerer Vorsicht und Unsicherheit in ihrem beruflichen Feld als der in vielfacher Hinsicht besser abgesicherte Urusov. Dessen souveräne Zurückweisung ungeschriebener Verhaltensnormen und als obsolet empfundener Traditionen zeugten von der Wahrnehmung, selbst über die Spielregeln seiner Profession bestimmen zu können. Dieses exzeptionelle Selbstbewusstsein war sowohl in seiner distinguierten gesellschaftlichen Stellung begründet als auch in der intimen Kenntnis der Umgangsformen an der Verwaltungsspitze. Ohne auf die Einnahmen aus der Beamtenschaft angewiesen zu sein oder eine derartige Karriere überhaupt zu planen, hatte Fürst Sergej Urusov von früh an eine ideale Vorbereitung auf den Staatsdienst erhalten. Bereits in seiner Kindheit in Jaroslawl bekam er als regelmäßiger Feriengast bei der Familie des dortigen Gouverneurs Ivan Unkovskij ausführlich Gelegenheit, sich mit dessen Habitus vertraut zu machen und erhielt von seinem am Senat tätigen Cousin zweiten Grades bei dessen Besuchen im Elternhaus detailliert Auskunft über den beruflichen Dresscode und die sonstigen Gepflogenheiten unter der hohen Beamtenschaft in Petersburg.54 Die Möglichkeit, als Vize-Gouverneur und Gouverneur zu dienen, stellte für Urusov insofern im mittleren Alter eine interessante und naheliegende Karriereoption dar, nachdem er viele Jahre als Kreisund Gouvernements-Adelsmarschall in Kaluga gedient hatte. Seine Tätigkeit entsprang jedoch keiner ökonomischen Notwendigkeit, was Urusov seinen Angaben zufolge dahingehend nutzte, sich ostentativ über viele professionelle Konventionen hinwegzusetzen und gegenüber seinen Vorgesetzten, darunter auch dem Innenminister und selbst dem Zaren, eine selbstbewusste Haltung an den Tag zu legen. Zugleich verfügte er über die nötigen ökonomischen Ressourcen, um dem erwarteten Erscheinungsbild eines hohen Beamten gerecht zu werden, während Konstantin Miller und Vasilij Tichonov sich hierfür verschulden mussten. Dies verdeutlicht, dass sozialer Aufstieg durch das Beamtentum im späten Zarenreich nicht nur durch formale Regelungen behindert wurde, sondern auch durch ökonomisch und soziokulturell bedingte habituelle Hürden, für deren Existenz Hochadelige in vielen Fällen kaum ein Bewusstsein hatten.55 Den „bescheidenen Luxus“, von dem Graf Urusov im vorherigen Unterkapitel sprach und der für das berufliche Vorankommen von unschätzbarer Bedeutung war, musste man sich leisten können.
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Bourdieu 2012, 191. Bourdieu 2012, 189. Chailova 2009, 75–76; 85. S. hierzu auch Vladimirov 2004, 104–107.
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4. FLUCHTEN AUS DEM ALLTAG: ESKAPISMUS UNTER BEAMTEN „Einmal sitzen wir beim Abendessen und teilen uns freundschaftlich ein Stück Schweinebraten, das im Großen und Ganzen aus getrockneter Haut besteht. Da tritt Mitrofan Jakovlevič Trojanovskij ein – in einer Pelzkutte, Filzhut und neuen Handschuhen. […] Er sah, wie wir uns mit der verbratenen Schweinehaut abquälten und beklagte sich bitterlich: ‚Ihr solltet Euch was schämen, Vasilij Andreevič! Haben Sie dafür etwa zwölf Jahre studiert, waren der beste Schüler und Student, um so ärmlich zu leben? Selbst der letzte Schuster […] isst besser als Sie. Schauen Sie mich an: Ich bin mit allem versorgt, ich habe eine geräumige Wohnung, speise gut, trinke Wein, reise mit meinen eigenen Pferden.“56
Besondere literarische Ambitionen gelten als eher untypisch für Autobiographien oder Tagebücher von Beamten.57 Dennoch bemühten sich manche Autoren um dramaturgische Elemente, die dem Text Spannungsbögen, Leitmotive und Struktur verliehen. So auch Vasilij Tichonov, dessen oben zitierte Episode aus seiner Zeit als Lehrer einer kleinstädtischen Schule derart ausgeschmückt, konstruiert und mit Symbolik überladen wirkt, dass dem kritischen Leser der Gedanke an deren Authentizität fern liegen dürfte. Tatsächlich erscheint der im ersten Kapitel seiner Erinnerungen als „mir wenig bekannter“ Kommilitone aus dem Priesterseminar seines Heimatdorfes eingeführte Mitrofan Trojanovskij wie eine Kunstfigur, die dazu dient, die bescheidene und tugendhafte Lebensführung Tichonovs zu betonen. Trojanovskij wird als Person beschrieben, die ihr Leben fast spiegelbildlich zu diesem führt: Während Tichonov engagiert und strebsam, dabei aber beruflich wenig ambitioniert und materiell bescheiden auftrat, war dessen ehrgeiziger Bekannter darum bemüht, trotz fehlendem Fleiß und Talent ein möglichst hohes Gehalt zu erzielen. Dass ihm dies gelang, nahm Tichonov ihm nach eigenen Aussagen nicht übel, „im Gegenteil, er beneidete uns als freie Menschen.“58 Viele erzählerische Elemente in Beamtenautobiographien zielten in dieser Weise darauf ab, den Verfasser als genügsam und somit seinem Kollegenkreis moralisch überlegen darzustellen. Die Bescheidenheit diente dabei nicht als Selbstzweck, sondern als Verweis auf ein intaktes Berufsethos. Da hohe Beamte immer dem latenten Verdacht ausgesetzt waren, auf unlauterem Wege in ihre Position aufgestiegen zu sein und durch korruptes Verhalten finanziell von ihrer Lage zu profitieren, lag eine Überbetonung der eigenen Tugendhaftigkeit auch im Privaten nahe.59 Insbesondere in publizierten Autobiographien wurden negativ konnotierte
56 Tichonov 1912, 112–113. 57 S. dazu Holquist 2015, 210–211, der etwa das prototypische Tagebuch des Diplomaten Fedor Mertens als „profoundly un-lyrical“ bezeichnete. Für die Zeit vor 1850 sieht Ulrich Schmid die „Dienstautobiographie“ als von äußeren sozialen Strukturen festgelegte Textgattung, bei der individuelle psychologische Motive keine Rolle spielen; s. Schmid 2000, 394–395. 58 Tichonov 1912a, 113. 59 Als paradigmatisch für die Ansicht, dass hohe Beamte in erster Linie dank Bestechlichkeit und Protektion in ihre Positionen gelangten, darf der zeitgenössische Bericht des Juristen (und Staatsbeamten) Ivan Blinov gelten, der 1906 eine Überblicksdarstellung über das Gouverneursamt im Zarenreich verfasste und festhielt, dass Anstelle von fachlicher Qualifikation die
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Charaktereigenschaften daher auf andere Akteure projiziert und mit der Haltung des Autors kontrastiert. Implizit beinhaltete dies häufig auch eine Selbstdistanzierung von der Rolle als Beamter. Bereitwillig übernahmen die Autobiographen verbreitete Stereotype über ihre Berufsgruppe, die an konkreten Einzelfällen zu Bestechlichkeit, Faulheit oder Engstirnigkeit durchgespielt wurden. Sich selbst und ihr persönliches Netzwerk stellten sie dagegen als Ausnahme von der bürokratischen Norm dar. Der Stolz auf die eigene Lebensleistung beruhte in dieser Logik auf den Errungenschaften nicht aufgrund, sondern trotz des Beamtenstatus. Vor diesem Hintergrund waren Ausstiegsphantasien sowie Klagen über gesundheitliche Probleme und Überarbeitung ein wiederkehrendes Motiv: Die mangelnde Identifikation mit dem beruflichen und gesellschaftlichen Status brachte die Beamten früher oder später zuverlässig in einen Zustand, den man nach heutigem Verständnis als „Burnout“ bezeichnen würde. Das asketische Setting60, das Tichonov im oben zitierten Beispiel entwarf, kann dabei als Heterotopie im Sinne Foucaults aufgefasst werden. 61 Das karge Abendmahl in der beengten Gemeinschaftswohnung fungierte hier als „Kompensationsraum“ zu der materiell gesicherten, aber von hoher Arbeitsbelastung, Intrigen und Fremdbestimmung geprägten Beamtenexistenz. Als ‚Luxus‘ erschien hier gerade der Verzicht auf die mit dem Staatsdienst einhergehenden Pflichten, aber auch auf dessen Privilegien; Tichonovs karges Abendmahl entfaltete seinen Reiz durch das Beisammensein mit einem guten Freund und die Abwesenheit von aufwendigem Zeremoniell, eingeübten Ritualen und hierarchischen Beziehungen. Diese Form des narrativen Eskapismus fand sich auch bei Urusov und Miller; bei letzterem kann sogar das gesamte Tagebuch als Versuch verstanden werden, die psychologischen Belastungen der Beamtenlaufbahn zu verarbeiten. Als ideale Gelegenheit, alternative Lebensweisen für einen gewissen Zeitraum zumindest ansatzweise durchzuspielen, erwiesen sich in diesem Zusammenhang längere Aufenthalte im Ausland. Der Alltag in einer fremden Umgebung erlaubte es, neue soziale Rollen zu erproben und konfrontierte die Beamten mit einer gänzlich ungewohnten Selbst- und Fremdwahrnehmung. Sergej Urusov ging dabei sogar soweit, sich auf seiner ersten Reise durch Europa 1898 nicht als Fürst, sondern als „Landwirt“ zu bezeichnen.62 Tatsächlich sind seine diesbezüglichen Aufzeichnungen von einem exzessiven Sparsamkeits- und Effizienzdenken gekennzeichnet. Urusov reiste so in Zügen zweiter und dritter Klasse, verpflegte sich in Frankreich in den als Arbeiterrestaurants bekannten Bouillons und listete akribisch seine tägli-
richtigen Beziehungen entscheidend für das berufliche Vorankommen im Staatsdienst seien, s. Blinov 1906, 196. 60 S. zu ähnlichen Formen einer „demonstrativen Austerität“ auch den Aufsatz von Seelentag in diesem Band. 61 Foucault 2005, 7–22. 62 Chailova 2009, 274.
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chen Ausgaben auf. Sein Ziel sei es gewesen, die Gesamtausgaben der einmonatigen Reise unter 300 Rubel zu halten, von denen er 100 als „Not-Rubel“ in seine Kleidung einnähte.63 Vasilij Tichonov berichtete anlässlich seines einjährigen Aufenthalt im Deutschen Reich nach dem Abschluss des Studiums 1881 sogar von längeren Phasen des Hungerns, da aufgrund eines Versehens sein Stipendium verspätet eintraf.64 Ähnlich wie bei Konstantin Miller, der seine Karriere im russischen inner abroad, dem Königreich Polen, begann, stellte sich der Aufenthalt in einer fremden Umgebung als Bewährungsprobe und Prekariatserfahrung dar. Eine dominierende Gefühlslage für Tichonov während seiner Zeit im Deutschen Reich und in Frankreich war die Scham über seine materielle und kulturelle Inferiorität. Bei einer Übernachtung in der Nähe von Nancy fühlte der Forstwissenschaftler sich so der Unterbringung bei einer „vermutlich sehr reichen Person“ unwürdig: „[H]errliche Möbel, Bilder in breiten, vergoldeten Rahmen, dicke Teppiche und weiße Decken aus Atlasgewebe auf den Betten und ich im verschmutzten Jackett, nassen Stiefeln; es war mir sehr peinlich, mich in diesem Luxus (roskoš') zu entkleiden und zu schlafen; am nächsten Tag stand ich sehr früh auf und übergab mich zügig der beschämenden Armut in einem Restaurant, das sich in der Nähe unseres Sammelpunktes befand.“65
Das starke Gefühl der Unterlegenheit, das hier auf Tichonovs Selbstwahrnehmung und dessen Handeln einwirkte, war grundiert in der bei allen hier vorgestellten Beamten tief verankerten Vorstellung, dass die westlich vom Russischen Reich gelegenen Staaten und Imperien zivilisatorisch weiter fortgeschritten waren. Die Vorstellung eines rückständigen „Osteuropas“, als dessen „Erfinder“ Larry Wolff westeuropäische Reisende des 18. Jahrhunderts ausgemacht hatte, ist hier ein Jahrhundert später als negativ konnotierte Kollektividentität russischer Beamter wieder zu erkennen.66 Dies gilt selbst für Konstantin Miller, der sich trotz seiner deutschbaltischen Herkunft und der Ehe mit einer katholischen Polin in erster Linie als Bürger des russischen Imperiums definierte. Am 29. Februar 1900, einem Schaltjahr im julianischen, nicht aber im gregorianischen Kalender, vermerkte er in seinem Tagebuch, dass „wir von heute an einen weiteren Tag hinter dem Westen zurückliegen.“67 Es sprach für die Komplexität von Millers Identität, dass er sich einerseits mit dem russisch-imperialen Unterlegenheitskomplex identifizierte, sich jedoch andererseits in seiner Zeit als Gouverneur in den polnischen Gebieten immer wieder von seinen russischen Untergebenen in der Verwaltung distanzierte. Er warf ihnen vor, trotz mangelnder Qualifikation und charakterlicher Eignung lediglich aufgrund ihrer Nationalität Anstellung in der Verwaltung gefunden zu haben und dort schlechtere Leistungen zu erbringen als ihre polnischen Kollegen.68
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Chailova 2009, 266. Tichonov 1912b, 55–61. Tichonov 1912b, 123. Wolff 1994. Miller 1900, 106. Miller 1897, 21–22.
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Trotz der erheblichen Unterschiede ihrer sozialen Herkunft übten sich so Miller, Tichonov und Urusov im Westen beziehungsweise gegenüber im Westen gelegenen ausländischen Gesellschaften in vergleichbaren Praktiken der Selbstmarginalisierung. Dabei wurden der wahrgenommene höhere Lebensstandard und das überlegene kulturelle Niveau in der Regel anders eingeordnet als der einheimische Luxus. Er wurde hier nicht als Charakterschwäche, Prahlerei oder Ausweis archaischer Herrschaftspraktiken wahrgenommen, sondern im Gegenteil als logisches Resultat einer fortschrittlicheren Gesellschaftsordnung. Dass für Einwohner des Zarenreichs die „Rolle des Kolonisatoren und des Kolonisierten wiederholt wechselte“, hatte Alexander Etkind im Rahmen seiner Studien zur inner colonization bereits festgestellt:69 Dieser Prozess war aber nicht auf den innerrussischen Kontext beschränkt. Als selbst empfundene „Europäer zweiter Klasse“ unterzogen sich die russisch-imperialen Beamten im westlichen Ausland in vorauseilendem Gehorsam einer sozialen Entwertung.70 Das Verstecken oder Entwerten der eigenen sozialen Identität muss allerdings nicht nur als Unterwerfungsgeste gegenüber als fortschrittlicher eingeschätzten Gesellschaften interpretiert werden. Wie die eingangs des Abschnitts zitierte Begegnung zwischen Tichonov und dessen Bekannten nahelegt, konnte der intentionale Verzicht auf jegliche Form der Statusinszenierung als lustvoller Rollenwechsel empfunden werden, der neue Handlungsspielräume und einen zeitlich begrenzten Ausbruch aus der als starr empfunden sozialen Rolle erlaubte. 5. FAZIT: DIE NARRATIVEN FUNKTIONEN DES LUXUS IN BEAMTEN-AUTOBIOGRAPHIEN Oberflächlich betrachtet scheint Luxus in Beamtenautobiographien als narrativer Abgrenzungsmarker zu dienen. Dort, wo Luxus begann, waren das Berufsethos, die alltägliche Moral und das rechte Maß in Konsumfragen gefährdet. Luxus-Praktiken wurden demnach denjenigen Individuen oder Gruppen zugeschrieben, von denen sich die Beamten distanzierten. Tatsächlich aber war die Haltung zum Luxus bei den hier betrachteten Staatsdienern deutlich ambivalenter und komplexer. So entwickelten diese durchaus auch neutrale und positive Haltungen zum Luxus. Als „Relationsbegriff“ im Sinne Sombarts variiert dessen Ausdeutung dabei in Abhängigkeit von der jeweiligen Lebenssituation und der gesellschaftlichen Stellung der Protagonisten.71 Zusammenfassend lassen sich dabei fünf Funktionen des Luxus festhalten, die den Lebenserzählungen hoher Beamter entnommen werden können: Erstens diente ein aufwendig inszenierter Lebensstil der Aufwärtsmobilität unterprivilegierter Schichten. Mit „demonstrativem Konsum“ unterstrichen ambitionierte Beamte ihre Bereitschaft zur Übernahme einer höheren beruflichen und gesellschaftlichen Stellung; gleichzeitig diente er nach einer Beförderung oder Ordensverleihung der Zurschaustellung dieser Erfolge. Sich Luxus zu leisten, war in 69 Etkind 2013, 217–218. 70 Tlostanova 2010, 69–70. 71 Sombart 1913, 71.
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diesem Sinne eine mit hohen Risiken verbundene Investition in die eigene Karriere. Zugleich förderten diese Praktiken in der zeitgenössischen öffentlichen Wahrnehmung und der bis in die Gegenwart breit rezipierten kulturellen Überlieferung den schlechten Ruf gerade des kleinen und mittleren russischen Beamten als Karrieristen und Snob. Zweitens kennzeichneten Luxuszuschreibungen die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Sie stellen damit eine auf individuelle und kollektive Identitäten bezogene Unterscheidungskategorie dar, die in der Forschung bislang noch wenig Beachtung gefunden hat.72 Urusov klassifizierte so die Luxuspraktiken einer Reihe von Bevölkerungsgruppen (von den bessarabischen Juden, der moldawischen Oberschicht, dem russischen Land- und Großadel etc.) und wies ihnen damit einen zentralen oder peripheren Platz auf der mentalen Landkarte des Imperiums zu oder schloss sie ganz davon aus. Zugleich zeigte sich im Kontakt mit dem Ausland eine nivellierende Qualität des Luxusdiskurses: Vor den als fortschrittlicher wahrgenommenen westlichen Gesellschaften ebneten sich die sozialen Unterschiede der imperialen (nicht unbedingt im ethnischen Sinne russischen) Autobiographen ein. Das Gefühl der ökonomischen wie kulturellen Inferiorität stellte hier eine gemeinsame identitätsstiftende Erfahrung dar. Drittens umriss Luxus die subjektiv wahrgenommenen Grenzen eines „anständigen“ Berufsethos. Hier machte sich ein besonderer Effekt der imperialen Verwaltungslogik bemerkbar: Viele hohe Beamte absolvierten gerade die frühen Jahre ihrer Karrieren in weit voneinander entfernt gelegenen Regionen. Dabei übertrugen sie ihre angeeigneten Verhaltensmuster und Werthaltungen auf die jeweils neuen lokalen Kontexte.73 So erklärt sich auch, dass Urusov das im Eingangszitat beschriebene Begleitzeremoniell als übertriebenen Aufwand wahrnahm, während seine bessarabischen Begleiter das Bereitstellen einer Reiterstaffel als absolutes Minimum empfanden. Solche Zusammenstöße von lokalen kollektiven Erwartungshaltungen und dem individuellen Habitus hoher Beamter waren gerade bei Veränderungen an der Spitze von Regionalverwaltungen ein typisches und regelmäßig wiederkehrendes Phänomen.74 In der durch ethnische und politische Konflikte aufgeheizten Atmosphäre des Zarenreiches um die Jahrhundertwende war öffentliches Verwaltungshandeln allerdings symbolisch stärker aufgeladen als je zuvor. Die wachsenden Autonomiebestrebungen lokaler Gesellschaften und die Politisierung der Arbeiterschaft sorgten dafür, dass traditionelle Inszenierungen der autokratischen Herrschaft sowohl von Teilen der Verwaltungselite als auch von der Bevölkerung selbst zunehmend hinterfragt wurden.75 Viertens pflegten Beamte in ihren Autobiographien Vorstellungen davon, was im gegenwärtigen Sprachgebrauch unter „Work-Life-Balance“ firmiert. Da eine 72 Üblicherweise stehen bei der Beschreibung der aus russischen Autobiografien ermittelten mental maps andere Kategorien wie Religion und Sprache im Fokus, s. etwa Schenk 2012, 58–61. 73 S. zu dem Aspekt des mobilen Wissenstransfers z. B. auch Rolf 2020. 74 S. dazu etwa das Kapitel „The Issue of Their Charm“ in Robbins 1987, 124–147. 75 Eine konzise Zusammenfassung der gesellschaftspolitischen Stimmungslage im Zarenreich dieser Zeit findet sich bei Steinberg 2006, 67–93.
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klare Trennung zwischen privatem und öffentlichem Leben für Spitzenbeamte kaum zu realisieren war und sich ihre Dienstzeiten somit beliebig ausdehnen konnten, verlagerten diese ihr Bedürfnis, zeitweilig aus der offiziellen Rolle schlüpfen zu dürfen, in den fiktionalen Bereich. Zuweilen steigerten sie sich dabei in regelrechte Ausstiegsphantasien. Das schlichte, von sozialen und ökonomischen Zwängen befreite Leben erschien hier als erstrebenswerter, aber letztlich doch unerreichbarer Luxus. An dieser Stelle macht sich auch der von Ulrich Schmid beschriebene Einfluss eines psychologisierenden Autobiographiemodells auf die literarischen Darstellungstechniken bemerkbar:76 Die berufliche Laufbahn bildete zwar das Gerüst für die Lebensbeschreibung, genügt aber für sich genommen nicht mehr vollständig zur Sinnstiftung der eigenen Existenz. Fünftens ließen sich Zuschreibungen des Luxus politisch instrumentalisieren. Dies galt insbesondere für diejenigen Autobiographien, die noch in der aktiven Zeit der Beamten veröffentlicht wurden. Die mit der Autokratie und der Herrschaft des Zaren verbundenen Repräsentationsstrategien, Rituale und Herrschaftsformen wurden so von liberal eingestellten Beamten (zu denen alle hier porträtierten Protagonisten zählten) als übertrieben aufwendig, verschwenderisch und obsolet gekennzeichnet. Die so evozierten Bilder einer korrupten und selbstherrlichen Verwaltung erlaubte es der reformerisch gesinnten Leserschaft innerhalb des Zarenreichs sowie im Ausland, an vertraute Stereotype anzuknüpfen. Zugleich vertieften derartige symbolisch unterfütterte Polemiken die sich seit den Großen Reformen Mitte des 19. Jahrhunderts ohnehin ausweitenden Gräben zwischen liberalen und konservativen Bürokraten und den ihnen zugehörigen Teilöffentlichkeiten.77 Die hier aufgeführten Dimensionen verdeutlichen die vielen Bedeutungs- und Bezugsebenen, auf denen sich Autobiographien als Kommunikationsakte manifestierten und wie vielschichtig hierbei über Luxus reflektiert wurde. Meist tauchte er als Synonym für das Fremde, Obsolete und moralisch Fragwürdige auf; aber – gerade in seiner immateriellen Variante – immer wieder auch für Darstellungen des „guten Lebens“. Dass Luxus eine durchaus prominente Rolle in den Lebenserzählungen der hohen Beamten des späten Zarenreiches spielte, war dabei Ausdruck von zunehmenden gesellschaftlichen Verteilungskonflikten und einer damit zusammenhängenden Politisierung der russischen Gesellschaft. Wo die sozialen Verhältnisse ins Rutschen kamen, rückten Gerechtigkeitsfragen ins Zentrum öffentlicher Debatten. In den nicht bzw. abseits der öffentlichen Wahrnehmung publizierten „Aufsteigerautobiographien“ Millers und Tichonovs hatten sie geradezu eine existenzielle Dimension. Obgleich beide es bis in die höchsten Ränge der Staatsverwaltung schafften, hielten sie den Preis, den sie für ihre Karrieren gezahlt hatten, für zu hoch. Die langjährige Erfahrung mit prekären Lebenslagen, gesundheitliche
76 Schmid 1999, 395. 77 Diese Problematik wird bereits bei Raeff 1979, 408–409 beschrieben. Zum Versuch der Autokratie, die öffentliche Meinung angesichts der sozialen Verwerfungen im späten 19. Jahrhundert unter Kontrolle zu bringen, s. auch Grandits/Judson/Rolf 2020, 80–82.
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Probleme sowie das permanente Gefühl, nicht der eigentlichen Berufung nachzugehen, konnten aus ihrer Sicht durch die erreichte privilegierte Stellung nicht kompensiert werden. Die Kritik am Luxus lässt sich dabei auch als Klage darüber verstehen, dass der benötigte Energieaufwand für eine erfolgreiche Berufslaufbahn so unterschiedlich verteilt war: Miller und Tichonov erreichten den Höhepunkt ihrer Karrieren erst mit über 50 Jahren, während ihre Kollegen aus dem Hochadel im Schnitt bereits zwei Jahrzehnte früher ähnlich distinguierte Positionen besetzten.78 Das Problem der ungleichen Verteilung von Lebenschancen ist dabei keineswegs eines, das mit dem Niedergang des Zarenreiches verschwand. Im Gegenteil: Wie ein Arbeitspapier einer Forschungsgruppe um Thomas Piketty zeigt, ähnelten die sozialen Verhältnisse des späten Zarenreiches jenen des zeitgenössischen Russlands weit mehr als jenen der sowjetischen Ära.79 Es ist naheliegend, dass insofern auch die damit verbundenen Praktiken des Statuskonsums und symbolischer Machtdemonstrationen unter den führenden Vertreter:innen der Bürokratie und des Staatsapparates im heutigen Russland vergleichbare Formen annehmen. International breit rezipierte russische Filme wie Leviathan und Durak (beide 2014) griffen diese Problematik an (fiktiven) Beispielen aus der Provinz auf; während Alexej Navalny in seinen millionenfach aufgerufenen Youtube-Dokumentationen unter anderem über den verdeckten Reichtum Dmitrij Medwedews und Vladimir Putins aus den Jahren 2017 und 2021 exzessiven Luxus als Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen von unten nach oben skandalisierte.80 Daher erscheint auch der diachrone Vergleich von Luxusbeschreibungen zwischen der spätimperialen Ära und der Regierungszeit Vladimir Putins ein lohnenswertes Unterfangen, das den Rahmen dieser Untersuchung allerdings sprengen würde. BIBLIOGRAPHIE Aust/Schenk 2015 = Martin Aust/Frithjof Benjamin Schenk (Hrsg.), Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Köln – Weimar – Wien 2015. Aust/Schenk 2021 = Martin Aust/Frithjof Benjamin Schenk, Imperial Subjects. Patterns of Identification and Self-Perception in the Continental Empires of Eastern Europe, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 68:2, 2021, 256–269. Baberowski 2008 = Jörg Baberowski, Vertrauen durch Anwesenheit. Vormoderne Herrschaft im späten Zarenreich, in: Jörg Baberowski/David Feest (Hrsg.), Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt a. M. et al. 2008, 17–37. Becker 1988 = Seymour Becker, Nobility and Privilege in Late Imperial Russia, DeKalb/Ill. 1988. Bennett 1980 = Helju Aulik Bennett, Chiny, Ordena and Officaldom, in: Walter McKenzie Pintner (Hrsg.), Russian Officialdom. The Bureaucratization of Russian Society From the Seventeenth to the Twentieth Century, London et al. 1980, 162–189. Blinov 2008 = Ivan Andreevič Blinov, Gubernatory. istoriko-juridičeskij očerk, Tverʹ et al. 2008.
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AUSTERITÄT DER ELITEN LUXUS, (SELBST)BESCHRÄNKUNG UND DISTINKTION
AUSTERITÄT ALS AUSDRUCK VON ‚KARTELLBILDUNG‘ Das Beispiel Kretas in archaisch-klassischer Zeit Gunnar Seelentag, Hannover 1. KRETA ALS FALLSTUDIE FÜR AUSTERITÄT Mein Aufsatz lässt sich als komplementär zu den anderen Beiträgen dieses Bandes verstehen, denn in ihm stelle ich die vielleicht beste Fallstudie für ‚Austerität‘ in der Antike vor: die poleis – ‚Bürgerstaaten‘ – der Insel Kreta vom 7. bis 5. Jahrhundert.1 In meinem Beitrag möchte ich zunächst anhand der materiellen Kultur Kretas vor und nach 600 den Charakter der Inszenierung kretischer Austerität präsentieren. Sodann werde ich ein Modell skizzieren, die ‚Kartellbildung‘, um diesen Befund der materiellen Kultur plausibler zu erklären. Und schließlich werde ich anhand inschriftlicher und literarischer Quellen die gesellschaftliche Organisation kretischer poleis umreißen, auf Spuren bewusster Eingriffe in die Lebenswelten ihrer Bewohner hinweisen und hiermit das Modell der Kartellbildung konkretisieren. Zunächst sei aber meine Arbeitsdefinition von ‚Austerität‘ vorgestellt, denn diese unterscheidet sich deutlich von der in unseren Zeiten dominierenden, technischen Definition einer ‚strengen staatlichen Sparpolitik‘. Als wesentliche Facette von ‚Luxus‘ sehe ich einen in bestimmten soziopolitischen Räumen bewusst inszenierten Lebensstil, der als ‚prächtig‘ semantisiert ist; und so ist für mich einer der wesentlichen Aspekte von ‚Austerität‘ ein in bestimmten soziopolitischen Räumen bewusst inszenierter Lebensstil, der als ‚einfach‘ oder ‚frugal‘ semantisiert ist.2 Charakteristisch für Kreta als Fallstudie für Austerität ist die Vielfalt und Aussagekraft der Quellen, die uns zur Verfügung stehen.3 Auf der einen Seite gibt es den beeindruckenden Befund, oder besser gesagt, wie zu sehen sein wird: den beeindruckenden Mangel an Befunden in der materiellen Kultur. Auf der anderen Seite sind uns zahlreiche Inschriften, vorwiegend auf Stein, mit normativem Inhalt
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Sämtliche Zeitangaben dieses Beitrags datieren v. Chr. – Herzlich gedankt sei Merle Ernst und Katerina Steffan für die Redaktion dieses Textes. Zur Dekodierung archäologischer Befunde s. etwa Burmeister 2009 über qualitative und quantitative Verfahrensansätze. Als einführende Literatur zum archaisch-klassischen Kreta seien empfohlen Gehrke 1997; Chaniotis 2004 und Seelentag 2013. Zur Vertiefung s. Link 1994; Gagarin/Perlman 2016, jeweils mit zahlreichen Hinweisen auf weitere Titel. In Seelentag 2015 und 2020 habe ich meine Gedanken zur Institutionalisierung in kretischen poleis wie zu Austerität und Kartellbildung umfangreich dargelegt.
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aus dem 7. bis 5. Jahrhundert erhalten. Und schließlich gibt es literarische Reflexionen über die soziopolitische Organisation kretischer Gemeinwesen, von denen die meisten aus dem 4. und 3. Jahrhundert stammen. Allerdings sollte bei der Beschreibung kretischer Austerität die materielle Kultur den Vorrang haben, denn die zeitgenössischen Inschriften reflektieren keinen besonders austeren Lebensstil: Läse man allein diese Inschriften, erriete man nicht, was in der Zeit ihrer Entstehung und Geltung in der materiellen Kultur der Insel zu beobachten war. Wir sollten also primär aus unseren Beobachtungen der materiellen Kultur ein Modellszenario kretischer Austerität ableiten. Und erst dann können wir versuchen, die Inschriften im Lichte des Szenarios zu interpretieren und dieses im Gegenzug gewissermaßen nachzujustieren und damit plausibler zu machen. Denn allein das epigraphische Material lässt uns den institutionellen Aufbau kretischer poleis, die Beziehung zwischen verschiedenen soziopolitischen Gruppen und die sozialen Normen der Inselgemeinschaften rekonstruieren. Wenden wir uns also zunächst der materiellen Kultur zu. 2. DER BEFUND DER MATERIELLEN KULTUR Vom 10. bis 7. Jahrhundert gab Kreta der griechischen Kultur viele Impulse. So hatte der sogenannte orientalisierende bzw. dädalische Stil hier seinen Ursprung, ebenso die kulturellen Praktiken monumentale Statuen zu errichten und Kultgebäude mit Skulpturen auszustatten. Die Nähe der Insel zu Ägypten und dem Nahen Osten ermöglichte den kretischen Eliten dieser Zeit einen relativ leichten Zugang zu sogenannten ‚Luxusgütern‘.4 Für uns findet dies vor allem Ausdruck in prächtigen Votivgaben in den Heiligtümern der Insel sowie in den reichen Beigaben der Toten in den Nekropolen der geometrischen und früharchaischen Zeit. Auffällig ist, dass diese Gräber ein nur geringes Maß an Standardisierung zeigen, so fehlen etablierte Typen von Beigaben-Ensembles. Dieser Befund und die Fülle prächtiger und exotischer Objekte deuten auf Eliten hin, die sich mit großem Aufwand voneinander abzusetzen versuchten. Dies taten sie wohl in Konkurrenz zueinander, um – mit den Worten Georg Simmels zu sprechen: vor einer ‚Dritten Instanz‘ zu glänzen; um eine Art von Sozialprestige zu erwerben, welches sich in konkreten soziopolitischen Einfluss konvertieren ließ.5 Am ehesten ist davon auszugehen, dass diese Dritte Instanz, deren Gunst es zu erringen galt, sowohl Statusgenossen als auch sozial Unterlegene umfasste.
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Brisart 2011 und 2014 mit der älteren Literatur. – Um eine differenzierte Definition von ‚Luxusgütern‘ in der griechischen Archaik ist Foxhall 1998 bemüht; s. auch Seelentag 2015, 52–57. Simmel 1992 (1908); zur Anwendung dieses – eigentlich dezidiert auf die Moderne blickenden – Modells auf antike Gesellschaften s. Hölkeskamp 2014; Meister/Seelentag 2020b.
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Am Ende des 7. Jahrhunderts beobachten wir jedoch an den meisten Stätten der Insel einen wesentlichen Wandel der materiellen Kultur6, der die Gelehrten veranlasste, für das 6. und mindestens die Hälfte des 5. Jahrhunderts von einer inselweiten „Verarmung“ zu sprechen oder gar eine „Katastrophe“ zu vermuten.7 Beispielsweise hörte Kreta auf, Feinkeramik mit figürlichem Dekor aus Korinth oder Athen zu importieren, die sonst in allen Teilen der griechischen Welt zu finden ist. Und anders als in den Jahrzehnten zuvor finden wir seit dem späten 7. Jahrhundert auf der Insel kaum noch Beispiele für Bilderzählungen: Kretische Gegenstände wurden nicht länger figürlich dekoriert, und auch der private Gebrauch von Schrift wurde weitestgehend eingestellt. Fortan finden wir weder Besitzerinschriften auf Gefäßen noch beschriftete Grabstelen oder Weihegaben, wie dies in anderen Teilen der griechischen Welt üblich war.8 Generell kennen wir aus dem 6. und 5. Jahrhundert keine etwas reicher ausgestatteten Gräber auf der Insel; und mit wenigen Ausnahmen weihte man in den Heiligtümern der Insel im Unterschied zu den vorangegangenen Jahrhunderten einfache Votivgaben.9 Man kann nicht genug betonen, wie ungewöhnlich all dies ist und wie sehr sich Kreta von den meisten anderen Teilen der griechischen Welt unterscheidet. Aber all dies ging noch weiter: Seit Beginn des 6. Jahrhunderts weihten die Kreter auch kaum noch Votive in den panhellenischen Heiligtümern des griechischen Festlandes oder der Inseln; und wir kennen nur eine Handvoll kretischer Sieger in den panhellenischen Spielen aus mehreren Jahrhunderten. 10 Darüber hinaus gründeten die kretischen poleis so gut wie keine Kolonien, und sie nahmen auch nicht an den großen Kriegen gegen die Perser und am Peloponnesischen Krieg des 5. Jahrhunderts teil. Auch weil auf diese Weise die Gemeinwesen der Insel in den historiographischen Meistererzählungen eines Herodot und Thukydides, welche unsere Sicht ‚der‘ griechischen Geschichte jener Jahrzehnte prägen, keine Rolle spielen, ist das archaische und klassische Kreta in der Kultur und Politik des Mittelmeerraums weitgehend unsichtbar. Erst seit etwa zehn Jahren kann die kretische Archäologie überzeugend zeigen, dass das vermeintliche Fehlen archaischer Befunde in erster Linie eine Frage der Sichtbarkeit ist.11 Ihre Studien machen deutlich, dass wir keineswegs mit einem Verschwinden der materiellen Kultur konfrontiert sind, sondern mit einer Vereinfachung – einer bewussten Vereinfachung, möchte ich meinen. Nur zwei Beispiele hierfür: So wurden etwa die vielfältigen Formen und Verzierungen von Keramik-
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Konzis beschreiben Kotsonas 2002 und Whitley 2009 diesen Wandel. Einen Überblick über diese älteren Erklärungsansätze bieten Erickson 2010 und konzis Seelentag 2015, 37–40. 8 Keramik: Erickson 2010. – Bilderzählungen: Pilz 2014. – Schriftgebrauch: Whitley 1998; Chaniotis 2005. – Grabstelen: Sporn 2014. 9 Heiligtümer: Prent 2005; Sporn 2002. Zur Semantik ‚austerer‘ Votive s. Pilz 2011. 10 Zu einer – bemerkenswerten – dieser Ausnahmen, Ergoteles aus Knossos, der allerdings für das sizilische Himera antrat, s. SEG 11.1223a (Add.) und Pind. Ol. 12, bes. 13–18. 11 Maßgeblich sind hier die Arbeiten von B. Erickson, bes. 2010, und die zahlreichen Arbeiten von D. Haggis, etwa 2014, zur Polis Azoria.
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gefäßen, die wir noch im 7. Jahrhundert beobachten, durch ein erheblich eingeschränktes Spektrum von Gefäßtypen und Ornamenten ersetzt. Ab etwa 600 tranken die Kreter statt aus aufwendig geformter und verzierter Feinkeramik vor allem aus ungefirnissten, einhenkligen Bechern, die zudem häufig allein mit der Hand, nicht einmal mit der Scheibe geformt waren. Und wenn die Kreter Gefäße importierten, taten sie dies selektiv. Sie führten geringe Mengen lakonischer, also spartanischer Keramik ein, aber nicht etwa deren prächtige figürlich bemalten Exemplare, sondern nur die einfach schwarz glasierten, und eigentlich auch nur die Gefäßform des Kraters, also des Mischgefäßes für Wein und Wasser. Dieser Eindruck, dass wir in der materiellen Kultur nicht etwa einen Niedergang, sondern eine bewusste Entscheidung manifestiert sehen, wird durch die Gesetzesinschriften bestätigt, die aus einer Reihe von kretischen poleis stammen und für keinen dieser Orte einen Hinweis auf irgendeine Art von Verarmung oder Verfall der dortigen soziopolitischen oder der ökonomischen Ordnung reflektieren. 12 Doch hierzu später mehr. Sucht man nach dem gemeinsamen Kern des eigentümlichen Befundes der materiellen Kultur, so ist dies wohl die fast vollständige Unsichtbarkeit des ‚elitären Individuums‘. Ein kretischer Aristos, so scheint es, stellte weder seinen Reichtum noch seine persönlichen Leistungen zur Schau. Zumindest tat er dies nicht mithilfe der aus anderen Teilen der griechischen Welt bekannten ‚konventionellen‘ Praktiken.13 Und dies unterließ er sowohl in seiner Heimatgemeinschaft als auch fern von zuhause vor einem breiteren panhellenischen Publikum. Für mich deutet die materielle Kultur der Insel auf eine bewusste Inszenierung von Austerität hin. 3. KARTELLBILDUNG: DIE INSTITUTIONALISIERUNG VON KOOPERATION Im Folgenden möchte ich ein Modell vorstellen, das versucht, Gruppenbildung im archaischen Griechenland aus der Perspektive der Akteure zu verstehen. Dieses Modell baut auf den Schlüsselkategorien ‚Konkurrenz‘ und ‚Institutionalisierung‘ auf.14 In ihm lässt sich Austerität als Manifestation einer ‚Institutionalisierung von Kooperation‘ erklären; und jenes Handlungsmuster möchte ich – in den Spuren Georg Simmels – als ‚Kartell‘ bezeichnen, oder besser: als ein Beispiel für ‚Kartellbildung‘, um die prozessuale Komponente zu betonen. Nach meiner Definition
12 Einen Überblick bieten Perlman 2004 und Gagarin/Perlman 2016, 95–120. 13 Zur Elitenkultur der griechischen Archaik s. konzis Stein-Hölkeskamp 2015, bes. 186–220; die Beiträge in Meister/Seelentag 2020a und umfangreich Meister 2020a. 14 Das Modell der ‚Kartellbildung‘ entstand im Rahmen eines von 2015 bis 2018 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Wissenschaftlichen Netzwerks, geleitet von Jan B. Meister und mir, welches sich mit Konkurrenz und Institutionalisierung in der griechischen Archaik beschäftigte. Einige von dessen Erträgen wurden als Meister/Seelentag 2020a publiziert; zur – im Folgenden nur skizzierten – Kartellbildung s. umfangreich Seelentag 2020 und – zur Einbettung dieses Modells – Meister/Seelentag 2020b.
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agieren die Mitglieder einer Kartellformation als eine Koalition von Konkurrenten, die übereinkamen, – sich in bestimmten soziopolitischen Räumen bestimmter Praktiken des Wettbewerbs zu enthalten, mit denen die einen die anderen übertreffen könnten, – sich auf bestimmte andere Praktiken zu konzentrieren, welche sie als ein Kollektiv zur Konturierung ihrer Gruppenidentität nach innen wie nach außen hin inszenieren, – diese Ordnung durch ein System von Institutionen abzusichern, – um als Gruppe unter kontrollierten Bedingungen Macht über aus dieser Gruppe Ausgeschlossene auszuüben. Auf diese Weise können Akteure Ressourcen sparen, die sie sonst in den Wettbewerb investieren müssten. Und die Kartellbildung wird ihren Teilhabern Monopolrenten gewähren: das heißt Gewinne, die nur aus ihrer Koalition resultieren und die sie unter freien Wettbewerbsbedingungen nicht erringen könnten. 15 Für eine tendenziell kleine Gruppe von besonders einflussreichen Akteuren könnten ihre Kartellgewinne weniger attraktiv sein als ihr ‚individuelles Optimum‘, das sie ohne Beschränkungen ihres Handelns im offenen Kräftespiel erreichen könnten. Eine solcherart erzielte herausragende Position ist wegen ihrer Exponiertheit und des Reizes, ihren Inhaber anzugreifen, jedoch prekär. Für eine tendenziell größere Gruppe schwächerer Akteure aber stellt die Kooperation als Kartell eine erhebliche Verbesserung ihres ‚individuell erreichbaren Optimums‘ dar.16 Wenn wir versuchen, die Bereitschaft zur Kooperation innerhalb einer Gruppe von prinzipiellen Konkurrenten aus deren Perspektive zu erklären, so scheint mir ein erstes Merkmal der Dynamiken einer solchen Kartellbildung das Bemühen des einzelnen Akteurs zu sein, seine eigene Position unter den gegebenen Umständen zu bestmöglichen Bedingungen zu sichern. Im ‚normalen‘ archaischen Griechenland fehlten etablierte Kriterien, die automatisch zu einem soziopolitischen Primat geführt hätten. Wesentlich war die Inszenierung eines elaborierten Lebensstils, dessen Voraussetzung Reichtum war.17 Aufgrund der daraus resultierenden sozialen
15 Grundlegend für dieses Konzept ist Krueger 1974. 16 Zum Hintergrund dieser basalen spieltheoretischen Modellierung s. Axelrod 2009. Es ist wichtig zu betonen, dass mein Modell der Kartellbildung nicht von ‚rationalen‘ Akteuren ausgeht, wie in der klassischen, ökonomisch orientierten Spieltheorie üblich, sondern von ‚strategischen‘ Akteuren. Dieser nuancierende Zugriff berücksichtigt, dass Akteure auf Weisen handeln, welche von ihnen selbst als sie ultimativ beschädigend erkannt werden, ihnen zum Erreichen eines womöglich kurzfristigen und prestigereichen Gewinns aber durchaus nötig scheinen. Antike Beispiele hierfür bietet Seelentag 2020, bes. 65–67. 17 Zur Inszenierung eines spezifischen Habitus (im Bourdieu’schen Sinn) als Kriterium für die Zugehörigkeit zu, oder wohl besser gesagt: Akzeptanz in einer Gruppe von Statusgenossen, s. Duplouy 2006 und die Beiträge in Fisher/van Wees 2015. Zur Geltungskonkurrenz, welche in der nicht-hierarchisierten Vielfalt von sogenannten Aristiepraktiken deutlich wird, s. Meister 2020a, bes. 189–221, und Meister 2020b.
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Mobilität im archaischen Griechenland versuchte der Einzelne, Mitglied eines Kartells von solcher Größe zu werden, dass er selbst einigermaßen sicher dazugehörte, das Kartell aber auch bald nach ihm schlösse, um seinen eigenen Anteil an den kollektiven Monopolgewinnen nicht weiter zu verringern. Auf der anderen Seite mussten die Mitglieder eines Kartells bestrebt sein, ihre Organisation so groß zu machen, dass sich innerhalb dieser Formation oder von außerhalb keine anderen Kartelle bilden und mit ihm konkurrieren konnten. Und so ist ein zweites Merkmal der Dynamiken von Kartellbildung das strategische Interesse ihrer Mitglieder, sich gemeinsam gegen die allen gemeinsamen Gefahren zu verteidigen. Im Falle Kretas bestand diese Bedrohung von mehreren Seiten. So sehen wir, dass einige kretische Bürgerstaaten ab dem 7. Jahrhundert bemüht waren, ihren Einfluss in der Region gewaltsam auszubauen, dies führte etwa zum Typus der abhängigen poleis.18 Doch die wesentliche strukturelle Bedrohung ging auch von jenen versklavten Bevölkerungsgruppen aus, die wohl einen Gutteil der Inselbevölkerung ausmachten – leider ist ihre Anzahl für uns nicht quantifizierbar. Ihre stete Präsenz stellte – ähnlich wie in Sparta mit den Heloten – eine ständige strukturelle Bedrohung der Freiheit ihrer Unterdrücker dar.19 Und so sehe ich als ein drittes Merkmal von Kartellbildung den Versuch, sozial Unterlegene zu kontrollieren. Ich finde es plausibel, archaische Eliten als Koalitionen zum gemeinsamen Zweck der ‚Ausbeutung‘ zu betrachten. Dies muss nicht ständigen Gewalteinsatz bedeuten: Ausbeutung kann von den Ausgebeuteten als legitim und akzeptabel angesehen werden, wenn etwa zu intensive Ausbeutung durch Einzelne oder Kleingruppen durch ein Regelsystem und Gruppendruck der Statusgenossen unterbunden wird; dies liegt in deren Interesse, da ansonsten nämlich die gesamte Koalition ihre Akzeptanz verlieren könnte.20 Außerdem können Kartellformationen sozial Unterlegenen das Zugeständnis machen, sie unter kontrollierten Umständen in den politischen Prozess zu integrieren, und damit eine größere Akzeptanz bei jenen für ihre soziopolitische Überlegenheit schaffen. 21 Ein viertes Merkmal der Kartellbildung sind die sozialen Räume und die Vielfalt der Mechanismen – Institutionen –, die zur Förderung einer ‚ethischen Homogenisierung‘ unter den Akteuren eingesetzt wurden. Ich benutze den Begriff ‚ethische Homogenisierung‘, um die inszenierte und bestenfalls verinnerlichte Standardisierung des Lebensstils und vielleicht sogar der Einstellungen innerhalb eines 18 Zur territorialen Dynamik kretischer Poleis in archaisch-klassischer Zeit s. Viviers 1994 und 1999; zu Beispielen abhängiger Poleis s. Perlman 1996; und konzis Seelentag 2015, 321 mit Anm. 112. 19 Lewis 2018 behandelt kretische und spartanische Unfreie im Kontext anderer griechischer und ostmediterraner Gesellschaften. 20 Zur Figur der Ausbeutungskoalition s. etwa North/Wallis/Weingast 2009, bes. Kap. 2 zum „Natural State“, und die Weiterentwicklung des ebd. formulierten Konzeptes der „Limited Access Orders“ durch van Bavel/Ansink/van Besouw 2017. Bereits van Wees 1999 und 2000 zeigte, dass Praktiken und Diskurse archaischer Eliten durch den vergleichenden Blick auf moderne Mafiaorganisationen plausibler würden. 21 Diese Dynamik lege ich in Seelentag 2019 einem Modell der Entwicklung politischer Prozesse im archaischen Griechenland zugrunde.
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Kreises von Statusgenossen zu beschreiben. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, besteht darin, die Darstellung der wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede innerhalb ihrer eigenen Gruppe zu minimieren und ihre dadurch konturierte gemeinsame Identität gegenüber Außenstehenden zu inszenieren. Natürlich lässt sich ein solcher Gruppenzusammenhalt genauso gut durch die strategische Inszenierung eines ‚luxuriösen‘ Lebensstils, den gezielten Einsatz von diakritischen Praktiken, darstellen. In jedem Fall geht es bei der ethischen Homogenisierung darum, in bestimmten soziopolitischen Kontexten Gleichheit nach innen und Exklusivität nach außen zu demonstrieren, und dies erfordert enorme kulturelle und gesellschaftspolitische Kosten. Denn die Ideologisierung einer ‚Gleichheit‘ unter eigentlich recht ungleichen Akteuren macht die Etablierung gewisser soziopolitischer Räume und darin angesiedelter, zeitaufwendiger Praktiken notwendig, welche demonstrative Gegengewichte zu den faktischen Unterschieden schaffen. Gleichzeitig ist nötig, dass diese sich als ‚Gleiche‘ Inszenierenden von allen ‚Anderen‘ abgrenzen, indem sie ihre vermeintlichen Gemeinsamkeiten gegenüber jenen betonen, die nicht im Besitz der maßgeblich zugeschriebenen oder erworbenen Eigenschaften sind. Dies und die Ideologisierung der auf dieser Grundlage behaupteten sozialen und politischen Überlegenheit sind für den Zusammenhalt einer Kartellformation von großer Bedeutung.22 4. ETHISCHE HOMOGENISIERUNG DURCH INSTITUTIONEN In zahlreichen Teilen der griechischen Welt sehen wir Arten von Gruppenbildung und Praktiken, die wir als typisch für diese Epoche ansehen: die Zurschaustellung von materiellem Vorsprung sowie kulturellem Raffinement in athletischen Wettbewerben und Symposionskultur, in reichen Votivgaben und prunkvoller Kleidung; und schließlich die typischen gewaltsamen Auseinandersetzungen (staseis), mit denen elitäre Gruppierungen und ihre Gefolgschaften um den Primat im Gemeinwesen rangen.23 Auf Kreta war dies ganz offenbar anders. Und damit möchte ich mich wieder der kretischen Konkretisierung dieser hier lediglich skizzierten Überlegungen zur Institutionalisierung von Kooperation zuwenden. Etwa zur gleichen Zeit – um 630, als auf Kreta die ersten Anzeichen materieller Austerität sichtbar werden – beginnen verschiedene poleis der Insel, normative Texte zu verinschriftlichen, uns sind Beispiele in Stein und Bronze erhalten, sehr
22 Ulf 2020 sowie Ulf/Kistler 2020, bes. 82–92, beschreiben aus anthropologischer Perspektive eine „Aufhebung des Wettbewerbs“ und kommen zu ganz ähnlichen Resultaten wie das hier skizzierte soziologisch inspirierte Modell. 23 Die Literatur zum Habitus archaisch-frühklassischer Eliten ist kaum überschaubar, s. stellvertretend Stein-Hölkeskamp 1989; Duplouy 2006; Filser 2017 und Meister 2020a, jeweils in Auseinandersetzung mit älterer Literatur.
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lange und eher kurze, zahlreiche lediglich fragmentarisch.24 Und wenn die Austerität um die Mitte des 5. Jahrhunderts ‚aufzulockern‘ scheint, kommt auch diese Art von Gesetzesinschriften im Wesentlichen zu einem Ende: Materielle Austerität und Gesetzesinschriften treten also in der gleichen Zeit auf und sind – so möchte ich meinen – möglicherweise als Manifestationen derselben sozialen Dynamik miteinander verbunden. Zumeist werden diese – prinzipiell viel zu selten untersuchten – Inschriften als Manifestation eines ‚Ist-Zustandes‘ der angeblich ‚konservativen‘ kretischen Polisgesellschaften angesehen. Sie werden kaum einmal in Zusammenschau mit der materiellen Kultur als Manifestationen einer dynamischen und intensiven Einflussnahme, gewissermaßen als Stellschrauben einer ethischen Homogenisierung, angesehen.25 Man könnte sagen, dass sowohl die materielle Kultur als auch die inschriftlichen Regeln des 7. bis 5. Jahrhunderts sowohl Reflexionen kretischer Austerität als auch deren Mechanismen waren; denn beide entfalteten durch ihre Existenz einen normativen Anspruch, der einen jeden Politen tagtäglich konfrontierte. Diese Gesetze waren keine bloßen ad-hoc-Schöpfungen, die lediglich mit Einzelfallregelungen auf neue Umstände reagierten. Vielmehr reflektieren sie die Vorstellung erwünschter und unerwünschter Verhältnisse im Gemeinwesen; und hinter ihnen steht – so scheint mir deutlich – ein übergreifender Gestaltungswille, der bewusst in die soziopolitische Ordnung eingreift.26 Ihre Existenz spiegelt die Vorstellung wider, dass die Schaffung, Verbesserung und Sicherung von Institutionen – und damit jene Arbeit von Kooperation, welche überhaupt zu ihnen führte – funktionieren kann.27 Die bloße Existenz dieser Regeln und der Vorgang ihrer Verin-
24 Kreta war keinesfalls die einzige Region der griechischen Welt, in welcher wir diese Art der durchaus auch monumentalen Verinschriftlichung normativer Regeln beobachten. Aber Kreta bietet einige der – nach unserer Kenntnis – frühesten Beispiele und dies in einer, verglichen mit anderen Regionen Griechenlands, einzigartigen Dichte und Vielfalt. Zu frühen griechischen Gesetzesinschriften s. Hölkeskamp 1999; Gagarin 2008; Papakonstantinou 2008 und die Quellensammlungen mit Übersetzungen und Kommentaren von Koerner 1993 und Nomima 1994/95. Die maßgebliche Edition kretischer Gesetzesinschriften der Archaik und Klassik bieten nun Gagarin/Perlman 2016. Zahlreiche dieser Inschriften behandele ich in Seelentag 2015. 25 Zum ‚Charakter‘, dem ‚gesellschaftlichen Sinn und Zweck‘, der normativen Inschriften Kretas s. etwa die in Gagarin 2010 und Lewis 2013 sowie 2018 reflektierte Diskussion. 26 Zu dieser Frage s. die in Hölkeskamp 1992 und 1999 sowie Osborne 1997 reflektierte Diskussion. 27 Berger/Luckmann 1980, 58 folgend sehe ich ‚Institutionen‘ entstehen, „... sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden“. Sie stellen für mich nach K.-S. Rehberg 1994, 56 „Sozialregulationen“ dar, „in denen die Prinzipien und Geltungsansprüche einer Ordnung symbolisch zum Ausdruck gebracht werden“; sie stellen „Handlungsordnungen“ dar, die Handlungsorientierungen und Sinngebung zu vermitteln und zu stabilisieren suchen und dies unter einer der Institution eigenen „institutionellen Leitidee“ vereinigen und durch entsprechende Symbolisierungssysteme zum Ausdruck bringen. Institutionen strukturieren menschliche Interaktion – und können, um bestimmte Formen der Interaktion resultieren zu lassen, zu diesem Zwecke gestaltet werden.
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schriftlichung über die Jahrzehnte in häufig monumentaler Form und in dauerhaftem Material reflektiert aber natürlich auch, dass immer wieder gegen sie verstoßen wurde. Ich möchte nun versuchen, zumindest einen großen Teil der Gesetze aus verschiedenen poleis in sinnvolle Großgruppen zusammenzufassen. Zu der ersten Gruppe gehören zahlreiche Gesetze, die sich mit der Konturierung politischer Institutionen befassen, z. B. mit Ämtern und Verfahren: Erstens multiplizieren sie die permanenten Prominenzrollen in der Gemeinschaft, um die mit einem Amt verbundene Macht unter mehr Männern zu verteilen, als dies bis dahin wohl der Fall gewesen war. Zweitens umreißen sie das Prinzip der institutionellen Macht, indem sie für jene Amtsinhaber Rechte und Pflichten festlegen und auf diese Weise dazu beitragen, dass auch Amtsinhaber mit geringerer persönlicher Macht die Chance hatten, sich durchzusetzen. Und drittens legen die Gesetze fest, dass Bevölkerungsteile jenseits der Eliten an der Entscheidungsfindung und der Kontrolle der Regeln beteiligt würden: Häufig steht hinter den Gesetzen als Autorität eine ‚Personengesamtheit‘, die sich mit dem abstrakten Kollektivbegriff ‚die Polis‘ bezeichnet. Insgesamt versuchen diese Gesetze, persönliche Macht zu beschneiden, und sie vervielfachten die Zahl derjenigen, die unter kontrollierten Umständen von Monopolgewinnen profitieren könnten.28 Des Weiteren gibt es eine große Gruppe von Gesetzen, die man als Statusdefinitionen fassen könnte. So versuchte man etwa, die Position von Kindern aus Verbindungen von Freien und Unfreien zu definieren sowie diejenige von Schuldknechten, also Individuen, die im Prinzip frei waren, aber vorübergehend die Eigenschaften eines unfreien Subjekts annahmen.29 Daneben steht eine Reihe von Gesetzen, welche die Grenzen von Personalexekution und Zwangsvollstreckung festlegt.30 Zahlreiche andere Gesetze dieser Gruppe definieren den Umgang mit Unfreien und versuchen, die sozialen und politischen Trennlinien zwischen ihnen und den politischen Akteuren zu klären.31 Und dann gibt es Inschriften, welche die Bedingungen definieren, unter denen Einzelpersonen oder kleine Gruppen in die Gemeinschaft integriert werden können.32 Insgesamt zielen diese Gesetze darauf ab, die soziale und politische Stellung der Bürger zu festigen, indem Abhängigkeiten innerhalb dieser Gruppe vermieden und die Ungleichheiten zwischen dieser Gruppe und allen Außenstehenden verfestigt wurden, seien es Unfreie der eigenen Gemeinschaft oder freie Angehörige anderer poleis. 28 Zu diesen – im engeren Sinn – ‚politischen‘ Regeln s. Seelentag 2015, bes. 129–268, mit Beispielen, etwa Gagarin/Perlman Dr2 und G14g–p = Koerner Nr. 90 und 121. 29 Zu Kindern aus gemischten Ehen s. Gagarin/Perlman G72.6.55–7.10 = Koerner Nr. 172; zur Stellung von Schuldknechten s. Kristensen 2004 und Lewis 2020 mit der älteren Literatur und Beispielen, etwa Gagarin/Perlman G41.4.6–7.19 und G47 = Koerner Nr. 128 und 138. 30 Beispiele für Personalexekution und Zwangsvollstreckung sind Gagarin/Perlman G43Aa und Ab = Koerner Nr. 129 und 130; Gagarin/Perlman G75 B und C sowie 81 = Koerner Nr. 147 und 148 sowie 155. 31 S. Link 2001 und Lewis 2013 mit der älteren Literatur und Beispielen. 32 S. Seelentag 2014 sowie 2015, 274–333 und 2017 mit der älteren Literatur und Beispielen.
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Und schließlich ist die noch größere Gruppe von Gesetzen zu nennen, die sich mit der Weitergabe von Eigentum befassen: z. B. innerhalb einer Familie, etwa über eine Erbtochter oder im Zuge einer Adoption. 33 Es gibt Regeln, wie im Zuge einer Scheidung das Vermögen des Paares getrennt werden soll, und Gesetze, die es Erben ausdrücklich erlauben, ihr Erbe abzulehnen, wenn mit diesem große Schulden verbunden wären.34 Insgesamt versuchen diese Gesetze das Eigentum einer Familie, besonders die landwirtschaftlich relevanten Immobilien, in der väterlichen Linie zusammenzuhalten, um zu verhindern, dass der Besitz von einer Familie auf eine andere übergehe. Alle diese Regeln beschneiden die Macht von Einzelpersonen und Gruppen und deren freie Verfügung über ihre Ressourcen, seien es materielle Güter oder soziopolitischer Einfluss. Das bedeutet, dass ‚der Gesetzgeber‘, jene überindividuelle Instanz der ‚Polis‘, von ihren Mitgliedern darin akzeptiert und dazu genutzt wurde, deren eigene persönliche Freiheit zu verletzen, wenn sie sich Gesetze gaben.35 Hierbei lassen sich zwei Perspektiven unterscheiden: Zum einen ging es um die nach außen gerichtete Eindämmung der sozialen Mobilität in diesen Kreis hinein oder aus ihm heraus, zum anderen um die nach innen gerichtete Verhinderung (vermeintlich) übermäßiger Schwankungen in der Ressourcenverteilung innerhalb der Gruppe. Damit schufen die Gesetze Elemente der Gleichheit innerhalb der Gruppe derer, für die diese Regeln galten; insgesamt zementierten sie aber auch Elemente der gesamtgesellschaftlichen Ungleichheit, da die freie Disposition des Eigentums eindeutig auf einen Kreis genau hiermit privilegierter Personen beschränkt war. Wesentlich ist nämlich, dass wir kein einziges kretisches Gesetz haben, das sich ausschließlich auf die Rechte von Nicht-Bürgern konzentriert. Wenn jene erwähnt werden, ob nun freie, doch minderprivilegierte Gruppen, Fremde oder Sklaven, dann immer in Zusammenhängen, welche letztlich die Angelegenheiten der Bürger betreffen.36 Charakteristisch für diese Gesetze ist also, dass sie ein Privileg für diejenigen waren, die tatsächlich von ihnen berücksichtigt wurden – denn viele andere waren es nicht: Nur die Bürger konnten von jener Art der Kalkulierbarkeit von Rechtsangelegenheiten profitieren, welche die Gesetze normativ formulierten und garantierten. Es war ihr Privileg, Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, die sich diese Gesetze selbst gab und ihre Angelegenheiten von ihnen regeln ließ. Ein Punkt ist zu beachten, der selbstverständlich erscheint, doch so relevant ist, dass ich ihn ausdrücklich betonen möchte: Das Konzept von ‚Eigentum‘ bezeichnet Regeln, welche nicht etwa die Beziehung zwischen einer Person und einer Sache
33 Beispiele für Erbrecht: Gagarin/Perlman G72.4.23–6.2 = Koerner Nr. 169; für Erbtochterrecht: Gagarin/Perlman G72.7.15–9.24, 12.6–19 = Koerner Nr. 180, hierzu Link 2003; für Adoption: Gagarin/Perlman G72.10.33–11.23 = Koerner Nr. 180. 34 Beispiele für Ehegüterrecht: Gagarin/Perlman G72.3.17–40, 10.14–20, 12.1–5 = Koerner Nr. 167. 35 Zur Identifikation jener Personen und Institutionen, welche ‚die Polis‘ ausmachten, s. Seelentag 2015, 231–268. 36 Lewis 2013 macht dies deutlich.
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definieren, sondern die Beziehung zwischen Personen – in Bezug auf Dinge.37 Das bedeutet, dass die zahlreichen kretischen Regeln rund um die Nutzung von Gütern und Ressourcen im Kern versuchen, das Verhältnis zwischen den Menschen normativ zu ordnen. Bei ihnen geht es also nicht um die Eindämmung von Reichtum an sich, sondern um die Kontrolle dessen, wofür Reichtum steht, was sich in ihm manifestiert: nämlich Strukturen der Ungleichheit und Abhängigkeit. Daher ist die Frage, welche Art von Zugang eine Person zu beweglichen Gütern oder Immobilien haben soll, immer eine normative Beschreibung dieser Person im sozialen Kontext. Das Recht, frei über Eigentum zu verfügen, es ungehindert zu erwerben und zu verkaufen, ist also eine Quelle sozialer Macht. Und die freie Veräußerbarkeit von Land zu beschränken, kann ein wirksamer Mechanismus sein, soziale Mobilität einzudämmen, die Konzentration von Eigentum in einer Hand zu verhindern und die Übertragung von Eigentum an Personen außerhalb des Kreises der an der Polis Teilhabenden zu verhindern.38 5. ‚KARTELLTEILHABER‘ UND ‚ANDERE‘ Wenden wir uns nun noch diesen Teilhabern und ‚den Anderen‘ zu. Ich deutete es schon an: Wesentlich für unser Verständnis der soziopolitischen Struktur kretischer poleis ist, dass die Wirtschaft dieser Gemeinschaften in hohem Maße auf der Arbeit abhängiger Bevölkerungsgruppen basierte, die von den Bürgern dominiert wurden. Dieses System gab allen Bürgern die nötige Muße, um an den zeitaufwendigen sozialen Institutionen der Polis teilzunehmen, die zu ihrer ethischen Homogenisierung beitrugen. Denn es ist, pointiert gesprochen, wichtig zu betonen, dass keines der uns erhaltenen Gesetze vorschreibt, dass man sich fortan archäologisch unsichtbar zu bestatten und aus handgefertigten Bechern zu trinken habe. Diese für uns im materiellen Befund ab etwa 630 greifbare Verhaltensänderung wurde in einem anderen Rahmen eingeübt und überwacht.39 Jeder Bürger war Mitglied einer womöglich täglich zusammenkommenden Mahlgemeinschaft, andreion oder auch Hetairie genannt. Tatsächlich war die Mitgliedschaft in einer Hetairie die unabdingbare Voraussetzung, um ein vollumfänglich partizipierender Akteur zu sein. Dies wird angedeutet durch den Begriff ‚apetairoi‘ für die erwähnte freie, aber minderprivilegierte Gruppe: „diejenigen, die nicht Mitglied einer Hetairie“ sind. Daneben war jeder Bürger aber auch Mitglied einer Phyle. Diese Organisationseinheiten strukturierten nicht nur die Aufstellung des Heeres, sondern auch die politische Teilhabe – wahrscheinlich verstand sich die Bürgerversammlung als Versammlung der waffentragenden Männer. Und auch das jeweilige Kollegium der Oberbeamten scheint stets aus einer gemeinsamen Phyle 37 Hann 1998. 38 Vgl. die – sehr unterschiedliche, wiewohl gleichermaßen anregende – Diskussion des Themas bei Zurbach 2014 und Mackil 2017. 39 Meine Deutung der Genese, Funktionsweise und Relevanz der im Folgenden skizzierten sozialen Institutionen kretischer poleis lege ich ausführlich dar in Seelentag 2015.
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gekommen zu sein. Die Beziehung von Hetairien und Phylen zueinander ist unklar; deutlich ist aber, dass eine Phyle nicht etwa aus einer festen Anzahl von Hetairien bestand. Vielmehr überlappten diese beiden Integrationskreise sich, sodass etwa die Mitglieder einer Hetairie aus verschiedenen Phylen stammten. Politische Akteure in kretischen poleis waren also in sehr unterschiedliche und zeitintensive Integrationskreise eingebunden, die für ihre Identitätsstiftung jeweils von großer Bedeutung waren. Auf diese Weise wurden Gräben innerhalb der Bürgergruppe vermieden, welche Strukturen von allzu intensiver, exklusiver Zugehörigkeit hätten entstehen lassen können. Diese Art der Durchmischung zur Vermeidung der Verhärtung von Zugehörigkeitsstrukturen sehen wir auch in der Erziehung der Bürger: Alle männlichen Jugendlichen durchliefen eine von der Polis organisierte Ausbildung durch verschiedene Altersgruppen, bis sie die Altersgrenze voller Partizipation erreicht hatten, was wohl erst mit dreißig Jahren der Fall war. Doch auch darüber hinaus scheinen die Bürger in konsekutive Altersgruppen eingeteilt gewesen zu sein.40 Im Alter von acht bis fünfzehn Jahren wurden Jugendliche in der Hetairie ihres Vaters erzogen, angeleitet von einem dafür bestellten Funktionsträger. Danach wurde diese Anhänglichkeit an die väterliche Hetairie aufgebrochen, denn im Alter von fünfzehn Jahren sammelten die – wie es heißt: „hervorragendsten“ dieser Jugendlichen so viele Gleichaltrige wie möglich um sich herum. Sie bildeten Kleingruppen, die sogenannten ‚Herden‘ (Agelai), die vom Vater jenes Jungen angeführt wurden, welcher vermocht hatte, diese Gruppe um sich zu scharen. Diese wohl dreijährige Phase endete mit einer rituellen Entführung des führenden Jungen durch einen Erwachsenen und der Einführung des Jungen und seiner Agelai in das andreion des Entführers. Dann folgten weitere zehn Jahre als ‚Junior-Bürger‘. Worin die soziopolitische Prominenz dieser herausragenden Jugendlichen und ihrer Familien lag, lässt sich kaum sagen. Die Quellen berichten, dass die Entführten fortan besondere Tracht trugen und Ehrenplätze beanspruchen könnten. Damit dürften sie eine die Hetairien, Phylen und Altersgruppen überschreitende Elite gebildet haben. Der maßgebliche soziale Raum für die lebenslange ethische Homogenisierung der kretischen Politen waren wohl die Hetairien.41 In ihnen wurde deutlich, dass die Bürger eine geeinte Gruppe gegenüber allen ‚Anderen‘ bildeten. In ihrer Organisation beobachten wir charakteristische Elemente des Miteinanders von Hierarchie und Gleichheit. So bezogen die Hetairien ihr Einkommen aus drei verschiedenen 40 Kennell 2013 und Link 2014 stellen die Besonderheiten der altersgruppenspezifischen Paideia kretischer Gemeinwesen gegenüber jener Spartas heraus. – Die für das Folgende maßgeblichen Quellenpassagen sind Ephor. apud Strab. 10.4.16, 20–22.1; Dosiadas apud Athen. 4.143c–d; Pyrgion apud Athen. 4.143e; Gagarin/Perlman Dr3A/B = Koerner Nr. 92 = Nomima 1.68 und 2.89 mit der von Seelentag 2009 modifizierten Lesung und Deutung. Eine ausführliche Diskussion dieser Zeugnisse und einen Überblick über die ältere Literatur bietet Seelentag 2015, bes. 444–503. 41 Die für das Folgende maßgeblichen Quellenpassagen sind Arist. pol. 1272a 12–27; Dosiadas apud Athen. 4.143c–d; Pyrgion apud Athen. 4.143e. Eine ausführliche Diskussion dieser Zeugnisse und einen Überblick über die ältere Literatur bietet Seelentag 2015, bes. 374–443. Zur diachronen Entwicklung kretischer Praktiken von Kommensalität s. auch Rabinowitz 2014.
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Quellen. Erstens waren dies feste Beträge, die die Nicht-Freien zahlen mussten. Zweitens steuerte die Polis Mittel bei, und drittens musste jeder Bürger ein Zehntel seines Einkommens entrichten. Auf Kreta konnte ein Mann also vergleichsweise wenig zu seiner Hetairie beitragen; und doch war er nicht in Gefahr, seinen Status als Hetairos, als politischer Akteur und Krieger für die Polis wegen geringer Einkünfte zu verlieren. Zumindest solange sein kleiner Anteil akzeptiert war, war er ein Beiträger; aber viele Mitglieder der Hetairie waren dennoch Empfänger. Sie profitierten von den größeren Beiträgen der reicheren Mitglieder. Ich vermute, dass sich sozialer Einfluss in kretischen Poleis ganz wesentlich aus der Ideologisierung des Gedankens speist, dass die Reicheren ihre Mittel nicht in die Entfaltung eines luxuriösen Lebensstils investierten, sondern sie ihrer Gemeinschaft zukommen ließen. Fassen wir zusammen: Ich fand es lohnend, von der in der materiellen Kultur Kretas reflektierten Austerität auszugehen; und ich schlug vor, wie wir die in ihr zum Ausdruck kommende Institutionalisierung von Kooperation von prinzipiell kompetitiven Akteuren mit dem Modell der Kartellbildung plausibilisieren können. Es war mir dann ein Anliegen, beim Blick auf die Gesetzesinschriften der Zeit sowie ausgewählte soziale Institutionen, nach gemeinsamen Zügen, einer in diesen Befunden reflektierten Gestaltungsabsicht, zu suchen. Ich meine, dass wir auf Kreta Manifestationen einer bewussten Intervention sehen, die durchaus die Vorstellungen von Akteuren reflektieren, was verhindert oder erreicht werden sollte, und welche Institutionen diese Bedingungen fördern mochten. Allerdings wurde dies wohl nicht mit Blick auf eine ‚große gesellschaftliche Vision‘ konzipiert, sondern aus der Perspektive strategisch denkender und handelnder Individuen, die sich unter den gegebenen Umständen um die Sicherung der eigenen Beteiligung zu den bestmöglichen, und das heißt: kontrollierten Bedingungen bemühten. In manchen griechischen Gesellschaften, wie in den kretischen Poleis, manifestierte sich das Bemühen institutionalisierter Kooperation in ‚Austerität‘. In den meisten anderen Gemeinwesen war die Inszenierung eines luxuriösen Lebensstils das Mittel der Wahl.42 BIBLIOGRAPHIE Axelrod 2009 = Robert Axelrod, Die Evolution der Kooperation, München 2009 (englische Originalausgabe 1984). Berger/Luckmann 1980 = Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1980 (englische Originalausgabe 1966).
42 Erheblich größere Aufmerksamkeit als das hier skizzierte Beispiel der kretischen poleis fand Sparta, wo wir sehr ähnliche Reflexionen einer ethischen Homogenisierung sehen, die sich aber viel weniger eindeutig als ‚Austerität‘ in der materiellen Kultur neiderschlugen, wie dies auf Kreta der Fall war. Einen konzisen Überblick des social engineering in Sparta bietet Schmitz 2014, 180–224; eine differenzierte Sicht der materiellen Kultur sowie des spartanischen ‚Luxus‘ bieten Hodkinson 2000 und Rabinowitz 2009.
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LUXUS – DISPOSITIV „IM SPIEL DER MACHT“ Explorationen zu einem epochenübergreifenden Thema aus der Perspektive einer Frühneuzeithistorikerin Michaela Hohkamp, Hannover 1. EINLEITUNG: LUXUS ALS „DISPOSITIV“ „Luxus – nur Protz und Prunk? Zur Globalgeschichte des Luxus von der Antike bis zur Gegenwart“ war die Tagung betitelt, die zwischen dem 13. und 15. Februar 2020 am Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover unter der Leitung von Elisabetta Lupi und Jonathan Voges stattfand. Dem Organisationsteam der Konferenz bzw. den Herausgeber:innen des vorliegenden Tagungsbandes mit dem Titel: „Luxus – Perspektiven von der Antike bis zur Neuzeit“ danke ich für die Gelegenheit auf den folgenden Seiten Grundlinien meines damaligen Kommentares zur Sektion „Mittelalter und Frühe Neuzeit“ auszuführen und diese, ergänzt um einige Überlegungen zur Thematik von Tagung und Sammelband, aus der Sicht einer Frühneuzeithistorikerin abschließend präsentieren zu können. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die transepochale Perspektive des Bandes gerichtet. Den Überlegungen Michel Foucaults folgend wird Luxus als Dispositiv verstanden, eingelagert in Strukturen von Ungleichheit, eingeschrieben in ein historisch und kulturell spezifisches und zugleich wandelbares „Spiel der Macht“ um Grenzziehungen zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem, Legitimem und Illegitimem, akzeptiertem und inakzeptablem Verhalten, um Praktiken der Verausgabung: „Was ich [=Foucault] unter diesem Titel [Dispositiv] festzumachen versuche, ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale (sic) Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens möchte ich in dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen Elementen sich herstellen kann. [...] Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von [...] Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion […].“1
Der strategischen Anlage des Dispositivs spricht Foucault eine ganz zentrale Bedeutung zu:
1
Foucault 1978, 119–120. Zum Begriff Dispositiv s. auch Wimmer 2012.
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Michaela Hohkamp „Ich habe gesagt, dass das Dispositiv wesentlich strategischer Natur ist, was voraussetzt, daß es sich dabei um eine bestimmte Manipulation von Kräfteverhältnissen handelt, um ein rationelles und abgestimmtes Eingreifen in diese Kräfteverhältnisse, sei es, um sie in diese oder jene Richtung auszubauen, sei es, um sie zu blockieren oder zu stabilisieren oder auch nutzbar zu machen usw. … Das Dispositiv ist also immer in ein Spiel der Macht eingeschrieben, immer aber auch an eine Begrenzung oder besser gesagt: An Grenzen des Wissens gebunden, die daraus hervorgehen, es gleichwohl aber auch bedingen. Eben das ist das Dispositiv: Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen des Wissens [z. B. über moralische Architekturen] stützen und von diesen gestützt werden.“2
2. LUXUS IM EPOCHENÜBERGREIFENDEN VERGLEICH Die folgende Exploration beginnt in der Neuzeit und mit dem Beitrag: „‚Und sie erscheinen an der Türschwelle in all ihrer Herrlichkeit‘. Die Rolle des Luxus in Autobiographien hoher Beamter im späten Zarenreich“ von Benedikt Tondera. Der Autor analysiert darin die Berufswege von Staatsdienern im russischen Zarenreich des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts auf der Basis von Selbstzeugnissen und schreibt der habituellen Seite der Karrieren (Umgang mit materiellem und repräsentativem Aufwand für Lebens – und Amtsführung = Luxus) dabei eine wichtige Rolle zu. Tonderas Ausführungen enden mit einigen wenigen Sätzen zur Situation Russlands im 21. Jahrhundert: „Das Problem der ungleichen Verteilung von Lebenschancen ist […] keineswegs eines, das mit dem Niedergang des Zarenreiches verschwand. Im Gegenteil. […] die sozialen Verhältnisse des späten Kaiserreichs“ ähnelten „jenen des zeitgenössischen Russlands weit mehr als jenen der sowjetischen Ära. […]. Es ist naheliegend, dass insofern auch die damit verbundenen Praktiken des Staatskonsums und symbolischer Machtdemonstrationen unter den führenden Vertreter:innen der Bürokratie und des Staatsapparates im heutigen Russland vergleichbare Formen annehmen. International breit rezipierte russische Filme wie Leviathan und Durak (beide 2014) griffen diese Problematik an (fiktiven) Beispielen aus der Provinz auf; während Alexej Navalny in seinen millionenfach aufgerufenen Youtube-Dokumentationen unter anderem über den verdeckten Reichtum Dimitrij Medwedews und Vladimir Putins aus den Jahren 2017 und 2021 exzessiven Luxus als Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen von unten nach oben skandalisierte“. Ein diachroner Vergleich zwischen der „spätimperialen Ära und der Regierungszeit Vladimir Putins“ sei, so Tondera, daher „ein lohnenswertes Unterfangen […]“.3 Die Beziehung, die der Autor zwischen der Spätzeit des zaristischen Russland und dem Russland zu Beginn des 21. Jahrhunderts herstellt, setzt konzeptuelle Überlegungen zu vergleichendem Arbeiten in epochenübergreifender Perspektive voraus, die abseits simplifizierender Vorstellungen über mögliche Auswirkungen historischer Vorkommnisse auf gegenwärtige Gesellschaften angesiedelt sind oder gar der Idee folgen, Gegenwart müsse schon allein deswegen aus Vergangenem 2 3
Foucault 1978, 122–123. S. den Beitrag von Tondera in diesem Band auf S. 215–216.
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hervorgehen, aus ihr heraus erklärbar sein, weil sie ihr zeitlich nachgeordnet ist. Tondera setzt den zeitübergreifenden Vergleich vielmehr ein, um strukturelle Gemeinsamkeiten hinsichtlich der ungleichen Verteilung von Lebens- und Karrierechancen der beiden Systeme offen zu legen. Luxus bzw. das, was unter Luxus jeweils zu verstehen ist, bleibt dabei inhaltlich unbestimmt, erscheint situativ konfiguriert. So gesehen kann ein frugales Mahl in unpassender Gesellschaft eines russischen Staatsbediensteten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, der sich auf diese Weise von den Zwängen seines Kleidung- und Speiseaufwand fordernden Alltags erholte, ebenso als Luxus verstanden werden wie das Errichten von Prachtbauten, die öffentlichem Gebrauch entzogen sind oder, um ein Beispiel aus der Einleitung des vorliegenden Bandes (Lupi/Voges) „Luxus – ein Spiegel der Gesellschaft?“ aufzugreifen, der Verzehr eines mit Gold überzogenen Stück Fleisches in privater (Männer)Runde zu Beginn des 21. Jahrhunderts.4 Dem diachronen Vergleich wohnt die Annahme über die Verschiedenheit der zu vergleichenden Gesellschaften inne. Anders als in der allgemein verbreiteten Rede von den nicht vergleichbaren Äpfeln und Birnen insinuiert, setzt der epochenübergreifende Vergleich Gleichheit aber nicht notwendig voraus.5 Dieser Gedanke bildet das Gerüst für die Gliederung dieses Tagungsbandes, der, geklammert von zwei programmatischen Beiträgen, in drei Abschnitte eingeteilt ist, die jeweils aus mindestens einem Artikel zur Geschichte der Antike und einem weiteren zu einer weiteren Epoche bestehen. 3. HETEROGENE ENSEMBLES Ihre einleitenden Reflexionen zu Luxus und seinen historiografischen Konzeptionen beginnen Herausgeberin und Herausgeber des vorliegenden Bandes mit Beispielen zu Luxus aus der Geschichte der Antike und der Neuzeit, lenken den Blick der Leser:innen auf den instrumentellen Charakter der Rede von und über Luxus, auf diskursive Praktiken ebenso wie auf die historischen Akteure und Akteurinnen, die in einzelnen Beiträgen durch gesellschaftliche und personenbezogene Kontextualisierung überzeugend Kontur gewinnen. Das Produktive eines solchen Vorgehens wird in dem Beitrag von Jonathan Voges über Rosemarie Nitribitt in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts vorgeführt. Die „Lebedame“ setzte den performativ inszenierten Gebrauch eines MercedesCabriolets, das in seiner Zeit als Luxusgut ersten Ranges galt, für den persönlichen Prestigegewinn ein, steigerte damit das Interesse an ihrer Person und den Verkehr
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Auf die Analyse der symbolischen Dimension dieser Handlung aus geschlechterspezifischer Perspektive muss in diesem Kontext leider verzichtet werden. Der Vergleich als historische Methode wird gegenwärtig an der Universität Bielefeld im Sonderforschungsbereich 1288 (SNF) erarbeitet: „Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern“. URL: https://ekvv.uni-bielefeld.de/pers_publ/publ/EinrichtungDetail.jsp? orgId=93309060, zuletzt aufgerufen am 08.05.2022.
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mit ihr, sicherte auf diese Art Existenz und Aufstieg – wenn auch nur für begrenzte Zeit. Die Logik des Geschehens erschließt sich aus dem von Voges anschaulich vermittelten „heterogenen Ensemble“ einer Nachkriegsgesellschaft, das Diskurse, Institutionen, […] Gesetze, administrative Maßnahmen, […] moralische […] Lehrsätze […]: Gesagtes […] wie Ungesagtes“ umfasst.6 In einer anderen Gesellschaft, einer anderen Zeit, der Frühen Neuzeit, lässt sich, das zeigt Wolfgang Wüst in seinem Beitrag über die Strategien des Luxus der „Mindermächtigen“ im Alten Reich des 17. und 18. Jahrhunderts, für die Zurschaustellung von Pracht (= Luxus) Vergleichbares feststellen. In dem von Wüst geschilderten historischen Setting sorgten sich „Mindermächtige“, d. h. adelige Mitglieder der Reichsstände, die im Zuge der Territorialisierung von Landesherrschaft stetig an Macht und Einfluss verloren, um ihre Position in der frühneuzeitlichen Adelsgesellschaft. Mit demonstrativer Prachtentfaltung, Aufrechterhaltung eines elaborierten Lebensstils an ihren jeweiligen (kleinen) Höfen suchten sie mit den Mächtigeren gleichzuziehen, ohne jedoch über hierzu nötige Ressourcen oder Machtmöglichkeiten zu verfügen, oder sich diese zu verschaffen. Um ihr Ziel dennoch zu erreichen, so Wüst, beschritten die Adeligen unübliche Wege, zeigten sich geradezu erfinderisch. Wie bei Rosemarie Nitribitt war also auch hier luxuriöser Lebensstil das Mittel, um Position und Einfluss zu erreichen bzw. zu erhalten. Ob der Luxus sich in einem blumengeschmückten Sofastoff oder in einem eigenen Hoftheater manifestierte und materialisierte, ist dabei unerheblich. Zentral ist hingegen die Feststellung, dass die jeweiligen Handlungen in ein heterogenes Ensemble eingewoben waren, in ein Netz, das sich aus unterschiedlich gebündelten Elementen (Diskurse, moralische Netze usw.) zusammenfügte. 4. FORMATION Dispositiv kann nach Foucault als „eine Art von [...] Formation“ verstanden werden, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt“ darin besteht, auf einen „Notstand zu antworten“.7 Das Dispositiv hat dann strategische Funktion. So tritt uns Luxus als Dispositiv in dem Beitrag von Anabelle Thurn vor Augen, in dem die Reden Marcus Tullius Ciceros gegen Lucius Sergius Catilina sowie gegen Lucius Calpurnius Piso Caesoninus analysiert werden. Indem der homo novus (Aufsteiger) Cicero seinen politischen Widersacher Piso diffamierte (dieser war der Vater Calpurnias, der dritten und letzten Ehefrau Gaius Julius Caesars und fest in der römischen Elite verankert) als er ihn in der politisch bewegten Zeit des Übergangs von der Republik zum frühen Prinzipat des übermäßigen Weingenusses zieh und des Luxuskonsums bei Gastmählern bezichtigte, bediente er sich nicht nur der form- und anlassgerechten Rede, sondern bezog sich dabei auch auf Normen und Werte, die fest im Selbstbild der Republik verankert waren, also nicht
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Zu Begrifflichkeit „Dispositiv“ Foucault 1978, 120. Foucault 1978, 120.
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nur auf „Gesagtes“, sondern auch auf „Ungesagtes“. Pointiert tritt uns die strategische Funktion des Luxus in dem Beitrag von Berit Hildebrandt zu Tage. Hier analysiert Hildebrandt luxuriöse Praktiken von Freigelassenen im ersten Jahrhundert n. Chr. und wirft dabei die Frage auf, weshalb das Verhalten von Freigelassenen überhaupt die Aufmerksamkeit der politischen Öffentlichkeit der Zeit auf sich zog. Für die Beantwortung ihrer Frage nutzt sie das von Homi Bhabha entwickelte Konzept des „Dritten Raums“. Auf dieser Basis klassifiziert Hildebrandt Freigelassene als „Trendsetter“ für die traditionellen Eliten mit eigenen Kommunikationsund Handlungslogiken und legt so deren politisches Potenzial frei. Ausgangspunkt für ihre Überlegungen bildet das „Gastmahl des Trimalchio“, ein literarischer Text, der aller Wahrscheinlichkeit nach in der Regierungszeit Kaiser Neros (erstes Jahrhundert n. Chr.) entstand und einen Teil des umfassenderen Werkes „Satyricon“ bildet.8 Im Unterschied zu der Zeit Ciceros (erstes Jahrhundert v. Chr.), hatte sich in Rom inzwischen jedoch das Prinzipat etabliert, Einstellungen gegenüber Luxus und Konsum hatten sich verändert. „Während sich einige Senatoren vehement gegen den Luxus aussprechen“, so schildert Hildebrandt einen Wortwechsel einer Senatssitzung, der sich bei Tacitus wiedergegeben findet, „sehen andere ihn als angemessene Kompensation für die Verpflichtungen und Gefahren, die die Elite u.a. im Krieg und für das Gemeinwesen auf sich nehmen muss“ – ein Argument, das uns auch in dem oben angesprochenen Beitrag von Jonathan Voges über Rosemarie Nitribitt aus dem Munde der Wirtschaftsbosse überliefert ist. Im Falle des „Trimalchio“ reagierte die politische Öffentlichkeit auf eine Gesellschaft im Übergang, die Elite reagierte auf einen Notstand, die Entstehung eines kulturellen Raumes in dem nicht ausschließlich die politischen Eliten moralische und philosophische Grundsätze aushandelten, sondern auch Freigelassene im Aushandlungsprozess über Grenzen zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem, Legitimem und Illegitimem mitwirkten. In seiner physischen Qualität wird der historische Faktor Raum in dem Beitrag von Melanie Meaker indem sie sich mit Blick auf die Zeit des archaischen Griechenlands dezidiert mit der Frage nach dem Zusammenhang zwischen geschlechterspezifischer Zuschreibungspraxis und raumbezogener Gesellschaftsordnung auseinandersetzt und dabei weit verbreitete Auffassungen über den unauflöslichen und zeitenübergreifenden Konnex zwischen Luxuskritik und misogyner Rede ins Wanken bringt. 5. DISKURSE Luxus, verstanden als Dispositiv im Spiel der Macht, verweist auf sein eigenes semantisches Umfeld. Parallel zu der Fokussierung auf diskursive Praktiken in konkreten historischen Settings rücken Lupi und Voges in der Einleitung deshalb die historischen Semantiken auf dem Themenfeld Luxus und Luxuskonsum in das
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Eine der berühmtesten filmischen Verarbeitungen des Themas stammt aus der Werkstatt des italienischen Filmemachers Federico Fellini, der sein Werk 1969 in die Kinos brachte.
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Sichtfeld der Leser:innen. Mit diesem Werkzeug in der Hand arbeitet Elisabetta Lupi dann in einem eigenen Beitrag heraus, wie aufwendige und kostspielige Bekleidungspraktiken des 6. Jahrhunderts ein Jahrhundert später „als Protz semantisiert“ wurden, als ein „unnötiges Gut, das die undemokratische Haltung des Trägers“ – die Rede ist von Alkibiades (ca. 450–404 v. Chr.) – „offenlegt, sowie eine reine Verschwendung, die keinen Nutzen außer der Selbstbehauptung hat“.9 Neben der Praxis, Luxus als Protz zu semantisieren und damit überhaupt erst die Basis für Kritik an Konsum von Reichtum zu ermöglichen, verweist Lupi auf ein diskursives Geschehen, in dem das Verausgaben von Gütern als Dienst am Allgemeinwohl semantisiert wurde. In ihren Überlegungen zu Alkibiades, dem bewunderten und zugleich kritisierten Machthaber der attischen Demokratie des späten 5. Jahrhunderts v. Chr. geht sie dieser Ambivalenz nach. Sie verleiht so dem begrifflichen Feld der Angemessenheit von Ausgaben auf der einen und der unangemessenen Verausgabung auf der anderen Seite Kontur, thematisiert Grenzziehungen, analysiert das Balancieren zwischen gesellschaftlich akzeptablem und inakzeptablem Konsum. Dies ist ein Bereich, den die Herausgeber:innen des vorliegenden Bandes in ihrer einleitenden Tour d´Horizon zum Thema Luxus und seinen gesellschaftlichen Funktionen als zentrale Thematik in den Arbeiten der Klassiker der Luxusforschung seit dem 19. Jahrhundert herauspräparieren. In diesem Zusammenhang lassen sie auch Henri Joseph Léon Baudrillart (1821–1892) zu Wort kommen, der im Jahr 1878 „[…] den Überfluss […]“ als notwendig für „den wirtschaftlichen Aufschwung […] erachtete“. Die Anpassung von Luxuskonsum an die jeweilige ökonomische Situation galt dem philosophisch orientierten Nationalökonomen Baudrillart als Zeichen für wahre zivilisatorische Leistung.10 So gesehen zeigten die von Wolfgang Wüst untersuchten Mindermächtigen durchaus zivilisatorisches Verhalten, wenn sie mit Blick auf die Widerständigkeit und Protesthaltung frühneuzeitlicher Untertanen, adelige Lebensweise zwar aufrecht zu erhalten versuchten, dabei aber durchaus Sinn für das Machbare erwiesen.
6. LUXUS BEGRENZEN – MACHT EINHEGEN Die Rede vom „Luxus“, so formulierte es der Frühneuzeithistoriker Rainer Beck in seinem Beitrag: „Luxus oder Decencies? Zur Konsumgeschichte der Frühneuzeit als Beginn der Moderne“ in einem Sammelband mit dem Titel „Luxus und Konsum“ – eine historische Annäherung sei in den „Gesetzen und moralischen oder politischen Debatten der frühen Neuzeit“ allgegenwärtig, so als „drohe dieser [der Luxus, MH], die Alte Welt zu überschwemmen und ihre Ordnung mit sich fortzureißen. Doch in den zeitgenössischen Diskursen“, so Beck weiter, „fungierte der Luxus als Synonym jeder Art konsumatorischer Neuerung oder jeden zusätzlichen 9 S. den Beitrag von Lupi in diesem Band auf S. 175. Vgl. auch Lupi 2019. 10 S. die Einleitung von Lupi/Voges in diesem Band, bes. 10–11.
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Verbrauchs, der den traditionell als angemessen propagierten, somit ständisch differenzierten Aufwandsgepflogenheiten widersprach – das konnten im Zweifelsfall auch eine Gürtelschnalle oder ein Halstuch sein“.11 Gesellschaftliche Ordnung und Luxus verweisen in diesem Zitat aufeinander, das Dispositiv im Spiel der Macht tritt hervor, konkretisiert sich in frühneuzeitlicher Herrschaftspraxis, in der Regulierung des alltäglichen Lebens auf allen Ebenen und in allen Bereichen. Kam es zu Übertretungen der Ver- und Gebote, drohten Konsequenzen, Leib und Seele konnten Schaden nehmen. Die jenseitige Welt, das Seelenheil, konturiert, diskutiert und bildlich vermittelt, bildete einen zentralen Bestandteil frühneuzeitlicher Wissenswelten. Karl Härter, im deutschsprachigen Raum einer der bekanntesten und produktivsten Forscher auf dem Gebiet der obrigkeitlichen Regulierungspraktiken hat im Laufe vieler Jahre gemeinsam mit Kolleg:innen am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie einschlägige Mandate, Verordnungen und Gesetze, die sogenannten „Policeyordnungen“ der Frühen Neuzeit nicht nur gesammelt, kommentiert und herausgegeben, sondern auch erforscht. Ein anschauliches Beispiel für die Breite des Themas Guter Ordnung bietet der kürzlich aus Härters Feder stammende Beitrag „Die Policey der Hamster, Sperlinge, Raupen und Heuschrecken: ‚Schädliche Tiere‘ und ‚Ungeziefer‘ in der preußischen Policeygesetzgebung der Frühen Neuzeit“.12 Die Bezüge zwischen gesellschaftlicher Ordnung und den jeweiligen Wissensreservoirs einer Gesellschaft fallen hier deutlich ins Auge. Die Y-Polizei der Frühen Neuzeit, die „Policey“, diente den frühneuzeitlichen Obrigkeiten spätestens seit dem 16. Jahrhundert und dann bis zum ausgehenden Ancien Régime dazu, eine in ihrem Sinne „Gute Ordnung“ einzurichten.13 So gut wie nichts blieb ausgespart: Der Aufwand bei Hochzeiten und Begräbnissen, die Pracht von Ostereiern, Zeiten für Wirtshausbesuche in Sommer und Winter, Märkte, Glücksspiele, Ernährung, Almosenvergabe, literarische Produktionen und vieles andere mehr war Gegenstand von Ver- und Geboten. Bestimmt war auch, wer welche Kleidung tragen, sich mit welchen Objekten ausstatten oder schmücken durfte, welche Speisen zu welchen Anlässen zu genießen sein sollten, wieviel Gäste zu einem Fest oder einer Feier zulässig waren, wer zu einer Festlichkeit zugelassen bzw. einzuladen war und wer nicht oder welches Verhalten im Rahmen geselliger Anlässe zu zeigen war, kurz: In welchem Maße Pracht, Luxus und Vergnügen aller Art zur Schau gestellt werden durfte – gleichgültig, ob die Pracht sich im Tragen eines Halstuches, eines Schmuckbandes, oder edler Juwelen manifestierte.14
11 S. Beck 2003, 37. 12 S. Härter 2020. 13 S. Härter 2010, 127–128. Härter führt aus, dass der Begriff „Policey“ auch schon im 15. Jahrhundert in spätmittelalterlichen Städten nachzuweisen ist und auf städtische Ordnungsmaßnahmen hinweist. 14 S. Ajouri 2020, 299-303. Überblicksartig zu frühneuzeitlichen Policeyordnungen vgl. Iseli 2009. Ganz klassisch setzt sie die Ordnungen in Beziehung zur frühneuzeitlichen Sozialdisziplinierung.
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Das vielfältige Portfolio frühneuzeitlicher Guter Ordnung trägt geschlechterund ständespezifische Züge, Rechte und Privilegien waren ungleich verteilt. Herr:innen und ihre Untergebenen waren ebenso Ungleiche wie Frauen und Männer. Rahmen- und Lebensbedingungen von Stadtbewohner:innen unterschieden sich von denen ländlicher Bevölkerungen, adelige Lebensweise unterlag wieder anderen rechtlichen Bestimmungen. Christen, Juden und Muslime teilten vielfach ihren Alltag, als einander gleich galten sie nicht.15 Stand, Geschlecht und Religion gelten der Frühneuzeitforschung als klassische Differenzkonzepte, die von weiteren Zuschreibungen wie z. B. Verwandtschaft oder Alter – die Liste ließe sich verlängern –, überlagert oder gekreuzt werden konnten. Ungeachtet aller gesellschaftlicher Distinktion und Differenz bildeten Korporationen, berufliche, ständische, religiöse, verwandtschaftliche, nachbarschaftliche Gruppierungen und Gesellschaften, oder auch einfach nach Wohnvierteln oder Herkunft sortierte Gruppen im frühneuzeitlichen Alltag jedoch Beziehungsgeflechte, in denen die Menschen sich bewegten, über die sie sich definierten. Zugehörigkeiten entschieden über Lebensperspektiven.16 Ausschluss konnte Isolation bedeuten, mit all seinen möglichen negativen Folgen für den Lebensalltag. Zugehörigkeiten waren aber keineswegs immer eindeutig bestimmbar. Sie überschnitten sich, Grenzen – im wortwörtlichen und übertragenen Sinne – waren fluide, Überschreitungen jeder Zeit möglich. Das gilt für territoriale, herrschaftliche und damit rechtliche Zuordnungen der Menschen in der ständisch gegliederten feudalen Ordnung der Frühen Neuzeit gleichermaßen. Rechte an etwas oder über etwas z. B. an oder über Personen, Anrechte auf Einkünfte, das Recht Abgaben zu erheben, Ansprüche auf Arbeitsleistungen oder Versorgung – um nur einige Bereiche zu nennen – waren umstritten und deshalb permanent Gegenstand von Aushandlungsprozessen. Wo die Grenzen jeweils verliefen, wie das Aushandeln von Handlungsspielräumen sich gestaltete, welche Instanzen hierbei beteiligt waren, welche Verfahren zur Anwendung kamen, war in hohem Maße situativ bestimmt und ausgesprochen divers. 17 Den Praktiken der Grenzziehungen, auch im herrschaftspolitischen Kontext, ist in der einschlägigen Forschung deshalb seit vielen Jahren große Aufmerksamkeit geschenkt worden.18 In diese Zugehörigkeitsgesellschaft mit all ihren Grenzziehungs- und Aushandlungspraktiken waren detaillierte Vorgaben zur Präsentation und Performation von Reichtum, Stand, Status, Geschlecht und gesellschaftlicher Position und Machstellung eingelagert. Der Praxis demonstrativen Konsums, eine mögliche Form der Manifestation von Zugehörigkeit, kam dabei besondere Bedeutung zu. Da sich aber
15 S. Kuhlmann-Smirnov 2013. Zum Zusammenleben von Jüd:innen und Christ:innen beispielhaft Ulbrich 1999. 16 S. Jancke 2016. 17 Die permanent gegebene Möglichkeit Grenzen zu überschreiten oder zu unterlaufen bezog sich übrigens auch auf Geschlechterrollen. Ein anschauliches und lebendig geschildertes Beispiel dafür liefert das bereits in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts publizierte Werk von Kates 1996. 18 S. Roll/Pohle/Myrczek 2010. Für eine beispielhafte Einzelstudie für die Historizität von physischen Grenzen s. Magyar 2017.
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nur dasjenige zur Schau stellen ließ, wessen man habhaft werden konnte, sind Luxuspraktiken und das Zugreifen auf Ressourcen, die Luxus ermöglichten, in der Forschungspraxis miteinander zu koppeln. Auf dieser Basis wird die Frage nach den Kosten möglich, die Luxus verursachte. In der wirtschaftsgeschichtlich orientierten Forschung ist in diesem Zusammenhang auf die Veränderungen des Wertes von Luxusobjekten im Laufe der Frühen Neuzeit hingewiesen worden. Entwicklungen im Finanzsektor, Etablierung arbeitsteiliger Produktion, Neuerungen von Produktionstechniken, Einführung neuer Arbeitsmaterialien und nicht zuletzt eine ausgefeilte Logistik sorgten dafür, dass Luxusobjekte wie Stoffe (z. B. feine Wolltuche, Seide, arbeitsintensiv hergestelltes hochwertiges Leinen), Farben oder Genussmittel und Gewürze (Pfeffer, Salz, Nelken, Zucker, Kakao, Kaffee, Tee, Tabak usf.) im Verlauf der Frühen Neuzeit sukzessive an Wert verloren.19 Ein Prozess, der aus der Freisetzung von Arbeit auf der einen Seite und der Verfügung über Sklavenarbeit auf der anderen Seite resultierte. Veränderungen des Wertes von Luxusobjekten konnten kurzfristig eintreten, bedingt sein durch plötzlich auftretende politische Ereignisse oder Einbrüchen in Finanz- und Wirtschaftswesen geschuldet sein. Der enorme Preisverfall von Tulpenzwiebeln im 17. Jahrhundert bietet hierfür ein anschauliches Beispiel. Langfristig gesehen, waren Wertverluste von Waren jedoch mit Veränderungen in der Produktion und bei der Beschaffung der nötigen Rohstoffe verbunden. In Luxusobjekten (nicht nur) der Frühen Neuzeit materialisierten sich demnach die Aneignung von Materialien und Arbeitsleistungen aller Art, einerlei ob diese in Dienstleistungen einer Rosemarie Nitribitt bestanden, die ihren Körper ebenso zeitaufwendig pflegte und an ihrer Erscheinung arbeitete wie die Kurtisanen des 15., 16. und 19. Jahrhunderts, oder ob es sich um zeitintensive Handwerksprodukte bzw. Kunstwerke handelte, um kostbare Salböle, Objekte aus Gold, Juwelen, Halb- und Volledelsteinen.20 In ihrer Einleitung sprechen die Herausgeberin und der Herausgeber dieses Bandes die wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Facetten von Luxus in ihrer Würdigung der einschlägigen und, bis heute klassischen, theoretischen Erörterungen zu dieser Thematik im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert an und ermuntern dazu, sich von klar zeitgebundenen Theoremen zu entfernen und sich dem Themenbereich Luxus stattdessen auf Basis von Case-Studies im epochenübergreifenden Vergleich zu nähern. Frühneuzeitliche Gesellschaften zeichnen sich im Vergleich durch die explizite Verknüpfung von Ordnungsbegehren und Luxusprak-
19 S. Jeggle et al. Für eine global orientierte Objektgeschichte des Luxus s. Grewe/Hofmeester 2016. Wirtschaftsgeschichtliche Überlegungen kombiniert mit der Objektgeschichte präsentiert Siebenhüner 2015. Die Geschichte des Konsums von Luxusgütern und kolonialer Expansion in transepochaler Perspektive bietet Menninger 2004. Sie thematisiert dabei auch die mit diesen Genussmitteln verbundenen obrigkeitlichen Verbote. Zur Geschichte des Zuckers siehe den Klassiker von Mintz 1985. Zur Geschichte der weit verbreiteten Krapppflanze als Färbemittels siehe Chenciner 2000. Zur Geschichte von Farben, einem Stoff, dem im Kontext von Luxus traditionell eine zentrale Bedeutung zukommt, vgl. Engel 2009. 20 Zu Arbeit in der Antike siehe Wagner-Hasel 2022.
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tiken aus, wobei die Grenzen zwischen akzeptiertem Aufwand und zu unterbindenden Praktiken alles andere als eindeutig waren. Der rechtlich unbestimmte Begriff der „Nothdurft“, durch das Konzept der „Hausnotdurft“ im frühneuzeitlichen Alltagsvollzug verwurzelt, lieferte das Werkzeug, zwischen legitim und nicht legitim, erlaubt und unerlaubt, zwischen angemessen und unangemessen zu unterscheiden ohne dabei Differenzen und Distinktionspraktiken zu konterkarieren. In der Auseinandersetzung um das Angemessene aktualisierte sich jedoch Herrschaftskritik. Die fluide Grenzlinie zwischen Unangemessenem und Angemessenem, zwischen Legitimem und Illegitimem, zwischen erlaubter und unerlaubter Verausgabung durchzog dabei das Spiel der Macht. Die Frage wer Rechte auf Arbeitsleistungen hatte und wer nicht, bzw. wieviel Arbeit zu leisten war, in welchem Umfange und welche, kam dabei in der Frühen Neuzeit eine prominente Rolle zu. Dieser Punkt ist im Folgenden exemplarisch ausgeführt. 7. NOTHDURFT UND HAUSNOTDURFT „Scharwerk“, so formuliert es die Frühneuzeithistorikerin und Expertin für die ländliche Gesellschaft der Frühen Neuzeit, Renate Blickle, das Zedlerʼsche Universallexikon aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zitierend, „sind eigentlich nichts anderes, als diejenige Arbeit, welche Unterthanen auf dem Lande, sowohl ihrem Landes – als auch ihrem Erbherrn zu leisten verbunden sind, oder derjenige tägliche Dienst, so zu des Gerichts- oder Voigts-Herrns Leibes- und Haus-Nothdurfft mit Vieh oder eigener Hand mit oder ohne gewisse Maaß, verrichtet wird.“ 21 Hier ist die Rede von Fronen, genauer gesagt von ungemessenen Fronen, also unfreier Arbeit, in Bezug auf das frühneuzeitliche Konzept der Hausnotdurft, das, in der Lesart des englischen Sozialhistorikers Edward P. Thompson, die moralische Ökonomie einer Gesellschaft insgesamt fasst.22 Im Kern geht es um das Anrecht der Herren auf Arbeitsleistungen von Untertanen, die entweder mit eigener Hand oder mit Hilfe von Vieh auszuführen waren, um Bedarfe des Herren zu decken, ihm Notwendiges zu liefern, seine Wünsche und seine Begehren zu erfüllen23 – und zwar in einem Maße und in einer Häufigkeit, die unbestimmt war. Diese Unbestimmtheit,
21 S. Blickle 1991. 22 S. Thompson 1980. Zu unfreier Arbeit in Gestalt von „Zwangsarbeit“ in der Frühen Neuzeit, s. Blickle 2017a, 196–202. Ihre Ausführungen zu Fronarbeiten zeigen sie als wesentlichen Bestandteil der Beziehungen zwischen Obrigkeiten und Untertanen. 23 S.v. Nothdurft, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, URL: https://www.dwds.de/wb/dwb/nothdurft, zuletzt aufgerufen am 29.3.2022. Fundstelle: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 5 (1884), Bd. VII (1889), Sp. 927, Z. 77.
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in der frühneuzeitlichen Rechtsbegrifflichkeit, formuliert als „Nothdurft“24, unterscheidet die ungemessenen Fronen von den sogenannten gemessenen Fronen, die in mündlichen und schriftlichen Vereinbarungen zwischen Herren und Untertanen fixiert waren. Bis zum 18. Jahrhundert weitestgehend in feste Geldzahlungen umgewandelt, behinderten gemessene Fronen bäuerliche Arbeit kaum. Mit den ungemessenen Fronen verhielt es sich anders. Sie waren der Herrschaft je nach Bedarf zu leisten und dienten der Befriedigung des Herren, eben seiner herrschaftlichen Notdurft. Ungemessene Fronen waren weder in ihrer Form noch in ihrer Qualität zu bestimmen und deshalb nicht reibungslos in den bäuerlichen Arbeitsalltag zu integrieren. Ungemessene Fronen verfügten über erhebliches Störpotenzial, riefen den Unmut der bäuerlichen Untertanen hervor, waren dauernd Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Herren und Untertanen.25 Der Kern dieser Streitigkeiten, nämlich die Frage, ob die seitens der Herrschaft jeweils geforderten Arbeitsleistungen den Erfordernissen des herrschaftlichen Haushaltes entsprachen oder dazu dienten, darüber hinaus gehende Ansprüche zu befriedigen, manifestierte sich im frühneuzeitlichen Konzept der Hausnotdurft.26 Die Koppelung der herrschaftlichen Notdurft an das Haus, den Haushalt, setzte den Zugriffsmöglichkeiten der Herrschaft auf bäuerliche Arbeitsleistung prinzipiell Grenzen. Als weltliche und geistliche Herren im 17. Jahrhundert im Kontext der Ausweitung ihrer Eigenwirtschaft dazu übergingen, bäuerliche Dienste für den Bau von Stadthäusern und Lustschlösschen zu nutzen, reagierte die landesherrliche Obrigkeit. In Kommentaren zum bayerischen Landrecht im 17. Jahrhundert sind etwa Festlegungen zu finden, wonach bäuerliche Arbeit nur maßvoll eingefordert werden sollte, um Schaden von der bäuerlichen Wirtschaft abzuwenden. Dessen ungeachtet waren und blieben die ungemessenen Fronen ein Einfallstor für das Abschöpfen bäuerlicher Arbeitsleistung in Form der Sicherung von Hausnotdurft, so dass sich nachweislich zumindest die bayerische Landesherrschaft dazu entschloss, die herrschaftliche Hausnotdurft doch noch festzulegen indem sie sie mit dem Ertrag bäuerlicher Arbeitsleistung gleichsetzte, die zur Bearbeitung von vier Joch Acker nötig war. Hausnotdurft, die Grenze zum Luxus, war damit in Arbeitsleistung transformiert. Jede Art von Gewinnstreben bzw. Luxusbegehren, das nicht mit der Abschöpfung von Arbeitskraft erfüllt werden konnte, welche über das vorgeschriebene Maß hinaus ging, lag jetzt
24 Der Begriff „Nothdurft“ ist in Verordnungs- und Gesetzessammlungen der Frühen Neuzeit weit verbreitet nachgewiesen, URL: https://www.digitale-sammlungen.de/de/search?query=all%3 Anothdurft, zuletzt aufgerufen am 29.3.2022. Beispielhaft sei hier angeführt: Corpus juris publici Salisburgensis, oder Sammlung der wichtigsten, die Staatsverfassung des Erzstifts Salzburg betreffenden Urkunden, hrsg. von Judas Thaddäus Zauner, Auf des Hochwürdigisten Fürsten Und Herrn Herrn Sigismundi [Sigismund III.], Salzburg, Erzbischof, 1698–1771, Erz-Bischoffen Und des Heil. Röm. Reichs Fürsten zu Saltzburg, Legaten des Heil. Apostol. Stuhls zu Rom, und des Deutschlands Primatis [et]c. [et]c. Gnädigisten Befehl Zu jedermanns Nachricht in Druck gegeben Anno M.DCC.LVI, Saltzburg, gedruckt bey Johann Joseph Mayrs, Hof- und Academischen Buchdruckers seel. Erbin. S. dazu auch Simon 1994. S. auch Pichler 1983. 25 S. in klassischer, an marxistischer Geschichtsschreibung geschulter Tradition, Zückert 1988. 26 S. Blickle 1987.
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außerhalb herrschaftlicher Reichweite. Alles was jenseits der Grenzen bestimmter (Haus)notdurft(en) lag, galt als „Übermaß“ und „Luxus“ und konnte legitimerweise verweigert werden.27 Dies galt umso mehr, weil ungemessene Fronen aus Sicht der Untertanen ohnehin kein herrschaftliches Recht darstellten, sondern „Bittarbeit“ waren, „konsentierte Leistungen“, keine Gerechtigkeiten, d. h. Rechte, deren „Durchsetzung befohlen und erzwungen werden“ durfte.28 Arbeiten am Bau städtischer Wohnhäuser oder Zweit- und Drittschlössern waren eindeutig solche „Bittdienste“. Reparaturen, Beiträge zur Ausstattung der Wohnungen und Küchen, das Beschaffen von Bauholz und andere im und um das Haus anfallende Arbeiten zählten dagegen eindeutig zur herrschaftlichen (Haus)notdurft, waren nach Ansicht der Untertanen aber auch dann nicht unbegrenzt einzufordern, wenn sie lediglich der „Commodität“ dienten, der Bequemlichkeit der Herrschaft, also als eine Form von Luxus anzusehen waren.29 Klar gezogene Grenzen gab es (auch) in diesem Bereich nicht. Als anschauliches Beispiel für die Übergänge zwischen dem, was als angemessen galt und dem Unangemessenen können hier Arbeitsleistungen dienen, die in den herrschaftlichen Gärten zu verrichten waren. Handelte es sich um Dienste, die zur Versorgung der herrschaftlichen Küche nötig waren, konnten Gartenarbeiten eingefordert werden, handelte es sich um die Pflege der „Lustgärten“ konnten diese abgelehnt werden. Doch da nicht wenige herrschaftliche „Lustgärten“, vor allem im 17. und 18. Jahrhundert, Pflanzen beherbergten, die entweder medizinisch nutzbringend waren oder ökonomischen Zwecken dienten – zu denken ist etwa an die Einführung von Citrusfrüchten, z. B. Pomeranzen oder an Nutzpflanzen wie die Farbpflanze Krapp30 – blieben die Grenzziehungen zwischen Hausnotdurft und Luxus vom jeweiligen Kontext abhängig. Die Frage, ob bäuerliche Arbeiten für die Pflege der herrschaftlichen Gärten einzufordern war oder nicht, hing aber nicht nur von dem Gebrauch ab, den die Herrschaft davon machte, sondern auch von der Größe der jeweiligen Haushalte. „Denn die Maaß bestehet in deme, daß der Vogel nach dem Nest geurteilet wird, und also müssen die Adeliche“, die lediglich ein kleines „Haußwesen und Famili haben“ gehalten werden, ihre „Haußnotdurft“ nicht an dem gestatteten Maß auszurichten, sondern ihre Forderungen den Gegebenheiten anzupassen. Sie sollten sich, so formulierte es der oben genannte Ökonom Baudrillart wenige Jahrhunderte später, zivilisatorisch verhalten.31 Abseits solcher Feinabstimmungen, schränkte das Konzept Hausnotdurft den Griff der Herrschaft auf bäu-
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Blickle 1987, 45. Blickle 2017b, 201. S. Hohkamp 1998, 50–71. S. Thran 1731–1733. Zu fürstlichen Gartenanlagen und ihrem Nutzwert s, exemplarisch auch Robisheaux 2009, 246–251. Die Württemberger Herzogin Sibylla (1564–1614), interessiert an Heilkräutern und medizinischem Wissen, engagierte sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts für den fürstlichen Nutz- und Pflanzgarten in der kleinen Stadt Leonberg. Im 18. Jahrhundert gliederten sich derlei Gärten dann in die universitären Landschaften ein. Exemplarisch für den hier entwickelten Zusammenhang ist der Göttinger Professor Johann Beckmann (1739–1811) zu nennen. S. Beckmann 1777–1791. 31 Blicke 1987, 54.
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erliche Arbeitsleistung generell ein und räumte den bäuerlichen Haushalten Möglichkeiten ein, die Beziehungen zwischen Untertanen und Herrschaft von sich aus zu gestalten, auf Herrschaftsverhältnisse einzuwirken. Im und durch das frühneuzeitliche Konzept der Hausnotdurft zeigen sich Luxusdiskurse und -praktiken verflochten mit dem „Spiel der Macht“, kondensiert in frühneuzeitlichen Policeyordnungen, obrigkeitlich erlassen und überwacht. In Forschungen zur politischen Geschichte der Frühen Neuzeit firmieren diese Ordnungen denn auch als – wenn auch nicht immer ein ganz taugliches – Instrument zur Etablierung frühmoderner, ständeübergreifender Staatlichkeit. Mit und in der Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung im Verlauf der frühneuzeitlichen Geschichte veränderte sich auch das Verständnis, was als angemessene Verausgabung oder unangemessene Aufwendung anzusehen war. War der Hausnotdurft im 16. und 17. Jahrhundert die Commodität entgegengesetzt, so sollte der in seiner Zeit weithin bekannte Kameralist Johann Heinrich Gottlob von Justi (1720–1771) ein Jahrhundert später festhalten es verfüge zwar niemand auf ein Recht an Überfluss, doch solle es den Menschen möglich sein, ihre „Notdurft“ zu befriedigen. Darüber hinaus hätten alle Menschen Anspruch auf „Bequemlichkeit“. Glückseligkeit, aus der Sicht des 18. Jahrhunderts das Endziel eines jeden Staates, sei dann erreicht, wenn es die Freiheit gebe, Notdurft zu schaffen. Die Rolle des Staates, so der Kameralist weiter, bestehe darin, diese Freiheit durch „gute Einrichtung“ zu besorgen.32 Damit hatten sich über die Jahrhunderte hinweg zwar die politischen Parameter verändert, Luxus blieb aber weiterhin in das „Spiel der Macht“ eingeschrieben und bildete im 18. Jahrhundert, das zeigen Beschreibungen von Reisen und Aufenthalten in zeitgenössisch weitgehend unbekannte Welten des Pazifik – zu nennen sind hier exemplarisch die Berichte von Georg Forster (1754–1794) und seinem Vater Reinhold Forster (1729–1798) über ihre Reise mit James Cook – auch ein zentrales Element im geschlechterspezifizierten heterogenen Ensemble kolonialer Kontexte.33 8. EPILOG Mit Blick auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen in deren Zuge sich die Schere zwischen arm und reich zunehmend weiter öffnet, scheint es zwingend, sich mit Luxus und Luxuspraktiken in der Geschichte zu befassen. Ein klassisches Thema der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte samt ihren konzeptuellen Grundlagen aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in die Gegenwart zu transponieren und dabei das Augenmerk auf die Vielfalt von Handlungslogiken zu
32 S. Justi 1758, 67. Vgl. Blickle 1987, 55–57. Zur kameralistischen Praxis s. Wakefield 2009. Zum Freiheitsbegriff im 18. Jahrhundert s. Schlumbohm 1975. 33 Forster 1778; Forster 1780. Die beiden Bände sind die deutsche Version des kurze Zeit zuvor in zwei Bänden erschienenen Reiseberichtes von Forster 1777.
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lenken – in einem knappen Abriss haben Lupi und Voges mit Hilfe der historischen und kulturellen Einordnung der thematisch einschlägigen Arbeiten Max Webers (1864–1920), Werner Sombarts (1858–1918) und Thorstein Veblen (1857–1929) die Notwendigkeit eines solchen Vorhabens umrissen. Das beachtliche Potenzial produktiver Kritik und Auseinandersetzung mit überlieferten Lehrmeinungen entfaltet Jan Meister in seinem programmatischen Beitrag zu Beginn des Bandes. Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive begibt er sich dabei auf Spurensuche nach dem Zusammenhang zwischen Demokratie und Luxuskritik, um diesen schließlich als historiographische Konstruktion erkennbar werden zu lassen. Der Band schließt mit einem Beitrag Gunnar Seelentags: Die Schwester der Luxuria, die Austerität, betritt in ihm die Bühne des „Spiels der Macht“. BIBLIOGRAPHIE Ajouri 2020 = Philip Ajouri, Policey und Literatur in der Frühen Neuzeit. Studien zu utopischen und satirischen Schriften im Kontext Guter Policey, Berlin et al. 2020. Beck 2003 = Rainer Beck, Luxus oder Decencies? Zur Konsumgeschichte der Frühneuzeit als Beginn der Moderne, in: Reinhold Reith/Torsten Meyer (Hrsg.), „Luxus und Konsum“ – eine historische Annäherung, Münster et al. 2003, 29–46. Beckmann 1777–1791 = Johann Beckmann, Beiträge zur Oeconomie, Technologie, Polizey- und Cameralwissenschaft, 12 Bände, Göttingen 1777–1791. Blickle 1987 = Renate Blickle, Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: Günter Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1987, 42–64, wieder abgedruckt in: Blicke 2017a, 39–59. Blickle 1991 = Renate Blickle, Scharwerk in Bayern. Fronarbeit und Untertänigkeit in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 17, 1991, 407–433. Blickle 2017a = Renate Blickle, Politische Streitkultur in Altbayern. Beiträge zur Geschichte der Grundrechte in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Claudia Ulbrich/Michaela Hohkamp/Andrea Griesebner, Berlin – Boston 2017. Blickle 2017b = Renate Blickle, Opus publicum – Dienst und Strafe. Anmerkungen zur Zwangsarbeit im frühneuzeitlichen Bayern, in: Blickle 2017a, 194–223. Chenciner 2000 = Robert Chenciner, Madder Red. A History of Luxury and Trade, Routledge 2000. Engel 2009 = Alexander Engel, Farben der Globalisierung. Die Entstehung moderner Märkte für Farbstoffe 1500–1900, Frankfurt a. M. 2009. Forster 1777 = Georg Forster, Voyage around the World in His Britannic Majesty’s Sloop Resolution, Commanded by Capt. James Cook, during the Years, 1772, 3, 4, and 5, London 1777. Forster 1778 = Georg Forster, Johann Reinhold Forsterʼs [...] Reise um die Welt. Bd. 1. Berlin, 1778. In: Deutsches Textarchiv, URL: https://www.deutschestextarchiv.de/forster_reise01_1778, zuletzt aufgerufen am 07.04.2022. Forster 1780 = Georg Forster, Johann Reinhold Forsterʼs [...] Reise um die Welt. Bd. 2. Berlin, 1780. In: Deutsches Textarchiv, URL: https://www.deutschestextarchiv.de/forster_reise02_1780, zuletzt aufgerufen am 07.04.2022. Foucault 1978 = Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978. Grewe/Hofmeester 2016 = Bernd-Stefan Grewe/ Karin Hofmeester (Hrsg.), Luxury in Global Perspective. Objects and Practices, 1600–2000, Cambridge 2016.
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Thran 1731–1733 = Eine Afrikareise im Auftrag des Stadtgründers. Das Tagebuch des Karlsruher Hofgärtners Christian Thran 1731–1733, hrsg. von Peter Pretsch/Volker Streck im Auftrag des Karlsruher Stadtarchivs, Karlsruhe 2008. Ulbrich 1999 = Claudia Ulbrich, Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, Wien – Köln – Weimar 1999. Wagner-Hasel 2022 = Beate Wagner-Hasel, Rezension von Ephraim Lytle (Hrsg.), A Cultural History of Work in Antiquity, in: Historische Anthropologie 30:3, 2022, im Druck. Wakefield 2009 = Andre Wakefield, The Disordered Police State. German Cameralism as Science and Practice, Chicago 2009. Wimmer 2012 = Mario Wimmer, s.v. Dispositiv, in: Ute Frietsch/Jörg Rogge (Hrsg.), Praxeologische Begriffe. Ein Handwörterbuch der Historischen Kulturwissenschaften, Bielefeld 2012, 123–128. Zückert 1988 = Hartmut Zückert, Die sozialen Grundlagen der Barockkultur in Süddeutschland, Stuttgart 1988.
LISTE DER AUTORINNEN UND AUTOREN PD Dr. Berit Hildebrandt ist Althistorikerin und Klassische Archäologin. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Gender-, Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, insbesondere dem Austausch von Gütern wie Seide entlang der antiken Seidenstraßen. Sie war unter anderem wissenschaftliche Mitarbeiterin für Alte Geschichte an der Universität Hannover, Marie Sklodowska Curie Fellow am Center for Textile Research an der Universität Kopenhagen und PostDoctoralFellow der VolkswagenStiftung am Mahindra Humanities Center der Harvard University. In den kommenden Jahren wird sie zusammen mit israelischen KollegInnen anhand von Textilfunden Fernhandelsbeziehungen einer spätbyzantinisch-frühislamischen Siedlung in der Negev Wüste untersuchen. Das Projekt wird vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur im Rahmen des „Niedersächsischen Vorab/Forschungskooperation Niedersachsen und Israel“ gefördert. Prof. Dr. Michaela Hohkamp ist seit 2013 Inhaberin der Professur für die Geschichte der Frühen Neuzeit am Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover. In den Jahren 2011 bis 2013 war sie die Trägerin der Christian-GottlobHeyne Professur und zuvor Professorin für Methoden und Konzepte der Geschichtswissenschaft und Geschlechtergeschichte am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin (Friedrich-Meinecke-Institut). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Herrschaft, Verwandtschaft und Gewalt in der Frühen Neuzeit (ausgehendes 15. bis beginnendes 19. Jh.) aus kultur-, wissens-, und geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Dr. Elisabetta Lupi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Alte Geschichte an der Leibniz Universität Hannover. Sie wurde an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg mit einer Arbeit zur Repräsentation der Sybariten in den literarischen Quellen zwischen dem 5. und dem 3. Jahrhundert v.Chr. promoviert. In ihrer Habilitationsschrift widmet sie sich der Semantisierung von politischen Neuerungen in der späten römischen Republik und im frühen Principat. Weitere Forschungsschwerpunkte liegen in der Konsumgeschichte und in der Rezeptionsgeschichte. Prof. Dr. Jan B. Meister ist SNF-Eccellenza Professor an der Abteilung für Alte Geschichte und Rezeptionsgeschichte der Antike der Universität Bern, wo er ein Projekt zu spätantiken Herrscherkörpern leitet. Zuvor war er an der Universität Basel, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Eberhard Karls Universität Tübingen tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Spätantike, die politische Kultur Roms und die griechische Archaik, ein besonderer Fokus liegt dabei auf historisch-anthropologischen Fragestellungen sowie der Wissens- und Rezeptionsgeschichte.
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Liste der Autorinnen und Autoren
Melanie Meaker hat Geschichte und Anglistik/Amerikanistik an der Universität Mannheim studiert. Seit November 2019 ist sie Doktorandin am Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Universität Mannheim, wo sie zur antiken Sport- und Frauengeschichte forscht. Ihr Promotionsprojekt trägt den Arbeitstitel „Beendet ist der Wettkampf, und die Frauen kehren zurück“: Frauen und Agonistik in der griechischen Antike und wird von der Studienstiftung des Deutschen Volkes gefördert. Prof. Dr. Gunnar Seelentag ist Professor für Alte Geschichte an der Leibniz Universität Hannover. Seine Forschungsschwerpunkte sind das archaische Griechenland und der römische Principat. Dr. Benedikt Tondera ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Geschichte Europas der Neuzeit mit Schwerpunkt Osteuropa an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. In seinem Habilitationsprojekt befasst er sich mit den Lebensund Karrierewegen der imperialen Verwaltungselite im ausgehenden Zarenreich. 2017 verteidigte er an der Leibniz Universität Hannover seine Dissertation, sie erschien 2019 unter dem Titel „Reisen auf Sowjetisch. Auslandstourismus unter Chruschtschow und Breschnew 1953–1982“. Dr. Anabelle Thurn ist Althistorikerin und Geschichtsdidaktikerin. Sie wurde mit einer Arbeit zu Diffamierungsstrategien in Ciceros Reden und Briefen an der Technische Universität Darmstadt promoviert. Zurzeit ist sie als Akademische Rätin an der Pädagogischen Hochschule Freiburg tätig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die politische Kommunikation der späten römischen Republik, Moraldiskurse und Antikevorstellungen der Gegenwart. PD Dr. Jonathan Voges studierte Geschichte und Germanistik in Hannover und St. Louis. 2016 wurde er mit einer Arbeit zum Do it yourself in der Bundesrepublik Deutschland promoviert. Im Anschluss folgte ein Habilitationsprojekt zur intellektuellen Kooperation im Rahmen des Völkerbundes, das er 2021 abschloss. Derzeit arbeitet Voges in einem DFG-geförderten Projekt zur Pandemieplanung der Weltgesundheitsorganisation in den 1990er und 2000er Jahren. Seine Forschungsinteressen liegen in der Geschlechtergeschichte, der Konsumgeschichte, der transnationalen Geschichte und der Geschichte internationaler Beziehungen. Prof. em. Dr. Wolfgang Wüst studierte Geschichte und Anglistik an den Universitäten Augsburg und Edinburgh und war von 2000 bis 2019 Lehrstuhlinhaber für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und von 1999 bis 2021 Erster Vorsitzender des Historischen Vereins für Schwaben. Seit 2019 ist er Vorsitzender der 1948 begründeten Fränkischen Arbeitsgemeinschaft e.V.
REGISTER 1. PERSONEN Alexander I., Zar 202 Alexander III., Zar 198, 204 Alkaios 64–65, 70 Alkibiades 23, 33, 153, 155–162, 169–170, 172–173, 175, 246 Anakreon 56–59, 66, 70 Andokides (And.) 160, 169, 170 Anonymus Iamblichi (VS 89) 164–167 Antiphon (VS 87) 160, 166 Antonius Hybridas, Gaius 188 Antonius, Marcus 112, 191–192 Aristeides 171 Aristophanes (Aristoph.) 156, 158, 173–174 Aristoteles (Aristot.) 43,162, 167–168, 172, 175 Asinius Gallus 118 Asios von Samos 64–65 Athenaios von Naukratis (Athen.) 56, 61–62, 64–65, 160, 169, 234 Augustus, Princeps 115, 192 Baudrillart, Henri 10–12, 246 Bhabha, Homi 23, 106–107, 123, 245 Bourdieu, Pierre 94, 98, 104, 106, 113, 117, 182, 200, 208–209, 227 Burckhardt, Jacob 40–46 Buschor, Ernst 19, 57, 171 Caligula, Princeps 109, 112–113, 120, 122 Calpurnius Piso, Lucius 23, 117, 180, 182–184, 188, 191, 244 Calvisius Sabinus, Gaius 116 Casimir, Johann, Herzog 134 Cassius Dio (Cass. Dio) 122 Cicero > s. ‚Tullius Cicero, Marcus‘ Charles II., König 13 Claudius Etruscus 116 Claudius, Princeps 116, 119–120 Cornelius Balbus, Lucius 119 Cornelius Tacitus, Publius (Tac.) 105, 113, 118–119, 245 Curtius, Ernst 36–38, 45 Demetrios von Phaleron 31–32, 46, 63 Domitian, Princeps 116 Elias, Norbert 127, 146
Euripides (Eur.) 59, 159, 166 Fellini, Federico 104, 245 Ferdinand Albrecht I., Herzog 135 Fitzgerald, Francis Scott 104 Flavius Secundus, Titus 7 Foucault, Michel 211, 241–242, 244 Galbraith, George Kenneth 86 Gogol, Nikolaj 207 Herodot (Hdt.) 61, 73, 225 Hesiod (Hes.) 53, 55, 70–73, 162 Hipparete 160, 170 Hippias von Erytrai (FGrHist 421) 62, 173 Horaz 117 Isokrates (Isokr.) 166–167 Ivanov, Ven'jamin 204 Joseph von Hessen-Darmstadt, Fürstbischof 135–137 Kassander 31 Kimon 167 Kleisthenes 37, 73, 154 Kleopatra 112 Koško, Ivan 204 Krupp von Bohlen und Halbach, Harald 82 Kuby, Erich 88, 90–91, 96 Licinius Lucullus, Lucius 118–119, 167 Livius, Titus (Liv.) 117, 183 Lucilius, Gaius (Lucil.) 186 Luhmann, Niklas 23, 127, 146 Martial (Mart.) 109, 115 Marx, Karl 11–12, 20 Maximilian III. Joseph, Kurfürst 137 Melissa 61–62 Meyer, Eduard 19, 38–39, 43–44, 171 Miller, Konstantin Konstantinovič 23, 199, 203, 205–209, 211–212, 215–216 Nero, Princeps 103, 107, 109–110, 112, 116, 119–120, 245 Nikias 159, 162 Nikolaus II., Zar 198 Nisos 62 Nitribitt, Rosemarie 22, 81–85, 88–89, 91–98, 243–245, 249 Papinius Statius, Publius (Stat.) 116
260 Payer, Friedrich von 43 Periander 61–62 Perikles 36, 163–165, 168 Peter I., Zar 207 Petron (Petron.) 103, 106–107, 109–112, 115, 122 Platon (Plat.) 166, 173, 188 Plinius d. Ä. (Plin.) 112, 119, 179 Plinius d. J. (Plin.)120–121 Plutarch (Plut.) 33, 62–63, 160, 163, 167, 169–171, 173, 187 Plutius Epaphroditus, Aulus 122 Pöhlmann, Robert von 42–45 Polybios 185 Porcius Cato, Marcus Maior 188–189 Porcius Cato, Marcus Minor 184 Poseidonios 185 Putin, Vladimir 216, 242 Ribéry, Franck 9–10 Rousseau, Jean-Jacques 34–35, 40 Sachs, Gunter 83 Sallust (Sall.) 183, 185, 193 Sappho 56, 59, 64–67, 69–70, 73 Satyros von Kallatis (Satyr.) 169, 173 Schelsky, Helmut 82, 85–86 Semonides 56, 65–68, 72, 74 Seneca (Sen.) 116, 119 Sergius Catilina, Lucius 23, 180, 185, 188–190, 244 Simmel, Georg 23, 33, 52, 224, 226
Register Sokrates 159, 161, 167, 170 Solon 34, 36, 38–39, 43, 63, 162–163 Sombart, Werner 12–17, 19–22, 51–52, 82–85, 87, 90, 92, 97, 127, 146, 171–172, 176, 199, 213, 254 Sueton (Suet.) 108–110, 112–113 Tacitus > s. ‚Cornelius Tacitus, Publius‘ Tertullian (Tert.) 108, 114–115 Theognis (Thgn.) 66, 158 Thukydides (Thuk.) 56, 59, 65, 153–154, 156–159, 161, 163–164, 169, 173, 225 Tiberius, Princeps 105 Tichonov, Vasilij Andreevič 23, 199, 203–213, 215–216 Tiller, Nadja 91 Tullius Cicero, Marcus (Cic.) 23, 38–39, 115, 117–120, 179–193, 244–245 Unkovskij, Ivan 209 Urusov, Sergej Dmitrievič 209, 211, 213–214 Veblen, Thorstein 9, 15–21, 23, 52, 54–55, 85, 90, 104, 106, 127, 158–159, 179, 186, 200, 254 Weber, Max 13, 20, 39, 43–45, 254 Wenzeslaus von Sachsen, Clemens, Fürstbischof 135, 139 Xenophanes (Xenophan.) 56, 64–66, 69, 166 Xenophon (Xen.) 159, 161, 166–167, 170, 172, 175 Zaleukos von Lokroi 38, 62
2. ORTE Ägypten 8, 108, 224 Ansbach 131 Arkadien 63 Asia / Asien 37, 55, 108, 122, 183 Athen / Athener 19, 31, 33–37, 39–41, 43, 57–58, 63–65, 153–157, 161–164, 168, 171–175, 225 Augsburg 131–133, 135–139, 142, 144 Baden-Baden 8–9 Bessarabien 197, 201–202, 214 Bîc 201 Bobingen 132 Brazzaville 14 Brescia 135 Buturlinovka 203 Chios 58 Cillium 7
Coburg 131, 134 Dillingen a.d. Donau 131–132, 134–136 Dubai 9–10 Erythreisches Meer 7 Frankfurt 85, 88, 90, 93, 95, 98 Frankreich 35, 45, 137, 202, 211–212 Gallien 8 Griechenland / Grieche 8, 18–19, 22, 31–32, 35–40, 43–46, 51–56, 58–59, 61, 63, 66, 73–74, 109, 113, 115, 153–155, 157, 183, 185–186, 189–191, 224–230, 235, 245 Großbritannien / Brite 9, 44, 106 Gunzenhausen 131 Herrenchiemsee 130 Himera 225 Imperium Romanum 7–8, 19–20, 115 Indien 106, 122
261
Register Ionia / Ionier 37, 58–59, 65–66, 154 Kaluga 198, 200, 209 Kamanec-Podol'skij (Kamjanez-Podilskyj) 203 Kampanien 8 Kasserine 7 Kempten 137–138 Kišinev (Chișinău) 201 Kolophon / Kolophonier 65–67, 69, 166 Kongo 14 Korinth 39, 61, 225 Kreta / Kreter 23, 31, 87, 223–235 Kroton 35, 62 Lakonien 63, 170, 226 Lesbos 64, 70 Libyen 8 Lindau 128, 140–142, 144 Lisinskoe 203 London 9 Lydien / Lydier 58, 155 Magna Graecia 65 Mainz 144 Mannheim 136 Mantua 136 Megara 62 Merkendorf 131 Mogilev (Mohyliw-Podilskyj) 197 Moskau 199, 203, 206 Nancy 212 Neuschwanstein 130 Nürnberg 128–129, 140–141 Oberdorf 136–138
Osten / exotisch 8, 24, 45, 52, 55–58, 69, 105, 108, 109, 113–114, 121–122, 153, 169, 183, 200, 212, 224 panhellenisch 225–226 Peremyšl' 200–201 Perm 204 Persia / Perser 61, 155, 158, 170, 174, 225 Sankt Petersburg 197, 203–205, 209 Petrokovsk (Piotrków) 205 Polen 199, 205–208, 212 Rhodos 58 Rom / Römer 18, 35, 38, 45, 61, 103–109, 112–118, 122–123, 179–186, 188–190, 192–193, 244–245 Sachsen-Coburg 134–135 Samos 58, 64–65 Schretzheim 132 Schweinfurt 141, 145 Schwetzingen 136 Sizilien 156–157 Soroki (Soroca) 197 Spanien 8 Sparta / Spartaner 31, 33–36, 40, 42, 73, 154, 167, 172, 226, 228, 234–235 Stuttgart 136 Sybaris 35–36 Syrien 108 Trier 135 Tunesien 7 Ulm 144 Weimar 128 Worms 144 Würzburg 128, 140, 144 Zypern 58
3. BEGRIFFE UND DINGE Abstieg, sozialer 180, 209 > s. auch ‚Mobilität, soziale‘ abstinentia 183 Adel / adlig 9, 32, 38, 40–42, 44–46, 69, 84, 105, 114–115, 117–118, 121–122, 128, 131–132, 137, 140, 144, 198, 200–202, 206–207, 209, 214, 216, 244, 246, 248, 252 Akzeptanz 206, 227–228 amentia 181 anomia 165 Archaik / archaische Zeit 18–23, 32, 35, 37–39, 42, 44–46, 51–59, 61–75, 87, 171, 223–229, 245
archē 174–175 Aristokratie / aristokratisch 18–19, 31–32, 35, 40, 42, 45, 69, 73, 109, 155, 165, 167, 180–187, 190 Armband / Armreif 65, 142, 144 > s. auch ‚Schmuck‘ Armut / arm 35, 40, 43, 56, 64, 72, 87, 105, 121, 153, 159, 163–164, 166–167, 171–172, 180, 184, 200, 202–203, 206, 210, 212, 225–226 auctoritas 180 Aufstieg, sozialer 91, 141, 203, 205, 207–209, 244 > s. auch ‚Emporkömmling‘
262 Aufwand / aufwendig 8, 13, 17–18, 23, 73–74, 87, 106–107, 112–114, 118–119, 122, 153, 155–160, 162, 168–173, 175, 179–180, 186, 193, 197, 211, 213– 216, 224, 226, 229, 233, 242, 243, 247, 250 Aufwandsbeschränkung 21, 31–34, 37, 45–46, 53, 61–63, 105, 114, 118, 142, 172, 180–181, 186 > s. auch ‚Gesetz‘ Ausbeutung 23, 42, 174, 228 Ausgabe 7, 156, 158, 161–165, 168–169, 175, 180, 186, 208, 212, 246 Austerität, demonstrative 23, 87, 96, 211, 223–226, 229–230, 235, 254 > s. auch ‚Einfachheit‘ und ‚Frugalität‘ Automobile 24, 84, 90, 97 > Mercedes Benz 89, 92, 97–98 > Opel Kapitän 88, 92 > s. auch ‚Wagen‘ avaritia 181 Bäder 105, 112–113, 122–123 Bankett > s. ‚Gastmahl‘ Bauluxus 106, 110, 187 Bestechlichkeit / Korruption / Unbestechlichkeit 24, 81, 92, 160, 167, 174, 187, 198, 201, 208, 210, 215 Bürger / Bürgerin 7, 16, 31, 34–39, 42, 45–46, 51, 64–67, 115, 131, 142, 145, 153–158, 160, 162, 164–167, 171–172, 174–175, 181, 190, 212, 223, 228, 231–235 Bürgertum / bürgerlich 16, 38–39, 45, 51, 85–87, 90, 93–94, 141 chrēmata 165 > s. auch ‚Vermögen‘ Club 85, 157, 204 comissatio 188–190 continentia 119, 183 convivium 188–191 > s. auch ‚Gastmahl‘ crudelitas 181 cursus honorum 121–122 dapanē 156–159, 182 Decke 110, 158, 212 decor 180, 182 Dekadenz 36, 41, 61, 154, 182, 186, 202 Demokratie / demokratisch 11, 22, 31–37, 39–46, 52, 87, 153–157, 161–162, 164–165, 168, 172–175, 198, 246, 254
Register Demonstrativ 9, 15–19, 23, 31, 54–55, 67, 85, 87, 90, 96, 159, 161, 175, 179, 182, 200, 206, 211, 213, 229, 248 Despot / despotisch 153 Diener 41, 118, 132, 134–135, 137, 145, 201 Diffamierung 179–181, 183–185, 187–189, 191, 193, 197 dignitas 114–115, 117, 180–181, 187 Distinktion 17, 23, 53, 73, 86, 90, 114, 146, 180, 187, 200, 248, 250 domus aurea 110 Duftöle / Parfüm 8, 55–56, 65–68, 70, 95, 110, 112 Edelsteine 7, 12, 110, 122, 249 Ehre 7, 93, 120, 136–137, 142, 161, 168, 197, 234 Eigentum 42, 96, 232–233 Einfachheit / Schlichtheit / Vereinfachung 113, 153–156, 158, 174, 205, 215, 225 > s. auch ‚Austerität, demonstrative‘ und ‚Frugalität‘ Elite / elitär 7–8, 17–19, 23, 31, 33, 39–40, 52, 54–56, 64–65, 69–70, 73, 85–86, 88, 95, 97, 103–108, 113, 115–117, 119–123, 141, 171, 179–181, 185, 202, 214, 224, 226, 228–229, 231, 234, 244–245 Emporkömmling / Neureiche 44, 69, 84, 94, 106, 207 > s. auch ‚Aufstieg, sozialer‘ epitēdeumata 157 > s. auch ‚Sitte‘ Euergetismus / euergetisch 123, 167, 179 eunomia 165 Exklusivität / exklusiv 8, 14, 16–17, 19, 31, 84–87, 98, 135, 140–141, 229, 234 Feste 11, 36, 63–64, 67, 137 Feuerwerk 11, 137 fides 122 fortuna 7, 116, 118, 120–121 Frau / weiblich 14–15, 22, 32, 51–53, 57–59, 61–75, 84, 89–90, 92, 95, 105, 108, 111, 113, 143–144, 153, 155, 158, 160, 169, 171, 173, 189–190, 201, 205, 244 > s. auch ‚parthenoi‘ Freigelassene / libertus 23, 103–123 frugalitas 179 Frugalität / frugal 33–35, 40, 87, 183, 193, 223, 243 > s. auch ‚Austerität, demonstrative‘ und ‚Einfachheit‘
Register Gastmahl / Bankett 18, 103–104, 106–108, 110, 112, 114–115, 117–118, 122, 181, 185–191, 244–245 Geliebte 52, 85, 88, 90 Genuss 8, 10, 37, 40–41, 56, 157–158, 173, 179–180, 182–183, 189–190, 202, 244, 249 Geschenk 17, 85, 98, 115–116, 120, 168 Geschlecht 17, 21–23, 45, 51–54, 56–59, 61, 63–64, 66, 69, 72–75, 84–85, 158, 189, 243, 245, 248, 253 Geschmack 9, 11–12, 16, 84, 90, 94, 97, 103–104, 106, 113, 117, 182, 204 Gesetz 21, 31–32, 34, 36–39, 44–46, 61–63, 105, 114, 140, 145, 164–165, 169, 173, 180–181, 186–188, 230–233, 235, 241, 244, 246, 247, 251 > Lex Aemilia 186 > Lex Fannia cibaria 181, 186 > Lex Oppia 181 > Lex Orchia de censis 181, 186 > s. auch ‚Aufwandsbeschränkung‘ Gewand / Kleidung 7–9, 17–19, 24, 36, 40, 51, 56–59, 61–67, 69, 74, 90, 96, 106–109, 118, 123, 128, 140–142, 144–145, 153–156, 158–159, 166–175, 179–180, 187, 204, 207, 212, 229, 243, 246 > chiton 57–58, 64–66, 154 > himation 57, 154, 170–172 > Kostüm 82, 91 > Mantel 56, 58, 64–66, 89, 91, 107–110, 122, 155, 158, 171 > pallium 108 > Pelz 89, 140, 144, 210 > synthesis 109 Gleichheit / Ungleichheit 35, 38–40, 43–45, 86, 115, 154–155, 172, 174–175, 229, 231–234, 241, 243, 248 Gold / golden 9–10, 12, 56–57, 59, 62, 64–65, 71–72, 110, 112, 118, 122, 141–142, 144, 153–154, 202, 212, 243, 249 Gürtel 71, 109, 141–142, 247 Habitus 94, 104, 113, 169, 182, 200, 204, 207, 209, 214, 227, 229 habra / habrosynē 45, 55, 57, 66, 68, 154–155, 166 Haus / häuslich 41, 66, 68–69, 72, 92, 95, 110, 140, 156, 167–168, 171, 191, 200–202, 206, 208–209, 251–252
263 Haushalt 11, 127, 134–136, 160, 170, 175, 251–253 > s. auch ‚oikos‘ Hausnotdurft 250–253 Hellenismus / hellenistisch 43, 52–53, 56, 59, 61–62, 108–109, 113, 169, 171, 225–226 Herrschaft 17, 39, 42–44, 52, 62, 105, 109, 131, 153, 166, 169, 174, 180, 192, 198, 204, 213–215, 244, 247–248, 250–253 Hetairie 233–235 Hetäre 40, 62, 70, 74, 84–85, 94, 190 Hierarchie / hierarchisch 15–16, 18, 21, 54, 105, 115, 134, 211, 227, 234 Hof 51, 84, 116, 127–129, 131–132, 134–141, 145, 244 homo novus 185, 187, 244 Homogenisierung, ethische 23, 228–229, 233–235 honos 120–122, 180 Imperium / imperial 8, 23, 174, 198–199, 201–206, 212–214, 216, 242 industria 191 inertia 191 insignia 114–115, 121 Institution 16, 19, 66–67, 207, 227–233, 235, 241, 244 Institutionalisierung 23, 223, 226, 229, 235 Investition 12, 23, 98, 163, 165–167, 175, 179, 214, 227, 235 Jagd / Jagdtiere 8, 18, 202 Juwel > s. ‚Schmuck‘ Kaiserzeit 8, 12, 17, 29, 20, 22–23, 62, 104–105, 119, 169, 180–181, 192 Kapital > kulturelles Kapital 98, 200 > ökonomisches Kapital 11–12, 145, 163, 200 > soziales Kapital 200 > symbolisches Kapital 19 Kapitalismus 12–14, 20, 51–52, 83–84, 87 Karriere 13, 23, 132, 198, 204–209, 212, 214–216, 242–243 Kartell(bildung) 23, 33, 233, 226–229, 235 Keramik 8, 19, 225–226 Kette 71, 141–142, 144 > s. auch ‚Schmuck‘ Klasse / Klassenkampf 9, 15, 37, 40, 43, 45, 96, 104, 113, 208 Klassik / klassische Zeit 44, 52–53, 56–57, 59, 62–63, 75, 155, 157, 162, 168, 171, 175, 223, 225, 228–230
264 Kleidung > s. ‚Gewand‘ Konkurrenz 17, 23, 33, 116, 119, 123, 136, 155, 162, 180, 185–186, 192, 224, 226–227 Konsum 9–24, 31, 33, 40–43, 52–55, 64, 66–70, 72–73, 75, 82–83, 85–88, 90, 95, 97, 103–107, 112–114, 116–117, 122–123, 132, 140, 142, 144–145, 153–157, 159, 161–162, 166, 169, 173, 175, 179–180, 182–187, 189–193, 199–200, 206, 213, 216, 242, 244–246, 248–249 > stellvertretender Konsum 15, 90 > (Massen)konsumgesellschaft 11, 13, 21, 82, 87, 94–95 Kooperation 23, 138, 226–227, 229–230, 235 Korruption / korrupt > s. ‚Bestechlichkeit‘ Kosmetik 190 Kostbarkeit / kostbar 7, 17, 40, 56, 59, 65, 67, 105, 121, 141–142, 153, 158, 249 Kranz 51, 66–67, 71, 110, 112, 188 Kurtisane / Mätresse 14–15, 22, 51–52, 82, 84–85, 92–94, 249 Lebensführung / Lebensstil 13, 33, 38, 40–41, 52, 55, 61, 69, 87, 95–97, 113, 116–117, 141, 145, 157, 166, 169, 181, 198, 200, 210, 213, 223–224, 227–229, 235, 244 Leisure class 15, 18–19, 54–55, 90, 155 Leitourgie / Choregie 161–162, 168 libertus / libertinus > s. ‚Freigelassene‘ libido 181, 190 Lust 82, 95, 97, 137, 213, 251–252 luxuria / luxuries / luxus 7, 117, 179–187, 189–190, 192 > luxuria peregrina 183 > luxuria privata 179–180, 182 Luxusgut 7–8, 16, 51–54, 56, 66, 68–69, 71, 73–75, 84–85, 105, 122, 128, 140, 146, 172, 175, 182, 190, 224, 249 Luxuskörper 22, 82, 89–90 Luxuskritik 21, 32, 34–36, 42, 53, 61, 68–69, 74, 113, 123, 132, 185, 188, 192–193, 199, 245, 254 Macht / mächtig 8, 17–18, 20, 31–32, 35, 38, 42, 44, 46, 74, 88, 90, 109, 113–114, 116, 119–121, 123, 132, 140–141, 154, 159, 166, 170, 173–174, 187, 216, 227, 231–233, 241–242, 244–247, 250, 253–254 > s. auch ‚Mindermächtig‘
Register magnificentia 118–119, 179 > publica magnificentia 179 Mann / männlich 14–15, 52–53, 56–58, 61, 63–66, 68–69, 71–75, 82, 84–85, 89–90, 92, 97, 104, 108, 112–113, 116–118, 144–145, 153, 155, 159, 166, 169–170, 172–173, 182, 189–190, 203, 205, 207, 231, 233–235, 243 Marxismus 45 Masse 11, 13, 39–40, 42–46, 208 Massenmedien 16 Mindermächtig 23, 127, 145, 244, 246 Mittelstandsgesellschaft 22, 81–82, 85–86 Mobilität, soziale 203, 207, 213, 228, 232–233 Mode 52, 58, 65, 128, 130, 140, 156, 186 moderatio 120–121, 193 modestia 121, 183, 189, 193 Monarch / Monarchie / monarchisch 84, 109, 122, 180, 192, 198 mos maiorum 122, 183, 193 Musik / musikalisch 18, 56–57, 96, 107, 135–137 Müßiggang 19, 54, 90, 159, 173 negotium 190–191 Neid 39–41, 161, 210 Neureiche > s. ‚Emporkömmling‘ nobilitas 180 Nobilität 18, 183, 185 Nobilitierung 207 Oberschicht 13, 18–19, 55, 104, 131, 140, 214 Ohrringe 57–59, 74 > s. auch ‚Schmuck‘ oikos 67–69, 73–74, 162, 175 > s. auch ‚Haushalt‘ Oligarchie 11, 31–34, 36, 42, 52, 140, 142, 145, 156, 175 Parfüm > s. ‚Duftöle‘ parthenoi 64, 67, 70, 73 parvenu > s. ‚Emporkömmling‘ Patriziat / Patrizier 40, 95, 128, 131, 140–142, 144–145 peritia 180 Perle 24, 112, 142, 144 Perserkriege 52, 58, 69, 153, 225 Pferd 18, 41, 68–70, 74, 157, 159, 161–162, 197, 202, 210 > Pferderennen / Pferdesport 24, 88, 90, 175 philotimia 168 Phyle 37, 233–234
Register polis tryphōsa 173 > s. auch ‚tryphē‘ Politik / politisch 8, 10, 16–18, 21, 23, 31–32, 35–36, 40, 42–44, 75, 83, 88–89, 91, 105–107, 113–114, 116, 119–121, 127, 140, 145, 153–157, 159–167, 172–176, 179–182, 186–189, 191–192, 198, 202, 206, 214–215, 223–235, 244–246, 248–249, 253 polyteleia 156, 159–160, 172 Pracht / prächtig 7, 19, 36, 40, 57–58, 65, 68, 93, 118–119, 142, 145, 153, 155, 159, 161, 166, 169, 173, 179, 182, 197, 223–224, 226, 243–244, 247 Prahlerei 164, 168, 173, 175, 179, 213 Prestige 14, 16, 19, 21, 23, 86, 105, 114, 121, 146, 158, 163, 171, 180, 182, 184, 224, 227, 243 princeps 109, 113, 123 Prostitution / Prostituierte 22, 81–83, 85, 88, 90–96, 98 Protz 33, 156, 175, 180, 241, 246 Prunk 33, 55, 57, 163, 170, 173, 175, 179–180, 229, 241 Purpur 17, 51, 56, 65, 108–110, 113, 122, 153, 166, 169, 173 Rang 17–18, 41, 83, 88, 114, 116–119, 141, 146, 164, 179, 206–208, 215, 243 Reichtum / reich 7–8, 16, 18–19, 33, 43, 83, 87–88, 90, 105, 113, 115–116, 119–121, 140, 153, 155–156, 158, 162–164, 166, 170–172, 174–175, 180, 182, 200–201, 203, 216, 226–227, 233, 242, 246, 248 Repräsentation 68, 106–110, 113–114, 119, 122–123, 127, 136, 138, 145, 154, 215, 242 res publica 118, 179, 184, 191–192 Republik / republikanisch 8, 17–18, 31, 34, 104–105, 109, 179–181, 183–186, 188, 190, 192–193, 244 > Bundesrepublik 81–83, 85–92, 94–95, 97–98, 243 Ressourcen 8, 17, 69, 132, 136, 138, 155, 171, 176, 185, 192, 201, 203, 208–209, 216, 227, 232–233, 242, 244, 249 Ritter 40, 104, 115, 118–120, 123, 141 roskoš' 199, 201–202, 206, 212 Salböl 51, 56, 66, 72, 74, 112, 249 Samt 144 Sapeurs 14 Schlichtheit > s. ‚Einfachheit‘
265 Schloss 127, 130–131, 144, 252 Schmuck / Juwel 10, 24, 56–59, 62, 65, 68, 71, 74, 82, 89, 122, 140, 144, 180, 190, 247, 249 Schuhe 62, 70, 74, 109, 170 > Stiefel 57, 212 Seide / seiden 18, 105, 109, 118, 121–122, 141–142, 144, 249 Senator / senatorisch 17–18, 96, 104–105, 111, 114–115, 118–120, 123, 180–182, 245 Sichtbarkeit / sichtbar 8, 18, 114, 141, 168, 207, 225–226 Silber 112, 114, 118, 131, 141–142, 144 Sitte 37, 56–58, 81, 104, 108–109, 112–113, 157, 180, 184, 188–189, 200 > s. auch ‚Lebensführung / Lebensstil‘ Sklave 11–12, 38, 41, 106–109, 112, 115–116, 120–122, 170, 190, 232, 249 Sonnenschirme 57 Sparsamkeit / sparsam 15, 86, 88, 112–113, 160, 175, 198, 211 Speise 9–10, 17, 56, 110–112, 119, 122–123, 128, 131, 134, 167, 186, 188–191, 243, 247 > s. auch ‚Tafel‘ Status 8, 13, 17–19, 33, 54, 69, 104–107, 113–115, 117, 120–123, 157–159, 161, 164, 168, 172, 175, 180–182, 184, 187, 191–193, 206, 211, 213, 216, 224, 227–229, 231, 235 > Statussymbol 16–17, 68, 73–74, 106, 140–141 Stirnband 56–57 Symposion 18–19, 40, 54, 57, 65–68, 156, 189–190, 229 Tafel 110, 134–137, 186, 188 > s. auch ‚Speise‘ temperantia 193 Theater 119, 135–137, 174, 244 Toga 108–109, 113 tryphē 185 > s. auch ‚polis tryphōsa‘ Tyrann / Tyrannis / tyrannisch 41, 45, 61–62, 73, 105, 153–157, 160, 166, 168–169, 174–175 Überfluss 10, 13, 15, 72, 86, 130, 142, 158, 161, 173, 179, 246, 253 veličavost' 202 Vermögen 7, 105–106, 114, 116–122, 157–165, 167–170, 172–173, 175, 180–181, 184, 186, 192–193, 232
266 Verordnung 62, 128, 145, 247, 251 Verschuldung / Schulden 184, 191–192, 209, 231–232 Verschwendung / verschwenderisch 7, 12, 18, 46, 61, 112, 123, 156, 158–161, 167, 169, 175, 179, 181, 183–184, 186, 192, 215, 246 Verweiblichung 22, 153 Verweichlichung 34, 105, 183 vinulentia 191 virtus 180 Votivgaben 17, 224–225, 229 Wagen / Trasport 56–59, 89, 92, 95, 161, 181, 197 > s. auch ‚Automobile‘ Wein 8, 56–57, 110, 188–191, 201, 210, 226, 244 Wert / wertvoll 12, 17–18, 24, 54, 73, 85–86, 89, 92, 97–98, 105, 112, 122, 141, 144, 153, 158, 169–173, 180, 183, 185, 193, 199, 200, 214, 244, 249, 252 Wettbewerb 7, 23, 64, 70, 73, 138, 227, 229 Wohlstand 66, 81, 85–86, 94, 96, 115–116, 163, 168, 174, 180, 200, 202, 208 Wohnung 40, 90, 95, 203, 210–211, 252 Würfelspiel 184, 189
Register
So eindeutig eine alltagsweltliche Definition von Luxus zu sein scheint, so komplex wird es, wenn man sich dem schillernden Phänomen wissenschaftlich nähern möchte: Welche Objekte und Praktiken gelten als Luxus? Wer kann bestimmen, was luxuriös ist, und was folgt aus einer derartigen Festlegung? Wo liegt der Unterschied zwischen Luxus und Protz? Besteht ein Zusammenhang zwischen Luxuskonsum und Regierungsformen? Noch komplexer wird der Fragehorizont, wenn es nicht um eine synchrone Betrachtung von Luxus geht, sondern der diachrone Vergleich ins Zentrum der Betrachtung gerückt
ISBN 978-3-515-13259-6
9 783515 132596
wird. Was einst dem Luxus zugeschlagen wurde, kann heute zum Alltag einer wachsenden Bevölkerungszahl gehören. Die Autorinnen und Autoren befassen sich mit diesen Fragen in epochenübergreifender Perspektive. Ausgehend von den grundlegenden Luxustheorien (Sombart, Veblen) entwickeln sie jeweils an konkreten empirischen Fallbeispielen Thesen darüber, welche Rolle Luxus für die von ihnen betrachtete Gesellschaft hatte. Zusammengenommen ergibt sich so eine empirisch dichte Probebohrung über die Potentiale einer historischen Luxusforschung quer durch die Epochen von der Antike bis zur Neuzeit.
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