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German Pages 485 [476] Year 2013
Iulia-Karin Patrut • Herbert Uerlings (Hg.)
Inklusion/Exklusion und Kultur Theoretische Perspektiven und Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart
2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Die Publikation ist im Sonderforschungsbereich 600 „Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart“, Trier entstanden. Der Band wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Ausschnitt: „Das große Orchester“ (1942) von Raoul Dufy © VG Bild-Kunst, Bonn 2013.
© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Frank Schneider Satz: Patrick Mai und Evelyn Lehmann Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22161-4
Inhalt
Herbert Uerlings /Iulia-Karin Patrut Inklusion / Exklusion und die Analyse der Kultur . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Geschichte 1.1 Antike Jörg Erdtmann Eine Frage der Ehre oder der Abstammung? Inklusion und Exklusion Fremder von Homer bis Perikles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Mark Beck Inklusions- und Exklusionsaspekte in griechischen Poleis . . . . . . . .
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Katrin Engfer Armut und Ungleichheit in der römischen Antike. Inklusions- und Exklusionsmechanismen in Fürsorge und Wohltätigkeit . . . . . . . . . .
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1.2 Mittelalter und Frühe Neuzeit Sebastian Schmidt Inklusion/Exklusion. Neue Perspektiven für die historische Armutsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Katrin Dort Schließung, Ungleichheit, Devianz. Inklusions-/Exklusionsregime in der Fürsorge im frühen und hohen Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . .
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Christoph Cluse Konversion, Inklusion, Exklusion. Zur narrativen Identität des ›Taufjuden‹ in Spätmittelalter und Früher Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Torben Stretz Juden auf dem Lande zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Das Außen in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Simon Karstens Eine Alternative zu Integrationsmodellen? Überlegungen zu Herrschaftswechseln in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Südlichen Niederlande 1716–1725 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.3 Neuere und Neueste Geschichte Lutz Raphael Inklusion/ Exklusion – ein Konzept und seine Gebrauchsweisen in der Neueren und Neuesten Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jens Gründler Exklusion/Inklusion oder ›totale Institution‹? Psychiatrie um 1900
257
Katharina Brandes Inklusion und Exklusion am Beispiel der Fremdplatzierung in der Kinder- und Jugendfürsorge zu Beginn des 20. Jahrhunderts . . . .
277
Susanne Hahn Inklusion und Exklusion in sozialräumlicher Perspektive: Raumordnungspolitik als Instrument sozialer Ein- und Ausgrenzung in ländlichen Gebieten der frühen BRD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
297
2. Politikwissenschaft Winfried Thaa / Markus Linden Inklusion/Exklusion als sozial- und politikwissenschaftliches Analyseinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christiane Bausch Eine Inklusionsmaßnahme und ihre Exklusionseffekte: Die politische Repräsentation von Migranten in Ausländer- und Integrations(bei)räten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
341
Timo Frankenhauser/ Simon Stratmann Armutspolitische Konvergenz und Divergenz im Parteienwettbewerb. Inklusion und Exklusion im Bundestagswahlkampf 2009 . . . . . . . .
357
Isabelle Borucki Inklusion und Exklusion im städtischen Raum. Das Bund-LänderProgramm »Soziale Stadt« in Trier und Jena . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
3. Ethnologie Anett Schmitz Multiple Inklusionen von ›Russlanddeutschen‹: Transmigration als Karriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Literaturwissenschaft Nike Thurn Inklusion und Exklusion als Bausteine einer literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Iulia-Karin Patrut/Dominik Zink Kafka beobachtet Buber. Beim Bau der chinesischen Mauer und die Paradoxien religiöser Selbstbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Herbert Uerlings Erinnerndes Vergessen. Zur Memoria des Porrajmos
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inklusion / Exklusion und die Analyse der Kultur Herbert Uerlings und Iulia-Karin Patrut*
Die Frage nach Ausschluss und Zugehörigkeit von Einzelnen und Gruppen ist auf die Agenda der Politik sowie der Gesellschafts- und Kulturwissenschaften zurückgekehrt, und das in einem bis vor kurzem kaum für möglich gehaltenen Ausmaß. Die aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrisen haben dabei nur verstärkt, was als Effekt von neoliberaler Deregulierung und ökonomischer Globalisierung bereits vor der Jahrtausendwende begonnen hatte: eine Debatte über den zunehmenden Ausschluss von ›Schwachen‹, zuvörderst der Fremden und Armen, im nationalen wie internationalen Rahmen. In der wissenschaftlichen Diskussion werden diese Fragen unter der Überschrift ›Inklusion/Exklusion‹ thematisiert und damit in einen weiteren Horizont gestellt, in dem zunächst der analytische Wert des Begriffspaars im Vordergrund steht. In dieser Hinsicht handelt es sich bei der Exklusion von Einzelnen oder Gruppen aus sozialen, ökonomischen, politischen oder religiösen Zusammenhängen um einen elementaren Eingriff in die sozialen Lebenschancen der Betroffenen. Zugleich ist der Ausschluss ein zentrales Element beim Aufbau sozialer Ordnung. Exklusion gibt es jedoch nicht ohne ihr Gegenteil, die Inklusion, d. h. die explizite Einbeziehung Einzelner oder von Gruppen.1 Das Gleiche gilt umgekehrt: Inklusion ist nicht denkbar ohne Exklusion. Das Verhältnis dieser beiden Elementaroperationen zueinander ist ganz wichtig und hat für Gesellschaften weitreichende Folgen. Die Entscheidung über die Teilhabechancen und Zugehörigkeit prägt ganz wesentlich die jeweilige Politik, Religion und Gesellschaftsstruktur und damit die ›Kultur‹ i.S. des Zusammenspiels von Semantiken und Sozialstruktur. Das gilt auch für großräumigere Unterscheidungen: Während in vormodernen Gesellschaften von einem Exklusionsbereich außerhalb der Gesellschaft gesprochen werden kann, dominieren seit der Frühen Neuzeit einschließende Ausschlüsse in Form von Anstalten wie Arbeitshaus, Gefängnis oder Psychiatrie. Für moderne Demokratien wiederum ist ein generelles Inklusionsversprechen konstitutiv, das in Form von allgemeinem Wahlrecht und politischen Garantien für die Menschen- und Bürgerrechte abgegeben wird. Exklusion ergibt sich in diesem Fall daraus, dass diese * Unter Mitarbeit von Dominik Zink. 1 Im Extremfall der Totalexklusion erfolgt eine Inklusion freilich nur für diejenigen, die exkludieren.
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generell formulierten bzw. rechtlich und politisch abgesicherten Inklusionen für mehr oder weniger große Gruppen faktisch nicht realisiert werden können. Eine der erfolgreichsten Leitformeln der Inklusionssemantik wiederum, die ›Nation‹, entwickelt ihren exkludierenden Charakter sowohl nach innen wie nach außen, genauer gesagt gegen Angehörige anderer Nationen wie gegen jene inneren ›Fremden‹, die vorgeblich keiner Nation angehören und etwas ihrem Begriff Widersprechendes darstellen wie Juden und ›Zigeuner‹. Aktualität und Brisanz, aber auch die analytische Brauchbarkeit und Tragfähigkeit des Begriffs haben dafür gesorgt, dass ›Exklusion‹ heute in verschiedenen Gesellschafts- und Kulturwissenschaften als Oberbegriff gebraucht wird und zusammenfassend ganz unterschiedliche Erscheinungsformen und Bereiche von Ausschlüssen in Geschichte und Gegenwart über die Grenzen von Zivilisationen und Kulturen hinweg bezeichnet. Der Begriff der Exklusion (und mit ihm sein Gegenpart, die ›Inklusion‹) ist dabei intensiv diskutiert und auf seine möglichen ›Fallstricke‹ hin untersucht worden, es gab und gibt sowohl Modifikationen in der Sache wie terminologische Korrekturvorschläge,2 und es wurden Konzepte entwickelt, um das intrikate Verhältnis von Inklusion und Exklusion genauer zu beschreiben, das Zugleich beider Operationen, ihren prozesshaften und graduellen Charakter und ihre wechselnden Modi. Zentrale Fragen richteten sich darüber hinaus auf die Akteursperspektive: Welche Rolle spielt die Lebenslaufperspektive mit ihren typischen Phasen und Brüchen? Welches Gewicht kommt den Selbstdeutungen zu, wer verfügt wann über welche Handlungsspielräume? Wie verhalten sich Selbstexklusionen zu Inklusion/Exklusion? Gibt es signifikante Unterschiede in der lebensweltlichen Reich2 Zur Ungleichheitsforschung, die die sozialpolitische Dimension der Exklusion betont, vgl. zuletzt u. a. Bude, Heinz / Willisch, Andreas (Hg.): Exklusion. Die Debatte über die ›Überflüssigen‹. Frankfurt a. M. 2008; Castel, Robert / Dörre, Claus (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2009; Kronauer, Martin: Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt a. M. / New York 2010. Zu den wichtigsten systemtheoretischen Arbeiten zu Inklusion / Exklusion gehören Luhmann, Niklas: Inklusion und Exklusion. In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 6. Frankfurt a. M. 1995, S. 226–251; Stichweh, Rudolf: Inklusion / Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2005; sowie die Arbeiten von Alois Hahn und Cornelia Bohn (vgl. die folgende Anm.). Das analytische Potential des von Luhmann in die Diskussion eingeführten Begriffspaars auch für nicht-systemtheoretisch verfahrende Untersuchungen hat zuletzt u. a. Peter Weibel betont; vgl. Weibel, Peter: Vorwort zur 2. Auflage. In: Ders. / Zˇizˇek, Slavoy: Inklusion: Exklusion. Probleme des Postkolonialismus und der globalen Migration. Wien 2010, S. 11–13.
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weite und der sozialen Kompaktheit von Zugehörigkeit/Ausschluss? Wie ist das Verhältnis zwischen politischen und symbolischen (sprachlichen, textlichen, visuellen) Repräsentationen bzw. Repräsentationspraktiken einerseits und sozialen Praktiken sowie institutionellen Arrangements von Inklusion / Exklusion andererseits? Wie verhalten sich In- und Exklusionen in unterschiedlichen Funktionssystemen oder Funktionsbereichen wie Recht, Politik, Ökonomie oder Bildung zueinander? Gibt es ein Ausbalancieren von Exklusionen durch Inklusionen? Wann und warum ändern sich Modi der Inklusion /Exklusion? Inwiefern eilen bestimmte Muster der gesellschaftlichen Entwicklung voraus, inwiefern behindern sie diese?3 Grosso modo wird man sagen dürfen, dass sich diese Diskussion zwischen stärker ungleichheitstheoretischen und eher systemtheoretisch informierten Positionen abgespielt hat und dass es auf beiden Seiten zu Revisionen und Modifikationen der jeweiligen Theorie gekommen ist, naturgemäß ohne dass diese zur Deckung gekommen wären. In einem Punkt aber, der für den vorliegenden Band zentral ist, ließe sich vielleicht doch eine Übereinkunft erzielen: Man hat der Systemtheorie vorgehalten, sie habe das Exklusionsproblem unabhängig von der »historischen Konstellation, in dem es auftritt und diskutiert wird«,4 zu definieren versucht. Das ist nicht der Fall. Luhmanns Theorie der Inklusion/Exklusion ist durchaus eine genuin historische, denn sie denkt den Ein- und Ausschluss von Individuen bzw. Personen stets in Relation mit der historischen Evolution gesellschaftlicher Systeme, und dies von der Antike bis zur Gegenwart. Daran schließt der vorliegende Band an. Denn die bei Luhmann in einer Perspektive langer 3 Diese und weitere Fragen sind im SFB 600 umfassend bearbeitet worden; vgl. dazu insbesondere die Schriftenreihe Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart (Frankfurt a. M. [u. a.], 18 Bde.). Im Umfeld des SFB 600 sind außerdem zahlreiche Arbeiten von Alois Hahn und Cornelia Bohn entstanden, die sich u. a. mit der Anschlussfähigkeit systemtheoretischer an kulturwissenschaftlicher Forschung sowie dem Verhältnis von Ungleichheitstheorien und Systemtheorie befassen. Vgl. Hahn, Alois: Inklusion und Exklusion. Zu Formen sozialer Grenzziehungen. In: Geisen, Thomas (Hg.): Grenze: Sozial – Politisch – Kulturell. Ambivalenzen in den Prozessen der Entstehung und Veränderung von Grenzen. Frankfurt a.M. 2003, S. 21– 45; Hahn, Alois: Exklusion und die Konstruktion personaler Identitäten. In: Raphael, Lutz / Uerlings, Herbert (Hg.): Zwischen Ausschluss und Solidarität (Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 6). Frankfurt a. M. 2008, S. 65–96; sowie Bohn, Cornelia / Hahn, Alois (Hg.): Prozesse von Inklusion und Exklusion: Identität und Ausgrenzung. Trient 2006; Bohn, Cornelia: Inklusion, Exklusion und die Person. Konstanz 2006. An diese und weitere Arbeiten der Genannten wird im Folgenden vielfach angeschlossen. 4 Kronauer, Exklusion (wie Anm. 2), S. 124.
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Dauer gedachte systematische Unterscheidung zwischen gesellschaftlicher Differenzierung/Integration einerseits und Inklusion/Exklusion von Personen andererseits ermöglicht es, so die Ausgangshypothese des vorliegenden Bandes, jene vielschichtigen Prozesse in den Blick zu bekommen, die Ein- und Ausschlüsse hervorbringen und damit Kultur ausmachen. Die Untersuchungen im vorliegenden Band zielen also auf eine Profilierung von Inklusion/Exklusion als kulturwissenschaftlicher Analysekategorie in diskurshistorischer Hinsicht, bezogen auf historisch-gesellschaftliche Strukturen und Prozesse wie auf künstlerische Repräsentationen. Das Exklusionsregime prägt in allen Gesellschaften die ihnen zugrunde liegenden Strukturen und Semantiken; am Inklusionsregime zeigen sich die Regeln gesellschaftlicher Normalisierung. Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes ist die Frage nach dem Wandel der Modi der Inklusion/Exklusion in ihrer Korrelation mit gesellschaftlichen Ordnungsmustern, wobei insbesondere nach der Bedeutung des Umgangs mit Fremden und Armen für die Evolution gesellschaftlicher Differenzierungsformen gefragt wird. Dazu liegen Befunde aus geschichts-, politik- und literaturwissenschaftlicher sowie aus ethnologischer Sicht vor, die sich jeweils auch als fachspezifische Adaptionen von Inklusion/Exklusion als kulturwissenschaftlicher Analysekategorie verstehen. Das Spektrum der Beiträge reicht von der Antike bis zur Gegenwart, die Bandbreite der Quellen von der Selbstrepräsentation von Fremdenvereinen in antiken Poleis des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. über armutspolitische Zeugnisse aus Mittelalter und Früher Neuzeit bis hin zu den bundesrepublikanischen Raumordnungsberichten der 1960er Jahre zur Bekämpfung ländlicher Armut und zu Interviews mit russlanddeutschen Migranten im gegenwärtigen Deutschland. Hinzu kommen literarische Texte, die Selbst- und Fremdrepräsentationen sogenannter interner Fremder – Juden und Roma – enthalten oder thematisieren. 1. Inklusion/Exklusion und gesellschaftliche Differenzierung Im historischen Längsschnitt erweist sich das Analysepotential von Inklusion/Exklusion besonders daran, dass beobachtbar wird, wie der Wandel der Modi von Inklusion/Exklusion von Fremden und Armen mit dem Wandel gesellschaftlicher Differenzierungen und mit Modifikationen gesellschaftlicher Leitsemantiken sowie Ordnungsmuster zusammenhängt. Auf der Makroebene gesellschaftlicher Differenzierungsmodi lässt sich etwa beobachten, dass erst in stratifizierten Gesellschaften und im Zuge der Benutzung von Schrift ein eigentlicher Austausch über Semantiken beginnt. Erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts setzt eine Reflexion des historischen Charakters – und damit
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der Kontingenz – semantischer Traditionen in nennenswertem Maße ein. So kommt eine zweite Ebene semantischer Evolution auf: Während die funktionalistische Wissensproduktion der Gesellschaft über sich selbst in erster Linie beliebige Variationen von Beobachtungen/Formen verhindert, die operative Geschlossenheit von Systemen aufrechterhält, aber auch systeminterne Evolution ermöglicht (dies alles wenn nötig auch unter Ausblendung der Unterscheidung wahr/falsch), entsteht mit der Wissensproduktion über die geschichtliche Variabilität aller Formen die Möglichkeit der auf Selektionskriterien der Funktionssysteme gerichteten Beobachtung zweiter Ordnung. Soziologisch relevante gesellschaftliche Veränderungen (nicht als universalhistorischer Prozess, sondern als beobachtbare »Strukturänderung[en]« gedacht), erfolgen laut Luhmann als »Evolution, wenn sie durch eine Differenzierung von Mechanismen der Variation, der Selektion und Stabilisierung ermöglicht«5 werden. Für soziokulturelle Evolutionen bedeutet dies, dass Strukturen solange tragfähig sind, wie sie die »Sinnhaftigkeit von Erleben und Handeln«6 garantieren. Anderenfalls werden sie im Zuge des »normalen Aufbauens und Zerstörens von Systemstrukturen«7 durch neue Formen – bis hin zu neuen Systemtypen – ersetzt, die in der Lage sind, ein höheres Maß an eigener und Umwelt-Komplexität zu prozessieren. Veränderungen der sozialen Semantiken stehen häufig in Korrelation mit Veränderungen der Komplexitätsgrade (also den Selektionen, die ein System vornehmen muss, um eigene Elemente zu verknüpfen) und Differenzierungsformen: Die Entwicklung der Bewußtseinslage einer Gesellschaft folgt deshalb der Entwicklung von gesellschaftlichen Strukturen [. . .] nicht im Sinne einer Widerspiegelung von Tatsachen in der Erkenntnis, sondern im Sinne der Anpassung mentaler Reduktionen und Bündelungen [. . .] an Veränderungen der Selektivität im Relationieren der Elemente.8
Diese unterschiedlichen Modi, Komplexität zu erzeugen, hängen laut Luhmann mit drei vorherrschenden gesellschaftlichen Differenzierungsformen zusammen: der segmentären, der stratifikatorischen und der funktional differenzierten. Je nach primärer Differenzierung gibt es »mehr oder weniger Anlaß zu verschiedenartigem Handeln« und die Handlungszusammenhänge erscheinen »für den Handelnden mehr oder weniger selektiv, mehr oder weniger kontingent«; dies korreliert mit der bewussten Sinnbildung und 5 Luhmann, Niklas: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1980, S. 9–71, hier S. 41. 6 Luhmann, Gesellschaftliche Struktur (wie Anm. 5), S. 42. 7 Luhmann, Gesellschaftliche Struktur (wie Anm. 5), S. 42. 8 Luhmann, Gesellschaftliche Struktur (wie Anm. 5), S. 24.
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dem Aufbau von Semantiken, die »Sinnerfahrung speicher[n], ordne[n] und zugänglich«9 machen. In der Inklusion/Exklusion von Personen zeigt sich diese Verschränkung von Ereignissen des Handelns und Erlebens mit verfügbaren SinnFormen – also aktualisierbaren »gepflegte[n] Semantiken«10 – besonders deutlich.11 Luhmann hat eine historische Typologie der Inklusion/Exklusion – also des Modus der Interpenetration von Individuen als psychischen Systemen mit sozialen Systemen – skizziert, die sich an der primären Differenzierung der Kommunikation orientiert. Inklusion wird dabei definiert als »Chance der sozialen Berücksichtigung von Personen«12 (im Sinne von Identitätsmarkern), die sich nach differenzierungsspezifischen Regeln vollziehe, während Exklusion als Außenseite der Form unmarkiert bliebe und nicht integrierbare Personen die Bedingungen für soziale Kohäsion vergegenwärtigten. Der Exklusionsbereich trage damit »den Sinn und die Begründung der Form sozialer Ordnung«.13 Im Falle segmentärer Gesellschaften ist Exklusion ausgeschlossen, solange Einzelne nicht aus den Segmenten, denen sie qua Geburt angehören, verstoßen werden; semantisch stabilisieren sich die Segmente als Systeme ausgehend von der Evidenz, dass es im Exklusionsbereich kaum eine Möglichkeit des Überlebens gibt. Sobald Strata zu den wichtigsten Systemen werden, pluralisieren sich die Regeln der Inklusion/Exklusion und werden innergesellschaftlich reformuliert, indem sichtbare, große Gruppen von Bettlern und Vaganten das Außen der Gesellschaft im Innen repräsentieren. Unter anderem konnten religiöse Ächtungssemantiken (etwa durch die Etikettierung von Häretikern als Wahnsinnige und Infame) sowie die Exkommunikation zur weltlichen Exklusion führen; Armut zählte daneben zu den wichtigsten Exklusionsrisiken. Inklusion wurde dagegen weiterhin segmentär über Familien geregelt, die allerdings nur noch als Indikatoren der Schichtzugehörigkeit galten. Sobald die Systeme primär nach Funktionen differenziert sind, kehren sich die Regeln der Inklusion/Exklusion insofern um, als keine Zugehörig9 Luhmann, Gesellschaftliche Struktur (wie Anm. 5), S. 22. 10 Luhmann, Gesellschaftliche Struktur (wie Anm. 5), S. 20. Dieser luhmannsche Terminus ist im Anschluss an Reinhart Kosellecks ›historisch-politische Semantik‹ zu verstehen. Vgl. Koselleck, Reinhart (Hg.): Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Stuttgart 1978. 11 Vgl. dazu ausführlich Bohn, Inklusion (wie Anm. 3). 12 Vgl. das Kapitel »Inklusion und Exklusion« in Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1998, S. 618– 634, hier S. 620. 13 Luhmann, Inklusion (GdG) (wie Anm. 12), S. 621.
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keit qua Geburt mehr gegeben ist, sondern ein ›Exklusionsindividuum‹ vorliegt, das grundsätzlich seine Kommunikationen in alle Funktionssysteme einbringen kann (die Exklusion ist stets zeitlich begrenzt und gilt immer nur für ein einzelnes System). Im Gegenzug dazu bildet sich ebenfalls an der Schwelle zur Neuzeit im Gefolge des Menschenrechtsgedankens eine generalisierte Inklusionssemantik heraus, die dazu führt, dass es keine normativen Semantiken mehr gibt, die gesamtgesellschaftlich als Exklusionsgründe Anerkennung finden. Damit, so Luhmann, werde »das Problem der Exklusion aber eher verdeckt als gelöst«,14 erstens weil die Exklusionsprobleme, die aus der Codeanwendung der Teilsysteme resultieren, von keiner Zentralinstanz kontrolliert oder beeinflusst werden können, und zweitens weil offenkundig doch Kopplungen und Integrationseffekte – also »Einschränkung der Freiheitsgrade für Selektionen«15 – im Exklusionsbereich vorhanden sind. Im vorliegenden Band wird einerseits im Anschluss an Luhmann nach der Bedeutung von Inklusion/Exklusion für die Kultur gefragt. ›Kultur‹ meint dabei Ergebnis und Prozess des Zusammenschließens von Psyche und Sozialem sowie von Sozialstruktur und Semantik. Luhmanns Konzept von Inklusion / Exklusion wird dabei durch Berücksichtigung neuerer Entwürfe, aber auch durch Operationalisierungen im Blick auf die Untersuchungsgegenstände und die beteiligten Disziplinen differenziert, variiert und modifiziert und stellt dabei vor allem seine Leistungsfähigkeit für die Analyse von Kultur unter Beweis. Umgekehrt ergeben sich aber auch Rückfragen an die Theorie. Die zentrale Frage dabei ist, ob Luhmanns These, die Regeln der Inklusion/Exklusion seien jeweils durch die primären Differenzierungsformen vorgegeben, einer Überprüfung durch Fallstudien in einer Perspektive langer Dauer standhält. Ähnliche Fragen wirft das gewählte Umschlagbild Das große Orchester (1942) von Raul Doufy auf. Der gewählte Ausschnitt stimmt mit dem Gemälde darin überein, dass ein Schnitt durch die Menschen, Instrumente und Notenständer die Betrachter auf ein Gewalt- oder Willkür-Moment der Exklusion aus dem Orchester stößt. Im Orchester, das sich als Metapher der Gesellschaft interpretieren lässt, ist eine Differenzierung (nämlich die der einzelnen Instrumentengruppen) erkennbar; die Regeln der Differenzierung sind zugleich jene der Inklusion, sie garantieren jedoch keinen Einschluss, wie an den abgeschnittenen Rändern ersichtlich. So aufgefasst, thematisiert das Orchester-Ganze gesellschaftliche Integration als Paradoxie von Einheit und Differenz, den blinden Fleck der Selbstreflexion als Ganzes und die ausgeblendeten Ausschlüsse. 14 Luhmann, Inklusion (GdG) (wie Anm. 12), S. 629. 15 Luhmann, Inklusion (GdG) (wie Anm. 12), S. 631.
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2. Disziplinenspezifische Perspektiven 2.1 Geschichtswissenschaft Im historischen Längsschnitt, und damit aus der Sicht der Geschichtswissenschaft, lässt sich ausgehend vom oben Gesagten fragen, ob die von Luhmann vorgeschlagene Typologisierung von Inklusion/Exklusion angemessen ist, ob sie präzisiert werden kann oder ob sie in einzelnen Hinsichten modifiziert werden sollte. Anhaltspunkte hierfür könnten insbesondere Fälle sein, in denen semantische ›preadaptive advances‹16 vorliegen, die Entwicklung von Strukturen und Differenzierungsformen vorwegnehmen, oder aber Fälle, insbesondere in Übergangszeiten, in denen einiges dafür spricht, dass funktionsbezogene Kommunikation Inklusion/Exklusion reguliert, obgleich die primären Systeme Strata sind. Ferner lässt sich fragen, ob die Inklusion/Exklusion von Fremden und Armen nicht selbst ›preadaptive advances‹ generierte, also ob nicht gerade im Umgang mit diesen beiden meist nur prekär inkludierten Gruppen komplexe semantische wie praktische Lagen aufkamen, die die Teilsysteme auf ihre Grenzen stießen und zur Neuformierung von Strukturen und Semantiken – und somit zur Evolution – anregten. 2.1.1 Antike Diese Fragen und Hypothesen lassen sich zunächst auf die Antike beziehen, genauer gesagt auf den hier sich vollziehenden Übergang von der Koexistenz segmentärer und stratifikatorischer Merkmale zu einer überwiegend stratifizierten Gesellschaft. Einen besonders interessanten Fall bildet die attische Demokratie in klassischer Zeit, für die in der geschichtswissenschaftlichen Forschung bereits von einer operativen Schließung des Funktionssystems Politik – in das auch Arme inkludiert werden – in einer Umwelt der Strata gesprochen wurde.17 Luhmann fasst im Anschluss an Parsons18 die Hochkulturen der Ägäis als ›seed-bed societies‹ auf.19 Diese charakterisiert er als differenziert nach 16 Gemeint sind damit in Anlehnung an Talcott Parsons Merkmale – Strukturen und Semantiken –, die eine neue primäre Differenzierung begünstigen. 17 Mann, Christian: Politische Gleichheit und gesellschaftliche Stratifikation. Die athenische Demokratie aus der Perspektive der Systemtheorie. In: Historische Zeitschrift 286 (2008), S. 1–35. 18 Vgl. Parsons, Talcott: Societies. Evolutionary and Comparative Perspectives. Englewood Cliffs, N. J. 1966, S. 95 ff. 19 Vgl. das Kapitel »Zentrum und Peripherie« in Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 12), S. 663– 678, hier S. 677.
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Zentrum /Peripherie und Stratifikation. Es wäre zu prüfen, ob diese Beschreibung nicht zu kurz greift, weil sie die immer noch erhaltene segmentäre Differenzierung unterschätzt, und ob die Gesellschaft Athens sich nicht gerade dadurch kennzeichnet, dass eine Konkurrenzsituation aller Differenzierungsformen vorliegt. Geht man davon aus, so kann die Entwicklung hin zu einer tatsächlich stratifikatorischen Gesellschaft – zumindest teilweise – als Effekt von neuen Inklusionsnotwendigkeiten und Exklusionsbestrebungen beschrieben und erklärt werden. Die Rolle von Inklusion/Exklusion für die Genese und die Stabilisierung von Stratifikation könnte dann helfen, folgende Leerstelle bei Luhmann zu füllen: Nach dem heutigen Wissensstand ist es schwierig, eine schlüssige kausale Erklärung für die Entstehung von Stratifikation zu geben. Vermutlich wird es verschiedene ›äquifinal‹ wirkende Ausgangslagen gegeben haben; und die Frage müsste dann lauten, in welchen Hinsichten eine gegebene egalitäre, segmentär differenzierte Sozialordnung empfindlich ist für Umbrüche.20
Eine Antwort auf diese Frage könnte lauten, dass die Inklusion von Fremden in eigens für sie geschaffene Schichten die Evolution hin zur stratifizierten Gesellschaft begünstigt hat, indem die Oberschicht versuchte, sich in Abgrenzung zu den neuen »Mitgliedern der Gesellschaft« operativ zu schließen.21 Auch die Inklusion/Exklusion von Armen spielte möglicherweise eine wichtige Rolle für die Stabilisierung der Strata. Argumente für diese Hypothese liefern die Beiträge von Jörg Erdtmann über Eine Frage der Ehre oder der Abstammung? Inklusion und Exklusion Fremder von Homer bis Perikles, Mark Beck über In- und Exklusionsaspekte in griechischen Poleis und Katrin Engfer über Armut und Ungleichheit in der römischen Antike. Inklusions- und Exklusionsmechanismen in Fürsorge und Wohltätigkeit. Erdtmann zeigt, wie die Inklusion von Metöken und Xenoi unter Bedingungen der Überschneidung segmentärer und stratifikatorischer Differenzierungsmerkmale zur Stabilisierung der Stratifikation beitrug. Dies lässt sich für die antiken Poleis des ägäischen Raumes aus bürgerlichen Abgrenzungssemantiken ableiten, insbesondere aber aus Strategien der Selbstrepräsentation von Fremdenvereinen. Auch die kleisthenischen Reformen wirkten in Richtung einer Stabilisierung der Schichten: Mit der Rechts-Kategorie 20 Luhmann, Zentrum (GdG) (wie Anm. 19), S. 655. 21 Das tatsächlich entstandene Stratum der elitären Oberschicht lässt dann später zwar eine Mitgliedschaft von Metöken de facto zu (vgl. den Aufsatz von Mark Beck in diesem Band), was aber kein Gegenargument dafür ist, dass ein Anlass zur Entstehung des Stratums zunächst die Selbstbeschreibung in Abgrenzung zu Fremden war.
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›metoikos‹ gingen in der attischen Gesellschaft (wie auch in vergleichbar organisierten ägäischen Poleis der klassischen Zeit) eine Vielzahl sozialstruktureller und semantischer Veränderungen einher. Dazu gehört in erster Linie die rechtliche Ansprechbarkeit einer zahlenmäßig nicht zu übersehenden Gruppe von Fremden als eine (in sich zweigeteilte) Schicht, der später rund ein Fünftel der Gesellschaft angehörte. Dass dies einen Beitrag zur Stabilisierung der stratifikatorischen Differenzierungsform erbrachte, liegt auf der Hand. Aus rechtlicher Sicht ist danach die Inklusion von Fremden klar geregelt. Hinsichtlich der Selbstentwürfe dieser Fremden herrscht aber ein Zustand produktiver Ambivalenz, in dem ›oikoi‹ und Strata interferieren. Gleiches gilt auch hinsichtlich der Semantiken attischer Bürger-Identität und des Denkens ethnisch und religiös codierter Differenz. Die Selbstrepräsentationen von Metöken als Händler und Handwerker auf Grabsteinen sind ein eindrückliches Beispiel für die Neuformierung von Identitäten in einem Inklusions-/Exklusionsregime, das sich in einer Phase der Überdetermination befindet: Differenzierungsformen und Semantiken der Selbstverortung konkurrieren und interferieren. Nach dem Ende der klassischen attischen Demokratie, in der sich Anhaltspunkte für die Koexistenz aller Differenzierungsformen finden lassen, nahm, wie Beck zeigt, die Exklusion von Armen aus dem für kurze Zeit operativ geschlossenen System Politik (und aus weiteren Funktionsbereichen) kontinuierlich zu und trug dazu bei, dass sich die operative Schließung der Strata erneut vollzog. Im Späthellenismus gilt auch für die Politik, dass innerhalb einer als Teilsystem ausdifferenzierten Oberschicht »interne Interaktionen anders behandelt werden als Interaktionen mit der gesellschaftsinternen Umwelt des Systems.«22 Dabei verliert in Fragen der Inklusion/ Exklusion die Unterscheidung autochthon/fremd zugunsten jener nach arm/ reich an Bedeutung. Im Zuge der operativen Schließung der Strata werden Fremde inkludiert (wobei die massenweise erfolgte Verleihung des Bürgerrechts bald ein Ende nahm) und Arme dauerhaft exkludiert; sie hatten u. a. nicht nur keine Teilhabe am Regieren, sondern waren auch an symbolisch aufgeladenen Orten bürgerlicher Selbstbeschreibungssemantiken wie dem Gymnasion abwesend. In eine ähnliche Richtung wirkte auch, wie Engfer zeigt, die Euergesie der römischen Provinzialzeit: Die ›Geber‹ repräsentieren sich als Angehörige der oberen Schichten, und in der Quantifizierung der Gaben findet sich häufig in nuce ein Abbild der Strata. Damit ist die Euergesie eine Institution mit offenkundig ordnungsstabilisierender Funktion: Das Maß 22 Luhmann, Inklusion (GdG) (wie Anm. 12), S. 623.
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der Schenkungen muss proportional mit dem Reichtum der Beschenkten steigen. In der Euergesie findet sich damit eine Selbstbeschreibung des oberen Stratums mit Hilfe der Wiedereinführung der Unterscheidung Innen/ Außen auf der Innenseite statt. Eine wichtige Leistung der Analysekategorie Inklusion/Exklusion liegt demnach für die Geschichtswissenschaft, wie sich am Beispiel der klassischen und hellenistischen Antike zeigt, darin, dass Teilhabe und Ausgrenzung von Fremden und Armen als wichtige Faktoren gesellschaftlicher Umstrukturierung erfasst und beschrieben werden können. Die empirischen Befunde weisen darauf hin, dass die Präsenz von Fremden (Metöken, Xenoi) und die Partizipationsformen, die für sie gefunden werden, im klassischen Athen wie in den hellenistischen Poleis mit jeweiligen zeit- und ortspezifischen strukturellen gesellschaftlichen Veränderungen sowie mit Neuformierungen von Selbstbeschreibungssemantiken zusammenhängen. Dies ist in zweierlei Hinsicht für die historisch-analytische Dimension von Inklusion / Exklusion von Belang. Erstens erweist sich, dass die Modi, die für Inklusion/Exklusion von Fremden und Armen geschaffen wurden, oftmals zugleich – auf die Mehrheitsgesellschaft bezogen – Innovationen darstellten. Möglicherweise lieferte die Inklusion von Metöken, die über entsprechende finanzielle Mittel, spezielle technische oder kaufmännische Fähigkeiten und Ressourcen verfügten, aber gerade nicht als Mitglieder jener autochthonen oligarchischen Netzwerke gedacht werden konnten, die in der ›seed-bed society‹ die wirtschaftlichen Transaktionen kontrollierten, Impulse zur Herausbildung funktionsspezifischer Kommunikation. In diese Richtung weisen auch die genannten Grabinschriften von Metöken: Sie verzeichnen als Identitätsmarker gerade nicht den Namen des Verstorbenen – das würde nur auf den Mangel hinweisen, der durch die Nicht-Zugehörigkeit zu den alteingesessenen ›oikoi‹ gegeben ist –, sondern die erfolgreiche Tätigkeit als Händler oder Handwerker. An diesem Beispiel werden auch die Interdependenzen zwischen Modi der Inklusion /Exklusion und Selbstbeschreibungssemantiken greifbar. Es geht dabei selbstverständlich nicht allein um die Strategien der Selbstverortung, die die Metöken für sich wählten, sondern um Verschiebungen in der ›historischen Grammatik‹ (W. Rudloff) von eigen/fremd und zugehörig/ nicht-zugehörig. Zweitens zeigt sich, dass Inklusion/Exklusion von Fremden und Armen im Falle konkurrierender gesellschaftlicher Differenzierungsformen mitunter als Regulationsmechanismus wirkte, der den Ausschlag in Richtung einer bestimmten gesellschaftlichen Struktur- oder Differenzierungsform gab. Das Beispiel der Euergesie im Späthellenismus und im Rom der Kaiserzeit zeigt,
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wie mit der intensiven Verhandlung der Grenzziehung zwischen ›arm‹ und ›reich‹ stratifikatorischen Differenzierungskriterien der Vorrang vor funktionalen und segmentären gegeben wurde. Das Subsystem euergetischer Kommunikation ist, wie die Beiträge von Mark Beck für den Hellenismus und von Katrin Engfer für die römische Kaiserzeit zeigen, nicht auf die Inklusion von Armen ausgerichtet, sondern auf die Stabilisierung der Selbstbeschreibung als ›reich‹ und ›vermögend‹. Relative Armut wird davon ausgehend neu codiert, und dies dient der operativen Schließung einer elitären Schicht, die in der späthellenistischen Zeit bestrebt war, die klassischen egalitär-demokratischen Strukturen zu überschreiben und in beiden Gesellschaften darüber hinaus Herrschafts- und Regierungsansprüche als stratusspezifische Rechte definierte und semantisch legitimierte. 2.1.2 Mittelalter und Frühe Neuzeit In der stratifizierten Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zeigt sich hinsichtlich der Inklusion/Exklusion von Fremden und Armen ein heterogenes, vielfach von widersprüchlichen Semantiken durchsetztes Bild. Es wird im vorliegenden Band insbesondere im Blick auf geltende Inklusionsbedingungen sowie auf die Verhandlung der Grenze hin zum ›Außen‹ der Gesellschaft untersucht. Eben deshalb eignet sich, wie Sebastian Schmidt in seinem Überblicksbeitrag Inklusion/Exklusion. Neue Perspektiven für die historische Armutsforschung argumentiert, die systemtheoretische Perspektive sehr gut zur Analyse frühneuzeitlicher Gesellschaften. Die Beobachtung von einzelnen Funktionssystemen und Kommunikationsprozessen und der mit ihnen verbundenen In- und Exklusionen erlaubt es, der empirischen Vielfalt unterschiedlichster Ein- und Ausschlüsse und vor allem den semantischen Konkurrenzen, die sich vor allem in den geistlichen Kurstaaten zeigen, gerechter zu werden, als dies die ältere Forschung mit Paradigmen wie dem der ›Sozialdisziplinierung‹ vermocht hat. Die Beobachtung von Inklusionsund Exklusionskopplungen macht darüber hinaus deutlich, dass die funktionale Differenzierung weiter vorangeschritten ist als häufig zugestanden, dass aber – gegenläufig dazu – die Idee einer Hierarchie der Funktionssysteme noch sehr wirksam ist. Außerdem setzt Schmidt sich mit einer viel diskutierten Grenze der Systemtheorie, dem mangelnden Akteursbezug, auseinander: In theoretischer Perspektive weist er mit Recht darauf hin, dass damit die Bedeutung von Akteuren nicht negiert wird, in forschungspraktischer Hinsicht plädiert er dafür, die Handlungsmöglichkeiten von Akteuren in die Untersuchung mit einzubeziehen, und zwar nicht zuletzt, um den Prozesscharakter von Inklusion/Exklusion deutlich zu machen.
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Die anschließenden Fallstudien demonstrieren, wie man im Einzelnen Inklusion / Exklusion für die Analyse unübersichtlicher, vielfach von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen geprägter Lagen von Fremden und Armen nutzen kann. Dabei geht es insbesondere um die jeweils geltenden Inklusionsbedingungen sowie um die Verhandlung der Grenze hin zum ›Außen‹ der Gesellschaft. Diese semantische Grenze wird mit punktuellen Inklusionen von Personen und Gruppen (konvertierte Juden, ›verschämte Arme‹) in Beziehung gesetzt. So zeigt Katrin Dort in ihrem Beitrag über Schließung, Ungleichheit, Devianz. Inklusions-/Exklusionsregime in der Fürsorge im frühen und hohen Mittelalter zunächst am Beispiel der Hospitäler, wie die im Titel genannten Modi das Inklusions-/Exklusionsregime der Anstalten gegenüber den Armen bestimmten. Die Hospitäler prozessierten zum einen die Grenze hin zur ›devianten Armut‹ im Außen der Gesellschaft mit, zum anderen operierten sie zunehmend nach wirtschaftlichen Funktionsprinzipien und nahmen gegen Bezahlung auch Reiche auf. Im Fürsorgesystem, so kann man das verallgemeinern, treffen die Funktionsbereiche Religion, Politik und Wirtschaft aufeinander, die – im Gegensatz zu den Strata – in dieser Zeit allerdings noch lange nicht operativ geschlossen sind. Dort kann man außerdem zeigen, dass bereits im Spätmittelalter ein Diskurs über die ›Devianz‹ der Armen die christliche Semantik der ›misericordia‹ zunehmend relativiert und verdeckt. Für Luhmann ist in der stratifizierten Gesellschaft [d]er Exklusionsbereich [. . .] vor allem an der Unterbrechung von Reziprozitätserwartungen zu erkennen. Die Solidarität mit den Ausgeschlossenen konnte nur artifiziell, nämlich über religiöse Pflichten und Seelenheilschancen, erreicht werden und umgekehrt wurden die Ausgeschlossenen zu allen möglichen Tricks und Täuschungen motiviert, deren Beobachtung in die Literatur über Simulation und Dissimulation und in ein sich im Buchdruck ausbreitendes Mißtrauen gegenüber dem bloßen Schein eingeht.23
In der Tat zeigt sich in der Armenfürsorge eine Erosion der religiösen Inklusionssemantiken, die nicht erst in ihrem Vollzug an den Armen, sondern schon auf der Seite ihrer Selbstreferenz gespalten werden. Zugespitzt formuliert: Wenn kaum jemand mehr ganz fraglos als unterstützungswürdiger Armer gilt, können die Ressourcen und Fürsorgemechanismen des Hospitals dahingehend umfunktioniert werden, dass sie Inklusionen/Exklusionen von Armen und Reichen – durchaus auch nach wirtschaftlichen Prinzipien – durchführen und darüber die vorherrschende Differenzierungsform stabilisieren. Das Inklusions-/Exklusionsregime wurde mithilfe dreier Programme 23 Luhmann, Inklusion (GdG) (wie Anm. 12), S. 622 f.
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aufrechterhalten, die unterschiedlich operierten: Im Falle der ›Schließung‹ wurden Ja-Nein-Entscheidungen über die Aufnahme in die Fürsorge getroffen, ›Ungleichheit‹ ermöglichte es, gemäß der gesellschaftlichen Stratifikation zu inkludieren/exkludieren, und ›Devianz‹ erlaubte es, die Frage danach, ob und wenn ja, welche Inklusion geboten ist, der Deutungshoheit der potentiellen Geber (oder Organisationen wie Hospitälern) zu überlassen. Diesen war es dann anheimgestellt, in ihrer Selbstbeschreibung ›Barmherzigkeit‹ und ›Devianz‹ miteinander zu vermitteln. Am Beispiel der konvertierten Juden zeigt sich hingegen die Persistenz religiöser Exklusionssemantiken im Mittelalter. Die semantische Verortung der Juden im ›Außen‹ ist am ehesten über Inklusion in ein familiäres Segment und darüber in ein Stratum der christlichen Gesellschaft zu überwinden. Es »gibt [...] Inklusion nur, wenn Exklusion möglich ist. Erst die Existenz nichtintegrierbarer Personen oder Gruppen läßt soziale Kohäsion sichtbar werden und macht es möglich, Bedingungen dafür zu spezifizieren.«24 Juden stellten in der Selbstbeschreibungssemantik der christlichen Gesellschaft das ›Außen‹ der Gesellschaft dar, das für die Plausibilisierung der gesellschaftlichen Ordnung der Stratifikation unverzichtbar ist. Das macht der Beitrag von Christoph Cluse Konversion, Inklusion, Exklusion. Zur narrativen Identität des ›Taufjuden‹ in Spätmittelalter und Früher Neuzeit eindrücklich deutlich. Je nachdem, ob es darum ging, Revertiten als christliche Apostaten zu verfolgen oder christlichen Neophyten die Zugehörigkeit zu verwehren, konnte die christliche Taufe als ›unauslöschbarer Stempel‹ oder als hohle Parodie ausgelegt werden. Die janusköpfige Figur des ›Taufjuden‹ bildet eine paradoxe Fremdreferenz, in der das Sakrament der Taufe und das ›Jüdisch-Sein‹ koexistieren. Genau diese Ambivalenz muss eine besonders wichtige Funktion für die mehrheitsgesellschaftliche Selbstbeschreibung erfüllt haben. Dass sie in jüdischen Identitäts-Narrativen wie jenem des Konvertiten Christian Gerson oder in jenen der bettelnden Konvertiten aufgegriffen wurde, bringt nicht allein ein Problem der Zugehörigkeit zum Ausdruck, sondern belässt auch der mehrheitlich-christlichen Gesellschaft die Deutungshoheit darüber – eben darin manifestiert sich die ordnungsstiftende Funktion der Exklusion von Juden. Für die Konvertiten gab es dagegen keine Alternative zum Operieren mit dieser doppelten Selbstreferenz. Die Möglichkeiten, das Oszillieren zwischen ›Tauf-‹ und ›-Jude‹ in einem Identitätsnarrativ situativ zu arretieren und zu plausibilisieren, waren begrenzt und hingen mit der gelungenen praktischen (Re-)Inklusion in Seg24 Luhmann, Inklusion (GdG) (wie Anm. 12), S. 621.
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mente der jüdischen oder christlichen Gesellschaft zusammen. Gewisse Inklusionsmöglichkeiten in die christliche Herrschaft bot lediglich – die Konversion vorausgesetzt – die Aufnahme in einen Familienhaushalt über Heirat, Adoption oder dauerhafte Bedienstung als Abhängige: »Die Bedeutung der Haushalte für stratifizierte Gesellschaften läßt sich kaum überschätzen. Die Haushalte, nicht die Individuen, sind die Einheiten, auf die sich die Stratifikation bezieht.«25 Die semantische Verortung der Juden im gesellschaftlichen Außen hatte im ländlichen Raum des 16. und 17. Jahrhunderts, wie Torben Stretz in seinem Beitrag Juden auf dem Lande zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Das Außen in der Gesellschaft zeigt, gerade wegen ihrer hohen Sichtbarkeit und Involvierung in wirtschaftliche, rechtliche und politische Praxis eine konsolidierende Funktion für die christliche Innenseite der Gesellschaft. Da der Status als ›Schutzjude‹ stets ein Provisorium darstellte, vergegenwärtigten die Juden – so sehr man auf ihre Arbeitsleistungen angewiesen war – auch die Grenzen und das Außen der christlichen Ordnung. Die längerfristige, generationenübergreifende Anwesenheit von Juden unterscheidet sich daher maßgeblich von der (allenfalls befristet gestatteten) Präsenz ›fremder Juden‹, deren Stellung derjenigen der Vaganten ähnlich war. Der Status der längerfristig geduldeten Juden lässt sich zutreffend als ›exkludierende Inklusion‹ beschreiben; dieser Sondermodus der Inklusion/ Exklusion wurde von aufwendigen paradoxen Legitimationssemantiken begleitet, die einerseits die grundsätzliche Nicht-Zugehörigkeit der Juden zur christlichen Herrschaft sicherstellten, andererseits den Ausnahmefall bis auf Widerruf zuließen. Durch die exkludierende Inklusion von Juden ließ sich die Herrschaft konsolidieren und wirtschaftliches Wachstum erzielen. Auf der anderen Seite stand ein umfangreiches Instrumentarium bereit, um die Exklusion der Juden – das ständig mitgedachte Kippbild ihrer Anwesenheit – zu aktualisieren. Dazu gehören in erster Linie Rechtsmittel wie die Möglichkeit, die Schutzbriefe nicht zu erneuern oder zu entziehen, die Vergegenwärtigung der religiösen Differenz, die jüdische Nicht-Zugehörigkeit zur christlichen Herrschaft (mitunter sogar trotz Konversion) impliziert, oder die Verhandelbarkeit der ›Ehre‹, die den Juden zugestanden werden kann oder auch nicht. Während das Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zu den Juden durch die Machtasymmetrie gekennzeichnet ist, untersucht Simon Karstens Herrschaftswechsel in der Frühen Neuzeit, bei denen die Machtverhältnisse in 25 Vgl. das Kapitel »Stratifizierte Gesellschaften« in Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 12), S. 678–706, hier S. 697.
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Bewegung geraten. Die Frage im Titel – Eine Alternative zu Integrationsmodellen? – wird am Beispiel der Südlichen Niederlande und der Herrschaftskonsolidierung des ›fremden‹ Kaisers Karl VI. in den Jahren 1716– 1725 gleich zweifach positiv beantwortet. Zum einen kann Karstens zeigen, dass Inklusion/Exklusion gegenüber dem Konzept der ›Integration‹ den Vorteil besitzt, bestimmte Fehldeutungen nicht nahezulegen wie etwa die Vorstellung einer zielgerichteten Anbindung neuer Peripherien an ein Zentrum oder die Meistererzählung vom Absolutismus als Wegbereiter der Moderne durch die Abschaffung ständischer Privilegien. Zum anderen lässt die systemtheoretische Sicht auf die Neuverhandlung der Machtverhältnisse die langfristig wichtigste systemische Konsequenz deutlich hervortreten: Die wechselseitige Inklusion/Exklusion in herrschaftsbezogene Kommunikation trägt zur Autonomisierung von Politik bei. Das schließt an einen Befund Luhmanns an: Schon im 18. Jahrhundert kann man von einer Primäreinteilung der Gesellschaft nach Schichten eigentlich nicht mehr sprechen. Die offizielle Darstellung der Gesellschaft hält zwar [. . .] noch an den alten Einteilungen fest. Damit können jedoch die Entwicklungstendenzen in struktureller wie semantischer Hinsicht nicht mehr begriffen werden. Was jetzt Fortschritt oder Aufklärung heißt, löst die alten Ordnungen auf.26
Insgesamt befindet sich die Gesellschaft – und mit ihr die Legitimationssemantiken sowie die Organisation und Ausübung von Herrschaft – im Umbruch. Luhmann spricht schon für das ausgehende 17. Jahrhundert von einem »juristisch kompliziertere[n] Ineinander von ständischer und staatlicher Ordnung, für das weder die Formel einer Adelsherrschaft noch einer souveränen Monarchie passen.«27 Karstens zeigt, dass gerade im Zuge der Herrschaftskonsolidierung über wechselseitige Inklusion/Exklusion ›fremder‹ Herrscher und Untertanen, also im Zuge eines durchweg strategischen Einsatzes der Argumentationsfigur ›Fremdheit‹ (engl. ›alienation‹, franz. ›puissances estrange´res‹), genuin politische, folglich allein auf Belange des Regierens fokussierende Kommunikation präfiguriert wird. Luhmann geht davon aus, dass sich in der Frühen Neuzeit das Verhältnis zwischen dem Herrscher und seiner Anhängerschaft für die adligen Gefolgsleute eher »als Anhängigkeit, nicht als Abhängigkeit«28 darstellte und dass diese somit »[d]ie Anhängerschaft [...] aufkündigen [können], wenn das Verhalten des Königs ihm dazu Anlaß gibt.«29 Die von Karstens untersuchten Kommu26 Vgl. das Kapitel »Ausdifferenzierung von Funktionssystemen« in Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 12), S. 707–743, hier S. 733 f. 27 Luhmann, Ausdifferenzierung (GdG) (wie Anm. 26), S. 718. 28 Luhmann, Ausdifferenzierung (GdG) (wie Anm. 26), S. 716. 29 Luhmann, Ausdifferenzierung (GdG) (wie Anm. 26), S. 716.
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nikationsprozesse im Zuge der Aushandlung ›legitimer Herrschaft‹ zeugen davon, dass sich in den Südlichen Niederlanden zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der noch stratifiziert differenzierten Gesellschaft Tendenzen hin zu funktionaler Differenzierung beobachten lassen. Die Stände versuchen, die Inklusions-/Exklusionsverhältnisse so zu beeinflussen, dass Inklusion in eine überwiegend stratifiziert gedachte Gesellschaft erfolgt, d. h. in diesem Falle vor allem, dass die Patron/Klient-Verhältnisse und frühere Privilegien aufrechterhalten bleiben. Dagegen ist Karl VI. bestrebt, Inklusions-/Exklusionsprozesse so zu gestalten, dass sich seine Herrschaft möglichst dem Konzept des ›absoluten Staates‹ annähert. Der Dissens, der über das ›Worin‹ dieser Inklusion besteht, führt einerseits zur Verhandlung über Machtansprüche; andererseits resultiert daraus eine Arbeit an der ›gepflegten Semantik‹ eigen/fremd, indem diese retrospektiv wie prospektiv im Sinne der Konstruktion einer Traditionslinie auf anstehende, eigentlich politische Entscheidungen bezogen wird. Im Zuge der Aushandlung des ›Worin‹ der wechselseitigen Inklusion entschied man zum einen über rechtliche Strukturen im Herrschaftsgebiet, zum anderen stellten diese Kommunikationsakte auch Inklusion/Exklusion bestimmter Personen her, deren erklärte Fremdheit (›alienation‹) ein Instrument der Regulierung von Loyalität / Illoyalität darstellte und darüber hinaus symbolischen Charakter für die angestrebte politische Ordnung erhielt. 2.1.3 Neuere und Neueste Geschichte Die Beiträge zur europäischen Neuzeit werden eingeleitet durch einen Überblicksbeitrag von Lutz Raphael: Inklusion/Exklusion – ein Konzept und seine Gebrauchsweisen in der Neueren und Neuesten Geschichte. Dass die aktuelle Debatten um ›Exklusion‹ zu neuen Fragestellungen und Konzepten gerade in diesem Bereich der Geschichtswissenschaft geführt haben, liegt nahe. Allerdings dominiert, so ein erster Befund, nach wie vor eine vortheoretische Begriffsverwendung, die die Erkenntnischancen des Konzepts nicht ausschöpft. Diese sieht Raphael gerade dort, wo ältere Beschreibungsmodelle zu kurz greifen: angesichts der wachsenden Bedeutung neuer sozialer Zwischenräume, Übergangszonen und Grenzüberschreitungen sowie bei der Untersuchung der Adressierung von Gruppen an den ›Rändern‹ der Gesellschaft. Außerdem eröffne Inklusion/Exklusion einen schärferen Blick auf die sozialen Folgen kultureller Differenz, ermögliche eine Verbindung differenzierungstheoretischer Neugierde mit sozialkonstruktivistischen Grundannahmen und korrespondiere mit der neuen Aufmerksamkeit für den Raum als Träger und Ergebnis sozialer Beziehungen.
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Ein weiterer – freilich immer wieder einzufordernder – Vorteil entstehe durch die Skepsis gegenüber makrohistorischen und geschichtstheoretischen Vorgriffen, aber auch gegenüber holistischen Ansätzen wie ›social control‹ oder Sozialdisziplinierung mit ihrer Vernachlässigung der Eigenlogik der Medien und Modi von Inklusion/Exklusion. Diese Skepsis trifft ironischerweise auch die Einbettung des Konzepts in den Kontext der Systemtheorie, macht es umgekehrt aber anschlussfähig für die Theorien Foucaults oder Bourdieus. Ein in dieser Weise theoretisch informiertes Konzept eröffnet neue Perspektiven auch auf solche Forschungsgebiete, auf denen, wie im Falle der nationalsozialistischen Exklusionspraktiken, die Bildung innerer und äußerer Feinde immer schon ein zentrales Thema war. Im Blick auf die Migrations- und Wohlfahrtsregime im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts dagegen vermag es sehr präzise die Grenzen alle jener (sozial-)politischen Programme und Entwürfe der ›Vollinklusion‹ aufzuzeigen, die seit der Aufklärung und den atlantischen Revolutionen die politische Ideengeschichte Europas immer wieder beflügelt haben. Last but not least führt die Arbeit mit dem Konzept zu Rückfragen an die Theorie, etwa an die Soziologie, wenn sie das Begriffspaar in der heutigen ›Weltgesellschaft‹ zu einer ›asymmetrischen Unterscheidung‹ erklärt: Das ist durch die geschichtswissenschaftlichen Befunde nicht gedeckt und womöglich selbst eine Folge des Vollinklusions-Versprechens moderner Gesellschaften. Die besondere Stärke des Konzepts zeigt sich darüber hinaus dort, wo sich soziologische, historische und kulturwissenschaftliche Forschungsfragen aufs engste berühren und gleichzeitig Strukturen langer Dauer untersucht werden. Ein Vergleich über große Zeiten und unterschiedliche Räume hinweg setzt die Identifizierung langfristig wirksamer Inklusions- und Exklusionsfiguren voraus und führt eo ipso auf die Frage nach ihrer Eigenständigkeit gegenüber anderen Ordnungsmustern der diversen Gesellschaften. Raphael illustriert dies am Beispiel sozialräumlicher Exklusionsfiguren in der europäischen Neuzeit. Er benennt fünf Grundfigurationen, die das Repertoire der Raumpolitiken und Raumlogiken der Exklusion/Inklusion Armer und Fremder in der Zeit von 1500 bis etwa 1800 absteckten: Ortszugehörigkeit, Grenzkontrolle, Räume strafender und bessernder Einschließung, das Ghetto und die Segregation. Die meisten dieser Regulierungstypen waren eher von Kontinuität und bestenfalls graduellen Verschiebungen als von Brüchen geprägt. Die Befunde sperren sich deshalb gegen eine rasche zeitliche Einordnung in die großen Trendbeschreibungen, die sich auf die tiefgreifenden Umbrüche in den Gesellschaftsstrukturen im 19. Jahrhundert sowie die grundlegenden verkehrs- und medientechnischen Veränderungen,
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die zu einer Verkürzung räumlicher Distanzen und einer Ausweitung von Handlungsketten und Sozialräumen führten, stützen. Andererseits markiert die letztgenannte Exklusionsfigur, die Segregation, weil sie in vielfacher Weise nicht durch intentionales kollektives Handeln, sondern durch unkontrollierte Effekte (sowie die Selbstexklusion bestens inkludierter Oberschichten) gesteuert wird, gewissermaßen das Ende der Raumpolitiken der Exklusion, die die Herausbildung des modernen Staates maßgeblich geprägt haben. An diesen Überblicksbeitrag schließen sich Einzelstudien an. Sie zeigen zunächst, dass in der funktional differenzierten Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an der Inklusion/Exklusion von Armen die Ordnungszwänge von ›Normalität‹ am Sonderstatus von Armen, die unter Devianz-Verdacht stehen, besonders gut sichtbar werden. Das demonstrieren die Beiträge von Jens Gründler (Exklusion/Inklusion oder ›totale Institution‹? Psychiatrie um 1900) und Katharina Brandes (Inklusion und Exklusion am Beispiel der Fremdplatzierung in der Kinder- und Jugendfürsorge zu Beginn des 20. Jahrhunderts). Gründler revidiert dabei am Beispiel psychiatrischer Anstalten in Schottland Goffmans Konzept der ›totalen Institution‹: Es geht nicht um totale Exklusion, sondern um totale Inklusion, und dadurch ändert sich das gesamte Regime von Einschluss und Ausschluss, dem das Individuum unterliegt. Der Arme verliert als ›armer Irrer‹, der als ›ganzer Mensch‹ in eine Anstalt inkludiert wird, den Status als Exklusionsindividuum, das durch die einzelnen Funktionssysteme adressierbar ist. Stattdessen ist die Anstalt durch eine totalitäre Inklusions-Logik geprägt, die familiäre Inklusion ebenso zu substituieren beansprucht wie die Inklusion in Wirtschaft. Die ›armen Irren‹ müssen, ebenso wie die im Waisenhaus untergebrachten Kinder und Jugendlichen, arbeiten, ohne eigentlich vom Funktionssystem Wirtschaft adressierbar zu sein. Auch die Erziehungsanstalten für arme Halbwaisen erheben, so der Befund von Brandes, einen totalitären Inklusionsanspruch, indem sie nicht allein die Erziehungs-Funktion, sondern auch jene der (familiären) Sozialisation und teilweise der Wirtschaft übernehmen. Ähnlich wie schon für die Fürsorgeeinrichtungen des Mittelalters kann für die Waisenhäuser festgestellt werden, dass eine vordergründige Inklusionssemantik durch Devianzsemantiken unterlaufen wird. Spezifisch modern ist allerdings, dass die Anwendung von Devianzzuschreibungen selbst eines Legitimierungsaufwandes bedarf: Den Eltern das Fürsorgerecht zu entziehen, erfordert eine eingehende Begründung; dem trägt die eingehende Prüfung der familiären Situation Rechnung. Die Totalinklusion in Anstalten geht dennoch, gerade in der funktional differenzierten Gesellschaft, die keine Verortung des gesamten
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Individuums vorsieht, mit gravierenden Exklusionseffekten aufgrund von Nicht-Adressierbarkeit einher. Dies gilt insbesondere für den Anspruch der Erziehungsanstalten, die gesamte Lebensführung zu gestalten: Die Erziehung schreibt keinen Lebenslauf vor. Sie kann nicht beanspruchen, die Lebensführung ihrer Zöglinge zu kontrollieren. Das wäre ›totalitäre‹ Erziehung und mit gesellschaftlicher Differenzierung, also auch mit der Ausdifferenzierung des Erziehungssystems, nicht zu vereinbaren. Erziehung kann nur mir der Differenz von Medium und Form arbeiten.30
Im Anstaltszögling, dessen Leben, sowohl was praktische Handlungen als auch was Begleitsemantiken angeht, nur als Teil der Anstalt (die nicht verlassen werden darf) stattfindet, wird diese Differenz zwischen dem Kind als Medium der Erziehung und den angebotenen Formen der Erziehung negiert. Mit der (Zwangs-)Inklusion in die Anstalt wird also – freilich unreflektiert – auch ein Sondermodus der Herausbildung von Bewusstsein eingeführt, der der funktionalen Differenzierung zumindest auf der Ebene der Selbstbeschreibungssemantiken zuwiderläuft. Der letzte geschichtswissenschaftliche Beitrag befasst sich mit Inklusion und Exklusion in sozialräumlicher Perspektive: Susanne Hahn zeigt am Beispiel der bundesdeutschen Raumordnungspolitik der 1960er Jahre, dass die Politik, sobald es darum geht, Politik für ›arme Räume‹ zu gestalten, einerseits versucht, in die operative Geschlossenheit von Wirtschaft einzugreifen, andererseits aber die als ›arm‹ Geltenden aus den politischen Entscheidungsprozessen weitgehend exkludiert. Das ist nicht zuletzt angesichts des Verfassungsauftrags, die Entstehung ›rückständiger Regionen‹ durch eine Angleichung der Lebensverhältnisse nicht nur zwischen den Bundesländern, sondern auch zwischen Stadt und Land zu verhindern, ein brisanter Befund. Hahn verbindet zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen Lebensraum und sozialer Ungleichheit Systemtheorie und Ungleichheitstheorien. Für Luhmann spielte die Kategorie des Raumes für die Beschreibung von Kommunikationen zunächst keine Rolle. Erst mit der »Entdeckung«, dass es »doch Exklusionen gibt, und zwar massenhaft und in einer Art von Elend, die sich der Beschreibung entzieht«, wurde es notwendig, Raumeffekte als mögliche Faktoren der Begünstigung von Inklusions- und vor allem Exklusionskopplungen mit zu bedenken.31 Hahns Analyse der In30 Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2002, S. 101 (Herv. im Original; H. U. / I.-K. P.). 31 Luhmann, Niklas: Jenseits von Barbarei. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4. Frankfurt a. M. 1999, S. 138–150, hier S. 147.
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klusions-/Exklusionseffekte der Raumordnungspolitik stützt sich deshalb auf die Systemtheorie, wenn gezeigt werden soll, in welche Funktionssysteme inkludiert bzw. aus welchen exkludiert werden soll, zum anderen aber auf den von Kronauer formulierten Exklusionsbegriff, der Armutslagen als Folge institutioneller Politik- und Handlungsstrategien beschreibt. Der erklärungsbedürftige Befund bleibt dabei derselbe: Die Nicht-Kommunikation von Politik und Wirtschaft führt zu einem Scheitern der auf Inklusion zielenden Raumordnungspolitik. Das lässt sich verbinden mit Luhmanns Hinweisen auf Exklusionskopplungen, die aus der Nicht-Adressierbarkeit durch Wirtschaft resultieren: [. . .] keine Arbeit, kein Geldeinkommen, kein Ausweis, keine stabilen Intimbeziehungen, kein Zugang zu Verträgen und zu gerichtlichem Rechtsschutz, keine Möglichkeit, politische Wahlkampagnen von Karnevalsveranstaltungen zu unterscheiden, Analphabetentum und medizinische wie ernährungsmäßige Unterversorgung –.32
Laut Luhmann besteht zwar eine stabile Interdependenz zwischen Politik und Wirtschaft, die sich im notwendigen Gebrauch des (ökonomischen) Mediums Geld zur Gestaltung des (politischen) Mediums Macht äußert: »Die Finanzierung der öffentlichen Haushalte kann mithin als eine Form der strukturellen Kopplung von Politiksystem und Wirtschaftssystem angesehen werden [...].«33 Diese Kopplung bedeutet aber keineswegs, dass politische und wirtschaftliche Operationen unmittelbar interferieren können. Im Gegenteil bleiben beide wechselseitig intransparent (weil nur jeweils im eigenen System beobachtbar). Eine wechselseitige Steuerung ist aufgrund der operativen Geschlossenheit nicht möglich: »Ob und wie sich Subventionen auswirken, entscheidet die Wirtschaft (und, allenfalls durch sie vermittelt, der räumliche Standort).«34 Über raumordnungspolitische Maßnahmen versucht die Politik selbst auf den räumlichen Standort der Wirtschaft zuzugreifen – etwa indem von der »Einrichtung gewerblicher und industrieller Betriebe in ausgesprochen kleinbäuerlichen Gebieten«35 die Rede ist. Sie zielt auf die Einrichtung einer raumbezogenen Interaktionsabhängigkeit, d. h. auf eine Engführung politischer und wirtschaftlicher Kommunikationen, die zu einer ortsbezogenen Prosperität führen soll: »Interaktionsabhängigkeit heißt immer auch: Raumgebundenheit«.36 Die 32 33 34 35
Luhmann, Inklusion (GdG) (wie Anm. 12), S. 630. Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 30), S. 384. Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 30), S. 263. Die Raumordnung der Bundesrepublik. Stuttgart 1961, S. 57 ff., hier zit. n. Susanne Hahns Beitrag in diesem Band. 36 Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 30), S. 263.
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Politik ist allerdings in ihrem Bestreben, für sie günstige Kopplungen mit Wirtschaft einzugehen, wie Hahn eindrücklich demonstriert, blind für ihre eigene Unfähigkeit, in einem anderen Funktionssystem unmittelbar zu operieren, und zielt mit der Semantik des ›rückständigen Raumes‹ auf eine unmögliche Kommunikation. So erklärt sich das Scheitern der frühen bundesrepublikanischen Raumordnungspolitik: Die erwünschte bessere Adressierbarkeit der Armen in ländlichen Gebieten erwies sich als kaum steuerbar – zumindest nicht mit den politischen Instrumenten der 1960er Jahre. 2.2 Politikwissenschaft Die Konjunktur des Exklusionsbegriffs im Rahmen der Beschreibung aktueller sozialer Problemlagen und die damit einhergehende Ausweitung nicht nur des Gegenstandsbereichs, sondern auch des Begriffs hat, wie nicht anders zu erwarten, auch vermehrt Kritiker auf den Plan gerufen.37 Ein zentraler Vorwurf lautet, dass mit der Adaption des Konzeptes Inklusion/ Exklusion durch die neuere Ungleichheitsforschung der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und politischer Demokratie nicht mehr zureichend in den Blick gerate. Dieser Einwand wird im vorliegenden Band pointiert von Winfried Thaa und Markus Linden in ihrem Beitrag Inklusion/Exklusion als sozialund politikwissenschaftliches Analyseinstrument vorgetragen: Die Ersetzung des Paradigmas des Oben und Unten und die mangelnde Berücksichtigung struktureller Exklusionskopplungen führten zur Vernachlässigung der sozialen Determinanten politischen Einflusses und damit des Verhältnisses von Politik und Ökonomie. Außerdem werde nach der Qualität der Inklusionen zu wenig und nach der Legitimität des Inklusionsziels gar nicht gefragt. Für eine Politikwissenschaft, die am Kriterium demokratischer Selbstregierung und Emanzipation und einer daran orientierten Integration festhält, habe das Konzept Inklusion/Exklusion daher – in allen bislang vorgelegten Fassungen – seine Grenzen. Gleichwohl bilde es »ein brauchbares Analyseinstrument, das als solches verstanden nicht nur den Längs37 Das Spektrum der Kritik ist breit. Sie ist keineswegs gleichbedeutend mit Ablehnung, sondern umfasst durchaus Versuche, das Konzept Inklusion / Exklusion von systemtheoretischen Vorgaben zu lösen und mit sozialer Ungleichheit zusammenzudenken. Vgl. Kronauer, Exklusion (wie Anm. 2); Castel, Robert: Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs. In: Mittelweg 36 9 (2000) 3, S. 11–25; ders.: Die Wiederkehr der sozialen Ungleichheit. In: Ders. / Dörre, Claus (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung, S. 11–34; außerdem Boltanski, Luc / Chiapello, E`ve: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003.
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und Querschnittvergleich erleichtert, sondern ein eigenständiges Potential zur Differenzierung und Kritik besitzt« (Thaa/ Linden in diesem Band). Dieses Potential ergibt sich aus dem systemtheoretischen Grundgedanken, dass jede Inklusion mit einer Exklusion verbunden ist. Bezogen auf ein zentrales Thema der Demokratieforschung, die Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Repräsentationsformen, ergibt sich daraus die Frage, welche ausschließenden Effekte inkludierende Strategien im Bereich der Politik haben können. Solche inkludierenden Strategien sind in der jüngeren deutschen Politik insbesondere gegenüber Armen und Fremden entwickelt worden; dazu gehören etwa expertokratisch besetzte deliberative Gremien wie die sogenannte Süssmuth-Kommission (2000), die sich mit Zuwanderungsfragen befasste, und die sogenannte Hartz-Kommission (2002), die sich mit Arbeitsmarktfragen befasste. Von der in beiden Fällen reklamierten umfassenden inklusiven Repräsentation benachteiligter Gruppen – Migranten und Arbeitslose – könne, so Thaa/Linden, keine Rede sein. Genauer: Es vollzog sich eine exkludierende Inklusion als Benachteiligung spezifischer Untergruppen. Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt, wie bereits der Titel signalisiert, die Fallstudie von Christiane Bausch zu Ausländerbeiräten und Integrationsräten: Eine Inklusionsmaßnahme und ihre Exklusionseffekte. Bei den beiden hier untersuchten Typen bundesdeutscher Migrantenvertretungen handelt es sich um zwei unterschiedliche Formen deskriptiver Repräsentation, deren Ziel darin besteht, durch die Präsenz von Repräsentanten, die selbst strukturell benachteiligten Gruppen angehören, deren Interessen und Perspektiven besser zur Geltung zu bringen. Die ersten Ausländerbeiräte wurden in Anbetracht der steigenden Zahl in Deutschland lebender ›Gastarbeiter‹ zu Beginn der 1970er Jahre eingerichtet, da der Ausschluss von jeglicher politischer Teilhabe mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar war. Die Integrationsbeiräte sind jüngeren Datums, sie sind enger mit der Kommunalpolitik verzahnt und haben einen größeren Zuständigkeitsbereich, aber ebenfalls nur beratende Funktion. In die Integrationsräte sind aus dem Stadtrat entsandte Ratsmitglieder eingebunden, die auch über ein Stimmrecht verfügen; insofern wird hier das Prinzip der deskriptiven Repräsentation bereits wieder relativiert. Bausch zeigt, dass diese inklusiv gedachten Repräsentationsgremien, in denen die Minderheitenperspektiven von Migranten qua institutionalisierter Gruppenvertretung positiv diskriminiert werden, aus der Sicht der Betroffenen ebenfalls die paradoxe Form der exkludierenden Inklusion annehmen können: Gerade der Einschlussversuch produziert Ausschlüsse. Drei Formen lassen sich unterscheiden. Erstens der Ausschluss von Migrantenvertretern innerhalb der Gremien durch die Verwehrung von Anerkennung als
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gleichberechtigte Akteure durch Politik und Verwaltung, zweitens die unzulängliche Einbeziehung in Entscheidungsprozesse des übergeordneten Gremiums, d. h. des jeweiligen Stadtrates, was gleichbedeutend ist mit einem Ausschluss aus substanzieller Repräsentation, und drittens die Exklusion von Subgruppen, d. h. im Falle der klassischen Ausländerbeiräte aller Migrantinnen und Migranten, die die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben, und bei beiden Gremien jener Teile der Migrantenbevölkerung, die sich ohne Zugehörigkeit zu einer organisierten Migrantengruppe von Gremien der Migrantenselbstrepräsentation, die durch solche (v. a. ethnischen) Gruppen dominiert werden, nicht repräsentiert sehen. Ob die Beiräte deswegen nur eine symbolische Repräsentation leisten, bleibt dahingestellt. Jedenfalls aber zeigen sich sehr deutlich strukturell bedingte Exklusionseffekte neuerer, vermeintlich inklusiver Repräsentationsformen und es wird, wie im Falle der von Thaa/Linden angesprochenen expertokratischen Gremien, deutlich, dass die exkludierenden Wirkungen gegenüber unterschiedlichen sozialen Gruppen höchst unterschiedlich ausfallen. Die Wiederkehr der sozialen Frage in der Bundesrepublik hat auch zu einem ›armutspolitischen Wettbewerb‹ der Parteien geführt, den Timo Frankenhauser und Simon Stratmann in ihrem Beitrag Armutspolitische Konvergenz und Divergenz im Parteienwettbewerb am Beispiel des Bundestagswahlkampfes 2009 untersuchen. Mit Armutspolitik ist dabei nicht Sozialpolitik im weiteren Sinne gemeint, sondern jenes Maßnahmenbündel, das ins Spiel gebracht wird, wenn die soziale Situation Einzelner oder von Gruppen so schlecht ist, dass sie gesellschaftlich als nicht mehr erträglich definiert wird. Konkret werden die armutspolitischen Semantiken der Parteien deshalb zum einen auf die drei Politikbereiche Grundsicherung, steuerfinanzierte Transferleistungen und Arbeitsmarktpolitik sowie zum anderen auf die Frage hin untersucht, welche Lebensbedingungen als veränderungsbedürftig qualifiziert werden. Auf diese Weise wird, im Anschluss vor allem an Kronauer, das sozialwissenschaftliche Exklusionskonzept zum Analyseinstrument der Parteienforschung. Dabei zeigen sich Konfliktlinien und Veränderungsdynamiken, die sich idealtypisch nach zwei unterschiedlichen Inklusionsmodi, Markt und Staat sowie ihnen zugeordnete, moralisch – nämlich egalitär oder meritokratisch – argumentierende Deutungsmuster, unterscheiden lassen: Die Positionen variieren zwischen einer Affirmation sozialer Bürgerrechte als eigenständigem Inklusionsmodus – verbunden mit einem hohen politischen Steuerungsanspruch – und einer Einschränkung sozialer Bürgerrechte durch einseitige materielle und/oder rechtliche Sanktionsdrohungen, welche die Exklusion bestimmter Gruppen (›nicht arbeitswillige Erwerbsfähige‹) zumindest in Kauf nimmt.
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Eine vergleichsweise junge Form, kommunikative Anschlussfähigkeit sogenannter schwacher Interessen zu erreichen, ist das seit 1999 immer wieder neu aufgelegte Bund-Länder-Programm »Soziale Stadt«. Es ist ein Versuch, die Handlungsfähigkeit der Kommunen in einem Bereich zu vergrößern, in dem sie kaum welche haben, jedoch dringend einen benötigen: der Armutspolitik. Ziel des Programms ist es, durch die Einbindung von politischen Akteuren, Ortsbeiräten, lokalen NGOs als Repräsentanten Betroffener und die Beteiligung der Bewohner ein integriertes Entwicklungskonzept für einzelne Stadtteile zu erarbeiten, das Inklusion bewirken und städtischer Segregation entgegenwirken soll. Isabelle Borucki untersucht in ihrem Beitrag Inklusion und Exklusion im städtischen Raum die Umsetzung dieses Programms am Beispiel der Städte Trier und Jena. Im Mittelpunkt stehen dabei die Netzwerke von Parteienvertretern und Trägern der Wohlfahrtspflege. Über diese Strukturen findet die Kommunikation über Armutspolitik auf kommunaler Ebene statt, beraten und entschieden wird auf Stadtteil- und Stadtebene, die »Soziale Stadt« fungiert dabei als Bündelung von Inklusionsmaßnahmen zur Pufferung insbesondere von Quartierstypeneffekten. Borucki, die methodisch Kronauer und Luhmann zusammenführt, zeigt, dass sich durch die wechselseitige Verstärkung unterschiedlicher an Armutsbekämpfung beteiligter Funktionssysteme ein ›sekundäres Funktionssystem‹ (Luhmann) herausgebildet hat, das seine empirische Entsprechung in den konkreten Programmen zur »Sozialen Stadt« findet. Dieses sekundäre Funktionssystem hat spezifische Formen und Logiken. Seine Funktion ist die einer sekundären Inklusion, die die primäre Inklusion (hier bezogen auf Arbeit, gesellschaftliche Teilhabe und Teilnahme am lokalen öffentlichen Leben) erst ermöglicht. Die systemtheoretische Perspektive trägt hier nicht nur zur Analyse der Kommunikationen und Semantiken sowie der vielfältigen Einschlüsse und Ausschlüsse der von Armut Betroffenen bei, sondern auch zur Beschreibung eines Systems der sozialen Hilfe, wie es sich im Programm der »Sozialen Stadt« verkörpert, als ein neues, sekundäres Funktionssystem. Wie die politikwissenschaftlichen Beiträge zeigen, lässt sich auch und gerade unter der Voraussetzung eines normativen Politikbegriffs sinnvoll mit dem Analyseinstrument Inklusion/Exklusion arbeiten, und zwar in zentralen Bereichen, denn um solche handelt es sich bei der politischen Repräsentation im Rahmen einer pluralistisch verstandenen politischen Integration demokratischer Gemeinwesen (Thaa/Linden, Bausch), dem Ausbalancieren der Ansprüche an ›Verteilungsgerechtigkeit‹ und Sozialstaatsgebot (Frankenhauser/Stratmann) und der Wahrnehmung armutspolitischer Belange auf kommunaler Ebene (Borucki) zweifellos.
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Man könnte freilich (gerade im Anschluss an den Beitrag von Borucki) diese Befunde einer an Integration orientierten Politikwissenschaft noch einmal an die Systemtheorie zurückspielen und fragen, welche Erklärungsmodelle sie für die genannten Exklusionseffekte im Bereich politischer Repräsentation der Interessen von Armen und Fremden hat. Hier ließe sich ein strukturelles Argument stark machen. Politische Argumentations- und Handlungszwänge resultieren in systemtheoretischer Perspektive aus der generalisierten Inklusionssemantik: Diese lässt sichtbare Exklusionen und erst recht ihre Kopplungen hochgradig begründungsbedürftig erscheinen und besteht auf Interdependenzunterbrechungen. Die Politik besitzt zwar – aufgrund der strukturellen Kopplung – Möglichkeiten, andere Systeme zu irritieren: Sie kann über den Erlass von Gesetzen oder den staatlichen Haushalt die Rahmenbedingungen regulieren. Allerdings kann sie, wie schon im Falle der Raumordnungsprogramme zu beobachten war, nicht in anderen Funktionssystemen operieren. Vieles spricht dafür, dass sich ein sekundäres Funktionssystem ›Soziale Hilfe‹ herausgebildet hat, dessen Kommunikationen sich auf ungelöste Exklusionsprobleme aller Funktionssysteme beziehen. Schon Luhmann hat auf die Möglichkeit hingewiesen, »daß sich ein neues, sekundäres Funktionssystem bildet, das sich mit den Exklusionsfolgen funktionaler Differenzierung befasst – sei es auf der Ebene der Sozialhilfe, sei es auf der Ebene der Entwicklungshilfe.«38 Das System der sozialen Hilfe hat Dirk Baecker näher beschrieben.39 Es kann nur entweder Helfen oder Nichthelfen. Über andere Möglichkeiten verfügt es nicht. Es ist auf genau dieser Ebene frei von aller Codierung durch Zahlung, Macht oder Ohnmacht, [. . .] die jedoch auf der Ebene der Programmierung des Systems, also auf der Ebene der Frage danach, wie richtig zu helfen oder nicht zu helfen ist, ins Spiel kommen und auf dieser Ebene untereinander konkurrieren, weil sie auf dieser Ebene miteinander verglichen werden können.40
Von hier aus betrachtet, lassen sich die armutsbezogenen Kommunikationen in Parteiprogrammen und Presseerklärungen als Kommunikationen im Funktionssystem ›Soziale Hilfe‹ verstehen, weil sie über ›hilfreiche Hilfe‹ – im Sinne von Abhilfe im Falle vielfacher und dauerhafter Exklusionen – deliberieren. Auch sozialpolitische Vorhaben wie das der »Sozialen Stadt« verlagern Exklusionsprobleme, die nicht in den primären Funktionssystemen gelöst werden konnten, in das sekundäre Funktionssystem ›Soziale 38 Luhmann, Inklusion (GdG) (wie Anm. 12), S. 623. 39 Baecker, Dirk: Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft. In: Zeitschrift für Soziologie 23 (1994) 2, S. 93–110. 40 Baecker, Soziale Hilfe (wie Anm. 39), S. 105.
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Hilfe‹, dessen Kommunikationen von politischen Akteuren, aber auch von Interessensverbänden geführt werden. Im Falle der prekären Inklusion von Migranten in Politik zeigt sich eine andere Spielart der Verlagerung von Exklusionsproblemen: Die Inklusion wird an die häufig an der Peripherie des Funktionssystems Politik angesiedelten Organisationen der Ausländerbeiräte und Integrationsräte delegiert. Organisationen – die in der funktional differenzierten Gesellschaft im Regelfall (anders als die Funktionssysteme) exkludieren, indem sie ihre Mitglieder nach bestimmten Kriterien selegieren – versehen politische Kommunikationen von Migranten- und Ausländerbeiräten mit einer semantischen Zusatzmarkierung, die exkludierende Effekte nach sich zieht. In all diesen Fällen werden in den Funktionssystemen bislang nach wie vor ungelöste Exklusionsprobleme von Armen und Fremden offenbar.
2.3 Ethnologie Die großen historischen Globalisierungsschübe sind stets einhergegangen mit Veränderungen der Möglichkeiten und Formen der Identitätsbildung von Einzelnen und Gruppen. Gegenwärtig scheinen mehr und mehr hybride Konstruktionen die Regel zu werden, und zwar solche, die von den Betroffenen immer weniger nur als Schicksal erlitten, sondern zunehmend häufiger als Chance begriffen und genutzt werden. In diesem Kontext ist die Fallstudie von Anett Schmitz Multiple Inklusionen von ›Russlanddeutschen‹: Transmigration als Karriere angesiedelt, in der es um junge bildungserfolgreiche Migranten geht, deren Lebensentwürfe einen dezidiert transnationalen, d. h. Herkunfts- wie Ankunftsland einbeziehenden Charakter haben. In systemtheoretischer Sicht besteht die Differenz zwischen vormoderner und moderner Arbeit am Selbst bekanntlich vor allem darin, dass in vormodernen Gesellschaften der Einzelne als ›ganzer Mensch‹ Teil der Gesellschaft war, weil sein Platz in der Gesellschaft seine Identität sehr stark bestimmt hat, während das ›Individuum‹ in der Moderne außerhalb der Gesellschaft verortet ist und sich als Person in die einzelnen Funktionssysteme inkludieren lassen muss.41 Das ist, wie Alois Hahn hervorgehoben hat, eine grundlegend neue Situation:
41 Anders als in stratifizierten Gesellschaften kann eine Person nun jedoch nicht mehr in nur ein System inkludiert sein. Es gibt nicht die Politiker, die Erzieher, die Wissenschaftler, sondern jede Person muss sich in (nahezu) alle Funktionssysteme inkludieren.
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Herbert Uerlings · Iulia-Karin Patrut Einerseits ermöglicht die Moderne Personenbildungsprozesse und Individualisierungen in einem vorher unmöglichen, ja unvorstellbaren Ausmaß. Der Preis dafür (der gleichzeitig Möglichkeitsbedingung ist) ist aber die Unmöglichkeit, diese einzigartige Individualität als ganze zum Teil eines sozialen Systems zu machen, sie als ganze zu inkludieren, es sei denn auf dem Wege einer funktionsfähigen Fiktion. Die nationale Identifikation hat überall in Europa diese Rolle gespielt und spielt sie noch.42
Folglich sieht sich das Individuum in der Moderne vor der Situation, seine individuelle Identität teilweise selbst herstellen zu müssen, teilweise aber auch als kontingente Rahmenbestimmung zu erfahren. Das Selbstkonzept, also das mehr oder weniger bewusste (aber verlässlich identische) Bild, das ein Individuum von sich selbst anfertigen muss, um gesellschaftlich kommunizieren zu können, muss dann in Abstimmung mit den jeweiligen aktuellen Inklusionen entstehen und lässt sich durch selbstangestoßene Inbzw. Exklusionen verändern. Eine mögliche Art, ein solches Selbstkonzept zu bilden, ist das, was Luhmann ›Karriere‹ genannt hat: Das Lebensschicksal ist jetzt nicht mehr ein Problem der Selbsterhaltung gegen äußere, unter anderem soziale Gefährdungen. Es muß auf Sukzession von selektiven Ereignissen umgedacht werden, die jeweils (aber mit unterschiedlicher Gewichtsverteilung) Selbstselektion und Fremdselektion kombinieren. Das dafür gültige Zeitmodell nennen wir Karriere.43
Geht man mit Luhmann davon aus, dass die Karriere »eine Semantik von Leistung mit dem Differenzschema Erfolg/Misserfolg und entsprechende Zurechnungsverfahren auf interne und externe Ursachen«44 produziert, dann kann, wie Schmitz zeigt, der Lebensentwurf der bildungserfolgreichen ›Russlanddeutschen‹ als spezifisch modernes Phänomen bewertet werden: Das Individuum der funktional differenzierten Gesellschaft ist zum einen Möglichkeitsbedingung, zum anderen wird die besondere Situation ganz konkret Ausgangspunkt der individuellen Karriere, indem Chancen und Aufgaben dazu motivieren, das Selbstkonzept als russlanddeutsche Karriere zu begreifen, also »Glück (in der Form begünstigender Konstellationen) und Leistung«45 als kontingente Selektionen zu fassen, denn »[a]lle Karriereereignisse sind kontingente Selektionen weiterer Selektionen[,]«46 oder wie Schmitz in Anschluss an Paul Mercheril formuliert: »[Der] ›prekäre‹ Status 42 Hahn, Exklusion und die Konstruktion (wie Anm. 3), S. 95. 43 Luhmann, Niklas: Individuum, Individualität, Individualismus. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1993, S. 149–258, hier S. 232. 44 Luhmann, Individuum (wie Anm. 43), S. 236. 45 Luhmann, Individuum (wie Anm. 43), S. 234. 46 Luhmann, Individuum (wie Anm. 43), S. 233.
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gerade von Bildungserfolgreichen [wird] in vielfältiger Weise durch [...] Selbstkultivierung produktiv bewältigt.«47 Diese als ›Karriere‹ verstandenen Selbstkonzepte, die kontingente Ausgangslage und willentliche Arbeit am Selbst zusammendenken, prägen auch den Umgang mit der semantischen Fiktion der ›Nation‹ (Hahn), und zwar in beiderlei Hinsicht. An den ›Karrieren‹ der russlanddeutschen Transmigranten zeigt sich, dass aus der einmal erfahrenen Exklusion aus der Herkunftsnation im Zuge der Selbst- und Fremdselektionen, die das moderne Individuum ausmachen, durchaus Chancen multipler Inklusionen resultieren. Es zeigt sich aber auch, dass die Semantik der Nation in den meisten Fällen nicht verabschiedet wird, sondern – sei es als Mangel, sei es als Semantik der ›multiplen Inklusion‹ oder verlagert auf das Konzept ›Europa‹ – weiterhin in die individuellen Karriere-Entwürfe einfließt. Während ›Hybridität‹, ›Transmigration‹ und ähnliche in der Globalisierungsdiskussion und den Postcolonial Studies virulente Konzepte für sich genommen über das Gelingen oder Scheitern von Individualität i.S. eines Selbstkonzeptes noch nichts aussagen, wäre ›Karriere‹ der Name für jenes Selbstkonzept, in dem die Transmigration zur ›beheimatenden‹ Semantik (Schönhuth) wird.48 2.4 Literaturwissenschaft Mit der Literatur gerät im letzten Teil dieses Bandes die Kunst in den Blick und damit ein Medium der Sinnprozessierung, das es erlaubt, Diskurse nicht nur fortzusetzen, sondern sie auch in spezifischer Weise zu beobachten.49 Zwar ist die Kunst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein operativ geschlossenes Funktionssystem, das im Medium Sinn operiert. Allerdings ist sie, im Unterschied zu allen sinnprozessierenden Systemen, nicht darauf angewiesen, an der Funktionalität der Semantiken in Bezug auf Ereignisse des Handelns und Erlebens festzuhalten. Vielmehr besteht die 47 Zit. n. dem Beitrag von Anett Schmitz in diesem Band. 48 Vgl. Schönhuth, Michael: Heimat? Ethnische Identität und Beheimatungsstrategien einer entbetteten Volksgruppe im transnationalen Raum. In: Ipsen-Peitzmeier, Sabine / Kaiser, Markus (Hg.): Zuhause fremd – Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland. Bielefeld 2006, S. 365–380. 49 Zur Inklusion / Exklusion und bildender Kunst vgl. Bell, Peter [u. a.] (Hg.): Fremde in der Stadt. Ordnungen, Repräsentationen und Praktiken (13.–15. Jahrhundert) (Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 16). Frankfurt a. M. 2010; sowie Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, hg. v. Herbert Uerlings [u. a.]. Ausst.-Kat. Stadtmuseum Simeonstift Trier und Rheinisches Landesmuseum Trier. Darmstadt 2011.
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spezifisch künstlerische Sinnprozessierung gerade darin, dass im Kunstwerk selbst Ordnungszwänge aufgebaut werden, deren Stimmigkeit sich ebenso wie auch das »Neue, Überraschende«50 aus der Binnenlogik der dargestellten Unterscheidungen ergibt. Beides verweist – wenn überhaupt – nur als Beobachtung (mindestens) zweiter Ordnung auf die in anderen Systemen prozessierten ›gepflegten Semantiken‹. In diesem Sinne lassen sich insbesondere literarische Kunstwerke als Entfaltungen von Paradoxien verstehen, in denen »der blinde Fleck vorausgesetzt ist, der alles Unterscheiden, also alles Beobachten erst ermöglicht«.51 Vorausgesetzte (paradoxe) Einheiten der Unterscheidungen sind im Kunstwerk als solche erkennbar; dies bedeutet aber auch, dass die Werke keineswegs beliebig sind, sondern sich die darin beobachteten Sinn-Formen in der Meta-Form der Gesamttextlogik gegen die eigene Kontingenz durchsetzen müssen und (die ›doppelte Rahmung‹ aller künstlerischen Kommunikation immer vorausgesetzt) ›Welt‹ zu verstehen geben: Das Kunstwerk ist danach alles andere als ein ›Selbstzweck‹. Es erbringt freilich auch keine Dienstleistung [. . .]. Es fixiert die Formen, an denen ein Doppeltes beobachtbar wird: daß (1) Unterscheidungen Bezeichnungen ermöglichen, die zu anderen Unterscheidungen und Bezeichnungen in ein Spiel nichtbeliebiger Kombination treten; und daß (2), wenn dies evident wird, zugleich evident wird, daß diese Ordnung Information enthält, die mitgeteilt werden soll, also zu verstehen ist.52
In Bezug auf Inklusion/Exklusion ist dabei von Belang, dass sich Kunstwerke um die Repräsentation der Einheit der Differenz insbesondere »durch ein ästhetisches Wiedereinbringen des Ausgeschlossenen in den Inklusionsbereich«53 bemühen können. Darin liegt die Chance einer literatur- bzw. kunstspezifischen Reflektion von Gesellschaft, die sie zeigt als »ein System, das seine Negation enthält, indem es Inklusion und Exklusion [...] reproduziert.«54 Alle drei literaturwissenschaftlichen Beiträge schließen an diese Funktionsbestimmung an. Des Weiteren ist ihnen gemeinsam, dass sie nach den Möglichkeiten und Grenzen ästhetischer Repräsentation von Minoritäten und deren Zusammenhang mit der Selbstbeschreibung fragen. Sie tun dies im Blick auf die beiden Gruppen interner Fremder, die in der deutschen Geschichte Opfer radikaler Exklusion geworden sind: Juden und ›Zigeuner‹. Daraus ergibt sich die besondere Brisanz der Kernfrage, ob durch antisemitische oder antizigane Exklusionen erzeugte Eigenwerte der Selbstbeschreibung dekonstruiert oder fortgeschrieben werden. 50 51 52 53 54
Luhmann, Luhmann, Luhmann, Luhmann, Luhmann,
Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1995, S. 56. Die Kunst (wie Anm. 50), S. 57. Die Kunst (wie Anm. 50), S. 89. Die Kunst (wie Anm. 50), S. 476 f. Die Kunst (wie Anm. 50), S. 477.
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Nike Thurn thematisiert in ihrem Beitrag Inklusion und Exklusion als Bausteine einer literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung jene Differenzmarkierungen, die in loser oder stabiler Weise dem ›Jüdischen‹ als einem Anderen zugeordnet werden und dadurch Minoritäten im Rahmen eines intrikaten Inklusions-/Exklusionsverhältnisses semantisieren. Die literarischen Auseinandersetzungen damit reichen von der Plausibilisierung der ›virtualen sozialen Identität‹ (Goffman) des ›Juden‹ im Sinne radikaler Differenz wie z. B. in Gustav Freytags Soll und Haben bis zu Texten, die dies dekonstruieren, indem sie die Beliebigkeit einer solchen Zeichenzirkulation vor Augen führen und ein solches ›Jüdisches‹ als Maskerade enttarnen wie etwa Lessings Die Juden oder Edgar Hilsenraths Der Nazi und der Friseur: ein satirisches Spiel mit der Umkehr von Prestige und Stigma, nachdem die Exkludierten die Vernichtung überlebt haben, und mit der Persistenz antisemitischer Rasse-Stereotype in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Hinter die Bandbreite des literarischen Umgangs mit dem Phänomen fällt, so der Befund von Thurn, die literaturwissenschaftliche Forschung derzeit noch zurück. Trotz zwischenzeitlich erfolgter Einbeziehung von Bausteinen der historischen Diskursanalyse oder des New Historicism gebe es noch kein Instrumentarium, das wirklich hinreiche, »die Diskursregeln antijüdischer Repräsentationen in unterschiedlichen historischen Konstellationen fassbar zu machen« (zit. n. Thurn in diesem Band). Damit sind insbesondere antisemitische Konstruktionen des Jüdischen als eines Anderen (nicht eines ›Fremden‹) gemeint, d. h. als eines ausgeschlossenen ›Dritten‹, dessen wesentliche Eigenschaft es ist, keine zu haben: weder In- noch Ausländer, weder eigene noch fremde Nation zu sein etc.55 Im Blick auf eine angemessene kulturwissenschaftliche Theorie der Exklusion/Inklusion von Minoritäten werden verschiedene Modelle vor allem aus der Soziologie und den Postcolonial Studies diskutiert, die dazu beitragen können, jenes ›Kippbild‹ des asymmetrisch konstruierten Anderen, der für die Beglaubigung der je eigenen Unterscheidungen unvermeidlich ist, im Spannungsfeld konkreter Machtbeziehungen zu analysieren. Von besonderem Interesse ist dabei Luhmanns Begriff der ›Form‹, den er im Anschluss an George Spencer Brown entwickelt hat und den, woran Thurn erinnert, bereits Klaus Holz in die Antisemitismusforschung einzubringen versucht hat. Dass der systemtheoretische Begriff der Form eine Schlüsselrolle spielen kann, liegt auf der Hand, weil er die Einheit der Differenz 55 Vgl. Eßlinger, Eva [u. a.] (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Frankfurt a. M. 2010.
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(von Arier/Semit, Freund/Feind etc.) zum Thema macht: »Jede Unterscheidung ist zugleich die Unterscheidung von marked und unmarked space.«56 Indem man die Unterscheidung trifft, kann man die Einheit der Unterscheidung nicht denken. Die Einheit der Unterscheidung und der blinde Fleck der Beobachtung korrespondieren also und befinden sich im Exklusionsbereich des Sinns, der mittels einer Form beobachtet (und damit hergestellt) wird. Das ausgeschlossene Dritte ist demnach nicht das ›Jüdische‹, sondern die Selbstreferenz, die Außenseite einer Selbstbeschreibung (eigene/fremde Nation vs. jüdische Nicht-Nation). Der ›Jude‹ wird also zum konstitutiven Fremdbild der Selbstkonstruktion, zur Außenseite der Form selbst/nichtselbst. Das ist gemeint mit Luhmanns Formbegriff: »Wir erinnern uns: es kann keine Selbstreferenz ohne Fremdreferenz geben, denn wie sollte das Selbst bezeichnet werden, wenn es nichts ausschließt.«57 Thurn schließt an dieses Konzept der Selbstbeschreibung durch Fremdbeschreibung an, indem sie feststellt, »[d]ass die [...] ›normstabilisierende‹, die eigene ›WirGruppe‹ [. ..] affirmierende Funktion ein maßgebliches Ziel und Charakteristikum (nicht nur literarischer) antisemitischer Texte darstellt«.58 Geht man also mit Luhmann davon aus, dass nicht der Jude sondern der deutsche Beobachter in der antisemitischen Literatur das ausgeschlossene Dritte ist, so ließe sich ein Text immer dann als antisemitisch beurteilen, wenn das deutsche Selbstbild zum Eigenwert der Beobachtung wird, indem es sich selbst durch ausschließenden Bezug auf das Jüdische stabilisiert. Es wäre dann ein Einzelfall der von Luhmann allgemein auf moderne Literatur bezogenen Operationsweise: Unsere Analysen legen die Annahme nahe, daß die moderne Gesellschaft mit dieser Technik des Beobachtens des Nichtbeobachtenkönnens das Paradox des Beobachters als des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten nachvollzieht. Das zwingt dann aber das Beobachten des Beobachtens zum autologischen Schluß auf sich selbst und zum Paradox als Abschlußgedanken: Der Beobachter ist das Unbeobachtbare. Das führt jedoch nicht zur Verzweiflung. Im autopoietischen System gibt es keinen Abschluß, weder Anfang noch Ende. Jedes Ende ist Anfang. Das Paradox löst sich damit in Zeit auf. Das System versetzt damit das, was als Gegenstand nicht beobachtbar ist, in Operation. Und wenn dies geschieht und wenn solche Beobachtungsoperationen immer wieder auf ihre eigenen Resultate angewandt werden, könnte es sein, daß das im Ergebnis zu stabilen ›Eigenwerten‹ führt, das heißt, zu einer Semantik, die dies aushält und deshalb bevorzugt wird.59 56 Luhmann, Die Kunst (wie Anm. 50), S. 54. Ob die Adaption von Holz der eigentlichen Pointe von Luhmanns (und Browns) Form-Begriff ganz gerecht wird, sei dahingestellt. 57 Luhmann, Die Kunst (wie Anm. 50), S. 271. 58 Zit. n. dem Beitrag von Nike Thurn in diesem Band.
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Bezogen auf die literaturwissenschaftliche Antisemitismusforschung und ihr Anliegen, die blinden Flecken des Beobachtungsregimes zu identifizieren, ergibt sich: »Die entscheidende Frage jeglicher Analyse literarischer Texte muss daher darum kreisen, ob die vom Text durch die Repräsentation eröffneten Assoziationsräume beherrscht werden – oder ob der Text im Gegenteil von ihnen beherrscht wird.«60 Iulia-Karin Patruts und Dominik Zinks Beitrag Kafka beobachtet Buber greift diese theoretisch-methodischen Überlegungen auf und signalisiert schon mit dem Titel das Ergebnis: Bei Kafkas Erzählfragment Beim Bau der chinesischen Mauer handelt es sich um eine ›Beobachtung‹ von Bubers religiöser Selbstbeschreibung. Sie nutzt intensiv das spezifische Potential einer Beobachtung durch die Kunst: Kafkas literarischer Text inszeniert Bubers politisch-religiösen Zionismus so, dass dessen verdeckte Paradoxien zum Vorschein gebracht werden. Dass Kafka Vorträge Bubers gehört hat, zahlreiche seiner Veröffentlichungen gelesen und in seiner Zeitschrift Der Jude Erzählungen (darunter Schakale und Araber ) veröffentlicht hat, ist bekannt – umso erstaunlicher ist es, dass die von Patrut/Zink aufgezeigte ironische Kommentierung Bubers in Beim Bau der chinesischen Mauer der Forschung bislang entgangen ist. Sie erfolgt nicht punktuell, sondern in Form von Analogiebildungen ziemlich durchgängig und erweist sich damit nicht nur als thematischer roter Faden, sondern aus ihr ergeben sich auch Strukturprinzipien des literarischen Textes wie die zeitliche Zäsur, die Inversion der Chronologie, die am Modell von Zentrum und Peripherie orientierte Raumgestaltung und die auf Vermittlung von Immanenz und Transzendenz zielende Rhetorik. Die zentrale Analogie ist die zwischen dem Mauerbau und Bubers Forderung nach religiöser Erneuerung des Judentums durch die ›gestaltende Tat‹. Diese ›Tat‹ macht von Voraussetzungen Gebrauch, die sie selbst nicht garantieren kann: Was Ausweis von unmittelbarem Gottbezug, von Spontaneität des Absoluten (etc.) sein und alles falsche Propheten- und Gelehrtentum hinwegfegen soll, muss seinerseits durch Wissenschaft, Nationalerziehung und Kolonisation erst hervorgebracht werden. Eben hier setzt Kafkas ironisch-komische, aber auch unbeirrte Dekonstruktion an. 59 Vgl. das Kapitel »Die Paradoxie der Identität und ihre Entfaltung durch Unterscheidungen« in Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 12), S. 1061–1082, hier S. 1081 f. Luhmann fasst an dieser Stelle den Begriff der Literatur sehr weit, indem er Schlegel, Marx, Hegel und Freud dazurechnet, wobei er die Texte auf ihre Literarizität hin beurteilt, so schreibt er, Hegels Philosophie sei »der Roman der Liebe zwischen Weltgeschichte und Philosophie« (ebd., S. 1081). 60 Zit. n. dem Beitrag von Nike Thurn in diesem Band.
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Kunstvoll und virtuos demonstriert Kafka, dass seinem Erzähler, einem alter ego Bubers, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz die Einheit des Werks (i. e. der Mauer, die ja Stückwerk bleibt) so verborgen bleibt wie die Einheit des Sinns, der sich darin verwirklichen soll. Noch der Gestus, mit dem der Erzähler die Paradoxien, auf die er stößt, mit Verweis auf die ›Führerschaft‹ abtut, zitiert Bubers Umgang mit religiösen Autoritäten und seinen Duktus. Hier kehrt die Figur der Beobachtung der Beobachtung im Text wieder: Der Erzähler beobachtet eine Beobachterposition (die Führerschaft), von der nichts gewusst werden kann, außer dass ihre Anweisungen richtig sind. »Das ist, wenn man daran glaubt, tautologisch und wenn man nicht daran glaubt, paradox.«61 Kafka glaubt nicht: Die literarische ReInszenierung macht aus Bubers zionistischer Verknüpfung von Religion und Politik ein unmögliches Inklusionsangebot. Patrut/Zink zeigen damit, was Literatur als Kunst bei Kafka bedeutet: Form und Gehalt des Werkes sind so dicht miteinander verfugt, dass das Thema und die Poetik wechselseitig und gewissermaßen ›ausweglos‹ aufeinander verweisen und das intrikate Verhältnis von Inklusion/Exklusion im blinden Fleck der Selbstbeobachtung das allgegenwärtige Zentrum der Erzählung bildet. Um diesen blinden Fleck der Selbstbeobachtung geht es auch im letzten Beitrag des vorliegenden Bandes von Herbert Uerlings über die Memoria des Porrajmos, des Völkermords an den europäischen Sinti und Roma: Erinnerndes Vergessen. Untersucht werden das von Dani Karavan entworfene Berliner Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma, Richard Wagners Roman Das reiche Mädchen (2007) und das von Martin Walser gemeinsam mit Asta Scheib verfasste Drehbuch zu der Tatort-Folge Armer Nanosh (1989) sowie die Verfilmung selbst. In allen Fällen entstehen Erinnerungsräume, in denen Porrajmos und Holocaust und damit Juden, ›Zigeuner‹ und Deutsche zueinander in Beziehung gesetzt werden – in denen es aber auch ein und denselben blinden Fleck in der memorialen Selbstbeobachtung gibt. Das kollektive Gedächtnis des Porrajmos erweist sich also als komplexe Gemengelage von Inklusionen und Exklusionen. Betroffenen-Verbänden und Bürgerrechtsbewegungen ist es zwar gelungen, Begleitsemantiken, die auf eine geteilte Geschichte und damit auch auf memoriale Inklusion zielten, zu entwickeln und in die Funktionssysteme Recht und Politik zu transportieren und dadurch eine Bekräftigung und Neuregelung der Zugehörigkeit (Anerkennung als Opfer der NS-Verfolgung und als autochthone 61 Zit. n. dem Beitrag von Iulia-Karin Patrut und Dominik Zink in diesem Band.
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Minderheit) zu erreichen. Dennoch wiederholt sich in den Erinnerungsräumen des kollektiven Gedächtnisses, was doch vergessen werden sollte, weil es der Grund für die radikale Exklusion war: der Kern der negativen Fremdbezeichnung, das Stigma der Asozialität. Bei Wagner und Walser/ Scheib verbindet sich dieses Stigma außerdem mit einem Schuldabwehrantiziganismus im Rahmen der Imagination einer homogenen deutschen Nation, sodass auch hier die fortdauernde Bedeutung dieser Leitsemantik zu beobachten ist. Erinnerndes Vergessen – so kann man den Effekt nennen, der in allen drei Erinnerungsräumen entsteht. Erinnerndes Vergessen ist die memoriale Variante inkludierender Exklusion. Sie wird hier – anders als bei Kafka – durch die ästhetische Repräsentation nicht dekonstruiert, sondern allererst performativ hervorgebracht. Die literaturwissenschaftlichen Beiträge im vorliegenden Band demonstrieren damit am Beispiel der ästhetischen Repräsentation von Minoritäten, dass und wie das Konzept Inklusion/Exklusion auf zwei (eng miteinander verbundenen) Ebenen fruchtbar gemacht werden kann: Als Frage nach dem ausgeschlossenen Dritten führt es auf die spezifische Differenz der Kunst gegenüber allen anderen Funktionssystemen und zeigt deren Potential; als Frage danach, ob und wie dieses Potential genutzt wird, erlaubt es Aussagen darüber, wie sich ästhetische Repräsentationen zu konkreten Dispositiven und Diskursformationen sowie den ihnen eingeschriebenen Machtasymmetrien verhalten. 3. Resümee: Leistungen des Inklusion/Exklusionsbegriffs – Fragen an die Systemtheorie Der vorliegende Band ist ein Versuch, das Konzept Inklusion/Exklusion als kulturwissenschaftliches Analyseinstrument zu profilieren, indem theoretische Überlegungen und materialreiche Untersuchungen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammengeführt werden. Den Prüfstein bildet die Frage nach dem Ein- und Ausschluss von Armen und Fremden in europäischen Gesellschaften von der Antike bis zur Gegenwart. Diese beiden Gruppen eignen sich in besonderer Weise als Untersuchungsgegenstand, weil sie besonders empfindlich gegenüber Änderungen des Inklusions-/Exklusionsregimes sind: Sie wurden und werden häufig exkludiert und selbst einmal erfolgte Inklusionen bleiben oftmals prekär und werden mitunter später revidiert. Die Arbeit mit und an Luhmanns Konzept von Inklusion/Exklusion hat Ergebnisse auf beiden Ebenen gebracht: Zum einen gibt es eine – hier nicht zu rekapitulierende – Fülle neuer Erkenntnisse in den einzelnen Fallstudien
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trotz ihrer fachlichen, zeitlichen und räumlichen Heterogenität. Die Erkenntnisse werfen nicht nur ein neues Licht auf die Lage von Armen und Fremden in europäischen Gesellschaften, sondern führen oft auch direkt in zentrale methodische Fragen der Kulturwissenschaften: das Verhältnis von Semantiken und Praktiken, die Konkurrenz von Ordnungsmustern, die Bedeutung von Akteursperspektiven, die Unvermeidlichkeit aporetischer und paradoxer Strukturen, die Figur des Dritten u.a.m. Eine solche Breite und Tiefe sprechen für die Tauglichkeit des Konzepts, und dafür dürfte es im Wesentlichen drei Gründe geben: Die Systemtheorie besitzt (1.) in Form der Theorie gesellschaftlicher Differenzierungsformen eine historische Tiefendimension, die für eine Perspektive von der Antike bis zur Gegenwart fruchtbar gemacht werden kann. Die Systemtheorie stellt (2.) ein differenziertes Instrumentarium zur Analyse von Inklusion/Exklusion bereit. Mit seiner Hilfe lassen sich nicht nur die Gleichzeitigkeit von Inklusionen und Exklusionen und ihr Prozesscharakter sowie daraus sich ergebende Zwischenformen und strukturelle Kopplungen gut beschreiben, sondern es lässt sich auch sehr genau angeben, worin und woraus jeweils inkludiert und exkludiert wird. Das geschieht (3.) innerhalb eines analytisch-deskriptiven, nicht-normativen Theorierahmens. Das eröffnet Anschlussmöglichkeiten, solche mit differenztheoretischen oder genealogischen (i.S. Foucaults) Theorien, aber auch die einer Kombination mit normativen Verfahren wie Ungleichheitstheorien. Die Arbeit mit Luhmanns Konzept der Inklusion/Exklusion hat umgekehrt auch zu einer Arbeit an der Theorie geführt. Geht man von den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Differenzierungsformen aus, könnte man – so der systemtheoretische Vorschlag – auf damit korrelierende Modi der Inklusion/ Exklusion schließen. Der wichtigste Wandel lässt sich daran festmachen, ob Inklusion/Exklusion prinzipiell immer auf den ›ganzen Menschen‹ bezogen ist – so in segmentär oder stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften – oder lediglich auf einzelne Rollen der Person bzw. auf die Adressierbarkeit durch einzelne Funktionssysteme. Den Modi der Inklusion/Exklusion kommt ferner eine sinnstiftende Funktion zu. Wenn in stratifikatorischen Gesellschaften sichtbare, große Gruppen von Bettlern und Vaganten das ›Außen‹ der Gesellschaft im Inneren repräsentieren, wird die Sinnhaftigkeit und Kohäsion des Ordo hergestellt, dem gleichsam sein eigenes Außen vorgehalten wird – und dieses ›Außen im Inneren‹ meint vor allem: der Verstoß gegen das Ordnungsmuster der Sesshaftigkeit sowie ›deviante Armut‹. Auch das Verhältnis zwischen Praktiken und Semantiken wird in stratifikatorischen Gesellschaften komplexer: So werden Juden semantisch im ›Außen‹ der christlichen Herrschaft – dem wichtigsten Ordnungsmuster
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der frühen Neuzeit – verortet, während ihre Anwesenheit und Partizipation an Wirtschaft auf der Ebene der Praktiken über aufwendige und zugleich konfliktanfällige rechtliche Ausnahme-Regelungen (Schutzbriefe) ermöglicht wird. Allgemein konnte gezeigt werden, dass Inklusion in die christliche Herrschaft weiterhin in überraschend hohem Maße segmentär, also über Zugehörigkeit zu christlichen Familien, geregelt wurde – so auch im Falle der konvertierten Juden. Sobald die Systeme (ab der Zeit um 1800) primär nach Funktionen differenziert sind, ändern sich die Regeln der Inklusion/Exklusion insofern grundlegend, als Inklusion grundsätzlich nicht mehr qua Geburt geregelt wird, sondern ein ›Exklusionsindividuum‹ vorliegt, das seine Kommunikationen in alle Funktionssysteme einbringen kann und muss; damit ist Exklusion zeitlich begrenzt und gilt immer nur für ein einzelnes System; zugleich entfallen – jenseits der funktionssystemspezifischen Codes – die Legitimationssemantiken der Exklusion. Problematisch wird nun die Inklusion des ›ganzen Menschen‹ etwa in Armen-, Irren- oder Waisen-Anstalten: Zum einen sind diese Personen nur begrenzt adressierbar (etwa durch Wirtschaft und Politik), zum anderen werden hier über Devianz-Semantiken Grenzen zu einem gesellschaftlichen Außen im Inneren verhandelt. Während diese generellen Befunde sich vielleicht noch mit der von Niklas Luhmann formulierten These, die Regeln der Inklusion/Exklusion seien jeweils durch die primären Differenzierungsformen der Gesellschaft vorgegeben, in Übereinstimmung bringen lassen, erzwingt ein anderes Ergebnis eine Revision theoretischer Vorannahmen: Das Ausmaß der Pluralisierung der Modi und Formen von Inklusion/Exklusion von Armen und Fremden übersteigt den Rahmen, den die systemtheoretische Evolution der Differenzierungsformen bietet, bei weitem. Inklusion/ Exklusion erfolgt keineswegs immer nach den Mustern, die die vorherrschende Differenzierungsform vorgibt. Die Beispiele dafür reichen von der operativen Schließung von ›Politik‹ während der Hochzeit der attischen Demokratie bis hin zur gegenwärtigen prekären Inklusion und politischen Repräsentation von Armen und Migranten, in der stratifikatorische und segmentäre Muster (›nicht einheimische Familien‹) aufscheinen, die mitunter so weit reichen, dass der Code von Politik über Organisationen wie die Ausländerbeiräte gewissermaßen zitiert und zugleich unterlaufen wird. Im Gegensatz dazu überwinden die bildungserfolgreichen russlanddeutschen Transmigranten die Exklusionseffekte von ›Nation‹, indem sie Individual-Biographien als ›Karrieren‹ (Luhmann/Hahn) multipler Inklusion entwerfen. An den untersuchten literarischen Texten zeigte sich, dass sich künstlerische Repräsentationen affirmierend und zugleich reflektierend
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und modifizierend – durchaus bis hin zur Entwicklung von ›preadaptive advances‹ – zum Verhältnis von Inklusion/Exklusion ›interner Fremder‹ zu gesellschaftlichen Strukturen und Leitsemantiken verhalten. Zugleich machen sie anderenorts aus funktionslogischen Gründen invisibilisierte Probleme und Paradoxien des Selbstentwurfs moderner Individuen und der Konstruktion kollektiver Identitäten (und ihrer Inklusions-/Exklusionsmechanismen) sichtbar. Die Inklusion/Exklusion von Fremden und Armen scheint, so die These, selbst gesellschaftliche Strukturen und Semantiken zu modellieren und neue Muster der Öffnung und Schließung zu generieren. Gerade im Umgang mit diesen beiden meist nur prekär inkludierten Gruppen kamen komplexe semantische wie praktische Lagen auf, in denen die Teilsysteme an ihre Grenzen stießen und zur Neuformierung von Strukturen und Semantiken – und somit zur Evolution – angeregt oder gezwungen wurden. Dies stellt insofern eine Modifikation des luhmannschen Modells dar, als sich daraus ergibt, dass Inklusion/Exklusion nicht allein von der jeweils vorherrschenden Differenzierungsform abhängig ist, sondern dass sie auch umgekehrt neue Differenzierungsformen anstieß, also dass sich semantische und strukturelle Innovationen und Evolutionen der Gesellschaft aus der Notwendigkeit der Regelung von Inklusion/Exklusion von Fremden und Armen ergaben. So kamen möglicherweise durch die Inklusion von (fremden) Metöken in peripheren antiken Poleis ›preadaptive advances‹ zustande, die die operative Schließung von Strata und ihre semantische Stabilisierung mittels der Unterscheidung reich/arm begünstigten, während Vorgänge wie die wechselseitige Inklusion von ›fremden Herrschern‹ und ›fremdem Volk‹ in den Südlichen Niederlanden des frühen 18. Jahrhunderts die operative Schließung des Funktionssystems Politik begünstigten. Der übergreifende theoretische Befund – und damit auch die Antwort auf die Frage nach systematischen Verknüpfungen zwischen gesellschaftlichem Wandel und Einschluss/ Ausschluss von Fremden und Armen – lautet dann, dass Inklusion/ Exklusion nicht erst in der funktional differenzierten Weltgesellschaft (wie Luhmann vermutet hat), sondern schon früher die Codes der jeweiligen Systeme zum Medium gemacht und an der Entstehung neuer Strukturen mitgewirkt hat. Das aber bedeutet, dass Inklusion/Exklusion als Verbindung von Psyche und Sozialem konstitutiv für jede Kultur ist und darauf gerichtete Analysen sich auf zentrale, soziostrukturelle und semantische Dimensionen zusammenschließende Operationen beziehen.
Eine Frage der Ehre oder der Abstammung? Inklusion und Exklusion Fremder von Homer bis Perikles
Jörg Erdtmann
Ein wesentliches Charakteristikum der ägäischen Handelszentren der hellenistischen Zeit stellte die Anwesenheit einer hohen Anzahl auswärtiger Fremder dar.1 Es gibt keine relevanten Indizien, die auf irgendeine Form räumlicher oder sozialer Isolation von den Bürgern hinweisen. Ungeachtet dieses Tatbestandes erfuhren Fremde rechtlich, politisch und teilweise auch ökonomisch durch ihren Einwandererstatus generationenübergreifend nur begrenzte Inklusion. In Hinsicht auf die Unterscheidung eines Innen/Außen der Gesellschaft befanden sie sich jedoch zweifellos auf der Innenseite. Da die Teilhabe an Gesellschaft jedoch mit den genannten Einschränkungen verbunden war, liegt es nahe, zu untersuchen, welchem Inklusionsregime sie genau unterlagen, d. h., wo ihre Position innerhalb der Gesellschaft war und welche Differenzmarkierungen für sie relevant waren. Einiges spricht dafür, dass innerhalb der stratifizierten Gesellschaft des 5. Jahrhunderts v. Chr. Elemente segmentärer Differenzierung fortbestanden, und dass damit die Einteilung in familiäre Segmente (altgr. ›oikoi‹) für die Inklusion/ Exklusion von Fremden neben der Schichtzugehörigkeit gewisse Relevanz besaß. Anders als man aufgrund des stark selbstbezogenen und auf Autarkie bedachten Grundcharakters der Poleis annehmen könnte, wohnten dort zahlreiche auswärtige Fremde (Griechen wie Nichtgriechen). Athen etwa hatte schon vor seiner Blütephase im 5. Jahrhundert v. Chr. eine lange Einwanderungstradition. Es ist daher im Kontext der Inklusions-/Exklusionsthematik zu fragen, welche besonderen Modi der Inklusion für Fremde in den verschiedenen Perioden griechischer Geschichte entwickelt wurden und wie die generellen Bedingungen zur Aufnahme von Fremden gestaltet waren. Auch ist zu fragen, ob sich die Einstellung Fremden gegenüber auf die Inklusions-/Exklusionsbedingungen auswirkte und welchen Wandlungen sie unterlag.
1 Rostovtzeff, Michael: Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt. 3 Bde. Darmstadt 1955 (ND Darmstadt 1998), S. 906 und 911–912.
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Gäste, Flüchtlinge, Händler: ein Abriss zum Wandel der Fremdheitswahrnehmung sowie zum Umgang mit auswärtigen Fremden in archaischer Zeit Die Wahrnehmung von Fremdvölkern war im Gange der griechischen Kulturgeschichte uneinheitlich und durchlief während vieler Jahrhunderte signifikante Veränderungen, wobei als gleichbleibende Konstante stets eine große Ambivalenz zwischen Bewunderung und Idealisierung auf der einen sowie Furcht und Geringschätzung auf der anderen Seite bestand. In der späteren Literatur dominiert ein hellenozentrisches Weltbild, das die Gegensätzlichkeit von Griechen und Nichtgriechen akzentuiert. Stark vereinfacht und überspitzt formuliert sowie gewisse philosophische Einzelbetrachtungen weitgehend ausklammernd und damit in etwa späthellenistisch-kaiserzeitlichen Mainstream-Vorstellungen entsprechend sahen die Griechen (und Römer) die eigene, griechische (bzw. römische) Zivilisation sowie die eigenen charakterlichen und physischen Eigenschaften als ideal und maßgeblich an. Für davon abweichende Zustände bei Barbarenvölkern, insbesondere bei jenen an der Peripherie der damals bekannten Welt, wurden bisweilen naturräumliche, klimatische oder auch trophologische Bedingungen als ursächlich wahrgenommen. So sah der um 425 v. Chr. schreibende Herodot in Analogie dazu etwa die naturgegebene Armut des griechischen Landes als anspornende Grundbedingung für dessen Bewohner an, ihre Fähigkeiten zu schärfen und ihre Rechtsordnung und Besonnenheit zu kultivieren, was das quasi ›genuine‹ Freiheits- und Unabhängigkeitsstreben der Griechen erkläre. Unabhängig von dieser Anschauung, aber wohl auf ähnlichen Annahmen fußend, wurden Fremde häufig als Sklavennaturen aufgefasst. Tatsächlich liegen die Anfänge dieses Weltbildes, das einen historisch bedingten Gegensatz zwischen Griechen und Barbaren – besonders gegenüber den als einheitlichen Block wahrgenommenen Orientalen – zur Grundlage hat, jedoch erst im mittleren 5. Jahrhundert v. Chr.; es modifizierte sich dann im Laufe der Zeit zu dem oben Dargelegten. Das seinerzeit so prominente, hellenozentrische Weltbild hing nicht zuletzt mit einem erstarkten, panhellenischen Bewusstsein und einem veränderten Selbstverständnis im Anschluss an die gemeinsam unter athenischer Führung errungenen Siege über die Perser 490/480 v. Chr. zusammen. Es stellt aber nur einen Wegpunkt innerhalb einer sich über Jahrhunderte entwickelnden Auseinandersetzung mit Fremdvölkern dar, die noch im späten 6. Jahrhundert v. Chr. von quasi neutraler, wissenschaftlich anmutender Neugier geprägt war. Von einer Überhöhung des Hellenentums konnte noch keine Rede sein: Angehörige von Fremdethnien begrifflich überhaupt als ›Barbaren‹ zu klassifizieren, etablierte sich als Praxis wohl erstmals während der ab dem 8. Jahrhundert
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v. Chr. einsetzenden ›Großen Kolonisation‹: Jener Auswanderungsbewegung, in der die Griechen rund um das Mittelmeer verstärkt mit indigenen Völkern in direkten nachbarschaftlichen Kontakt kamen, wenngleich intensive wirtschaftliche Verbindungen zu diesen überseeischen Gebieten schon seit vorschriftlicher Zeit bestanden. Die Bezeichnung ›Barbaren‹ für Angehörige von Fremdethnien nahm in gelegentlicher, aber nicht immer abschätziger Weise auf die als unverständlich empfundene Sprache Bezug. Ab dem späteren 5. Jahrhundert v. Chr. dann auch auf die Andersartigkeit der Sitten und die Abwesenheit von griechischer Bildung.2 Noch zu Beginn der griechischen Literaturgeschichte ist in den homerischen Epen, die wohl in der Zeit zwischen dem 9. und 8. Jahrhundert v. Chr. niedergeschrieben wurden, ein Barbarenbegriff späterer Prägung nicht einmal ansatzweise auszumachen. Ebens owenig kennt die Ilias eine Bezeichnung der Troja belagernden Helden als ›Hellenen‹. Die Trojaner sind klar als ›Andere‹ zu verstehen, werden aber als solche gegenüber den ›griechischen‹ Belagerern nicht abweichend dargestellt. Dies trifft in der Ilias im Gegensatz dazu jedoch für die kleinasiatischen Karer zu, die als ›barbarophonos‹ (dt. ›unverständlich sprechend‹) bezeichnet werden, was vermutlich dem Umstand 2 Zu Mainstream-Vorstellungen vgl. Dihle, Albrecht: Die Griechen und die Fremden. München 1994, S. 88–89; zu Abweichungen vgl. Nippel, Wilfried: Griechen, Barbaren und Wilde. Alte Geschichte und Sozialanthropologie. Frankfurt a. M. 1990, S. 20; Herodotos VII 102 (alle antiken Quellenautoren werden im Folgenden unabgekürzt zit. n. Ziegler, Kurt / Sontheimer, Walther [Hg.]: Der Kleine Pauly. Bd. 1. München 1979, S. XXI–XXVI ); zur Sklavennatur vgl. z. B. Aristoteles politica I 1252b; Isokrates epistulae 3,5; Plutarchos moralia 329b; Speyer, Wolfgang: Barbar I. In: Reallexikon für Antike und Christentum (RAC ). Suppl. I. Stuttgart 2001, Sp. 811–895, hier Sp. 815; zu den Anfängen und dem Wandel des hellenozentrischen Weltbildes vgl. Dihle, Fremden (wie weiter oben in dieser Anm.), S. 40; Hölscher, Tonio (Hg.): Gegenwelten: zu den Kulturen Griechenlands und Roms in der Antike. München 2000, S. 12–15; Dihle, Fremden (wie weiter oben in dieser Anm.), S. 24–33; ebd., S. 36– 47; so bei den geographischen Schriften des Skylax und des Hekataios; zu den Kontakten mit ›Barbaren‹ vgl. Speyer, Barbar (wie weiter oben in dieser Anm.), Sp. 819; Fascher, Erich: Fremder. In: RAC (wie weiter oben in dieser Anm.), Bd. 8 (1972), Sp. 306–347, hier Sp. 314–315; zum Barbarenbegriff vgl. Dihle, Fremden (wie weiter oben in dieser Anm.), S. 51–52. So wurde Mitte des 4. Jahrhunderts beispielsweise diskutiert, ob die Makedonen mit ihrer von den Polisgriechen abweichenden Lebensart überhaupt als Hellenen bezeichnet werden könnten; Jüthner, Julius: Hellenen und Barbaren. Aus der Geschichte des Nationalbewusstseins. Leipzig 1923, S. 1 und S. 28–31; Speyer, Barbar (wie weiter oben in dieser Anm.), Sp. 820. So führt z. B. der im mittleren 4. Jahrhundert v. Chr. wirkende Demosthenes (orationes III 16 und 24, IX 31) wiederholt den Barbarenbegriff in seinen politischen Reden gegen den makedonischen König Philipp II. ins Feld.
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geschuldet ist, dass sie den Autoren der Ilias im Gegensatz zu den mythischen Trojanern wohl als real existierendes Volk bekannt waren. In der Odyssee werden Verschlagenheit und Profitgier der phönizischen Seehändler thematisiert, jedoch wird in der Ilias die Kunstfertigkeit der Phönizier in höchstem Maße gepriesen. Dies ist auch an der hochachtenden Wahrnehmung der »brandgesichtigen«, sehr weit entfernt lebenden Äthiopen ähnlich. Deren hohe Wertschätzung zeigt sich unter anderem vor allem daran, dass sie sogar von den Göttern zu Festgelagen besucht würden. Auch weitere, ebenfalls an den Rändern der Welt angesiedelte Völker werden ähnlich bewundernd und idealisierend beschrieben.3 Für die hier verfolgte Frage nach den Modi von In- und Exklusion kann also zunächst festgehalten werden, dass der vom eigenen Sein exkludierende Barbarenbegriff, wie er in Literaturzeugnissen seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. bis in die späte römische Kaiserzeit regelmäßig auftritt, in archaischer Zeit so nicht existierte. Eine Vorstellung von grundsätzlicher ethnischer Devianz besteht bei Homer kaum und ist kein Inklusionskriterium. Wenn Andersartigkeit in der Ilias Erwähnung findet, dann nicht mit grundlegend negativer Konnotation. Trennlinien verlaufen eher zwischen Sterblichen und Göttern sowie zwischen normiertem und normierendem ›nomos‹ einerseits und unnormierter ›physis‹ andererseits. Die ›Fremden‹ waren also nicht primär die ›unverständlich‹ sprechenden, weit entfernt lebenden Völker. Prinzipiell begann die Fremde bereits mit der den Siedlungsverband umgebenden Wildnis, die in ihrer Urwüchsigkeit bereits im Mythos das Gegenbild zum zivilisierten, vom ›nomos‹ geregelten Gemeinwesen darstellte.4 Auf analo3 Diese Datierung Homers ist in weiten Teilen der Forschung akzeptiert, wenngleich innerhalb der klassischen Philologie stark diskutiert; Patzek, Barbara: Homer und seine Zeit. München 2003, S. 41–52; zu dem Gegensatz von ›Griechen‹ und Trojanern Homeros Ilias II 804, IV 438; Dihle, Fremden (wie Anm. 2), S. 14; zu den Karern vgl. Jüthner, Hellenen (wie Anm. 2), S. 1–3; zur negativen Darstellung der Phönizier vgl. Homeros Odyssee XIII 272–286, XV 414– 482; positiv hingegen ders. Ilias VI 289–296, XXIII 741–745; ›brandgesichtig‹, weil sie »zweigeteilt« im äußersten Osten und äußersten Westen, also im Land des Sonnenauf- sowie in dem des Sonnenuntergangs, mithin am äußersten Rand der Welt angesiedelt sind; ders. Ilias I 423, XXIII 206. Odyssee IV 84, I 23–124; Jüthner, Hellenen (wie Anm. 2), S. 1–3; Dihle, Fremden (wie Anm. 2), S. 7–9; Speyer, Barbar (wie Anm. 2), Sp. 813. 4 Die ›physis‹ versinnbildlicht sich als dem ›nomos‹ entgegengesetztes Konzept etwa durch natur-assoziierte Erscheinungen wie Wildnis, Raserei und Grenzüberschreitung. Diese Konzepte sind gewissermaßen personifiziert und repräsentiert durch den Wein- und Vegetationsgott Dionysos; Burkert, Walter: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche. 2. Aufl. Stuttgart 2011, S. 249–257; zur Fremdheit der Griechen untereinander Fascher, Fremder (wie
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gen Devianzvorstellungen beruhend war die Inklusion/Exklusion von Reisenden höchst prekär: Sie lässt sich entsprechend an der Etymologie des griechischen Wortes für ›Fremder‹, erkennen: Denn ›xenos‹ bedeutet sowohl ›Gast‹ als auch ›Feind‹, markiert die Sonderstellung des Fremden und erfährt erst in späterer Zeit einen gewissen Bedeutungswandel. So verwundert es nicht, dass der Ortsfremde in seiner Sicherheit und Unabhängigkeit also grundsätzlich vom Wohlwollen und der Schutzbereitschaft der Einheimischen abhängig war. Entsprechend gab es weitgehend verlässliche Gewohnheitsrechte, die in der Regel Zuflucht und Aufnahme gewährleisteten: Im Kern handelt es sich dabei um zwei seit vorschriftlichen Zeiten ungeschrieben bestehende göttliche Gebote: nämlich jenes der Gastfreundschaft sowie jenes zur Gewährung des Tempelasyls. Sie waren grundlegend für die Ausbildung lokaler Fremdengesetzgebungen, die sich freilich von Gemeinwesen zu Gemeinwesen stark voneinander unterscheiden konnten. Der Gastfreundschaftsbrauch gebot, dass dem Besucher oder Reisenden gewisse, genau festgelegte Mindestleistungen auf Anfrage zu gewähren waren. Dabei galt die Verpflichtung zur gastlichen Bewirtung und Beschenkung in erhöhtem Maße für vermögende Personen. Tiefergehende Gastfreundschaften zwischen Freunden und Familien waren vererbbar und bestanden dann über viele Generationen. Primär altruistisch war die Gewährung von Gastlichkeit gegenüber Reisenden aber keineswegs motiviert. Sie beruhte auf reziproken Erwartungen, auf individueller Ehre und nicht zuletzt aus Furcht vor göttlichem Zorn. Denn der Hauptgott Zeus persönlich war es, der über die Einhaltung des Gastfreundschaftgebotes wachte. Auch das Tempelasyl gebot, Verfolgten jeder Art Schutz und Zuflucht zuteilwerden zu lassen. Die Asylgewährung beschränkte sich dabei auf in ihrer Heimat geehrte Personen sowie auf das Gelände des Heiligtums. Wenngleich beide vorfremdenrechtlichen Schutzmechanismen als göttliche Gebote höchste Wertschätzung sowie Beachtung genossen und Verstöße gegen diese als schlimme Frevel mit Konsequenzen für die ganze Gemeinde angesehen wurden, kamen Zuwiderhandlungen dagegen aber durchaus häufig vor. So reflektiert eine Episode aus dem oben genannten Theseus-Mythos einen Verstoß gegen das Gastlichkeitsgebot durch Griechen am Beispiel des Prokrustes: Der Anm. 2), Sp. 316; zu den dörflichen Normen Schmitz, Winfried: Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland. Berlin 2004 (zugl. Habil.-Schr. Universität Freiburg 1994), S. 74–101; zur Dualität und Antagonistik der Konzepte ›nomos‹ und ›physis‹ (dt. ›Natur‹) Myres, John L.: The Political Ideas of the Greeks – with Special Reference to Early Notions about Law, Authority, and Natural Order in Relation to Human Ordinance. London 1927 (ND New York, 1968), S. 241–318.
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Räuber bietet arglosen Reisenden, so auch dem Theseus, zuerst Unterkunft an, um sie dann anschließend auf dem Gästebett zu foltern, was der Heros letztlich sühnt. Prinzipiell ist aber zu betonen, dass der Schutz des befristet anwesenden Fremden als sakral begründetes Gewohnheitsrecht im Regelfall gewährt worden sein dürfte, denn die griechischen Gemeinwesen besaßen einen hohen Grad an gegenseitiger sozialer Kontrolle, die Fehlverhalten weitgehend sanktionierte. Eine wirkliche Inklusion des Fremden in das Gemeinwesen ist durch beide Schutzrechte jedoch nicht gegeben. Die ehrenvolle Behandlung und Akzeptanz Fremder auf diesen gewohnheitsrechtlichen Grundlagen ist daher immer nur in zeitlicher Befristung zu sehen. Der kurze Abriss zeigt auf, dass der Fremde bedrohlich und schutzbedürftig zugleich war. Wie steht es angesichts dieser Rahmenbedingungen aber um längerfristig anwesende Fremde? Dass es solche immer und überall gab, ist jedenfalls unzweifelhaft.5 Wie sind die Akzeptanzmodi ihnen gegenüber zu charakterisieren, wenn es traditionell nur diese beiden, eigentlich auf Befristung ausgerichteten Einschlussmodalitäten gab? Wie kann man sich in diesem Kontext ein unbefristetes Zusammen- bzw. Nebenein5 Zur Etymologie von ›xenos‹ vgl. Berneker, Erich: Xenias graphe. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Bd. 9a, 2. Stuttgart 1967, Sp. 1441–1480, hier Sp. 1450; Fascher, Fremder (wie Anm. 2), Sp. 315; Cartledge, Paul: The Greeks: A Portrait of Self & Other. 2. Aufl. Oxford 2002, S. 62– 63; in den späteren Zeiten eines Bürgerbegriffs sind unter dem Begriff ›xenos‹ (dt. ›Fremder‹) auch eine Reihe von Kategorien an sonstigen, freien Polis-Bewohnern ohne Bürgerrecht zu fassen, s. u.; Murray, Oswyn: Das frühe Griechenland. 4. Aufl. München 1991, S. 61– 63; zum Tempelasyl vgl. Wenger, Leopold: Asylrecht. In: RAC (wie Anm. 2), Bd. 1 (1950), Sp. 836–844, hier Sp. 837–840; zur Fremdengesetzgebung vgl. Fisher, Nick: Citizens, Foreigners and Slaves in Greek Society. In: Kinzl, Konrad H. (Hg.): A Companion to the Classical Greek World. Malden, Massachusetts [u. a.] 2006, S. 327–349, hier S. 339; zur Gastfreundschaft vgl. Berneker, Xenias (wie weiter oben in dieser Anm.), Sp. 1447; Herman, Gabriel: Ritualised Friendship and the Greek Polis. Cambridge 1987, S. 60– 61; zu Zeus Xenios vgl. Murray, Griechenland (wie weiter oben in dieser Anm.), S. 61; zum göttlichen Zorn bei Gastrechtsmissachtung vgl. Hesiodos opera et dies 327, 333; Gschnitzer, Fritz: Griechische Sozialgeschichte: von der mykenischen bis zum Ausgang der klassischen Zeit. Wiesbaden 1981, S. 29; Walter, Uwe: An der Polis teilhaben. Bürgerstaat und Zugehörigkeit im archaischen Griechenland. Stuttgart 1993 (zugl. Diss. Universität Göttingen 1992), S. 52; zu Theseus vgl. Bakchylides 18,19–30; Xenophon memorabilia II 1,14; Diodor IV 59; Hyginus fabulae 38; Ovidius metamorphoses VII 438; Plutarchos Theseus 11; zur sozialen Kontrolle vgl. Schmitz, Nachbarschaft (wie Anm. 4), S. 101–104; zur Befristetheit vgl. Berneker, Xenias (wie weiter oben in dieser Anm.), Sp. 1452 Whitehead, David: Immigrant Communities in the Classical Polis: Some Principles for a Synoptic Treatment. In: L’Antiquite´ Classique 53 (1984), S. 47–59, hier S. 50.
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anderleben mit den Einheimischen vorstellen? Im Folgenden soll die Situation und Bewertung von Ortsfremden im Rahmen der vorklassischen griechischen Gesellschaft von der Zeit Homers bis zum Ende der Archaik näher begutachtet werden. Die frühgriechische Dichtung gibt eher beiläufig über eine vorstaatliche, dörfliche Gesellschaftsordnung Auskunft, deren Kernelemente ›oikoi‹ genannte, bäuerliche Hausgemeinschaften waren. Sowohl die Schriften Homers als auch Hesiods, die mit allgemein angenommenen Datierungen zwischen ca. 750 (Homer) und 700 v. Chr. (Hesiod) wohl zeitlich relativ nah zueinander verfasst wurden, enthalten jeweils unterschiedliche Eindrücke dieser Gesellschaft: Homer stellt überwiegend die Lebens- und Wertewelt des Adels dar, Hesiod hingegen die der Kleinbauern. Während z. B. die Epen Ilias und Odyssee das Bild deutlich hierarchisierter Hofgesellschaften, die von großgrundbesitzenden Fürsten dominiert werden, zeichnen, vermittelt Hesiods Lehrgedicht Werke und Tage den Eindruck nicht merklich stratifizierter, kleinbäuerlicher Siedlungsverbände. Die Autorität der Adeligen und die von ihnen bestimmte Ordnung kennt er, thematisiert sie aber nur indirekt und mit stark ablehnender Haltung; seine Lebenswelt ist die nachbarschaftliche Solidargemeinschaft. Die Gegensätzlichkeit beider Perspektiven und Gesellschaftsdarstellungen macht die Frage nach In- und Exklusion von Fremden in dieser Zeit nicht unbedingt leicht, jedoch kann ein Blick auf die Modi gesellschaftlicher Rahmenbedingungen sowie auf die in beiden Lebensweltschilderungen vermittelten Wertesysteme diesbezüglich hilfreich sein. In den zentral stehenden Groß-›oikoi‹ Homers, die sich neben der erweiterten Kernfamilie des aristokratischen Großbauern aus zahlreichen Dienstboten, Gesindemitgliedern und Sklaven zusammensetzten, hat jedes Individuum seinen hierarchisch festgelegten Platz. Die ›oikoi‹ bei Hesiod scheinen den homerischen grundsätzlich ähnlich, nur muten sie bei ihm personell ganz erheblich kleiner und alles andere als ›hofstaatlich‹ an. Sklaven und Gesinde sind nur dann vorhanden, wenn der ›oikos‹ sich deren Unterhalt leisten kann. Trotz dieser Unterschiede hat das hesiodsche Bild mit dem homerischen jedoch manches gemein: So etwa, dass man nur als Mitglied eines ›oikos‹ an der überschaubaren ›face-to-face-society‹ teilhaben kann. Dabei spielt in beiden Gesellschaftsbildern das zentral stehende, individuelle Ansehen beziehungsweise die ›Ehre‹ des Einzelnen eine große Rolle. Sie speiste sich neben Land- und Viehbesitz vor allem aus permanenter Teilnahmebereitschaft an kollektiven Aktivitäten der Gemeinde; gerade als Konsequenz aus Letztgenanntem musste sich die Ehre immer wieder aufs Neue beweisen und generieren. Menschen, die sich kollektiven Handlungen der Gemeinschaft entzogen oder verweigerten, siedelten – als
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Konsequenz daraus oder auch freiwillig – räumlich und sozial isoliert am Rande des Gemeinwesens. Diese Personen hatten dadurch auch kein Anrecht auf die oft überlebensnotwendige nachbarschaftliche Solidarität. Wie die soziale Stellung mehr oder weniger dauerhaft in dieser Gesellschaft siedelnder Fremder genau aussah, lässt sich mangels direkter Thematisierung nur grob umreißen. Die Lage der Sklaven, die zumeist nicht-autochthon waren, soll hier nicht thematisiert werden.6 Homer kennt bezüglich freier Fremder zwei Kategorien: nämlich ›metanastai‹ und ›demiourgoi‹. Bezüglich der ›metanastai‹ ist auffallend, dass ein als solcher bezeichneter Fremder beide Male explizit als ›atimeton‹ ›metanasten‹, also als (typischerweise) ›ungeehrter‹ ›metanastes‹ charakterisiert wird. Dies steht offenbar ganz im Gegensatz zur Wahrnehmung der ›demiourgoi‹, bei denen es sich oft um von weit her kommende, besonders kunstfertige Handwerker oder auch Künstler handelte, die sich einem ›oikos‹ nicht selten auf Einladung hin auf Zeit oder auch dauerhaft anschlossen. ›Demiourgoi‹ genossen auch wegen ihres Talents als Schützlinge der Handwerksgottheiten Athena und Hephaistos besondere Anerkennung und Wertschätzung; dies ist umso beachtenswerter, da die auf Autarkie bedachten ›oikoi‹ weitestgehend, auch in Angelegenheiten des Handwerks, Selbstversorger waren. Die dieser Ehrbarkeit entgegengesetzte ›atimia‹ (dt. ›Ehrlosigkeit‹) der ›metanastai‹ beruhte wohl auf dem Umstand, dass es sich bei ihnen wahrscheinlich um flüchtige, in ihrer eigenen Heimat entwurzelte Menschen handelte: Denn charakteristisch gering geachtet waren ansonsten die bereits erwähnten Außenseiter der Gesellschaft. Als ein solcher ist übrigens wohl auch der oben genannte The6 Zur Geringschätzung des Adels vgl. Hesiodos opera et dies 37–39, 220–252, 321–324; Welskopf, Elisabeth Liselotte: Probleme der Muße im alten Hellas. Berlin 1962, S. 124; zur Lebenswelt Hesiods vgl. Gschnitzer, Sozialgeschichte (wie Anm. 5), S. 28–34; Walter, Polis (wie Anm. 5), S. 58– 68; zum Kleinbauerntum vgl. Schmitz, Winfried: Haus und Familie im antiken Griechenland. München 2007, S. 10; zur ›face-to-face-society‹ vgl. Finley, Moses I.: Democracy Ancient and Modern. London 1973, S. 16–37; zur Ehre vgl. Walter, Polis (wie Anm. 5), S. 212; zu sozialen Außenseitern vgl. ebd., S. 63– 66; zur Solidarität vgl. Schmitz, Nachbarschaft (wie Anm. 4), S. 401; Versklavung von gefangenen Feinden war ein obligatorisches Begleitphänomen der häufig ausgetragenen kriegerischen Konflikte (Herrmann-Otto, Elisabeth: Sklaverei und Freilassung in der griechisch-römischen Welt. Hildesheim 2009, S. 56 und S. 82). Zudem war eine Quelle der Sklavengewinnung die des Menschenraubes, dem freie Reisende, prinzipiell ausgesetzt waren (Berneker, Xenias [wie Anm. 5], Sp. 1450); er war in ganz ähnlicher Weise eine stete Begleiterscheinung der allgegenwärtigen Seepiraterie; Casson, Lionel: Reisen in der Alten Welt. München 1976, S. 81–82, die in der Odyssee als durchaus honorige und prestigeträchtige Tätigkeit charakterisiert wird (Homeros Odyssee XIV 222–234); Herrmann-Otto, Sklaverei (wie oben in dieser Anm.), S. 59.
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seus-Gegner Prokrustes zu verstehen. Dass die ›metanastai‹ aber keine Einsiedler an den Ortsrändern waren, sondern mitten unter den einheimischen Landbesitzern der Kernsiedlung – der ›asty‹ – lebten, zeigt sich an der sehr expliziten Etymologie des Begriffes: Sie gibt ganz ähnlich wie der viel später datierte Begriff ›metoikos‹ an, dass diese Fremden ›meta‹ (dt. ›mit‹, ›unter‹) den ›astoi‹ – jenen Bewohnern der ›asty‹ – lebten. Das kann nur bedeuten, dass sie sich ebenfalls wie die ›demiourgoi‹ in den Dienst und Schutz eines ›oikos‹ stellten und sich einer solchen Haus- und Hofgemeinschaft als ›therapontes‹ anschlossen. Die soziale Stellung der ›metanastai‹ dürfte wegen ihrer offenbar sprichwörtlichen ›atimia‹ deutlich prekärer gewesen sein als jene der ›demiourgoi‹, und sie waren anders als diese wohl nur geduldet. Denn die ›demiourgoi‹ genossen auch wegen ihrer besonderen Nützlichkeit für die Gemeinschaft ›Ehre‹ und waren deshalb gern gesehene Mitbewohner: Dies wird am Kontrastbeispiel des ›nutzlosen‹ Bettlers besonders deutlich, der in der Odyssee im direkten Vergleich zum ›demiourgos‹ für nicht einladenswert gehalten wird. Der Eindruck, den Hesiod in Bezug auf ansässige Fremde gibt, wirft ein gänzlich anderes Licht auf deren Situation. Zunächst geht aus den autobiographischen Angaben Hesiods hervor, dass der Verfasser selbst an seinem Wohnort als Zugereister gelten konnte, denn er gibt das kleinasiatische Kyme als Herkunftsort seines Vaters an, der einst wegen bitterer Armut Zuflucht im böotischen Askra suchte. Abgesehen vom Umstand, dass bereits dieser am neuen Wohnsitz zum Landbesitzer wurde, steht es in seinem Werk auch sonst außer Zweifel, in dem bäuerlichen Schriftsteller ein akzeptiertes Mitglied seiner Gemeinde zu sehen. Hesiod war gewiss kein ungeehrter ›metanastes‹ wie in der homerischen Dichtung und führte einen eigenen, sozial nicht isoliert stehenden ›oikos‹, womit er als eine Art Proto-Bürger des vorstaatlichen Gemeinwesen angesehen werden kann. Fremden standen offenbar gewisse Möglichkeiten offen, sich zu inkludieren, die unabhängig von ihrer Stellung zu den alteingesessenen ›oikoi‹ funktionierten. Sie hatten also wohl bereits in dieser frühen Zeit – zumindest in Askra – die Möglichkeit, Land zu erwerben oder Ackerboden von der Gemeinde zugeteilt zu bekommen. Die ›atimia‹, welche Homer den ›metanastai‹ so sprichwörtlich beimisst, dürfte dabei offensichtlich kein dauerhaftes Schicksal der Fremden gewesen sein, sondern tilgbar. Eine generelle, durch beigemessene Unehrbarkeit bedingte, prekäre gesellschaftliche Stellung scheinen Zugereiste, wie der Vater des Hesiod, nur zur Anfangszeit beziehungsweise in den ersten Jahren ihrer Ansiedlung innegehabt zu haben. Es ist anzunehmen, dass sich die Neuankömmlinge in der neuen Gesellschaft erst als gute Nachbarn bewähren mussten, um im Gegenzug volle Akzeptanz oder ›Ehre‹ zu erlangen. An
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einer Stelle rühmt Hesiod jene Menschen als Gerechte, die den Fremden genauso wie den Einheimischen geben; hierbei könnte es sich im zugrundeliegenden Kontext durchaus um eine dankbare, autobiographische Reminiszenz aus vergangenen Tagen der eigenen ›atimia‹ handeln.7 Dass sich die Sachlage auch noch lange Zeit nach Hesiod nicht grundlegend verändert hat, zeigt in prominenter Weise der Fall des im frühen und mittleren 6. Jahrhundert v. Chr. in Milet lebenden Philosophs, Mathematikers und Astronomen Thales, von dem Herodot sagt, dass er aus Phönizien stamme. Bemerkenswert an diesem Beispiel ist, dass es sich bei ihm um einen milesischen Bürger mit ›barbarischem‹ Migrationshintergrund handelte; umso mehr gemessen an dem Umstand, dass speziell die Phönizier schon seit frühen Zeiten einen bisweilen zweifelhaften Ruf bei den Griechen hatten. Dass es zumindest mancherorts auch zu größeren Kontingenten ›barbarischer‹ Mitbewohner keine Berührungsängste gab, legen archäologische Erkenntnisse nicht weniger Koloniestädte in der Schwarzmeerregion sowie im italischen und westmediterranen Raum nahe: Dort gab es nach Inter7 Zu ›metanastai‹ vgl. Homeros Ilias IX 648 XVI 59; Gschnitzer, Sozialgeschichte (wie Anm. 5), S. 29; zu ›demiourgoi‹ vgl. Walter, Polis (wie Anm. 5), S. 67; zur Wertschätzung vgl. Homeros Odyssee VI 233. Ilias V 60– 61 XIV 412; zur Autarkie vgl. Gschnitzer, Sozialgeschichte (wie Anm. 5), S. 33; zur ›asty‹ vgl. Walter, Polis (wie Anm. 5), Anm. 40; zum Begriff des ›metoikos‹ s. u.; ›therapontes‹ bedeutet etwa ›Gefolgsleute‹, ›freie Dienstleute‹; Gschnitzer, Sozialgeschichte (wie Anm. 5), S. 34; zur Wertschätzung der ›demiourgoi‹ vgl. Raaflaub, Kurt Arnold: Zwischen Ost und West: Phönizische Einflüsse auf die griechische Polisbildung? In: Rollinger, Robert / Ulf, Christoph (Hg.): Griechische Archaik. Interne Entwicklungen – Externe Impulse. Berlin 2004, S. 271–289, hier S. 281, der ›demiourgoi‹ und ›metanastai‹ auf einer gemeinsamen Stufe als gesellschaftliche Außenseiter ohne gesellschaftlichen Schutz sieht; zur Etymologie von ›demiourgos‹ vgl. »Arbeiten f. d. Allgemeinheit verrichten[d].«; zum Bettlervergleich vgl. Homeros Odyssee XVII 374–387; zur Herkunft seines Vaters vgl. Hesiodos opera et dies 633– 640; ein Hinweis auf eine relativ hohe soziale Position des gleichwohl in bescheidenen Verhältnissen lebenden Hesiod (Gschnitzer, Sozialgeschichte [wie Anm. 5], S. 61) ist seltsamerweise seine literarische Tätigkeit sowie seine Teilnahme an dichterischen Wettkämpfen, denn derartige Aktivitäten, zudem im kompetitiven Rahmen, passen eher zu einem abkömmlichen als zu einem kleinbäuerlichen Lebensstil, Ulf, Christoph: Ancient Greek Competition – a Modern Construct? In: Fisher, Nick / van Wees, Hans (Hg.): Competition in the Ancient World. Swansea 2011, S. 85–111, hier S. 95; vgl. jedoch Welskopf, Muße (wie Anm. 6), S. 129–130, die sein aus musischer Betätigung hervorgegangenes Lehr- und Mahngedicht, das sie als »politische Oppositionsrede« interpretiert, für ein Mittel des bäuerlichen Klassenkampfes hält; zur Inklusion durch ›time´‹ vgl. Walter, Polis (wie Anm. 5), S. 66; zur Nachbarschaftshilfe trotz angenommener ›atimia‹ vgl. Hesiodos opera et dies 225.
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pretation dieser Befunde wohl wenigstens in der archaischen Zeit entgegen mancher literarischer Überlieferungen wahrscheinlich unsegregierte Koexistenzen von Griechen und indigenen ›Barbaren‹, die entsprechende MischIdentitäten mit sich gebracht zu haben scheinen.8 Mithin gab es in der archaischen Epoche neben den Auswanderungswellen des 8. bis 6. Jahrhunderts v. Chr. immer wieder Migrationsprozesse, in deren Folge manche wirtschaftlich bedeutsame Poleis wie Athen zu beliebten Auswanderungszielen wurden. Die Stadt war laut Thukydides schon sehr früh bevorzugter und sicherer Zufluchtsort für verbannte Adlige, die sich in nicht unbeträchtlicher Zahl dort niederließen. Dies betraf im Übrigen auch viele Einwanderer niederen Status. Bei diesen Immigranten handelte es sich oft um Söldner, Handwerker und Händler, deren Ursprungsregion vor allem die griechischen Poleis Kleinasiens waren, die ab der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. unter persische Herrschaft gerieten und infolge dessen von starker Auswanderung gen Westen betroffen waren. Die Athener warben aktiv um solche Siedler und boten ihnen als Anreiz anscheinend den Erwerb des Bürgerrechts. Es muss angesichts dieser Beispiele aber betont werden, dass uns für die allermeisten Poleis keine oder nur wenige Angaben über den Umgang mit Fremden bekannt sind. Tendenziell scheint es aber vielerorts so gewesen zu sein, dass Neuankömmlingen Landparzellen zugeteilt oder von ihnen erworben werden konnten, womit in der Regel ein Dazugehören verknüpft war. Uwe Walter betont jedoch, dass es ebenso häufig der Fall gewesen sein dürfte, dass die einheimische, bereits besitzende Bevölkerung 8 Zur Herkunft des Thales vgl. Herodotos I 170,3; Plutarchos de Herodoti malignitate 15; zum Ruf der Phönizier vgl. Raaflaub, Einflüsse (wie Anm. 7), S. 281 m. Anm. 42; zum Zusammenleben von Griechen und ›Barbaren‹ in den Kolonien vgl. Morel, Jean-Paul: Greek Colonization in Italy and in the West. In: Hackens, Tony [u. a.] (Hg.): Crossroads of the Mediterranean. Papers delivered at the International Conference on the Archaeology of Early Italy, Haffenreffer Museum Brown University, 8–10 May 1981. Louvain-la-Nueve 1984, S. 123– 161, hier S. 149–150. Boardman, John: Kolonien und Handel der Griechen. Vom späten 9. bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. München 1981, z. B. S. 41–59, S. 154, S. 224, S. 235, S. 257 und S. 310, zu den archäologischen Indizien, die eine Koexistenz in den Handelsniederlassungen und Kolonien nahelegen; hingegen vermitteln schriftliche, freilich nicht-zeitgenössische Quellenaussagen (z. B. Herodotos II 178; Polyainos V 5,1; Strabon III 4,8) einen eher segregierten Eindruck dieser Siedlungen. Es ist anzunehmen, dass die anklingende Segregation spätere Zustände wiedergibt; zur Identität der Griechen auf Sizilien vgl. Antonaccio, Carla M.: Ethnicity and Colonization. In: Malkin, Irad (Hg.): Ancient Perception of Greek Ethnicity. Cambridge (Ma.) / London 2001, S. 113–157, hier S. 116– 117; vgl. Hansen, Mogens Herman: Polis. An Introduction to the Ancient CityState. New York 2006, S. 35.
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unter Landnot infolge von Überbevölkerung und des Erbteilungsbrauches litt und deswegen kein Land an Fremde zu vergeben hatte; Gründe, die mithin die Hauptursachen der ›Großen Kolonisation‹ darstellten. Sparta verfuhr mit auswärtigen Fremden ambivalent: Zwar nahm der lakedaimonische Staat immer wieder viele Fremde – freilich ohne Verleihung eines Bürgerrechts – auf, betrieb im Gegenzug aber auch regelmäßige Fremdenaustreibungen, die vermutlich auch in einigen anderen Poleis üblich waren.9 Insgesamt kann die gesamte archaische Periode zwischen Homer und dem Vorabend der Perserkriege als eine Zeit gesehen werden, in der die Gesellschaftsordnung der Griechen über relativ einfach strukturierte Inklusionsmechanismen verfügte, die nicht nach Ethnizität unterschieden. Differenzen werden mit dem Begriff der ›Ehre‹ markiert und ergeben sich aus dem Status eines Freien. Ungeachtet dessen war man bei aller Gastfreundschaft grundsätzlich misstrauisch gegenüber jedem, der nicht der eigenen ›face-toface-society‹ beziehungsweise Konventionsgemeinschaft entstammte, wenn er nicht explizit eingeladen war. Jedoch stand tendenziell eine vollständige Inklusion wohl jedem Freien, ungeachtet seiner Ethnizität, offen, wenn er sich langfristig an die lokalen Konventionen hielt.
9 Zur Adeligen-Zuflucht vgl. Thukydides I 2,6; Walter, Polis (wie Anm. 5), S. 198; zu Handwerkern und Söldnern vgl. Spahn, Peter: Fremde und Metöken in der Athenischen Demokratie. In: Demandt, Alexander (Hg.): Mit Fremden leben. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995, S. 37– 56, hier S. 48; zur Auswanderung aus Kleinasien vgl. Murray, Griechenland (wie Anm. 5), S. 322; anhand der hocharchaischen Skulpturen der Jahre nach 560 v. Chr. kann man vor allem in Athen und Attika einen zunehmenden Einfluss ostgriechischer Stile beobachten, den Boardman, John: Greek Sculpture. The Archaic Period. 2. Aufl. London 1991, S. 64, auf die verstärkte Einwanderung ionischer Künstler dorthin, resultierend aus der persischen Eroberung Kleinasiens in dieser Zeit, zurückführt; das Bürgerrecht als Anreiz gab es wohl zumindest während der Zeit nach den Solonischen Gesetzen, Plutarchos Solon 24,2; Patzek, Barbara: Der Traum vom Bürgerrecht. Schutzflehende und Mitbewohner in der attischen Demokratie. In: Essener Unikate. Berichte aus Forschung und Lehre 6/7 (1995), S. 32– 41, hier S. 35; Gschnitzer, Sozialgeschichte (wie Anm. 5), S. 78. Wie lange diese Praxis der Naturalisierung genau währte, ist nicht ermittelbar, wurde aber wohl gegen Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. aufgegeben; Spahn, Fremde (wie oben in dieser Anm.); zu den Zugehörigkeitsmodi andernorts vgl. Walter, Polis (wie Anm. 5), S. 80. Zu Ursachen für Wanderungen vgl. Schmitz, Haus (wie Anm. 6), S. 11; Gschnitzer, Sozialgeschichte (wie Anm. 5), S. 49–50; Walter, Polis (wie Anm. 5), S. 80 und S. 123; zu Fremdenaustreibungen vgl. Gschnitzer, Sozialgeschichte (wie Anm. 5), S. 68 und S. 124; Walter, Polis (wie Anm. 5), S. 174–175; Fisher, Citizens (wie Anm. 5), S. 339, vermutet, dass die Zahl anderer Poleis, in denen solche Austreibungen gängig waren, gering anzusetzen ist.
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Metöken und ›xenoi‹: Inklusion/Exklusion im Rechtssystem Dass der panhellenische Sieg über die Perser und die damit mehr oder weniger einhergehenden, politischen, gesellschaftlichen und mentalen Veränderungen eine Zäsur in der Wahrnehmung von ›Barbaren‹ im Allgemeinen mit sich brachte, wurde eingangs bereits zum Ausdruck gebracht. In dieser neuen Epoche zeigen sich in manchen Poleis gewisse soziale Wandlungsprozesse, die am prominentesten aber in Athen sind, das nun in politischer, gesellschaftlicher, kultureller sowie ökonomischer Hinsicht zum wichtigsten Impulsgeber wurde. Auch in fremdenrechtlichen Belangen lassen sich dort tiefgreifende Entwicklungen nachzeichnen, für die eine vergleichbare Quellenlage und -dichte nahezu nirgendwo sonst gegeben ist. Die diesbezüglichen Regelungen in Athen mit ihren gesellschaftlichen – strukturellen wie semantischen – Grundlagen und Implikationen werden im Folgenden eingehend betrachtet. Spätestens mit den 508/507 v. Chr. vollzogenen Reformen des Kleisthenes beendeten die Athener die oben erwähnte allgemeine Einbürgerungspraxis und führten für länger ansässige Fremde einen zuvor nicht gekannten Sonderstatus ein. Längere Zeit ansässige Fremde galten nun als ›metoikoi‹. Es handelt sich dabei um eine neue rechtliche Form der Inklusion, die der ökonomischen und religiös begründeten zeitlich nachgelagert war. Mit Einführung dieses Spezialstatus, d. h. mit der rechtlichen Codierung im Sinne einer eigenen ›Schicht‹, die quer zu der Differenzierung in ›oikoi‹ stand und gleichzeitig in diese eingebunden war, gab es nun im Wesentlichen zwei Kategorien von Fremden, wobei die kurzfristig in der Stadt anwesenden als ›xenoi‹, meist mit näher spezifizierendem Attribut wie ›parepidemoi‹, bezeichnet wurden. Während die ›metoikoi‹ auf der Innenseite der Gesellschaft verortet wurden, sah man die ›xenoi‹ nicht als ihre Mitglieder an. Gemeinsam war ihnen aber, dass sie nicht selbst politisch agieren konnten. Während Metöken in Rechtsfragen hinter den Bürgern nur geringfügig zurücktraten, waren ›xenoi‹ rechtlich stark eingeschränkt, konnten aber, sofern vorhanden, eine Art Konsul ihrer Heimatpolis als Fürsprecher in Anspruch nehmen, der ihnen nicht nur vor Gericht Hilfe leistete. Diese ›proxenoi‹ waren Bürger Athens, die die Belange und die Bürger einer fremden Polis vor Ort vertraglich vertraten. Einen Fürsprecher in politischen und rechtlichen Angelegenheiten, und zwar einen beliebigen Bürger Athens, mussten sich die Metöken ebenfalls suchen. Er war Rechtsvertreter und Ansprechpartner der Deme, der sich ein Metöke anzugliedern hatte. Im Gegensatz zu den übrigen Fremden konnten die Metöken zum Militärdienst herangezogen werden und waren voll rechtsfähig, dabei in Prozessfragen jedoch Sonderbestimmungen unterworfen: Beispielsweise wurde die Ermordung eines
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Metöken vor Gericht grundsätzlich wie ein Totschlagdelikt behandelt. Ferner waren sie ohne Sonderrechtsverleihung vom Grundeigentum ausgeschlossen und hatten eine spezielle Metökensteuer zu entrichten. Eine Nichtzahlung dieser Steuer zog nicht selten einen Verkauf in die Sklaverei nach sich. Die Einbürgerung war durch Mehrheitsbeschluss in der Volksversammlung prinzipiell möglich, konnte jedoch jederzeit wieder entzogen werden.10 Wohnrechtlichen Einschränkungen unterlagen Metöken anders als ›xenoi‹ offenbar nicht. Zu der ökonomischen Situation der Metöken ist zu sagen, dass nicht wenige von ihnen durch ihren hohen Spezialisierungsgrad im Handwerk, ihre bevorzugte Handelstätigkeit und ihre überproportionale Häufung im Geldverleihgeschäft oft bemerkenswert reich waren. Man fand Metöken aber auch in nahezu allen anderen, auch niederen Berufen. Über die Erwerbsfelder der ›xenoi‹ ist weit weniger bekannt, jedoch so viel, dass sie wahrscheinlich überwiegend im Seehandel tätig waren. Metöken bezahlte man augenscheinlich nicht anders als Bürger und Sklaven, wie aus einer Gehaltsabrechnung auf der rückwärtigen Mauer des 10 Hommel, Hildebrecht: Metoikoi. In: Paulys Realencyclopädie (wie Anm. 5), Bd. 15, 2 (1932), Sp. 1413–1448, hier Sp. 1431–1433, im Folgenden auch als ›Metöken‹ bezeichnet; Whitehead, David: The Ideology of the Athenian Metic. Cambridge 1977, S. 6–16. Ders.: Immigrant Communities (wie Anm. 5), S. 55–56; zur Institution der Proxenie vgl. Marek, Christian: Die Proxenie. Frankfurt a. M. [u. a.] 1984 (zugl. Diss. Universität Marburg 1982); zu Demenangehörigen als Fürsprecher vgl. Whitehead, David: The Demes of Attica: 508 / 7−ca. 250 B. C. A Political and Social Study. Princeton 1986, S. 81; zur Rolle der athenischen Metöken im Gerichts- und Prozesswesen vgl. Hommel, Metoikoi (wie weiter oben in dieser Anm.), Sp. 1442–1446; zum Grundbesitz (griech. ›enktesis‹) vgl. Whitehead, Ideology (wie weiter oben in dieser Anm.), S. 12; ders., Immigrant Communities (wie Anm. 5), S. 50. Eine Folge daraus ist sicher die langfristige Erkennbarkeit und damit die Festigung des Sonderstatus der Metöken als Fremde. Es ist offenkundig, dass die zunächst als Ausnahmeregelung eingerichtete Situation durch die generationsübergreifende Perpetuierung zur Normalität wurde; zur Metökensteuer vgl. Suidas, metoikos; Pollux 3,55; Platon leges IX 850; zur Versklavung vgl. Demosthenes orationes XXV 57; Andreades, Andre´as Michael: Geschichte der griechischen Staatswirtschaft. Von der Heroenzeit bis zur Schlacht bei Chaironeia. München 1931 (ND Hildesheim, 1965), S. 295–299; zu Metöken-Einbürgerungen vgl. z. B. Demosthenes orationes XXIII 211; Andokides II 23; Inscriptiones Graecae II 3, 553; Athenaios III 119 f−120a; zur Ausbürgerung von Metöken, z. B. des Lysias, vgl. Plutarchos moralia 835 f−836a; Entzug der bürgerlichen Ehrenrechte (›atimia‹) z. B. dokumentiert in Inscriptiones Graecae I 31, 22 und II 17, 55; Brüggenbrock, Christel: Die Ehre in den Zeiten der Demokratie. Das Verhältnis von athenischer Polis und Ehre in klassischer Zeit. Göttingen 2006 (zugl. Diss. Universität Bielefeld 2003), S. 189–191, zum rechtlichen Verständnis von ›atimia‹ in klassischer Zeit.
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Erechtheions recht anschaulich hervorgeht.11 Bezüglich des äußeren Erscheinungsbildes ist aufgrund der Klage Pseudo-Xenophons zu vermuten, dass es in seiner Zeit keine sichtbaren Unterschiede zwischen Metöken und Bürgern gab: Bei den eigentlichen Knechten [i. e. Sklaven] hingegen und den Schutzbürgern [i. e. Metöken] herrscht in Athen größte Zuchtlosigkeit, und man darf daselbst den Knecht weder hauen, noch wird er dir bescheiden ausweichen. Weswegen das aber landesüblich ist, will ich sofort erklären. Wenn es Brauch wäre, daß der Knecht von jedem beliebigen freien Mann geschlagen würde oder gar der Schutzbürger und der Freigelassene, so hätte der schon oft auf den ersten Eindruck hin, der Athener vor ihm sei ein Knecht, dreingehauen; denn wie an Kleidung das Volk daselbst nichts Besseres ist als die Knechte und die Schutzbürger, so sind sie auch in ihrer ganzen Erscheinung um nichts besser.12
Die Passage zeugt von einem Abgrenzungswunsch gegenüber Gruppen, die als subaltern aufgefasst werden. Die Angst vor Homogenisierung impliziert ein Plädoyer für eine stärkere Stratifizierung der Gesellschaft. Ihm gehen die rechtlichen und politischen Beschneidungen nicht weit genug, wenn er fordert, Kommunikation im Allgemeinen stratifikatorisch zu gestalten. Freilich 11 Die Annahme keinerlei wohnrechtlicher Einschränkungen ist darauf zurückzuführen, dass Metöken in allen Gemeinden Attikas zugegen waren, wobei eine deutliche Häufung im Hafen Piräus vorlag. Dort waren allerdings auch sehr viele Fremde anderer Rechtskategorien anzutreffen; der Befund der Grabinschriften und eine Vielzahl an Kultvereinen ausländischer Gottheiten legen nahe, dass im Piräus des 4. Jahrhunderts v. Chr. ein besonders hoher Anteil an Fremden lebte; Garland, Robert: The Piraeus from the Fifth to the First Century B. C. Ithaka / New York 1987, S. 62– 66 und S. 108–109 (mit Tabelle S. 108). Dass in den Demen Melite, Kollytos, Alopeke und Kydathenaion der Metökenanteil ebenfalls nicht gering gewesen zu sein scheint (Whitehead, Demes [wie Anm. 10], S. 57 und S. 81–84), lässt Patzek, Bürgerrecht (wie Anm. 9), S. 37, annehmen, Metöken siedelten vor allem in gewerbestarken Gemeinden, sowohl in vornehmen wie weniger vornehmen; Adak, Mustafa: Metöken als Wohltäter Athens. Untersuchungen zum sozialen Austausch zwischen ortsansässigen Fremden und der Bürgergemeinde in klassischer und hellenistischer Zeit (ca. 500–150 v. Chr.). München 2003 (zugl. Diss. Universität Freiburg 1999), S. 92, hingegen vermutet, dass im Piräus und anderen dieser Handels- und Gewerbezentren die Zahl der Metöken die der Bürger überstiegen haben könnte; Spahn, Fremde (wie Anm. 9), S. 56, schließt daraus, dass Metöken keinesfalls in ein Ghetto verbannt wurden. Dem ist hinzuzufügen, dass dies keinesfalls auch für die übrigen Fremden zugetroffen haben muss; zur Berufstätigkeit von Metöken und ›xenoi‹ vgl. Hommel, Metoikoi (wie Anm. 10), Sp. 1451; Reed, Charles M.: Maritime Traders in the Ancient Greek World. Cambridge 2003, 55–57, führt einige Gründe ins Feld, dass die im Seehandel Involvierten eher ›xenoi‹ als Metöken gewesen seien; zur Gehaltsabrechnung am Erechtheion vgl. Inscriptiones Graecae I3, 475– 476. 12 Pseudo-Xenophon Athenaion politeia I 10 (Übersetzung Erich Kalinka [1913]).
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muss davon ausgegangen werden, dass dieser Wunsch aus einem von der archaischen Zeit tradierten ethnisch codierten Adelsverständnis herrührt. Im Folgenden wird nun zu klären sein, inwieweit sich Praktiken und Semantiken in Bezug auf ›Adel‹ und ›Oberschicht‹ ausgehend von dieser Situation entwickelten. Attisches Bürgerbewusstsein Die Haltung der Athener gegenüber Fremden kann insgesamt als ambivalent bezeichnet werden. Wenn die Gesellschaft Athens in vielerlei Hinsicht stark durchmischt und angeglichen anmutet und diese multikulturelle Vielfalt von Personen des öffentlichen Lebens ausdrücklich gerühmt wurde, fällt in dieser Hinsicht ganz besonders auf, dass Mischehen ungern gesehen waren und später sogar verboten wurden. Die Strafen waren für beide Ehegatten sehr streng. Hinzu kam, dass die in Aussicht gestellte Belohnung sich für einen Denunzianten überaus bezahlt machte. Im 4. Jahrhundert v. Chr. kam es häufig zu Anklagen und Prozessen vor diesem Hintergrund, wenn etwa in Erbschaftsangelegenheiten die bürgerliche Herkunft eines Einwohners angezweifelt wurde. Dabei entbehrten die Anklagen oft stichhaltiger Argumente, häufig wurde eine besonders unbürgerliche Tätigkeit als Begründung ins Feld geführt. Offenbar waren widersprüchliche Semantiken zur Beschreibung der Fremden verfügbar, die je nach Bedarf von Bürgern in spezifischen Situationen aufgegriffen werden konnten – sei es, dass man Fremden (vor allem ›Orientalen‹) Misstrauen entgegenbrachte oder die Differenz zu ihnen überging. Offene Feindseligkeiten oder Übergriffe gab es allem Anschein nach selten. Die Beurteilung des Fremden maß sich in Athen immer am Kontrast zum Bürger, bei denen ein deutlicher Standesdünkel zum Ausdruck kommt. Aristophanes drückt aus, dass Athener und Fremde zueinander in einem ähnlichen Verhältnis stünden wie »Korn und Kleie«.13 Man rühmte die Fremden zwar für ihre kulturelle, 13 Zum Lob der Vielfalt z. B. Thukydides II 37,3. 38,2, in der Gefallenenrede des Perikles; zu Mischehen vgl. Euripides Supplices 135. 219/21. Ion 293; Lacey, Walter K.: Die Familie im Antiken Griechenland. Mainz 1983, S. 105–110; per perikleischem Gesetz von 451 v. Chr. sollten nur die Kinder aus Ehen zweier Bürger das Bürgerrecht erhalten; Demosthenes orationes 59 in der Klage gegen die Hetäre Neaira; Patterson, Cynthia: The Case against Neaira and the Public Ideology of the Athenian Family. In: Boegehold, Alan L. / Scafuro, Adele C.: Athenian Identity and Civic Ideology. Papers presented at a conference held at Brown University, in Apr. 1990. Baltimore / London 1994, S. 199–215, hier S. 202; zur jüngeren Forschungsdiskussion vgl. Schmitz, Haus (wie Anm. 6), S. 97; zu Erbschaftsprozessen vgl. Patzek, Bürgerrecht (wie Anm. 9), S. 39; zu
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aber letztlich entbehrliche Bereicherung. Es lässt sich von einem Repräsentationsregime sprechen, das Identität und Differenz zwischen attischen Bürgern und ›Fremden‹ so arrangiert, dass Machtvorsprung und Deutungshoheit der ersten gegenüber den zweiten gewahrt bleiben. Zur Verdeutlichung sei ein kurzer Blick auf die bürgerliche Selbstwahrnehmung geworfen. Bedingt durch seine sehr spezielle Stadtgeschichte entstand im klassischen Athen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. ein Bürgerbewusstsein, das sich in seinen Eigenarten maßgeblich von denen anderer Poleis unterschied. Es stand mit den eingangs erwähnten, zwischen 514 und 479 v. Chr. stattfindenden, epochalen Ereignissen in direktem Zusammenhang. Mit Einführung der ›isonomia‹ durch den Reformer Kleisthenes bewährte sich das Prinzip der völligen rechtlichen Gleichheit aller Bürger, das die Semantiken der attischen Selbstbeschreibung maßgeblich formte, ebenso wie die kulturelle und wirtschaftliche Vormachtstellung Athens, die im Verlauf des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. ihren Höhepunkt erreichte. Nach Hans-Joachim Gehrke und Ulrich Gotter charakterisierten die Gesellschaft Athens vor allem zwei Aspekte: Zum einen war sie im Kern eine exklusive Vereinigung in Form einer Bürgergemeinschaft, die auf Kult und Abstammung fußte und deren Grenzlinien strikt gezogen waren. Sie war von ihrer Anlage her prinzipiell nicht erweiterbar, da das Bürgerrecht eine ausnahmslos erbliche Sache war. Zum anderen funktionierte sie als Mitwirkungsgemeinschaft: Mit seiner politischen Aktivität, zu der jeder männliche Bürger angehalten war, wurde die Stabilität der staatlichen Ordnung gewährleistet. Dies galt in klassischer Zeit als Leitsemantik, die tatsächliche Inklusion in Politik – zumindest in Leistungsrollen – blieb jedoch von der ökonomischen Situation des Einzelnen nicht unbeeinträchtigt. Im Anschluss an Christian Mann soll hier von einem operativ geschlossenen Funktionssystem Politik ausgegangen werden, dessen Umwelt eine sich stratifizierende Gesellschaft bildet, in der die ›oikoi‹ als Segmente jedoch weiterhin von Bedeutung sind. Ausgehend davon soll im Folgenden dargelegt werden, wie den Vorurteilen, die den Metöken von Seiten der Athener entgegengebracht wurden, vgl. Clerc, Michel: Les me´te`ques Athe´niens. E´tude sur la condition le´gale, la situation morale et le role social et e´conomique des e´trangers domicilie´s a` Athe`nes. Paris 1893, S. 225–230; in einer Anklage des Lysias, in dem sich metökische Getreidehändler durch Aufkauf und Hortung über das gesetzliche Maß bereicherten, scheinen sich unbürgerliche Verhaltensweisen geradezu zu erfüllen, Lysias orationes XXII ; dazu Seager, Robin: Lysias gegen die Getreidehändler. In: Anastassiou, Anargyros / Irmer, Dieter (Hg.): Kleinere attische Redner. Darmstadt 1977, S. 242–263; zum Misstrauen gegenüber Orientalen vgl. z. B. Euripides Orestes 1111. 1369–1370. 1483–1484; zu ›Korn und Kleie‹ vgl. Aristophanes Acharnenses 507–508.
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die Inklusion von Fremden die stratifikatorische Differenzierung stabilisierte. Im kleisthenischen Staat wurde ein politisch aktives Verhalten der Bürger in vielfacher Weise positiv sanktioniert und war maßgebliches Kriterium zur Ausbildung eines spezifisch attischen Bürgerbewusstseins. Die politische Eingebundenheit und Partizipation seiner Angehörigen durchzieht alle Organisationsformen, aus denen sich der Gesamtstaat zusammensetzt. Diese größtenteils historisch gewachsenen und von Kleisthenes teils zu politischen Zwecken umstrukturierten Verbände boten dem einzelnen Bürger Referenzen für eine Selbstverortung im Staat. Dazu zählen vor allem sein Sippenverband (griech. ›phratria‹), seine Kommune (griech. ›demos‹) und die sich aus beiden mehr oder weniger unabhängig voneinander zusammensetzende Stammesgemeinschaft (griech. ›phyle‹). Diesen teils historisch gewachsenen, teils von Kleisthenes künstlich geschaffenen Verbundsystemen kam neben ihrer gesellschaftlichen Funktion auch jeweils eine nicht zu unterschätzende kultische Dimension zu. Eine besondere Rolle in der Identitätsstiftung durch die staatlichen Institutionen nahm dabei die Deme ein, die eine besonders große politische und gesellschaftliche Bindungskraft für den Einzelnen im kleisthenischen Staat innehatte. Sie war autonomer Grundstein des politischen Systems und die angestammte geographische und politische Heimat des Bürgers. Zugleich ähnelte sie in Miniatur mit ihren Ämtern, Gremien und Mitwirkungsschemata in vielem dem Gesamtstaat.14 Selbstbeschreibungssemantiken des Bürgertums rekur14 Bleicken, Jochen: Die athenische Demokratie. 4. Aufl. Paderborn [u. a.] 1995, S. 428– 437; Gehrke, Hans-Joachim / Gotter, Ulrich: Revolution des Politischen. Glanz und Elend der athenischen Demokratie. In: Die griechische Klassik – Idee oder Wirklichkeit? Ausst.-Kat. Martin-Gropius-Bau, Berlin, und Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn. München 2002, S. 166– 172, hier S. 168–169; zum Funktionssystem vgl. Mann, Christian: Politische Gleichheit und gesellschaftliche Stratifikation. Die athenische Demokratie aus der Perspektive der Systemtheorie. In: Historische Zeitschrift 286 (2008) 1, S. 1– 35; die neuen, künstlich geschaffenen attischen Phylen der kleisthenischen Reform waren im Gegensatz zur früheren Form nicht mehr rein geographischer Natur, sondern setzten sich aus je drei Abteilungen (griech. ›trittys‹, Sing.) unterschiedlicher Herkunft (je einer städtischen, einer binnenländischen und einer Küsten-Trittys) zusammen; Walter, Polis (wie Anm. 5), S. 206–208; Welwei, Karl-Wilhelm: Das Klassische Athen. Darmstadt 1999, S. 11–21; wenngleich Metöken dort nicht ins offizielle Demenregister eingeschrieben, sondern auf einer separaten Liste geführt wurden, Hommel, Metoikoi (wie Anm. 10), Sp. 1433; zum Demenregister allgemein vgl. Whitehead, Demes (wie Anm. 10), S. 97–109; Ähnlichkeit der Polis-Unterverbände zum Gesamtstaat vgl. Walter, Polis (wie Anm. 5), S. 297; Jones, Nicholas F.: The Associations of Classical Athens. The Response to Democracy. New York [u. a.] 1999, S. 18–19.
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rieren in hohem Maße auf die aus den Konzepten der Phyle, der Phratrie und der Deme resultierende Vorstellung gemeinsamer Zugehörigkeit. Wie bereits oben erwähnt, wurde von jedem Bürger gesellschaftliches und politisches Engagement erwartet, wozu die prinzipielle Bereitschaft zur regelmäßigen Volksversammlungsteilnahme und die jedoch nicht obligatorische Übernahme von Ämtern und Funktionen im politischen Leben der Stadt und im Gerichtswesen gehörten. Darüber hinaus waren die Bürger sehr häufig zur Mitwirkung an Militäreinsätzen verpflichtet, sodass der Einzelne neben seinen privaten Aufgaben in seinem Alltag oftmals sehr stark von staatlicher Seite in Anspruch genommen wurde. Die Tätigkeit für den Staat galt den Bürgern als ehrenvolle Aufgabe, da sie die Vormachtstellung Athens und die vielgerühmte Freiheit für eine Errungenschaft der demokratischen Ordnung hielten. Den idealtypischen Demokraten charakterisierten bestimmte Semantiken als eine Art Tugendkatalog: Danach sollte er zunächst vor allem gut (griech. ›agathos‹), nützlich (griech. ›chrestos‹) und anständig (griech. ›kosmios‹) sein. Des Weiteren wurde auf ein richtiges, ›demokratisches‹ Verhalten höchster Wert gelegt – wie es deutlich etwa aus der Gerichtsrhetorik hervorgeht: Es schlug sich z. B. in einer obligatorischen Amtseignungsprüfung (griech. ›dokimasia‹) nieder, in der ein Lebenslauf auf den Grad der ›demokratischen‹ Gesinnung durchleuchtet wurde. Politisches Engagement wurde dabei als tugendhaft anerkannt, ebenso, wenn der Prüfling stets Kontakt mit der breiten Masse suchte und schätzte. Anerkennung fanden weiter ein als positiv empfundener Ehrgeiz (griech. ›philotimia‹, eigentlich dt. ›Ehrliebe‹) sowie ein erkennbarer Einsatz für die Belange der Stadt über das geforderte Maß hinaus. Gleichsam wurde aber auch seine private Lebensführung in die Waagschale geworfen: Dabei galten die Erfüllung familiärer Pflichten sowie ein unauffälliger, um das rechte Maß bemühter Lebensstil (griech. ›sophrosyne‹) als positiv. Es wird deutlich, dass nicht nur die Inklusion in Politik in erheblichem Maße mit der ökonomischen Situation zusammenhing, sondern auch die Erfüllung des von den Selbstbeschreibungssemantiken formulierten Anspruchs an den Bürger allgemein. Der gute Bürger war aber nicht nur politisch aktiv, sondern sorgte auch weitgehend allein für sein Wohlergehen, indem er soziales Geschick kultivierte: etwa, indem er für die Wahrung seiner Interessen bei Gericht rhetorisches Durchsetzungsvermögen bewies. Im Übrigen war es nach der antiken Männlichkeitssemantik ohnehin unschicklich, sich der Öffentlichkeit und der öffentlichen Bewertung zu entziehen. Denn auch in der ›face-to-face-society‹ zumindest der Deme kannte idealerweise jeder jeden, und die Ehre des Einzelnen war von höchster sozialer Bedeutung. Die Pflege möglichst zahlreicher freundschaftlicher Kontakte war in einer
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solchen engen Öffentlichkeit nicht nur aus gesellschaftlicher Erwartung, sondern auch zur Erleichterung des Alltags unbedingt erforderlich.15 Die hohe Inklusionsbereitschaft, die den Metöken entgegengebracht wurde, scheint erklärungsbedürftig. Das Spannungsverhältnis wird noch deutlicher, wenn man die Selbstverortungssemantiken der Bürger mit bedenkt. Der Blick auf das bürgerliche Lebensgefühl und die staatliche Organisationsstruktur zeigt, dass sie in hohem Maße fest in ein Gesamtgefüge eingebunden waren und ihre gesellschaftliche und politische Stellung eng mit ihren traditionellen Zugehörigkeitsverbänden, die sich anhand des Konzepts gemeinsamer Herkunft legitimierten, verknüpft war. Davon waren Metöken per definitionem ausgeschlossen. Angesichts dieser Diskrepanz scheint es gewinnbringend, nach Institutionen im Staat zu suchen, die quer zu den gesellschaftlichen Differenzierungsmodi stehen und die bei der Inklusion der Metöken eine Rolle spielten. Ein Beispiel sind die im Folgenden untersuchten privaten Kultvereinigungen. Vor allem soll überlegt werden, inwieweit die Schaffung einer neuen Organisation von Kommunikation mit eigener Selbstreferenz Einfluss auf den Wandel der Differenzierungsform gehabt haben könnte, der sich ab der hellenistischen Zeit hin zur Stratifikation vollzogen hat. 15 Zu Bürgerpflichten vgl. Bleicken, Demokratie (wie Anm. 14), S. 276 und S. 432– 433; Gschnitzer, Sozialgeschichte (wie Anm. 5), S. 105; Pearson, Lionel: Popular Ethics in Ancient Greece. Stanford, Ca. 1962, S. 181–182; Canfora, Luciano: Der Bürger. In: Vernant, Jean-Pierre (Hg.): Der Mensch in der griechischen Geschichte. Frankfurt a. M. / New York 1993, S. 140–179, hier S. 164–165; zum Tugendkatalog vgl. Bleicken, Demokratie (wie Anm. 14), S. 435– 437; diese Werte prägten mithin schon die Adelsethik der archaischen Zeit; Gschnitzer, Sozialgeschichte (wie Anm. 5), S. 126–129; zum Lob ›demokratischen Verhaltens‹ in der Gerichtsrhetorik vgl. Seager, Lysias (wie Anm. 13), S. 162; zur ›dokimasia‹ vgl. Bonner, Robert J.: Aspects of Athenian Democracy. Rome 1970, S. 12–13; Whitehead, Demes (wie Anm. 10), S. 116; Flacelie`re, Robert: Griechenland. Leben und Kultur in klassischer Zeit. Stuttgart 1977, S. 64; zur Forderung nach Engagement und Bürgerkontakt vgl. Gschnitzer, Sozialgeschichte (wie Anm. 5), S. 128; zur ›philotimia‹ vgl. Whitehead, David: Competitive Outlay and Community Profit. Philotimia in Democratic Athens. In: Classica et Mediaevalia. Revue danoise de philologie et d’histoire 34 (1983), S. 55–74; zum ›sophrosyne‹Ideal vgl. Pearson, Ethics (wie oben in dieser Anm.), S. 10, S. 79–80 und S. 85–86; zur Kleidung vgl. Flacelie`re, Griechenland (wie oben in dieser Anm.), S. 210–216; Hollein, Heinz-Günther: Bürgerbild und Bildwelt der attischen Demokratie auf den rotfigurigen Vasen des 6.– 4. Jahrhunderts v. Chr. Frankfurt a. M. [u. a.] 1988 (zugl. Diss. Universität Hamburg 1985), passim zur Ikonologie und Ikonographie des athenischen Bürgers auf rotfigurigen attischen Vasen; zur Beziehungspflege vgl. Bleicken, Demokratie (wie Anm. 14), S. 434; Schmitz, Nachbarschaft (wie Anm. 4), S. 442; ders., Haus (wie Anm. 6), S. 43.
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Inklusion durch Selbstrepräsentation: private Kultvereinigungen Der Befund hinsichtlich der Inklusion/Exklusion von Fremden fällt nicht eindeutig aus. Es handelte sich jedenfalls um flexible, im Spannungsfeld von Semantiken und Praktiken begriffene Prozesse, die überdies auf das Wechselverhältnis zwischen Selbst- und Fremdrepräsentationen in Anbetracht bestehender Machtverhältnisse zu befragen sind. Diese Prozesse hängen darüber hinaus möglicherweise mit Verschiebungen hinsichtlich der vorherrschenden gesellschaftlichen Differenzierungsform zusammen. PseudoXenophons Klage, dass man auf der Agora Fremde, Sklaven und Bürger nicht mehr auseinanderhalten könne und ein jeder ungestraft das Wort an den Bürger richten dürfe, gibt Zeugnis davon, dass sich die in der bildlichen Kunst und sonstigen Überlieferung fassbare idealisierte und anderweitig feststellbare Gleichheit auch auf außerbürgerliche Kreise ausgeweitet hatte. Bürger, Nichtbürger, Fremde und Sklaven bezogen bei gleichen Arbeiten die gleichen Löhne, arbeiteten in denselben Berufen, und man kann nicht davon sprechen, dass außerhalb des ›emporion‹ im Piräus eigens für Fremde Siedlungen existierten. Obwohl der Nichtbesitz des Bürgerrechts vergleichsweise schwerwiegende Nachteile mit sich brachte, ist nicht bekannt, dass Nichtbürger diesen Zustand beklagt hätten. Jüngere Untersuchungen zu diesem Phänomen sprechen in diesem Kontext von Assimilation und dem Bestreben der Metöken, den Athenern gleich zu sein, auch wenn sie nicht auf die volle rechtliche Gleichstellung zu hoffen brauchten. Barbara Patzek stellt diesbezüglich fest: »Diese Ideologie scheint verhindert zu haben, dass die Metöken sich als ethnische Gruppe mit eigenem politischen Bewusstsein erfahren und definieren konnten«.16 Diese Einschätzung scheint jedoch nur zum Teil richtig: Fremde im klassischen Athen erfuhren und definierten sich durchaus als eigene Gruppe, und zwar im Rahmen zahlreicher Kultvereine fremder Gottheiten. Dort schlossen sich Fremde teils exklusiv, teils gemeinsam mit Bürgern zusammen. Die frühesten dieser Vereinigungen in Athen waren lockere, auf Freiwilligkeit beruhende Bünde von Bürgern, die gemeinsam eine Gottheit verehrten. Die Kultpraxis belief sich anfangs auf eher seltene Zusammenkünfte, etwa zum Anlass einer jährlich stattfindenden Gedenkfeier. Ihre Zahl nahm im Verlauf des späteren 5. Jahrhunderts v. Chr. allmählich zu, sodass das private Kultvereinswesen seit der ersten 16 Zur Stereotypisierung in der Kunst vgl. Maischberger, Martin: Was sind Männer? Bilder von Mann und Männlichkeit in klassischer Zeit. In: Die griechische Klassik (wie Anm. 14), S. 271–277; zu Assimilierungsbestrebungen von Fremden vgl. die Ausführungen zur Forschungsgeschichte bei Adak, Metöken (wie Anm. 11), S. 29– 39; zum zitierten Wortlaut vgl. Patzek, Bürgerrecht (wie Anm. 9), S. 37.
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Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. zu einer weit verbreiteten Institution wurde. In diesem Zeitraum durchliefen diese Vereinigungen eine Entwicklung von eher religiös-kultisch orientierten hin zu wesentlich mehr auf Geselligkeit ausgerichteten Verbindungen, in denen sich häufig auch Menschen verschiedenen Rechtsstatus zusammenschlossen. Auffallend ist zudem, dass ebenfalls ab dem späten 5. Jahrhundert v. Chr. ein nicht geringer Teil dieser Kultvereine sich vornehmlich oder ausschließlich aus Personen fremder Nationalität zusammensetzte. Hier wurden fremdländische Gottheiten verehrt, woran mitunter auch einige Bürger und sonstige Einheimische teilnahmen. Das Phänomen der Kultvereine war in früherer Zeit weitgehend auf Athen beschränkt, weitete sich aber allmählich auch auf Städte mit einer ähnlichen Handelsbedeutung und vergleichbarem Anteil an Fremden aus. Es ist ein kaum zu übersehender Zusammenhang zwischen der Präsenz von Fremden und der Entstehung von Kultvereinigungen gegeben.17 Im Rahmen einer Untersuchung von Exklusions- bzw. Inklusionsmechanismen im Polis-Kontext stellt sich hinsichtlich dieses Befunds die Frage, welche Rolle diese privaten Kultvereine für das gesamtgesellschaftliche Inklusionsregime für Fremde bzw. Metöken spielten. Glauben wir dem Wort des Aristoteles, 17 Zur Entwicklungsgeschichte der privaten attischen Kultvereine vgl. Poland, Franz: Geschichte des griechischen Vereinswesens. Leipzig 1909 (ND Leipzig, 1967), S. 516–520; zur Rolle der Fremden in den Kultvereinen vgl. ebd., S. 289–298 und S. 328–329; Wilson, Stephen G.: Voluntary Associations: An Overview. In: Kloppenborg, John S. / ders. (Hg.): Voluntary Associations in the Graeco-Roman World. Abingdon / New York 1996 (ND London / New York, 2005), S. 1–15, hier S. 10; vgl. aber Arnaoutoglou, Ilias N.: Thusias heneka kai sunousias. Private Religious Associations in Hellenistic Athens. Athens 2003, S. 96–101; zur geographischen Ausbreitung vgl. Gabrielsen, Vincent: Brotherhoods of Faith and Provident Planning: The Non-Public Associations of the Greek World. In: Malkin, Irad [u. a.] (Hg.): Greek and Roman Networks in the Mediterranean. London / New York, S. 176–203, hier S. 187. In hellenistischer Zeit bezeugen dies besonders prominent die vereinsrelevanten Inschriftenbestände der Inseln Delos und Rhodos; Rauh, Nicholas K.: The Sacred Bonds of Commerce. Religion, Economy and Trade Society at Hellenistic Roman Delos, 166–87 B. C. Amsterdam 1993, S. 22– 41, zu den Kultvereinen auf Delos; Gabrielsen, Vincent: The Naval Aristocracy of Hellenistic Rhodes. Aarhus 1997, S. 123–129, zu jenen auf der Insel Rhodos; zum Zusammenhang von Fremden und Vereinspräsenz auch Steuernagel, Dirk: Kult und Alltag in römischen Hafenstädten. Soziale Prozesse in archäologischer Perspektive. Stuttgart 2004 (zugl. Habil.-Schr. Universität Frankfurt a. M. 2002), S. 208, zur vergleichbaren Situation in der Hafenstadt Ostia; Vereinsmotivation laut Aristoteles ethica Nicomachea VIII 1160a, 10–12; zur Identitätsstiftung vgl. Jones, Associations (wie Anm. 14), S. 27–33; Murray, Oswyn: Der griechische Mensch und die Formen der Geselligkeit. In: Vernant, Mensch (wie Anm. 15), S. 255–294, hier S. 286–287.
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dann dienten diese Vereinigungen allein der Feier- und Gewinnsucht und blieben überdies immer auch eine Angelegenheit von Bürgern. Zweifelsohne besaßen sie als Kultgemeinschaften einen identitätsstiftenden Charakter, ganz ähnlich wie die bürgerlichen Institutionen der Phratrien, Demen und Phylen. Ihre Bedeutung kann in diesen Belangen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Festzuhalten ist zweierlei: Die Vereine müssen eine gewisse Attraktivität besessen haben, da die Mitgliedschaft freiwillig war. Offenbar boten sie den Fremden eine Form kollektiver Zugehörigkeit, da sie in der Gesellschaft als inoffizielle Institutionen privaten Charakters mit der Zeit eine Form von Anerkennung erlangten, die jener offizieller Einrichtungen gleichkam. Durch das Referieren auf die Mitgliedschaft in einem der Vereine entstand eine neue Möglichkeit der Selbstbeschreibung von Fremden sowie ihrer Fremdbeschreibung seitens der Bürger. Die Geschichte Athens zeigt, dass die Organisation in Vereinen für die Fremden lange Zeit kein Thema war, denn ein verhältnismäßig hohes Einwanderungsaufkommen wies die Stadt bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. auf, als man die Fremden noch einbürgerte. Nach der mutmaßlichen Einrichtung der Metökie 508/507 v. Chr. dauerte es noch mehr als ein Jahrhundert, bis die Präsenz von fremden Kultvereinen ab den 330er Jahren v. Chr. ein vertrautes Alltagsbild wurde.18 In der älteren Forschung wurde wiederholt die schwindende Integrationskraft der bürgerlichen Institutionen als wesentliche Ursache für das Aufkommen der privaten Kultvereine genannt, wobei der Fokus aber auf deren bürgerliche Mitglieder ausgerichtet war; die Diskussion dieser These soll im Rahmen dieses Aufsatzes ausgeklammert werden. Vielmehr soll der Blickwinkel der Fremden berücksichtigt werden: Welche Vorteile brachte ihnen die Organisation in eigenen Kultvereinen gegenüber der regulären Quasi-Mitgliedschaft in den traditionellen Bürgerverbänden, also vor allem der Deme? Gab es neben der geschwundenen Integrationskraft der bürgerlichen Institutionen eine weitere Ursache für das ab dem späteren 4. Jahrhundert v. Chr. verstärkte Aufkommen dieser Organisationsform, an der in vielen Fällen auch die normalen Bürger teilhatten? Wie 18 Zur quasi-offiziellen Anerkennung argumentiert Gabrielsen, Brotherhoods (wie Anm. 17), S. 185, u. a. mit stadtamtlichen Dekreten Athens, die einigen Kultvereinen Grunderwerb bzw. -pachtung erlaubten; so etwa einem aus nichteingebürgerten Thrakern bestehenden Kultverein der Bendis (Inscriptiones Graecae II2 1283; 261/0 v. Chr.); einem Verein zyprischer Aphrodite-Anhänger (Inscriptiones Graecae II2 337; 332/2 v. Chr.), sowie einem Kultverein der ägyptischen Isis, der in dieser Angelegenheit in derselben Inschrift Erwähnung findet; zur Rolle von Kultvereinen im städtischen Alltag vgl. Gabrielsen, Brotherhoods (wie Anm. 17), S. 179–181.
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verändert sich das Inklusions-/Exklusionsregime dadurch und welche Konsequenzen sind daraus für die Differenzierungsform der Gesellschaft ableitbar? Der Blick auf die athenischen Selbstbeschreibungssemantiken zeigt, dass das starke demokratische Selbstbewusstsein und Identitätsgefühl untrennbar mit der Stadtgeschichte und den Erfolgen der Stadt als Hegemonialmacht und kulturelles Zentrum verknüpft war. Der Erfolg des Staates war gewissermaßen eine Gemeinschaftsleistung der Bürgerschaft, die sich ganz wesentlich auch über politisches Engagement des Einzelnen definierte. Hatten die Metöken etwa über ihren Militärdienst noch am Erfolg des Staates teil, so waren sie auf politischer Ebene von der Teilhabe ausgeschlossen. Und die politische Partizipation war für das bürgerliche Selbstbewusstsein ein ganz wesentliches konstituierendes Element. Unumstößlich für die Mitgliedschaft in der Bürgergemeinschaft war auch die bürgerliche Abkunft per Geburt, ein Gesetz, das unter Perikles 451 v. Chr. noch insofern verschärft wurde, als es ab der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. zwei bürgerliche Elternteile für den Bürgerstatus vorsah. Mit der Vollendung der Demokratie durch die Gesetzgebung des Perikles radikalisierte sich das Bürgerbewusstsein überdies. Die oben angeführten Befunde zeigen, dass sich Selbstbeschreibungssemantiken herausgebildet hatten, die zwar durch den Rekurs den archaischen Tugendkatalog inhaltlich füllten, aber de facto zur Abgrenzung gegen die Metöken und ›xenoi‹ verwendet wurden: Als ›guter Athener‹ konnte nur gelten, wer auch als solcher geboren wurde. War es in vordemokratischen Zeiten noch gut denkbar, ohne besondere Verdienste in diesen Kreis aufgenommen zu werden, so war dies danach nur noch durch ganz außergewöhnliche Leistungen in seltensten Fällen möglich und selbst dann konnte das Bürgerrecht jederzeit wieder entzogen werden. Das Selbstbild der Bürger Athens gegenüber den Fremden entsprach der Sichtweise auf die schwächeren verbündeten Poleis im delischattischen Seebund: diese stünden demnach unter dem wohlwollenden Schutz der Stadt Athen. Entsprechende Forderungen wurden im Zusammenhang mit den Schutzleistungen formuliert. Analog zum Kanon des ›guten Demokraten‹ bildete sich entsprechend der Unterscheidung autochthon/fremd eine Fremdbeschreibungssemantik des ›guten Fremden‹ heraus, die von ihm Bewunderung für die athenische Lebensweise, Unauffälligkeit, militärische Einsatzbereitschaft und Identifikation mit den Zielen des Staates forderte, wie es etwa aus den Hiketiden des Euripides aus dem Jahr 421 v. Chr. hervorgeht. Die Reaktion der Metöken war dann auch, freilich ohne nennenswerte Aussicht auf Einbürgerung, eine weitgehende Assimilierung an die bürgerliche Lebensweise. Sie engagierten sich vielfach sogar weit über das geforderte Maß hinaus für die Belange und das Wohl der Stadt Athen.19
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Als politisch passive Ansässige in den bürgerlichen Demen dürfte die identitätsstiftende Wirkung der politischen Partizipation den Metöken, die das ursprüngliche Bürgerrecht ihrer Heimatpolis für alle Zeiten aufgegeben hatten, schmerzlich bewusst gemacht haben, dass sie in der athenischen Gesellschaft rechtlich den autochthonen Bürgern auf Dauer ungleich waren. Dies alles bedeutet, dass die Selbstverortung der Metöken nicht von einer grundlegenden Asymmetrie absehen konnte. Diese Asymmetrie forderte die Metöken einerseits dazu auf, die Differenz zu den attischen Bürgern möglichst zu minimieren, andererseits beruhte diese Dynamik einzig und allein auf der Setzung einer unaufhebbaren Differenz hin zu den ›Fremden‹. In dieser Paradoxie bestätigen sich Selbst- und Fremdzuschreibungen immer wieder wechselseitig, wobei sich als Hauptregel die Perpetuierung der Asymmetrie und Wahrung der Deutungshoheit von ›guten Athenern‹ über sich selbst und über die Metöken herauskristallisiert. Die Vereinsstrukturen gewähren Einblicke in die Ambivalenz, der die Selbstentwürfe von Metöken in einer solchen Konstellation nicht entkommen können: Einerseits gilt es, das Gefüge der Demokratie nachzuahmen und wenigstens mimetisch die eigene Teilhabe daran öffentlich zu repräsentieren, andererseits, die eigene Fremdheit, die ja rechtlich codiert und an der Zugehörigkeit zur Schicht der Metöken ablesbar ist, mit einem ›Mehr‹ an Bedeutung auszustatten. Gerade die Konkretisierung des bürgerlichen Lebensgefühls, die Verschärfung des Bürgerrechtsgesetzes und die Assimilationsforderung in der Zeit nach Perikles dürften dazu geführt haben, dass sich die Fremden Organisationsformen suchten, die ihnen Möglichkeiten boten, die sie im bürgerlichen Rahmen der Deme nur in begrenztem Maße hatten. Zeitlich fällt das mit dem Aufblühen des Vereinswesen ab dem dritten Drittel des 4. Jahrhunderts v. Chr. zusammen. Aus dem Folgenden wird ersichtlich, dass die Genese des Vereinswesens der bürgerlichen Forderung durchaus Rechnung trägt, wobei es sich nicht um Assimilation im Sinne einer tatsächlichen Gleichbehandlung handelt, sondern Inklusion in die Gesellschaft unter einem von der autochthonen Bürgerschaft definierten 19 Zur schwindenden Integrationskraft der bürgerlichen Institutionen vgl. Niebuhr, Marcus: Tod. Streiflichter auf die griechische Geschichte. Darmstadt 1968, S. 45– 63, hier S. 47. Zur Radikalisierung des Bürgerrechts Boegehold, Alan L.: Perikles’ Citizenship Law of 451/0 B. C. In: Ders. / Scafuro, Athenian Identity (wie Anm. 13), S. 57– 66; zum Selbstverständnis der Bürger als Schutzmacht über die Fremden und die getrennten Konzepte von ›guten Bürgern‹ und ›guten Fremden‹ vgl. Patzek, Bürgerrecht (wie Anm. 9), S. 40; die Überassimilation der Fremden hat Adak, Metöken (wie Anm. 11), S. 247–256, in seiner Monographie überzeugend nachgewiesen.
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Regime stattfindet: Die Kultvereine waren nach Ausweis einiger Inschriften nicht selten ein genaues Staatsabbild in Miniatur, mit seinen jährlich wechselnden Beamten, Vollversammlungen, Wahlen etc. Eine Amtsperiode war bei den Kultvereinen Athens genau deckungsgleich mit dem offiziellen Amtsjahr des Staates. Wie die staatlichen Verbände hatten die Vereine sogar eigene Leiturgiensysteme, die sich anhand von einschlägigen Ehreninschriften belegen lassen. Dieses Phänomen der Staatsimitation beschränkt sich keineswegs auf Athen. Besonders deutlich wird im griechisch-hellenistischen Kontext die Staatsimitation auf Rhodos, wo der Verein des Nikasion sogar nach dem Vorbild des rhodischen Staates in genau drei Phylen unterteilt war.20 Die Übernahme des attischen Lebensstils, wie etwa des Ideals der öffentlichen Betätigung, der Pflege von Freundschaften und der Bildung von Netzwerken, ließ sich im Vereinskontext perfektionieren. Die in der griechischen Antike so hoch eingeschätzte Ehre und das Streben danach fand im Vereinskontext für einen Metöken im Rahmen der vereinsinternen Amtsübernahme keinerlei Grenzen. Er war dort Gleicher unter Gleichen, was ihm im Rahmen der Deme meist zeitlebens verwehrt blieb. Allerdings hatten die Vereine mit ihren feingliedrigen Gremien und Ämtern nach staatlichem Vorbild im eigentlichen Staat selbst keinerlei Mitspracherecht. Offenkundig gelang es den Metöken nicht, durch das Vereinswesen ein Gegengewicht gegenüber den abwertenden Semantiken und Praktiken zu schaffen: Die von der Bürgerschaft gesetzte und mit immer wieder neuen Semantiken aufgeladene Unterscheidung autochthon/fremd regulierte die Inklusion in Politik erfolgreich und manifestierte sich in dem ›angeborenen‹ Tugendkatalog. Damit gingen Devianzmarkierungen einher, die als Fremdbeschreibungen den Metöken angehaftet wurden. Der Versuch seitens der Metöken, diesen durch Mimikry der Staatsstruktur in Vereinen entgegenzuwirken, bewirkte jedoch gerade das Gegenteil einer Ent-Differenzierung. Die Gruppe, die zunächst nur durch die Fremdbeschreibung überhaupt als Gruppe zusammengefasst wurde, produziert tatsächlich eine eigene Selbstbeschreibung durch die Mitgliedschaft in den Vereinen: Im Versuch, die Fremdbeschreibungssemantik als ungerechtfertigt zu widerlegen, entsteht 20 Zu identischen Amtsperioden vgl. Ziebarth, Erich: Das griechische Vereinswesen. Stuttgart 1896 (ND Wiesbaden, 1969), S. 194; zu Indizien für analoge Leiturgiensysteme vgl. z. B. Inscriptiones Graecae II2 1261A−C, 1263, 1271, 1277, 1298, 1284, 1301, 1292, 1314, 1315, 1323, 1324, 1327, 1329, 1337 und 1334; zur Staatsimitation im Vereinswesen vgl. Kloppenborg, John S.: Collegia and Thiasoi. Issues in Function, Taxonomy and Membership. In: Ders. / Wilson, Associations (wie Anm. 17), S. 16–30, hier S. 26; zu Rhodos vgl. Gabrielsen, Aristocracy (wie Anm. 17), S. 128.
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die Gruppe gerade dadurch, dass sie in Gegnerschaft zu der Fremdbeschreibung eine eigene Selbstbeschreibung produziert. Dadurch ist sie nicht mehr nur auf Ebene der Semantiken, sondern auch auf der Ebene der Praktiken identifizierbar. Ein ganz ähnliches Miteinander von Imitation und Differenz wohnt den Selbstrepräsentationen von Metöken auf Grabsteinen inne: Sie zielen, wie jene der Bürger, auf die Figuration eines legitimierenden Rahmens für Inklusion und Zugehörigkeit; im Falle der Metöken kann dies jedoch nicht über den Familiennamen erfolgen, der umgekehrt an die Nicht-Zugehörigkeit zu den Bürgern der Deme erinnern würde. So stiftet die Selbstdarstellung als erfolgreiche Handwerker und Händler21 den semantischen Inklusionsrahmen, was wiederum auf die Rolle der Ökonomie für die umrissenen Inklusionsprozesse hinweist. Der Beitrag zeigt einige offene Fragen und Probleme auf, die sich ausgehend von der Inklusion/Exklusion von Fremden in der archaischen, klassischen und der hellenistischen Zeit aufdrängen. Eine herausragende Zäsur stellt sich mit den kleisthenischen Reformen ein: Vieles spricht dafür, dass mit der Rechtskategorie ›metoikos‹ in der attischen Gesellschaft eine Vielzahl sozial-struktureller und semantischer Veränderungen einhergingen. Dazu gehört in erster Linie die rechtlich garantierte Ansprechbarkeit einer zahlenmäßig nicht zu übersehenden Gruppe von Fremden als eine (in sich zweigeteilte) Schicht. Dass dies die Stabilisierung der stratifikatorischen Differenzierungsform begünstigte, liegt auf der Hand. Das Inklusions-/Exklusionsregime gegenüber Fremden besitzt also durchaus eine generative Dimension im Sinne eines Beitrags zur Neugestaltung gesellschaftlicher Strukturen: Es vermittelt zwischen der althergebrachten, in vorschriftlicher Zeit entstandenen Ordnung der ›oikoi‹ und den bereits aufgekommenen Strata. Damit hängt die Ambivalenz zusammen, die für den Umgang mit Fremden in den Poleis seit der Zeit der athenischen Demokratie charakteristisch ist, und die, freilich in unterschiedlichen zeit-räumlichen Schattierungen, bis in die späthellenistische Zeit im ägäischen Raum beobachtbar bleibt: Aus rechtlicher 21 Sehr prominent in dieser Hinsicht etwa die Grabreliefs Clairmont, Christoph W.: Classical Attic Tombstones. 3 Bde. Bd. 1. Kilchberg 1993, S. 259–260 (Kupferschmied Sosinos), S. 402– 405 (Schuster Xanthippos); sowie Scholl, Andreas: Das Charonrelief im Kerameikos. In: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 108 (1994), S. 353–373; bzw. ders.: Geschlossene Gesellschaft. Die Bewohner des klassischen Athen in den Bildern und Inschriften ihrer Grabdenkmäler. In: Die griechische Klassik (wie Anm. 14), S. 179–189 (wahrscheinlich skythische Schiffer); Bergemann, Johannes: Demos und Thanatos. Untersuchungen zum Wertesystem der Polis im Spiegel der attischen Grabreliefs des 4. Jahrhunderts v. Chr. und zur Funktion der gleichzeitigen Grabbauten. München 1997 (zugl. Habil.-Schr. Universität Göttingen 1994), S. 147–149.
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Sicht entspricht das Inklusionsregime gegenüber Fremden den Prinzipien der Stratifikation, aber hinsichtlich der Selbstentwürfe, der Semantiken attischer Bürger-Identität und der Konzeptualisierung ethnisch und religiös codierter Differenz herrscht ein Zustand produktiver Ambivalenz. Die Selbstrepräsentation von Metöken als Händler und Handwerker auf Grabsteinen und ihre Selbstbeschreibung als Mitglieder von Vereinen, die als Gegenentwurf einer machtasymmetrischen Fremdbeschreibung entstand, sind ein eindrückliches Beispiel für die Neuformierung von Identitäten in einem Inklusions-/Exklusionsregime, das sich in einer Phase der produktiven Überdetermination befindet: Differenzierungsformen und Semantiken der Selbstverortung konkurrieren und interferieren. Das Beispiel der Vereine, in denen sich Fremde zusammenschlossen, teils um religiöse Kulte zu zelebrieren, teils um autochthone öffentliche Strukturen nachzuahmen und auch selbst öffentlich zu agieren, lässt die Ambivalenzen der Zugehörigkeit und der Semantiken autochthon/fremd besonders deutlich zutage treten. Auf diesem Hintergrund wird die Reichweite von Inklusion/Exklusion als Analysekategorie deutlich, denn an dem Modus der Adressierbarkeit speziell von Fremden und Armen lassen sich wichtige Aspekte des gesellschaftlichen Regimes – im Sinne des konkreten Zusammenwirkens von Differenzierungsstrukturen, Praktiken und Semantiken – besonders gut erfassen. Allerdings wurden auch Hinweise darauf gefunden, dass das elitäre Stratum, wenn es sich später operativ schließt, die Semantik autochthon/fremd zugunsten der Semantik reich/arm zurückstellen muss.22 In übergreifender Hinsicht leistet die Klärung der Rolle von Inklusion/Exklusion für die Genese und die Stabilisierung von Stratifikation einen Beitrag zur Beantwortung einer bei Niklas Luhmann offen gebliebenen Frage: Nach dem heutigen Wissensstand ist es schwierig, eine schlüssige kausale Erklärung für die Entstehung von Stratifikation zu geben. Vermutlich wird es verschiedene ›äquifinal‹ wirkende Ausgangslagen gegeben haben; und die Frage müsste dann lauten, in welchen Hinsichten eine gegebene egalitäre, segmentär differenzierte Sozialordnung empfindlich ist für Umbrüche.
Eine Antwort auf diese Frage könnte lauten, dass die Inklusion von Fremden in eigens für sie geschaffene Schichten die Stabilisierung der Strata begünstigt hat, denn die Oberschicht versuchte, sich möglichst in Abgren22 Zur operativen Schließung des elitären Stratums vgl. die Beiträge von Mark Beck und Katrin Engfer in diesem Band; Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1998, S. 655 (Zitat); ebd., S. 621– 622: »[Wir] setzen [. . .] an die Stelle eines allzu linearen Konzeptes [von Inklusion / Exklusion] die Frage, wie die Variable Inklusion / Exklusion mit Formen der Systemdifferenzierung der Gesellschaft zusammenhängt.«
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zung zu den neuen ›Mitgliedern der Gesellschaft‹ zu schließen. Hinweise darauf sind die Einführung des Status ›metoikos‹ im Zuge der Reformen des Kleisthenes, die gesetzlich gebotene Endogamie, Abgrenzungssemantiken der bürgerlichen Selbstbeschreibung oder die Notwendigkeit, sich über Vereine in institutionalisierte Kommunikationsräume zu inkludieren. Wie Luhmann in Abgrenzung zu Talcott Parsons schon dargelegt hat, sind Inklusions-/Exklusionsregime nicht einfach nur in Abhängigkeit von gesellschaftlicher Differenzierung zu sehen. Vielmehr beeinflussen sich die Differenzierungsform und das Inklusions-/Exklusionsregime wechselseitig.
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»Die Sonderstellung der athenischen Demokratie unter den politischen Ordnungen der Vormoderne kann unter Rückgriff auf die Systemtheorie präziser erfaßt werden.«1 Christian Mann zeigt in seinem Aufsatz über die athenische Demokratie einen möglichen Nutzen der luhmannschen Systemtheorie für die Alte Geschichte am Beispiel zweier festgefahrener Forschungskontroversen. So plädiert Blok vehement für einen Bürgerstatus von Frauen in Athen, schließlich sei die Bürgerschaft mehr als eine bloße Rechtsgemeinschaft, nämlich auch eine Abstammungsgemeinschaft. Die Bezeichnungen für Bürgerinnen verhielten sich analog zu denen für Bürger, und in Kulten sowie in der Hausgemeinschaft erfüllten sie bedeutende Rollen.2 Allerdings durften Frauen nicht an politischer Entscheidungsfindung partizipieren, und daher fällt es einem Teil der Fachwelt schwer, Frauen einen Bürgerstatus zuzuerkennen.3 Cohen argumentiert auf eine ähnliche Weise wie Blok und schließt neben Frauen auch Metöken (dauerhaft in einer Polis lebende Nichtbürger) mit ein, die in vielen Aspekten des öffentlichen Lebens von Bürgern ununterscheidbar gewesen waren. Seiner Meinung nach habe die entscheidende Kluft nicht zwischen Bürgern und Nichtbürgern, sondern zwischen Auswärtigen und Ansässigen bestanden, wobei er das Verbot politischer Mitbestimmung in seiner Argumentation mit der Begründung unberücksichtigt lässt, es würde lediglich einen Aspekt des öffentlichen Lebens ausmachen.4 Als Instrumentarium, das die konträren Positionen zusammenführen könnte, schlägt Mann die Systemtheorie vor, durch welche »man die athenische Demokratie als ein politisches Funktionssystem in der Umwelt einer 1 Mann, Christian: Politische Gleichheit und gesellschaftliche Stratifikation. Die athenische Demokratie aus der Perspektive der Systemtheorie. In: Historische Zeitschrift 286 (2008), S. 1–35, hier S. 35. 2 Blok, Josine H.: Recht und Ritus der Polis. Zu Bürgerstatus und Geschlechterverhältnissen im klassischen Athen. In: Historische Zeitschrift 278 (2004), S. 1– 26, hier S. 7 f., S. 12 f., S. 21–26. 3 Für genauere Ausführungen hierzu und Nennung von Autoren und Werken vgl. Blok, Recht (wie Anm. 2), S. 13 ff. 4 Cohen, Edward E.: The Athenian Nation. Princeton 2000, S. X, 19 ff., 30 ff., 70 ff., 122 ff; Mann, Gleichheit (wie Anm. 1), S. 1– 4. Zu den Nichtbürgern vgl. den Aufsatz von Jörg Erdtmann in diesem Band.
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stratifizierten Gesellschaft beschreiben kann«.5 Bei Widersprüchen in den Quellen hinsichtlich des Status einer Person können diese jetzt den unterschiedlichen Funktionssystemen zugeordnet werden, sodass eine gegenseitige Abwägung entfällt. Die Hausgemeinschaft, Kulte etc. sind die Umwelt der Politik und nicht mehr ein Teil von ihr, denn die Operationen dieses geschlossenen politischen Systems wurden nicht von ihnen bestimmt. Mann weist dabei darauf hin, dass es Funktionssysteme nach Luhmanns Theorie, die sich auf moderne Gesellschaften bezieht, in stratifizierten Gesellschaften eigentlich nicht geben könne, weil in ihnen dem sozialen Status einer Person universelle Geltung zukomme. Dort würde folglich die Politik keine Grenzen zur Umwelt ziehen, soziale Bindungen würden den Entscheidungsfindungsprozess politischer Organe bedingen, womit die operative Geschlossenheit und damit ein Funktionssystem nicht gegeben seien. Mann erläutert anschließend in seinem Aufsatz, warum in dem speziellen Fall der athenischen Demokratie dennoch die operative Schließung und damit die Voraussetzung für ein Funktionssystem gegeben ist,6 denn nach den Reformen des Kleisthenes »wurde es wohl erstmals in der Weltgeschichte möglich, die politische Ordnung aus dem Kontext der gesellschaftlichen herauszulösen und in nennenswertem Ausmaß zu verselbständigen.«7 Mann hat gezeigt, dass in der attischen Demokratie ein operativ geschlossenes Funktionssystem Politik entstanden ist, was fraglich werden lässt, inwieweit Stratifikation in der klassischen Zeit tatsächlich das primäre Differenzierungsprinzip war.8 Im Rahmen dieses Aufsatzes wird näher untersucht, ob der Wegfall des Funktionssystems Politik mit der endgültigen operativen Schließung eines elitären Stratums einhergeht und unter Verwendung welches semantischen Codes dies geschieht. Daher werden im Folgenden die Inklusionsbedingungen des Funktionssystems Politik mit Blick darauf untersucht, wann die operative Geschlossenheit wegfällt und 5 Mann, Gleichheit (wie Anm. 1), S. 6. Vgl. auch Mann, Christian: Einleitung. In: Ders. [u. a.] (Hg.): Rollenbilder in der athenischen Demokratie. Medien, Gruppen, Räume im politischen und sozialen System. Beiträger zu einem interdisziplinären Kolloquium in Freiburg i. Br., 24.–25. November 2006. Wiesbaden 2009, S. 9–15, hier S. 10. 6 Mann, Gleichheit (wie Anm. 1), S. 6 f., passim. Bzgl. Luhmann vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1997, S. 595 ff. und S. 743 ff. 7 Meier, Christian: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt a. M. 1980, S. 92. 8 Jörg Erdtmann vertritt in seinem Aufsatz die Auffassung, dass die stratifikatorische Differenzierung vorherrschte, wobei die segmentäre in den Oikoi weiterhin wirksam bleibt.
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welcher Zusammenhang mit der für die stratifizierte Gesellschaft wichtigen Unterscheidung ›arm/reich‹ besteht. Dabei wird danach gefragt, inwiefern soziale und ökonomische Ungleichheiten zunächst als Inklusionsbedingungen für Politik und dann für ein elitäres Stratum an Relevanz und Wirksamkeit gewinnen. Hierzu werden zunächst bereits bestehende Formen der Ungleichheit und daraus resultierende Inklusionen/Exklusionen in dem von Mann aufgezeigten Funktionssystem Politik in klassischer Zeit herausgestellt. Anschließend geht der Beitrag auf in hellenistischer und provinzialer Zeit eingetretene Entwicklungen der Formen von Inklusion/Exklusion unter Berücksichtigung der in diesen Zeiträumen erfolgten strukturellen Änderungen ein.9 Fragestellungen wird in fokussierter Weise exemplarisch nachgegangen. Demzufolge können die einzelnen Themenfelder nicht in ihrer ganzen Breite erörtert werden. Für die Zwecke des vorliegenden Bandes wurde in diesem Beitrag auf einige in der Alten Geschichte üblichen Gebräuchlichkeiten verzichtet. 1. Ungleichheiten als Inklusionsbedingungen in klassischer Zeit Bereits in der klassischen Zeit, der Blüte der Demokratie, in welcher die ›isonomia‹ aller Bürger propagiert wurde,10 existierten de facto Ungleichheiten innerhalb der Bürgerschaft einer griechischen Polis. Diese Ungleichheiten bestanden zwischen Armen und Reichen, und zwar nicht nur im materiellen Sinn. Armut hatte nach der Vorstellung der reichen Eliten negative Begleiterscheinungen in politischer und sittlicher Hinsicht und wurde als gravierendes Übel angesehen.11 9 Selbstverständlich gilt das Nachstehende nicht gleichermaßen zu allen Zeiten und für alle griechischen Poleis. Dennoch sollen hier allgemeine Tendenzen angedacht werden. Hinsichtlich der Zitationsweise folgt der Beitrag den Vorgaben der Herausgeber; daraus ergeben sich stellenweise Abweichungen von den in der antiken Geschichte üblichen Modalitäten. 10 Vgl. etwa Thukydides 6,39,1 f.; Isokrates, orationes IV 105. Vgl. etwa Bleicken, Jochen: Die athenische Demokratie. Paderborn 1986, S. 285 ff. 11 Vgl. Aristoteles, politica 1332a19; Pseudo-Xenophon, Athenaion politeia 1,5. Nach Ansicht der Eliten sollte Armut die menschliche Würde bedrohen, Unzufriedenheit und die Sucht nach Umsturz des Bestehenden wecken und zur Begierde führen, sich fremdes Gut aneignen zu wollen. Aristoteles, politica 1265b12; Hesiodos, opera et dies 315 ff.; Platon, de re publica 422a. Arme würden auch eher lügen und betrügen, Armut sei der Nährboden für jede Form schlechten und verbrecherischen Handelns und zwinge den Menschen gegen seine Natur zum Bösen. Platon, de re publica 331af.; Isokrates, orationes VII 44 f. Bolkestein, Hendrik: Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum. Ein Beitrag zum Problem »Moral und Gesellschaft«. Utrecht 1939,
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Als arm galten dabei aus Sicht des Adels alle diejenigen, die nicht genug besaßen, um davon leben zu können, und daher gezwungen waren, sich mit Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen.12 Diese sogenannten Armen konnten dabei auch Besitzer von mäßigen Vermögen sein, welche allerdings für größere Leistungen, wie beispielsweise die Flottensteuer, nicht immer ausreichten.13 Die Handarbeit, mit der sich die meisten dieser ›Armen‹ ihren Lebensunterhalt verdienen mussten, wurde von den Eliten verachtet, weil im Sitzen ausgeführte Arbeiten als ungesund galten. Xenophon schreibt, dass Arme folglich nicht gut zum Kriegsdienst geeignet seien. Außerdem beschäftigten sie sich nicht, wie es als erstrebenswert angesehen wurde, ausführlich mit Staatsdingen (wie Politik und Philosophie). Daher würde auch ihr Geist nicht geschult werden.14 Diese Einstellung zeigt, dass mindestens ein S. 185 f.; Herrmann-Otto, Elisabeth [u. a.] (Hg.): Armut, Arme und Armenfürsorge in der paganen Antike. In: Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, hg. v. Herbert Uerlings [u. a.]. Ausst.-Kat. Stadtmuseum Simeonstift Trier und Rheinisches Landesmuseum Trier. Darmstadt 2011, S. 73–81, hier S. 73. 12 Xenophon, memorabilia IV ,2,37. Über das Existenzminimum äußern sich auch Platon, de re publica 2,372a-d und Plutarch, moralia 523e. Vgl. Mann, Gleichheit (wie Anm. 1), S. 10. 13 Demosthenes, orationes XVIII 102. Aristoteles, politica 1270b6 bezeichnete etwa die kleineren Bauern als ›penetes‹ und auch Euripides, Electra 38 lässt Electra sich »arm« nennen, weil sie die Frau eines einfachen Bauern ist. Sogar sklavenbesitzende ›penetes‹ werden erwähnt. Aristophanes, Plutus 2,26,29; Aristophanes, Pax 1,2,120; Aristophanes, Lysistrata 1203; Pseudo-Xenophon, Athenaion politeia 1,19; Xenophon, symposium I 11; Lysias, orationes XXIV 6; Demosthenes, orationes XLV 71; Platon, de re publica 465c; Aristoteles, politica 1252b. Bolkestein, Wohltätigkeit (wie Anm. 11), S. 182 f.; Hands, Arthur Robinson: Charities and Social Aid in Greece and Rome. London/Southampton 1968, S. 62. 14 Xenophon, oeconomicus 4,2. Überdies herrschte die Meinung vor, Handwerker würden durch den Bedarf des Lohnes sozial abhängig werden, ihre Existenz von Bedürfnissen anderer bestimmt, was als das eigentlich Negative dieser Art des Erwerbs galt. Ähnliche negative Einstellungen herrschten im Allgemeinen auch bzgl. der Kleinbauern, Händler und Geldverleiher vor. Nur die Landwirtschaft galt den Eliten als ›gute‹ Einkommensquelle. Vgl. Aristoteles, oeconomica 1343a; Aristoteles, politica 1258b37; 1328b37–1329a2; Herodotos II 167; Hesiodos, opera et dies 618– 694; Platon, leges IV 704b5-b8; XII 952d-953e; Platon, de re publica 495d; Plutarch, Perikles 2; Xenophon, oeconomicus 4,17, 5,1 f., 6,4–7. Austin, Michel/Vidal-Naquet, Pierre: Gesellschaft und Wirtschaft im alten Griechenland. München 1987, S. 156; Bolkestein, Wohltätigkeit (wie Anm. 11), S. 191–199; Meijer, Fik/van Nijf, Onno: Trade, Transport and Society in the Ancient World. A Sourcebook. London / New York 1992, S. 3; Mrozek, Stanislaw: Lohnarbeit im Klassischen Altertum. Ein Beitrag zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Bonn 1989, S. 19 und S. 46–53; von Reden, Sitta: Arbeit und Zivilisation: Kriterien der Selbstdefinition im antiken Athen. In: Münstersche Beiträge zur anti-
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Teil der ›Armen‹ häufig nicht die Muße hatte, aktiv an den Dingen des öffentlichen Lebens teilzunehmen, die für das Selbstverständnis zumindest der elitären Bürger von entscheidender Bedeutung waren, nämlich die politische Mitbestimmung und die körperliche Ertüchtigung im Gymnasion. Auch wenn Letzteres in klassischer Zeit zumindest allen Bürgern offengestanden haben dürfte, ist davon auszugehen, dass viele sich finanziell und zeitlich hierzu nicht in der Lage sahen, wenn sie von ihrer Hände Arbeit eine Familie zu ernähren hatten.15 Da von der Ausbildung im Gymnasion die Wehrfähigkeit und damit die ›eleutheria‹ und ›autonomia‹ einer Polis abhing, darf der Verlust an sozialem Kapital, der mit dem Nichtpartizipieren einherging, nicht zu gering angesetzt werden.16 Der andere Punkt, der von Xenophon angesprochen wird, ist die Unmöglichkeit, sich Staatsdingen zu widmen, weil die banausischen Tätigkeiten die Menschen zeitlich stark in Anspruch nähmen. Dies galt auch für die bürgerlichen Bauern aus dem Umland, die teilweise einen ganzen Tag nach Athen hätten anreisen müssen und daher im Normalfall nicht bei der Volksversammlung anwesend sein konnten.17 Die Möglichkeit, regelmäßig an der Volksversammlung teilzunehmen und damit zum Wohle der Polis tätig zu werden, war vielen ›Armen‹ in der Praxis folglich verwehrt. Analog verhielt es sich mit der Ratsmitgliedschaft. Die politische Partizipation galt aber als Pflicht und nicht als lediglich potentiell wahrnehmbares Privileg der Bürger. Wer dieser nicht nachkam, aus welchen Gründen auch immer, wurde nicht bloß als untätig angesehen, sondern als schlecht.18 Auch die
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ken Handelsgeschichte 11 (1992) 1, S. 1–31, hier S. 19–28; Whitehead, David: The Ideology of the Athenian Metic. Cambridge 1977, S. 118. Vgl. Bolkestein, Wohltätigkeit (wie Anm. 11), S. 193; Hands, Charities (wie Anm. 13), S. 119 f. zur hellenistischen Zeit. Die Bedeutung der Wehrfähigkeit für die griechischen Poleis wird auch daran deutlich, dass Xenophon, oeconomicus 4,2 anführt, dass es Bürgern in Gegenden, wo der Krieg besonders hoch geschätzt wurde, verboten war, banausischen (also handwerklichen) Tätigkeiten nachzugehen. Hands, Charities (wie Anm. 13), S. 62; Mann, Gleichheit (wie Anm. 1), S. 21. Vgl. hierzu für die hellenistische und römische Zeit Jones, Arnold H. M.: The Greek City from Alexander to Justinian. 4. Aufl. Oxford 1971, S. 271 f. Vgl. Euripides, Orestes, sowie Spahn, Peter: Mittelschicht und Polisbildung. Frankfurt a. M. [u. a.] 1977, S. 8. Thukydides 2,40,2. Mann, Einleitung (wie Anm. 5), S. 12; Mann, Gleichheit (wie Anm. 1), S. 4. Zur politischen Pflicht der Bürger vgl. auch Carlsson, Susanne: Hellenistic Democracies. Freedom, Independence and Political Procedure in some East Greek City-States. Stuttgart 2010, S. 291. Da es sich hierbei um keine dichotome Exklusion, sondern um eine abgeschwächte Form der Peripheralisierung handelt, kann in diesem Zusammenhang von strukturierter Ungleichheit
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etwa ab der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. gezahlten Anwesenheitsgelder für die Teilnahme am Rat, an der Volksversammlung und am Geschworenendienst mit dem Ziel, eine beschlussfähige Mehrheit zu erreichen, wird nicht allen arbeitenden Bürgern eine aktive Teilnahme ermöglicht haben.19 Die unentgeltlichen sowie ehrenamtlichen Magistraturen konnten ebenfalls nur von wohlsituierten Bürgern bekleidet werden und die Rolle eines Demagogen (Redner in der Volksversammlung mit beratender Funktion) konnte nur von finanziell Unabhängigen und rhetorisch Ausgebildeten übernommen werden.20 Es wird deutlich, dass die propagierte Gleichheit aller Bürger in der Realität nicht gegeben war. Gerade bei den für das bürgerliche Selbstverständnis entscheidenden Bereichen hatten die ›Armen‹ in der Realität kaum Partizipationsmöglichkeiten. Damit ist klar, dass die finanzielle Situation wesentliche Bedingung für eine Inklusion in die Politik war.21 Dies steht jedoch nicht im Widerspruch mit der operativen Geschlossenheit des Politiksystems, da ja gesprochen werden. Leisering, Lutz: Desillusionierungen des modernen Fortschrittsglaubens. »Soziale Exklusion« als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und soziologisches Konzept. In: Schwinn, Thomas (Hg.): Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. Frankfurt a. M. 2004, S. 238–268, hier S. 262. 19 Bolkestein, Wohltätigkeit (wie Anm. 11), S. 267–269. Aristoteles, Athenaion politeia 27,4; vgl. Aristophanes, Equites, S. 50 f., S. 255 und S. 797 ff. 20 Vgl. Habicht, Christian: Ist ein »Honoratiorenregime« das Kennzeichen der Stadt im späten Hellenismus? In: Wörrle, Michael / Zanker, Paul (Hg.): Stadtbild und Bürgerbild im Hellenismus. Kolloquium, München, 24. bis 26. Juni 1993. München 1995, S. 87–92, hier S. 89. Andererseits kamen nur die Reichen für die kostspieligen Leiturgien in Frage und mussten dementsprechend auch mehr zum Wohle der Polis zahlen. Bolkestein, Wohltätigkeit (wie Anm. 11), S. 267; Mann, Gleichheit (wie Anm. 1) S. 14 f. und S. 23. Demagogen benötigen auch inhaltliche Kompetenzen zu den Tagesordnungspunkten der Volksversammlung. Den Rednern wurden das Wort entzogen, wenn sie den Ansprüchen der Bürger nicht genügten. Aeschines 1,34; Xenophon, memorabilia 3,6,1. Vgl. auch Mann, Christian: Bürgerrollen. Definitionen im politischen System und Raum. Kalokagathia in der Demokratie. Überlegungen zur Medialität der politischen Kommunikation im klassischen Athen. In: Mann, Rollenbilder (wie Anm. 5), S. 147–170, S. 148 f. und S. 161 ff. 21 Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass die Quellen fast ausschließlich von Mitgliedern der Eliten geschrieben wurden. Die arbeitende Bevölkerung war durchaus stolz auf ihre Leistungen. Vgl. Inscriptiones Graecae II /III 2 1051, 1084, 7268. Vgl. Herrmann-Otto, Elisabeth: Sklaverei und Freilassung in der griechischrömischen Welt. Hildesheim 2009, S. 94; Mrozek, Lohnarbeit (wie Anm. 14), S. 50 f. In den literarischen Quellen spiegelt sich auch das sozio-ökonomische Konfliktpotential der damaligen Zeit wider. Vgl. Fuks, Alexander: Social Conflict in Ancient Greece. Leiden 1984, S. 19.
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jedes Funktionssystem eigene Inklusionsbedingungen herausbildet. So sind neben einem ausreichenden Vermögen auch die Volljährigkeit oder eine gewisse Bildung noch in der Moderne mögliche Inklusionsbedingungen für das Funktionssystem Politik. Da der Adel sich über die Teilnahme an den Kommunikationsräumen Symposion und Gymnasion sowie Reichtum durch Landbesitz und nicht durch Abstammung definierte, gab es jedoch Aufstiegsmöglichkeiten für nichtadlige Bürger.22 Solange sie den Lebensstil der Eliten aufgriffen und somit die Gesellschaftsordnung reproduzierten, schlossen sich in der griechischen Antike soziale Mobilität und Stratifikation nicht gegenseitig aus.23 Zu beobachten ist also ein Auseinandertreten von Praktiken und Semantiken: Die ›isonomia‹ und somit die Inklusion in die Politik werden zwar behauptet, die tatsächliche ökonomische Situation eines Bürgers wird aber dergestalt zur Inklusionsbedingung, dass sie über die faktische Möglichkeit der Teilhabe an der Politik entscheidet. Armut stellte während der klassischen Zeit also eine Inklusionsbarriere dar. Ausgehend von diesem Befund ist zu fragen, inwieweit sich die bestehenden Ungleichheiten in den griechischen Poleis in hellenistischer und provinzialer Zeit veränderten. 2. Inklusion/Exklusion in griechischen Poleis in hellenistischer und provinzialer Zeit Die bereits in klassischer Zeit vorherrschenden strukturellen Ungleichheiten verschärften sich im Hellenismus noch weiter. Mit seinem Beginn entstanden die ersten langen Ehrendekrete für Polisbürger, nachdem Ehrungen und herausragendes Prestige für einzelne in klassischer Zeit noch verpönt gewesen waren. Es war jetzt akzeptiert, herausragende (finanzielle) Leistungen einzelner Euergeten (›Wohltäter‹) zum Wohle der Polis in Form von Ehrungen zu honorieren. Dieses gesteigerte Ansehen grenzte sie für alle offensichtlich von 22 Vgl. Theognis 183 ff. Mann, Gleichheit (wie Anm. 1), S. 11 und S. 24 f.; Mrozek, Lohnarbeit (wie Anm. 14), S. 51; Stein-Hölkeskamp, Elke: Adelskultur und Polisgesellschaft. Studien zum griechischen Adel in archaischer und klassischer Zeit. Stuttgart 1989, S. 43 ff., S. 86 ff. und S. 104 ff. 23 Vgl. Luhmann, Gesellschaft (wie Anm. 6), S. 706; Mann, Gleichheit (wie Anm. 1), S. 11. Zur Annahme des elitären Lebensstils für Aufsteiger vgl. auch Pleket, Harry W.: Political Culture in the Cities of Asia Minor. In: Schuller, Wolfgang (Hg.): Politische Theorie und Praxis im Altertum. Darmstadt 1998, S. 204–216, hier S. 208 und S. 210; Pleket, Harry W.: Sociale Stratificatie en Sociale Mobiliteit in de Romeinse Keizertijd. In: Tijdschrift voor Geschiedenis 84 (1971), S. 215– 251, hier S. 245.
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den übrigen Bürgern ab, denen diese materiellen Möglichkeiten nicht offenstanden.24 Zum Hintergrund dieser Entwicklung gehörten die im Hellenismus gestiegenen Ausgaben der Städte, derer sie mit Hilfe ihrer eigenen öffentlichen Mittel nicht mehr Herr zu werden vermochten.25 Ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. begann sich die Freigiebigkeit von Familien auf die Leiturgien (private Finanzierung öffentlicher Aufgaben) und die eponymen Ämter (oberste Ämter einer Polis, nach deren Träger die entsprechenden Jahre benannt wurden) auszudehnen. Zur gleichen Zeit zählten die Ehreninschriften erstmals die Großzügigkeit der Vorfahren der Euergeten auf. Dies führte ab dem Ende des 2. Jahrhunderts dazu, dass bereits junge Männer, die aus elitären Familien stammten, Euergeten und auch Amtsinhaber wurden.26 Auch wenn die Ämter weiterhin jedem Bürger offenstanden, wurden sie zunehmend von Mitgliedern der Eliten in Anspruch genommen. Dies führte aber nicht zu einer Beschneidung der Macht des Rates, auch eine rechtliche Abgrenzung der Honoratioren von der übrigen Bürgerschaft hat es nicht gegeben.27 Die Eliten herrschten nicht, auch wenn sie sicherlich eine wesentliche Rolle bei der Regelung der öffentlichen Angelegenheiten gespielt hatten. Ihr politischer Einfluss sollte aber dennoch nicht überbewertet werden, da die Volksversammlung wei24 Dabei hatten diese Familien ihre Vormachtstellung durch ihren Einsatz in jeder Generation aufs Neue zu etablieren. Quaß, Friedemann: Die Honoratiorenschicht in den Städten des griechischen Ostens. Untersuchungen zur politischen und sozialen Entwicklung in hellenistischer und römischer Zeit. Stuttgart 1993, S. 21, 28 f., 38 f., 50 f. Vgl. Habicht, Honoratiorenregime (wie Anm. 20), S. 90. 25 Dies waren u. a. Abgaben und Gesandtschaften an die hellenistischen Herrscher, Instandsetzung von Verteidigungsanlagen, Entlohnung von Soldaten, Abhilfe bei Getreideknappheiten, um nur einige zu nennen, sowie ein gleichzeitig steigendes Prestigebedürfnis durch Bauwerke in Ermangelung einer eigenständigen Außenpolitik. Die Städte waren sowohl von den äußeren Machthabern als auch von der Leistungsbereitschaft der einzelnen Bürger abhängig. Außerdem hatten nur die Eliten den nötigen gesellschaftlichen Hintergrund, um von auswertigen Machthabern als angemessene Kontaktpersonen akzeptiert zu werden. Quaß, Honoratiorenschicht (wie Anm. 24), S. 184 f. passim; Habicht, Honoratiorenregime (wie Anm. 20), S. 88. In den freien Poleis etablierte sich ebenfalls eine Honoratiorenschicht. Vgl. Grieb, Volker: Hellenistische Demokratie. Politische Organisation und Struktur in freien griechischen Poleis nach Alexander dem Großen. Stuttgart 2008, S. 342, zum Beispiel von Lindos. 26 Dmitriev, Sviatoslav: City Government in Hellenistic and Roman Asia Minor. Oxford 2005, S. 290; Habicht, Honoratiorenregime (wie Anm. 20), S. 88; Wörrle, Michael: Vom tugendsamen Jüngling zum ›gestreßten‹ Euergeten. Überlegungen zum Bürgerbild hellenistischer Ehrendekrete. In: Wörrle/Zanker, Stadtbild (wie Anm. 20), S. 241–250, hier S. 248 f.; Quass, Honoratiorenschicht (wie Anm. 24), S. 50 ff. 27 Dmitriev, Government (wie Anm. 26), S. 297.
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terhin das entscheidende Organ darstellte und die Bürger aktiv von ihrem politischen Recht Gebrauch gemacht haben.28 Eine weitere Ungleichheit ist in hellenistischer Zeit an der Zugangserlaubnis zum Gymnasion abzulesen. In einem Gesetz aus Beroia von der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. wird festgelegt, dass Markttreibende keinen Zugang zum Gymnasion haben durften.29 Damit sind aller Wahrscheinlichkeit nach die kleinen Handwerker und Händler gemeint und nicht die Reichen unter ihnen, die als potentielle Stifter im Gymnasion auftreten konnten.30 Das Prestige dieser Leute wurde im Vergleich zur klassischen Zeit, in der sie schon nicht gut angesehen waren, hier noch weiter herabgesetzt, und sie wurden aus einem wichtigen Identifikationsraum der Polis durch Ausschluss von der Kommunikation exkludiert.31 Es kann hier keine ausführliche Untersuchung der Politik aller griechischen Poleis im Hellenismus auf ihre mögliche Beschreibbarkeit als Funktionssystem hin erfolgen, schließlich lagen jeder Polis unterschiedliche Entwicklungen zugrunde. Verallgemeinernd gilt allerdings Folgendes: Obwohl zu beobachten ist, dass die ökonomische Situation eines Bürgers immer mehr zur hauptsächlichen Inklusionsbedingung von Politik wird und damit 28 Grieb, Demokratie (wie Anm. 25), S. 350 f. und S. 356 f. zum Beispiel von Rhodos; Habicht, Honoratiorenregime (wie Anm. 20), S. 87 f. und S. 92. Vgl. Carlsson, Democracies (wie Anm. 18), S. 287. Zuiderhoek, Arjan: The Politics of Munificience in the Roman Empire. Citizens, Elites and Benefactors in Asia Minor. Cambridge 2009, S. 60 f. ist der Meinung, dass der Rat de facto von den Eliten gebildet und das effektive Regierungsorgan der Poleis im späten Hellenismus wurde dessen Kompetenzen weit über seine frühere lediglich beratende Tätigkeit hinaus reichte. Grieb weist jedoch zu Recht darauf hin, dass die Entscheidungsgewalt immer noch bei der Volksversammlung lag. Außerdem stand der Rat, zumindest in der Theorie, noch allen Bürgern gleichermaßen offen. 29 Bagnall, Roger S./Derow, Peter (Hg.): The Hellenistic Period. Historical Sources in Translation. Malden [u. a.] 2004, S. 133–138, Nr. 78. Wer im Einzelnen zu welcher Zeit Zugang zu den Gymnasien hatte, unterschied sich natürlich von Polis zu Polis. 30 Kobes, Jörn: Teilnahmeklauseln beim Zugang zum Gymnasion. In: Kah, Daniel / Scholz, Peter (Hg.): Das hellenistische Gymnasion. Berlin 2004, S. 237–245, hier S. 240. 31 Zum Identifikationsraum vgl. Gehrke, Hans-Joachim: Bürgerliches Selbstverständnis und Polisidentität im Hellenismus. In: Hölkeskamp, Karl-Joachim [u. a.] (Hg.): Sinn in der Antike. Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum. Mainz 2003, S. 225–254, hier S. 242 f. Gehrke geht davon aus, dass die Gymnasien zwar zunehmend elitärer wurden, aber dennoch im Prinzip für die Gesamtheit der Bürger zugänglich waren, auch wenn es exkludierte Gruppen gab. Ziebarth, Erich: Aus dem griechischen Schulwesen. Eudemos von Milet und Verwandtes. Leipzig / Berlin 1914, S. 167, weist auf den elitären Charakter des Gymnasionzugangs hin.
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zusammenhängend politische Leistungsrollen zunehmend von Mitgliedern der gleichen Familien bekleidet werden, kann für die hellenistische Zeit die Politik immer noch als operativ geschlossenes System beschrieben werden, da das politische System weiterhin nach den eigenen Regeln operiert: Politische Entscheidungen sind weder käuflich noch ist politische Macht vererbbar.32 Im Laufe der römischen Oberhoheit erfuhr jedoch der Rat der Poleis einen tiefgreifenden, oligarchisch orientierten Strukturwandel, welcher u. a. in einem Zensus, Vererbung der Ratsposition mit lebenslangem Sitzrecht sowie Kooptation statt Wahl der Mitglieder mündete, wobei auch die vorige Bekleidung eines Amtes Voraussetzung sein konnte.33 Einfache Bürger 32 Schon in der klassischen Demokratie fanden sich oftmals die gleichen Personen in Ämtern wieder, man denke nur etwa an Perikles. Vgl. Habicht, Honoratiorenregime (wie Anm. 20), S. 87. 33 Vgl. Pleket, Political Culture (wie Anm. 23), S. 206 f. Die hierzu in den Poleis bestehenden Regelungen waren uneinheitlich, die Tendenzen jedoch eindeutig. Die dahingehenden Entwicklungen verliefen ebenfalls unterschiedlich und in gänzlich verschiedenen Zeiträumen, auch abhängig von ungleichen Umständen in den einzelnen östlichen Provinzen und ihrer Einrichtung. Zudem ist die Quellenlage hierzu teilweise mangelhaft. Während in Thessalien beispielsweise schon Anfang des 2. Jahrhunderts v. Chr. mit der Eroberung durch die Römer vermutlich ein Zensus für den Rat eingeführt wurde, geschah dies in Bithynien über ein Jahrhundert später durch Pompeius, wohingegen der Wandel der Ratsstruktur in Asia schleichend im Laufe der römischen Kaiserzeit eintrat. Für genauere Erörterung hierzu vgl. Müller, Helmut: Bemerkungen zu Funktion und Bedeutung des Rats in den hellenistischen Städten. In: Wörrle / Zanker, Stadtbild (wie Anm. 20), S. 41–54, hier S. 52 f.; Quaß, Honoratiorenschicht (wie Anm. 24), S. 382–394; Wörrle, Michael: Stadt und Fest im kaiserzeitlichen Kleinasien. Studien zu einer agonistischen Stiftung aus Oinoanda. München 1988, S. 91 f. sowie S. 97–100 und S. 131–135, speziell zu Lykien. Zu Lykien und Pamphylien vgl. auch Brandt, Hartwin / Kolb, Frank: Lycia et Pamphylia. Eine römische Provinz im Südwesten Kleinasiens. 2. Aufl. Mainz 2005, S. 34; Dmitriev, Government (wie Anm. 26), S. 302 f., zu den ›leges‹ der kleinasiatischen Provinzen; Zuiderhoek, Politics (wie Anm. 28), S. 60– 63 und S. 120 f., zur Provinz Asia. Während Zuiderhoek, Politics (wie Anm. 28), S. 61, beispielsweise davon ausgeht, dass Pompeius’ Regelungen für Pontus und Bithynien auch auf Asia übertragbar sind, hat Dmitriev, Government (wie Anm. 26), S. 302 f. und S. 335, zu Recht darauf hingewiesen, dass Erstere erobert und anschließend neu strukturiert wurden, während Letztere allgemein friedlich in Roms Oberhoheit überging und die lokalen Bräuche daher vermutlich beibehalten worden sind. Die Veränderungen in der Ratsstruktur in Asia erfolgten graduell im Laufe der Zeit, eingebettet in den größeren Kontext des sozialen Wandels innerhalb der griechischen Poleis, dessen Beginn bereits in hellenistischer Zeit anzusetzen ist und unter römischer Herrschaft von der Kooperation der römischen Behörden mit den lokalen Eliten begünstigt wurde. Vgl. hierzu auch Quaß, Honoratiorenschicht (wie Anm. 24), S. 393. So wurden in Asia frei gewordene Ratsstellen zu
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waren jetzt vom elitären Rat exkludiert, anders als noch in hellenistischer Zeit.34 Ihr bereits bestehendes soziales Prestige half den Eliten damit zu dessen Vermehrung, das der einfachen Bürger wurde im Vergleich noch weiter gemindert. Dieses Prestige war damit ausschlaggebend für den Erwerb politischer Macht in diesem Teilsystem geworden, wodurch dem Sozialstatus der Eliten eine der Politik übergeordnete Bedeutung zukam. Die soziale Stratifizierung steuerte nun den Entscheidungsfindungsprozess und die Operationen dieses politischen Organs und nicht mehr die Politik selbst. Sie zog hier keine Grenze mehr zu ihrer Umwelt. Damit war eine nach Luhmann nötige operative Geschlossenheit des Funktionssystems nicht mehr gegeben.35 Diese Entwicklung kommt an der Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert n. Chr. zu ihrem Abschluss, als sich neben der politischen Umstrukturierung auch eine grundlegende soziale Veränderung innerhalb der griechischen Poleis vollzog: Den Eliten wurde eine zunehmend bedeutendere Rolle zuteil, Einfluss und Reichtum konzentrierten sich auf eine relativ geringe Anzahl von Familien, Ämter wurden akkumuliert. Dies ist, anders als früher angenommen, kein Zeichen dafür, dass die Eliten die gesamte Stadtverwaltung kontrollierten. Dieselben Ämter waren entweder als Leiturgie oder als einfaches Amt zu bekleiden, abhängig vom finanziellen Befinden der Amtsträger, was somit dafür sorgen sollte, dass nicht nur die Eliten Zugang zu ihnen hatten.36 Dass dies aber, wie bereits gezeigt, finanzielle Hadrians Zeit zwar noch durch Wahlen vom Volk besetzt, die Kandidatenliste stellte allerdings der Rat auf. Die Wahl stellte eine reine Formalität dar. Vgl. Jones, City (wie Anm. 17), S. 183 f., zu den unterschiedlichen Formen der Ratsbesetzung in den einzelnen Provinzen. 34 Vgl. Jones, City (wie Anm. 17), S. 180, der anführt, dass die Grenzen, welche Ämter nur für Ratsmitglieder zugänglich waren, von Polis zu Polis variierten. Dies diente auch dazu, dass die Ratsherren sich von anderen reichen Familien abhoben, die nicht im Rat saßen. Quaß, Honoratiorenschicht (wie Anm. 24), S. 389 f., führt Beispiele aus einigen lykischen Städten an, in denen Ämter für Ratsherren und einfache Bürger unterschieden wurden und äußert die Vermutung, dass dadurch verhindert werden sollte, dass einfache Bürger wie etwa Handwerker und kleine Händler durch die Bekleidung niederer Ämter Zugang zum Rat erlangen und die Exklusivität der Eliten unterwandern konnten. Pleket, Political Culture (wie Anm. 23), S. 210, vertritt hingegen die Meinung, dass die niederen Ratspositionen bei Verwaisung mit sozial hochstehenden, aber dennoch ›einfachen‹ Bürgern aus dem Volk aufgefüllt werden mussten und eine soziale Dichotomie dieses Ausmaßes daher nicht gegeben war. Vgl. weiterhin Dmitriev, Government (wie Anm. 26), S. 318; Wörrle, Stadt und Fest (wie Anm. 33), S. 133. 35 Vgl. Mann, Gleichheit (wie Anm. 1), S. 7 und S. 19. 36 Quass, Honoratiorenschicht (wie Anm. 24), S. 328–334, geht von der Existenz
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Unabhängigkeit von der eigenen täglichen Hände Arbeit voraussetzte, offenbart die strukturelle Ungleichheit. Die führenden Eliten bekamen zunehmend das römische Bürgerrecht verliehen und konnten provinzielle Ämter bekleiden, was sie zu einer polisübergreifenden provinziellen Elite zusammenschloss und weiter von der übrigen Bevölkerung differenzierte – auch im Hinblick auf ihr soziales Kapital. Es kam zu einer wachsenden Diskrepanz zwischen dem elitären Rat und der restlichen Bürgerschaft.37 Deutlich wird dies auch, wenn man sich bei Verteilungsstiftungen die Mengen und die Häufigkeit ansieht, mit der die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen bedacht wurden.38 Hierzu werden im Folgenden exemplarisch zwei Inschriften herangezogen. Die erste Inschrift, datiert nach 130 v. Chr., stammt aus Kyme. Archippe hatte das Rathaus auf eigene Kosten erneuern lassen. Als Dank dafür bekam sie von den Bürgern diverse Ehren zuerkannt, für die sie sich wiederum mit einem Fest revanchierte. Für das Opfer und das anschließende Festessen gab sie an die Ratsmitglieder der Stadt insgesamt 50 Statere, 60 Statere gingen an jede Phyle, 50 Statere an die Metöken und Freigelassenen. Dazu ließ sie süßen Wein an die Bürger und alle anderen, die in der Stadt wohnten, verteilen.39 Die Rangfolge und Abstufung der Verteilungen, wie sie in der Inschrift erfolgt, ist typisch für die griechische Polis in jener Zeit. Als Erstes wurden die Ratsmitglieder bedacht, welche die oberste Stellung in der Stadt inneeiner ›summa honoraria‹ im Osten des Reiches aus. Dmitriev, Government (wie Anm. 26), S. 316 f., weist jedoch darauf hin, dass sich eine solche zu dieser Zeit in Asia nicht nachweisen lässt. 37 Jones, City (wie Anm. 17), S. 179 f. Als im 2. Jahrhundert n. Chr. das römische Bürgerrecht zunehmend an Bedeutung verlor, bekamen sie den rechtlichen Status von ›honestiores‹. Dadurch gehörten sie zur reichsweiten herrschenden Elite und wurden noch weiter von der restlichen Bevölkerung abgehoben. Dmitriev, Government (wie Anm. 26), S. 323, S. 327 und S. 334. Zur Volatilität innerhalb der Bürgerschaft und damit möglichen Zugang zum Status der Eliten vgl. Zuiderhoek, Politics (wie Anm. 28), S. 95 und S. 115. Verarmte Familien konnten sozial absteigen, neue reiche Familien sozial aufsteigen. An Lebensstil und Selbstverständnis der Eliten veränderte sich dadurch nichts, weil die Aufsteiger sich die Verhaltensweisen der Oberschicht durch Mimikry zu eigen machten, womit die bestehende Gesellschaftsordnung reproduziert wurde. Vgl. hierzu die Ausführungen und Anmerkungen in Abschnitt 1. Vgl. auch Meyer-Zwiffelhoffer, Eckhard: Bürger sein in den griechischen Städten des römischen Kaiserreiches. In: Hölkeskamp, Sinn in der Antike (wie Anm. 31), S. 375– 402, hier S. 398. 38 Vgl. etwa Laum, Bernhard: Stiftungen in der Griechischen und Römischen Antike. Ein Beitrag zur antiken Kulturgeschichte. Bd. 1. Leipzig/Berlin 1914, S. 100 f. Vgl. hierzu auch Tabelle, Grafik und Ausführungen zur Provinz Asia bei Zuiderhoek, Politics (wie Anm. 28), S. 100 ff. 39 Inschriften von Kyme 13 III , Z. 72–76.
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hatten. Sie wurden, obwohl es sich um eine geringere Menge an Stateren handelte, prozentual mit deutlich mehr Geld bedacht als die Bürger, da sie im Vergleich zu den Phylen eine wesentlich kleinere Gruppe darstellten. Bei der Bewirtung mit Wein scheint keine Differenzierung zwischen Ratsmitgliedern und den restlichen Bürgern vorgenommen worden zu sein. Bei der für alle identischen Verteilung des Weins wird die Gleichheit aller Bürger und ihr besonderer Status betont, indem sie nochmal gesondert aufgeführt wurden. Die zweite Inschrift, aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert, stammt aus Sillyon. Menodora, Tochter des Megakles, war neben Priesterin auch Gymnasiarch und Demiourgos gewesen und hatte während ihrer Amtsperioden und der ihrer Kinder Geldverteilungen vornehmen lassen. Hierbei wurden die Ratsmitglieder pro Kopf mit 85 Denaren bedacht, die Mitglieder der Gerousie (Rat der Alten) mit 80, 77 Denare gingen an jeden Teilnehmer der Volksversammlung, die ›ekklesiastai‹, und 3 an die Ehefrauen, die Bürger erhielten pro Person 9 Denare und abschließend gingen 3 an die ›per vindictam‹ Freigelassenen sowie die anderen Freigelassenen und die ›paroikoi‹ (dauerhaft in einer Polis lebende Nichtbürger).40 Auch hier sind die unterschiedlichen Beträge anhand des politisch-gesellschaftlichen Ranges vergeben worden. Anders als noch in hellenistischer Zeit sind jetzt auch innerhalb der Bürgerschaft unterhalb des Rates gesellschaftliche Abstufungen gegeben.41 Die reichen Ratsherren an der Spitze der Gesellschaft erhielten den größten Betrag, dicht gefolgt von den Mitgliedern der Gerousie, die nicht im Rat waren. Zu den im Ansehen etwas unter dem Rat der Alten stehenden ›ekklesiastai‹ bestand kein wirklicher Statusunterschied, so dass die Betragsdifferenz durch die drei Denare für die Ehefrauen der zuletzt genannten ausgeglichen wurde. Ein deutlicher Rangunterschied bestand jedoch zwischen diesen Vollbürgern und den einfachen ›politai‹ (dt. ›Bürger‹), woraus gefolgert werden kann, dass für den Zugang zum Vollbürgertum das Durchlaufen der Ephebie (Ausbildungsstufe im Gymnasion) erforderlich gewesen sein muss.42 Anders als noch in Kyme kann mit Sicherheit gesagt werden, dass die Ratsherren keinerlei Geldsorgen gehabt haben dürften, da ihr Stand ein Mindestvermögen erforderte. Auch die ›ekklesiastai‹ sowie die Mitglieder der Gerousie waren, genau wie die elitären Ratsmitglieder, aufgrund des Absolvierens der kostenaufwendigen 40 Inscriptiones Graecae ad res Romanas pertinentes III 801. 41 Vgl. van Nijf, Onno M.: The Civic World of Professional Associations in the Roman East. Amsterdam 1997, S. 165. Zu den verschiedenen Status- und Gesellschaftsgruppen unterhalb des Rates vgl. auch Zuiderhoek, Politics (wie Anm. 28), S. 65 f. 42 Brandt / Kolb, Lycia et Pamphylia (wie Anm. 33), S. 37 f.
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Ephebie mutmaßlich wohlsituiert.43 Analogien zu den lykischen ›seitometroumenoi‹ (zum aus der ›seitometrion‹ genannten Getreideverteilung Empfangsberechtigte) lassen daneben vermuten, dass die ›ekklesiastai‹ zusätzlich, zusammen mit den im Rang über ihnen stehenden Ratsmitgliedern, regelmäßig kostenloses Getreide erhielten, anders als die einfachen Bürger.44 Die zum Durchlaufen der Ephebie finanziell nicht befähigten Bürger wurden also gänzlich von jedweder politischen Teilhabe exkludiert. Ihre erheblich verminderte Stellung wird auch durch die im Vergleich deutlich höhere Betragsdifferenz zu den ›ekklesiastai‹ als zu den nichtbürgerlichen ›paroikoi‹ offensichtlich, ganz anders als noch in der Stiftung von Archippe, wo eine so extreme Trennung der Wertschätzung zwischen Bürgern und Ratsmitgliedern aufgrund der theoretischen ›isonomia‹ nicht erfolgt ist. Dieses vormals gültige Ideal war zu Zeiten Menodoras nicht mehr gegeben. Die Inschriften verdeutlichen auch die wachsende Bedeutung und Rolle der Frauen in den Poleis, die in der provinzialen Zeit noch weiter zunahm. Sie durften Ämter bekleiden, wenn auch nur leiturgische und eponyme, also solche ohne politische Macht, wurden dafür mit Ehrungen ausgezeichnet und konnten soziales Kapital in einem Maße erwerben, wie es einfachen Bürgern nicht möglich war.45 43 Dies verdeutlicht auch noch einmal, dass der elitäre Lebensstil u. a. mit einer Erziehung im Gymnasion verbunden war und somit neben der politischen auch eine kulturelle Barriere zur restlichen Bevölkerung schuf. Zuiderhoek, Politics (wie Anm. 28), S. 62. 44 Brandt / Kolb, Lycia et Pamphylia (wie Anm. 33), S. 38; Wörrle, Stadt und Fest (wie Anm. 33), S. 124 f. 45 Die Frauen wurden aber nicht mit unbedeutenden Ämtern ›abgespeist‹, viele gehörten zu den prestigeträchtigsten und wurden meistens nur von den Eliten der Eliten bekleidet, vgl. van Bremen, Riet: The Limits of Participation. Women and Civic Life in the Greek East in the Hellenistic and Roman Periods. Amsterdam 1996, S. 55 ff. und S. 82; Meyer-Zwiffelhoffer, Bürger (wie Anm. 37), S. 388 f. Grundlage hierfür waren die zunehmenden ökonomischen und rechtlichen Möglichkeiten in der hellenistischen Zeit. Finanziell potent gewordene Frauen nutzten dies, auch orientiert an den Vorbildern der hellenistischen Königinnen, zu ihrem Vorteil durch Euergesien an die Poleis und wurden dadurch für diese unverzichtbar. Pomeroy, Sarah B.: Frauenleben im klassischen Altertum. Stuttgart 1985, S. 188–190. Zur politischen Stellung der Herrscherinnen am Beispiel Arsinoe¨s II. vgl. Hartmann, Elke: Frauen in der Antike. Weibliche Lebenswelten von Sappho bis Theodora. München 2007, S. 112. Zu Wohltäterinnen und Ämterbelegungen von Frauen vgl. auch van Bremen, Limits (wie oben in dieser Anm.); Dmitriev, Government (wie Anm. 26), S. 53–56 und S. 178–188; Gauthier, Philippe: Les Cite´s Grecques et leurs Bienfaiteurs. Paris 1985, S. 74 f. Vgl. auch Taeuber, Hans: Stifterinnen im griechischen Osten. In: Specht, Edith (Hg.): Frauenreichtum. Die Frau als Wirtschaftsfaktor im Altertum. Wien 1994,
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Archippe, Tochter des Dikaiogenes, gehörte zu einer reichen und angesehenen Familie von Kyme. Wir wissen, dass die Leistungen ihres Vaters augenscheinlich die Errichtung einer Ehrenstatue rechtfertigten, und in den Dekreten von nach 130 v. Chr. wird mehrfach erwähnt, dass sie sich ihrer Vorfahren als würdig erwiesen habe, woraus geschlossen werden kann, dass es in ihrer Familie schon mehrere Euergeten gegeben haben muss.46 Archippe selbst hatte angeboten, das ›bouleuterion‹ (dt. ›Rathaus‹) auf eigene Kosten erneuern zu lassen. Die Bedeutung von Archippes Wohltaten für Kyme wird auch an den ihr im Gegenzug verliehenen Ehren deutlich, die nur wirklich bedeutenden Euergeten zuteil wurden.47 Als Archippe eine schwere Krankheit überwunden hatte, opferte das Volk aus Dank für ihre Genesung, wie zwei Dekrete des Rates und des Volkes belegen.48 Dies verdeutlicht ihre überragende Bedeutung als Wohltäterin für ihre Heimatpolis. Archippe hatte Zugang zu einem großen Vermögen und offensichtlich die Möglichkeit, nach eigenem Dafürhalten damit zu verfahren. Es gibt keinen Hinweis auf einen rechtlichen Vormund. Ihr Vater war tot, von Söhnen ist nichts überliefert und ein Bruder wird nur am Rande und ohne Hinweis auf Vormundschaft erwähnt.49 Da sie zudem das ›bouleuterion‹ erneuern ließ, musste sie selbst auch mit den Magistraten darüber verhandelt haben und bekam so Zugang zu wichtigsten Aspekten des öffentlichen Lebens.50
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S. 199–219, hier S. 208–218, der auf S. 214 darauf hinweist, dass dieses Phänomen vom frühen Hellenismus bis hin zur Spätantike existierte, mit besonderer Häufung geographisch in Kleinasien und chronologisch in den ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderten, sowie auf S. 218 anmerkt, dass die hellenistischen Königinnen als Vorbilder in provinzialer Zeit durch die Statthalterinnen abgelöst wurden. Sartre, Maurice: Histoires Grecques. Snapshots from Antiquity. London 2009, S. 256. Archippe handelte durch den Dienst an der Polis ganz im Sinne ihrer Pflichten als Bürgerin. Van Bremen, Limits (wie Anm. 45), S. 300. Ihr zu Ehren wurde eine Bronzestatue errichtet, die von einer ebenfalls extra dafür aufgestellten Kolossalstatue des Demos bekränzt wurde. Eine Statue ihres Vaters wurde in diesem Kontext in die Gruppe integriert. Dazu sollte Archippe während der nächsten Dionysien mit einem goldenen Kranz, wegen ihrer Tüchtigkeit und ihres Wohlwollens für das Volk, wie mehrfach betont wird, geehrt werden. Im Falle ihres Todes sollte sie erneut gekrönt und dort bestattet werden, wo auch die anderen Euergeten ruhten. Inschriften von Kyme 13 I. Inschriften von Kyme 13 IV und V. Obwohl die Vollmacht über das Vermögen der Familie eigentlich beim Kyrios lag, konnten Frauen in manchen Poleis Grund und Boden besitzen und die Einkünfte daraus zu einem Vermögen anhäufen. Taeuber, Stifterinnen (wie Anm. 45), S. 204. Dennoch brauchten Frauen trotz allem, und sei es nur pro forma, einen rechtlichen Vormund für finanzielle Transaktionen. Laum, Stiftungen (wie Anm. 38), S. 126 f.; Pomeroy, Frauenleben (wie Anm. 45), S. 196 f. Sartre, Histoires Grecques (wie Anm. 46), S. 260 f. Zu Archippes besonderer
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Interessant ist, dass Frauen bei den Verteilungen Archippes sowie beim gesamten Festessen, wie es üblich war zu jener Zeit, ausgeschlossen waren.51 Bei den Verteilungen von Menodora – die mit ihren vielen Ämtern und Leiturgien ein herausragendes Beispiel dafür ist, zu welchem sozialen Prestige eine reiche Frau aus der richtigen Familie in der Kaiserzeit aufsteigen konnte52 – wurden die Frauen nur bedacht, um die Statusdifferenz ihrer ekklesiastischen Ehemänner zu den ›gerousiastai‹ (Mitglieder der Gerousie) auszugleichen, weil trotz des leicht höheren Ansehens der Letztgenannten keine wirkliche Statusdifferenz gegeben war.53 Es zeigt sich, dass sich bürgerliche weibliche Euergeten in der hellenistischen Zeit als Bürger und in der Kaiserzeit zusätzlich als Mitglieder elitärer Familien verstanden. Sie verhielten sich analog zu den männlichen Euergeten, auch was anteilsmäßige Berücksichtigung von Statusgruppen in ihren Stiftungen und Verteilungen betraf.54 Hierbei spielte nicht nur die Vaterlandsliebe eine Rolle, sondern auch das Streben nach Anerkennung sowohl (wie bei den männlichen Euergeten) von Seiten der Polis selbst als vermutlich auch der politisch immer noch bevorzugten und tonangebenden männlichen Eliten.55 Ähnlich verhielt es sich mit den Euergesien von Kindern, die auch unter elterlichem Einfluss und damit ebenfalls ganz aus dem elitären bürgerlichen Selbstverständnis heraus erfolgten. Finanziell potente Frauen waren damit im Vergleich zu den nichtelitären Bürgern in der Lage, verstärkt soziales Kapital zu erlangen.
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Stellung in Hinblick auf weibliche Euergeten und ihre möglichen Stiftungsmotive vgl. van Bremen, Limits (wie Anm. 45), S. 13–18. Van Bremen, Limits (wie Anm. 45), S. 32, der zudem vermutet, dass Archippe selbst nicht bei den Festlichkeiten inkludiert gewesen war. Dies änderte sich im Laufe der provinzialen Zeit, wo es, anders als noch im Hellenismus, bestimmte nur an Mädchen und Frauen gerichtete Verteilungen gab. Dmitriev, Government (wie Anm. 26), S. 178. Van Bremen, Riet: A Family from Sillyon. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 104 (1994), S. 43–56, hier S. 47 und S. 54. Die meisten Frauen in der provinzialen Zeit agierten dabei nicht als unabhängige Individuen, sondern, genau wie Menodora, aus einem familiären Kontext heraus, bedingt durch die wachsende Bedeutung der oligarchisch-elitären Familiendynastieherausstellung. Van Bremen, Limits (wie Anm. 45), S. 96, S. 112 f. und S. 300 f. Frauen war auch nach römischem Recht die Möglichkeit zum Erwerb von und Verfügungsgewalt über Vermögen gegeben. Taeuber, Stifterinnen (wie Anm. 45), S. 208. Brandt / Kolb, Lycia et Pamphylia (wie Anm. 33), S. 37. Es war allgemein üblich, dass nur erwachsene Männer bei Verteilungen berücksichtigt wurden. Natürlich lag eine Inklusion von Frauen und Minderjährigen aber im Ermessen des Stifters. Vgl. van Bremen, Limits (wie Anm. 45), S. 300. Vgl. auch Taeuber, Stifterinnen (wie Anm. 45), S. 214, hinsichtlich der Zweckbindungen der Stiftungen. Zur Reproduktion bestehender Ordnung vgl. auch die Ausführungen in Abschnitt 1.
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Den beiden Stiftungen ist weiterhin zu entnehmen, dass Nichtbürger aufgrund ihres gesellschaftlich niedrigeren Status56 zwar geringer bedacht wurden, die Kluft zwischen Bürgern und Nichtbürgern aber mit der Zeit deutlich schrumpfte. In Kyme bekamen die zu einer Gruppe zusammengefassten Metöken und Freigelassenen – die Nennung der Metöken an vorderer Stelle trägt ihrem höheren gesellschaftlichen Rang Rechnung – 50 Statere, wobei sie als zahlenmäßig größte Gruppe im Vergleich zu den Phylen am wenigsten erhielten. Dennoch wurden sie durch ihre prominente Berücksichtigung offenkundig als Teil der Gemeinschaft gedacht.57 Fremde wurden von dieser Euergesie ausgenommen, allerdings nicht vom Umtrunk mit Wein, an dem anscheinend alle in der Stadt befindlichen Personen teilhaben durften. Bei der Stiftung Menodoras fällt die Nennung der durch öffentlichen Rechtsakt (›per vindictam‹) Freigelassenen vor denen, die ihre Freiheit durch privatrechtliche Testamentsverfügungen erlangt hatten, sowie die Anführung beider Gruppen vor den ›paroikoi‹ auf, die je Kopf mit drei Denaren am niedrigsten bedacht wurden. Hier wird der römische Einfluss deutlich. Es handelt sich bei den Freigelassenen um ›liberti‹ im rechtstechnischen römischen Sinne, womit sie gesellschaftlich über den ›paroikoi‹ standen.58 Vom Betrag und damit vom gesellschaftlichen Rang her befanden sie sich wesentlich dichter an den Bürgern als diese an den elitären Schichten der Polis. Durch die Herrschaft Roms bedingt, wurde das römische Bürgerrecht das übergeordnete erstrebenswerte Ideal reichsweit privilegierten Rechts, sodass die Vergabe der in ihrer Bedeutung abnehmenden Polisbürgerrechte nicht mehr so restriktiv gehandhabt wurde; gleichzeitig gingen die damit verbundenen Privilegien zurück und es entstand eine reichsweite Aristokratie. Metöken und Fremden war, genau wie in Athen zu jener Zeit,59 in Beroia Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. der Zugang zum Gymnasion erlaubt, während, wie bereits erwähnt, einfache Markttreibende, zu denen auch nichtelitäre Bürger gehörten, davon ausgenommen waren, genauso wie die 56 Für Ausführungen zur Exklusion von Bürgern aus dem politischen Funktionssystem der Poleis sowie ihrem ungleichen Status mit den daraus resultierenden Einschränkungen vgl. den Aufsatz von Jörg Erdtmann in diesem Band. Römer hatten in den Gebieten unter ihrer Herrschaft als Nichtbürgergruppe einen gesonderten Status. 57 Meyer-Zwiffelhoffer, Bürger (wie Anm. 37), S. 381. 58 Brandt / Kolb, Lycia et Pamphylia (wie Anm. 33), S. 37. 59 Tracy, Stephen V.: Reflection on the Athenian Ephebeia in the Hellenistic Age. In: Kah / Scholz, Gymnasion (wie Anm. 30), S. 207–210, hier S. 209. Vgl. auch Hands, Charities (wie Anm. 13), S. 119.
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Freigelassenen. Die elitären Bürger verkehrten lieber mit der Oberschicht der Metöken und Römer als mit den einfachen Bürgern, weil diese ihnen durch ihren elitären Lebensstil näherstanden.60 Prominenten und wohltätigen Fremden wurde neben massenhaften Bürgerrechtsverleihungen oft auch die Ratswürde ehrenhalber zuerkannt, die für die einfachen Bürger gar nicht mehr zugänglich war.61 3. Fazit Die bereits in klassischer Zeit vorherrschenden Ungleichheiten verstärkten sich im Laufe der Zeit immer weiter und mündeten in einer politischen Exklusion der einfachen Bürger und damit im Wegfall des autonomen Funktionssystems Politik. In den Provinzen war der Ratsstatus durch lebenslanges hereditäres Sitzrecht sowie die Zugangsbeschränkung für neu hinzukommende Mitglieder durch einen Zensus und Kooptation elitär geworden, höhere Ämter waren nur noch durch Ratsmitglieder zu besetzen. Der Sonderfall eines politischen Funktionssystems in einer stratifizierten Gesellschaft, welcher mit der athenischen Demokratie seinen Anfang nahm und sich durch den Hellenismus zog, fand damit in römischer Zeit sein Ende. Auch unterhalb des Ratsstatus waren neue Ungleichheiten innerhalb der Bürgerschaft hinzugekommen, bedingt durch die benötigten finanziellen Voraussetzungen für den Zugang zum Gymnasion und damit zur Volksversammlung, die sich auch beim Empfang von Verteilungen ausdrückten. Der Rückgang der Bedeutung des einfachen Bürgerstatus findet auch in der Verringerung der gesellschaftlichen Kluft zu den Nichtbürgern seinen Ausdruck. Innerhalb des Rates gab es ebenfalls bedeutende Unterschiede an Reichtum und Prestige. Es waren die Eliten der Eliten, die wiederholt große Euergesien zu leisten vermochten und damit ein ungleich größeres soziales Kapital anhäufen konnten. Nachdem in hellenistischer Zeit Ehrungen für Euergeten auf ihre Familien ausgedehnt worden waren, 60 Adak, Mustafa: Metöken als Wohltäter Athens. Untersuchungen zum sozialen Austausch zwischen ortsansässigen Fremden und der Bürgergemeinde in klassischer und hellenistischer Zeit (ca. 500–150 v. Chr.). München 2003, S. 16. Vgl. Strabon 1,4,9. Vgl. Svencickaya, Irina: Der Stadtmensch der hellenistischen Zeit. In: Funck, Bernd (Hg.): Hellenismus. Beiträge zur Erforschung von Akkulturation und politischer Ordnung in den Staaten des hellenistischen Zeitalters. Akten des Internationalen Hellenismus-Kolloquiums 9.–14. März 1994 in Berlin. Tübingen 1996, S. 611– 627, hier S. 614. 61 Dies findet sich sogar relativ früh in den Städten Bithyniens, obwohl die Lex Pompeia ein solches Vorgehen untersagte. Vgl. Plinius minor, Epistulae 10,114. Quaß, Honoratiorenschicht (wie Anm. 24), S. 391 f.
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konnten besonders Frauen und Kinder der einflussreichsten Familien vermehrt prestigeträchtige und kostenintensive Ämter ohne politische Macht bekleiden.62 Die Nutzung systemtheoretischer Analysekategorien bietet sicherlich neue und interessante Herangehensweisen für Untersuchungen in der Alten Geschichte, deren Mehrwert in einer Vielzahl von Bereichen, wie beispielsweise von Mann aufgezeigt, durchaus gegeben sein kann. Für das Funktionssystem Politik, wie Mann es beschrieben hat, wurden hohe Inklusionshürden festgestellt. In der klassischen und hellenistischen Zeit konnte die operative Geschlossenheit des Systems jedoch noch aufrechterhalten werden, da die Politik nach ihrem eigenen Code und Programm verfuhr, oder wie Mann es ausdrückt: »[D]ie Operationen der Demokratie, das heißt des politischen Systems [...,] gehorchten eigenen Regeln.«63 In der folgenden Zeit setzt sich jedoch die Gruppe der Personen, denen politische Teilhabe in Leistungsrollen möglich war, so zusammen, dass sie aus den Eliten bestand, die sich z. B. durch die genannten euergetischen Leistungen sozial abgrenzten, was dann später zu einem oligarchisch orientierten Strukturwandel führte. Diese Entwicklungen können als exkludierende Schließung des elitären Stratums beschrieben werden, die mit dem Wegfall der operativen Geschlossenheit des Funktionssystems Politik einhergeht, das sich damit auflöst. Die Verteilung Archippes zeugt von der Präfiguration eines stratifikatorischen Inklusions-/Exklusionsregimes, wobei die Bewirtung mit Wein auf einen Rest einer segmentären Gleichheitssemantik schließen lässt. Dieser Logik entsprechend verliert das Merkmal Geschlecht an Bedeutung, da die Zugehörigkeit zu einem Stratum wichtiger zu werden scheint als der Platz und die Rolle im Oikos. So wäre die Bekleidung von Ämtern durch elitäre Frauen zu erklären. Die Strata werden nach sozialem Ansehen operativ geschlossen: Reiche Metöken und Römer haben im Gegensatz zu armen Bürgern Zugang zu den Gymnasien und ihnen wird vielfach das Bürgerrecht verliehen, wohingegen nichtelitäre Bürger von der Oberschicht ausgeschlossen werden. Erst mit dem Wegfall der Autonomie von Politik kann daher von einer tatsächlichen Durchsetzung der Stratifikation als primäre Differenzierungsform gesprochen werden, »[d]enn stratifikatorische Differenzierung ermöglicht Ressourcenkonzentration in der Oberschicht des 62 Solche Ämter waren schon in hellenistischer Zeit von Frauen und Kindern bekleidet worden, die Anzahl stieg aber in der römischen Zeit. Dmitriev, Government (wie Anm. 26), S. 318 und S. 330. Zu der ratsinternen Oligarchisierung vgl. auch Pleket, Political Culture (wie Anm. 23), S. 209. 63 Mann, Gleichheit (wie Anm. 1), S. 6.
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Systems, und dies nicht nur in einem ökonomischen Sinn, sondern auch in den Medien Macht und Wahrheit«.64 Diese Entwicklung lässt sich direkt daran ablesen, dass die Oberschicht nun eigene Semantiken entwickelt, die für die Selbstbeschreibung wichtiger scheinen als die der klassischen Zeit, die auf alle Bürger bezogen waren: Vom elitären Stratum aus gesehen, ist nicht mehr ›autochthon/fremd‹ die maßgebliche Unterscheidung, sondern es wird nach sozialem Status differenziert. Auf Ebene der Praktiken findet diese Semantik in der rechtlich bindenden Unterscheidung ›reich/arm‹ ihre Entsprechung.65 Sie bestimmt das Inklusions-/Exklusionsregime maßgeblich.
64 Luhmann, Gesellschaft (wie Anm. 6), S. 708. 65 Wie sich die Selbstbeschreibungssemantiken der Oberschicht vor allem im Zusammenhang mit euergetischen Leistungen noch weiter verändern, untersucht der Beitrag von Katrin Engfer in diesem Band.
Armut und Ungleichheit in der römischen Antike. Inklusions- und Exklusionsmechanismen in Fürsorge und Wohltätigkeit Katrin Engfer
Im ausgehenden 3. Jahrhundert v. Chr. legte Titus Plautus seiner Hauptfigur Euclio in der Theaterkomödie Aulularia folgende Verse in den Mund: [N]am noster nostrae qui est magister curiae / dividere argenti dixit nummos in viros / id si relinquo ac non peto, omnes ilico / me suspicentur, credo, habere aurum domi / nam veri simile non est hominem pauperem / pauxillum parvi facere quin nummum petat.1
Dass Euclio der hier erwähnten Geldvergabe eigentlich nicht mehr bedurfte, verdankte er dem Umstand, dass er zu Beginn des Theaterstücks einen Topf voller Gold gefunden hatte und damit fernab jeglicher Bedürftigkeit gerückt war. Dennoch will er sich die Geldvergabe nicht entgehen lassen, da Menschen, die, wie es im Text heißt, ›pauper‹ sind, nicht auf eine auch noch so geringe Menge an Geld verzichten würden. Plautus’ Hauptfigur bezeichnet sich demnach selbst als ›pauper‹, ein Terminus, der im lateinischen Sprachgebrauch gern verwendet wurde, um relative Armut zu beschreiben.2 Per definitionem handelte es sich hierbei um Menschen, denen eigentlich ausreichend Besitz zu Verfügung stand, um damit ihre Subsistenz zu sichern. Was ist aber mit den Menschen, die von absoluter Armut betroffen waren? Also jenen, denen es an den zur Sicherung ihres Daseins notwendigen Gütern mangelte und die daher auf fremde Unterstützung angewiesen waren? Wurde ihnen in irgendeiner Art und Weise Unterstützung zuteil? Konnten auch wirklich Bedürftige an Verteilungen von Geld, ähnlich jener, die in der Komödie des Plautus erwähnt wurde, partizipieren? 1 Plaut. Aul. 107–112. Übersetzung (Ü.): Denn unser Bezirksvorstand sagte, er verteile Geld unter die Leute. Wenn ich da fehle und es nicht beanspruche, werden alle, glaube ich, sofort den Verdacht haben, ich hätte Gold im Haus. Denn es ist unwahrscheinlich, dass ein Armer ein Weniges geringschätzt und auf einen Pfennig verzichtet. 2 Vgl. hierzu ausführlich Prell, Marcus: Sozialökonomische Untersuchungen zur Armut im antiken Rom. Von den Gracchen bis Kaiser Diokletian. Stuttgart 1997, c 44–54; vgl. Stegemann, Ekkehard W. / Stegemann, Wolfgang: Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt. Stuttgart [u. a.] 1995, S. 58–94.
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Um diesen Fragen nachzugehen, sollen im Folgenden Formen des römischen Euergetismus in den mittel- und süditalischen Städten betrachtet werden.3 Private Stiftungen und Schenkungen wohlsituierter Bürger zugunsten der Allgemeinheit nahmen in der römischen Gesellschaft einen zentralen Platz im Leben der Gemeinden und Städte ein. Was an finanziellen Aufwendungen nicht aus den Einkünften der Stadt selbst getragen werden konnte, wurde von privater Hand übernommen. Diese finanzielle Freigebigkeit kam insbesondere deren Einwohnern zugute. Man wäre hier allerdings fehlgeleitet, den römischen Euergetismus als eine Form von Wohltätigkeit im modernen Sinne zu verstehen. Wenn ein vermögender Bürger sich seiner finanziellen Ressourcen bediente, um sich damit gegenüber seinen Mitmenschen wohltätig zu zeigen, hatte dies wenig mit Barmherzigkeit zu tun. Die Gaben wurden nicht erbracht, um sozial Schwache gezielt zu unterstützen, sondern im Hinblick auf die eigene gesellschaftliche Reputation. Der Stifter erwartete öffentliche Anerkennung, um so seine Stellung und die seiner Familie innerhalb der Gemeinde herauszustellen. So trugen die euergetischen Aktivitäten unter anderem zur Ausgestaltung einer Stadt mit Bauwerken des öffentlichen Interesses bei.4 Es gab aber auch eine Vielzahl an Wohltaten außerhalb baulicher Tätigkeiten, die sich an bestimmte Teile der Bevölkerung richteten und denen im Folgenden das Hauptaugenmerk gelten soll. Es sind die privaten Stiftungen und Schenkungen im Bereich der Lebensmittel- und Geldverteilungen.5 3 Vgl. u. a. generell Laum, Bernhard: Stiftungen in der griechischen und römischen Antike. Ein Beitrag zur antiken Kulturgeschichte. Bd. 1: Darstellung. Bd. 2: Urkunden. Berlin 1914. Le Bras, Gabriel: Les foundations prive´es du Haut Empire. In: Studi in onore di Salvatore Riccobono. Bd. 3. Palermo 1936, S. 23– 67. Andreau, Jean: Fondations prive´es et rapports sociaux en Italie Romaine (I er –III e s. ap. J.-C.). Strasbourg 1977, S. 157–209. Veyne, Paul: Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike. München 1994. Zum privaten Euergetismus der römischen Oberschicht in den Städten Mittel- und Süditaliens ist eine Dissertation der Verfasserin in Vorbereitung. 4 Vgl. Eck, Werner: Der Euergetismus im Funktionszusammenhang der kaiserzeitlichen Städte. In: Christol, Michel/Masson, Olivier (Hg.): Actes du Xe Congre`s international d’e´pigraphie grecque et latine, Nıˆmes, 4–9 octobre 1992. Paris 1997, S. 305–331. Vgl. Dahlheim, Werner: Geschichte der Römischen Kaiserzeit. 2. Aufl. München 1989, S. 54; Goffin, Bettina: Euergetismus in Oberitalien. Bonn 2002, S. 53–58. Ebenso Lomas, Kathryn: Public Building, Urban Renewal and Euergetism in Early Imperial Italy. In: Dies./Cornell, Timm (Hg.): Bread and Circuses. Euergetism and Municipal Patronage in Roman Italy. London/New York 2003, S. 28– 45. 5 Insgesamt etwa 280 Inschriften dokumentieren Geld- und Lebensmittelverteilungen in Mittel- und Süditalien. Hierzu vgl. Mrozek, Stanislaw: Munificentia privata im Bauwesen und Lebensmittelverteilungen in Italien während des Prinzipates. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 57 (1984), S. 233–340.
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In diesem Rahmen werden im Folgenden die mit diesen Formen des römischen Euergetismus verbundenen Inklusions- und Exklusionsmechanismen untersucht. Dabei geht es insbesondere darum, ob und inwiefern die Teilnahme von Personen bei Schenkungen und Stiftungen in Zusammenhang mit Inklusion in einzelne gesellschaftliche Schichten steht. Gleiches gilt auch hinsichtlich der Frage, inwiefern ein euergetischer Akt gesellschaftliche Differenzierungsformen abbildet, semantisch herstellt und mitprägt. In diesem Sinne geraten auch soziale Ungleichheiten ins Blickfeld der Untersuchung, denn, wie zu sehen sein wird, erfuhren die inkludierten Personen je nach Schichtzugehörigkeit eine unterschiedliche Behandlung innerhalb des Rezipientenkreises. Die römische Gesellschaft beruhte auf dem Prinzip der Ungleichheit. In einer strikt (linear-)hierarchischen Gesellschaft wie der römischen erforderte die Stabilität der sozialen Ordnung nicht nur das Einhalten traditioneller Normen, sondern auch eine deutliche Differenzierung der Stände und Ränge.6 So merkte der jüngere Plinius in Bezug auf die Unterschiede der Stände an: »[Q]uae si confusa, turbata, permixta sunt, nihil est ipsa aequilitate inaequalius.«7 Diese strikte Differenzierung spielte im Euergetismus vor allem dann eine Rolle, wenn die verteilten Gaben sich an der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe orientierten.
›Alimenta‹ Seit dem Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. existierte eine staatliche Einrichtung zur Versorgung von Kindern, die ›alimenta‹. Bereits von Kaiser Nerva initiiert,8 soll das staatliche Alimentationsprogramm von seinem Nachfolger Trajan in ein umfassendes und langfristig angelegtes Unterstützungsprogramm umgesetzt und ausgebaut worden sein.9 Die ›alimenta‹ richteten sich an alle italischen Städte10 und sollen in erster Linie der Versorgung bzw. Unterstützung von Kindern römischer Familien gedient haben.11 6 Vgl. Dahlheim, Geschichte (wie Anm. 4), S. 60. Hierzu vgl. auch Rilinger, Rolf: Moderne und zeitgenössische Vorstellungen von der Gesellschaftsordnung der römischen Kaiserzeit. In: Saeculum 36 (1985), S. 299–325. 7 Plin. epist. IX ,5,3. Ü.: Wenn diese verwischt, in Unordnung gebracht und vermischt werden, dann ist nichts ungleicher als gerade die Gleichheit. 8 Epit. de Caes. 12,4. 9 Eck, Werner: Die staatliche Organisation Italiens in der hohen Kaiserzeit. München 1979, S. 146. Trajan als Schirmherr und Begründer der ›alimenta‹ in H. A. Had. 7,8 und H. A. Pert. 9,3; vgl. Cass. Dio 68,5,4. 10 Die staatliche Versorgung von Kindern römischer Familien war auf die Städte Italiens beschränkt. Außerhalb davon beruhte die Kinderfürsorge wohl allein auf privaten Initiativen, vgl. Corpus inscriptionum Latinarum (CIL ) 2.1174 und CIL 8.1641. 11 Noch heute zeugen verschiedene Ehreninschriften aus unterschiedlichen Regionen
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Zusätzlich zu der staatlichen Alimentarinstitution gab es auch private Initiativen zur Versorgung von Kindern, die allerdings schon früher einsetzten. Für den italischen Raum sind bislang fünf private Stiftungen bekannt, darunter die des römischen Senators Titus Helvius Basila.12 Sie stammt aus neronischer Zeit und stellt damit das älteste erhaltene Dokument zum Alimentarwesen dar, welches belegt, dass die private Initiative der staatlichen vorausging.13 Grundsätzlich bestanden die ›alimenta‹ aus einer Italiens von der Verbreitung der ›alimenta‹. Für mehr als 50 italische Städte konnte sie bislang nachgewiesen werden. Die beiden wichtigsten Belege zur staatlichen Alimentarinstitution stammen aus Veleia (CIL 11.1147, ca. 98–113 n. Chr.) und Ligures Baebiani (CIL 9.1455, ca. 101 n. Chr.). Welchen Zweck Trajan mit diesem wohl eindeutig sozialpolitischen Programm verfolgte, ist in der Forschung umstritten. Allgemein scheint die Auffassung akzeptiert worden zu sein, dass die ›alimenta‹ römische Familien mit Kindern unterstützen sollte, um damit die Geburtenrate in Italien, evtl. zu Rekrutierungszwecken, anzuheben (Bourne, Frank C.: The Roman Alimentary Program and Italian Agriculture. In: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 91 [1960], S. 47–75, hier S. 48–50; Duncan-Jones, Richard: The Purpose and Organization of the Alimenta. In: Papers of the British School at Rome 19 [1964], S. 123–146, hier S. 127). Einen Überblick über die unterschiedlichen Ansätze in der Forschung bietet Carlsen, Jesper: Gli alimenta imperiale e privati in Italia: ideologia ed economia. In: Vera, Domenico (Hg.): Demografia, sistemi agrari, regimi alimentari nel mondo antico. Atti del convegno internazionale di studi (Parma 17–19 ottobre 1997). Bari 1999, S. 273–288, hier S. 273–277. Vgl. Wierschowski, Lothar: Kaiserliche Wirtschaftspolitik und das Alimentarprogramm für Italien. In: Laverna 10 (1999), S. 38–59. Vgl. generell zur staatlichen Alimentarinstitution Duncan-Jones, Richard: The Economy of the Roman Empire. Quantitative Studies. Cambridge 1974, S. 288–319; Eck, Organisation (wie Anm. 9), S. 146–189. 12 CIL 10.5056. Die anderen bekannten privaten Alimentarstiftungen aus Italien in chronologischer Reihenfolge: CIL 11.1602 (Florentia, etwa 79/80), CIL 5.5262 (Comum, ca. 107/108), CIL 10.6328 (Tarracina, zwischen 100–190), CIL 14.4450 (Ostia, ca. 148). Zur Datierung vgl. sowohl Mrozek, Stanislaw: Zu der kaiserlichen und der privaten Kinderfürsorge in Italien im 2. und 3. Jh. In: Klio 55 (1973), S. 281–284, hier S. 282 f.; als auch ders.: Die privaten Alimentarstiftungen in der römischen Kaiserzeit. In: Kloft, Hans (Hg.): Sozialmaßnahmen und Fürsorge. Zur Eigenart antiker Sozialpolitik. Graz / Horn 1988, S. 155–166, hier S. 156; vgl. Duncan-Jones, Economy (wie Anm. 11), S. 172, Nr. 641, 642 und 644. Mit Ausnahme der Inschrift des Plinius aus Comum konzentrieren sich die erhaltenen Stiftungen zur privaten Munifizenz auf Mittelitalien. 13 Vgl. Mrozek, Alimentarstiftungen (wie Anm. 12), S. 155 f. Bereits Augustus hat in Rom bei mancher Gelegenheit Geld an Knaben verteilt, vgl. Suet. Aug. 41,2; vgl. Cass. Dio 51,21,3. Auch beschenkte Augustus bei seinen Besuchen italischer Städte jene Familien aus dem einfachen Volk mit Geld, die ihm einen Sohn oder eine Tochter vorweisen konnten, hierzu Suet. Aug. 46. Diesem kaiserlichen Vorbild folgend zeigten sich zunehmend auch wohlhabende Bürger gegenüber ihren
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monatlichen Unterhaltszahlung an Kinder, entweder in Form von Geld oder von Getreide.14 Zu den Zugangskriterien gehörten das römische Bürgerrecht und der Wohnsitz in der jeweiligen Stadt. Aus der testamentarischen Verfügung des Helvius Basila geht hervor, dass der ›praetor‹ und ›legatus Augusti‹ in der latinischen Stadt Atina eine Stiftung gründete, nach welcher einer unbekannten Anzahl an Kindern bis zum Erreichen der Volljährigkeit durch den Zins aus dem Vermögen von 400 000 Sesterzen Getreide zugutekommen sollte. Zudem wurde mit dem Ende der Förderung jedem von ihnen einmalig die Summe von 1000 Sesterzen ausgehändigt. Wie aus dem Inschriftentext ersichtlich wird, lag seiner privaten Einrichtung ein Kapital zugrunde.15 Leider besitzen wir über die Höhe des monatlichen Zuschlags pro Kind keinerlei Informationen, auch schweigt der Inschriftentext über die Anzahl partizipierender Kinder, so dass weitere diesbezügliche Vermutungen spekulativ wären.16 Bei einem angenommenen Zinssatz von 6 % hätten der Stadt 24 000 Sesterzen im Jahr, also etwa 2000 Sesterzen im Monat zur Verfügung gestanden, um davon Getreide anzukaufen, welches wiederum an die subventionierten Kinder verteilt wurde.17
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Heimatgemeinden freigebig. Jedoch wurde das Geld nicht wie von Augustus spontan und sporadisch vergeben, sondern in Form einer Kapitalanlage in eine Stiftung umgewandelt. Neben der Alimentarstiftung des Helvius Basila verweist auch jene eines römischen Centurio aus Florentia auf eine vermutlich weit verbreitete Form von privater Munifizenz, welche vielleicht der staatlichen Alimentarinstitution wiederum als Vorbild gedient haben könnte. So auch Wierschowski, Lothar: Die Alimentarinstitution Nervas und Traians. Ein Programm für die Armen? In: Kneissl, Peter / Losemann, Volker (Hg.): Imperium Romanum. Studien zu Geschichte und Rezeption. Festschrift für Karl Christ zum 75. Geburtstag. Stuttgart 1998, S. 756–783, hier S. 767. In der Inschrift des Helvius Basila heißt es: ›frumentum [. . .] darentur‹. Der Zinsbetrag wurde wahrscheinlich dazu verwendet, Getreide anzukaufen, welches wiederum an die subventionierten Kinder verteilt wurde. Es scheint spätestens seit Trajan üblich geworden zu sein, den Kindern anstelle von Getreide Geld auszuhändigen. Ob es sich um eine zeitliche Entwicklung handelt, kann aufgrund des Mangels an Quellen nicht eruiert werden. Die Alimentarstiftung aus Florentia ist leider zu fragmentarisch, als dass sie über dergleichen Modalitäten Auskunft geben kann. Zur Verteilung von Geld anstelle von Getreide vgl. Eck, Organisation (wie Anm. 9), S. 160. Mrozek, Alimentarstiftungen (wie Anm. 12), S. 160 f. Vgl. Bourne, Program (wie Anm. 11), S. 57. Dass die Auszahlung monatlich erfolgte, geht aus CIL 10.6328 hervor. Ob es in Land investiert wurde, wie es Plinius zur Sicherung seines Stiftungsvermögens getan hat (Plin. epist. VII ,18), ist der Inschrift nicht zu entnehmen. Auch die drei weiteren erhaltenen Alimentarstiftungen aus Mittelitalien geben hierzu keinerlei Auskunft. Vgl. Mrozek, Alimentarstiftungen (wie Anm. 12), S. 165. Zum Zinssatz vgl. Duncan-Jones, Economy (wie Anm. 11), S. 33, Anm. 3, und S. 133.
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Geht man davon aus, dass die Kinder, wie es gängige Praxis war, monatlich ihr Getreide erhielten und berücksichtigt man den Umstand, dass den Volljährigen mit dem Ausscheiden aus der Stiftung eine einmalige Summe ausgezahlt wurde, kann die Gesamtanzahl der empfangsberechtigten Kinder nicht allzu hoch gewesen sein, oder der ausgeteilte Getreidesatz fiel sehr gering aus. Erst eine private Alimentarstiftung des 2. Jahrhundert n. Chr. vermittelt diesbezüglich ein genaueres Bild. Im latinischen Tarracina errichtete eine Frau namens Caelia Macrina eine Alimentarstiftung zum Gedenken an ihren Sohn.18 Das Stiftungsvermögen betrug eine Million Sesterzen, dessen Zinsertrag je 100 Knaben und Mädchen zugutekommen sollte. Gemäß den im Inschriftenformular festgehaltenen Bestimmungen sollte jeder Knabe eine monatliche Zuwendung von fünf Denaren und jedes Mädchen vier Denare erhalten, was jedoch nur eine relativ bescheidene Unterstützung darstellte.19 Hinsichtlich der Stiftung des Helvius Basila aus Atina ist es fraglich, wer an der monatlichen Getreidevergabe partizipieren konnte. Vergleicht man sie mit späteren Stiftungen, wie jener der Caelia Macina aus Tarracina, liegt die Vermutung nahe, dass sowohl Knaben als auch Mädchen durch die Getreideverteilung unterstützt wurden.20 Auffällig ist diesbezüglich aller18 CIL 10.6328. Vgl. Anm. 12. 19 Duncan-Jones, Economy (wie Anm. 11), S. 50 f., S. 145 ff., geht davon aus, dass ein erwachsener Mann zur Deckung seines Lebensunterhaltes monatlich fünf ›modii‹ (ca. 32,5 kg) Getreide bedürfe. Für Kinder wird der Verbrauch wohl geringer anzusetzen sein. Der durchschnittliche Preis für ein ›modius‹ (= 6,503 kg) wird von Duncan-Jones, Economy (wie Anm. 11), S. 146, auf durchschnittlich vier Sesterzen geschätzt. Demzufolge hätten womöglich bereits die 16 Sesterze eines Mädchens ausgereicht, um seinen Bedarf an Getreide im Monat zu decken. Jedoch muss man sich vergegenwärtigen, dass zu den monatlichen Unterhaltskosten mehr als Getreide gehörte, beispielsweise Kleidung. Vgl. Mrozek, Alimentarstiftungen (wie Anm. 12), S. 163 f. 20 Bereits die Stiftung aus Florentia vermerkt eine geschlechtsspezifische Vergabe an monatlichen Zuschlägen, nach der Ergänzung von Mrozek, Alimentarstiftungen (wie Anm. 12), S. 156: »[Item ad alimenta pueris ingenuis per a]nnos XIIII puellis [ingenuis per annos . . . HS . . . dedit]«. Auch die anderen privaten Stiftungen bestätigen die Annahme, dass unter den Empfängern neben den Knaben auch Mädchen bedacht wurden. Für die Stiftung aus Comum vgl. Plin. epist. VII , 18,2: »[. . .], quae in alimenta ingenuorum ingenuarumque promiseram«; vgl. CIL 5.5262: »[. . .] dedit in aliment(a) pueror(um) et puellar(um) pleb(is) urban(ae)«; die Inschrift (CIL 10.6328) aus Tarracina nennt als Empfänger »[. . .] pueris colonis [. . .] puellis colonis«. Die Stiftung aus Ostia hingegen richtet sich allein an Mädchen. Als Vergleich können auch die beiden anderen privaten Alimentarstiftungen, die außerhalb Italiens erhalten geblieben sind, angeführt werden: CIL 8.1641 (Sicca Veneria): » [. . .] alantur pueri CCC et puellae CC «; CIL 2.1174 (Hispalis): »[pueri] ingenui Iuncini item puellae i[ngenuae]«. Beispiele
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dings, dass Mädchen in der Gesamtbetrachtung der staatlichen und privaten ›alimenta‹ als Rezipienten stets einen niedrigeren Satz erhielten als die Knaben.21 Ebenso sind sie vergleichsweise seltener als Rezipienten vertreten. Hinsichtlich dieser Beobachtung bildete die Stiftung aus Tarracina zwar eine Ausnahme, da je 100 Kinder beiderlei Geschlechts bedacht wurden, in der Regel ergibt sich allerdings ein deutliches Ungleichgewicht. Eine plausible Erklärung für diesen Sachverhalt gibt Duncan-Jones. Er weist darauf hin, dass nur ein Kind pro Familie in das Förderungsprogramm aufgenommen wurde, so dass Eltern bevorzugt Jungen aufnehmen ließen, schließlich erhielten Knaben nicht nur eine höhere Geldsumme, sondern sie wurden auch länger unterstützt als Mädchen.22 Es wird angenommen, dass die Unterstützung der Kinder mit dem dritten Lebensjahr begann.23 Das Ende der Förderungsdauer scheint hingegen bis zur grundsätzlichen Regelung unter Hadrian von Stiftung zu Stiftung zu variieren. Allerdings lässt sich aus der Summe der Zeugnisse schließen, dass sich die Förderdauer für Jungen bis zum 16. Lebensjahr hin erstreckte, dahingegen die von Mädchen nur bis zum 14. Lebensjahr.24 Letztlich wurde gesetzlich festgehalten, dass eine Förderung für Knaben bis zum 18. Lebensjahr empfohlen sei, bei Mädchen bis zum 14. Lebensjahr.25
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staatlicher Stiftungen bei Eck, Werner: Traian als Stifter der Alimenta auf einer Basis aus Tarracina. In: Archäologischer Anzeiger 95 (1980), S. 266–270, bes. S. 269. Vgl. die epigraphischen Angaben zum monatlichen Unterhalt, aufgelistet bei Mrozek, Alimentarstiftungen (wie Anm. 12), S. 163. Knaben bekamen im Durchschnitt zwei bis vier Sesterzen mehr zugesprochen als Mädchen. Duncan-Jones, Economy (wie Anm. 11), S. 301, meint, dass wohl nicht mehr als ein, vielleicht auch zwei Kinder gefördert wurden. Vgl. auch Eck, Organisation (wie Anm. 9), S. 164. Dieses soziale Ungleichgewicht spiegelt sich vor allem in der staatlichen ›alimenta‹ aus Veleia wider, dort wurden 264 Knaben gegenüber 35 Mädchen monatlich subventioniert. Dagegen geringfügiger erscheint das Ungleichgewicht in der Plinius-Stiftung, die 100 Jungen und 75 Mädchen bedachte, und jener aus Afrika, in der 300 Knaben und 200 Mädchen gefördert wurden. Vgl. CIL 8.1641: »ab annis tribus«. Vgl. Mrozek, Alimentarstiftungen (wie Anm. 12), S. 159; vgl. Goffin, Euergetismus (wie Anm. 4), S. 140. Ebenso wie in der Stiftung aus Atina ist auch in jener aus Ostia, welche sich nur an Mädchen als Rezipienten der ›alimenta‹ richtet, die Altersgrenze nicht wiedergegeben. In der Stiftung aus Florentia aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. wurden Knaben bis zum 14. Lebensjahr gefördert. Welches Alterslimit für Mädchen bestimmt worden war, geht aus dem erhaltenen Inschriftentext nicht mehr hervor, könnte aber im Hinblick auf die deutliche Differenzierung der Altersangaben der männlichen und weiblichen Rezipienten bei zwölf Jahren für die Mädchen gelegen haben. Die Alimentarstiftung aus Tarracina bestimmt eine Förderungsdauer bis zum 16. Lebensjahr für Jungen und bis zum 14. Lebensjahr für Mädchen. Ulpian, Dig. 34,1,14. Vgl. Woolf, Greg: Food, Poverty and Patronage. The Significance
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Trotz dieser geschlechterspezifischen Ungleichheit ist den Inschriftentexten keine Differenzierung nach sozialer Schichtzugehörigkeit zu entnehmen. Vielmehr war das Hauptkriterium zur Aufnahme die Herkunft und damit die rechtliche Positionierung der subventionierten Kinder innerhalb der römischen Gesellschaft. Dies wird auch durch das epigraphische Material gestützt. Im Inschriftentext der Stiftung des Helvius Basila werden die Bezugsberechtigten als ›Atinates‹ bezeichnet, d. h., es handelte sich ausnahmslos um Kinder römischer Bürger der Stadt. Ebenso deutlich wird die rechtliche Zugehörigkeit auch in den anderen epigraphischen Zeugnissen artikuliert. Dies wird in der Stiftung des römischen Senators Caius Plinius Secundus deutlich. Seine monatlichen Versorgungszahlungen gingen allein an freigeborene Kinder, sogenannte ›ingenui‹.26 Die private Stiftung eines Centurio aus Florentia scheint sich ebenfalls an die freigeborenen Kinder der römischen Familien seiner Heimatstadt zu richten.27 Wiederum in der Stiftung aus Tarracina werden die Empfangsberechtigten als ›pueri colonae‹ und ›puellae colonae‹ bezeichnet, d. h., sie waren mit dem Stadtbürgerrecht der Kolonie Tarracina ausgestattete römische Bürger.28 Damit gilt der Reof the Epigraphy of the Roman Alimentary Schemes in Early Imperial Italy. In: Papers of the British School at Rome 58 (1990), S. 197–228, hier S. 208. Die Altersgrenze der Mädchen trägt dem Umstand Rechnung, dass diese ab dem zwölften Lebensjahr verheiratet werden konnten. Vgl. Krause, Jens-Uwe: Children in the Roman Family and beyond. In: Peachin, Michael (Hg.): The Oxford Handbook of Social Relations in the Roman World. Oxford 2011, S. 623– 642, hier S. 629. Vgl. Harris, William V.: Child-Exposure in the Roman Empire. In: Journal of Roman Studies 84 (1994), S. 1–22, hier S. 13. 26 Plin. epist. VII , 18,2. 27 Vgl. Lesung in Anm. 20. 28 Zum römischen Bürgerrecht der städtischen Bevölkerung vgl. Langhammer, Walter: Die rechtliche und soziale Stellung der ›Magistratus Municipales‹ und der ›Decuriones‹ in der Übergangsphase der Städte von sich selbstverwaltenden Gemeinden zu Vollzugsorganen des spätantiken Zwangsstaates (2.– 4. Jahrhundert der römischen Kaiserzeit). Wiesbaden 1973, S. 25 ff. Demgegenüber scheint der rechtliche Status der Rezipienten der privaten Stiftung aus Ostia offen zu bleiben (CIL 14.4450). Gemäß der Inschrift sollten 100 Mädchen, die als ›puellae alimentariae‹ bezeichnet werden, monatlich eine finanzielle Zuwendung in unbekannter Höhe erhalten. Mrozek bezieht diese Bezeichnung ebenfalls auf die römischen Bürger und verweist auf einen Vergleich des Terminus ›puellae alimentariae‹ mit jenem der ›plebs frumentaria‹ in Rom, »deren rechtliche Lage außer Zweifel steht«. Vgl. Mrozek, Alimentarstiftungen (wie Anm. 12), S. 158. Die ›plebs frumentaria‹ war ein privilegierter Kreis der stadtrömischen Bevölkerung. Es waren männliche, über zehn Jahre alte Bürger, die einen Anspruch auf die Getreideverteilungen hatten. Vgl. hierzu ausführlich van Berchem, Denis: Les distributions de ble´ et d’argent a` la ple`be romaine sous l’empire. Gene`ve 1939. Vgl. Prell, Untersuchungen (wie Anm. 2), S. 279–284.
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zipientenkreis für die privaten ›alimenta‹ als klar eingegrenzt. Diesem rechtlich privilegierten Teil der römischen Bürgerschaft standen nun jene Kinder gegenüber, die keine Unterstützung erhielten.29 Kindern konnte die Aufnahme in ein solches Unterstützungsprogramm versagt bleiben, wenn die festgelegte Anzahl der Empfänger bereits erreicht war. Nochmals genannt seien die 200 Knaben und Mädchen in Tarracina. Zwar bestand für jede römische Familie die Möglichkeit auf eine Bewerbung zur Förderung, jedoch steht fest, dass die von den ›alimenta‹ unterstützten Kinder nur einen geringen Teil der Empfangsberechtigten ausmachten.30 Inwiefern Kinder der ›incolae‹ als empfangsberechtigt eingestuft werden konnten, scheint abhängig von der jeweiligen Stiftung bzw. den jeweiligen Bestimmungen hinsichtlich der Rezipienten zu sein. Bei den ›incolae‹ handelte es sich zwar um römische Bürger, sie waren jedoch minderberechtigt. Sie wurden zwar als Einwohner der Stadt angesehen, besaßen aber als Dazugezogene immer noch das Stadtbürgerrecht ihrer Heimatgemeinde.31 Helvius 29 Verwiesen sei auf Waisenkinder als exkludierten Bevölkerungsteil. Besonders Halb- und Vollwaisen aus den unteren Bevölkerungsschichten gehörten im Römischen Reich, sobald sie keinen familiären Vorstand mehr hatten, zur armutsgefährdeten Risikogruppe. Ausführlich zum Thema Verarmung von Waisen vgl. Krause, Jens-Uwe: Witwen und Waisen im Römischen Reich. Bd. 3: Wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung von Waisen. Stuttgart 1995. Vgl. Prell, Untersuchungen (wie Anm. 2), S. 64 f. Da sich die privaten ›alimenta‹ ausschließlich an Familien mit Kindern richteten und Waisen als solche in den Inschriftentexten nicht als Empfänger aufgeführt werden, waren sie vermutlich nicht zur Förderung zugelassen. Vgl. Prell, Untersuchungen (wie Anm. 2), S. 291. Die Inschrift aus Veleia nennt u. a. ›spurii‹ und ›spuriae‹ als Rezipienten der staatlichen Förderung. Dabei handelte es sich um illegitime Kinder, die nicht der ›patria potestas‹ unterstanden. Ob deshalb auch Waisenkinder an dieser ›alimenta‹ partizipieren konnten, ist nicht bekannt. Ausbüttel, Frank M.: Die Verwaltung des römischen Kaiserreiches. Von der Herrschaft des Augustus bis zum Niedergang des Weströmischen Reiches. Darmstadt 1998, S. 154, Anm. 60, verneint die finanzielle Unterstützung von Waisenkindern durch die ›alimenta‹. Hingegen scheint Woolf, Food (wie Anm. 25), S. 207, die ›spurii‹ mit den Waisen gleichzusetzen. Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass die ›alimenta‹ nach dem Konzept der stadtrömischen ›frumentationes‹ aufgebaut waren, welche sich ebenso ausschließlich an Familien richtete. Vgl. Wierschowski, Alimentarinstitution (wie Anm. 13), S. 775. 30 Mrozek, Alimentarstiftungen (wie Anm. 12), S. 164 f. Gerade für Tarracina und Ostia sind auch staatliche Alimentarprogramme durch Ehreninschriften überliefert. Vgl. hierzu Mrozek, Kinderfürsorge in Italien (wie Anm. 12), S. 281–284, Mrozek, Alimentarstiftungen (wie Anm. 12), S. 165 f.; vgl. Eck, Organisation (wie Anm. 9), S. 187. Leider kann durch diese nicht eruiert werden, wie viele Kinder letztlich in den jeweiligen Städten unterstützt wurden. Wahrscheinlich werden diese jedoch m. E. nicht ausgereicht haben können, um alle empfangsberechtigten Kinder zu unterstützen. 31 Erläuterung zum Status der ›incolae‹ vgl. Langhammer, Stellung (wie Anm. 28), S. 29–33.
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Basila beschränkte die potentiellen Empfänger seiner Stiftung auf jene Kinder, deren Eltern das Stadtbürgerrecht von Atina besaßen; demnach durften die ›incolae‹ nicht an seiner Munifizenz partizipieren. In Tarracina werden sie ebenfalls nicht zum Rezipientenkreis gehört haben, da der Inschriftentext explizit ›pueri colonae‹ und ›puellae colonae‹ wiedergibt,32 womit die Kinder von Vollbürgern einer Stadt (lat. ›coloni‹) bezeichnet werden. Hingegen ist die Empfangsberechtigung der ›incolae‹ in der Alimentarstiftung des Centurio aus Florentia und jener des Plinius aus Comum offen. Zur Veranschaulichung sei diesbezüglich nur auf die Zuwendung des Plinius verwiesen. Sowohl die literarische als auch die epigraphische Überlieferung der Plinius-Stiftung geben keinen Hinweis auf eine Exklusion der ›incolae‹. In der literarischen Überlieferung heißt es lediglich, dass Plinius zur finanziellen Unterstützung von freigeborenen Knaben und Mädchen eine Kapitalanlage im Wert von 500 000 Sesterzen getätigt habe. Im epigraphischen Text wiederum wurden die Rezipienten als Jungen und Mädchen der ›plebs urbana‹ bezeichnet. Bezüglich des Begriffes ›plebs urbana‹ ist allerdings nicht einwandfrei zu bestimmen, ob damit nur die Bürger oder auch die ›incolae‹ gemeint waren.33 Hinzu treten Fremde und Sklaven, die naturgemäß nicht über das römische Bürgerrecht verfügten und damit von vornherein nicht empfangsberechtigt waren. Die Frage, ob unter den empfangsberechtigten Kindern privater Alimentarstiftungen auch solche waren, die aus von absoluter Armut betroffenen Familien stammten, muss offen bleiben, da sowohl Inschriften als auch literarische Quellen zur sozialen Zugehörigkeit der Empfänger schweigen.34 In den Inschriftentexten der Stiftungen erfolgte also definitiv keine Differenzierung der partizipierenden Kinder nach der jeweiligen sozialen Schichtzugehörigkeit. Vielmehr bestimmten andere Kriterien die Anspruchsberechtigung, die auf Alter, Geschlecht und auf der freien Geburt sowie dem lokalen Bürgerrecht beruhten. Es lässt sich demnach anhand der Inschriften 32 Vgl. Mrozek, Stanislaw: Die städtischen Unterschichten Italiens in den Inschriften der römischen Kaiserzeit (populus, plebs, plebs urbana u. a.). Wroclaw 1990, S. 34–36, hier S. 41 f. Vgl. zur Differenzierung von ›coloni‹ und ›incolae‹ AE 1982.157 (Minturnae); CIL 9.2252 (Telesia); AE 1975.354 (Firmum Picenum). 33 Zur Begriffsproblematik vgl. Mrozek, Alimentarstiftungen (wie Anm. 12), S. 157– 159; Mrozek, Unterschichten (wie Anm. 32), S. 26–31. 34 Vgl. Woolf, Food (wie Anm. 25), S. 206 f. verweist auf subventionierte Kinder staatlicher ›alimenta‹, die anscheinend wohlhabend genug waren, um dem Kaiser eine Statue zu setzen. Zwar wird davon ausgegangen, dass die subventionierten Kinder nicht aus der Oberschicht stammten, sondern aus der ›plebs urbana‹. Dennoch wird darauf verwiesen, dass soziale ›Armut‹ nicht gleichbedeutend mit ökonomischer ›Armut‹ sein muss. Hierzu Prell, Untersuchungen (wie Anm. 2), S. 289.
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zur privaten Alimentation weder eine explizite Berücksichtigung noch ein Ausschluss von Armen und Bedürftigen nachweisen.35 Als Folge dieser Ausführungen können und dürfen die privaten Alimentarstiftungen nicht als eine Art von Armenfürsorge gewertet bzw. aufgefasst werden. Zwar sieht die Forschung als mögliches Ziel der ›alimenta‹ oftmals die Unterstützung von sozial schwachen Familien, um damit die Geburtenrate in Italien zu heben,36 jedoch stützt sie sich dabei lediglich auf zwei literarische Quellen zur staatlichen Alimentarinstitution, welche durch eine Textpassage im Panegyricus des jüngeren Plinius auf Kaiser Trajan sowie durch eine Zeile aus dem Epitome de Caesaribus überliefert sind.37 Beide Schriftstücke geben Anlass zur Vermutung, die kaiserliche Initiative würde sich gezielt an die ärmeren Bevölkerungsschichten wenden. Mag dies auch für Trajans staatliches Engagement zugetroffen haben, so konnte eine solche Zielrichtung für die privaten ›alimenta‹ bislang nicht nachgewiesen werden.38 Die Beweggründe zur Errichtung einer solchen Munifizenz scheinen sich von jenen des Kaisers zu unterscheiden und den privaten Stiftungen inhärent gewesen zu sein. Einerseits werden sie gewiss dem Vorbild des Kaisers, der Freigebigkeit gegenüber der römischen Bevölkerung propagierte, nachgeeifert haben, andererseits werden sie Eigeninteressen verfolgt haben, nach welchen jeder einzelne der Stifter darum bemüht war, durch eine dauerhafte Zweckbestimmung seiner Stiftung die stete Erinnerung an die eigene Person und die seiner Familie in den Köpfen seiner Mitmenschen und nachfolgenden Generationen zu bewahren. Abschließend lässt sich zu den privaten ›alimenta‹ zusammenfassen, dass diese Einrichtung, wenn sie auch soziale Aspekte aufweisen mag, nicht als zielgerichtete Armenfürsorge fehlgedeutet werden darf, da die Bedürftigen nicht als soziale Kategorie existierten und angesprochen wurden. Theoretisch 35 So auch Woolf, Food (wie Anm. 25), S. 209 f. Vgl. Bruhns, Hinnerk: Armut und Gesellschaft in Rom. In: Mommsen, Hans / Schulze, Winfried (Hg.): Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung. Stuttgart 1981, S. 27– 49, hier S. 35. 36 Vgl. Anm. 11. 37 Zur Zielsetzung vgl. Plin. paneg. 26–28, insbes. 26,5– 6. Ebenso Epit. de Caes. 12,4. Zur kritischen Auswertung der literarischen Quellen vgl. Wierschowski, Alimentarinstitution (wie Anm. 13), S. 773–782. Vgl. Abramenko, Andrik: Zur Organisation der Alimentarstiftung in Rom. In: Laverna 1 (1990), S. 125–131. 38 Kaiser Trajan hat das Unterstützungsprogramm bekanntlich erst verstaatlicht, nachdem bereits private Stifter durch Eigeninitiative in diese Richtung hinwirkten. Daher ist es fraglich, ob man den privaten Alimentarstiftungen (vor allem aus dem 1. Jahrhundert n. Chr.) die gleichen Zielsetzungen nachsagen kann, wie es allgemeinhin der trajanischen Alimentarinstitution zugesprochen wird.
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konnten Arme also von den monatlichen Unterhaltszahlungen profitieren, denn sie wurden nicht explizit ausgeschlossen.39 Die ›alimenta‹ boten die Möglichkeit, ein Kind subventionieren zu lassen, wodurch der gesamten Familie ein, wenn auch bescheidener Beitrag zum Lebensunterhalt zugutekam.
Öffentliche Geldverteilung von privater Hand Stiftungen und gelegentliche Distributionen weisen eine breite Palette von Variationen auf. Die Anlässe zur Verteilung von Natural- und Geldspenden konnten sehr verschieden sein,40 ebenso unterschiedlich konnten mancherorts die Modalitäten und der bedachte Rezipientenkreis sein. Doch gerade im Hinblick auf diese Gruppe bleibt zu beachten, dass sich die vorwiegende Mehrheit der privaten Zuwendungen allein an römische Bürger richtete, und somit nicht alle Bewohner einer Stadt empfangsberechtigt waren.41 Oftmals reichte das römische Bürgerrecht jedoch nicht aus, um als empfangsberechtigt zu gelten. So konnten auch Alter und Geschlecht je nach 39 Vgl. Hands, Arthur Robinson: Charities and Social Aid in Greece and Rome. London 1968, S. 115. Jongman, Willem: Benefical Symbols. Alimenta and the Infantilization of the Roman Citizen. In: Ders. / Kleijwegt, Marc (Hg.): After the Past. Essays in Ancient History in Honour of H. W. Pleket. Leiden [u. a.] 2002, S. 47–80, hier S. 64 f. und S. 71. Patterson sieht in den ›alimenta‹ eine Fürsorgemaßnahme zur Unterstützung armer Kinder. Vgl. Patterson, John R.: Crisis: What Crisis? Rural Change and Urban Development in Imperial Appennine Italy. In: Papers of the British School at Rome 55 (1987), S. 115–146, hier S. 126 f. Deutlich dagegen spricht sich Woolf, Food (wie Anm. 25), S. 204 ff., aus. 40 Vielfach boten beispielsweise Totenkultfeiern (Bsp. CIL 10.5853), die Geburtstage von Kaisern oder deren Familienangehörigen (Bsp. CIL 14.2795) sowie Einweihungsveranstaltungen öffentlicher Bauwerke (Bsp. AE 1993.477) oder von Ehrenstatuen (Bsp. CIL 9.5841) einen geeigneten Anlass zur Ausrichtung eines Festes oder zur Verteilung von Geld. Vgl. Mrozek, Stanislaw: Les distributions d’argent et de nourriture dans les villes italiennes du Haut-Empire romain. Brüssel 1987, S. 46–53. Wesch-Klein, Gabriele: Equites Romani und Euergetismus. In: Demougin, Se´gole`ne [u. a.] (Hg.): L’ordre e´questre. Histoire d’une aristocratie (II e sie`cle av. J.-C.-IIIe sie`cle ap. J.-C.). Actes du colloque International, Bruxelles-Leuven, 5–7 octobre 1995. Rom 1999, S. 301–319, hier S. 307–309. 41 Inwiefern Fremde und Unfreie an den privaten Zuwendungen im Bereich der Bautätigkeit und der Ausrichtung von Spielen partizipierten, kann aufgrund der hier behandelten Thematik nicht analysiert werden. Es sei jedoch kurz auf die Spiele im Amphitheater und die Aufführungen im Theater verwiesen. In den Inschriften bleibt die Benennung der Nutznießer bzw. berechtigten Zuschauer aus, so dass sich vermuten ließe, dass alle Bevölkerungsgruppen unabhängig ihrer rechtlichen und sozialen Zugehörigkeit sowie ihres Geschlechtes die Veranstaltungen besuchen durften. Vgl. Mrozek, Unterschichten (wie Anm. 32), S. 9.
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Stiftung oder Schenkung als Kriterien für die Teilnahme fungieren. Des Weiteren folgte diese Form von privater Munifizenz der hierarchischen Staffelung der Partizipierenden, die sich an der sozialen und rechtlichen Zugehörigkeit innerhalb des römischen Bürgerverbandes ausrichtete. Eine derartige Differenzierung der Empfänger ist bereits vereinzelt für die private Munifizenz des 1. Jahrhunderts n. Chr. zu konstatieren42 und wird in den euergetischen Inschriftentexten des 2. Jahrhunderts n. Chr. durch die Vergabe von Geldspenden signifikant dargestellt, indem sich die Höhe der ausgezahlten Geldbeträge an den jeweiligen klar definierten Bevölkerungsgruppen bzw. deren Schichtzugehörigkeit orientiert.43 In süditalischen Volcei beispielsweise wurde dem städtischen Magistrat und Patron der Stadt Publius Otacilius Rufus, der von Kaiser Hadrian mit dem equus publicus geehrt worden war, durch den Stadtrat eine Ehrenstatue gesetzt. Anlässlich der Einweihungsfeierlichkeiten wurden gemäß den 42 Vgl. noch für die republikanische Zeit CIL 10. 4727. Für das 1. Jahrhundert sind größtenteils nur Zuwendungen im Bereich der allgemeinen Verköstigung überliefert. Diese richten sich mehrheitlich an den ›populus‹ (u. a. CIL 10.1451; CIL 14.2096; AE 1972.154; CIL 11.3613; AE 1920.97). Nur gelegentlich erfolgte bereits eine Differenzierung zwischen Dekurionen und der einfachen Bevölkerung, diese bezog sich allerdings zumeist nur auf die Benennung der Nutznießer an sich, die Verköstigung beider war gleich (vgl. für das 1. Jahrhundert n. Chr. CIL 11. 3303; für das 1. / 2. Jahrhundert n. Chr. CIL 11.5960 und 5965). Allgemein zeichnet sich das 1. Jahrhundert n. Chr. weniger durch seine Lebensmittel- und Geldverteilungen als vielmehr durch seine rege Bautätigkeit aus. Vgl. generell Alföldy, Geza: Euergetismus und Epigraphik in der augusteischen Zeit. In: Christol, Michel / Masson, Olivier (Hg.): Actes du Xe Congre`s international d’e´pigraphie grecque et latine, Nıˆmes, 4–9 octobre 1992. Paris 1997, S. 293–304, hier S. 294–304. Speziell zur Bautätigkeit Ce´beillac-Gervasoni, Mireille: L’E´verge´tisme des magistrats du Latium et de la Campanie des Gracques a` Auguste a` travers les te´moignages e´pigraphiques. In: Me´langes de l’E´cole franc¸aise de Rome. Antiquite´ 102 (1990) 2, S. 699–722. Jouffroy, He´le`ne: Le financement des constructions publiques en Italie: initiative municipale, initiative impe´riale, e´verge´tisme prive´. In: Kte´ma 2 (1977), S. 329–337. Dies.: La construction publique en Italie et dans l’Afrique romaine. Strasbourg 1986. Rockwell, Joseph-C.: Private Baustiftungen für die Stadtgemeinde auf Inschriften der Kaiserzeit im Westen des römischen Reiches. Jena 1909. 43 Ungefähr ab hadrianischer Zeit erfolgte eine Entwicklung dahingehend, dass man anstelle von öffentlichen Banketten dazu überging, der Bevölkerung Geldgeschenke zukommen zu lassen, welche entweder zur Verköstigung dienten oder anderweitig verwendet wurden. Beispielsweise ließen in Volsinii die Dekurionen »ex sportulis suis« eine Statue aufstellen (CIL 11.3009). Oftmals wurden Geldspenden auch zusätzlich zu einer Mahlzeit bewilligt (u. a. CIL 11.6360). Hierzu vgl. Marquardt, Joachim: Das Privatleben der Römer. Teil 1. Darmstadt 1980 (ND der 2. Aufl. Leipzig 1889), S. 209 f.
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auf dem Inschriftenstein festgehaltenen Bestimmungen an die Dekurionen je drei Denare und an jeden Augustalen zwei Denare verteilt. Zudem erhielt jeder Bürger, der dem populus angehörte, je einen Denar.44 Die Abstufung der Beträge, wie sie die Ehreninschrift des Otacilius Rufus wiedergibt, kann schon als idealtypisch im Vergabesystem der privaten Munifizenz bezeichnet werden. An erster Stelle standen stets die Mitglieder des ordo decurionum, die in der gesellschaftlichen Hierarchie der italischen Städte als Stadträte die höchste Position einnahmen.45 Um in den Rang eines Dekurionen zu gelangen, war nicht nur der Nachweis einer freien Geburt notwendig, sondern man musste auch über ein Mindestvermögen verfügen, um den finanziellen Verpflichtungen nachkommen zu können, die mit dem Amt einhergingen. Diese Censusqualifikation variierte, abhängig von der jeweiligen Stadt und deren Größe, zwischen 20 000 und 100 000 Sesterzen.46 An zweiter Position folgten die Augustalen. Sie waren innerhalb der städtischen Gesellschaft zuständig für die Verehrung lebender und konsekrierter Kaiser. In ihrer sozialen Zusammensetzung rekrutierten sich die Augustalen vorwiegend aus dem Kreis der wohlhabenden männlichen Freigelassenen.47 Da sie aufgrund ihrer unfreien Herkunft von den städtischen Ämtern ausgeschlossen waren, bot ihnen der Kaiserkult eine Möglichkeit, sich öffentlich zu repräsentieren und sich durch euergetische Leistungen gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen.48 Da von ihrer Freigebigkeit 44 CIL 10.416: »P(ublio) Otacilio L(uci) f(ilio) Pal(atina) Rufo pat(ri) / IIIIvir(o) [i(ure)] d(icundo) II q(uin)q(uennali) flam(ini) perpetuo / divi Hadriani ab eodem equo publ(ico)/honorato curatori kalendari(i) r(ei) p(ublicae)/Aeclanensium electo a divo Pio / patrono municipi(i) / ob eximiam munificentiam eius ordo dec(urionum) / pecunia publica ponendum cens(uit) cuius / dedicatione dec(urionibus) (denarios) III Aug(ustalibus) (denarios) II pop(ulo) (denarium) I dedit«. Die Inschrift wird zwischen 161 und 180 n. Chr. datiert. 45 Ausnahmen CIL 10.7352 und CIL 11.4580. 46 Langhammer, Stellung (wie Anm. 28), S. 190–195; Alföldy, Geza: Römische Sozialgeschichte. 4. Aufl. Wiesbaden 2011, S. 169 f. Damit stellten die Dekurionen zwar im Vergleich untereinander eine heterogene soziale Schicht dar, bildeten jedoch in jeder Stadt eine selbständige Körperschaft, die sich bewusst von der übrigen städtischen Bevölkerung absetzte. Plin. epist I 19,2 überliefert für Comum 100 000 Sesterzen als Mindestvermögenssatz, hingegen ist für eine kleine Gemeinde in Afrika 20 000 Sesterzen als Mindestvermögen überliefert (Dahlheim, Geschichte [wie Anm. 4], S. 110). 47 Vittinghoff, Friedrich [u. a.] (Hg.): Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der römischen Kaiserzeit. Bd. 1. Stuttgart 1990, S. 207, merkt an, dass es auch Freigeborene unter den Augustalen gab. 48 Vgl. z. B. für das 1. Jahrhundert n. Chr. L. Mammius Maximus, der in Herculaneum mehrere Kaiserstatuen errichtete (AE 1979.175; CIL 10.1413; 1415; 1417; 1418;
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nicht nur die Städte, sondern auch deren Bürger profitierten, gelang es den Augustalen, entgegen ihres Rechtsstatus, sich aus der Masse der einfachen Bevölkerung herauszuheben. Dies mag wiederum in direkter Folge dazu geführt haben, dass sie in den einzelnen Stiftungen und Schenkungen getrennt von der unteren Bevölkerungsschicht bedacht wurden. Fast ausnahmslos an letzter Stelle in der Reihenfolge der Empfänger wurde das einfache Volk aufgeführt. In der Ehreninschrift des Otacilius Rufus wurde es als ›populus‹ bezeichnet. Allgemeinhin bezeichnet ›populus‹ die Gesamtheit der erwachsenen, männlichen, römischen Bürger.49 Dementsprechend waren unter den Empfängern dieser Schenkung weder Frauen noch Kinder, unabhängig ihres gesellschaftlichen Status, zu finden. Dass der Rezipientenkreis anscheinend tatsächlich nur auf einen geringen Bevölkerungsanteil beschränkt war, der zudem ausschließlich aus männlichen Bürgern bestand, zeigt eine andere Schenkung aus Volcei, die Otacilius Gallus, der Vater des Otacilius Rufus, den Bürgern zugutekommen ließ.50 Gemäß seinem Testament sollte das Caesareum der Stadt restauriert werden. Als die Wiederherstellungsarbeiten abgeschlossen waren, wurden anlässlich der Einweihung des fertigen Bauwerkes an einzelne Bevölkerungsgruppen Geldgeschenke verteilt. Wie dem Inschriftentext zu entnehmen ist, wurden die Nutznießer nach ihrer Schichtzugehörigkeit, beginnend mit den 1450; 1451) oder für das 2. Jahrhundert n. Chr. C. Oppius Leonas. Er hat in Auximum seinen Mitbürgern zweimal ein Festessen ausgerichtet (CIL 9.5823 und 5833). 49 Galsterer, Hartmut: Populus. In: Cancik, Hubert [u. a.]: Der Neue Pauly. Bd. 10. 2001, S. 156. Vgl. Mrozek, Unterschichten (wie Anm. 32), S. 10–24. Mrozek, Stanislaw: Die epigraphisch belegten sozialen Randgruppen in den Städten Italiens (Prinzipatszeit). In: Weiler, Ingomar / Grassl, Herbert (Hg.): Soziale Randgruppen und Außenseiter im Altertum. Referate vom Symposion »Soziale Randgruppen und Antike Sozialpolitik« in Graz (21.–23. September 1987). Graz 1988, S. 243–255, hier S. 248. In den Inschriftentexten wurde das einfache Volk unter den Bezeichnungen ›populus‹, ›plebs‹, ›plebs urbana‹, ›coloni‹, ›municipes‹ und zuweilen auch als ›vicani‹ und ›cives‹ aufgeführt. Die unterschiedlichen Termini scheinen je nach Region zu variieren. Der Terminus ›populus‹, der, nach dem erhaltenen epigraphischen Material zu schließen, am häufigsten gebraucht wurde, ist für alle italischen Regionen belegbar. Dagegen scheint der Terminus ›plebs‹ vorwiegend in den Inschriftentexten aus Samnium und Umbrien verwendet worden zu sein. Es ist anzunehmen, dass diese Begriffe in der Epigraphik als Äquivalent gewertet werden können. Dies hieße, dass die Benennungen ›populus‹, ›plebs‹, ›plebs urbana‹, ›coloni‹, ›municipes‹ etc. lediglich die männlichen Bürger einer Stadt als Nutznießer bezeichneten. 50 CIL 10.415: »ex tes]tamento Otacili Galli patris Caesareum / [vetustate] conlapsum p(ecunia) [s(ua) r(estituit)] cuius oper[is] dedicatione / [dedit decurionibus] HS XXX Augusta[l]ibus HS XX vicanis HS XII ux[oribus] / decurionum HS XVI / Augustalium HS VIII / vicanorum HS IIII. «
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angesehensten Bürgern der Stadt, hierarchisch gestaffelt. So erhielten die Dekurionen je 30 Sesterze, die Augustalen je 20 Sesterze und die übrigen Bürger von Volci, die als ›vicani‹ bezeichnet wurden, je zwölf Sesterze. Von den männlichen Rezipienten im Inschriftentext deutlich abgegrenzt, wurden wiederum die empfangsberechtigten Frauen je nach Schichtzugehörigkeit mit einer Geldspende bedacht. Demnach bekamen die Ehefrauen der Dekurionen 16 Sesterze, jene der Augustalen acht Sesterze und schließlich die Ehefrauen der ›vicani‹ je vier Sesterze. Die verwendete Formulierung ›uxores‹ hebt auf sehr prägnante Weise hervor, dass lediglich die Ehefrauen der empfangsberechtigen Bürger in die Schenkung eingeschlossen waren. Wie in der Zuwendung des Otacilius Rufus, so war auch jene seines Vaters auf einen geringen Bevölkerungsteil beschränkt worden. In beiden Zuwendungen wurden die Dekurionen mit dem höchsten Geldbetrag bedacht, gefolgt von den Augustalen. Die einfachen Bürger hingegen bekamen den niedrigsten Satz. Auf diesen Rezipientenkreis soll im Folgenden das Hauptaugenmerk gelegt werden. In der Schenkung des Otacilius Rufus wurden diese Bürger als ›populus‹ bezeichnet. Es sei nochmals betont, dass darunter nur die männlichen Bürger einer Stadt zu verstehen sind, sowie die ›incolae‹ mit ihrem minderberechtigten Bürgerrecht.51 In Bezug auf Frauen und Kinder ist davon auszugehen, dass sie nur dann als Empfänger einer privaten Zuwendung in Erscheinung traten, wenn sie im Inschriftentext unter den Rezipienten aufgelistet wurden.52 Dies war exemplarisch in der Schenkung des Otacilius Gallus der Fall, wie es durch das erhaltene epigraphische Material bestätigt scheint.53 In diesem Zusammenhang ist 51 Mrozek, Randgruppen (wie Anm. 49), S. 244. Das verfügbare Inschriftenmaterial zeigt keine Trennung zwischen ›populus‹ und ›incolae‹ auf. 52 Vgl. Mrozek, Randgruppen (wie Anm. 49), S. 245–247. Vgl. auch Donahue, John F.: The Roman Community at Table during the Principate. Ann Arbor 2004, S. 139–141. 53 Von fast 280 Zeugnissen zur privaten Munifizenz konnten Frauen als Empfänger bislang in 27 Inschriften identifiziert werden: »uxores« AE 1998.303, AE 1982.157, CIL 10.415; »mulieres« CIL 14.2408, CIL 10.5849, CIL 10.5853, CIL 10.5857, CIL 14.2120, AE 1969/70.106, AE 1976.176, AE 1965.153, CIL 9.3171, AE 1997.432, CIL 9.4697, CIL 11.6190, CIL 11.3811, CIL 10.7352; »feminae« CIL 10.109, CIL 9.5376; »coniuges« CIL 11.3206; »populus utriusque sexus« CIL 9.977, CIL 9.981; »plebs utriusque sexus« CIL 10.5067, CIL 9.3954, CIL 11.5717; »municipes et incolae utriusque sexus« CIL 11.5693; »ceteris utriusque sexus« CIL 11.5716. Werden die Alimentarstiftungen außer Acht gelassen, konnten Kinder als Nutznießer bisher in zwölf Inschriften nachgewiesen werden: »liberi« CIL 10.109, CIL 9.3160, CIL 9.2252, CIL 11.5215, CIL 11.3013, CIL 11.3206; »filii« AE 1982.157, AE 1965.153, CIL 9.2962, CIL 10.7352; »pueri« CIL 10.5849, CIL 10.5853.
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hinsichtlich der Berücksichtigung von Frauen zu beobachten, dass sie grundsätzlich den niedrigsten Satz erhielten, was beispielsweise auch sehr unzweifelhaft aus der Schenkung des Otacilius Gallus hervorgeht. Dort bezogen die Ehefrauen, welche gleich den Männern hierarisch gestaffelt aufgeführt wurden, stets einen niedrigeren Geldbetrag als ihre Ehemänner. Zudem erhielten die Ehefrauen der Dekurionen trotz ihres höheren Status weniger Geld als die Augustalen, dennoch mehr als die männlichen Bürger aus dem einfachen Volk. Damit wurden die Frauen der Oberschicht zwar deutlich über die einfachen Bürger gestellt, jedoch aufgrund ihres Geschlechtes benachteiligt.54 Ein weiteres Charakteristikum der Inklusion von Frauen in die Schenkung besteht darin, dass es sich wahrscheinlich nur um verheiratete Frauen handelte. Darauf jedenfalls verweisen die verwendeten Termini wie ›uxor‹, ›mulier‹ und ›coniunx‹. Ähnlich verhält es sich auch bezüglich der Inklusion und Exklusion von Kindern. In den beiden vorgestellten privaten Zuwendungen aus Volcei wurden Kinder nicht in den Rezipientenkreis aufgenommen. Wenn man das gesamte Inschriftenmaterial zur privaten Munifizenz mit Ausnahme der Alimentarstiftungen betrachtet, so hat es den Anschein, dass, wenn überhaupt, nur die Kinder der städtischen Oberschicht integriert wurden.55 In Bezug auf eine geschlechterspezifische Diskriminierung wird von Mrozek angenommen, dass es sich bei den Kindern der Dekurionen ausnahmslos um deren Söhne gehandelt habe. Eine Vermutung, die durch fünf Zuwendungen, in denen die Kinder der Dekurionen den gleichen Geldbetrag erhielten wie ihre Väter, bestätigt scheint.56 Ungewiss ist allerdings, ob pro Familie nur ein Kind zur Verteilung zugelassen wurde oder ob alle Kinder einer Familie an der jeweiligen Spende partizipieren durften. Betrachtet man jedoch vergleichsweise die ›alimenta‹, so war es wahrscheinlich immer nur einem Kind der Familien erlaubt, die Spende zu empfangen. Nach diesen Ausführungen sollen zur abschließenden Auswertung des Rezipientenkreises nochmals die beiden Schenkungen aus Volcei betrachtet werden. Beide Geldspenden wurden von wohlhabenden Mitgliedern der 54 Im Bezug auf die senatorischen Frauen heißt es vergleichsweise, dass selbst ein männlicher Ritter diese überrage, da die größere Würde im männlichen Geschlecht liege. Vgl. beispielsweise Dig. 1,9,1,1. 55 Nur Kinder der Dekurionen: AE 1965.153, AE 1982.517, CIL 9.3160, CIL 11.5215, CIL 10.7352. Kinder der Dekurionen und Augustalen: CIL 10.109, CIL 9.2962. Alle Kinder der städtischen Bevölkerung: CIL 9.2252, CIL 10.5853, CIL 11.3013, CIL 11.3206. 56 Mrozek, Randgruppen (wie Anm. 49), S. 248. Vgl. AE 1965.153, AE 1982.517, CIL 9.3160, CIL 10.109, CIL 11.5215.
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städtischen Gesellschaft erbracht. Wie aus dem ›cursus honorum‹ der Ehreninschrift des Publius Otacilius Rufus ersichtlich wird,57 bekleidete er, wie vermutlich auch sein Vater Otacilius Gallus, wichtige Ämter innerhalb der städtischen Administration und gehörte somit zur führenden Oberschicht der Stadt bzw. zum ›ordo decurionum‹. Dank des familiären Vermögens, das weit über 400 000 Sesterzen betragen haben muss, war es dem Otacilius Rufus sogar gelungen, in den Ritterstand aufzusteigen.58 Dieser soziale Aufstieg erhöhte nicht nur das Ansehen seiner Person, sondern auch das seiner gesamten ›gens‹. Beide, sowohl Vater als auch Sohn, werden demnach nach öffentlicher Repräsentation gestrebt haben, um die ›auctoritas‹ der Familie publik zu machen. Der Stadt und ihren Bewohnern konnte dies nur zum Vorteil gereichen. So finanzierte Otacilius Gallus die Restaurierung eines Tempels und verteilte Geld. Letzteres tat ihm sein Sohn nach, als ihm seitens der Gemeinde eine Ehrenstatue gesetzt wurde.59 Wie vielen anderen ›Wohltätern‹ auch, ging es den Otacilii in erster Linie um die Steigerung des eigenen sozialen Prestiges und die Erlangung von Ruhm, Ehre und politischer Macht, weniger um die Linderung von Armut, geschweige denn die Unterstützung von Armen und Bedürftigen.60 In diesem Sinne sind auch die Geldvergaben nicht als eine Form der ›Armenfürsorge‹ zu werten. Dies wird nicht zuletzt dadurch ersichtlich, dass die wohlhabendsten Bürger der Stadt die höchste finanzielle Zuwendung erhielten. So erhielten in der Vergabe des Otacilius Rufus die Dekurionen je zwölf Sesterzen, in jener des Vaters sogar noch wesentlich mehr, er beschenkte die 57 Vgl. Anm. 55. 58 Der Mindestzensus eines Ritters belief sich in der Kaiserzeit auf 400 000 Sesterzen. Alföldy, Sozialgeschichte (wie Anm. 46), S. 163. 59 Es ist davon auszugehen, dass die Inschriftentafel des Otacilius Gallus den Architrav des Tempels schmückte, und die Ehrenstatue des Otacilius Rufus zusammen mit der Inschrift an exponierter Stelle, womöglich auf dem Forum der Stadt, aufgestellt worden war. Vgl. zur Aufstellung von Ehrenstatuen Eck, Werner: Ehrungen für Personen hohen soziopolitischen Ranges im öffentlichen und privaten Bereich. In: Schalles, Hans-Joachim [u. a.] (Hg.): Die römische Stadt im 2. Jahrhundert n. Chr. Kolloquium in Xanten Mai 1990. Köln 1992, S. 359–376. Eck, Werner: Statuendedikanten und Selbstdarstellung in römischen Städten. In: Le Bohec, Yann (Hg.): L’Afrique, la Gaule, la religion a` l’e´poque romaine – Me´lange M. Le Glay. Brüssel 1994, S. 650– 662. 60 Z. B. Tac. Agr. 46,4: »manet [. . .] in aeternitae temporum, fama rerum«. Vgl. Hands, Charities (wie Anm. 39), S. 43; Duncan-Jones, Economy (wie Anm. 11), S. 139. Prell, Untersuchungen (wie Anm. 2), S. 269. Zur Motivation vgl. auch Bolkestein, Hendrik: Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum. Ein Beitrag zum Problem »Moral und Gesellschaft«. Groningen 1967 (ND Utrecht, 1939), S. 316–320. Goffin, Euergetismus (wie Anm. 4), S. 20–33.
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Dekurionen mit je 30 und deren Ehefrauen zusätzlich mit je zwölf Sesterzen. Auf den ersten Blick mag man vermuten, dass auch die einfache Bevölkerung von der Stiftung des Otacilius Gallus mehr profitiert hätte als an jener seines Sohnes. Dies trifft allerdings nur zum Teil zu. Während die Stiftung des Otacilius Rufus alle Bürger in die Geldvergabe einschloss, begrenzte sein Vater die Teilnahme auf die ›vicani‹, wodurch den ›incolae‹ der Zugang zur Munifizenz verwehrt blieb.61 Dahingegen hatte er seine Schenkung den Ehefrauen der ›vicani‹ geöffnet. Wie viele einfache Bürger an beiden Stiftungen partizipierten und ob die Anzahl der ›incolae‹ jener der ›vicani‹ entsprochen haben mag, ist nicht eruierbar. Es lässt sich lediglich feststellen, dass die Stiftung des Otacilius Rufus im Hinblick auf den sozial schwächeren Bevölkerungsteil eine größere Bandbreite erreicht haben könnte, als es für die Stiftung des Vaters der Fall war. Hierdurch kam den einzelnen Familien der ›vicani‹ eine höhere Geldspende zu, denn anstelle der vier Sesterze für den ›populus‹ wurden den ›vicani‹ und ihren Ehefrauen zusammengenommen je sechs Sesterze ausgehändigt. Gleich den ›alimenta‹ lässt sich auch im Hinblick auf die Geldvergaben durch wohlhabende Euergeten, wie sie uns in Volcei begegnen, die Frage nach einer Unterstützung von Armen und Bedürftigen nur unzulänglich beantworten. Die Stiftungen und Schenkungen richteten sich primär an die rechtliche Gemeinschaft der römischen Bürger und nicht speziell an Menschen, die dieser Spenden aufgrund ihrer schwachen ökonomischen Lebenslage im Besonderen bedurften.62 Dementsprechend sind die Armen und Bedürftigen auch in den öffentlichen Geldvergaben nicht zu fassen, da sie nicht explizit genannt wurden. Daher bleibt deren Anteilnahme an den Lebensmittel- und Geldvergaben spekulativ. Prinzipiell beruhen die privaten Geldvergaben auf dem bereits vorgestellten System der ›alimenta‹ mit dem Unterschied, dass nicht Kinder als Nutznießer von der Spende profitierten, sondern erwachsene Männer und seltener verheiratete Frauen. Daher liegt die Vermutung nahe, man habe mit den Zuwendungen vorwiegend römische Familien anvisiert. Gemeinsam hingegen sind sowohl den privaten ›alimenta‹ als auch den übrigen privaten Stiftungen und Schenkungen, dass der Besitz des römischen Bürgerrechts und in vielen Fällen auch der Besitz des lokalen Bürgerrechts als unabdingbare Voraussetzung zur Teilnahme galt. Wurde dieses Kriterium erfüllt, entschied der soziale Status der einzelnen Person über die 61 Mrozek, Unterschichten (wie Anm. 32), S. 39. Vgl. zur Trennung von ›vicani‹ und ›populus‹ z. B. AE 1980.428 und CIL 11.2911 (Visentium). 62 Woolf, Food (wie Anm. 25), S. 210.
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Höhe der Zuwendung. Vor allem an dieser Stelle tritt das Ungleichgewicht der Partizipierenden am deutlichsten in Erscheinung. Es waren nicht die sozial und ökonomisch schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, die den höchsten Geldbetrag erhielten, sondern jene Bürger, deren finanzielle Kapazitäten aufgrund ihrer ökonomischen Stärke dazu beigetragen hatten, zur Oberschicht der Gesellschaft zu gehören. Nicht zuletzt aufgrund dieses Aspektes kann abschließend festgehalten werden, dass auch bei den privaten Geldverteilungen keine gezielte Armenfürsorge vorliegt. Nichtsdestoweniger konnten Arme und Bedürftige in geringem Maße von den Verteilungen profitieren. Jedoch sind auch diese Zuwendungen lediglich als ein Zubrot zu verstehen.63 Den Lebensunterhalt konnte man damit nicht bestreiten.64
Resümee Die Darreichung von Geld und/oder Lebensmitteln stellte in der römischen Antike keinen Akt der Barmherzigkeit dar. Die hier vorgestellten und untersuchten Inschriftenbeispiele zur privaten Munifizenz, denen sich viele weitere anreihen ließen, zeigen m. E. eindeutig, dass der Arme und Bedürftige nicht als explizit hervorgehobene Zielgruppe für die Geld- und Lebensmittelverteilungen angesprochen wurde. Vielmehr geht aus den Inschriften hervor, dass derartige Munifizenzen an spezifisch definierte Gruppen innerhalb der bürgerlichen Gemeinde vergeben wurden. D.h., die Öffnung zur Partizipation war an rechtliche Kriterien – nämlich den Besitz des Bürgerrechts – geknüpft und nicht an das Kriterium der Notwendigkeit. Des Weiteren fällt auf, dass die Distributionen die stratifikatorische Differenzierung der römischen Gesellschaft widerspiegeln, wobei sich die Höhe der Zuwendung an der Zugehörigkeit zur jeweiligen Schicht orientierte. Diesbezüglich ist evident, dass innerhalb des Rezipientenkreises grundsätzlich jene Bürger die höchsten Zuwendungen erhielten, welche aufgrund ihrer ökonomischen und materiellen Potenz die politisch-administrative Führung der Stadt für sich beanspruchten und daher in der hierarchischen 63 Im Durchschnitt überschritten die Geldbeträge an Angehörige der unteren Bevölkerungsschicht nicht den Wert von vier Sesterzen. Hierzu Duncan-Jones, Economy (wie Anm. 11), S. 138–144 (insb. S. 142, Tab. 5). 64 Mrozek, Les distributions (wie Anm. 40), S. 103–104, nimmt an, dass eine Stadt von ungefähr 120 privaten Verteilungen im Jahr profitierte. Dies würde bedeuten, dass die römischen Bürger mehrmals im Monat mit einer finanziellen Unterstützung rechnen konnten. Dagegen Donahue, Community (wie Anm. 52), S. 143–145, der mindestens von einer Verteilung monatlich ausgeht.
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Struktur der römischen Gesellschaft höher positioniert waren. Hingegen empfing der einfache Bürger, unabhängig davon, ob er von relativer oder absoluter Armut betroffen war, eine geringere Zuwendung. Dies hat jedoch nichts mit Diskriminierung im modernen Sinne gegenüber dem einfachen Bevölkerungsanteil zu tun, sondern war der römischen Gesellschaft und ihrem Selbstverständnis inhärent, wodurch auch Frauen und Kinder oftmals von einer Verteilung ausgeschlossen wurden. Daher trifft Bruhns Aussage, dass die römische Gesellschaft ihre Armen weder unterstützte noch ihnen die Unterstützung verweigerte, da Armut als Problem nicht wahrgenommen wurde, den Sachverhalt auf den Punkt.65
65 Bruhns, Hinnerk: Armut und Gesellschaft in Rom. In: Mommsen, Hans / Schulze, Winfried (Hg.): Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung. Stuttgart 1981, S. 27– 49, hier S. 28.
Inklusion / Exklusion. Neue Perspektiven für die historische Armutsforschung Sebastian Schmidt
Die Begriffe ›Inklusion/Exklusion‹ sind in der Wissenschaftslandschaft auf das engste mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns verknüpft.1 Zu seinen grundlegenden Annahmen gehört es, Aussagen über Gesellschaft allein über die Beobachtung von Kommunikationsprozessen sowie den damit verbundenen Mustern von Inklusion/Exklusion treffen zu können. Im Folgenden soll geprüft werden, ob dieser Ansatz für die geschichtswissenschaftliche Analyse von Armut und Fürsorge gewinnbringend angewandt werden kann. Es geht somit um die Frage: Welche neuen Perspektiven und Antworten lassen sich durch die konsequente Beobachtung von Inklusions-/Exklusionsprozessen im Hinblick auf die Geschichte der Armenfürsorge gewinnen? Die Genese der öffentlichen Fürsorge in der Frühen Neuzeit stellt einen Themenbereich dar, der in der Forschung meist als Bestandteil des großen Wandlungsprozesses vom sogenannten Mittelalter hin zur Neuzeit bzw. Moderne gesehen wird. Mit Blick auf die in dieser Epoche aufkommenden Arbeits- und Zuchthäuser gewann in der Geschichtswissenschaft vor allem das Paradigma der ›Sozialdisziplinierung‹ an Gewicht, die letztlich zur Selbstdisziplinierung der Individuen und damit zur Schaffung des ›modernen Menschen‹ beigetragen habe. Zugleich ist dieses Bild in der Geschichtswissenschaft jedoch durch eine Vielzahl von Untersuchungen auf der Mikroebene deutlicher Kritik unterzogen worden. Besonders kritisiert wurde die etatistische Sichtweise auf Fürsorge, die dem tatsächlichen Umgang mit Armut nicht entspreche. So hatte bereits von Hippel darauf hingewiesen, dass das für die Frühneuzeitforschung so zentrale Paradigma der ›Sozialdisziplinierung‹ – und hier im Besonderen die Frage nach der Rolle der Armenfürsorge als Bestandteil dieses Disziplinierungsprozesses – erst durch umfassende Studien zu den Lebenswelten der Armen und deren Überlebensstrategien angemessen beurteilt werden kann.2 Nur die Untersuchung 1 Vgl. Luhmann, Niklas: Inklusion und Exklusion. In: Berding, Helmut (Hg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Frankfurt a. M. 1994, S. 15– 45. 2 Von Hippel, Wolfgang: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit. München 1995, S. 112. Zur Disziplinierungsdebatte vgl. Dinges, Martin: Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung? Probleme mit
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von Reichweite und Dichte des Unterstützungsnetzes, dessen sich die Armen bedienen konnten, kann somit nach neuerer Auffassung umfassend Auskunft über die Lebensverhältnisse der Armen zum einen und über die Bedeutung institutionell sowie privat gewährter Armenfürsorge zum anderen geben.3 Die Erforschung der Lebenswelt der Armen in der Frühen Neuzeit, die von Wolfgang von Hippel sowie Karl Härter noch Mitte der 1990er Jahre als Desiderat benannt worden ist,4 hat in den letzten Jahren vermehrte Aufmerksamkeit erfahren.5 Wie gehen Arme mit ihrer Situation um? Wie interagieren die Betroffenen mit der Gesellschaft, d. h. vor allem: Gibt es spezifische Strategien, mit dem Mangel zu leben?6 Die neueren
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einem Konzept. In: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991) 1, S. 5–29; Jütte, Robert: Disziplin zu predigen ist eine Sache, sich ihr zu unterwerfen eine andere (Cervantes) – Prolegomena zu einer Sozialgeschichte der Armenfürsorge diesseits und jenseits des Fortschritts. In: Ebd., S. 92–101; Härter, Karl: Soziale Disziplinierung durch Strafe? Intentionen frühneuzeitlicher Policeyordnungen und staatliche Sanktionspraxis. In: Zeitschrift für historische Forschung 26 (1999), S. 365–379. Vgl. Dinges, Martin: Aushandeln von Armut in der Frühen Neuzeit: Selbsthilfepotential, Bürgervorstellungen und Verwaltungslogiken. In: Geschichtswerkstatt 4 (1995) 10, S. 7–15; Gilomen, Hans-Jörg: Bemerkungen zu einem Paradigmenwechsel in der Erforschung der vormodernen Armenfürsorge. In: Ders. [u. a.] (Hg.): Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung. Umbrüche und Kontinuitäten vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Zürich 2002, S. 11–20. Einen Überblick über die Forschungen zu Beginn der 1990er Jahre bieten von Hippel, Armut (wie Anm. 2); Härter, Karl: Bettler – Vaganten – Deviante. Ausgewählte Neuerscheinungen zu Armut, Randgruppen und Kriminalität im frühneuzeitlichen Europa. In: Ius Commune 23 (1996), S. 281–321. Ammerer, Gerhard: Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Re´gime. Wien 2003; Hatje, Frank: »Gott zu Ehren, der Armut zum Besten«. Das Hospital zum Heiligen Geist und Marien-Magdalenen-Kloster in der Geschichte Hamburgs vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Hamburg 2002; Bräuer, Helmut: » . . . und hat seithero gebetlet«. Bettler und Bettelwesen in Wien und Niederösterreich während der Zeit Kaiser Leopolds I. Köln [u. a.] 1996; ders.: Der Leipziger Rat und die Bettler. Quellen und Analysen zu Bettlern und Bettelwesen in der Messestadt bis ins 18. Jahrhundert. Leipzig 1997; Rheinheimer, Martin: Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der Not 1450–1850. Frankfurt a. M. 2000; King, Steven: Poverty and Welfare in England, 1700–1850. Manchester 2000; Jütte, Robert: Poverty and Deviance in Early Modern Europe. Cambridge 1994; in deutscher Übersetzung erschienen unter: Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit. Weimar 2000. Einen europäischen Überblick bietet Riis, Thomas (Hg.): Aspects of Poverty in Early Modern Europe. 3 Bde. Stuttgart / Florenz 1981, 1985, 1990. Zu den Strategien im Umgang mit Armut vgl. an neueren Arbeiten: SimonMuscheid, Katharina: Ein rebmesser hat sine frowe versetzt für 1ß brotte. Armut in den oberrheinischen Städten des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Bräuer, Helmut (Hg.): Arme – ohne Chance? Kommunale Armut und Armutsbekämpfung vom
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Forschungsbeiträge gehen nicht nur auf die soziale und wirtschaftliche Lage der Armen ein, sondern darüber hinaus auf Wohnverhältnisse, Gesundheit, Lebensgewohnheiten sowie familiäre und nachbarschaftliche Beziehungen und Selbsthilfepotentiale.7 Dieser Zugang erlaubt es zudem, die verschiedenen lebenslaufgebundenen Ursachen für Armut deutlicher herauszuarbeiten.8 Für Hamburg konnte etwa Frank Hatje zeigen, dass ein vertieftes Verständnis frühneuzeitlicher Armenfürsorge nur über die Einbeziehung der Untersuchung von Sozialbeziehungen möglich ist. Dies gilt sowohl für die Formen der Selbsthilfe als auch für die meist nur subsidiäre institutionelle Hilfe.9 Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Leipzig 2003, S. 39–70; Kink, Barbara: »Nihil« und »Habnits«. Die Verwaltung der Not. Armut und Armenfürsorge in der Hofmark Hofhegnenberg im 17. und 18. Jahrhundert. Fürstenfeldbruck 1998. Besonders zum englischen Raum sind zu dieser Thematik weiterführende Beiträge erschienen, vgl. Sokoll, Thomas: Negotiating a Living: Essex Pauper Letters from London, 1800–1834. In: International Review of Social History 45 (2000) 1, S. 19– 46; Newman-Brown, W.: The Receipt of Poor Relief and Family Situation: Aldenham, Hertfordshire 1630–90. In: Smith, Richard M. (Hg.): Land, Kinship and Life-Cycle. Cambridge 1984, S. 405– 422; Boulton, Jeremy: »It Is Extreme Necessity That Makes Me Do This«: Some »Survival Strategies« of Pauper Households in London’s West End During the Early Eighteenth Century. In: International Review of Social History 45 (2000) 1, S. 47– 69; Fontaine, Laurence / Schlumbohm, Jürgen: Household Strategies for Survival, 1600–2000: Fission, Faction, and Cooperation. Cambridge 2000. 7 Angestoßen wurde dies u. a. durch die Arbeit von Dinges, Martin: Stadtarmut in Bordeaux, 1525–1675. Alltag. Politik. Mentalitäten. Bonn 1988. 8 Zu den besonderen Armutsrisiken, denen Kinder in der Frühen Neuzeit unterworfen waren, vgl. Jütte, Arme (wie Anm. 5); Cunningham, Hugh: Die Geschichte des Kindes in der Neuzeit. Düsseldorf 2006; zu Kinderaussetzung und Findlingen in der neueren englischen Forschung vgl. u. a. Levene, Alysa: The Mortality Penalty of Illegitimate Children: Foundlings and Poor Children in Eighteenth-Century England. In: Dies. [u. a.] (Hg.): Illegitimacy in Britain, 1700– 1920. Basingstoke 2005, S. 34– 49; zu Kindern in Zuchthäusern vgl. Bräuer, Helmut: Die Armen, ihre Kinder und das Zuchthaus. In: Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 13 (2003) 5–6, S. 131– 148. Zu Kinderarmut allgemein vgl. ders.: Zur Mentalität armer Leute in Obersachsen, 1500 bis 1800. Leipzig 2008, hier bes. S. 47–53; für das Alter vgl. Hatje, Frank: »Wenn die bösen Tage kommen«. Einige Bemerkungen zu Alter, Armut und »Selbstbehauptung« in der städtischen Gesellschaft des »langen« 18. Jahrhunderts. In: Conrad, Anne [u. a.] (Hg.): Zeitenwenden. Herrschaft, Selbstbehauptung und Integration zwischen Reformation und Liberalismus. Festschrift für Arno Herzig zum 65. Geburtstag. Münster [u. a.] 2002, S. 481–505. 9 Hatje, Frank: »Dieser Stadt beste Maur vndt Wälle«. Frühneuzeitliche Armenfürsorge und Sozialbeziehungen in der Stadtrepublik am Beispiel Hamburgs. In: Schmidt, Sebastian / Aspelmeier, Jens (Hg.): Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Stuttgart 2006, S. 202–217.
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Als weiterführend erscheinen zudem Forschungsbeiträge, die die Lebensumstände von Armen nicht allgemein beschreiben, sondern das Zusammenspiel von Territorium – und damit dem politischen, rechtlichen und konfessionellen Kontext – und einzelnen öffentlichen bzw. privaten Hilfsinstitutionen in den Blick nehmen und so auch ihre Ausschlussmechanismen sowie die individuellen, biographisch verankerten Strategien im Umgang mit diesen Rahmenbedingungen.10 Wie sind aber nun die hier zu gewinnenden Einzelergebnisse wiederum auf die Makroebene zu übertragen und wie passen sie sich in ein Konzept eines gesellschaftlichen Wandlungsprozesses ein, der in seiner Faktizität nicht bestritten wird? Ganz allgemein kann zunächst festgestellt werden, dass man es bei der Betrachtung von Fürsorge bzw. Hilfsangeboten im weitesten Sinne immer mit sozialen Interaktionen zu tun hat, die über Kommunikationsprozesse beobachtet werden können. Hierbei lassen sich Ausschlüsse und Teilhabe nicht nur in den Semantiken, sondern auch in den Praktiken erkennen. Folgt man den Annahmen der Systemtheorie, lassen sich wiederum verschiedene segmentäre, stratifikatorische sowie funktionale Differenzierungen unterscheiden, in denen diese Prozesse einer systemeigenen Logik folgen. So lassen sich etwa im Bereich der Religion andere Teilhabe- oder Ausschluss-Muster erkennen als im Bereich des Rechts, der Familie oder der Wirtschaft. Die dichotome Kodierung sowie die Unterscheidung der verschiedenen (Funktions-)systeme erlaubt nun aber eine genauere Zuordnung von Semantiken und Praktiken in den jeweiligen Kontexten. So kann im Hinblick auf die Armenfürsorge genauer bestimmt werden, ob und in welcher Weise jemand von Fürsorge ausgeschlossen ist und auf welcher Ebene dies vonstattengeht. Ist jemand nur von öffentlichen Hilfszahlungen ausgeschlossen oder gilt er im religiösen System ebenfalls als Sünder und im ökonomischen als Minderung für einen angestrebten Gewinn oder gar für das politische als Bedrohung von Macht? Findet die Teilhabe / der Ausschluss auf der Ebene einfacher Organisation statt oder betrifft er das gesamte System? 10 Vgl. hierfür z. B. die Arbeiten von Rheinheimer, Martin: Jakob Gülich. »Trotzigkeit« und »ungebührliches Betragen« eines ländlichen Armen um 1850. In: Ders. (Hg.): Subjektive Welten. Wahrnehmung und Identität in der Neuzeit. Neumünster 1998, S. 223–252; ders.: Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der Not 1450–1850. Frankfurt a.M. 2000; Ammerer, Heimat Straße (wie Anm. 5); Bräuer, Helmut: Persönliche Bittschriften als sozial- und mentalitätsgeschichtliche Quellen. Beobachtungen aus frühneuzeitlichen Städten Obersachsens. In: Ammerer, Gerhard [u. a.] (Hg.): Tradition und Wandel. Beiträge zur Kirchen-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte. Festschrift für Heinz Dopsch. München 2001, S. 294–304; vgl. zur Entwicklung Kühberger, Christoph / Sedmak, Clemens (Hg.): Aktuelle Tendenzen der Historischen Armutsforschung. Wien 2005.
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So lässt sich Armut insgesamt als Produkt dynamischer Exklusionsprozesse bzw. der daraus resultierenden eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten sowie deren Deutungen erfassen. Letztere schließen dabei die Antizipation zukünftiger Möglichkeiten und Perspektiven mit ein. Welche Erwartungen und Perspektiven kann jemand aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung, seines Alters, seines Geschlechts, seiner beruflichen Qualifikation, seiner verwandtschaftlichen Beziehungen, seines Lebensraums und Lebensumfeldes eventuell trotz oder gerade wegen temporaler Exklusionen entwickeln? In systemtheoretischer Perspektive lässt sich ferner fragen, ob zentrale Funktionsbereiche wie Familie, Wirtschaft, Recht, Bildung und Religion Systemkopplungen hervorbringen, so dass die Exklusion in einem gesellschaftlichen Teilbereich Exklusionen in anderen nach sich zieht und somit zu einer dauerhaften Verfestigung von Armut beiträgt, und wie dies wiederum mit segmentären Differenzierungen, wie etwa dem Oikos, sowie stratifikatorischen Differenzierungen, wie etwa der Standeszugehörigkeit, verbunden ist. Gerade im Hinblick auf die Vielschichtigkeit solcher Prozesse liegt damit ein Vorteil des Analyseinstrumentes Inklusion/Exklusion auf der Hand: Zwar verlangt historische Erkenntnis die vergleichende Typenbildung/Ordnung empirischer Befunde sowie eine Zuordnung ihrer Bedeutung,11 zugleich darf sie aber nicht die Komplexität historischer Sachverhalte zu weit reduzieren. Gerade die binäre Struktur von Inklusion/Exklusion erlaubt eine solche Ordnung. Es lassen sich damit Tatsachenzusammenhänge im Hinblick auf die Fürsorge sehr differenziert auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft gewichten und ordnen. Einerseits besteht ein großer Vorteil darin, die Gleichzeitigkeit von Inklusions-/Exklusionsprozessen zu sehen – so dass man etwa bei einer genauen Definition von Empfangsberechtigten bei der Almosenvergabe ebenso genau sagen kann, wer davon nicht profitieren soll –, andererseits besitzt die Zuordnung über diese Begriffe als eine Zustandsbeschreibung eine gewisse Eindeutigkeit hinsichtlich ihrer Bedeutung. Anders als etwa beim semantisch bedeutungsoffenen Integrationsbegriff kann die Anmutung institutioneller Exklusionen (aus der Fürsorge, aus der Bildung, aus dem Rechtssystem etc.) genau bestimmt, nachvollzogen und können ihre Folgen abgeschätzt werden. Inklusion ist darüber hinaus gebunden an konkrete institutionelle Rahmenbedingungen, die beschreibbar sind. In den geistlichen Kurstaaten waren z. B. an ein Hospital oft mehrere kirchliche Hospitalsstiftungen angelagert, über die jeweils ein eigenes Gremium von Provisoren Aufsicht führte und damit konkret über Zulassungen 11 Sellin, Volker: Einführung in die Geschichtswissenschaft. 2. Aufl. Göttingen 2008, S. 27.
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entschied.12 Der empirische Befund vermag hier genauer über Öffnungsund Schließungsprozesse Auskunft zu geben als der normativ besetzte Begriff der Integration, der stärker auf eine Erwartungshaltung bzw. einen Anpassungswunsch derjenigen abstellt, die einen solchen Diskurs dominieren. Stellt man sich die Frage, über welchen Zugang das Analysepaar Inklusion/Exklusion für die Armutsforschung darüber hinaus relevant sein könnte, so kann hier eine Antwort lauten: in ihrem Abstellen auf Kommunikation und Form-Selektion als Möglichkeit der Konstituierung von Sinn. Inklusion/ Exklusion fragt nach der Präfigurierung von Kommunikation in historischen Kontexten. Dies bedeutet, nicht nur Kultur in ihrem Zustand, sondern ebenso in ihrer Genese zu analysieren. Über die Modi der Inklusion/ Exklusion wird somit deutlich, welchen Sinn man dem Umgang mit Armut in unterschiedlichen funktionalen Zusammenhängen unterlegt hat. Vor allem geraten durch die Frage nach ihrer Anschlussfähigkeit gerade solche Kommunikationszusammenhänge besser in den Blick, die ansonsten eher als selbstverständlich gelten und unhinterfragt bleiben. Die Befunde decken somit ein konventionalisiertes Vorverständigtsein bzw. ein Allgemeinwissen (common sense) auf, das das soziale Miteinander strukturiert und über einfache Rituale oder Symbole weit hinausgeht. Damit werden die Grenzen sichtbar, innerhalb derer Kommunikation stattfinden kann, und es wird erkennbar, welche andere Kommunikation nicht anschlussfähig ist. So kann gezeigt werden, wie sich Gesellschaften in unterschiedlichen Epochen je unterschiedlich konstituieren und wer davon in welchen Bereichen ausgeschlossen ist. Armut ist in dieser Hinsicht primär als Chiffre sozialer Bedeutungskonstrukte zu verstehen. D.h., es gilt aus den verschiedenen Fallbeschreibungen die in der Kommunikation erkennbaren kulturellen Ordnungs- und Handlungsmuster und ihre semantischen Markierungen herauszuarbeiten, die für das Aushandeln von Teilhabe und Ausschluss von zentralen gesellschaftlichen Funktionsbereichen maßgeblich waren. Armut wird hier entsprechend als ein Begriff verstanden, in den deskriptive und normative Elemente eingehen.13 Damit soll nicht nahegelegt werden, dass Armut nur ein 12 Schmidt, Sebastian: »Scandalös undt intolerabell« – Zur Verwaltungspraxis und Kontrolle frühneuzeitlicher Hospitäler an Mittelrhein und Mosel. In: Ammerer, Gerhard [u. a.] (Hg.): Orte der Verwahrung. Die innere Organisation von Gefängnissen, Hospitälern und Klöstern seit dem Spätmittelalter. Leipzig 2010, S. 255–267. 13 Vgl. hierzu Schmidt, Sebastian: Armut. In: Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, hg. v. Herbert Uerlings [u. a.]. Ausst.-Kat. Stadtmuseum Simeonstift Trier und Rheinisches Landesmuseum Trier. Darmstadt 2011, S. 40– 41.
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kommunikatives Problem darstellt und die betroffenen Personen und die Auswirkungen der Armut auf ihre physische und psychische Verfassung keine Rolle spielen. Ganz im Gegenteil, es soll differenzierter danach gefragt werden, in welchen gesellschaftlichen Funktionsbereichen auf welche spezifische Weise über diese Dinge gehandelt und sie somit überhaupt erst thematisiert und damit Bestandteil sozialer Beziehungen werden. Wenn nun nach konfessionsspezifischen Besonderheiten in der Wahrnehmung und im Umgang mit Armut gefragt wird, so lassen sich gerade durch das Analyseinstrument Inklusion/Exklusion genaue Veränderungen von Sinnzuschreibungen sowie ihre Auswirkungen auf die Praxis ausmachen. Eben diese Zusammenhänge aber sind in der Armutsforschung nach wie vor – bzw. inzwischen erneut – ein Desiderat. Betonten viele Historiker bis in die 1970er Jahre hinein die Verschiedenartigkeit von protestantischen und katholischen Territorien in Bezug auf die Fürsorge, so schlug das Meinungspendel ab dieser Zeit deutlich in die Gegenrichtung um. Fortan wies man vor allem auf die strukturelle Gleichartigkeit in dieser Formationsphase frühmoderner Staatlichkeit hin. Aber auch diese Sichtweise wird nun wieder zunehmend in Frage gestellt. Gerade hier kann der Zugang über Fragen der Inklusion/ Exklusion hilfreich sein, um das differenzierte Zusammenwirken von Religion, Recht, Staatlichkeit und alltäglicher Fürsorge, d. h. das Entstehen einer spezifischen Fürsorgekultur näher zu beleuchten. Das soll im Folgenden im Blick auf jene Wandlungsprozesse gezeigt werden, die für die Entwicklung der Armenfürsorge in den geistlichen Kurstaaten prägend waren. Diese Territorien bieten sich für eine solche exemplarische Prüfung besonders an, da die spezifische Forschungsfrage nach dem Einfluss der Konfession kaum als geklärt gelten kann. Da in den geistlichen Territorien die Kurfürsten als Erzbischöfe zugleich die kirchliche Oberhoheit im Erzstift wahrnahmen und damit eine den protestantischen Fürsten vergleichbare Stellung im territorialen Herrschaftsgefüge innehatten, müsste sich folglich gerade in diesen Herrschaftsgebieten zeigen lassen, ob und inwiefern die Konfessionszugehörigkeit Einfluss auf den Umgang mit Armut hatte.14
14 Vgl. hierzu die angesprochene Frage der Konfession bei Jütte, Arme (wie Anm. 5) und in Riis, Aspects (wie Anm. 5); Dussel, Konrad: Katholisches Ethos statt Sozialdisziplinierung? Die Armenpolitik des Hochstifts Speyer im 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 143/N. F. 104 (1995), S. 221–244.
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Armenfürsorge in den geistlichen Kurstaaten In der Frühen Neuzeit wird der Arme vermehrt aus der Perspektive der sich entwickelnden öffentlichen Fürsorge wahrgenommen. Bei der Frage, wer denn überhaupt als Armer wahrgenommen wird, greift die simmelsche Armutsdefinition, dass nur der als arm bezeichnet wird, der den Normen gemäß Unterstützung in seiner Bedürftigkeit verdient hat.15 Die Leitsemantik, über die Inklusion/Exklusion verhandelt wird, d. h., über die entschieden wird, ob jemand überhaupt als ›Armer‹ zu bezeichnen ist, ist dabei nicht neu, sondern hat ihre Wurzeln bereits in der Antike. Sie fokussiert auf den Arbeitswillen und die Arbeitsfähigkeit der Betroffenen. Zwischen arbeitsunfähigen Armen und arbeitsunwilligen Armen zu unterscheiden, gehört damit zu den historisch durchgängigen Differenzkriterien bei der Fürsorge. Wenn es aber eine solche durchgehende Leitsemantik gibt, die als Ordnungsmuster die Teilhabe an Fürsorge und karitativer Hilfe markiert, so muss man fragen, in welchem Verhältnis diese Kontinuität der Semantiken mit den sich zu Beginn der Frühen Neuzeit neu herausbildenden Praktiken der Inklusion/Exklusion sowie deren Institutionalisierung steht. Als Grund für den Wandlungsprozess des praktischen Umgangs mit Armut werden in der Forschung häufig die sozioökonomischen Rahmenbedingungen als sogenannte Krise des Spätmittelalters angeführt. Diese Bedingungen haben als Umweltfaktoren sicherlich größten Einfluss auf die veränderte Kommunikation über Armut gehabt, werden als solche in der Kommunikation jedoch nicht allein thematisiert und von den Zeitgenossen als solche auch gar nicht immer klar wahrgenommen. Festzustellen sind darüber hinaus aber ebenso Veränderungen im Bereich der ›gepflegten Semantik‹, die die Gewichte bei der Perspektive auf Armut deutlich verschoben haben. Diese Veränderungen lassen sich sowohl in den normgebenden Teilbereichen der Theologie sowie des Rechts, darüber hinaus aber auch in politischen Diskursen und Pflichtzuschreibungen des sich neu herausbildenden Staates ausmachen. Um deutlich zu machen, welchen Einfluss diese Veränderungen auf die geistlichen Kurstaaten hatten, soll in einem ersten Schritt auf die konfessionellen Gemeinsamkeiten einer sich verändernden religiösen und politischen Kommunikation im Bereich der Armenfürsorge eingegangen werden, um daran anschließend die Besonderheiten und Unterschiede in diesen Herrschaftsräumen gegenüber protestantischen Reichsterritorien deutlich zu machen.
15 Simmel, Georg: Zur Soziologie der Armut. In: Archiv für Socialwissenschaft und Socialpolitik N. F. 22 (1906), S. 1–30, hier S. 27.
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Semantische Konvergenzen Betrachtet man das Phänomen einer sich wandelnden Fürsorgetheorie unter den Perspektiven von Inklusion/Exklusion, so zeigt sich, dass es in der Vormoderne mit dem mittelalterlichen Karitas-Konzept zwar eine umfassende Inklusionsanforderung gibt, diese aber etwa bei Thomas von Aquin ihre Grenze in der ›benevolentia‹, dem Wohlwollen hat. Die äußere Fürsorge als sogenannte ›beneficentia‹ unterliegt hingegen sehr starken Einschränkungen bzw. macht aufgrund der Begrenzung möglicher Hilfsressourcen eine eindeutige Hierarchisierung von Hilfeempfängern notwendig. Wie aber Andreas Keck in einem Vergleich des Karitas-Gedankens und der Fürsorgekonzepte von Thomas von Aquin und Juan Luis Vives deutlich herausarbeiten konnte, wird mit Beginn des 16. Jahrhunderts den daraus abzuleitenden Konsequenzen theologisch ein anderer Wert beigemessen.16 Geht es bei Thomas von Aquin vor allem um die Verdienstlichkeit und die Motivation des Almosenspenders und wird der tatsächlichen Situation des Empfängers eher geringe Aufmerksamkeit geschenkt, ist es bei Vives in seiner Schrift De subventione pauperum von 1526 damit nicht getan.17 Ethisch korrekt und dem eigenen Seelenheil förderlich handelt bei Vives ein Almosenspender erst dann, wenn er sich über die Situation des Empfängers kundig macht, um ihm schließlich die Hilfe zukommen zu lassen, die er langfristig am meisten benötigt. Diese Form von informierter Fürsorge sollte institutionell verankert werden und unabhängig von der jeweiligen Situation eines Spenders Personen notfalls auch mit Zwang zu Hilfe kommen. Adressierte das Fürsorgeregime bei den Scholastikern die Armen noch als wichtigen Faktor für den Gewinn göttlicher Gnade und göttlichen Heils, so adressierte sie das Fürsorgeregime bei Vives ebenso als Problemfall für die Policey und damit der Kommune bzw. des Territorialstaates, die entsprechend erzieherisch maßregelnd auf den Armen einzuwirken hatten. 16 Keck, Andreas: Das philosophische Motiv der Fürsorge im Wandel. Vom Almosen bei Thomas von Aquin zu Juan Luis Vives’ De subventione pauperum. Würzburg 2010; vgl. hierzu ebenso Scherpner, Hans: Theorie der Fürsorge. Göttingen 1962, hier S. 26 ff.; dort das Zitat von Thomas von Aquin: Summa Theologica II : Quaestio 32, Art. 5 (Die deutsche Thomas-Ausgabe, 17A). 17 Vives, Juan Luis: De subventione pauperum sive De humanis necessitatibus. Libri II : Introduction, Critical Edition, Translation and Notes, hg. v. Constantinus Matheeussen und Charles Fantazzi. Leiden / Boston 2002; ders.: Über die Unterstützung der Armen – De subventione pauperum (1526) für die Stadt Brügge. In: Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas. Bd. 1: Historische Studien und exemplarische Beiträge zur Sozialreform im 16. Jahrhundert, hg. v. Theodor Strohm und Michael Klein. Heidelberg 2004, S. 277–339.
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Gedanklich ist Vives hier protestantischen Fürsorgekonzepten, wie sie etwa von Martin Luther oder Johannes Bugenhagen18 formuliert und in Kirchenordnungen festgeschrieben wurden, sehr nahe. Diese semantischen Veränderungen sind somit konfessionsübergreifend festzustellen. Mit dem Humanismus und der Reformation bildet sich damit ein neues religiöses Verständnis von Armut und Armenfürsorge heraus, das den Blick auf den Empfänger von Fürsorge lenkt. Die Ordnungsmuster blieben zwar erhalten, das Konzept entfaltete aber eine andere Dynamik, da es nach dem Gelingen von Fürsorge fragte. Damit kam es in der theologisch dominierten Kommunikation zu einer stärkeren Konturierung des Inklusions-/Exklusionsbereichs und der Ausbildung eines auf Kontrolle ausgerichteten Fürsorgeregimes. Erklären lässt sich diese moralische Anspruchserweiterung mit der vor allem im 16. Jahrhundert stattfindenden Ausbildung von Religion als eigenständiges gesellschaftliches Teilsystem. Dieses stellt sich von einer stärker an Ritualen ausgerichteten religiösen Auffassung auf das Medium Glauben um. Auch wird Religion nun mit ethisch-moralischen Ansprüchen verknüpft19 und mittels der Dogmatisierung dieser ethischen Glaubensvorstellungen als System geschlossen und stabilisiert. Die Inklusionsangebote an die würdigen, ehrenhaften, arbeitswilligen Armen gehen mit Semantiken der religiösen Exklusion einher, mit denen diejenigen bezeichnet werden, die diese Anforderungen nicht erfüllen. So wird das ›vagierende Gesindel‹ nicht nur als unmoralisch stigmatisiert, sondern auch als ›religionslos‹, ›sündhaft‹ und ›gottlos‹. Das Analyseinstrument Inklusion/ Exklusion macht somit auch auf die Schattenseite des frühneuzeitlichen Inklusionsprogramms aufmerksam. Gestützt und verstärkt werden diese Exklusionsprozesse im Recht. Hier kommt es mit der Rezeption des römischen Rechts auch zur Übernahme der Kategorie des ›starken Bettlers‹, des ›mendicus validus‹, der nicht nur als deviant, sondern auch als ordnungsgefährdend beschrieben wird. Deviant sind vor allem diejenigen Armen, die nicht ihrer Mitwirkungspflicht bei der Fürsorge nachkommen wollen. Zunächst werden starke Bettler und Vaganten im Einklang mit den religiösen Semantiken nach zweimaliger Ermahnung rechtlich exkludiert, d. h., sie werden nach erfolgtem Landesverweis und Brandmarkung bei Wiedereintritt für vogelfrei und damit völlig rechtlos erklärt. Beim nochmaligen Ergreifen sind sie daher zu hängen oder auf die Galeere und zu 18 Vgl. Lorentzen, Tim: Johannes Bugenhagen als Reformator der öffentlichen Fürsorge. Tübingen 2008. 19 Vgl. Hahn, Alois: Funktionale und stratifikatorische Differenzierung und ihre Rolle für die gepflegte Semantik. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 33 (1981) 2, S. 345–360, hier S. 352.
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anderen Arbeiten mit Todesfolge zu verurteilen. Dies ändert sich bis zum 18. Jahrhundert. Nun sollen sie mit Zwang dazu gebracht werden, ihrer Mitwirkungspflicht nachzukommen. Aber dieses Ziel der Totalinklusion ist schließlich auch nur durch einen innergesellschaftlichen zeitweisen Ausschluss und den recht radikalen Entzug von Teilhabechancen zu erreichen: Als Institutionen sind hier die Arbeits- und Zuchthäuser zu nennen, für die die politische Gemeinde Sorge zu tragen hat. Mit der Übertragung der Fürsorge als Bestandteil des sich ausdifferenzierenden politischen Systems sind wiederum die Grenzen der politischen Gemeinschaft von wachsender Bedeutung. Verurteilte der Straßburger Prediger Kaysersberg noch das Indigenatsprinzip als Kriterium für die Hierarchisierung von Hilfsleistungen, so setzte Vives verstärkt auf diese Form der Schließung. Die Kommune war seiner Ansicht nach vor allem für die Unterstützung der ortsansässigen Armen verantwortlich. Hier galt ausschließlich wieder das Prinzip des Thomas von Aquin, dass man dem bedürftigen Fremden nur zu helfen hat, wenn dieser ohne Hilfe augenscheinlich zu sterben droht. Zugleich sind bedürftige Fremde ansonsten aber vollständig, d. h. auch als Personen, aus der politischen und damit aus der Versorgungsgemeinschaft zu exkludieren. Es setzte sich damit eine institutionelle Hierarchisierung bei der Inklusion im Fürsorgewesen durch, die nicht nur die ehrenhaften Armen von den unwürdigen schied, sondern darüber hinaus auch die einheimischen von den fremden. Der ›betrügerische‹ fremde Vagant wurde geradezu als das Gegenbild des einheimischen ortsansässigen verschämten Armen dargestellt. Die Gewährung von sozialer Sicherheit und Fürsorge für die unterstützungswürdigen Armen hieß also zunächst für viele andere Bedürftige Marginalisierung und Ausschluss durch staatliche Kontroll- und Repressionsmaßnahmen. Im 16. Jahrhundert ist deutlich zu erkennen, dass Logiken des religiösen Systems auch Einfluss auf die Politik und das Recht haben. Es ist zu fragen, ob dies der Tatsache geschuldet ist, dass diese Teilbereiche sich tatsächlich noch nicht ausreichend ausdifferenziert haben, oder ob es daran liegt, dass hier zwar schon stark fortgeschrittene funktionale Differenzierungen erfolgt sind, die Teilsysteme aber noch grundsätzlich in hierarchischer Ordnung gedacht werden und deshalb engste Kopplungen der Politik, des Rechts sowie der Religion zu beobachten sind. Exklusionen in einem dieser gesellschaftlichen Teilbereiche führten jedenfalls meist auch zu multiplen Exklusionen in anderen Teilbereichen, sodass die Betroffenen häufig in eine regelrechte Exklusionsspirale gerieten. Wer einmal gebrandmarkt oder wegen Bettelei mit einer anderen entehrenden Strafe belegt worden war, musste damit rechnen, auch zeitweise vom Abendmahl ausgeschlossen zu werden,
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bekam sicherlich keine politischen Ämter mehr übertragen und hatte nur wenig Chancen, eine Arbeit zu finden. Schließungen auf der Ebene der Organisationen und Korporationen, wie sie für die Vormoderne typisch sind, unterliefen teils auch die landesherrlichen Inklusionsbemühungen. So weigerten sich etwa in Kurtrier noch im 18. Jahrhundert viele Zünfte, Waisenkinder als Lehrlinge aufzunehmen. Generell lässt sich allerdings festhalten, dass mit der Zunahme städtisch-partizipativer Herrschaftsformen zunehmend funktionale Inklusions-/Exklusionskriterien auch in Bezug auf die Armut an Einfluss gewannen. Zugleich wurde die sich herausbildende (Territorial-)Staatlichkeit zunehmend der entscheidende rechtliche Rahmen für Inklusions-/Exklusionsprozesse. Diese konnten im 18. Jahrhundert nun auch ohne religiöse Legitimierungen erfolgen. Die Familien und Personengruppen, die nun in mehrfacher Weise von den Leistungen der zentralen Funktionssysteme exkludiert waren, sahen sich wiederum gezwungen, sich selbst als Gruppe zusammenzufinden, um das eigene Überleben, notfalls auch mittels delinquenter Handlungen, zu sichern. Die starken Exklusionen wirkten nach Luhmann in hohem Maße integrierend auf die Exkludierten. Die Ausbildung einer eigenen Gaunerund Vagantensprache scheint darauf hinzudeuten, aber ob dies für die doch sehr unterschiedlichen Lebenslagen der Exkludierten allgemein zutrifft, bleibt zu hinterfragen. Deutlich wird in den Diskursen jedoch, dass man genau davor in den bürgerlichen Schichten Angst hatte und auch in Verordnungen nicht müde wurde, die Gefahr der gesellschaftszerstörenden Kraft der Räuberbanden und Vagantengruppen zu beschwören. Semantische Konkurrenzen Dieses Bild einer mehr oder weniger linearen Entwicklung von Inklusions-/ Exklusionsprozessen in Bezug auf das frühneuzeitliche Fürsorgewesen ist zwar nicht ganz falsch, es ist aber zu eindimensional und muss im Hinblick auf die geistlichen Kurstaaten erheblich modifiziert werden. Auch und gerade dafür ist das Inklusions-/Exklusionskonzept gut geeignet. So zeigt sich etwa in den Semantiken ein deutlicher Unterschied in der Bewertung der Verdienstlichkeit des Almosens und sich daraus ableitender Konsequenzen. Die in katholischen Territorien fortdauernde Vorstellung, dass man durch Almosen das eigene Seelenheil befördern kann, lehnte man in protestantischen vollständig ab. Vielmehr sah man das rechte, auf dauerhafte Hilfe ausgerichtete Almosen als zwingenden Ausdruck des Glaubens. Wer sich zu den gläubigen Christen rechnen wollte, musste in protestantischen Territorien also umso mehr auf den Erfolg und die Kontrolle
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von Fürsorge bedacht sein. Zentral war für Luther dabei der Aspekt der praktischen Handlungsorientierung, die aus dem Glauben erwächst. Jeder Christ sowie auf der untersten Ebene der Organisation jede christliche Gemeinschaft, die sich über den gemeinsamen Glauben definiert, konstituiert sich zugleich im diesseitigen Alltag über die tätige Liebe zum Nächsten. Eine christliche Herrschaft, die sich als solche verstand, war somit unauflöslich mit der Gerechtigkeitsfrage verbunden. In diesem Sinne kam es zu einer enormen Politisierung der Fürsorgefrage unter sakralen Vorzeichen. Bettler galten in diesem Sinn als ein Anzeichen für das Versagen der christlichen Gemeinschaft. Anders als in katholischen Territorien stellte die Almosenspende an sie keinen Heilswert mehr da, sondern war vielmehr Ausdruck des eigenen Unvermögens, ihnen wahrhaft Hilfe zu leisten. Wenn ein Almosen gegeben wird, so heißt es bei Luther, muss es in Christus und im Glauben an ihn geschehen, sonst werde das Almosen zur Sünde.20 Dies beinhaltet aber wiederum, dass es ganz und gar am Besten für den Nächsten ausgerichtet ist und nicht im Gedenken an das eigene Seelenheil, da sich ansonsten alle guten Werke in »Teufelsdreck«21 verkehren würden. Es besteht somit ein gewisser religiöser Zwang, sich über den Empfänger zu informieren, sein Bestes im Blick zu haben und notfalls auch mit der gebotenen erzieherischen Härte durchzusetzen. Entsprechend schrieb etwa noch Johann Georg Adam Forster im 18. Jahrhundert: »[W]ie arm ist der, dessen schwache Weichherzigkeit ihm nicht erlaubt, einen unersättlichen Bettler abzuweisen!«22 Deutet der Vorschlag Vives’, sich über die Empfänger zu informieren und ihnen entsprechend zu helfen, zwar in die gleiche Richtung, so fehlt ihm aber die letzte hier gezogene Konsequenz, die Almosengabe ohne Kontrolle zu einer Sünde umzudeuten. Zudem konnte sich gerade in katholischen Territorien keineswegs dieses Fürsorgekonzept als allein verbindliches durchsetzen. Vielmehr bestand die Besonderheit darin, dass es hier auch innerhalb des religiösen Diskurses zu konkurrierenden Vorstellungen darüber kam, wie stark man die Almosengabe von einer Kontrolle der Armen und der Erfüllung bestimmter Erwartungshaltungen abhängig machen durfte. So sprach sich etwa Domingo de Soto deutlich dafür aus, im Zweifel lieber zu geben, als das Almosen vorzuenthalten. Dies führte dazu, 20 Luther, Martin: Die Thesen Luthers für fünf Promotionsdisputationen (1535– 1537), S. 8; Disputationen 1535 / 38, WA 39,I, S. 44– 62. 21 Luther, Martin: 11. Sonntag nach Trinitatis (im Hause), WA 37, S. 129–134, hier S. 130. 22 Forster, Georg: Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit. In: Ders.: Werke in vier Bänden. Bd. 3. Leipzig 1971, S. 697–726, hier S. 718.
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dass man in den geistlichen Kurstaaten von einem einheitlichen Typus katholischer Fürsorge nicht sprechen kann. Ein Grund dafür, dass diese divergierenden Auffassungen wiederum in der Praxis wirksam werden konnten, ist sicherlich darin zu sehen, dass gerade die Frühe Neuzeit durch eine große Pluralität und Heterogenität bezüglich der politischen Ordnung in den einzelnen Reichsterritorien gekennzeichnet ist. In Territorien, in denen weder die Stände noch der Fürst eindeutig die Politik allein bestimmen konnten, kam es daher nicht selten zu einer Aufweichung bipolarer Exklusionsprozesse. Dem frühneuzeitlichen Staat gelang es nur sehr langsam, das Rechtswesen zu vereinheitlichen und die Herrschaftshoheit über alle Bereiche innerhalb des Territoriums zu erhalten. Es blieb bis zum Ende des Reichs eine Vielzahl exemter und unterschiedlicher Rechtsbereiche bestehen. In den geistlichen Territorien gilt dies insbesondere für Einrichtungen wie Klöster, Kollegiats- und Hospitalsstiftungen sowie Bruderschaften. Dies hatte auf die Armenfürsorge auf den unteren Verwaltungsebenen – und damit direkt auf die Fürsorgepraxis – einen nachhaltigen Einfluss. Gab es etwa auf landesherrlicher Ebene in Kurmainz und Kurtrier klare Vorstellungen über die Exklusion von Bettlern, folgten die wohlhabenden Klöster dieser Auffassung keineswegs bzw. versorgten faktisch diese Personen weiterhin mit Almosen.23 Gerade wenn man sich die Strategien der Betroffenen ansieht, lässt sich erkennen, wie stark im Lebensalltag die Ökonomie des Notbehelfs durch die Kenntnis und Ausnutzung solcher Gegensätze bestimmt war. Der Gang zum Kloster gehörte für viele Arme in den geistlichen Kurstaaten ebenso zum Lebensalltag wie die Möglichkeit, mittels der neu eingerichteten Arbeitshäuser die Kinder zu versorgen oder über den Winter zu kommen. So waren die Arbeitshäuser zwar ursprünglich vornehmlich für erwerbsfähige Erwachsene gedacht, doch in der Praxis waren hier in der Überzahl Kinder tätig, die im eigentlichen Sinne gar nicht als erwerbsfähig galten, sondern hier nur dazu erzogen werden sollten.24 So kann man gerade am Beispiel der geistlichen Kurstaaten zeigen, wie parallel unterschiedliche Semantiken der Fürsorge, Karitas und Barmherzigkeit von unterschiedlichen Institutionen transportiert wurden und so zu ganz eigenen, institutionell begrenzten Formen von Inklusion/Exklusion führten, die mit den hegemonialen Diskursen auf der landesherrlich-normativen Ebene nicht übereinstimmen mussten. 23 Schmidt, Sebastian: Kloster-Karitas und staatliche Armenfürsorge in Kurmainz am Ende des Alten Reichs. In: Krimm, Konrad [u. a.] (Hg.): Armut und Fürsorge in der frühen Neuzeit. Ostfildern 2011, S. 223–235. 24 Vgl. hierzu Huberti, Irmgard: Das Armenwesen der Stadt Trier vom Ausgang der kurfürstlichen Zeit bis zum Ende der französischen Herrschaft. 1758–1814. Berlin 1935.
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Vereinzelt dokumentierter Widerstand gegen die Festnahme von Bettlern auf der lokalen Ebene macht zudem deutlich, dass zumindest Teile der Bevölkerung nicht davon überzeugt waren, dass die unkontrollierte persönliche Almosengabe eine Sünde darstellte, wie es etwa vom Trierer Erzbischof im 18. Jahrhundert formuliert worden war, sondern dass es im Gegenteil weiterhin als christliche Pflicht aufgefasst wurde.25 Die Analyse von Almosenkastenrechnungen zeigt darüber hinaus, wie stark über den gesamten Zeitraum hinweg noch ständische Vorstellungen das Ausmaß von Inklusion in die Fürsorge mitbestimmten. So wurden adelige Bittsteller eben nicht als Fremde gesehen und mit weitaus höheren Beträgen ausgestattet, als dies bei anderen Armen der Fall war.26 Sicherlich ist es ein Kennzeichen der Vormoderne, dass weiterhin die Vorstellung galt, dass zumindest in der Spitze der stratifiziert gedachten Gesellschaft der Herrscher noch alle Teilsysteme in sich integrierte bzw. als Person vereinte.27 Dies führte in Bezug auf die Repräsentation öffentlicher Fürsorge in den geistlichen Kurstaaten dazu, dass sich anhand der Herrschaftssemantiken sehr unterschiedliche, teils sogar widersprüchliche Aussagen zur Fürsorge nachzeichnen ließen. Hier wird zumindest im 18. Jahrhundert deutlich, dass der Herrscher Rollen übernahm, um mit seinen Aussagen über Inklusion/Exklusion jeweils anschlussfähig zu bleiben. So spielten bei der Amtseinsetzung die Bettelorden nach wie vor symbolisch eine hervorgehobene Rolle, wobei zugleich ihre Existenzmöglichkeiten immer weiter rechtlich beschnitten wurden. Und während man in religiösen Bildprogrammen weiterhin die mittelalterliche Karitas und die persönliche Spendengabe propagierte, wandte sich der Landesherr mittels der Gesetzgebung und seines Einflusses auf die Verwaltung gegen diese Form der Fürsorge.28 Die konkrete Ebene institutioneller Inklusion/Exklusion ist damit für die Geschichtswissenschaften von besonderem Interesse, um solche Veränderung und Brüche vermeintlich stabiler Muster und Zuschreibungen zu entdecken und sie nicht schlicht als Paradoxien zu beschreiben. 25 Schmitz, Maria: Die Armenpflege in Koblenz unter dem letzten Trierer Kurfürsten Clemens Wenceslaus und ihre Fortsetzung auf der rechten Rheinseite unter dem Fürsten Friedrich Wilhelm von Nassau-Weilburg (1768–1815). Berlin 1936, S. 88. 26 Vgl. z. B. die Almosenrechnungen zu Trier, Stadtarchiv Trier, Ta 2/1-Ta 2/6: Almosenei-Rechnungen 1591–1793. 27 Luhmann, Niklas: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, hg. v. Dirk Baecker. Heidelberg 2005, S. 170. 28 Schmidt, Sebastian: Religiöse Bildprogramme als Ausdruck kollektiver Einstellungen? Zu widersprüchlichen Repräsentationen des Almosenspendens und ihrer politischen Funktion in der Frühen Neuzeit. In: Archiv für Kulturgeschichte 89 (2007) 2, S. 283–300.
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Allgemeine Ergebnisse und offene Fragen In verschiedenen soziologischen Theorien wird der Übergang zur Moderne als Umstellung der funktional differenzierten Systeme auf Totalinklusion beschrieben, die nur noch temporale Exklusionen kennt. Für das Individuum heißt dies umgekehrt, dass es sich universalistischen Prinzipien unterwerfen und Devianz ausschließen muss.29 Gerade die Analysen von Inklusionsprozessen auf der institutionellen Ebene der Armenfürsorge zeigen aber, dass man solchen verallgemeinernden Aussagen sehr kritisch begegnen muss. Im ›Sozialraum‹ der katholischen Armenfürsorge etwa werden Spannungen, Risse und Brüche sichtbar, die nicht einfach aufzulösen sind, sondern als konstitutives Element der Möblierung dieses Raums zu verstehen sind. Es wird damit aber ebenso fraglich, ob und inwieweit man die Veränderungsprozesse, die im Zeitraum der Frühen Neuzeit stattfanden, mit verallgemeinernden Schlagworten und Kategorisierungen greifen kann. Untersuchungen zur sogenannten Sozialdisziplinierung, und hier besonders zu Visitationen, haben ebenfalls zu einer differenzierteren Sichtweise geführt. Visitationen evaluierten und bewerteten zwar den Anpassungsprozess und stellten einen Teil der Machttechniken dar; die Forschung hat aber gezeigt, dass es nicht ein einfaches Top-Down-Modell ist, sondern dass ein solcher Kommunikationsprozess in seiner hierarchischen Reziprozität zu sehen ist. Letztlich liegen hier auch Chancen für neue Lesarten von Angeboten und so einer Veränderung der Sichtweisen. So können sprachliche Ausdrücke, die zur Exklusion und Diskriminierung verwendet werden, bekanntlich unter bestimmten Umständen auch zur Repräsentation in einem ermächtigenden Sinne gebraucht werden.30 Die Bezeichnung der niederländischen Aufständischen als ›Geusen‹, d. h. Bettler, ist hierfür ein Beispiel. Zu fragen wäre auch, ob und inwieweit bestimmte Inklusions-/Exklusionsmuster z. B. in Kunst und Literatur affirmiert, abgelehnt oder subversiv entwertet werden. Im Bereich der Armenfürsorge kann im Hinblick auf einen zeitgenössischen subversiven Umgang etwa auf den Schelmenroman Lazarillo de Tormes 31 aufmerksam gemacht werden. Hier erscheint die religiös-mora29 Nassehi, Armin: Inklusion, Exklusion, Ungleichheit. Eine kleine theoretische Skizze. In: Schwinn, Thomas (Hg.): Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. Frankfurt a. M. 2004, S. 323–352, hier S. 326. 30 Vgl. hierzu die Einleitung in Die ›andere‹ Familie. Repräsentationskritische Analysen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 18), hg. v. Arbeitskreis »Repräsentationen«. Frankfurt a. M. [u. a.] 2013, S. 13–34. 31 De Tormes, Lazarillo: Klein Lazarus vom Tormes, übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Hartmut Köhler. Stuttgart 2006.
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lische Verwerflichkeit, die man den Vaganten und starken Bettlern zuschrieb, nicht als Produkt eines losen Lebenswandels oder Charakters, sondern vielmehr als Ergebnis der Inhumanität der Verhältnisse. So gesehen befindet sich der Vagant nicht im Exklusionsbereich, sondern ist vielmehr Abbild der Gesellschaft. Vielversprechend erscheinen zudem Fragen nach der Rolle von Medien in der Kommunikation und deren Wechselwirkung zu Inklusion/Exklusion. So etwa nach dem Universalmedium ›Raum‹, wie es von Rudolph Schlögl formuliert worden ist. Versteht man Raum im Hinblick auf die Kommunikation als etwas, das ein enormes kombinatorisches Potential bietet32 und Sinn erst durch die Selektion fester Kopplungen erhält, so ist in dieser Hinsicht zu fragen, inwieweit der konstruierte Sozialraum als Bedeutungsträger bereits sedimentiertes Wissen bereitstellt und dadurch Einfluss auf Inklusions- und Exklusionsprozesse in einer ›Gegenwartsgesellschaft‹ nimmt, die weniger über Diskurse als über performative Akte kommuniziert und Dispositive kreiert und stabilisiert. Neuere Arbeiten wie z. B. die von Bretschneider konnten darlegen,33 wie fruchtbar es sein kann, auch innerhalb einzelner Institutionen, wie z. B. Zuchthäusern, den Blick auf die Ausgestaltung von Sozialräumen zu lenken, um dadurch etwa Begriffe wie die ›totale Institution‹ in Frage zu stellen und die Handlungsräume Einzelner sichtbar werden zu lassen. Dies gilt auch für städtische Rituale. Was bedeutet es etwa, wenn Armutsprozessionen zwecks Geldsammlung oder Einschließung der Armen durch frühneuzeitliche Städte organisiert werden und hier bestimmte Routen festgelegt werden? Welche Wissensbestände werden dadurch aufgerufen, dass Zucht- und Arbeitshäuser im Zentrum der Städte zu finden sind? Ohne dies weiter ausführen zu können, soll hier nur darauf hingewiesen werden, dass solchen öffentlichen Verfahren der Regulierung von Fürsorge in neueren Forschungen für die Frühe Neuzeit ein weit höherer Wert beigemessen wird, als dies früher unter dem Begriff der ›symbolischen Politik‹ der Fall war: Es handelt sich um Prozeduren bzw. Verfahren, die für die Konsensbildung und Konstituierung vormoderner Gesellschaften konstitutiv waren.34
32 Luhmann, Einführung (wie Anm. 27), S. 94. 33 Bretschneider, Falk: Gefangene Gesellschaft. Eine Geschichte der Einsperrung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert. Konstanz 2008; ders.: Menschen im Zuchthaus. Institutionelle Stabilisierung von Herrschaft durch soziale Praxis. Das Beispiel Sachsen. In: Historische Anthropologie 15 (2007) 2, S. 164–194. 34 Stollberg-Rilinger, Barbara: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Vormoderne politische Verfahren. Berlin 2001, S. 9–24, hier S. 18.
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Neben dem Potential, das das Begriffspaar Inklusion/Exklusion für die historische Armutsforschung bietet, soll abschließend noch einer viel diskutierten Grenze dieses Verfahrens nachgegangen werden. Die systemtheoretische Frage nach der Anschließbarkeit von Kommunikation in einzelnen Funktionssystemen der Gesellschaft kann dazu führen, dass die Verantwortung bestimmter hegemonialer gesellschaftlicher Gruppen dafür, anderen die Möglichkeiten für anschlussfähige Kommunikation zu eröffnen, nicht mehr zureichend berücksichtigt wird. Gerade die Postcolonial-Studies konnten eindrucksvoll zeigen, wie Machtasymmetrien dazu führen, dass bestimmte Personengruppen gar nicht mehr oder nur noch als Adressaten von Ansprüchen im Funktionssystem zugelassen werden.35 Bei einer Implementierung systemtheoretischer Perspektiven in die historische Armutsforschung sollte man darauf verweisen, dass der Akteur (mit seinen Interessen/ Absichten) zwar auf einer übergeordneten Ebene der Identifizierung der Funktionsbereiche und ihrer Logiken weitestgehend ausgeblendet, deshalb aber nicht negiert wird. Einfluss bzw. Unmöglichkeit der Einflussnahme von Akteuren auf die Systemlogiken müssten hier deutlicher gemacht werden. Damit würde auch der Prozesscharakter von Inklusion/Exklusion deutlicher.36 Umgekehrt sollten machttheoretische Ansätze klarer herausarbeiten, dass und inwiefern auch Modelle von ›Schicht‹, ›Milieu‹ oder ›Klasse‹ Interessen und Logiken des Systems folgen, in denen sie hervorgebracht werden, und dass sie ebenfalls Typenbildungen vornehmen, die der Empirie nicht gerecht werden und dadurch den Blick auf alternative Sichtweisen verstellen können. Segmentäre und stratifizierte Differenzierung in funktional differenzierten Gesellschaften Wie gerade auch die Analysen zur Armenfürsorge zeigen, wird Inklusion/ Exklusion in der Frühen Neuzeit vielfach noch über segmentäre und stratifizierte Differenzierungen vorgenommen bzw. prozessiert. Es ist nicht nur die funktionale Kommunikation, die kein Gehör findet und somit aus dem System exkludiert wird, sondern die Person, die als Ganzes ausgeschlossen wird aus Sozialbeziehungen, welche ›Identitäten‹ generieren bzw. als Folien für solche Konstrukte genutzt werden. Eine zentrale Form segmentärer Differenzierung bildet die Familie. Sie ist und bleibt zunächst maßgeblicher Kern von Identitätszuweisungen und Abgrenzungsprozessen. 35 Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien 2008. 36 Vgl. Castel, Robert: Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs. In: Mittelweg 36 9 (2000) 3, S. 11–25.
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Das Konzept der Familie wird aber ebenso auf identitätsgenerierende Räume wie etwa die Region als ›Heimat‹ oder den Territorialstaat als Vaterland sowie die Nation im 19. Jahrhundert übertragen. Die segmentäre Differenzierung kann damit ebenso funktionale Differenzierungen überspannen. So kann sie auch als notwendige Voraussetzung für die sich etablierende funktionale Differenzierung gesehen werden.37 Sie kann sich ebenso in Differenzierungen nach Rasse oder Geschlecht ausdrücken. Solche Einheiten werden diskursiv meist als ›naturhaft‹ beschrieben. Diesen Einheiten verschreibt sich ein Individuum nicht nur als Leistungsträger einer Rolle, sondern als ganze Person. Daher können innerhalb dieser Gruppen generalisierende Kommunikationsmedien wie etwa Liebe, teils aber auch Glaube ebenfalls greifen. Die segmentäre Einheit kann von ihren Mitgliedern kaum als defizitär gedacht werden, weil sie der Bezugspunkt des eigenen Selbst ist. In Diskursen wie denen über die ›Ehre‹ findet dies seinen Ausdruck. Diese Ehre gilt es auch in Stellvertreterfunktion für andere nicht anwesende Mitglieder einer solchen segmentären Einheit zu verteidigen. ›Ehre ist für alle diejenigen, die sonst nichts haben‹ – hier zeigt sich: Wer in der funktional differenzierten Gesellschaft nicht als Leistungsträger inkludiert ist, findet seinen Rückhalt vor allem in den segmentären Differenzierungen. So warnt etwa der Kameralist Johann Heinrich Jung ausdrücklich davor, eine Form von Wohltätigkeit in Erwägung zu ziehen, die die Ehre der Personen verletzen könnte.38 Vielmehr dient seiner Ansicht nach das Arbeitshaus dazu, bei Personengruppen, die die Ehre bereits verloren haben, diese wiederherzustellen. Segmentäre Differenzierungen verschwinden in der Geschichte nicht einfach, sondern sind als primäre, identitätsstiftende Differenzierungen in jeder Epoche gegenwärtig. Fremde werden demnach nicht als fremd wahrgenommen, weil sie aus bestimmten Funktionsbereichen der Gesellschaft exkludiert sind, sondern vielmehr, weil sie über die segmentäre Differenzierung als ›fremd‹ eingestuft und infolge dessen auch aus funktional differenzierten Gesellschaftsbereichen ausgeschlossen werden. Was in der Kulturtheorie als ›Hybridität‹ bezeichnet wird, kann entsprechend als das Spannungsverhältnis gesehen werden, sich zwei oder mehreren Segmenten zugehörig zu fühlen, die sich jedoch gerade über den Ausschluss anderer 37 Vgl. Hahn, Alois: Exklusion und die Konstruktion personaler Identitäten. In: Raphael, Lutz / Uerlings, Herbert (Hg.): Zwischen Ausschluss und Solidarität. Modi der Inklusion / Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike (Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 6). Frankfurt a.M. [u. a.] 2008, S. 65–98, hier S. 92. 38 Jung, Johann Heinrich: Lehrbuch der Staats-Polizey-Wissenschaft. Leipzig 1788, hier S. 409, § 958.
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Segmente definieren. Identität kann somit nur über die Integration als ›Ausgeschlossener‹ gebildet werden. Das Begriffspaar Inklusion/Exklusion bietet dabei die Möglichkeit, Gesellschaften verschiedener Epochen über ihr jeweiliges Mischungsverhältnis von Differenzierungen zu beschreiben, wie es sich am Beispiel der Armenfürsorge in der Frühen Neuzeit gezeigt hat.
Schließung, Ungleichheit, Devianz. Inklusions- / Exklusionsregime in der Fürsorge im frühen und hohen Mittelalter Katrin Dort
Armut war im Mittelalter – wie in anderen Zeiten auch – ein vielschichtiges Phänomen, das materielle und soziale Aspekte umfasste. Arm war, wer sich in einem Zustand des Mangels, der Schwäche oder der Abhängigkeit befand, wer sich also nicht selbst versorgen konnte und auf die Hilfe von anderen angewiesen war. Zu den Armen gehörten somit Menschen, denen es an lebensnotwendigen Gütern wie Nahrung und Kleidung fehlte, oder solche, die im physischen Sinne schwach waren, wie Alte, Kranke und ›Krüppel‹. Ebenso zu den Armen zählten Personen, die sich in einer prekären Lebenssituation befanden, wie Witwen und Waisen, sowie solche, die fremd und machtlos waren, wie Pilger und Unfreie.1 Die Bedeutung von Beziehungslosigkeit und Machtlosigkeit für die Definition von Armut wurde in der Forschung insbesondere für das frühe, aber auch für das hohe und späte Mittelalter herausgestellt. Diese vor allem in der Diskussion2 um die semantische Konnotation des in den lateinischen Quellen häufig verwendeten Begriffes ›pauper‹ herausgearbeitete rechtlich-soziale Dimension von 1 Oexle, Otto Gerhard: Armut, Armutsbegriff und Armenfürsorge im Mittelalter. In: Sachße, Christoph / Tennstedt, Florian (Hg.): Soziale Sicherung und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt a. M. 1986, S. 73–100, hier S. 77 f.; Mollat, Michel: Die Armen im Mittelalter. München 1984, S. 13–15. 2 Vgl. Bosl, Karl: Potens und Pauper. Begriffsgeschichtliche Studien zur gesellschaftlichen Differenzierung im frühen Mittelalter und zum »Pauperismus« des Hochmittelalters. In: Ders. (Hg.): Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. München / Wien 1964, S. 106–134; Violante, Cinzio: »Pauperes« e poverta` nella societa` carolingia. In: Kuczyn´ski, Stefan Krzysztof (Hg.): Cultus et cognitio. Studia z dziejo´w s´redniowiecznej kultury. Warschau 1976, S. 621– 630; Sternberg, Thomas: Orientalium more secutus. Räume und Institutionen der Caritas des 5. bis 7. Jahrhunderts in Gallien. Münster, Westfalen 1991, S. 48–51; Oexle, Otto Gerhard: Potens und Pauper im Frühmittelalter. In: Harms, Wolfgang / Speckenbach, Klaus (Hg.): Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Tübingen 1992, S. 131–149; Felten, Franz J.: Zusammenfassung. Mit zwei Exkursen zu »starken Armen« im frühen und hohen Mittelalter und zur Erforschung der pauperes der Karolingerzeit. In: Oexle, Otto Gerhard (Hg.): Armut im Mittelalter. Ostfildern 2004, S. 349– 401, hier S. 381– 401.
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Armut muss immer mitgedacht werden, auch wenn sich die folgenden Ausführungen überwiegend auf die materielle Seite der Bedürftigkeit beziehen. Im agrarisch geprägten Mittelalter waren nicht nur Hungersnöte eine alltägliche Gefahr, sondern das Risiko zu verarmen war insgesamt sehr hoch. Schicksalsschläge wie Unfall oder Krankheit gefährdeten den Einzelnen, Ereignisse wie Missernten, Naturkatastrophen oder Kriege konnten ganze Bevölkerungsgruppen in lebensbedrohliche Armut stürzen.3 Der Anteil der Armen und Armutsgefährdeten an der mittelalterlichen Gesellschaft ist nicht zu quantifizieren, man kann jedoch davon ausgehen, dass es zu jeder Zeit eine große Anzahl von Hilfsbedürftigen gab.4 Die Aufgabe der Armenfürsorge wurde oft von kirchlichen Institutionen und Autoritäten wahrgenommen. Ebenso war Karitas ein wichtiges Element der christlichen Herrscherethik, die Sorge für Bedürftige gehörte somit zu den Pflichten eines jeden, der geistliche oder weltliche Herrschaft ausübte. Seit dem 11. Jahrhundert entwickelten sich vielfältige neue Gemeinschaften, die ihre Mitglieder durch Formen genossenschaftlicher Selbsthilfe absicherten sowie häufig auch notleidende Dritte unterstützten. Daneben gab es immer auch zahlreiche Akte der individuellen Fürsorge wie die Verteilung von Almosen oder die private Beherbergung von Pilgern.5 Die Motive, aus denen einzelne Personen oder Gruppen sich in der individuellen und institutionellen Fürsorge engagierten, waren vielfältig. Gerade für die Gründung und Unterstützung karitativer Einrichtungen wie Hospitäler lassen sich zahlreiche soziale, ökonomische und herrschaftliche Beweggründe herausstellen. Darüber hinaus darf jedoch die religiöse Motivation keinesfalls unterschätzt werden. Karitas und Bedürftigenhilfe gehörten (und gehören) zu den Grundsätzen der christlichen Religion, prinzipiell war jeder Gläubige verpflichtet, sich um Arme und Schwache zu kümmern. Armenfürsorge galt als besonders gottgefälliges Werk und war ein Mittel für die Geber, ihre Sünden zu tilgen und das eigene Seelenheil zu befördern.6 3 Oexle, Armut (wie Anm. 1), S. 77 f.; Mollat, Die Armen (wie Anm. 1), S. 13–15. 4 Mollat, Michel: En guise de pre´face: Le proble`mes de la pauvrete´. In: Mollat, Michel (Hg.): E´tudes sur l’histoire de la pauvrete´. 2. Aufl. Paris 1974, S. 11–30, hier S. 17–23. 5 Oexle, Armut (wie Anm. 1), S. 79–84; Clemens, Lukas: Armenfürsorge in den mittelalterlichen Städten Westeuropas. In: Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, hg. v. Herbert Uerlings [u. a.]. Ausst.-Kat. Stadtmuseum Simeonstift Trier und Rheinisches Landesmuseum Trier. Darmstadt 2011, S. 112–119; Müller, Oliver: Vom Almosen zum Spendenmarkt. Sozialethische Aspekte christlicher Spendenkultur. Freiburg i.Br. 2005, S. 117 f. 6 Angenendt, Arnold: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, S. 592–594; Müller, Vom Almosen zum Spendenmarkt (wie Anm. 5), S. 118.
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Entsprechend erscheinen in den Quellen des frühen und hohen Mittelalters zur Begründung von Fürsorge überwiegend religiöse Semantiken. Sowohl in theologischen und philosophischen Traktaten als auch in Urkunden, Gesetzestexten, Chroniken oder anderen Quellen wurde auf theologische Argumentationen zurückgegriffen. Eine zentrale Bibelstelle, auf die in Quellen oft Bezug genommen wurde, ist Mt 25,35– 40: Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt. Ich bin Gast gewesen, und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. [. . .] Wahrlich ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.7
Der Vorstellung, dass in jedem Armen Christus selbst empfangen wurde, kam in der mittelalterlichen Fürsorge große Bedeutung zu.8 An den genannten sechs Werken der Barmherzigkeit, denen bereits in der Spätantike als siebtes Werk die Bestattung der Toten hinzugefügt wurde, orientierten viele Gläubige ihre Fürsorgehandlungen. Neben diese leiblichen Werke, die die materielle Versorgung und Unterstützung der Bedürftigen betreffen, traten die sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit: Unwissende belehren, Zweifelnden raten, Trauernde trösten, Sünder zurechtweisen, dem Beleidiger verzeihen, Unrecht ertragen, für Lebende und Tote beten. Sie spielten im Mittelalter ebenfalls eine große Rolle für die Karitas, da Fürsorge sowohl für die Geber als auch für die Empfänger eng mit Seelsorge verknüpft war.9
7 Weitere wichtige Bibelstellen nennt Schneider, Bernhard: Armut und Armenfürsorge in der Geschichte des Christentums. In: Armut. Perspektiven in Kunst (wie Anm. 5), S. 92–101, hier S. 92 f. 8 Boshof, Egon: Untersuchungen zur Armenfürsorge im fränkischen Reich des 9. Jahrhunderts. In: Archiv für Kulturgeschichte 58 (1976) 2, S. 265–339, hier S. 288 f.; Angenendt, Geschichte der Religiosität (wie Anm. 6), S. 586. 9 Schneider, Bernhard: Barmherzigkeit. In: Armut. Perspektiven in Kunst (wie Anm. 5), S. 42 f., hier S. 42; Barzen, Rainer [u. a.]: Religiös motivierte Barmherzigkeit und karitatives Handeln von Gemeinschaften im hohen und späten Mittelalter. In: Gestrich, Andreas / Raphael, Lutz (Hg.): Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart (Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 5). Frankfurt a. M. [u. a.] 2004, S. 397– 422, hier S. 397– 402.
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Inklusionssemantiken und Exklusionsrealitäten In der Selbstbeschreibungssemantik der christlichen Gesellschaft, in der ein Totalinklusionsanspruch formuliert wird, hatten die ›pauperes‹ einen festen Platz. In der umfassenden sozialen und ökonomischen Bedeutung des Begriffes, die Handwerker, Bauern und mithin jeden, der sich in einem Abhängigkeitsverhältnis befand, einschloss, machten sie den größten Teil der Bevölkerung aus.10 Armut wurde nicht als ein zu beseitigender Missstand begriffen, sondern als Teil der gottgewollten Ordnung der Welt. Darin erfüllten die Bedürftigen eine wichtige gesellschaftliche Funktion, indem sie etwa den Reichen eine Möglichkeit boten, durch Wohltätigkeit ihr Seelenheil zu befördern. Geber und Empfänger von Almosen standen dabei durchaus in einem Reziprozitätsverhältnis, da von den Armen eine Gegenleistung zumindest in Form von Gebeten erwartet wurde.11 Das Postulat der Totalinklusion galt auch bzw. insbesondere für den Bereich der Karitas. Idealerweise sollte die institutionelle wie individuelle Fürsorge allen Bedürftigen zugutekommen. In den Quellen wird dies immer wieder geäußert. So enthalten Urkunden zu Hospitalsgründungen unspezifische Reihungen von Armen und Schwachen, die in der Einrichtung versorgt werden sollen, viele Epitaphien und Heiligenviten betonen die große und bedingungslose Wohltätigkeit des Geehrten, der niemanden abwies und jeden mit Almosen versorgte, Fürstenspiegel und bischöfliche Ermahnungen rufen zur allgemeinen Hilfe auf.12 Trotz dieser Vorgabe finden sich – wenig überraschend – zahlreiche Hinweise darauf, dass eine solche bedingungslose Inklusion keineswegs praktiziert wurde. Die Bittsteller und Bedürftigen wurden weder alle gleich beurteilt oder behandelt, noch erhielten alle die gleichen Leistungen. Inklusion/Exklusion als Perspektive und Analyseinstrument erlaubt, die verschiedenen Mechanismen, 10 Bosl, Karl: Das Problem der Armut in der hochmittelalterlichen Gesellschaft. Wien 1974, S. 5; Oexle, Armut (wie Anm. 1), S. 82 f. 11 Angenendt, Geschichte der Religiosität (wie Anm. 6), S. 593 f.; Scherpner, Hans: Theorie der Fürsorge. Göttingen 1962, S. 24–29; Müller, Vom Almosen zum Spendenmarkt (wie Anm. 5), S. 111 und S. 118. 12 Z. B. Codice diplomatico longobardo 1, hg. v. Luigi Schiaparelli. Rom 1929, Nr. 28 (720); Archivio di Stato di Lucca, Spedale 1087–03–12; Archivio Arcivescovile di Lucca +F 41 (1086); Russo Mailler, Carmen: Il senso medievale della morte nei carmi epitaffici dell’Italia meridionale fra VI e XI secolo. Napoli 1981, S. 95 und S. 131; De S. Andrea Corsino, Episcopo Faesulano, Ordinis Carmelitarum. In: Acta Sanctorum, Januar. Bd. 2. (http://acta.chadwyck.co.uk [19. 04. 2013]). Cambridge 1999, S. 1061–1073, hier Caput V, 20, S. 1068; Monumenta Germaniae Historica (MGH ), Leges, Sectio 2: Capitularia regum Francorum II , hg. v. Alfred Boretius. Hannover 1897 (ND 2001), Nr. 196 c. 56.
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mittels derer über Teilhabe an und Ausschluss aus der Fürsorge entschieden wurde, in den Blick zu nehmen.
Schließung und Ungleichheit In der heute in der Toskana gelegenen Stadt Lucca wurden in frühmittelalterlicher Zeit viele Xenodochien13 und Kirchen mit karitativem Auftrag gegründet. Die Aufgaben, die die Einrichtungen erfüllen sollten, wurden von den Stiftern in der jeweiligen Ausstattungsurkunde festgelegt. Die in den Dokumenten am häufigsten erwähnte Fürsorgeleistung war die Armenspeisung. Viele Stifter gaben genau an, wie oft die Speisungen stattfinden und welche Lebensmittel in welcher Menge verteilt werden sollten. Außerdem wurden die Zuwendungen, üblicherweise eine Verköstigung mit Brot, Wein und Beilage (lat. ›pulmentum‹), oft auf eine festgelegte Anzahl von Empfängern begrenzt.14 Immer wieder begegnet in diesem Zusammenhang die Zahl Zwölf,15 die als eine auf die zwölf Apostel bezogene liturgische Semantik16 diese übliche Begrenzung von Fürsorgeleistungen überschreibt und legitimiert. In dieser Einschränkung der Almosenempfänger auf zwölf Personen, die nicht nur für Lucca bekannt ist, sondern sich auch in vielen anderen Gebieten nördlich und südlich der Alpen findet, zeigt sich das für das Mittelalter typische Bestreben, Fürsorgepraktiken mit christlichen Semantiken in Übereinstimmung zu bringen. Die Beschränkung der Anzahl der zu versorgenden ›pauperes‹ impliziert, dass ›überzählige‹ Arme von der Verteilung der Nahrungsmittel ausgeschlossen blieben. Im Hinblick auf die hier zu untersuchenden Modi der Inklusion und Exklusion wäre interessant, ob es bestimmte Kriterien gab, 13 Der aus dem Griechischen abgeleitete Ausdruck ›xenodochium‹ wurde vor allem in frühmittelalterlichen Quellen zur Bezeichnung einer Fürsorgeinstitution benutzt. Seit dem 9. Jahrhundert wurde er zunehmend durch seine lateinische Entsprechung ›hospitale‹ ersetzt, die den im Hochmittelalter üblichen Begriff darstellt. 14 Dort, Katrin: Armenfürsorge in Lucca im frühen und hohen Mittelalter. Hospitäler in Stadt und Bistum. Diss. Uni Trier 2011, S. 23 f. und S. 46– 49. 15 Z. B. Codice diplomatico longobardo 2, hg. v. Luigi Schiaparelli. Rom 1933, Nr. 175 (765); Chartae Latinae Antiquiores. Facsimile-edition of the Latin Charters prior to the Ninth Century. Bd. 36, hg. v. Giovanna Nicolaj. DietikonZürich 1990, Nr. 1065 (778); ebd., Bd. 75, hg. v. Francesco Magistrale [u. a.] (2005), Nr. 15 (823). Auch andere Zahlen kommen vor, wobei auffällt, dass oft Vielfache oder Teiler von Zwölf festgesetzt wurden. In Lucca variierte die Anzahl der zu versorgenden ›pauperes‹ zwischen drei und 24. 16 Andreolli, Bruno: Uomini nel Medioevo. Studi sulla societa` lucchese dei secoli VIII–XI. Bologna 1983, S. 99–106; Boshof, Untersuchungen (wie Anm. 8), S. 281.
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nach denen über die Teilhabe einer Person an den Fürsorgeleistungen entschieden wurde. Unklar ist auch, ob die wöchentlichen Speisungen immer denselben Personen zugutekamen, ob sich also wie bei der gleichzubehandelnden Matrikel eine Gruppe von ›privilegierten Armen‹ herausbildete, die regelmäßig unterstützt wurden. Da die erhaltenen Urkunden lediglich über den Wunsch der Stifter Auskunft geben, nicht aber über die tatsächliche karitative Praxis, müssen diese Fragen leider offenbleiben. Sehr deutlich wird der exklusive Charakter bei einer Form der Fürsorgeeinrichtung, die seit dem späten 6. Jahrhundert nördlich der Alpen im fränkischen Gebiet nachgewiesen werden kann. Bei der Matrikel (lat. ›matricula‹) handelte es sich um ein Verzeichnis, in das eine begrenzte Anzahl von Personen eingetragen war, die Anspruch auf Versorgung hatten. Diese ›matricularii‹ erhielten an der Kirche, der die jeweilige Matrikel angegliedert war, Nahrung und Unterkunft, sie durften dort um Almosen betteln und waren Adressaten von frommen Schenkungen. Die ›matricularii‹ einer Kirche verfügten damit über ein gemeinsames Vermögen, dass sie als geschäftsfähige Korporation selbst verwalten konnten. Die Zahl der unterstützungsberechtigten Personen war meist gering – auch in diesem Zusammenhang findet sich oft die symbolische Zahl Zwölf –, so dass davon auszugehen ist, dass es innerhalb eines Kirchenbezirks deutlich mehr Bedürftige gab als die ›matricularii‹. Diese bildeten also eine Gruppe privilegierter Armer mit gesichertem Unterhalt, während die übrigen Bedürftigen von der Fürsorge ausgeschlossen blieben. Die Unterstützungsempfänger erbrachten eine Gegenleistung in Form von einfachen Diensten für ihre Kirche und Gebeten für Stifter und Schenker. Bereits im Laufe des 7. Jahrhunderts entwickelten sich die ›matricularii‹ zu niederen Kirchendienern, womit die Matrikeln ihre ursprüngliche Funktion als Fürsorgeeinrichtung verloren. Erzbischof Hinkmar von Reims beklagte etwa im 9. Jahrhundert, dass in die Verzeichnisse nicht mehr Mittellose, Alte und Kranke aufgenommen wurden, sondern Verwandte der Mitglieder und arbeitsfähige Personen und dies zudem oft gegen Abgaben.17 In den frühmittelalterlichen Matrikeln gelang es also den Begünstigten, deren Zahl von vornherein stark begrenzt war, ihre Privilegien auszubauen, ihre Stellung zu sichern und Konkurrenten auszuschließen. 17 Sternberg, Orientalium more secutus (wie Anm. 2), S. 139–143. Vgl. Boshof, Egon: Armenfürsorge im Frühmittelalter: Xenodochium, matricula, hospitale pauperum. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 71 (1984) 2, S. 153–174, hier S. 163–167; Irsigler, Franz: Matriculae, xenodochia, hospitalia und Leprosenhäuser im Frühmittelalter. In: Pauly, Michel (Hg.): Institutions de l’assistance sociale en Lotharingie me´die´vale. Luxembourg 2008, S. 323–339, hier S. 326–330; Mollat, Die Armen (wie Anm. 1), S. 43 f.
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Auch in hochmittelalterlichen Hospitälern sind Schließungsprozesse zu beobachten, denen meist eine Periode der internen sozialen Differenzierung vorausging. Im Zuge der Kirchenreform und der neuen Armutsbewegung im 11. und 12. Jahrhundert wurden zahlreiche Einrichtungen gegründet, zu deren Aufgaben die Versorgung von Armen, Pilgern und anderen Hilfsbedürftigen zählte. Es kam jedoch zu einem Funktionswandel, der in den italischen Gebieten bereits im späten 12. Jahrhundert begann und nördlich der Alpen etwas später einsetzte. In den ursprünglich zur Armenfürsorge gegründeten Hospitälern wurden nun auch Personen aufgenommen, die keineswegs arm waren. Frauen wie Männer sicherten sich durch die Übertragung von Grundbesitz oder die Zahlung eines Geldbetrags den Unterhalt durch eine karitative Einrichtung. Vermutlich dienten entsprechende Vereinbarungen meist der Versorgung von Witwen oder der Unterstützung im Alter oder bei Krankheit, also der Absicherung in prekären und durchaus mit einem Verarmungsrisiko behafteten Lebenssituationen. Die Zahlungen, die zur dauerhaften Aufnahme in ein Hospital geleistet werden mussten, konnten jedoch nur von vermögenden Personen aufgebracht werden. So entwickelten sich im Spätmittelalter vor allem städtische Hospitäler nach und nach zu Altersheimen und Pfründenanstalten für wohlhabende Bürger. Die Plätze in solchen Einrichtungen waren sehr begehrt, oft stand nur eine begrenzte Anzahl zur Verfügung. Die Armen wurden zunehmend von den Leistungen ausgeschlossen und die Einrichtungen verloren ihre Fürsorgefunktion letztlich ganz.18 Ein anschauliches Beispiel für die Anfänge dieser Entwicklung bietet das Luccheser Hospital S. Bartolomeo in Silice. Im Jahr 1193 schloss eine Frau namens Florentina mit dem Rektor der Einrichtung einen Vertrag. Gegen eine hohe Geldzahlung sicherte der Rektor Florentina zu, dass sie für den Rest ihres Lebens mit ihrer Dienerin in einem Zimmer (lat. ›clusum‹) im Haus des Hospitals wohnen durfte. Täglich standen ihr verschiedene Brote und andere Speisen sowie ein halbes Maß Wein zu – und zwar von demselben Wein, den auch der Rektor trank. Die hohe Summe mit der sich 18 Matheus, Michael: Einleitung: Funktions- und Strukturwandel spätmittelalterlicher Hospitäler im europäischen Vergleich. In: Ders. (Hg.): Funktions- und Strukturwandel spätmittelalterlicher Hospitäler im europäischen Vergleich. Stuttgart 2005, S. VII–XII , hier S. XI ; Pauly, Michel: Peregrinorum, pauperum ac aliorum transeuntium receptaculum. Hospitäler zwischen Maas und Rhein im Mittelalter. Stuttgart 2007, S. 249–265; Landolt, Oliver: Finanzielle und wirtschaftliche Aspekte der Sozialpolitik spätmittelalterlicher Spitäler. In: Bulst, Neithard / Spieß, Karl-Heinz (Hg.): Sozialgeschichte mittelalterlicher Hospitäler. Ostfildern 2007, S. 273–299, hier S. 286.
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Florentina die Versorgung mitsamt besonderen Privilegien erkaufte, wie auch die Tatsache, dass sie eine Dienerin mitbrachte, unterstreichen ihren Reichtum und ihre hohe soziale Stellung. Auch ging es ihr nicht um eine kurzzeitige Unterstützung, sondern um eine langfristige Unterbringung in der Einrichtung. Der Rektor von S. Bartolomeo nahm Florentina in einem rituellen Akt (»investivit«) als ›Schwester‹ und somit als vollwertiges Mitglied (»sicut soror fratri ecclesie et hospitalis«) in die Hospitalsgemeinschaft auf, womit sie in Zukunft an den in der Einrichtung gefeierten religiösen Handlungen teilhaben durfte (»sit particeps elemosinarum et horationum atque sacrificiorum«).19 In S. Bartolomeo lebten neben Florentina noch weitere Pfründnerinnen, die ebenfalls Verträge mit dem Rektor abgeschlossen hatten. Das Hospital betrieb gleichzeitig aber auch noch ›klassische‹ Armenfürsorge. Es wurden Almosen verteilt sowie Arme und Pilger in der Einrichtung gespeist und beherbergt. Untergebracht waren diese jedoch in einem Gemeinschaftsraum, dem ›peregrinarium‹. Es kam innerhalb des Hospitals also zu einer sozialen Differenzierung, die im Fall von S. Bartolomeo auch baulich fassbar wird.20 In etwas anderer Weise stellte sich das Problem sozialer Ungleichheiten in Klöstern, die als wichtige Orte der Fürsorge vielfältige Aufgaben übernahmen. Der heilige Benedikt von Nursia, der als Begründer des abendländischen Mönchtums gilt, verfasste um die Mitte des 6. Jahrhunderts seine berühmte Klosterregel, die Regula Benedicti. Darin machte er grundsätzliche Angaben zu allen Bereichen des klösterlichen Lebens, die für den Benediktinerorden und einige andere geistliche Gemeinschaften noch immer gültig sind. Benedikt widmete ein Kapitel seiner Regel der Aufnahme von Gästen im Kloster. Dort heißt es unter Berufung auf das eingangs erwähnte Bibelzitat: »Gäste, die ankommen, empfange man alle wie Christus, weil er selber sagen wird: ›Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen.‹ Allen erweise man die Ehre, die ihnen zusteht, besonders denen, die mit uns im Glauben verbunden sind, und den Pilgern.«21 Weiter unten fügt Benedikt ebenfalls mit erkennbarem Bezug auf besagte Bibelstelle hinzu: »Die allergrößte Sorge und Aufmerksamkeit lasse man bei der Aufnahme 19 Archivio Arcivescovile di Lucca: +N 80 (1193). 20 Dort, Armenfürsorge in Lucca (wie Anm. 14), S. 145–147. 21 Regula S. Benedicti 53,1 f.: «Omnes supervenientes hospites tamquam Christus suscipiantur, quia ipse dicturus est: Hospes fui et suscepistis me. Et omnibus congruus honor exhibeatur, maxime domesticis fidei et peregrinis.« Zitat und Übersetzung aus Benedictus de Nursia: Die Benediktsregel. Eine Anleitung zu christlichem Leben. Der vollständige Text der Regel lateinisch-deutsch, hg. v. Georg Holzherr. 4. Aufl. Zürich 1993, S. 255 f.
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von Armen und Pilgern walten, denn mehr als in andern nimmt man in ihnen Christus auf; reiche Leute dagegen sind vielvermögend, das führt von selbst dazu, daß sie geehrt werden.«22 Damit spricht Benedikt schon in der Regel ein grundsätzliches Problem an, das sich den Zeitgenossen stellte. Nach der Regula müssen alle Reisenden (»omnes supervenientes«) im Kloster mit den ihnen angemessenen Ehren (»congruus honor«) aufgenommen und versorgt werden. Dabei verdienten die Armen, in denen ja Christus selbst empfangen wurde, eigentlich die größere Achtung. Die Reichen und Mächtigen verlangten jedoch ob ihrer sozialen Stellung eine bevorzugte Behandlung. Eine Reihe von Kommentatoren arbeitete sich im Laufe des Mittelalters an diesem Problem ab und versuchte, das christliche Ideal mit der weltlichen Hierarchievorstellung zu versöhnen. Für die tatsächliche klösterliche Praxis bei der Gästeaufnahme und den Umgang mit den sich daraus ergebenden Diskrepanzen zum Anspruch der Benediktsregel sind zwei Kommentare zur Regula aus dem 9. Jahrhundert besonders aufschlussreich. Der Abt Smaragdus von St. Mihiel und der Mönch Hildemar von Corbie bestätigten in ihren Überlegungen die Vorgaben der Benediktsregel, erkannten jedoch, dass bei der Aufnahme und Versorgung von ›pauperes‹ und ›potentes‹ große Unterschiede gemacht wurden. Benedikts Anweisung, dass Arme und Pilger mit besonderer Sorgfalt zu behandeln seien, brachte die Kommentatoren in ein Dilemma, das sie letztlich (nur) dadurch überwanden, dass sie die Karitas auf zwei Ebenen ansiedelten: die den Lebensumständen entsprechende äußere Form und die innere Gesinnung. Smaragdus und Hildemar erklärten, dass bei der Versorgung der Gäste soziale Unterschiede beachtet und die weltlichen Hierarchievorstellungen respektiert würden, im Geiste jedoch die Nächstenliebe Armen und Reichen gleichermaßen zuteilwürde bzw. die ›pauperes‹ sogar höher zu achten seien.23
22 Regula S. Benedicti 53,15: «Pauperum et peregrinorum maxime susceptioni cura sollicite exhibeatur, quia in ipsis magis Christus suscipitur; nam divitum terror ipse sibi exigit honorem.« Zitat und Übersetzung aus Benedictus de Nursia, Die Benediktsregel (wie Anm. 21), S. 255 f. 23 Boshof, Untersuchungen (wie Anm. 8), S. 292–295; Schuler, Thomas: Gastlichkeit in karolingischen Benediktinerklöstern. Anspruch und Wirklichkeit. In: Peyer, Hans Conrad (Hg.): Gastfreundschaft, Taverne und Gasthaus im Mittelalter. München [u. a.] 1983, S. 21–36. Schuler setzte sich in seiner Dissertation ausführlich mit Norm und Praxis der Gastlichkeit in Benediktinerklöstern auseinander, vgl. Schuler, Thomas: Ungleiche Gastlichkeit. Das karolingische Benediktinerkloster, seine Gäste und die christlich-monastische Norm. Bielefeld 1979.
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Devianz Neben den geschilderten Beispielen der sozialen Differenzierung und Schließung in karitativen Institutionen lässt sich vorwiegend auf der semantischen Ebene eine Entwicklung verfolgen, die für die Frage nach Teilhabe an Fürsorgeleistungen und damit zusammenhängend nach gesellschaftlicher Inklusion oder Exklusion einige Bedeutung erlangte. Angesichts begrenzter Ressourcen stellte sich in Bezug auf die Fürsorge immer wieder die Frage, wer von Hilfsleistungen profitieren sollte und an welche Bedingungen die Teilhabe zu knüpfen war. In mittelalterlichen Erörterungen zu Unterstützungswürdigkeit und Fürsorgepflicht, die überwiegend auf theologische Begründungen rekurrieren, finden sich auch Argumentationen, nach denen Bedürftige aufgrund von Devianzzuschreibungen keine Fürsorgeleistungen erhalten sollten. Die Diskussion um hilfswürdige (›verschämte‹) Arme und hilfsunwürdige (›starke‹) Bettler ist in der Forschung vor allem für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit herausgestellt worden. Ein Blick in die spätantiken, frühchristlichen und mittelalterlichen Quellen zeigt jedoch, dass die angeführten Argumente in einer langen Tradition stehen und dass eine unterschiedliche Beurteilung von Armen schon weit vor dem 14. Jahrhundert zu beobachten ist.24 Zunächst soll hier auf theologische und kanonistische Texte eingegangen werden. Mit der Frage nach der richtigen Vergabe von Almosen beschäftigten sich bereits altkirchliche Autoren und einige Kirchenväter. Deren Argumente wurden im Hochmittelalter von Kirchenrechtlern wieder aufgenommen und weiterentwickelt. Im 13. Jahrhundert setzte sich schließlich Thomas von Aquin mit Armut und Fürsorge auseinander. Anschließend werden Hinweise aus Urkunden, Statuten und Rechtsquellen sowie aus Heiligenviten als literarische Quellen vorgestellt, die zeigen, dass die besprochenen Inklusions-/Exklusionssemantiken auch außerhalb gelehrter Diskussionen bekannt waren. Bereits im 2. und 3. Jahrhundert warfen christliche Autoren in pastoralen und theologischen Erörterungen die Frage auf, ob das Almosen bedingungslos an alle Armen verteilt werden solle, oder ob man die ›Würdigkeit‹ des Empfängers prüfen müsse. Die meisten der altkirchlichen Theologen lehnten eine solche Unterscheidung ab.25 Dies änderte sich mit der patristischen Literatur im 4. und 5. Jahrhundert, in der die Almosenethik einen großen Raum einnahm. Viele Kirchenväter bekräftigten, dass die Unter24 Felten, Zusammenfassung (wie Anm. 2), S. 383. 25 Müller, Vom Almosen zum Spendenmarkt (wie Anm. 5), S. 94–97; Schneider, Barmherzigkeit (wie Anm. 9), S. 94.
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stützung von Bedürftigen essentielles Gebot christlicher Karitas und Pflicht eines jeden Gläubigen sei, diskutierten aber auch immer wieder die richtige Verteilung des Almosens und die Kriterien für die Auswahl der Begünstigten. Während sich Johannes Chrysostomos gegen eine Bewertung der Empfänger und für eine bedingungslose Teilhabe aller an der Fürsorge aussprach, argumentierten Ambrosius und Augustinus vehement für eine Unterscheidung:26 Ambrosius forderte die Almosengeber auf, zu prüfen, ob die Bittsteller tatsächlich bedürftig seien. Die kirchlichen Güter sollten nicht den starken (lat. ›validi‹), umherziehenden Bettlern zugutekommen, die durch unverschämtes und betrügerisches Verhalten die für die Armen bestimmten Mittel aufzehren wollten. Versorgt werden sollten diejenigen, die schwach oder krank waren und solche Notleidende, die nicht bettelten, weil sie sich ihrer Armut schämten.27 Augustinus erklärte, dass Angehörige unehrlicher Berufe wie Schauspieler, Prostituierte und Gladiatoren keine Almosen erhalten sollten. Auch er mahnte, dass nicht nur solche, die bitten, sondern gerade auch die, die bedürftig seien, aber nicht bettelten, zu versorgen waren.28 Mit Bezug auf die einschlägigen Stellen in der patristischen Literatur flammte die Diskussion um die rechte Gabe des Almosens und die würdigen oder unwürdigen Empfänger im 12. Jahrhundert wieder auf. Um 1140 stellte Gratian, der vermutlich eine Lehrtätigkeit an der Universität von Bologna ausübte, eine Sammlung zum kanonischen Recht zusammen.29 Er berief sich in seinem Decretum Gratiani bei der Behandlung von Gastung und Fürsorge sowohl auf Chrysostomos als auch auf Ambrosius und Augustinus, was unter Theologen und Kanonisten heftige Diskussionen darüber auslöste, wie die entsprechenden Stellen auszulegen seien. Die Dekretisten30 – Gelehrte, die sich speziell mit der Interpretation des Decretum Gratiani beschäftigten – führten eine Reihe von Argumenten und Distinktionen ein, auf die in späteren Werken immer wieder rekurriert wurde.31 26 Müller, Vom Almosen zum Spendenmarkt (wie Anm. 5), S. 101 f., S. 109 f. und S. 112 f. 27 Ambrosius: De officiis, hg. v. Ivor J. Davidson. Oxford 2001, Liber II , XIV , 76–77. 28 Augustinus, Aurelius: Opera. Bd. 10, 3: Enarrationes in Psalmos CI–CL. Turnholti 1956, Ps 102,6,13, S. 1463 f.; ebd., Ps 103,14,10, S. 1508 f. 29 Zapp, Hartmut: Gratian. In: Bautier, Robert-Henri (Hg.): Lexikon des Mittelalters (LexMA). Bd. 4. München 1989 (Brepolis Medieval Encyclopaedias – Lexikon des Mittelalters Online), Sp. 1658; ders.: Decretum Gratiani. In: Bautier, LexMA (ebd.), Bd. 3 (1986), Sp. 625. 30 Weigand, Rudolf: Dekretisten, Dekretistik. In: Bautier, LexMA (wie Anm. 29), Bd. 3, Sp. 661– 664. 31 Tierney, Brian: The Decretists and the »Deserving Poor«. In: Comparative Studies in Society and History 1 (1959) 4, S. 360–373, hier S. 361–363; Felten, Zusammenfassung (wie Anm. 2), S. 384.
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Besonders einflussreich war die 1160 verfasste Erörterung (Summa) des Kanonisten und späteren Bischofs von Assisi, Rufinus.32 Dieser argumentierte, dass bei der Vergabe von Almosen vier Faktoren zu beachten seien: die Eigenschaften des Bittstellers, die Ressourcen des Gebers, der Grund der Bitte und die Höhe der Forderung. Bei Bettlern unterschied Rufinus zwischen wirklich Bedürftigen (›honesti‹) und solchen, die eigentlich arbeitsfähig waren, es aber vorzogen zu betteln und zu stehlen (›inhonesti‹). Erstere sollten versorgt, Letztere jedoch gemaßregelt werden. Wenn die Mittel des Gebers ausreichten, konnten alle ›honesti‹ bedacht werden, gab es jedoch nicht genug für alle, so war gemäß der von Ambrosius gesetzten Reihung der ›caritas ordinata‹ vorzugehen. Danach sollte ein Mensch zuerst Gott, dann seine Eltern und seine Kinder, dann die Personen, die zu seinem Haushalt gehörten, und zuletzt Fremde lieben. Spätere Kommentatoren des Decretum Gratiani verfeinerten und modifizierten die Schlussfolgerungen oder bereicherten die Debatte um weitere Aspekte. Im Großen und Ganzen stimmten die Dekretisten darin überein, dass Armut nicht als moralische Verfehlung zu betrachten war, dass es aber (›würdigere‹) Arme gab, die die Hilfe mehr verdienten als andere und die bei begrenzten Ressourcen zu bevorzugen waren. Uneinigkeit herrschte jedoch darüber, ob und wann Bittstellern die Fürsorgeleistungen verwehrt werden konnten oder sollten. Ein Teil der Kanonisten war der Ansicht, dass einem Bedürftigen nur aufgrund unzureichender Mittel die Hilfe versagt werden dürfe. Andere meinten hingegen, dass es ›unwürdige‹ Arme gebe, die aus Prinzip vom Almosen auszuschließen seien. Immer wieder genannt wurden in diesem Zusammenhang die Angehörigen unehrlicher Berufe, das Hauptkriterium war jedoch die Arbeitsfähigkeit. Wer es vorzog, zu betteln, obwohl er hätte arbeiten können, dem stand nach der Meinung der Dekretisten keine Unterstützung zu.33 Thomas von Aquin beschäftigte sich im 13. Jahrhundert in seiner Summa theologica mit Almosen und Bettelei. In seinen Ausführungen zur Almosenspende konzentrierte er sich überwiegend auf die Geber. Thomas stellte die ungleiche Verteilung von Vermögen nicht in Frage, erlegte den Wohlhabenden aber eine strenge Almosenpflicht auf. Zwar sollte eine Person immer so viel behalten, wie für ihren Lebensunterhalt und auch für ein standesgemäßes Dasein notwendig war, der Überfluss (lat. ›superfluum‹) aber sollte als Almosen gegeben werden.34 Der individuellen Situation des 32 Weigand, Rudolf: Rufinus, Kanonist. In: Bautier, LexMA (wie Anm. 29), Bd. 7 (1995), Sp. 1089. 33 Tierney, The Decretists (wie Anm. 31), S. 364–370. Edition der Summa des Rufinus, ebd., S. 371 f. 34 Thomas von Aquin: Summa theologica II–II , 23–33. Die Liebe (1. Teil) (Die
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Almosenempfängers schenkte Thomas relativ wenig Aufmerksamkeit. Er setzte – wiederum fixiert auf den Geber – für die Almosenpflicht zwar voraus, dass der Bedürftige sich tatsächlich in einer Notlage befand, und forderte eine Unterscheidungsgabe beim Verteilen (»est discretio adhibenda«), erläuterte dies aber nicht weiter und verlangte auch keine Überprüfung. Dennoch empfahl Thomas mit Bezug auf Ambrosius, dass die verschämten Armen bei der Almosengabe besonders zu berücksichtigen seien und dass Alter und Gebrechlichkeit eine Rolle spielen sollten.35 Weiter vertrat Thomas eine Arbeitspflicht. Betteln war seiner Ansicht nach, abgesehen von den Bettelorden, deren Tätigkeit letztlich dem Gemeinwohl zugutekam, nur denjenigen erlaubt, die nicht in der Lage waren zu arbeiten oder die von ihrer Arbeit nicht leben konnten. Starke Bettler (lat. ›mendicantes validi‹) aber würden zu Recht durch das bürgerliche Gesetz mit Strafen belegt.36 Einige Dokumente zeigen, dass die Semantik des würdigen Armen nicht nur in hochgelehrten theologischen und kanonistischen Abhandlungen erörtert wurde, sondern auch in der allgemeinen Wahrnehmung präsent war. So verfügte bereits Papst Gregor der Große in einem seiner Briefe im 6. Jahrhundert, dass an die Bedürftigen, die sich schämten zu betteln, ein weitaus höherer Geldbetrag verteilt werden solle als an die übrigen Armen.37 In seinem 1185 verfassten Testament bedachte ein Luccheser Bürger eine Reihe von geistlichen Institutionen, darunter auch viele Hospitäler, mit Deutsche Thomas-Ausgabe, 17A). Heidelberg [u. a.] 1959, Quaestio 32,5– 6; Keck, Andreas: Das philosophische Motiv der Fürsorge im Wandel. Vom Almosen bei Thomas von Aquin zu Juan Luis Vives’ De subventione pauperum. Würzburg 2010 (Diss. München 2009), S. 70–79; Müller, Vom Almosen zum Spendenmarkt (wie Anm. 5), S. 138–140. 35 Thomas von Aquin, Summa theologica II–II (wie Anm. 34), Quaestio 32,5 und 10; Keck, Das philosophische Motiv (wie Anm. 34), S. 80–84; Müller, Vom Almosen zum Spendenmarkt (wie Anm. 5), S. 139–143. 36 Thomas von Aquin, Summa theologica II–II (wie Anm. 34), S. 183–189. Stände und Standespflichten (Die Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 24). Heidelberg [u. a.] 1952, Quaestio 187,5; Müller, Vom Almosen zum Spendenmarkt (wie Anm. 5), S. 143 f.; Scherpner, Hans: Die Arbeitspflicht der Armen und die Individualisierung der Armenpflege bei Thomas von Aquin. Eine Vorstudie zur Entstehungsgeschichte der neuzeitlichen Fürsorge. In: Polligkeit, Wilhelm [u. a.] (Hg.): Fürsorge als persönliche Hilfe. Festgabe für Prof. Dr. Christian Jasper Klumker zum 60. Geburtstag am 22. Dezember 1928. Berlin 1929, S. 186–204, hier S. 188–195. 37 MGH , Epistolae (in Quart), Bd. 2: Gregorii I papae Registrum epistolarum. Libri VIII–XIV , hg. v. Paul Ewald und Ludo Moritz Hartmann. München 1892– 1899 (ND 1992), XI , 22: «hominibus honestis ac egenis, quos publice petere uerecundia non permittit, solidi centum quinquaginta, [. . .] reliquis uero pauperibus, qui elemosinam publice petere consueuerunt, solidi triginta sex.«
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Geldbeträgen. Das größte Legat jedoch bestimmte er explizit für die verschämten Armen der Stadt Lucca (»verecundis pauperibus Lucensis civitatis«).38 In Lucca gab es bereits 1246 einen Beauftragten, der für verschämte Arme, andere Arme sowie die Schwachen und Kranken der Stadt zuständig war,39 was dafür spricht, dass Bedürftige differenziert wahrgenommen und vielleicht auch unterschiedlich behandelt wurden. Im 13. Jahrhundert mehren sich in Italien die Beispiele dafür, dass verschämte Arme als besondere Zielgruppe der Fürsorge in Bruderschafts- und Hospitalsstatuten erscheinen.40 Hinweise auf eine Klassifizierung der Fürsorgeempfänger finden sich auch in Rechtsquellen. Als wichtiges Kriterium für bzw. gegen die Unterstützungswürdigkeit einer Person wurde auch in diesen Texten oft die tatsächliche oder vermeintliche Arbeitsfähigkeit genannt. Eine Vorlage findet sich im römischen Recht. In den im 6. Jahrhundert zusammengestellten Epitome Iuliani gibt es eine Passage, in der bestimmt wurde, dass sich ein sich in der Stadt aufhaltender starker (lat. ›robustus‹), also arbeitsfähiger Armer in öffentlichen Werkstätten oder im Handwerk betätigen sollte. Weigerte er sich jedoch, zu arbeiten (»sin autem noluerit operari«), war er aus der Stadt auszuweisen. Körperlich Schwache (»qui corpora debiliora habent«) hingegen sollten aus christlicher Barmherzigkeit (»misericordia Christianorum«) versorgt werden.41 Diesem Abschnitt der im Frühmittelalter im westeuropäischen Raum stark rezipierten Rechtssammlung liegen byzantinische Gesetzestexte des 4. Jahrhunderts zugrunde.42 Auch auf dem ersten Konzil von Orle´ans im Jahre 511 unterschied man zwischen arbeitsfähigen und nicht arbeitsfähigen Bedürftigen. Die Bischöfe wurden angewiesen, solche Arme und Schwache mit Kleidung und Nahrung zu versorgen, die nicht in der Lage waren, mit ihren Händen zu arbeiten.43 38 Archivio di Stato di Lucca, S. Giovanni 1185–01–14. 39 »Factor et dispensator seu procurator pauperum verecundiosorum et aliorum pauperum et infirmorum et attrattorum lucensis civitatis«. Archivio di Stato di Lucca, Compagnia della Croce: 1246–04–04, 1246–04–17, 1247–05–24. 40 Dort, Armenfürsorge in Lucca (wie Anm. 14), S. 141. 41 Iulianus Constantinopolitanus: Iuliani epitome Latina novellarum Iustiniani, hg. v. Gustav Friedrich Haenel. 1873. Osnabrück 1965, Constitutio LXXIV , Nr. 271, 4. 42 Scherner, Karl-Otto: Ut propriam familiam nutriat – Zur Frage der sozialen Sicherung in der karolingischen Grundherrschaft. In: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 111 (1994), S. 330–362, hier S. 357–359. 43 MGH Concilia, Bd. 1: Concilia aevi Merovingici [511– 695], hg. v. Friedrich Maassen. Hannover 1893 (ND 1989), S. 6 c. 16: «Episcopus pauperibus vel infirmis, qui debilitate faciente non possunt suis manibus laborare, victum et vestitutum, in quantum possebilitas habuerit, largiatur.«
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Die karolingischen Kapitularien, und hier vor allem die überwiegend zwischen 802 und 829 erlassenen Gesetze Karls des Großen und Ludwigs des Frommen, enthalten zahlreiche Bestimmungen, die Armen und Schwachen Rechtssicherheit, Schutz vor Unterdrückung und materielle Unterstützung gewähren sollten. In den Kapitularien wurde aber auch deutlich formuliert, dass arbeitsfähige und betrügerische Bettler aus der Fürsorge auszuschließen waren. So forderte Karl der Große in einem seiner Gesetze zunächst die Grundherren auf, ihre ›eigenen‹ Armen zu versorgen und zu verhindern, dass diese bettelnd umherzogen. Wenn aber wandernde Bettler aufgefunden wurden, sollten diese keine Almosen erhalten, wenn sie sich weigerten, mit ihren Händen zu arbeiten.44 In einem anderen Kapitular bestimmte sein Sohn Ludwig, dass zur Aufsicht über Bettler und Arme Verwalter eingesetzt werden sollten, die die Aufgabe hatten, Simulanten ausfindig zu machen, damit sich keine Betrüger unter die wirklich Bedürftigen mischten.45 Immer wieder erscheint also die Arbeitsfähigkeit als einschränkende Semantik, nach der darüber entschieden wurde, ob ein Bettler an der Fürsorge teilhaben sollte oder nicht. Ebenso wie die theologischen Begründungen des christlichen Fürsorgeauftrags geht die Betonung der Arbeitspflicht letztlich auf die Bibel zurück, namentlich auf den Ausspruch des Paulus: »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.« (2 Thess. 3,10) Devianzsemantiken tauchen gelegentlich auch in hagiographischen Texten auf. Papst Gregor der Große berichtet etwa in seinen gegen Ende des 6. Jahrhunderts verfassten Dialogi mehrfach von betrügerischen oder aggressiv bettelnden Armen. So schilderte er, wie der heilige Isaak eines Tages von zerlumpten, fast nackten Pilgern (lat. ›peregrini‹) aufgesucht wurde, die ihn um Hilfe baten. Isaak erkannte jedoch, dass die Fremden ihre Kleider 44 MGH , Leges, Sectio 2: Capitularia regum Francorum I, hg. v. Alfred Boretius. Hannover 1883 (ND 1984), Nr. 46 c. 9: »De mendicis qui per patrias discurrunt volumus, ut unusquisque fidelium nostrorum suum pauperem de beneficio aut de propria familia nutriat, et non permittat aliubi ire mendicando; et ubi tales inventi fuerint, nisi manibus laborent, nullus eis quicquam tribuere praesumat.« Vgl. Scherner, Ut propriam familiam nutriat (wie Anm. 42), S. 355; Dort, Katrin / Reuther, Christian: Armenfürsorge in den karolingischen Kapitularien. In: Raphael, Lutz / Uerlings, Herbert (Hg.): Zwischen Ausschluss und Solidarität. Modi der Inklusion / Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike (Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 6). Frankfurt a.M. [u. a.] 2008, S. 133–164, hier S. 148. 45 MGH Capit. I (wie Anm. 44), Nr. 146 c. 7: »Ut super mendicos et pauperes magistri constituantur qui de eis magnam curam et providentiam habeant, ut [. . .] ores et simulatores inter eos se celare non possint.« Vgl. Dort / Reuther, Armenfürsorge (wie Anm. 44), S. 148.
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vorher versteckt hatten, um ihn in betrügerischer Absicht (»fraudulenter«) um neue Gewänder zu bitten. Isaak ließ den Pilgern ihre eigenen Kleidungsstücke, die einer seiner Schüler aus dem Versteck geborgen hatte, zurückgeben.46 Ähnliches ist in der wohl im 12. oder 13. Jahrhundert entstandenen Lebensbeschreibung des heiligen Lidanus zu lesen. Zu diesem kamen drei nackte Arme (lat. ›pauperes‹) und flehten um Unterstützung. Lidanus gab ihnen zunächst zu essen und zu trinken, händigte ihnen danach aber ihre eigenen Kleider aus, die sie zuvor versteckt hatten.47 Es ist wahrscheinlich, dass diese Szene in der Lidanusvita nach dem Vorbild der Isaakvita entstand, denn Gregors Dialogi waren ein im Mittelalter weit verbreiteter Text. Ein weiteres Mal erscheint das Motiv in der spätmittelalterlichen Vita des Robertus Salentinus († 1341). Auch darin wird erzählt, wie ein umherziehender Mann Armut und Nacktheit vortäuschte (»simulans paupertatem«/»simulans nuditatem«), um neue Kleidung zu erbetteln, was der Heilige natürlich als Betrug erkannte (»fictionem detegens«).48 In der Vita des heiligen Bonifatius, des Bischofs von Ferentino, erzählt Gregor, dass Bonifatius eines Tages nach der Messe von einem ›nobilis vir‹ namens Fortunatus in dessen Haus eingeladen wurde. Kaum hatten sich die beiden zu Tisch begeben und noch ehe der Bischof Gott ein Lobgebet gesprochen hatte, erschien ein Mann mit einem Affen (»vir cum simia«) vor der Tür und schlug, um Nahrung zu erbitten (»victum quaerere«), die Zimbel, wie dies gewisse Spielleute zu tun pflegten (»sicut quidam ludendi arte solent«). Bonifatius war darüber so verärgert, dass er den nahen Tod des Mannes ankündigte. Dennoch befahl der Bischof, den Bettler »pro caritate« mit Speis’ und Trank zu versorgen. Aber sobald der »infelix vir« Brot und Wein erhalten und sich auf den Weg nach draußen gemacht hatte, wurde er von einem gewaltigen Stein erschlagen.49 Ein anderes Mal, so fährt Gregor fort, kamen unerwartet (»subito«) einige Arme (»pauperes«) zu Bischof Bonifatius und forderten dreist (»inportune precabantur«), dass er ihnen zur Linderung ihrer Not etwas geben müsse (»ad consolationem suae inopiae aliquid largire debuisset«). Ebenso wie der Bettler, der den Bischof so erzürnte, erhielten auch diese Armen Almosen.50 46 Gregorius Magnus: Dialogi. Libri IV , hg. v. Umberto Moricca. Rom 1924, Liber III ,14. 47 De Sancto Lidano seu Ligdano Abbate, Setiae in Latio: Vita et Miracula. In: Acta Sanctorum (wie Anm. 12), Juli, Bd. 1 (2001), S. 343–348, hier Pars II ,10, S. 345 f. 48 De B. Roberto Salentino S. Petri Caelastini Discipulo prope Sulmonem in Aprutio Citeriori: Vita. In: Acta Sanctorum (wie Anm. 12), Juli, Bd. 4 (2001), hier Caput III ,31, S. 501. 49 Gregorius Magnus, Dialogi (wie Anm. 46), Liber I, 9. 50 Gregorius Magnus, Dialogi (wie Anm. 46), Liber I, 9.
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Interessant an diesen meist in Mirakelberichte eingebundenen Szenen ist die Darstellung oft fremder Armer als betrügerisch und die eindeutig negative Bewertung von aufdringlichen Bettlern. In der Vita des Fortunatus hielt es der Autor offensichtlich sogar für angemessen, dass ein unverschämter und den als Angehörige eines unehrlichen Berufes geltenden Spielleuten nahestehender – devianter – Bettler, der einen Heiligen belästigte, durch göttliche Intervention zu Tode kam. Dass die Armen in allen Fällen trotz ihres ungebührlichen Verhaltens mit Almosen versorgt wurden, unterstreicht die Tugendhaftigkeit der Heiligen, deren Barmherzigkeit alle einschloss. Einerseits können die vorgestellten Passagen als Kritik an aggressiven Formen des Bettelns und Ausdruck eines Misstrauens gegenüber Bettlern verstanden werden, andererseits zeigen sie, dass das christliche Ideal der bedingungslosen Karitas weiterhin gültig war. Fazit Im Mittelalter hatte die christliche Universalsemantik, die eine Teilhabe aller an karitativen Leistungen wie auch eine gesellschaftliche Totalinklusion beanspruchte, große Bedeutung. Dennoch kam es in verschiedenen Bereichen der Bedürftigenhilfe zu Entwicklungen, die dieser Semantik zuwiderliefen. Bei Fürsorgeeinrichtungen unterschiedlicher Zeitstufen lassen sich Prozesse der sozialen Differenzierung und Schließung wie auch eine ungleiche Behandlung von zu versorgenden Personen beobachten. Diese Diskrepanzen zum vielfach formulierten Ideal der Inklusion ergaben sich einerseits aus äußeren Bedingungen wie begrenzten Ressourcen oder konträren Interessen verschiedener Akteure. Andererseits standen der christlichen Universalsemantik weitere, zum Teil ebenfalls religiös legitimierte Vorstellungen gegenüber, so etwa der Vorrang des Gemeinwohls und die Gottgewolltheit gesellschaftlicher Ordnung. In den Quellen lassen sich auf semantischer Ebene zwei Strategien erkennen, mit denen versucht wurde, die offensichtlichen Widersprüche zum christlichen Inklusionspostulat zu überwinden. Zum einen wurden die Diskrepanzen in Transzendenz aufgelöst. Dies zeigt sich etwa dann, wenn die Anzahl der zu versorgenden Armen durch eine auf die Zwölfzahl der Apostel verweisende liturgische Semantik begrenzt wurde, oder darin, dass die armen Reisenden im Kloster zwar nicht dieselben materiellen Leistungen erhielten wie die Reichen und Mächtigen, ›im Geiste‹ jedoch mit gleicher oder sogar größerer Achtung behandelt werden sollten. Zum anderen konnte der Ausschluss von Armen aus der Fürsorge über Devianzzuschreibungen legitimiert werden. Entsprechende Argumentationen, die die
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Arbeitsfähigkeit zum entscheidenden Kriterium für die Unterstützungswürdigkeit erhoben und gerade fremden Bettlern betrügerische Absichten und aufdringliches Verhalten vorwarfen, finden sich seit der Spätantike immer wieder in verschiedenartigen Quellenzeugnissen. Inwiefern diese Semantiken in die Fürsorgepraxis übertragen und bestimmten Personen tatsächlich Hilfsleistungen versagt wurden, lässt sich anhand der eingeschränkten Überlieferung nicht beantworten. Deutlich wird jedoch, dass die den ›starken Bettlern‹ gegenüberstehenden, besonders unterstützungswürdigen ›verschämten Armen‹ bei der Verteilung von Almosen durchaus bevorzugt wurden. Betrachtet man die genannten Prozesse der sozialen Differenzierung und Schließung wie auch die Ungleichbehandlung in karitativen Einrichtungen vor dem Hintergrund von Niklas Luhmanns Modell der stratifizierten Gesellschaft, lassen sich die innerhalb der Institutionen entstehenden Strukturen als eine Nachbildung eben jener stratifizierten Gesellschaft im Kleinen interpretieren. Die bestehenden weltlichen Hierarchien wurden bestätigt, während damit einhergehend in prekärer Situation lebenden Armen durch die Schließung der Einrichtungen eine Möglichkeit genommen wurde, in einen Haushalt inkludiert zu werden. Luhmann stellt die Prämisse auf, dass stratifizierte Gesellschaften für ihre Existenz und den Fortbestand der Differenzierungsform ein ›Außen‹ brauchen, da es »Inklusion nur [gibt], wenn Exklusion möglich ist. Erst die Existenz nichtintegrierbarer Personen oder Gruppen läßt soziale Kohäsion sichtbar werden und macht es möglich, Bedingungen dafür zu spezifizieren«.51 Während Arme (lat. ›pauperes‹) im Mittelalter einen großen Teil der Bevölkerung ausmachten und innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung wichtige Funktionen übernahmen, lassen sich die ›starken Bettler‹ auf normativer Ebene im ›Außen‹ verorten. Die Widersprüche zur christlichen Inklusionssemantik, die sich durch diese Exklusion ergaben, konnten durch die Zuschreibung von Devianz überwunden werden. Der Grund für einen Ausschluss aus der Fürsorge und damit auch den Verbleib bestimmter Bedürftiger im Exklusionsbereich der Gesellschaft wurde so zu deren eigenem Verschulden erklärt.52 Die Kriterien für deviantes Verhalten wie auch die Konsequenzen der Devianzmarkierung waren dabei immer wieder Gegenstand von Aushandlung. Diese Unsicherheit der Zuschreibung und damit der Entscheidung darüber, wer in den gesellschaftlichen Exklusionsbereich 51 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1998, S. 621. 52 Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 51), S. 623. »[E]ine religiöse bzw. arbeitsorganisatorische Sinngebung sorgt dafür, daß die soziale Ordnung von ihren Exklusionseffekten her nicht in Frage gestellt wird.«
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geriet, drängte bedürftige Personen möglicherweise dazu, sich besonders konform zu verhalten. Auch wurde in der Auseinandersetzung über die Bedingungen der Fürsorge die Grenze zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ der Gesellschaft stets mitverhandelt. Unabhängig von ihrer tatsächlichen praktischen Anwendung trug die Kommunikation über die Semantiken somit zur Stabilisierung der sozialen Ordnung bei.
Konversion, Inklusion, Exklusion. Zur narrativen Identität des ›Taufjuden‹ in Spätmittelalter und Früher Neuzeit Christoph Cluse
Die Frage, mit welchen Begriffen die Stellung der jüdischen Minderheit in der lateinischen Welt des europäischen Mittelalters am besten beschrieben werden sollte, ist aktuell umstritten.1 Folgen wir den funktionalen oder ständetheoretischen Entwürfen von ›Gesellschaft‹, die von den Protagonisten der christlichen Mehrheit seit dem 11. Jahrhundert vorgestellt worden sind, dann deckt sich der Begriff der Gesellschaft praktisch mit dem der ›Christianitas‹. Diese Selbstreferenz wird aus der Vorstellung von einem göttlichen Heilsplan entwickelt, in welchem das Christusereignis als zentraler Dreh- und Angelpunkt Vergangenheit und Zukunft, Immanenz und Transzendenz verbindet. In den Ständelehren seit dem 13. Jahrhundert wird unter diesen Vorzeichen auch der als stratifiziert begriffene Aufbau der ›Christianitas‹ als gottgewollt vorgestellt.2 Für Andersgläubige musste dagegen eine andere Form der Unterscheidung getroffen werden, sie waren kein Stratum der so begriffenen Gesellschaft – dem Grundsatz nach wurden sie im ›Außen‹ verortet. Ihre Existenz lässt damit zugleich, um ein Diktum Niklas Luhmanns aufzugreifen, »soziale Kohäsion sichtbar werden und macht es möglich, Bedingungen dafür zu spezifizieren«.3 1 Dies zeigt sich insbesondere mit Blick auf die umstrittene Charakterisierung der Juden als ›Randgruppe‹; dazu Gilomen, Hans-Jörg: Juden in den spätmittelalterlichen Städten des Reichs. Normen, Fakten, Hypothesen. Trier 2009. 2 Vgl. beispielsweise die beiden franziskanischen, Berthold von Regensburg zugeschriebenen deutschen Predigten X 10 »Von zehen körn der engele und der cristenheit« und X 23 »Von drin muˆren«, in denen der »Acker« von Mt 13,44 als Gleichnis für »die heilige Christenheit« begriffen wird. Diese ist ständisch gegliedert (X 10) und von drei Schutzmauern umgeben, der geistlichen, der weltlichen und der himmlischen (X 23). Den weltlichen Herrschaftsträgern obliegt ausdrücklich der Schutz ›vor jüden unde vor heiden unde vor ketzern‹. Allein der Schutz der himmlischen Mächte gilt dagegen allen Menschen, nicht nur der Christenheit. Berthold von Regensburg: Vier Predigten. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hg. v. Werner Röcke. Stuttgart 1983, S. 56–99 und S. 144–182 (Zitat S. 156 und S. 164). Zum vermuteten Entstehungszusammenhang vgl. das Nachwort ebd., S. 239. 3 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1998, S. 621.
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Dies gilt prinzipiell auch für die Juden – diejenigen, die das Axiom des so imaginierten Systems nicht anerkennen –, aber doch nicht ganz: Denn ungeachtet der semantischen Verortung im ›Außen‹ wurden sie in den gesellschaftlichen Bezügen von Recht, Wirtschaft, Herrschaft und Nachbarschaft ja durchaus adressiert – ein Umstand, den es auch theoretisch (mithin theologisch) zu reflektieren galt, wofür in der gemeinsamen Überlieferung genügend Material zur Verfügung stand. In den spätmittelalterlichen Diskursen über Juden und Judentum ergab sich daraus ein komplexes Gemenge von Identitäts-, Alteritäts- und Devianzzuschreibungen. Vor diesem Hintergrund scheint die Konversion von Juden zum Christentum auf den ersten Blick eine erfolgversprechende Strategie ihrer Inklusion und zugleich der Integration von ›Gesellschaft‹ zu bieten. Das hier untersuchte Material legt allerdings einen anderen Schluss nahe: Nicht die Markierung religiöser Zugehörigkeit entschied über den Erfolg eines Inklusionsversuchs, sondern die faktische Aufnahme in einen Haushaltsverband, sei dieser nun familiär fundiert oder religiös, wie im Fall eines Klosters. Zur Klärung dieses Widerspruchs zwischen Semantiken und Praktiken des Inklusions-/Exklusionsregimes könnte Luhmanns systemtheoretischer Ansatz insofern beitragen, als auch er »[d]ie Bedeutung der Haushalte für stratifizierte Gesellschaften« hervorhebt: »Die Haushalte, nicht die Individuen, sind die Einheiten, auf die sich die Stratifikation bezieht.«4 Für die »Zuweisung eines sozialen Status« an den Einzelnen hält die stratifizierte Gesellschaft im Unterschied zur segmentär differenzierten zwar schon »mehrere, nicht nur gleiche, sondern ungleiche Möglichkeiten bereit«. Für das offenkundige Scheitern so vieler Versuche der Inklusion durch Konversion könnte aber der Umstand entscheidend sein, dass die »Exklusion [...] nach wie vor durch die Haushalte geregelt« wurde, »also auf der Basis von Segmentierung«, worin Luhmann übrigens auch einen Grund für die im Spätmittelalter wachsende Zahl »von haus- und herrenlosen Menschen« sieht.5 Unsere Auswahl ist nicht zuletzt wegen dieser systematischen Rolle der Haushalte auf die nordalpinen Siedlungsgebiete der aschkenasischen Juden begrenzt: Anders als in Unteritalien und auf der iberischen Halbinsel, wo seit dem Ende des 13. bzw. 14. Jahrhunderts im Gefolge von Pogromen viele Familien (d. h. komplette Segmente) konvertierten und regelrechte Gemeinden von ›Conversos‹ oder ›Neofiti‹ entstanden, kamen Übertritte 4 Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 3), S. 697. 5 Niklas Luhmann: Inklusion und Exklusion. In: Berding, Helmut (Hg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Frankfurt a. M. 1994, S. 15– 45, hier S. 21–23; zum Zusammenhang von Konversion und Vagantentum vgl. unten, zu Anm. 57.
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zum Christentum in Aschkenas in der Regel nur einzeln vor.6 In Anbetracht des komplexen Inklusions-/Exklusionsregimes erscheint es darüber hinaus unabdingbar, die beteiligten Akteure und speziell die Selbstbeschreibungen von Konvertiten genauer in den Blick zu nehmen, wenn man die Vorgänge der Inklusion und Exklusion zwischen Christen und Juden besser verstehen will.7
1. Religiöse Differenz und gesellschaftliche Differenzierung Die Zuschreibung ›Jude‹ (bzw., mit nicht unbedeutenden geschlechtsspezifischen Variationen, ›Jüdin‹) implizierte in der Vormoderne ein ganzes Bündel von gesellschaftlichen In- und Exklusionen. In diesem Bündel nahm die Religion zweifellos die dominante Funktion ein. Allerdings stimmten Juden und Christen seit der Spätantike auch darin überein, dass es sich beim Judentum, anders als beim Christentum, nicht um eine ›Konfession‹ mit den daraus abgeleiteten Handlungsnormen, sondern vor allem um ein ›Volk‹ handelte. Daraus folgt, dass Konnubium, Erziehung und Moral eng mit der religiösen Tradition verkoppelt waren (und bei Bedarf von der anderen Seite als different oder auch deviant markiert werden konnten). Insofern die religiösen Differenzen sich zuvörderst an der Frage des rechten Verständnisses einer gemeinsamen biblischen Tradition entzündeten, konnten sie darüber hinaus leicht auf ein Feld übergreifen, das wir heute dem Funktionssystem ›Wissenschaft‹ zuweisen würden; mangelnde ›Einsicht‹ des jeweiligen Gegenübers ließ sich also leicht auf dessen (individuellen oder kollektiven) Mangel an Rationalität zurückführen.8 Aus der religiösen Tradition der lateinischen Kirche stammen jene Normen, die über Jahrhunderte hinweg die Duldung einer jüdischen Minderheit 6 Zeldes, Nadia: ›Universitas Neophitorum‹. Legal Aspects of the Mass-Conversion in South Italy and Sicily. In: Sefer Yuhasin 24/25 (2008/2009), S. 43– 69; Nirenberg, David: Spanish ›Judaism‹ and ›Christianity‹ in Age of Mass Conversion. In: Cohen, Jeremy / Rosman, Moshe (Hg.): Rethinking European Jewish History. Oxford 2009, S. 149–172. 7 Vor allem die neuere Forschung zur Geschichte der jüdisch-christlichen Konversionen in der Frühen Neuzeit hat in dieser Hinsicht bedeutende Fortschritte zu verzeichnen: Vgl. bes. Carlebach, Elisheva: Divided Souls. Converts from Judaism in Germany, 1500–1750. New Haven 2001; Ries, Rotraud: ›Missionsgeschichte und was dann?‹ Plädoyer für eine Ablösung des kirchlichen Blicks. In: Aschkenas 15 (2005) 2, S. 271–301; Deventer, Jörg: Konversion und Konvertiten im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Stand und Perspektiven der Forschung. In: Ebd., S. 257–270. 8 Vgl. Abulafia, Anna Sapir: Christians and Jews in the Twelfth Century Renaissance. London 1995.
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im lateinischen Europa gewährleisteten. Die theologische Begründung weist freilich eine tiefe Ambivalenz auf: Die Juden sollten ja vor allem deshalb geduldet werden, weil sie den Christen als lebendige Erinnerung an die Passion Christi dienten und weil sie gemäß der von Paulus im Römerbrief geäußerten Hoffnung am Ende der Zeiten zum Christentum konvertieren würden.9 Letztlich diente ihre fortdauernde Präsenz lediglich zum Beweis ihrer eigenen Verworfenheit. Diese Ambivalenz prägte seit dem 12. Jahrhundert auch die maßgeblichen Normen des Kirchenrechts, das die Garantie grundlegender Freiheiten mit der Forderung nach deutlich markierter gesellschaftlicher Unterordnung verband. In noch höherem Maße als das Christentum kann das vormoderne Judentum selbst als eine Rechtstradition angesprochen werden. Teilweise aus der spätantiken Tradition und teilweise aus deren Interpretation zum Zwecke der Anpassung an die Lebensbedingungen in der Diaspora bezogen die Juden des abendländischen Mittelalters einen umfangreichen Bestand an rechtlichen Normen und Mustern. Deren Wahrung im Interesse einer an der Religion ausgerichteten Lebensführung erforderte nicht nur ein hohes Maß an gemeinschaftlicher Organisation, sondern in zunehmendem Maße auch Garantien vonseiten der nichtjüdischen Herrschaftsträger. Seit dem hohen Mittelalter sind diese Zusicherungen in Form von Privilegien und Schutzbriefen erhalten, deren Bestimmungen das Ergebnis von Aushandlungsprozessen darstellen; sie sind darüber hinaus in Rechtsbüchern, Schöffensprüchen und zahlreichen lokalen Kodifikationen als geltende Rechtsgewohnheit anerkannt.10 Aus dem Schutzbedürfnis einer religiösen und rechtlichen Minderheit ergaben sich in allen Ländern der jüdischen Diaspora intensive Beziehungen zu den nichtjüdischen Herrschaftsträgern in Form immediater Bindungen, die besonders in Besteuerung und Gerichtswesen Ausdruck fanden. Zugleich aber waren Juden durch Mechanismen, die sich aus der räumlichen Nachbarschaft ergaben, vielfach individuell oder kollektiv auf der lokalen, gleichsam ›horizontalen‹ Ebene der städtischen Einwohnerschaft als ›Bürger‹ den christlichen Bürgern beigeordnet.11 Das Prinzip der Beteili9 Cohen, Jeremy: Living Letters of the Law. Ideas of the Jew in Medieval Christianity. Berkeley [u. a.] 1999. 10 Lotter, Friedrich: Talmudisches Recht in den Judenprivilegien Heinrichs IV. ? Zu Ausbildung und Entwicklung des Marktschutzrechts im frühen und hohen Mittelalter. In: Archiv für Kulturgeschichte 72 (1990) 1, S. 23– 61; Magin, Christine: Wie es umb der iuden recht stet. Der Status der Juden in spätmittelalterlichen deutschen Rechtsbüchern. Göttingen 1999. 11 Haverkamp, Alfred: ›Concivilitas‹ von Christen und Juden in Aschkenas wäh-
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gung an den gemeinschaftlichen Lasten hatte auch hier fiskalische Implikationen, der Rechtsschutz für den jüdischen Bürger näherte sich dem ›Judenschutz‹ des Königs oder Territorialherrn besonders dort an, wo sich eine städtische Obrigkeit herausgebildet hatte. Aus diesen unterschiedlichen Bindungen ergab sich wiederum ein komplexes Spiel von Inklusion/Exklusion, bei dem die Juden stets in Gefahr geraten konnten, von innerchristlichen Entwicklungen betroffen und in externe Konflikte hineingezogen zu werden. Seit dem 12., spätestens dem 13. Jahrhundert nahmen die Rollen, die Juden im Wirtschaftsleben wahrnahmen, eine immer größere Bedeutung im Faktorenbündel ihrer Inklusions- und Exklusionsbeziehungen ein. Jüdische wie auch christliche Interpretationen der biblischen Tradition, Entwicklungen im jüdischen und im kirchlichen Recht sowie nicht zuletzt die fiskalischen Belastungen begünstigten die fokussierte Wahrnehmung ökonomischer Chancen im wachsenden Münz- und Geldwesen, insbesondere in der Geldleihe. Nicht wenige Juden und Jüdinnen erreichten damit – wie zuvor bereits durch eine Aktivität im Fernhandel – einen sozialen Status, der sich mit dem der führenden christlichen Stadtbewohner vergleichen lässt. Dies zeigt sich auch in ihren, wenn man so will, profan-kulturellen Orientierungen. Die Konzentration auf diese Gewerbe wiederum erforderte zunehmend eine Berücksichtigung im Rechtswesen, während ihr steuerlicher Aspekt in den politischen Bindungen eine immer größere Rolle spielte. Im Alltag führte sie zu unzähligen Begegnungen zwischen Christen und Juden vor allem bei kleineren oder größeren Kreditgeschäften, was die Wahrnehmung der Minderheit durch die Mehrheitsbevölkerung nachhaltig geprägt haben dürfte. Innerhalb der jüdischen Gemeinden generierte besonders nach 1350 die Tatsache, dass – mit Ausnahme von wenigen Rabbinern und Gemeindebediensteten – in der Regel nur die ökonomisch selbständigen Haushaltsvorstände über verbriefte Niederlassungsrechte verfügten, erhebliche soziale Unterschiede und Spannungen. Damit erfuhr die segmentäre Inklusion wieder eine Aufwertung. Die enge funktionale Koppelung der unterschiedlichen Inklusionen in Recht, Herrschaft und Ökonomie und ihre gleichzeitige Rückbindung an den Status der Juden als religiöser Minderheit zeigt sich deutlich in den semantischen Zuschreibungen vonseiten der zeitgenössischen Christen. Darin sind wiederum Recht, Herrschaft und Ökonomie eng aufeinander und auf den grundlegenden Differenzmarker der religiösen (d. h. zugleich ethnischen) rend des Mittelalters (zuerst 1994). In: Ders.: Gemeinden, Gemeinschaften und Kommunikationsformen im hohen und späten Mittelalter: Festgabe zur Vollendung des 65. Lebensjahres, hg. von Friedhelm Burgard [u. a.]. Trier 2002, S. 315–344.
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Zugehörigkeit bezogen. So wurde auch die in zunehmendem Maße und mit immer größerer Schärfe kritisierte Tätigkeit von Juden in der Zinsleihe als Symptom ihrer religiösen Normen und der damit verbundenen Ethik interpretiert. Nicht zufällig waren deshalb der ›Wucherjude‹ und der ›Talmudjude‹ als Inbegriffe der Negativ-Stereotypen des späten Mittelalters und der Neuzeit eng aufeinander bezogen.12 Selbstverständnis und Fremdwahrnehmung als ›Volk‹ eröffneten zudem die Möglichkeit, derartige Stereotypen auf die ›Natur‹ der Juden zu applizieren, was sich, wie wir sehen werden, auch auf die Etikettierung jüdischer Konvertiten zum Christentum ausgewirkt hat.
2. Konversion, Apostasie, Exklusion Die enge Verknüpfung von religiösem Bekenntnis, religiöser Praxis und religiösem Recht mit dem Selbstverständnis als ›Volk‹ war für die Auseinandersetzung der jüdischen Gelehrten des Mittelalters mit dem Phänomen der Apostasie und insbesondere der Konversion zum Christentum fundamental. Für eine irgendwie geartete Anerkennung des Taufakts hatten sie keinen Grund – bestenfalls handelte es sich um einen Unsinn. Schwerer wogen die Vernachlässigung der religiösen Gebote und die Übertretung von Verboten, am sinnfälligsten in Bezug auf die Speisegesetze. Insofern ›sündigte‹ der Apostat bzw. die Apostatin zwar, gehörte aber eben doch ›weiterhin zu Israel‹, wie der bedeutendste rabbinische Gelehrte des hohen Mittelalters, R. Salomo b. Isaak von Troyes (›Raschi‹, gest. 1104), in seinen wegweisenden Entscheidungen formulierte. Diesem Grundsatz folgten auch die späteren Rabbiner, wenn sie – im Einzelnen differenziert – darüber zu befinden hatten, inwieweit »der in seinem Unglauben verharrende Apostat die Rechte eines Juden beim Umgang mit seinen ehemaligen Glaubensbrüdern beanspruchen« durfte.13 Die meisten ihrer Entscheidungen betra12 Vgl. Patschovsky, Alexander: Der ›Talmudjude‹. Vom mittelalterlichen Ursprung eines neuzeitlichen Themas. In: Haverkamp, Alfred / Ziwes, Franz-Josef (Hg.): Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters. Berlin 1992, S. 13–27; Heil, Johannes: »Gottesfeinde« – »Menschenfeinde«. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung (13. bis 16. Jahrhundert). Essen 2006. 13 Von Mutius, Hans-Georg: Das Apostasieproblem im Lichte jüdischer Rechtsgutachten aus Deutschland, Frankreich und Italien vom Ende des 10. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts. In: Mohnhaupt, Heinz / Simon, Dieter (Hg.): Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1993, S. 1–24, hier S. 2; vgl. Katz, Jacob: Even Though a Sinner, he is still of Israel [Hebr.]. In: Tarbiz 27 (1958), S. 203–227; Rosensweig, Bernard: Apostasy in the Late Middle Ages in Ashkenazic Jewry. Dine´ Israel. An Annual of Jewish Law, Past and Present (1981–1983), S. 42–79; Haverkamp, Alfred: Getaufte Juden im
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fen den Bereich des Eherechts. Wenn beispielsweise ein jüdischer Mann die Taufe annahm, seine Frau jedoch am Judentum festhielt, bedurfte diese eines formellen Scheidebriefs, den nur ihr Mann ausstellen konnte, damit sie einen anderen Juden heiraten konnte. Sie war dabei weitgehend von seinem guten Willen abhängig, denn die jüdische Gemeinschaft konnte auf ihn kaum noch Druck ausüben.14 So lief sie Gefahr, zur ›Agunah‹ (einer ›Verlassenen‹) zu werden, mit gravierenden sozialen und ökonomischen Folgen. Ein ähnliches Schicksal drohte ihr bei einem abtrünnigen Levir, d. h. in dem Fall, dass ihr jüdischer Mann verstarb, während sie von ihm noch kinderlos war, und sein jüngerer Bruder – der nach jüdischem Recht die Leviratsehe mit ihr eingehen oder aber zur Ablösung derselben die sogenannte Chalizah-Zeremonie ausführen musste – dem Judentum den Rücken gekehrt hatte.15 Der Mainzer Rabbiner Jakob Molin (gest. 1427 in Worms) berichtet von einem Fall, in dem der Levir sich weigerte, seine Schwägerin auf diese Weise zu lösen, weil die Beteiligung an dem jüdischen Ritus in seinen Augen einer Häresie gleichgekommen wäre.16 Der Versuch, einen solchen Apostaten technisch als ›Nichtbruder‹ einzustufen, verfing nicht: Wie R. Israel Isserlein (gest. 1460 in der Wiener Neustadt) klarstellte, spricht die Torah zwar an vielen Stellen von dem ›Bruder‹ im übertragenen Sinne eines ›Mitjuden‹, nicht jedoch beim Gebot der Leviratsehe, wo es um leibliche Verwandtschaft und Nachkommenschaft geht.17 Trat umgekehrt die Ehefrau zum Christentum über, war die Lage für den im Judentum verbliebenen Mann einfacher, denn es war er, der gegebenenfalls den Scheidebrief ausstellen konnte.18 In diesen (seltener dokumentierten) Fällen kam es hauptsächlich dann zu Problemen, wenn die Frau nach einiger Zeit zum jüdischen Glauben zurückkehrte. Sie war dann nämlich
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regnum Teutonicum während des 12. Jahrhunderts [zuerst engl., 1995]. In: Ders., Gemeinden (wie Anm. 11), S. 447– 490; allgemein Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 26. Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 25. Rechtlich gesehen war dem Ehemann auch im Status der Apostasie der sexuelle Verkehr mit seiner jüdischen Frau keineswegs verboten: Rosensweig, Apostasy (wie Anm. 13), S. 60. Im umgekehrten Fall galt dies jedoch sehr wohl. Zur Frage, ob ein Scheidebrief gültig war, wenn dort neben dem jüdischen Namen des Apostaten auch sein neuer christlicher Name auftauchte, vgl. Goldin, Simh: Juifs et juifs convertis au moyen aˆge. ›Es-tu encore mon fre`re ?‹ In: Annales HSS 54 (1999) 4, S. 851–874, hier S. 856. Mutius, Apostasieproblem (wie Anm. 13), S. 11 f. Rosensweig, Apostasy (wie Anm. 13), S. 49 f. und S. 66. Rosensweig, Apostasy (wie Anm. 13), S. 64. Rosensweig, Apostasy (wie Anm. 13), S. 62, hält fest, dass die Frage, ob ein solcher Scheidebrief notwendig war, in Österreich anders beantwortet wurde als im Rheinland.
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ihrem Ehemann (auch ohne vorherige Scheidung) dem Grundsatz nach verboten, weil man unterstellte, dass sie während der Zeit als Christin sexuellen Verkehr mit nichtjüdischen Männern gehabt hatte.19 Besondere Probleme ergaben sich für Frauen, die anlässlich von Judenverfolgungen zwangsweise getauft worden waren und denen es später gelang, zum Judentum zurückzukehren. Die Rabbiner waren in solchen Fällen bestrebt, den Ehepartnern keine zusätzlichen Lasten aufzubürden und klassifizierten die derart Getauften rechtlich wie Kriegsgefangene, nicht wie Apostatinnen.20 Eine ganz andere Tendenz zeigt sich im Erbrecht. Hier blieb der Grundsatz, dass auch der Apostat Jude blieb, zwar ebenfalls anerkannt, die Rabbiner bemühten sich aber um eine rechtliche Absicherung der Enterbung zugunsten der im Judentum verbliebenen Familie.21 Raschi fand diese in der Gleichsetzung des Apostaten mit dem Denunzianten (hebr. ›Malshin‹); dadurch erhielt das jüdische Gericht die Möglichkeit, ihn für vogelfrei und sein Vermögen für herrenloses Gut zu erklären.22 Eine andere Begründung, die u. a. bei R. Gerschom b. Jehuda (gest. 1028 in Mainz) zu finden ist, bezieht sich auf die biblischen Vorbilder der Söhne Abrahams und Isaaks: »Wie Ismael und Esau könne auch ein Apostat seinen im Judentum verbliebenen Vater nicht beerben, weil er mit dem Religionswechsel der Heiligkeit seines Vaters verlustig und aus dem jüdischen Volk ausgeschieden sei.«23 In den Judenprivilegien von Speyer (1090) und Worms (1090?, 1157) ließen die rheinischen Gemeinden sich diesen Grundsatz durch die Kaiser Heinrich IV. bzw. Friedrich I. Barbarossa verbriefen.24 Schwieriger war es, 19 Rosensweig, Apostasy (wie Anm. 13), S. 73. 20 Dabei wurde durchaus anerkannt, dass die christlichen Machthaber in solchen Situationen bemüht waren, die zwangsgetauften Frauen vor sexuellen Übergriffen zu schützen; Goldin, Juifs et juifs convertis (wie Anm. 14), S. 871; vgl. Rosensweig, Apostasy (wie Anm. 13), S. 56 f., sowie Agus, Irving A.: Rabbi Meir of Rothenburg. His Life and his Works as Sources for the Religious, Legal, and Social History of the Jews of Germany in the Thirteenth Century, 2 Bde., Philadelphia / PA 1947, Nr. 241, S. 279 f. 21 Vgl. Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 25. 22 Mutius, Apostasieproblem (wie Anm. 13), S. 4. Zu dem grundlegenden Prinzip Hefker bet-din hefker vgl. auch Rosensweig, Apostasy (wie Anm. 13), S. 53. Zur Tradition der polemischen Kennzeichnung von Konvertiten als ›Malshinim‹ vgl. auch Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 22 (zu Josel von Rosheim), sowie Diemling, Maria: Anthonius Margaritha on the ›Whole Jewish Faith‹: A SixteenthCentury Convert from Judaism and his Depiction of the Jewish Religion. In: Bell, Dean Phillip / Burnett, Stephen G. (Hg.): Jews, Judaism, and the Reformation in Sixteenth-Century Germany. Leiden 2006, S. 303–334, hier S. 320 f. (über Anthonius Margaritha). 23 Mutius, Apostasieproblem (wie Anm. 13), S. 10.
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hinsichtlich des Apostaten eine Ausnahme vom innerjüdischen Zinsverbot (Dt 23,20, »du darfst von deinem Bruder keine Zinsen nehmen«) zu konstruieren. Raschi lehnte dies rundweg ab und die meisten späteren Gelehrten folgten ihm darin;25 andere bemühten sich bezeichnenderweise um eine Unterscheidung zwischen dem Mitglied der religiösen Gemeinschaft (›Jude‹) und seiner Zugehörigkeit zum Volk (›Israel‹).26 Hinsichtlich der religiösen Praxis war zu klären, ob es angemessen (bzw. überhaupt statthaft) war, für einen in der Apostasie verstorbenen Angehörigen zu trauern (man sollte nicht – zu beweinen war vielmehr der Verlust zum Zeitpunkt seiner Konversion27); ob Wein von einem Apostaten koscher war (nein – denn er konnte nicht garantieren, dass Nichtjuden ihn nicht angerührt hatten28); ob koscherer Wein nach Berührung durch einen Apostaten treˆf wurde (auch nicht – denn er war ja Jude29); in Bezug auf die Gemeinde stellte sich die Frage, ob ein einmal getaufter Armer weiterhin ein Anrecht auf gemeindliche Armenfürsorge hatte.30 Einige dieser Fragen deuten bereits darauf hin, dass die Taufe keineswegs immer einen vollständigen Abbruch der Kontakte nach sich zog.31 Tatsächlich kehrten viele Konvertiten nach erfolgter Taufe, und zwar sowohl nach Zwangstaufen als auch nach freiwilligen Übertritten, zum Judentum zurück.32 Die jüdischen Gelehrten hatten diese Möglichkeit immer in Betracht zu ziehen und waren wohl auch deshalb zurückhaltend mit ›abschreckenden‹ 24 Monumenta Germaniae Historica (MGH ) DD VI /2, Nr. 411 (Speyer 1090: »et sicut patrum legem reliquerunt, ita eciam et possessionem eorum«); MGH DD F I , S. 285 f., Nr. 166 (Worms 1157: »Et sicut legem patrum suorum reliquerunt, ita eciam relinquant hereditatem.«) Zur Analogie von »possessio« und »hereditas« in den beiden Dokumenten vgl. Mutius, Apostasieproblem (wie Anm. 13), S. 11 mit Anm. 30. 25 Mutius, Apostasieproblem (wie Anm. 13), S. 7 f.; Rosensweig, Apostasy (wie Anm. 13), S. 68 (R. Jakob Molin). 26 Rosensweig, Apostasy (wie Anm. 13), S. 69. 27 Goldin, Juifs et juifs convertis (wie Anm. 14), S. 867. 28 Mutius, Apostasieproblem (wie Anm. 13), S. 23; Agus, Rabbi Meir (wie Anm. 20), Nr. 130, S. 217. 29 Agus, Rabbi Meir (wie Anm. 20), Nr. 129, S. 217. 30 Rosensweig, Apostasy (wie Anm. 13), S. 68, unter Bezug auf Isserlein, Terumat haDeshen, Nr. 223. 31 Vgl. Ries, Missionsgeschichte (wie Anm. 7), S. 276 f., die auf den »erhebliche[n], natürlich sehr konfliktträchtige[n] Regelungs- und damit eben auch Kommunikationsbedarf« verweist. 32 Mutius, Apostasieproblem (wie Anm. 13), S. 18 f., erläutert in diesem Kontext weiterhin die liturgischen Vorrechte der Aroniden (Kohanim) in der Synagoge, die für unseren Zusammenhang weniger wichtig sind.
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Maßnahmen.33 Aus jüdischen wie auch christlichen Quellen sind Rituale bekannt, mit denen solche Revertiten wieder in die Gemeinschaft und Gemeinde aufgenommen wurden; in Teilen ähneln sie den Aufnahmeriten für Proselyten zum Judentum.34 Bei der Rückkehr ergaben sich, wie erwähnt, Probleme für jüdische Ehefrauen wegen des ihnen unterstellten Verkehrs mit Nichtjuden. Sogar dann, wenn ein Ehepaar gemeinsam die Taufe angenommen hatte und in die jüdische Gemeinschaft zurückwollte, stellte sich die Frage nach der Erlaubtheit ihrer sexuellen Beziehung, sofern man einen Ehemann im Status der Apostasie als ›Nichtjuden‹ klassifizierte – denn ein solcher, so wurde unterstellt, achtete nicht auf die Sexualmoral seiner Frau. Die Rabbiner tendierten deshalb – in Übereinstimmung mit dem Grundsatz ›auch als Sünder gehört er zu Israel‹ – mehrheitlich dazu, dem jüdischen Apostaten eine ›jüdische Natur‹ zuzuschreiben, die ihn daran hindere, ihr derartige Freiheiten zu lassen.35 Immer wieder berichten die Quellen von den Anfeindungen und dem Misstrauen, dem sich reuige Apostaten in ihren Gemeinden ausgesetzt sahen. In gewisser Hinsicht zeugen die Rechtsentscheide der Rabbiner – das Verbot, einen Revertiten (oder seine Familie) an die frühere Apostasie zu erinnern,36 die ausdrückliche Zulassung von (aufrichtigen) Revertiten als Zeugen vor dem jüdischen Gericht37 – bereits von diesen verbreiteten Zeichen der Ablehnung. Nach der Frankfurter Judenverfolgung von 1241 waren z. B. einige jüdische Frauen zwangsweise getauft worden; eine von diesen war mit einem jungen Mann aus Würzburg verlobt, dessen Familie sich nach der Flucht der Braut aus ihrer Gefangenschaft aber weigerte, die Ehe zuzulassen. Während die meisten Gelehrten damals die Sache der jungen Frau unterstützten, war R. Isaak Or Sarua (gest. in Wien um 1260), der damals in Würzburg wirkte, offenbar unter dem sozialen Druck der ortsansässigen Familie darum bemüht, eine rechtliche Begründung für diese Ablehnung zu entwickeln.38 Tatsächlich wird die frühere Konversion, selbst dann, wenn sie unter Zwang erfolgt war, seit dem 12. Jahrhundert zunehmend als ein (vererblicher) Makel beschrieben. Als mutmaßlicher Auslöser für diesen scharfen 33 So Rosensweig, Apostasy (wie Anm. 13), S. 75 und S. 77 f. 34 Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 29; Rosensweig, Apostasy (wie Anm. 13), S. 78; vgl. auch unten zu Anm. 52 f. 35 Rosensweig, Apostasy (wie Anm. 13), S. 73 f. 36 R. Gerschom b. Jehuda; dazu Goldin, Juifs et juifs convertis (wie Anm. 14), S. 868; Mutius, Apostasieproblem (wie Anm. 13), S. 18 f. 37 R. Meir von Rothenburg, vgl. Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 28 f. 38 Goldin, Juifs et juifs convertis (wie Anm. 14), S. 872.
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Gegensatz zwischen den Leitlinien des jüdischen Rechts und der sozialen Praxis in den Gemeinden gelten die Judenverfolgungen zur Zeit des Ersten Kreuzzugs.39 Die Generation nach 1096 musste sich damit auseinandersetzen, dass viele Juden ihr Überleben der Tatsache verdankten, dass sie in Todesgefahr die Taufe angenommen hatten, während andere sich weigerten und es vorzogen, das Martyrium zur ›Heiligung des Namens‹ (hebr. ›Qiddush ha-Shem‹) auf sich zu nehmen. Die in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstandenen hebräischen ›Chroniken‹ über die Ereignisse heroisierten das Verhalten derjenigen, die lieber ihre Familien und schließlich sich selbst umbrachten, als sich durch die Taufe ›verschmutzen‹ zu lassen. Weit davon entfernt, in dem Taufakt eine sinnlose Handlung im Namen eines wirkungslosen Götzen zu sehen, beschreiben die hebräischen Quellen der Zeit ihn als schlimmste Zumutung und als nachhaltig wirksame Befleckung, obwohl die meisten der Zwangsgetauften bekanntermaßen schon bald nach den Ereignissen wieder zum jüdischen Glauben und Ritus zurückkehrten.40 Die Erfahrung der Zwangstaufe hat sicher auch die Abneigung gegenüber denjenigen vertieft, die nach 1096 wie auch nach späteren Verfolgungen im Christentum verblieben oder gar aus innerer Überzeugung dazu konvertierten.41 Eine theologische Anziehungskraft wurde der christlichen Mehrheitsreligion von den Rabbinern keineswegs zuerkannt; als Motive 39 Goldin, Juifs et juifs convertis (wie Anm. 14), S. 874. 40 Vgl. Haverkamp, Eva (Hg.): Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzugs. Hannover 2005, S. 13 f. mit Anm. 63. Die häufig zitierte Passage in der hebräischen »Chronik« des Mainzer Juden Salomo b. Simson, in der die Zwangsgetauften dafür gelobt werden, dass sie sich, so gut sie konnten, vom christlichen Kult fernhielten und heimlich oder sogar offen weiter die jüdischen Gebote befolgten, erscheint in diesem Licht betrachtet gerade deswegen bezeichnend, weil der Chronist eine solche Entlastung offenbar für nötig hielt, ebd., S. 482 f. Nach Ansicht der Frommen Deutschlands (hebr. ›Hasideˆ Ashkenaz‹, eine mystische Strömung des 12./13. Jahrhunderts) hatte, wer sich dem Zwang zur Annahme der Taufe beugte, gleichsam eine Prüfung nicht bestanden. Einem Exempel im Buch der Frommen (hebr. ›Sefer Hasidim‹) zufolge konnte die Akzeptanz einer unter Todesdrohung angebotenen Taufe dazu führen, dass in späteren Generationen Mitglieder der Familie abtrünnig wurden; Goldin, Juifs et juifs convertis (wie Anm. 14), S. 869; vgl. Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 17 f. 41 Haverkamp, Getaufte Juden (wie Anm. 13), S. 459; vgl. auch Goldin, Juifs et juifs convertis (wie Anm. 14), S. 863 und S. 865; Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 18; Ries, Missionsgeschichte (wie Anm. 7), S. 272; eine umgekehrte Entwicklung ist für das gesellschaftliche Ansehen christlicher Proselyten zum Judentum in dieser Zeit konstatiert worden; Reiner, Avraham (Rami): L’attitude envers les prose´lytes en Allemagne et en France du XI e au XIII e sie`cle. In: Revue des e´tudes juives 167 (2008) 1, S. 99–119.
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der ›freiwilligen‹ Apostasie führen sie regelmäßig vor allem die Lust nach dem Verzehr unreiner Speisen und nach unerlaubten Sexualkontakten an.42 3. ›Taufjuden‹ Die genannten Leitlinien des jüdischen Rechts und die Einschätzungen hinsichtlich der Konversion bzw. Taufe innerhalb der jüdischen Gesellschaft wirkten stets innerhalb eines symbolischen Resonanzraumes, der von den entsprechenden Auffassungen der christlichen Mehrheit geformt wurde. Dabei standen sich die jeweiligen Ansichten zwar häufig konträr gegenüber, ergänzten sich aber eigentümlicherweise in der Figur des ›Taufjuden‹.43 Grundlegend für die christlich-theologischen Erwartungen hinsichtlich von Judentaufen war die Spannung zwischen der biblisch gestützten Annahme einer ›Blindheit‹ der Juden gegenüber der richtigen Auslegung ihrer eigenen Schriften (vgl. bes. II Cor 3,15) einerseits und der Erwartung ihrer kollektiven Bekehrung am Ende der Zeiten andererseits (Rom 11,26). Letzteres galt gemäß der einflussreichen Lehre des Augustinus als einer der Hauptgründe für die fortgesetzte Duldung (lat. ›toleratio‹) der Juden.44 Die irritierende Tatsache, dass trotz der unterstellten Überlegenheit des christlichen Glaubens zumeist nur wenige Juden die Taufe annahmen, erklärte man sich mit dem geradezu stereotyp verbreiteten Konzept der jüdischen ›Blindheit‹ und ›Verstockung‹.45 Diese Eigenschaften resultierten nach christlicher Auffassung aus göttlichem Verhängnis infolge der Ablehnung Jesu als Messias und seiner Hinrichtung am Kreuz; durch das erneute (und erwartete) Eingreifen Gottes waren sie daher grundsätzlich reversibel und vorläufig. Diese primär theologische Aussage bezog sich allerdings auf die Juden als »Volk« (lat. »Israhel secundum carnem«, nach I Cor 10,18) und stützte insofern auch die Entwicklung von Vorstellungen über die jüdische ›Natur‹. Auf jeden Fall entsprach gerade das Beharren der meisten Juden im Judentum den Erwartungen; die Bekehrung eines Juden war etwas durchaus Ungewöhnliches. 42 Mutius, Apostasieproblem (wie Anm. 13), S. 13 f. (Raschi); Goldin, Juifs et juifs convertis (wie Anm. 14), S. 858 (Sefer Nizzahon Yashan), S. 869 (Elasar haRokeah von Worms); Glanz, Rudolf: Geschichte des niederen jüdischen Volkes in Deutschland. Eine Studie über historisches Gaunertum, Bettelwesen und Vagantentum. New York 1968, S. 73 f. (Meir von Rothenburg); Rosensweig, Apostasy (wie Anm. 13), S. 50 (Judah Minz, Jakob Molin); zum Verdacht der Promiskuität gegenüber zum Christentum konvertierten Frauen vgl. oben, zu Anm. 19. 43 Vgl. schon Haverkamp, Getaufte Juden (wie Anm. 13), S. 465 f. 44 Cohen, Living Letters (wie Anm. 9). 45 Vgl. Schreckenberg, Heinz: Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld. Bd. 1: 1.–11. Jh. 3., erw. Aufl. Frankfurt a. M. [u. a.] 1995, S. 705, Index s. v. »Juden«.
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Die theologischen Auffassungen über die Taufe verfestigten sich im Verlauf des hohen Mittelalters auch im kirchlichen Recht, in dem die ›rituelle Selbstwirksamkeit‹ des Taufaktes immer nachdrücklicher betont wurde, was sich besonders auf die Einschätzung von Zwangstaufen auswirken musste. Letztere waren zwar verboten; wenn sie den rituellen Vorschriften gemäß vollführt worden waren, aber gleichwohl gültig. Diesen Widerspruch adressierte Papst Innozenz III. in einem Schreiben an den Erzbischof von Arles im Herbst 1201; er unterschied zwischen demjenigen, der unter Drohung oder Anwendung von Gewalt das Sakrament hinnahm, »also gleichsam bedingt zustimmte«, und dem, »der dem niemals zugestimmt hatte, vielmehr gänzlich widersprach«. Für den ersten Fall ging er davon aus, dass dem Täufling damit der ›Character‹ (Stempel) des Christentums ein für alle Mal aufgedrückt worden sei, er also auch zur Observanz zu zwingen war.46 Bei seiner Entscheidung bezog sich Innozenz offenbar auf eine Interpretation seines Lehrers Hugoccio, der (vor 1190) in seinem Kommentar zu Gratians Decretum (D.45.c. 5) zwischen »bedingtem« und »absolutem« Zwang unterschieden hatte.47 Durch Aufnahme in die 1234 publizierte Dekretalensammlung Gregors IX. (den sogenannten Liber Extra) erlangte das Schreiben von 1201 kirchenrechtliche Autorität (X.3.42.3). Nachdem bereits Papst Clemens IV. 1267 in seiner Bulle Turbato corde die Franziskaner und Dominikaner beauftragt hatte, gegen Christen, die zum Judentum ›abfielen‹, mit den Zwangsmitteln der Inquisition vorzugehen, wurde der Text dieser Dekretale in der 1298 durch Bonifatius VIII. im Liber Sextus publizierten Form noch dahingehend erweitert, dass auch getaufte Juden, die zu ihrem früheren Glauben zurückkehrten, verfolgt werden konnten – selbst dann, wenn sie »als (unmündige) Kinder oder in Todesangst, wenngleich nicht absolut oder genaugenommen unter Zwang« (lat. »dum erant infantes, aut mortis metu, non tamen absolute aut precise coacti«) getauft worden waren (VI.5.2.3).48 Wie Haverkamp und Carlebach 46 Grayzel, Solomon: The Church and the Jews in the XIII th Century. Bd. 1: A Study of their Relations during the Years 1198–1254, Based on the Papal Letters and the Conciliar Decrees of the Period. Philadelphia / PA 1933, S. 100–103. Zum ›character indelebilis‹ vgl. Angenendt, Arnold: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, S. 380; Sattler, Dorothea: Charakter, sakramentaler. In: Kaspar, Walter (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 2. 3. Aufl. Freiburg i. Br. 1994, Sp. 1009–1013. Zum Zusammenhang vgl. Haverkamp, Getaufte Juden (wie Anm. 13), S. 462. 47 Magin, iuden recht (wie Anm. 10), S. 167. 48 Magin, iuden recht (wie Anm. 10), S. 170 f. Zur praktischen Anwendung vgl. Gui, Bernard: Manuel de l’Inquisiteur, hg. v. G[uillaume] Mollat. Bd. 2. Paris 1964, S. 7.
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hervorheben, hat diese Verwischung der Unterschiede zwischen erzwungener und freiwilliger Taufe gerade in den Augen der Christen die Vorstellung einer spirituellen Wandlung im Vollzug der Taufe untergraben.49 Diese Destabilisierung der Kategorien wurde zudem sicher noch durch die vielen, vorwiegend spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fälle verschärft, in denen jüdischen Delinquenten vor der Hinrichtung die Taufe angeboten wurde, um sie so vor einer besonders langsamen und qualvollen Form des Todes am Galgen (kopfüber zwischen zwei Hunden hängend50) zu bewahren. War diese Form der Missionierung in letzter Minute ›erfolgreich‹, untergrub sie doch die Gewissheit, es handle sich um eine Taufe aus Überzeugung; war sie es nicht, so bestätigte das einmal mehr das Bild von der jüdischen »Halsstarrigkeit«.51 Die jüdische Auffassung von der Nachhaltigkeit der ›Verunreinigung‹ mit Taufwasser traf sich mit den christlichen Vorstellungen an der Stelle, wo das Etikett ›getauft‹ gleichsam ›hängen blieb‹ – selbst dann, wenn die etikettierte Person gar nicht den Erwartungen einer im weitesten Sinne als ›christlich‹ zu bezeichnenden Lebensführung entsprach beziehungsweise sogar zum jüdischen Glauben und Ritus zurückkehrte. Der unsichtbare, durch das Salböl (griech. ›Chrisam‹) symbolisierte ›unauslöschliche Stempel‹ (lat. ›character indelebilis‹) der Taufe musste, wie es der Inquisitor Bernard Gui (gest. 1331) durchaus glaubhaft berichtet, durch ein schmerzhaftes Ritual bei der Wiederaufnahme symbolisch entfernt werden: Im Anschluss an ein rituelles Tauchbad wird der ›Büßer‹52 »am ganzen Körper kräftig mit Sand abgerieben, und zwar besonders auf der Stirn, der Brust und an den Händen, d. h. an den Stellen, wo bei der heiligen Taufe das Salböl aufgetragen wurde«.53 In bezeichnender Spiegelung der Taufe erhält der Revertit au49 Haverkamp, Getaufte Juden (wie Anm. 13), S. 459; Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 36: »The acceptance of coercion vitiated the transformative power of baptism of Jews in the eyes of Christians.« 50 Zur Hinrichtung ›more iudaico‹ vgl. zuletzt Müller, Jörg R.: Eine jüdische Diebesbande im Südwesten des Reiches in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.): Beziehungsnetze aschkenasischer Juden während des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hannover 2008, S. 71–116, hier S. 80–82, Anm. 30–32, mit zahlreichen Belegen und weiterer Literatur. 51 Vgl. Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 36 f.; Agethen, Manfred: Bekehrungsversuche an Juden und Judentaufen in der frühen Neuzeit. In: Aschkenas 1 (1991) 1, S. 65–94, hier S. 78. Unter christlichen Theologen wurde sogar die Frage diskutiert, ob die Taufe eines Juden dessen vergangene Verbrechen auslösche (ebd., S. 80). 52 Wörtlich ›Umkehrer‹, hebr. ›ba’al tesˇuvah‹, bei Bernard Gui irrtümlich als »baaltussuna« verschrieben. 53 Gui, Manuel (wie Anm. 48), S. 8: »Et tunc Judei confricant eum fortiter cum
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ßerdem neue Kleidung und einen neuen Namen (meist den, den er bereits vor der Taufe getragen hatte), schließlich muss er sich formal zum Judentum bekennen und dem Christentum abschwören.54 In den Augen der christlichen Mehrheit, insbesondere der Geistlichen, verdeutlichte das Beispiel derjenigen Juden, die nach ihrer – wie auch immer motivierten – Annahme des Christentums zur jüdischen Gemeinschaft und zum jüdischen Ritus zurückkehrten, dass es trotz des ›unauslöschlichen Stempels‹ der Taufe eine dauerhaft jüdische Substanz zu geben schien, die am leichtesten wiederum mit den angeblichen Eigenschaften des jüdischen ›Volkes‹ zu erklären war.55 Die hohe Zahl von Revertiten zeugt wohl nicht in erster Linie von religiösem ›Wankelmut‹, sondern verweist auf das vielfach bezeugte Scheitern der Inklusion der Neophyten in die Bezüge der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Während wir auf der einen Seite formulieren können, dass Religion und die damit verbundenen Normen, herrschaftlicher Schutz und wirtschaftliche Tätigkeitsfelder die segmentäre Inklusion jüdischer Individuen in Familien und Gemeinden begünstigten, so lässt sich auf der anderen Seite keine ähnlich dichte Bündelung der Inklusionen beim Übertritt in die christliche Mehrheitsgesellschaft beobachten. Das Versprechen, nach Verlassen des ›falschen‹ Lebens in der jüdischen Gemeinschaft, des ›verkehrten‹ Glaubens (lat. ›perfidia‹) und der daraus folgenden bedenklichen Verhaltensnormen (einschließlich des ›unehrlichen‹ Erwerbs) in ein ›stimmiges‹ Leben arena per totum corpus, set maxime in fronte et in pectore et in manibus, in illis videlicet locis in quibus in baptismo fuit positum sanctum crisma.« Eine nicht weniger drastische Art, die Taufe ›abzuwaschen‹, nennt von Heisterbach, Caesarius: Dialogus miraculorum, II ,26, hg. von Joseph Strange. Bd. 1. Köln / Brüssel 1851, S. 98: »Ego, inquit Judaea, tribus vicibus te sursum traham per foramen latrinae, sicque remanebit ibi virtus baptismi tui.« Das sicherlich erfundene Erzählmotiv antwortet mit dieser Inversion des Taufwassers in der Kloake möglicherweise auf die jüdische Vorstellung von der Taufe als verunreinigend. 54 Zur Einschätzung dieser Darstellung vgl. Yerushalmi, Yosef Hayim: The Inquisition and the Jews of France in the Time of Bernard Gui. In: Harvard Theological Review 63 (1970), S. 317–376. Jüdische Quellen aus dem aschkenasischen Raum nennt Rosensweig, Apostasy (wie Anm. 13), S. 77 f. Hier wird das Abreiben mit Sand nicht erwähnt, wohl aber »flagellation«. Im Einzelnen waren diese Riten aber durchaus nicht überall Konsens. Auch das Tauchbad wird nicht immer gefordert; hier machte man vielmehr einen Unterschied zwischen Revertiten und Proselyten, also Christen, die zum Judentum konvertierten. Vgl. allgemein Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 29. 55 Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 36 f. und S. 43; Haverkamp, Getaufte Juden (wie Anm. 13), S. 463. Zum »populus durae cervicis« vgl. Ex 32,9; 33,3; 33,5; 34,9; Dt 9,6; 9,13 und Baruch 2,30.
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übertreten zu können, bei dem Wahrheit, Moral und Nahrung in Einklang stünden, konnte nur selten und zumeist nur ansatzweise eingelöst werden.56 Dies zeigt sich vor allem an den materiellen Problemen von getauften Juden, anders ausgedrückt, in ihrer mangelnden ökonomischen Inklusion. Seit dem hohen Mittelalter sind diese Schwierigkeiten vielfach bezeugt. Gründe dafür sind u. a. darin zu suchen, dass jüdische Apostaten den Anspruch auf ihr Erbe verloren und dass die Neugetauften sich der Geldleihe fortan enthalten mussten (auch über erspartes Kapital konnten sie im Spätmittelalter kaum noch selbst verfügen, weil es als ›Wuchergewinn‹ unter dem Vorbehalt der Rückerstattung stand). Auf der anderen Seite zeigen die Quellen aber auch, dass es gerade die armen Juden waren, deren Inklusion ohnehin prekär war, die sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf das Angebot der Taufe einließen. Die Zahl dieser Personen, unter denen nicht wenige als vagierende Betteljuden eine ›illegale Existenz‹ führten, nahm offenbar während des späten Mittelalters spürbar zu.57 Nicht zufällig fanden Judentaufen häufig an Orten statt, die weit von den Herkunftsgemeinden der Täuflinge entfernt lagen.58 Man muss allerdings bedenken, dass es auch eine große Zahl von Personen aus der unteren jüdischen ›Mittelschicht‹ gegeben haben dürfte, die nach der Taufe einen Weg fanden und in der großen Schar der ›einfachen Leute‹ aufgingen, sodass sie gar nicht mehr in den Quellen auffindbar sind.59 Typologisch lassen sich in den Quellen also zwei Gruppen von getauften Juden unterscheiden: eine kleine Gruppe mehr oder weniger gelehrter Männer einerseits und ein sehr großes Kontingent armer, häufig auch junger 56 Der Konvertit und Pfarrer Friedrich Albrecht Augusti forderte (1751) deshalb die »ganze« Konversion, die auch die ökonomische Inklusion beinhalten sollte, Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 135. 57 Guggenheim, Yacov: Meeting on the Road. Encounters between German Jews and Christians on the Margins of Society. In: Hsia, Ronnie Po-chia / Lehmann, Hartmut (Hg.): In and Out of the Ghetto. Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany. Cambridge 1995, S. 125–136; vgl. Schmid, Hans-Dieter: ›Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz‹. Jüdische Unterschicht und christlicher Antisemitismus am Beispiel des Celler Stadtpredigers Sigismund Hosemann. In: Antes, Peter (Hg.): Christen und Juden: ein notwendiger Dialog. Hannover 1988, S. 39– 60, hier S. 48 f. 58 Agethen, Bekehrungsversuche (wie Anm. 51), S. 81; Meiners, Werner: Zur quantitativen Dimension des voremanzipatorischen jüdischen Konvertitentums – regionale Forschungsergebnisse im Vergleich. In: Ders. (Hg.): Konversionen von Juden zum Christentum in Nordwestdeutschland. Hannover 2009, S. 19–90, hier S. 58 f. und S. 66– 69; zur Wanderschaft als Symbol in den Schriften der Konvertiten vgl. Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 120 f. 59 Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 124 f.
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jüdischer Frauen und Männer. Offenbar gelang die Inklusion der Täuflinge dort am nachhaltigsten, wo sie als segmentär beschrieben werden kann, nämlich insbesondere in geistlichen Gemeinschaften und – im Fall von Frauen – durch die Ehe mit einem Christen.60 Seit dem 16. Jahrhundert ergaben sich für gelehrte Juden neben einer Karriere als Kleriker bzw. Pfarrer auch durchaus Chancen als Hebräischlehrer sowie in anderen ›freien‹ Gelehrtenberufen.61 Nicht wenige christliche Autoren des hohen und späten Mittelalters haben die Angst vor der Verarmung als einen der Gründe dafür identifiziert, dass sich so wenige Juden taufen ließen. So gab der Franziskaner Nikolaus von Lyra (gest. 1349) in seiner weit verbreiteten Quaestio de adventu Christi die Furcht vor Verarmung (lat. ›penuria‹) und die angeblich religiös begründete Hoffnung auf weltlichen Reichtum (lat. ›abundantia‹) als wichtigsten von drei Gründen dafür an, warum nicht mehr Juden zum Christentum überträten.62 Derartige ›Entschuldigungen‹ griffen z. T. wieder auf angebliche Charaktereigenschaften der Juden zurück.63 Der drohenden Armut der Täuflinge suchten kirchliche Amtsträger wie auch weltliche Herren durch Empfehlungsschreiben zu begegnen, in denen die Tatsache des Übertritts »aus der Finsternis des jüdischen Unglaubens in das Licht des christlichen Glaubens« knapp oder ausführlich beschrieben und der bzw. die Getaufte der Fürsorge aller Mitchristen anempfohlen wurde. In selteneren Fällen setzten sich Päpste und Bischöfe auch direkt dafür ein, dass einem Neophyten eine Pfründe oder ein Platz in einer Klostergemeinschaft eingeräumt würde. Die Empfehlungsschreiben für getaufte 60 Haverkamp, Getaufte Juden (wie Anm. 13), S. 472 und S. 474. Wo es Quellen gibt, spricht aus ihnen nicht zufällig eine weiterhin große Abhängigkeit der Täuflinge von den Herrschaftsträgern; vgl. Mentgen, Gerd: Versorgung und Broterwerb getaufter Juden im Mittelalter. In: Hirbodian, Sigrid [u. a.] (Hg.): Pro multis beneficiis. FS für Friedhelm Burgard. Forschungen zur Geschichte der Juden und des Trierer Raums. Trier 2012, S. 205–222. 61 Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 129–137 (»New professions: professors and beggars«). 62 Zitiert bei Niesner, Manuela: Über die Duldung der Juden in der christlichen Gesellschaft – Eine lateinisch-deutsche Quaestio aus der Zeit um 1400. In: Mediaevistik 20 (2007), S. 185–214, hier S. 192. 63 So begründet ein Trierer Autor des frühen 12. Jahrhunderts das Empfehlungsschreiben des Erzbischofs Bruno für dessen zum Christentum konvertierten Leibarzt mit den Worten, »genus illud hominum multum est in fide instabile semperque desiderat in vitae necessariis habundare«; zit. n. Haverkamp, Getaufte Juden (wie Anm. 13), S. 464. Vgl. auch Nigri, Petrus: Contra perfidos Judaeos de conditionibus veri Messiae. Esslingen 1475, fol. 42: »bonis eorum delicate nutriti ocio, in sua permanent perfidia qua sine minime talia attemptare auderent.«
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Juden, die hauptsächlich als Bettelbriefe benutzt wurden, sind zu Hunderten erhalten – und wahrscheinlich in noch größerer Zahl wegen ihres Gebrauchs ›auf der Straße‹ verloren gegangen. Auf der Landstraße begegneten sich Betteljuden und bettelnde Neuchristen in einem Milieu, in dem sie kaum noch voneinander zu unterscheiden waren. So erwähnt R. Israel Isserlein in einem Rechtsgutachten zu einer Ehesache »jene herumlaufenden Leichtsinnigen, die getauft sind und sich gelegentlich als Juden und dann wieder als Christen ausgeben«.64 Sprachlichen Ausdruck hat diese Nähe bekanntlich in der Übernahme zahlreicher hebräisch-aramäischer Ausdrücke in die Gaunersprache des Rotwelschen gefunden.65
4. Selbstbeschreibungen von ›Taufjuden‹ als Inklusionsnarrative Sowohl in der jüdischen als auch in der christlichen Imagination verdichteten sich die oben skizzierten Zuschreibungen im Konstrukt des ›Taufjuden‹: Stabil waren darin nur die Etikettierungen durch die – jeweils mit unterschiedlicher Pointierung als ›unaufhebbar‹ oder doch zumindest nachhaltig wirksam gedachten – Elemente der Taufe einerseits und der Zugehörigkeit zu ›Israel‹, dem jüdischen ›Volk‹, andererseits. Instabil und folglich verhandelbar war in diesem Bündel dagegen das Element der individuellen religiösen Orientierung. Hierüber glaubhafte Rechenschaft abzulegen, blieb letztlich immer dem einzelnen ›Taufjuden‹ überlassen. Dies konnte auf unterschiedliche Art und Weise geschehen. Zunächst ist an die Taufzeremonie zu denken, der eine mehr oder weniger ausführliche Katechese und Prüfung des Kandidaten oder der Kandidatin vorausgehen sollte. Aus dem späten Mittelalter und besonders seit der Reformation gibt es eine wachsende Fülle von Belegen für die zuneh64 Isserlein, Israel: Sefer Terumat Hadeshen. Teil 2: Pesakim u-Chetavim [Hebr.]. Warschau 1882, Nr. 138; für die Übersetzung danke ich Yacov Guggenheim (Jerusalem); vgl. auch Spitzer, Schlomo: Das Alltagsleben der österreichischen Juden im Mittelalter. In: Kairos (n.s.) 26 (1984), S. 66–79, hier S. 76, sowie Keil, Martha: Zwang, Not und Seelenheil. Jüdische Konversionen im mittelalterlichen Aschkenas. In: Laudage-Kleeberg, Regina/Sulzenbacher, Hannes (Hg.): Treten Sie ein! Treten Sie aus! Warum Menschen Ihre Religion wechseln. Berlin 2012, S. 124–132. 65 Von Kraemer, Erik: Le type du faux mendiant dans les litte´ratures romanes depuis le moyen aˆge jusqu’au XVII e sie`cle. Helsingfors 1944; Glanz, Geschichte (wie Anm. 42); Piero Camporesi (Hg.): Il libro dei vagabondi. Lo »Speculum cerretanorum« di Teso Pini, »Il vagabondo« di Rafaele Frianoro e altri testi di »furfanteria«. 2. Aufl. Torino 1980; Jütte, Robert: Abbild und soziale Wirklichkeit des Bettler- und Gaunertums zu Beginn der Neuzeit. Sozial-, mentalitätsund sprachgeschichtliche Studien zum Liber Vagatorum (1510). Köln 1988.
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mend kritische Prüfung der Taufwilligen, über deren Ersuchen gegebenenfalls auch abschlägig beschieden werden konnte.66 In der Tauffeier selbst folgte man einem Ritus, der dem der Kindertaufe nachgebildet war; allerdings waren die ›Abrenuntiatio‹ und die Antworten in der ›Interrogatio de fide‹ nun insofern aufgewertet, als die Kandidatin bzw. der Kandidat sie ja selbst zu sprechen hatte. »Zusätzlich wurde [...] zwischen Predigt und Examen meist noch eine Belehrung an die Gemeinde über den besonderen Kasus der Judentaufe und eine Aufforderung zum Gebet für den Täufling eingeschoben.«67 »Um jede Judentaufe wurde ein beträchtlicher Aufwand getrieben«;68 für die Pfarrgemeinde oder Klostergemeinschaft stellte sie eine willkommene Erbauung dar, und nicht selten nutzten Herrschaft oder Rat und Stadtgemeinde die Gelegenheit, um sich als Vertreter eines christlichen Gemeinwesens zu präsentieren – wie dies etwa für Erfurt 1539 bezeugt ist, wo nicht weniger als vier Pfarrer beteiligt waren und drei Ratsmitglieder als Paten fungierten, als sich ein Jude »in einem Kübel voll Wasser offentlich nacket tauffen« ließ.69 Aegidius Mechler, einer der beteiligten Geistlichen, publizierte noch im selben Jahr die »Ordenung der heyligen Tauffe« sowie, gemeinsam mit Sigismund Kirchner, den »Vnterricht vnd verhör« des »Jüdischen Cathecumeni«, d. h. den Katalog der immerhin 70 an diesen gerichteten 66 So lehnte die Stadtpfarrei von Nördlingen 1474 offenbar das Ersuchen einer »übel beleumundete[n] Jüdin« ab, Müller, Ludwig: Aus fünf Jahrhunderten. Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinden im Ries. In: Zeitschrift des historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 2 (1898), S. 1–124, hier S. 47; einen ähnlich gelagerten Fall aus Regensburg nennt Glanz, Geschichte (wie Anm. 42), S. 50 (»Item sie ist uf der Juden seytten bestanden als ein schelckin«). 1546 nahm Martin Bucer in Straßburg gutachterlich Stellung zum Taufansinnen einer Jüdin, Schilling, Konrad: Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein. 2 Bde. Köln 1964, Katalog Nr. B 266; vgl. Carl, Gesine: Zwischen zwei Welten? Übertritte von Juden zum Christentum im Spiegel von Konversionserzählungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Hannover 2007. 67 Friedrich, Martin: Zwischen Abwehr und Bekehrung. Die Stellung der deutschen evangelischen Theologie zum Judentum im 17. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 39. 68 Agethen, Bekehrungsversuche (wie Anm. 51), S. 93; vgl. Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 111. 69 Mechler, Aegidius: Ordenung der heyligen Tauffe / des Cathecumeni aus der Jüdenschafft / Gehalten in der Prediger Kirche zu Erffurd [. . .]. Erfurt 1539; das Zitat entstammt dem Titelblatt des Druckes. Vgl. auch Mechler, Aegidius / Kirchner, Sigismund: Vnterricht vnd verhör / Egidij Mechelers / vnd Magistri Sigißmundi Kirchners / Eines Jüdischen Cathecumeni [. . .], o. O. [Erfurt], o. J. [1539]; vgl. Hammann, Gustav: Konversionen deutscher und ungarischer Juden in der frühen Reformationszeit. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 39 (1970), S. 207–237, hier S. 217 f.
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Fragen zum christlichen Glauben und der erwarteten, vermutlich auswendig zu lernenden Antworten darauf. Auch die anderen Elemente der Tauffeier konnten angesichts des instabilen Status des Täuflings erhöhte Bedeutung annehmen. So erzählt die um die Mitte des 12. Jahrhunderts in der Ich-Form verfasste Konversionsgeschichte des Kölner Juden Juda b. David und späteren Prämonstratensers Hermannus von den »Tücken des Teufels«, denen er noch »beim Taufakt selbst ausgesetzt war«: Er wusste nämlich nicht, dass es notwendig war, dreimal in das Taufbecken einzutauchen, und musste von den umstehenden Geistlichen »mit lauter Stimme« davon abgehalten werden, zu früh aus dem eiskalten Wasser zu steigen.70 Eine wichtige narrative Strategie, die bereits in der genannten Bekehrungs-›Autobiographie‹ Hermanns verfolgt wird und auch zahlreiche spätere Beispiele prägt, besteht darin, die eigene Konversion als besonders schwierigen, keineswegs geradlinigen, sondern von inneren Kämpfen, Schwankungen und ›Anfechtungen‹ geprägten Prozess darzustellen.71 Die Aufrichtigkeit der eigenen Konversion wird auf diese Weise – in Übereinstimmung mit den vorherrschenden Narrativen – zur Ausnahme stilisiert. Dabei werden die Inklusionseffekte der Taufe durchaus betont – beispielsweise wenn ihr, wie wiederum in Hermanns Fall, die Aufnahme in eine geistliche Gemeinschaft folgte –, häufiger und nachdrücklicher aber weisen die Konvertiten auf das hohe Maß gesellschaftlicher Exklusion hin, das sie in Kauf genommen hatten.72 So erhob der Konvertit Christian Gerson in der Nachrede zu seiner 70 Hermannus quondam Judaeus: Opusculum de conversione sua, hg. v. Niemeyer, Gerlinde: Weimar 1963, S. 118–120 (c. 19 »Quomodo baptizatus sit, et quas in ipso baptismo diaboli fraudes pertulerit«); deutsche Übersetzung Schmitt, JeanClaude: Die Bekehrung Hermanns des Juden. Autobiographie, Geschichte und Fiktion. Stuttgart 2006, S. 323–325. 71 Hermannus, Opusculum (wie Anm. 70), S. 69 (Vorrede); deutsche Übersetzung: Schmitt, Bekehrung (wie Anm. 70), S. 286. 72 Vgl. Carlebach, Divided Souls (wie Anm. 7), S. 101 f. (»Secrecy and Doubt«), S. 103 (»intense isolation«). Nach der anfänglichen Begeisterung fielen viele Konvertiten nach eigener Aussage geradezu in ein Loch (ebd., S. 127). So erzählt um 1380 das Fünfmannenbuch des »Gottesfreunds vom Oberland« von der Konversion eines Juden Abraham und seinem Eintritt in die kleine geistliche Lebensgemeinschaft des Straßburger Laien Merswin, Rulman: Vier anfangende Jahre, hg. v. Philipp Strauch. Halle 1927, S. 58– 68), nicht ohne zu erwähnen, dass der Neuchrist namens Johannes nach anfänglichen Fortschritten im mystischen Leben bald von der »Anfechtung des Unglaubens« heimgesucht wurde (ebd., S. 67). Auf diese Erzählung hat mich Mentgen, Gerd: Jüdische Proselyten im Oberrheingebiet während des Spätmittelalters. Schicksale und Probleme einer ›doppelten‹ Minderheit. In: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 142 (1994), S. 117–139, aufmerksam gemacht (S. 130); vgl. jetzt auch Przybilski, Martin: Kul-
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erstmals 1607 publizierten Bekenntnisschrift Des Jüdischen Thalmuds fürnehmster Inhalt und Widerlegung das Ausmaß seiner persönlichen Verluste zum Maß seiner Glaubensfestigkeit: Meine liebe Gevattern, und alle andere fromme Christen sollen wissen, daß, so gewiß als ich meine dazumahl noch lebende Mutter, welche ich nach GOttes Befehl, mit müglichem Fleiß geehret und geliebet habe, also, daß sie niemals, so lang als ich ein Jüde war, über mich geklaget hat, verlassen habe. Und so gewiß, als ich mein Eheweib, bey welcher ich sieben Jahr im Ehestande, in Liebe und Treu gelebet, un˜ zwey Söhne mit ihr gezeuget, auf ihre Desideration verlassen habe. Und so gewiß ich meinen erstgebohrnen Sohn verlassen, welchen ich nicht allein also geliebet, daß ich auch in meinem Christenthum fünff gantzer Jahr lang dermassen für seine Seele gesorget habe, daß ichs für Gott, Engeln und Menschen, an jenem Tage verantworten kan, [. . .]. Und so gewiß, als ich meinen rechten leibliche¯ Bruder, welcher nunmehr auch bekehret, un˜ getauffet ist, un˜ meine Schwester, welche leyder noch im Jüdenthum stecket, verlassen habe. Und so gewiß, als ich alle meine Bluts-Verwandten, Schwäger un˜ Schwägerinnen verlassen habe. Und so gewiß, als ich meine Schulmeister, welche ich geliebet, verlassen habe. Und so gewiß, als ich alle meine Jünger, welche ich nach meinem Jüdischen Verstand, dazumal mit allen Treuen zu Franckfurt am Mäyn, zu Trier, zu Gülich, zu Gumpet in Hessen, und zu Essen, instituirt und geliebet, verlassen habe. Und so gewiß, als ich so viel hundert Jüdische Schul-Gesellen zu Weilersbach, zu Bretfeld, zu Rötelsee, zu Franckfurt am Mäyn, zu Fulda, und zu Schnattich, verlassen habe. Un˜ so gewiß, als ich alle meine Jüdische Nachtbarn und Bekan˜ten verlassen, und sie mir zu abgesagten Feinden gemacht habe. Und so gewiß, als ich mein Geld und Gut verlassen, und nun in die sieben Jahr gemisset habe, dagegen aber das arme Creutz Christi williglich, ohne vorhergehende Erinnerung einiges Mensche¯, allein auf den Befehl Christi, welchen ich in seinem Wort gefunden, auf mich genommen. Und so gewiß als ich meinen berühmten namen, welchen ich bey den Juden hatte, wie sie solches gegen meinen Tauff-Herren, auch vor meiner Tauff, bezeuget haben, verlassen habe. Und so gewiß als ich auch endlich dem Teuffel und allen seinen Wercken, und Werckzeugen, in meiner Tauffe abgesaget habe, so gewiß wil ich mit GOttes Hülffe, den Bund, welchen ich mit meinem HErrn Christo, in meiner Tauff ausgerichtet habe, halten, und darinnen biß an mein Ende durch Hilff verharren, also, daß weder ich noch ein ander, für mich an meiner Seeligkeit zweiffelen darff.73 turtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 2010, S. 113–115. 73 Gerson, Christian: Des Jüdischen Thalmuds fürnehmster Inhalt und Widerlegung. in 2 Theil verfasset, mit Vorrede des Verlegers, Johann Herbordt Kloß. Leipzig 1685, S. 537–540; vgl. dazu auch die Aussage des getauften Regensburger Juden Kalman, der 1470 wegen ›Rückfalls‹ verhört wurde und zu Protokoll gab, »wie im der [=der Taufe] ja zuzesagen vast schwer sey, nachdem er alle sein freundt hie hab und solle die alle rlassen und Crist werden gleich als einer, der sich aller freuntschaft und guts verzeicht und in ein frembdss land gee«; Straus, Raphael: Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der Juden in Regensburg 1453–1738. München 1960, S. 29; dazu Mentgen, Jüdische Proselyten (wie Anm. 72), S. 117.
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Gersons Selbstbeschreibung folgt an dieser Stelle den narrativen Entwürfen der Propheten- bzw. Apostelberufung und Christusnachfolge, wie sie auch zahlreichen asketischen Schriften zugrunde lag. An einer anderen Stelle beschreibt er die beiderseitige Exklusion, die er um seines Glaubens willen aufzunehmen bereit sei. Davon könne ihn nichts abbringen, nicht die grosse Verachtung der Jüde¯, die dich einen Ma¯melucken, einen Abgöttischen einen Abtrünnigen, einen Ketzer, einen leichtfertigen Mann, einen Heyden, und ein Kind des Teuffels schelten; Nicht die heuchlerische Christen, die dich einen Jüden, einen Heuchler, und einen Bettler schelten.74
Zugleich ist an Gersons Beispiel deutlich zu erkennen, in welchem Maße die Konfessionserzählungen getaufter Juden (es waren wohl ausschließlich Männer, die solche publizierten) den Erfordernissen der Abgrenzung vom ›jüdischen Unglauben‹ verpflichtet waren. Seit dem 16. Jahrhundert widmen sich die Bekenntnisschriften von Konvertiten deshalb häufig der – mehr oder weniger polemischen – Beschreibung des Judentums und seiner Tradition. Sie folgen damit einem Muster, das bereits im 12. Jahrhundert mit den später weit verbreiteten Werken des Petrus Alfonsi etabliert wurde. Die eigene Einsicht, dass der christliche Glaube rational und schlüssig, der jüdische aber falsch sei, wird darin mit Beispielen aus Talmud und Bibelexegese untermauert. In diesen Fällen kam es für diese männlichen Konvertiten darauf an, sich als möglichst kenntnisreich zu stilisieren; sie betonen deshalb ihre jüdische Ausbildung. Die damit eng verbundene Abgrenzung vom ›jüdischen Irrglauben‹ ist also wohl nicht auf die vermeintliche ›Mentalität‹ der Apostaten75 zurückzuführen und ist auch kein Teil ihrer »ambivalenten, hybriden Natur«,76 sondern lässt sich am besten als Einpassung der Ich-Erzählung in die großen Narrative über Judentaufen und ›Taufjuden‹, d. h. als harmonisierende Gestaltung einer durchaus situativen, narrativen Identität beschreiben.77
74 Gerson, Inhalt und Widerlegung (wie Anm. 73), S. 544 f. 75 Cohen, Jeremy: The Mentality of the Medieval Jewish Apostate: Peter Alfonsi, Hermann of Cologne, and Pablo Christiani. In: Endelman, Todd (Hg.): Jewish Apostasy in the Modern World. New York / London 1987, S. 20– 47. 76 Przybilski, Kulturtransfer (wie Anm. 72), S. 116, vgl. S. 104. 77 Somers, Margaret R.: The Narrative Constitution of Identity. A Relational and Network Approach. In: Theory and Society 23 (1994), S. 605– 649, schlägt vor, mehrere Ebenen von Narrativen, aus denen ›Identität‹ gesellschaftlich konstruiert wird, voneinander zu unterscheiden, Großaggregate wie ›die mittelalterliche Gesellschaft‹ in ihre Teile zu zerlegen, ja den Begriff ›Gesellschaft‹ überhaupt durch ›Beziehungsgefüge‹ zu ersetzen. Die räumliche Metapher für sein solches ›relational setting‹ ist die Matrix.
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Die beschriebene narrative Strategie befand sich allerdings in einem gewissen Widerspruch zu der Vorstellung von der zwar vorläufigen, aber doch dauerhaften und gottgewollten ›Verstockung‹ des jüdischen Volkes. Deshalb ist das wunderbare Eingreifen Gottes – gemäß dem biblischen Muster der Bekehrung des Heiligen Paulus – keineswegs eine übertreibende Ausschmückung, sondern ein zentraler Bestandteil vieler Konversionserzählungen. Seit der Spätantike sind Erzählungen, in denen Juden durch wunderbare Zeichen oder Visionen zum christlichen Glauben bekehrt werden, in großer Zahl überliefert. Dabei handelt es sich zunächst freilich nicht um Selbstzeugnisse von wirklichen oder vermeintlichen Konvertiten, sondern um eine hagiographische Konvention. Ein verbreitetes Beispiel ist die Legende von der sogenannten Gregorsmesse: Ein Jude wohnt heimlich der Messe bei und erblickt im Augenblick der Wandlung ein (manchmal blutendes) Kind in den Händen des Priesters.78 Mittelalterliche Konversionserzählungen in Form von Ego-Dokumenten beschreiben das göttliche Eingreifen zunächst weniger drastisch; dabei bedienen sie sich nicht selten, wie im Fall des zitierten Juda/Hermannus, eines mehr oder weniger verschlüsselten Traumes, der sich dann im Leben bewahrheitet oder erst nach der erfolgten Konversion richtig gedeutet werden kann.79 Seit dem 12. Jahrhundert begegnen in den Quellen aber auch zunehmend Wundergeschichten, die von wirklichen oder angeblichen Konvertiten im Rahmen ihrer Selbstdarstellung erzählt werden. Sie nehmen auch die narrative Strategie der Abgrenzung vom zurückgelassenen Judentum auf, indem sie von heimlichen jüdischen Freveltaten berichten, an denen der Erzähler (nur selten ist es eine Erzählerin) teilgenommen haben will und in deren Gefolge eine Vision oder ein Strafwunder zur Bekehrung geführt habe.80 Besondere Brisanz 78 Pascasius Radbertus: De corpore et sanguine Domini, hg. v. Beda Paulus. Turnhout 1969, S. 86 f. (Ein Jude mischt sich unters Volk in die Messe, sieht ein Wunder und bekehrt sich; offenbar eine Interpolation nach den Vitas patrum, vgl. Migne, Jacque Paul: Patrologia Latina. Bd. 73, Sp. 301 f.); zu einer mittelalterlichen Adaption vgl. Grayzel, Church (wie Anm. 46), S. 136–138, Nr. 29; allgemein Blumenkranz, Bernhard: Juden und Jüdisches in christlichen Wundererzählungen. Ein unbekanntes Gebiet religiöser Polemik. In: Theologische Zeitschrift 10 (1954), S. 419– 446, bes. S. 444. 79 Schmitt, Bekehrung (wie Anm. 70), S. 99–163. Auch in der zeitgenössischen, auf Arabisch verfassten Geschichte der Konversion eines nordafrikanischen Juden zum Islam spielt der Traum eine bedeutende Rolle: Samau’al al-Maghribı¯: Ifha¯m al-Yahu¯d. Silencing the Jews, hg. und übers. v. Moshe Perlmann. New York 1964, S. 81–85. Ebenso wichtig sind Träume in der Judenbekehrungs-Episode in Merswin, Vier anfangende Jahre (wie Anm. 72), S. 58– 68. 80 Haverkamp, Getaufte Juden (wie Anm. 13), S. 484– 488; eine Zusammenstellung
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erhalten derartige Narrative dadurch, dass sie von bettelnden Neophyten – beziehungsweise von Personen, die sich als solche ausgeben – auf ihren Wanderungen mitgeführt wurden und auf diese Weise zur Verbreitung judenfeindlicher Legenden beigetragen, nicht selten sogar tödliche Verfolgungen ausgelöst haben. Insbesondere gilt dies für die am Ende des 13. Jahrhunderts aufkommende Hostienfrevel-Legende.81 Es gibt handfeste Belege dafür, dass derartige, nicht selten ›dramatisiert‹ vorgetragene Geschichten reine Erfindungen waren, mit denen betrügerische Bettler oder Bettlerinnen ihren Lebensunterhalt zu bestreiten suchten. Seit dem 14. Jahrhundert existiert eine umfangreiche ›literature of roguery‹, in denen diese Praktiken entlarvt werden.82 Dass viele christliche Zuhörer ihnen trotzdem Glauben geschenkt haben dürften, ist allerdings wohl nicht mit simpler Gutgläubigkeit zu erklären, sondern wiederum nur als situative ›suspension of disbelief‹ aufgrund der Übereinstimmungen mit den vorherrschenden Erzählmustern zu erfassen. Religiöser Glaube als System von Vorstellungen ist nicht überprüfbar; allenfalls kann die Einhaltung bestimmter Kultpraktiken und ein mündliches Bekenntnis gefordert werden. Doch können diese Verfahren nicht verifizieren, sie taugen allenfalls dazu, Verdacht zu nähren. Inklusion allein aufgrund des Glaubens ist also stets prekär. Und stets kommt es darauf an, dass ein Konvertit die richtigen Worte spricht. Für einen Juden oder eine Jüdin ergab sich also im Bestreben, durch Taufe eine nachhaltige Verortung in der Mehrheitsgesellschaft zu gewinnen, die Notwendigkeit, auf eine Matrix von vorhandenen, also öffentlichen Narrativen Bezug zu nehmen. Die Aneignung eines Narrativs aber ist keineswegs beliebig; vielmehr ist das angebotene Repertoire von den konkreten gesellschaftlichen Machtbeziehungen abhängig,83 folglich waren christliche Narrative dabei nachhaltiger wirksam. Daraus ergeben sich mehr oder weniger erfolgreiche Strategien der Selbstbeschreibung. Zur ›richtigen‹ Selbstbeschreibung gehörte in den von uns untersuchten Fällen sicherlich das Narrativ der – möglichst freiwilligen – Exklusion aus der jüdischen Gemeinschaft. In zunehmendem Maße berücksichtigten die Ich-Erzählungen von Täuflingen aber darüber hinaus auch das Narrativ der prekären Inklusion in die Christenheit und machten es – häufig aus purer Not – für sich nutzbar. Mit einer ›hybriden derartiger Fälle bei Cluse, Christoph: Studien zur Geschichte der Juden in den mittelalterlichen Niederlanden. Hannover 2000, S. 352–359. 81 Bereits der früheste Bericht über die Hinrichtung eines Juden wegen Hostienfrevels (Paris 1290) ist in dieser Hinsicht verdächtig, Cluse, Studien (wie Anm. 80), S. 353. 82 Wie Anm. 65. 83 Somers, Narrative Constitution (wie Anm. 77), S. 629.
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Identität‹ sollte das nicht verwechselt werden. Es kam allein darauf an, dass ihre Geschichte stimmig war oder zumindest stimmig erzählt wurde.84 Auf diese Weise übernahmen jüdische Konvertiten zum Christentum nolens volens für sich das Identitätskonstrukt des ›Taufjuden‹. In den Selbstbeschreibungen sowohl der christlichen Mehrheit wie auch der jüdischen Minderheit als ›Gesellschaft‹ verkörpern sie jeweils ein ›Außen‹ und versinnbildlichen so die inneren Widersprüche und Paradoxien des Inklusions-/Exklusionsregimes zwischen Christen und Juden. Die Taufe, die den Akt der ›inneren‹ Konversion sinnfällig machen soll, führt in vielen Fällen nicht zu der gewünschten Inklusion; vielmehr tut sich zwischen Juden und Christen ein neuer Exklusionsbereich auf, der seinerseits für die Plausibilisierung des Verhältnisses zwischen den beiden Gruppen Bedeutung gewinnt.
84 Zu diesem Phänomen vgl. auch den Beitrag von Nike Thurn im vorliegenden Sammelband. Anregend hierzu auch Timm, Uwe: Kopfjäger. Bericht aus dem Inneren des Landes. Köln 1991.
Juden auf dem Lande zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Das Außen in der Gesellschaft Torben Stretz Die Forschung zur Geschichte der (Land-)Juden in der Frühen Neuzeit1 hat sich des Begriffspaares Inklusion/Exklusion bisher nicht wirklich angenommen, sondern verwendet die ›Schwesterbegriffe‹ Integration und Segregation.2 Dabei dominieren die Auseinandersetzungen zwischen einem Inklusionsmodell, das eine eher pragmatische, teilweise gar harmonische, symbiotische Koexistenz von Juden und Christen annimmt,3 und einer ›Exklusionsforschung‹, wonach sich »Ausschließung von Seiten der Christen und jüdische Selbstausschließung trafen«.4 Die Forschungsrichtung, die eine Dominanz segregativer Aspekte jüdischchristlichen Zusammenlebens annimmt und die Geschichte der Landjuden vielfach »vom furchtbaren Ende her betrachtet«,5 wird polemisch unter dem Schlagwort der »lachrymose conception of Jewish history«6 zusammengefasst. 1 Der Beitrag versteht sich auch als Vorstellung von Ergebnissen der Dissertation des Verfassers. 2 So z. B. Battenberg, J. Friedrich: Zwischen Integration und Segregation. Zu den Bedingungen jüdischen Lebens in der vormodernen christlichen Gesellschaft. In: Aschkenas 6 (1996) 2, S. 421– 454. 3 Vgl. nur Cahnman, Werner J.: Der Pariah und der Fremde: Eine begriffliche Klärung. In: Archives Europe´ennes de Sociologie 15 (1974) 1, S. 166–177. Mit Einschränkungen sind auch differenziertere, aber auf die »spannungsfreie Normalität im Alltagsleben« (Ullmann, Sabine: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750. Göttingen 1999, S. 17) abhebende neuere Studien hierunter einzuordnen, vgl. etwa Walz, Rainer: Der nahe Fremde. Die Beziehungen zwischen Christen und Juden in der Frühen Neuzeit. In: Essener Unikate 6/7 (1995), S. 54– 63, hier S. 57, dort auch mit weiteren Literaturhinweisen; vgl. zur Entwicklung der Forschung zur Geschichte der Landjuden noch immer Richarz, Monika: Ländliches Judentum als Problem der Forschung. In: Dies. (Hg.): Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte. Tübingen 1997, S. 1–8; neueren Datums der Überblick bei Ullmann, Nachbarschaft (wie oben in dieser Anm.), S. 13–21. 4 Walz, Der nahe Fremde (wie Anm. 3), S. 57; zur jüdischen Selbstexklusion vgl. Katz, Jacob: Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne. München 2002, S. 31– 41 und passim. 5 Richarz, Ländliches Judentum (wie Anm. 3), S. 4. 6 Zusammenfassend Brenner, Michael: Geschichte als Politik – Politik als Geschichte.
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Umgekehrt wird in der neueren Diskussion auch das ›Koexistenzmodell‹ als harmonistisch kritisiert. Dabei erfordert die wissenschaftliche Betrachtung historischer ›Untersuchungsobjekte‹, gerade solcher, die moralisch konnotiert und gesellschaftlich zu problematisieren sind, nicht notwendigerweise die Entwicklung eines blinden Flecks im normativen Auge. Für den Erkenntnisfortschritt ist eine Analyse ohne die Verortung innerhalb der immer noch vorherrschenden Zuspitzung auf die skizzierte Dichotomie zwingend erforderlich.7 Möchte man sich weder die Teleologie einer jüdischen Vertreibungsgeschichte bzw. einer Geschichte auf dem Weg zur Vernichtung noch die Utopie ländlicher Harmonie zu eigen machen, bietet das Analyseinstrument ›Inklusion/Exklusion‹ für das forschungsgeschichtliche Defizit ein probates Mittel, um zu differenzierten Erkenntnissen frei von einer Überbetonung der integrativen oder der segregativen Gesichtspunkte zu gelangen.8 Für die ›Sondergruppe‹ der Landjuden hat Rolf Kießling in einem Querschnitt der bisherigen »Fragestellungen und Ergebnishorizonte«9 der ForDrei Wege jüdischer Geschichtsauffassung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Hödl, Sabine / Lappin, Eleonore (Hg.): Erinnerung als Gegenwart. Jüdische Gedenkkulturen. Berlin 2000, S. 55–78, bes. S. 61–70. 7 Vgl. nur die Plädoyers von Staudinger, Barbara: Juden als »Pariavolk« oder »Randgruppe«? Bemerkungen zu Darstellungsmodellen des christlich-jüdischen Verhältnisses in der Frühen Neuzeit. In: Wiener Zeitschrift für Geschichte der Neuzeit 4 (2004) 1, S. 8–25, hier S. 23; und Ullmann, Nachbarschaft (wie Anm. 3), S. 17 f., die auch die »Erschließung neuer Analyse-Instrumentarien« als »dringend« empfindet, S. 18. 8 Als Beispiel für die segregative Tendenz in der neueren Forschung sei Battenberg genannt, der sich vom forschungshistorischen ›Integrationsmodell‹ abgrenzt und festhält, dass »Repressionen von Christen gegenüber Juden [. . .] auf jeder Ebene denkbar« sein und »sowohl Integrationsmodell wie auch das Isolations- bzw. Koheränzmodell quellenmäßig gestützt werden« können, Battenberg, Zwischen Integration (wie Anm. 2), S. 429 bzw. S. 433. Zur Kritik der beiden Forschungsströmungen vgl. etwa Treue, Wolfgang: Eine kleine Welt. Juden und Christen im ländlichen Hessen zu Beginn der Frühen Neuzeit. In: Hödl, Sabine (Hg.): Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der frühen Neuzeit. Berlin [u. a.] 2004, S. 251–269, hier S. 263–266; Staudinger, Juden (wie Anm. 7), S. 20–22 und passim; Ullmann, Nachbarschaft (wie Anm. 3), S. 16–21; dies.: Kontakte und Konflikte zwischen Landjuden und Christen in Schwaben während des 17. und zu Anfang des 18. Jahrhunderts. In: Backmann, Sibylle [u. a.] (Hg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen. Berlin 1998, S. 288–315, hier S. 291 f.; Daxelmüller, Christoph: »Mörder, Betrüger, Volksverhetzer«. Franken und die Pragmatisierung von Antijudaismus und Antisemitismus. In: Kluxen, Andrea / Hecht, Julia (Hg.): Antijudaismus und Antisemitismus in Franken. Ansbach 2008, S. 11–32, hier S. 19 f.
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schung auf drei zu untersuchende Bereiche hingewiesen, auf die sich auch der vorliegende Beitrag bezieht:10 erstens die rechtlichen Bedingungen von In- oder Exklusion, das Spannungsfeld zwischen Ansiedlung und Ausweisung; zweitens das sozioökonomische und religiös-kulturelle Konfliktpotential zwischen den jüdischen und christlichen Dorfbewohnern, und drittens das Selbstverständnis der Juden und dessen Auswirkungen auf Inklusions- oder Exklusionsentwicklungen innerhalb des Dorfes. Diesen drei Perspektiven wird im Folgenden nachgegangen, indem sie vor der Hintergrundfolie der zeitgenössischen Selbstbeschreibung untersucht werden. Die Wahl des Untersuchungszeitraums folgt der mittlerweile in der Forschung etablierten Epocheneinteilung, wonach die Zeit bis 1650 als ein verlängertes jüdisches Mittelalter charakterisiert wird.11 Im Untersuchungsraum Franken, der für die Frühe Neuzeit vielfach als ›jüdische Region‹ identifiziert worden ist, sind die kleineren und kleinsten Herrschaften als bedeutende Träger des Judenschutzes in der Zeit nach den territorialen und städtischen Vertreibungen des 15. und 16. Jahrhunderts hervorzuheben. Aus überlieferungsgeschichtlichen Gründen – die ritterschaftlichen Archive bieten für diese Zeit häufig noch keine oder eine nur spärliche Überlieferung – nähert sich die vorliegende Studie dem Befund über die Ebene der Grafschaften Wertheim und Castell. Kleinere und kleinste Niederlassungen konnten sich auch in Dörfern bilden; bedingt durch die jeweilige Judenpolitik der beiden Grafschaften entstanden größere Judensiedlungen und Gemeinden entweder in Amtsorten oder in Orten mit gemischter bzw. geteilter Herrschaft.12 9 Kießling stellt die drei Bereiche lediglich mit Blick auf den Forschungsstand vor, liefert aber keine Untersuchung des Inklusions-/Exklusionszusammenhangs, Kießling, Rolf: Die Landjuden als religiöse Sondergruppe. Kommentar zu den vorigen Beiträgen. In: Holenstein, Andre´ / Ullmann, Sabine (Hg.): Nachbarn, Gemeindegenossen und die anderen. Minderheiten und Sondergruppen im Südwesten des Reiches während der frühen Neuzeit. Epfendorf 2004, S. 357–363, hier S. 357 f. 10 Battenberg, Zwischen Integration (wie Anm. 2), S. 433, hat für die Zeit nach 1650 vier Indikatoren erarbeitet, die die Frage der Integration von Juden in die vormoderne Gesellschaft beantwortbar machen sollen. Die Indikatoren werden vorgestellt, ebd., S. 433– 454. 11 Zur Periodisierung vgl. zuletzt etwa Rohrbacher, Stefan: »Er erlaubt es uns, ihm folgen wir.« Jüdische Frömmigkeit und religiöse Praxis im ländlichen Alltag. In: Hödl, Hofjuden und Landjuden (wie Anm. 8), S. 271–282, hier S. 280; dieser Periodisierung bedienen sich etwa die Arbeiten von Germania Judaica IV , zur Aufsatzliteratur vgl. die (unvollständige) Übersicht unter www.germania-judaica.de/gj4.html (09.08.2011). 12 Im Jahre 1615 lebten vierzehn jüdische Familien in Burghaslach; im Jahr 1584 waren mit elf Familien etwa ein Drittel der Haushalte des Dorfes Rödelsee
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1. Rechtliche Stellung – Herrschaft und Gemeinde als inkludierende Kräfte Die rechtlichen Rahmenbedingungen der jüdischen Präsenz wurden durch Dorf-, Landes-, Juden- und Reichspolizeiordnungen gestaltet.13 Diese galten meist subsidiär zueinander und komplementär zu den spezifischen Regelungen der Schutzbriefe. Inkludierend wirkte im Untersuchungsbereich maßgeblich die Herrschaft, während die Gemeinde nur in den wenigsten Fällen eine aktive Rolle bei der Einbindung von Juden in die Dorfgemeinschaft gespielt zu haben scheint.14 Die Praktik der Verleihung eines Schutzbriefes machte den Juden zum ›Gastarbeiter‹,15 was sich seit dem 16. Jahrhundert u. a. darin äußerte, dass der Schutzbrief die Wohnerlaubnis begrenzte und Grunderwerb häufig unmöglich machte. Mit seiner Schutzaufnahme wird jüdischen Glaubens; im Jahr 1623 lebten neun Judenfamilien in Wenkheim; in Wertheim schwankten die Zahlen zwischen elf Familienvorständen 1547, neun Familien um 1551, schon vierzehn um 1561, vierzehn 1622 und 1632 wieder acht Familien mit insgesamt 40 Personen sowie weiteren 12 Familien mit 46 Personen ohne Schutzbrief; vgl. die Einzelbelege im Kapitel zur Siedlungsgeschichte bei Stretz, Torben: Juden in Franken zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Aspekte jüdisch-christlicher Beziehungen am Beispiel der Grafschaften Castell und Wertheim. Diss. Universität Trier 2012. 13 Für die Verhältnisse im Untersuchungsraum vgl. Stretz, Juden (wie Anm. 12), dort auch mit Hinweisen auf andere Territorien und Regionen; rechtliche Rahmenbedingungen wurden auch in mehreren schwäbischen Orten durch die Dorfordnung geregelt, Ullmann, Nachbarschaft (wie Anm. 3), S. 130–136; vgl. zu Landesordnungen Württembergs Landwehr, Achim: Norm, Normalität, Anormale. Zur Konstruktion von Mehrheit und Minderheit in württembergischen Policeyordnungen der Frühen Neuzeit: Juden, Zigeuner, Bettler, Vaganten. In: Häberlein, Mark (Hg.): Minderheiten, Obrigkeit und Gesellschaft in der frühen Neuzeit. Integrations- und Abgrenzungsprozesse im süddeutschen Raum. St. Katharinen 2001, S. 41–74; für Thüringen vgl. Litt, Stefan: Juden in Thüringen in der Frühen Neuzeit. 1520–1650. Köln [u. a.] 2003, S. 143–148; vgl. nur die Judenordnungseditionen für Hessen-Darmstadt bei Battenberg, Friedrich: Judenverordnungen in Hessen-Darmstadt. Das Judenrecht eines Reichsfürstentums bis zum Ende des Alten Reiches. Eine Dokumentation. Wiesbaden 1987; für die Markgrafschaft Burgau Mix, Rosemarie: Die Judenordnung der Markgrafschaft Burgau von 1534. In: Kießling, Rolf/Ullmann, Sabine (Hg.): Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit. Berlin 1999, S. 23–57; vgl. die Edition der Reichspolizeiordnungen bei Weber, Matthias: Die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Historische Einführung und Edition. Frankfurt a.M. 2002. 14 Dieser Befund deckt sich etwa mit dem Troßbachs; vgl. Holenstein, Andre´ / Ullmann, Sabine: ›Landgemeinde‹ und ›Minderheiten‹ in der Frühen Neuzeit. Integration und Exklusion als Herausforderungen an ländliche Verbände. In: Holenstein / Ullmann, Nachbarn (wie Anm. 9), S. 9–29, hier S. 25. 15 Stichweh, Rudolf: Der Fremde. Studien zu Soziologie und Sozialgeschichte. Berlin 2010, S. 78 f.
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der Jude im Dorf angesiedelt, nicht aber in der Dorfgemeinde aufgenommen; der Schutzbrief stellt also, ähnlich wie von Cornelia Bohn für den Geleitbrief herausgearbeitet, eine Erweiterung des Gastrechts dar.16 Er markiert den ›Schutzjuden‹ als Angehörigen einer Sondergruppe. Die Zuweisung dieses Status bietet wie das vergleichbare Bei- oder Hintersassenrecht17 ein flexibles »Herrschaftsmedium«,18 das für die Juden eine gewisse zeitlich begrenzte Duldung ohne rechtliche Gleichstellung bedeutete.19 Dass diese Praktik als »disponibles Recht«20 beschrieben werden muss, zeigt sich etwa daran, dass im Zuge territorialer Ausweisungen Schutzbriefe, Geleit- und Passzeichen eingesammelt wurden.21 Landesherrliche Schutzbriefe und vor allem Judenordnungen regelten nicht nur die Ansiedlungsbedingungen und Verpflichtungen gegenüber der Herrschaft, sondern auch wirtschaftliche und religiöse Rahmenbedingungen des Lebens. In den gräflichen Dorf- und 16 Bohn, Cornelia: Vom Geleitbrief zur Identifikation der Person. In: Dies. (Hg.): Inklusion, Exklusion und die Person. Konstanz 2006, S. 71–94, hier S. 78–82; dort werden auch die Phänomene des Schutzbriefes begrifflich nicht trennscharf mitbehandelt. 17 Unter Bei- oder Hintersassen versteht man nicht- oder minderberechtigte Gruppen innerhalb der dörflichen Gemeinde, Endres, Rudolf: Ländliche Rechtsquellen als sozialgeschichtliche Quellen. In: Blickle, Peter (Hg.): Deutsche Ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistumsforschung. Stuttgart 1977, S. 161– 184, hier S. 168–170. 18 Die Erarbeitung des Begriffes bei Mordstein, Johannes: Selbstbewußte Untertänigkeit. Obrigkeit und Judengemeinden im Spiegel der Judenschutzbriefe der Grafschaft Oettingen 1637–1806. Epfendorf 2005, S. 15–17. Litt, Stefan: Geschichte der Juden Mitteleuropas 1500–1800. Darmstadt 2009, S. 11, betont den Aspekt herrschaftlicher »Willkür« bei der Erneuerung oder Verwehrung von Schutzbriefen. 19 Häberlein, Mark: Konfessionelle Grenzen, religiöse Minderheiten und Herrschaftspraxis in süddeutschen Städten und Territorien in der Frühen Neuzeit. In: Asch, Ronald G. / Freist, Dagmar (Hg.): Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln 2005, S. 151–190, hier S. 168; mit Rudolf Schlögl ist der Schutzbrief wohl als eine Form »abgestufter Inklusion« zu beschreiben, Schlögl, Rudolf: Hierarchie und Funktion. Zur stratifikatorischen Ordnung in der Frühen Neuzeit, In: Füssel, Marian / Weller, Thomas (Hg.): Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft: Theorien und Debatten in der Frühneuzeitforschung. Frankfurt a. M. 2011, S. 47– 63, hier S. 59. 20 Bohn, Vom Geleitbrief (wie Anm. 16). 21 Kopie in Staatsarchiv Wertheim (StAWt), G-Rep. 50 Nr. 62, Dok. 44: Ausweisungsbefehl der brandenburg-ansbachischen Statthalter, 1583 Oktober 12; StAWt, G-Rep. 102 Nr. 254, Dok. 5: Ausweisungsbefehl Graf Ludwig zu Stolbergs an die Juden aus der Grafschaft Wertheim bis auf eine gewisse Zahl, 1563 August 2, Wertheim.
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Judenordnungen ist darüber hinaus deutlich die Perspektive der ›guten Policey‹, der Polizeigesetzgebung erkennbar: Soziale, wirtschaftliche und religiöse Lebensbereiche der Juden wurden reglementiert.22 Intention und Form solcher rechtlicher Maßgaben waren dabei naturgemäß sehr situativ und zudem keineswegs nur als Beschränkungen zu werten. Im Gegenteil sorgten sie auch für eine gewisse Rechtssicherheit, weil Richtlinien der Kreditleihe, des Handels, der Familienzusammensetzung und der Religionsausübung einklagbar wurden. In diesem Zusammenhang ist auch die intensive Nutzung der Reichsgerichte, aber auch von Niedergerichten durch die Juden, zu betonen.23 Für zahlreiche Fälle ist zudem bezeugt, dass die Juden selbst an der Aushandlung der Briefe und Ordnungen beteiligt waren und die einzelnen Bestimmungen in ihrem Sinne zu beeinflussen vermochten.24 Eine in der Forschung diskutierte Differenzierung der Inklusions- und Exklusionspraktiken nach Herrschaftstypen führt auch für das Untersuchungsgebiet zu Ergebnissen:25 So zeigt sich bei ritterschaftlichen Schutzherren eine Tendenz zur Aufnahme von Juden als Experten, als Geldquelle sowie als Symbol der eigenen Standessouveränität, die sich in der Verfügungsgewalt über das Judenregal äußerte. Mit Stichweh kann punktuell von einem Aufbrechen der Exklusion durch die Übernahme von Leistungsrollen gesprochen werden:26 Juden waren als Ärzte, Weinhändler, Buchprüfer, Steuer- und Zolleinnehmer für ihre christlichen Schutzherren tätig und stellten diesen so ihre wirtschaftlichen oder organisatorischen Fähigkeiten 22 StAWt, G-Rep. 57/1 Judensachen Nr. 53; Judenordnungen von 1562, 1565 und 1604; StAWt, G-Rep. 57/1 Judensachen Nr. 12. 23 Vgl. erstmals Battenberg, Friedrich: Das Reichskammergericht und die Juden des Heiligen Römischen Reiches. Geistliche Herrschaft und korporative Verfassung der Judenschaft in Fürth im Widerspruch. Wetzlar 1992; Ullmann, Sabine: Die jüdische Minderheit vor dörflichen Niedergerichten in der Frühen Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009) 4, S. 534–560. 24 So für die wertheimschen Judenordnungen von 1562, 1564, 1604, aber auch für die Judenordnung der Markgrafschaft Burgau von 1534, Mix, Die Judenordnung (wie Anm. 13), S. 29. 25 In der frühneuzeitlichen Gemeindeforschung etwa Holenstein / Ullmann, ›Landgemeinde‹ (wie Anm. 14), S. 26; speziell im Trierer SFB 600 Raphael, Lutz: Königsschutz, Armenordnung und Ausweisung. Typen der Herrschaft und Modi der Inklusion und Exklusion von Armen und Fremden im mediterran-europäischen Raum seit der Antike. In: Gestrich, Andreas/Raphael, Lutz (Hg.): Inklusion, Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart (Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 5). 2., durchges. Aufl. Frankfurt a.M. [u. a.] 2008, S. 15–34. 26 Stichweh, Der Fremde (wie Anm. 15), S. 118 f.; ders.: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2005, S. 56.
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zur Verfügung.27 Deutlich wird die Bedeutung von Leistungsrollen etwa an der Aussage eines Schutzherren, »man soll mir kauffleut zu denen guettern, darauf die Juden sitzen, zuweißen, wolle ich dieselben abschaffen«.28 Zugleich macht diese Aussage deutlich, dass die Anwesenheit von Juden semantisch als Ausnahme formuliert wurde. Gerade in den für Franken so charakteristischen Dörfern mit geteilter Herrschaft ergaben sich sowohl Risiken als auch Chancen für die Juden.29 Die Aufteilung der Schutzgelder ist genauso überliefert wie die Konkurrenz um den Judenschutz, die meist in den Streit um Herrschaftsrechte eingebettet war. Durch die Instrumentalisierung der geteilten Dorfherrschaft konnten Juden eine Besserbehandlung erreichen, aber auch zu Objekten herrschaftlicher Interessen werden: Die symbolische Verfügungsgewalt über das Judenregal als Herrschaftsrecht, nicht notwendigerweise die wirtschaftlichen Funktionen, die Juden in den Dörfern zu übernehmen im Stande waren, war für streitende Herrschaften letztlich entscheidend. Paradoxerweise war mit der Aufnahme durch eine Herrschaft häufig ein Anreiz für wirtschaftliche Kontakte zu Untertanen fremder Herrschaften verbunden: Meist war etwa der Zinssatz der Geldleihe nur für Untertanen 27 Vgl. den Juden Beifuß von Rödelsee als Buchführer seiner Schutzherren, Staatsarchiv Würzburg (StAWü), G-Akten 10695; den Arzt Abraham von Wertheim, StAWt, G-Rep. 57/1 Judensachen Nr. 38; außerdem den Juden Jacob, für den Daniel Voit von Rieneck 1639 um eine Zollbefreiung durch die Grafschaft Wertheim bat, StAWt, G-Rep. 57/1 Zollsachen Nr. 5; den Juden ›Theodorus‹ von Frankfurt, der für die Hanauer Grafen Früchte auf dem Main handelte und eine eben solche besaß, StAWt, G-Rep. 23 Nr. 20; und den Wertheimer Juden Maier, der für die Wertheimer Grafen in Frankfurt Geschäfte abwickelte, StAWt, G-Rep. 57/1 Judensachen Nr. 45 oder Mosche von Rödelsee, der für die Herren von Heßberg in Wertheim Wein aufkaufte, StAWt, G-Rep. 102 Nr. 248. 28 StAWü, G-Akten 10695, fol. 297r–v: Ernst von Crailsheim an Graf Georg Ernst von Henneberg, 1573 Oktober 10, Ansbach. 29 Die Bedeutung herrschaftlich umstrittener Orte oder Regionen für jüdische Siedlungen ist noch nicht systematisch analysiert worden, vgl. nur zuletzt knapp Rohrbacher, Stefan: Die jüdischen Gemeinden in den Medinot Aschkenas zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg. In: Cluse, Christoph [u. a.] (Hg.): Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung. Von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert. Hannover 2003, S. 451– 463, hier S. 455; zur Kondominatssituation der Grafschaft Wertheim und seiner Bedeutung für die Beziehung zwischen Herrschaft und Untertanen Meier, Robert: Souverän und doch geteilt: Kondominate. Eine Annäherung an eine typische Sonderform des Alten Reichs am Beispiel der Grafschaft Wertheim. In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 24 (2002) 3, S. 253–273; bzw. ders.: Hexenverfolgung im Kondominat. Die Grafschaft Wertheim um 1630. In: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 54 (2002), S. 70–82.
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des Schutzherren in den Schutzbriefen oder Ordnungen festgeschrieben und bei fremden Untertanen durchaus ein höherer möglich. Daraus resultierten einerseits wirtschaftlich bedingte Vorteile: Ein höherer Zinssatz ermöglichte riskantere Notkredite. Andererseits wurde als Gegenreaktion den Untertanen der betroffenen Nachbarherrschaften in Dorfordnungen die Geldleihe mit Juden stark eingeschränkt oder gänzlich verboten. Die angedeutete Abgrenzung zwischen Untertanen und auswärtigen Juden in herrschaftlichen Verordnungen30 markiert Letztere als dem Untertanenverband nicht zugehörige Fremde,31 gar illegitime Vagabunden.32 Für die ansässigen Schutzjuden gilt dies freilich nicht: Anders als etwa die württembergischen Landesordnungen, deren Gegenüberstellung von »den Juden« und »Unsere[n] underthonen«33 als Hinweis auf die generelle Nichtzugehörigkeit der Juden zum Untertanenverband gedeutet wurde, halten sämtliche wertheimschen Judenordnungen von 1562 bis 1631 fest, dass die Schutzjuden »gleich anderen unseren Underthanen [...] geschützt und geschirmt werden«34 sollten. Damit korrespondiert auch, dass die Kennzeichnungspflicht für wertheimsche Juden aufgehoben wurde, weil sie »jederman kenntlich«35 waren. Dagegen war der gelbe Ring Pflicht für fremde Juden, deren Aufenthalt ausdrücklich »allein gastweis«36 gestattet, also auf wenige Tage umfassende Zeiträume begrenzt wurde.37 Die einheimischen Schutzjuden konnten also in den Untertanenverband inkludiert werden, während der nicht vertraglich gebundene, fremde Jude zum Vagabunden 30 So warnen die Wertheimer Grafen davor, dass »unßer Bürger und underthanen umb frembder Juden« Wucher geschädigt würden, StAWt, G-Rep. 57 Ordnungen Nr. 49, fol. 8r –9v: Judenordnung des Grafen Michael III. von Wertheim, 1552 Februar 23. 31 Landwehr, Norm (wie Anm. 13), S. 52. 32 Stichweh, Der Fremde (wie Anm. 15), S. 115, nennt mit Härter die Entwicklung vom einheimischen Bettler als Fremden zum Peripheren und vom fremden Bettler zum illegitimen Vagabunden; inwiefern der Schutzjude »Statusvorteile des Fremden« verlor und zum Peripheren wurde, bleibt zu diskutieren. 33 Landwehr, Norm (wie Anm. 13), S. 53 bzw. S. 55. 34 Stellvertretend für die danach bis 1631 wortgleiche Formulierung StAWt, G-Rep. Ordnungen Nr. 49, Judenordnung des Grafen Ludwig von Stolberg, 1562 Juli 25. 35 StAWt, G-Rep. 102 Nr. 251, Dok. 10: Schreiben des Wertheimer Stadtrates an Graf Ludwig zu Stolberg, 1565 Mai 4. 36 StAWt, G-Rep. 57/1 Judensachen Nr. 12, Dok. 2: Judenordnung Graf Ludwig zu Stolbergs, 1565 Februar 22. 37 Im Sinne der von Rudolf Stichweh vorgeschlagenen Differenzierung lassen sich die ›fremden‹ Juden als »Gäste« beschreiben, während ansässige Juden, deren Aufenthalt durch Schutzbriefe für einige Jahre erlaubt war, dann als »Gastarbeiter« zu bezeichnen wären, Stichweh, Der Fremde (wie Anm. 15), S. 76–79.
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wurde, der als die Ordnung bedrohender Faktor ausgeschlossen, zumindest aber von der dauerhaften Anwesenheit abgehalten werden musste. Während die implizit stets ›anwesende‹ Grenzziehung zwischen Christen und Juden, solange sie innerhalb des wertheimschen Untertanenverbandes gewahrt blieb, nicht eigens markiert werden musste, galt es aus Sicht der Herrschaft, die Grenzziehung zwischen dem Untertanenverband zugehörigen und ›fremden‹ Juden zusätzlich zu betonen. Niklas Luhmann meint dazu, dass »[d]ie Differenz Inklusion/Exklusion [in stratifizierten Gesellschaften] innergesellschaftlich rekonstruiert [wird]«38 und erst die »Existenz nichtintegrierbarer Personen oder Gruppen [...] soziale Kohäsion sichtbar werden [lässt]«.39 Die Juden können als eine dieser Gruppen verstanden werden, die sich im ›Außen‹ der Selbstbeschreibung der christlichen Mehrheitsgesellschaft befinden. Um die beschriebene soziale Kohäsion zu gewährleisten, ist ihre Anwesenheit, ihre Sichtbarkeit notwendig. Die grundsätzliche Verortung der Juden im ›Außen‹ bleibt auch dann bestehen, wenn sie im Zusammenhang mit dem herrschaftlich verbrieften Recht auf Schutz Aufgaben und Pflichten zuerteilt bekommen, die semantisch immer als Ausnahme markiert sind: Juden sind nie selbstverständlich Teil der Mehrheitsgesellschaft, sondern ihre Anwesenheit muss ausdrücklich legitimiert sein. Diese Grundkonstellation von Herrschaft und Juden zueinander kann dabei die unterschiedlichsten Ausprägungen annehmen: Vom ausgewiesenen vagabundierenden Betteljuden bis zum konfliktarm lebenden Handwerker, Arzt oder Buchführer ist eine Vielzahl von Existenzweisen und damit auch Inklusions-/Exklusionsgrenzen möglich, ohne dass die grundsätzliche semantische Trennung in Frage gestellt werden müsste. Vor dem Hintergrund dieser semantischen Grundverortung der Juden kann man die Schutzbriefe als zeitlich begrenzte Duldung von Personen im ›Außen‹ begreifen. Dass sie keine Inklusion in die christliche Mehrheitsgesellschaft bedeuten, sondern den Umgang mit Personen im Exklusionsbereich der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung regeln, zeigt folgendes Beispiel. Als 1594 der Schutzbrief einer zu Remlingen ansässigen Judenfamilie auslief, wurden Bitten um Verlängerung von castellscher Seite abgelehnt. Das Oberhaupt der Familie, Seligmann, schaltete den Wertheimer Grafen, ebenfalls Dorfherr in Remlingen, ein und erwirkte einen Aufschub der Ausweisung. Im Verlauf der folgenden Auseinandersetzungen bediente sich die castellsche Gegenseite zunächst einer anderen zeitgenössischen Inklusionsfigur, 38 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1998, S. 623. 39 Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 38), S. 621.
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der Huldigung, um die Exklusion weiter zu betonen. Jene »rechtsförmliche, durch Gelübde oder Eid vollzogene Anerkennungshandlung«40 konstituierte eine Treuebindung zwischen Herrscher und Beherrschtem. Die Huldigungsleistung wurde »als Recht vom Herrn gefordert und als Pflicht vom Beherrschten geleistet«.41 Zur Huldigungsleistung waren der Rechtstradition der Frühen Neuzeit zufolge die Juden jedoch nicht verpflichtet.42 Weil Seligmann »keine Huldigung wie andere Burger gethan«43 habe, wurden die Juden vom Grafen zu Castell nach Ablauf einer kurzen Frist des Dorfes verwiesen. Zusätzlich erklärte der Graf im Hof des castellschen Schlosses in Remlingen im Beisein des Gesindes die Juden für »vogelfrey«.44 Dadurch wurde die Verortung der Juden im ›Außen‹ explizit aktualisiert. Aus der Nachbarschaftsgemeinde ausgeschlossen, werden die Juden zu Fremden im Dorf.45 Das Attribut ›vogelfrei‹ war zudem geeignet, jeden Schutzanspruch aus dem Gastrecht auszuschalten. Die sich anschließenden Übergriffe seitens der Dorfbevölkerung folgten diesem herrschaftlichen Akt: Mit Steinwürfen wurden Haus, Fenster, Herd und die Juden selbst attackiert, während dazu Musik gespielt wurde. Diese Übergriffe markieren den Exklusionsbereich der Dorfgemeinschaft, weisen aber auch spezifisch antijüdische Charakteristika auf.46 Bei der Rechtfertigung der 40 Vgl. die Definition bei Holenstein, Andre´: Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800–1800). Stuttgart 1991, S. 9. 41 Holenstein, Huldigung (wie Anm. 40), S. 6. 42 Holenstein, Huldigung (wie Anm. 40), S. 69. Konstitutiv war für den Ausschluss der Juden von der Huldigungsleistung offenbar die Unterscheidung zwischen Untertanen und Einwohnern, Letztere hatten durch einen zeitlich befristeten Aufenthalt spezifischen Gesetzen Gehorsam zu leisten, Charakteristika, die denen des Schutzjudenstatus gleichen. Während die wertheimschen Schutzjuden, wie gezeigt, als den Untertanen gleich semantisiert wurden, gab es auch für sie keinerlei Huldigungspflicht. Stattdessen mussten die Juden lediglich einen Revers auf ihre Schutzbriefe leisten, der sie zur Einhaltung der Judenordnung und speziell zur Unterlassung von Gotteslästerungen verpflichtete. 43 StAWt, G-Rep. 50 Nr. 62, Dok. 28, fol. 1r. 44 Schmidt-Wiegand, Ruth: Vogelfrei. In: Erler, Adalbert (Hg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 5. Berlin 1998, Sp. 930–932. 45 Zu den verschiedenen Systembildungsebenen, in denen Inklusions- und Exklusionsprozesse ablaufen können, Stichweh, Der Fremde (wie Anm. 15), S. 112–114. 46 Die gegen die Remlinger Juden eingesetzten Steinwürfe sind als spezifische Form antijüdischer Gewalttaten seit dem Mittelalter bekannt, vgl. Ullmann, Nachbarschaft (wie Anm. 3), S. 458– 466; bzw. Mentgen, Gerd: Der Würfelzoll und andere antijüdische Schikanen in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Zeitschrift für historische Forschung 22 (1995) 1, S. 1– 48, hier S. 18 f.; auch das vor Seligmanns Haus abgehaltene Geigenspiel erinnert an die Schikane des Musizierens im Haus eines Juden, ebd., S. 37; Ries, Rotraud: Jüdisches Leben in Niedersachsen im 15.
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Casteller Grafen lassen sich die von Alois Hahn angedeuteten Merkmale der Exklusion von Fremden beobachten: Als »sozial wirksame Annahme ›devianten Seins‹«47 wurden bekannte Argumentationsmuster,48 etwa in Gestalt des Gotteslästerungsvorwurfs49 oder der Unterstellung »Judischer unwarhait«,50 bemüht. Besonders in protestantischen Gebieten hatten ältere antijüdische Stereotype wie etwa die Ritualmordlegende oder der Hostienfrevel »viel intellektuellen Kredit verloren«,51 sodass Exklusionssemantiken wie der Vorwurf der Gotteslästerung zunehmend Konjunktur hatten. Im Gespräch gab der Graf Seligmann gegenüber jedoch zu, er habe »kein Clag uber mich vernohmen, Weil sie aber under Ihrem Gebiet Juden Zugedulden nit gedachten [...] Wehre dieser weg [...] furgenohmen worden«.52 Die Umsetzung der semantischen Exklusion konnte also gegen eine Fremdgruppe durchgeführt werden, ohne dass die ihr zugeschriebenen Stereotype in
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und 16. Jahrhundert. Hannover 1994, S. 426 f.; Angriffe auf Haus und Herd richten sich wiederum gegen die Zugehörigkeit der Juden zur Nachbarschaft, deren »Kreis war meist identisch mit den haushäbigen Bauern, die einen eigenen Herd besaßen«; Helm, Winfried: Konfliktfelder und Formen der Konfliktaustragung im ländlichen Alltag der frühen Neuzeit. Ergebnisse einer Auswertung von Gerichtsprotokollen. In: Ostbairische Grenzmarken (1987), S. 48– 67, hier S. 52; den Herd funktionsunfähig zu machen »bedeutete die Auflösung des Hausstandes«; Kramer, Karl-Sigismund: Bauern und Bürger im nachmittelalterlichen Unterfranken. Eine Volkskunde auf Grund archivalischer Quellen. Würzburg 1957, S. 142. Hahn, Alois: Exklusion und die Konstruktion personaler Identitäten. In: Raphael, Lutz (Hg.): Zwischen Ausschluss und Solidarität. Modi der Inklusion / Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike (Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 6). Frankfurt a. M. [u. a.] 2008, S. 65–96, hier S. 90. Ullmann, Die jüdische Minderheit (wie Anm. 23), S. 542, hat etwa die strategische Verwendung von antijüdischen Stereotypen in Verfahren vor dörflichen Niedergerichten festgestellt. Zur gestiegenen Bedeutung des Gotteslästerungsvorwurfs in der Konfessionalisierungszeit Schwerhoff, Gerhard: Blasphemie zwischen antijüdischem Stigma und kultureller Praxis. Zum Vorwurf der Gotteslästerung gegen die Juden in Mittelalter und beginnender Frühneuzeit. In: Aschkenas 10 (2000) 1, S. 117–155, bes. S. 140–144; der Gotteslästerungsvorwurf gegen Seligmann von Remlingen in StAWt, G-Rep. 50 Nr. 62, Dok. 41, fol. 4v: Rechtfertigungsschreiben Graf Wolfgangs II. zu Castell an den Grafen Ludwig zu Löwenstein-Wertheim, 1597 April 11, Remlingen. StAWt, G-Rep. 50 Nr. 62, Dok. 41, fol. 1r. Schwerhoff, Blasphemie (wie Anm. 49), S. 144; vgl. Hsia, Ronnie Po-chia: The Myth of Ritual Murder. Jews and Magic in Reformation Germany. New Haven 1988, S. 228. StAWt, G-Rep. 50 Nr. 62, Dok. 28, fol. 1r: Seligmann zu Remlingen an Graf Ludwig zu Löwenstein-Wertheim, 1596 Mai, Remlingen.
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irgendeiner Weise tatsächlich wirkmächtig waren. Die praktische Exklusion musste aber zusätzlich – dies ist im geschilderten Beispiel der komplexen Herrschaftssituation geschuldet, durch die eine alternative Ausnahmeregelung in Gestalt eines Schutzes durch den Wertheimer Grafen gegeben war – durch eine Devianzzuschreibung legitimiert werden. Der Umgang mit den Remlinger Juden rekurriert auf die grundsätzliche Trennung von ›Innen‹ und ›Außen‹ der zeitgenössischen Selbstbeschreibung. Ihnen wird kein semantisch neuer Status zugeschrieben, sondern die bis dahin gültige Ausnahmebehandlung endet. Sie werden, sobald der verbriefte Schutzstatus ausläuft, nicht erst exkludiert, vielmehr kann mit den Personen im Exklusionsbereich anders verfahren werden. Dennoch erfordert auch diese exkludierende Praktik wiederum eine Legitimation, die durch das – konstruierte – deviante Verhalten, die verweigerte Huldigung, gegeben war. 2. Christen und Juden als Fremde und Nachbarn – religiöse Differenz, ökonomische Konkurrenz und sozialer Konflikt Gerade für die religiös-kulturelle Komponente des Inklusions-/Exklusionsregimes sind zeitliche, aber auch räumliche Konflikte konstitutiv.53 So ergab sich der Streit um die Störung der Feiertagsruhe durch den Abschluss von sonntäglichen Geschäften aus einander überlappenden Kalendern. Andererseits eröffneten sich hier auch Chancen: Die Anstellung christlicher ›Sabbatmägde‹ ergab sich etwa aus dem jüdischen Arbeitsverbot am Sabbat. Im Handel vor der Kirche zeigten sich zugleich auch Raumkonflikte. Die Aktualisierung antijüdischer Semantiken ging deshalb von den Dorfpfarrern aus, die indes auch materiell motivierte Interessen verfolgten.54 Auch in der Bevölkerung spielten religiöse Argumente durchaus eine Rolle, etwa wenn gefragt wurde, warum Katholiken vertrieben, Juden aber geduldet würden. Auf die angesprochenen räumlichen Konflikte weisen auch Klagen gegen die »unschöne [...] Lautlichkeit«55 jüdischer Gebets53 Daxelmüller, Christoph: Die Zeit des Alltags. Jüdische Lebensformen in fränkischen Landgemeinden. In: Hofmann, Rainer (Hg.): Archäologie und Geschichte. Tüchersfeld 1990, S. 67–83, hier S. 69. 54 Vgl. nur Ries, Rotraud: Zur Bedeutung von Reformation und Konfessionalisierung für das christlich-jüdische Verhältnis in Niedersachsen. In: Aschkenas 6 (1996) 2, S. 353– 421; zur wirtschaftlichen Bedeutung ausbleibender Stolgebühren für die Pfarrer vgl. nur Mordstein, Johannes: Stolgebührenstreitigkeiten zwischen Pfarrern und Juden im 17. und 18. Jahrhundert am Beispiel der Grafschaft Oettingen. In: Fassl, Peter (Hg.): Zwischen Nähe, Distanz und Fremdheit. Augsburg 2007, S. 39– 60. 55 Stichweh, Inklusion (wie Anm. 26), S. 142.
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gesänge, die Sichtbarkeit der Begräbnisriten56 auf jüdischen Friedhöfen oder das ›Gepränge‹ der Synagoge hin, die mit der Forderung verbunden waren, die Ausübung der jüdischen Religion nur im Privaten zuzulassen. Innerhalb religiöser Kontexte war die Anwesenheit von Juden semantisch legitimiert: Ihre heilsgeschichtliche Bedeutung, ihre Missionierbarkeit und im dörflichen Kontext vor allem ihre Eignung als Negativbeispiel sittlich-religiösen Lebens in den Predigten von Dorfpfarrern verliehen den Juden eine diskursive Rolle im religiösen Bereich.57 Dadurch wird die Grenzziehung zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ perpetuiert und gleichzeitig deutlich, dass das ›Außen‹ der Gesellschaft »soziale Kohäsion sichtbar werden [lässt]«.58 Die Semantik ›Jude‹ übernimmt im Rahmen der christlichen Liturgie die Negativfolie, vor der man die eigene Ordnung als gottgewollt und richtig versteht. Zentrale Komponenten wirtschaftlicher Aspekte jüdischer ›Fremdheit‹, etwa das Verbot des Bodenbesitzes, die Zwischenhändlerfunktion59 oder die Ausfüllung ökonomischer Nischen, sind allesamt im Quellenmaterial belegbar.60 Juden erfüllten durch Überbrückungskredite, die Lieferung von Nahrungsmitteln, Gebrauchsgegenständen und Ackertieren eine Versorgungsfunktion für das Umland der Städte und Märkte,61 belieferten aber auch die städtischen Märkte mit dem dörflichen Warenbestand. Die flexible Kombination von Kredit, Pfand, Tausch oder Naturalienzahlung sowie weitreichende Handelsbeziehungen zu den Messen waren für die Kunden der Landjuden besonders attraktiv, als »unzulässige Innovationen«62 jedoch 56 StAWü, Kloster Ebrach Akten 3210, fol. 79: Verhörprotokoll des Amts Mainstockheim, 1615 Januar 12. 57 Lang, Stefan: Bauernpredigt, Judenfeindschaft und Fürstenkritik. Lukas Osiander der Ältere als Abt von Adelberg (1596–1598). In: Hohenstaufen, Helfenstein: Historisches Jahrbuch für den Kreis Göppingen 16 (2006), S. 113–136. 58 Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 38), S. 621. 59 »Der ›Fremde‹«, so Cahnman, »ist ein Außenseiter, dem man mit Mißtrauen entgegentreten mag und der möglicherweise zum Feind werden kann. Aber der ›Fremde‹ als ›Vermittler‹ ist ein Nachbar, ein Freund, ein Helfer und ein Heiler.« Cahnman, Der Pariah (wie Anm. 3), S. 177; zur Vermittlerfunktion als klassische frühmoderne Leistungsrolle von Fremden Stichweh, Inklusion (wie Anm. 26), S. 33. 60 Vgl. Stretz, Juden (wie Anm. 12). 61 Schenk, Winfried: Die mainfränkische Landschaft unter dem Einfluß von Gewerbe, Handel, Verkehr und Landwirtschaft. In: Kolb, Peter / Krenig, ErnstGünter (Hg.): Vom Beginn des konfessionellen Zeitalters bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. Würzburg 1995, S. 519–589, S. 560. 62 So Battenberg, J. Friedrich: Grenzen und Möglichkeiten der Integration von Juden in der Gesellschaft des Ancien Re´gime. In: Beer, Mathias [u. a.] (Hg.): Migration und Integration. Aufnahme und Eingliederung im historischen Wandel. Stuttgart 1997, S. 88–110, hier S. 91.
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häufiger Gegenstand der Beschwerden christlicher Konkurrenten. Wenn Klagen von Winzern oder Krämern das Gehör einer ebenfalls judenfeindlichen Obrigkeit fanden, dann konnten die Geschäftsmethoden der Juden, die sie für die Bevölkerung mitunter unverzichtbar machten, als Argument einer Aktualisierung ihrer Verortung im ›Außen‹ herangezogen werden. Ähnlich wurden antijüdische Stereotype in Konflikten als semantisches Repertoire abgerufen: Gerade im Pfand-, Vieh- und Pferdehandel verbanden sich »Vorurteilsbildung[en] ›von langer Dauer‹«63 wie der Hehlereivorwurf oder der betrügerische ›Kuhhandel‹ mit tatsächlichen Berührungspunkten zwischen Diebstahl und Pfandleihe einerseits und den praktisch bestehenden Risiken des Geschäftszweigs Viehhandel andererseits.64 Eine Leitsemantik, mit der wirtschaftliche Krisen als Ergebnis jüdischer Praktiken gedeutet werden konnten, bot der »Judenwucher«,65 zugespitzt zum Landsverderbervorwurf66 und verbunden mit der Zuschreibung vom »müssiggehend Volck«67 oder der Semantik des ›Verjudens‹ als Synonym für den Verkauf von Pfändern.68 In Krisensituationen dynamisierten sich solche 63 Ullmann, Die jüdische Minderheit (wie Anm. 23), S. 547; Rohrbacher, Stefan / Schmidt, Michael: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 23, sprechen von »Strukturen langer Dauer«. 64 Rohrbacher / Schmidt, Judenbilder (wie Anm. 63), S. 129 f.; bzw. Ullmann, Die jüdische Minderheit (wie Anm. 23), S. 551. 65 Vgl. nur Ullmann, Die jüdische Minderheit (wie Anm. 23), S. 31; Frey, Winfried: »Zehen tunne goldes«: zum Bild des »Wucherjuden« in deutschen Texten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Dauven-van Knippenberg, Carla (Hg.): Soˆ wold ich in fröiden singen. Festgabe für Anthonius H. Touber zum 65. Geburtstag. Amsterdam 1995, S. 177–194; Magin, Christine: Hans Folz und die Juden. In: Honemann, Volker (Hg.): Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Tübingen 2000, S. 371–397. 66 Im Jüden Spiegel des Vespasianus Rechtanus (alias Johann Baptist Cäsar, ein Frankfurter Syndikus) aus dem Jahre 1606 findet sich diese Variante der Landschädlichkeit, Hortzitz, Nicoline: Die Sprache der Judenfeindschaft in der frühen Neuzeit (1450–1700). Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation. Heidelberg 2005 (Habil.-Schrift. Universität Augsburg 2001), S. 62 bzw. S. 253; im Untersuchungsraum zeugt etwa die Dorfordnung Wiesenbronns von 1588 von diesem Vorwurf, wonach die Juden »mit Ihrem Übernachten Wucher [brächten], offentliche Landtsverderber« seien, Fürstlich Castellsches Archiv (FCA ), KA D II 3/83: Dorfordnung von Wiesenbronn, 1588 Juli 18. 67 Zum Vorwurf des Müßiggangs vgl. etwa Magin, Hans Folz (wie Anm. 65); Kirn, Hans-Martin: Das Bild vom Juden im Deutschland des frühen 16. Jahrhunderts. Dargestellt an den Schriften Johannes Pfefferkorns. Tübingen 1989, S. 77 f.; im eigenen Quellenmaterial findet sich der Vorwurf des Müßiggangs fast ebenso oft wie der des Wuchers; vgl. etwa FCA , KA D II 3/52 bzw. 3/53 oder StAWt, G-Rep. 57/1 Judensachen Nr. 14.
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Vorwürfe etwa durch eine Fremdgruppenkonstruktion unter Hinzuziehung von Vagabunden, den müßiggehenden Söldnern auf der ›Gard‹, die von den Juden angeblich durch ihren Reichtum oder ihre Handelstätigkeiten in die Dörfer gelockt würden.69 Durch die Abrufung solcher Stereotype etwa in Gerichtsverhandlungen wurden diese aber auch »pragmatisiert«70 und die Grenze zwischen ›Innen‹ und Außen‹ »lebendig«71 gehalten. In allen genannten Fällen ist zu berücksichtigen, dass der überproportionale Konfliktgehalt der Quellen auf deren Genese in konkreten »Händeln« zurückzuführen ist und deshalb nicht den Blick darauf verstellen sollte, dass jüdisch-christliche Koexistenz im Alltag häufig von Pragmatismus gekennzeichnet war; das bezeugen langjährige Geschäfts- oder Dienstbeziehungen zwischen Krämern und Tagelöhnern ebenso wie der Austausch von Expertisen zwischen Viehhändler und Dorfschmied.72 Hieran ist zu erkennen, dass der Exklusionsbereich, das ›Außen‹ der Gesellschaft, keinesfalls mit einer permanenten Bedrohung von Leib und Leben für die dort verorteten Menschen einhergeht. Gerade weil der Exklusionsbereich funktionslogisch notwendig für eine stratifizierte Gesellschaft ist, entwickelt sie Semantiken und Praktiken, diesen und damit auch die Grenzziehung zu ihm aufrechtzuerhalten.
3. Selbstverständnis und Inklusion/Exklusion Im Gegensatz zu anderen Personen im ›Außen‹ der Gesellschaft, wie zum Beispiel ›Vaganten‹ oder absoluten Armen,73 stellt die Situation der Juden dahingehend einen Spezialfall dar, dass die Juden selbst eine Gesellschaft waren. Ebenso wie die christliche Gesellschaft verfügten sie über Selbstbeschreibungssemantiken, die jedoch die Machtasymmetrie zwischen jüdischer 68 StAWt, G-Rep. 57/1 Judensachen Nr. 14, fol. 19v: Wertheimscher Kanzleischreiber Johann Euchardt an Fiskal Adam Drach, 1633 Juli 19, Wertheim. 69 Stichweh, Der Fremde (wie Anm. 15), S. 111 operationalisiert »Juden als Fremde, Zigeuner als Vagabunden und Bettler als Periphere«. 70 Daxelmüller, »Mörder« (wie Anm. 8), S. 21. 71 Vgl. etwa den Fall eines Gerichtsstreits zwischen dem Wertheimer Bader und den Juden Mänlin und Jakob wegen Betrugs bei einem Pferdehandel, in dem der Bader immer wieder betonte, er habe die Juden mehrfach gebeten, seine eigene mangelnde Sachkenntnis nicht durch Betrug zu bestrafen, was sie schließlich aber nicht daran gehindert habe, ihn zu übervorteilen, StAWt, G-Rep. 102 Nr. 2893, Dok. 3: Bader Hans Kißling von Wertheim gegen die Juden Mänlin und Jakob wegen Betrugs beim Pferdekauf, 1640 Februar 8; vgl. Ullmann, Die jüdische Minderheit (wie Anm. 23), S. 548. 72 Vgl. Ullmann, Kontakte (wie Anm. 8) bzw. die angekündigte Dissertation. 73 Vgl. dazu den Beitrag von Katrin Dort in diesem Band.
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und christlicher Gesellschaft berücksichtigten. Da die Herrschafts- und Obrigkeitsverhältnisse, die auch für Juden galten, sich von der Selbstbeschreibung der christlichen Gesellschaft herleiteten, war für die Juden nur eine Differenzierungsform möglich, die flexibel auf alle Ausprägungen der Disponibilität des Rechts auf Aufenthalt reagieren konnte.74 In den Selbstbeschreibungssemantiken der jüdischen Gesellschaft war die Entwicklung generationsübergreifender Bezüge zu den tatsächlichen Lebensräumen analog zur Disponibilität des Aufenthaltsrechts flexibel, was im Folgenden an den Beispielen jüdischer Friedhöfe deutlich wird. Seit der wiederholten Ausweisung der Juden aus dem Hochstift Würzburg und der Gründung des Juliusspitals auf seinem Boden 1574 war der bedeutendste und älteste Friedhof des jüdischen ›Lands zu Franken‹ unbenutzbar geworden.75 Jüdische Friedhöfe waren aber für das Steuerwesen, die Jurisdiktion und vor allem die Identitätsbildung der Gemeinden von zentraler Bedeutung. Denn der Friedhof vereinte das Andenken an die Vorfahren mit der heimatlichen Erde, verband also Zeit und Raum.76 Bereits nach den ersten Ausweisungsmandaten behalfen sich die ritterschaftlichen Juden mit der Einrichtung neuer oder der Reaktivierung älterer Friedhöfe: So entstand in dem Weindorf Rödelsee mit etwa 500 Einwohnern 1563 ein jüdischer Friedhof, der jüdischen Siedlungen im Umkreis von etwa einer Tagesreise als Beerdigungsstätte diente.77 Er nahm für einen Teil der ritterschaftlichen Juden im Bistum eine Ersatzrolle ein, die sich nun als »Juedenschafft zu dem Juedenleichhoff 74 Diese Vorteile bietet laut Luhmann die segmentäre Differenzierung: »In Notfällen kann die Gesellschaft übergreifend Zusammenfassungen aufgeben und auf ein kleineres Format schrumpfen, ohne ihre Überlebensfähigkeit zu verlieren; und ebenso kann sie den Ausfall vieler ihrer Segmente [. . .] verkraften. Die Restbestände haben immer noch die Möglichkeit eines fast voraussetzungslosen Neubeginns.« Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 38), S. 637 f. 75 Ähnlich wie im christlichen Bereich war der Terminus ›Land Franken‹ (ñqnru Ñra) bereits im Mittelalter von den Juden gebraucht worden, um den Würzburg zugeordneten Bereich in der Nürnberger Memorliste zu kennzeichnen, vgl. Barzen, Rainer: Regionalorganisation jüdischer Gemeinden im Reich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Eine vergleichende Untersuchung auf der Grundlage der Ortslisten des Deutzer und des Nürnberger Memorbuches zur Pestverfolgung. In: Haverkamp, Alfred (Hg.): Geschichte der Juden im Mittelalter von der Nordsee bis zu den Südalpen. Kommentiertes Kartenwerk. Hannover 2002, S. 293–366, hier S. 305 (mit konkretem Bezug auf das Bistum), S. 322–324. 76 Cahnman, Werner J.: Village and Small-Town Jews in Germany. A Typological Study. In: Year Book of the Leo Baeck Institute 19 (1974), S. 107–130, hier S. 117. 77 StA Würzburg, Gebrechenamt FG II 906: Freiung des Judenfriedhofs von Rödelsee, 1614 November 1; vgl. zur Rolle der jüdischen Gemeinde Rödelsees Stretz, Juden (wie Anm. 12).
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Röttelßheimb[!] gehörig«78 nur noch über den Begräbnisort definierten. Einen ähnlichen Hintergrund kann man für die Entstehung des Kleinbardorfer (1574)79 und des Schwanfelder Judenfriedhofs (1579)80 annehmen; diese drei Friedhöfe deckten geographisch wahrscheinlich den größten Teil des Hochstiftes ab. Durch die Transformation der mittelalterlichen Organisationsstruktur des Friedhofs gelang es den Juden trotz der genannten herrschaftlichen Maßnahmen, eine Verbindung zur Tradition, zu ihrer Heimat aufrechtzuerhalten. Hier lässt sich eine Brücke zwischen den Vertreibungen aus den Städten und Territorien des Spätmittelalters und der Herausbildung regional bzw. territorial organisierter Landjudenschaften schlagen: Die Rekonsolidierung gelang, indem der urbane Bezugspunkt des jüdischen ›Landes‹ Franken, Würzburg, durch mehrere kleinere ›Gemeinden‹ ersetzt wurde, die sich über die gemeinsame Begräbnisstätte und nicht mehr über einen zentralen städtischen Wohnort definierten. Weiterhin dienten in Franken die ›Minhagim‹, d. h. die jüdischen Festund Alltagsbräuche,81 und die, wie die Jiddistik gezeigt hat, fränkische Sprache der Juden82 zur Stabilisierung der eigenen Identität. Schließlich können jüdische Selbstbeschreibungssemantiken, die die Quellen meist indirekt überliefern, zeigen, wie die aus diesen Semantiken abgeleiteten Ansprüche mit der Stellung der Juden als ›Außen‹ der christlichen Gesellschaft in Konflikt geraten: Die Juden verwiesen etwa darauf, dass Missstände von Christen wie Juden gleichermaßen verschuldet waren, reklamierten einen gleichwertigen Status und grenzten sich selbst von »unredtlichen«, also kriminellen Juden ab.83 Wenn es ihnen nötig erschien, machten die Juden 78 StA Würzburg, Gebrechenamt FG II 906, fol. 1r. 79 Freiherr von Bibra, Wilhelm: Beiträge zur Familien-Geschichte der Reichsfreiherrn von Bibra. Auf Grund urkundlicher Nachrichten. Bd. 2. München 1882, S. 394; vgl. auch Albert, Reinhold: Geschichte der Juden im Grabfeld. 2. Aufl. Kleineibstadt 1996, S. 82; in Kleinbardorf ist zudem ein Zusammenhang mit den Ausweisungen des Henneberger Grafen 1555 anzunehmen, der von Henneberger Juden benutzte Sulzfelder Friedhof ist als Vorgänger des Kleinbardorfer Friedhofs angenommen worden, Litt, Juden (wie Anm. 13), S. 113. 80 Römmelt, Armin: 1200 Jahre Schwanfeld. Schwanfeld 1972, S. 76. 81 Daxelmüller, Christoph: Holekreisch und Hamanklopfen. Jüdisches Brauchtum in Franken. In: Frankenland. Zeitschrift für fränkische Landeskunde und Kulturpflege 40 (1988) 7, S. 281–290, hier S. 282 f. 82 Levita, Elia: Paris un Wiene. Ein jiddischer Stanzenroman des 16. Jahrhunderts, hg. von Erika Timm. Tübingen 1996, S. CXIX ; vgl. zur Sprache als identitätsbildende Kraft Daxelmüller, Christoph: Juden in Franken – jüdische Franken. In: Blessing, Werner K. / Weiß, Dieter J. (Hg.): Franken. Vorstellung und Wirklichkeit in der Geschichte. Neustadt a. d. Aisch 2003, S. 271–288, hier S. 276–279. 83 StAWt, G-Rep. 57/1 Judensachen Nr. 40; StAWt, G-Rep. 102 Nr. 251, fol. 39r; FCA , KA D II 3/53.
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aber auch auf ihre Glaubenszugehörigkeit aufmerksam, etwa um einer Strafe zu entgehen, die nur innerchristlich einen Sinn ergab.84 Zum Selbstverständnis der Juden gehörte dabei eine ausgeprägte Ehrvorstellung, die leidenschaftlich verteidigt wurde.85 Zwar zogen Christen in konflikthaften Kontexten gegenüber Juden den »Exklusionsmodus der Infamie«86 heran, um ihre eigene Position semantisch zu legitimieren: Untersuchungen zur Gerichtspraxis zeigen aber, dass diese Semantik keine erkennbaren Auswirkungen auf die Rechtsprechung hatte.87 Bestätigung konnte jüdische Ehre paradoxerweise durch christliche Klagen über ehrmindernde Angriffe seitens der Juden erfahren: Ein von dem Juden Lew von Wertheim als »Schelm, Dieb, Bernheuter Hund und Vieles mehr« gescholtener wertheimscher Amtmann zeigte den Juden vor Gericht an, obwohl »an meiner ehren ein solcher Gottsvergessener und Gottloser gesell wenig abbrechen oder nachtheilig sein mag«.88 Dem Juden wurde erst durch die Anzeige des Angriffes implizit der Ehrstatus zugestanden, der einen solchen Angriff auf den Christen ermöglichte.89 Mithin ist mit Sabine Ullmann nicht nur der Status der Juden als ehrlose Gruppe in Frage zu stellen, sondern auch auf die »fundamentale Bedeutung der Ehre als Medium ständischer In- bzw. Exklusion« zu verweisen.90
4. Inklusion und Exklusion als kulturwissenschaftliche Analysekategorie Inklusion kann mit Luhmann so verstanden werden, dass »das Gesellschaftssystem Personen vorsieht und ihnen Plätze zuweist, in deren Rahmen sie erwartungskomplementär handeln können«.91 Die Besonderheit der dem Beitrag zugrundeliegenden Situation ergibt sich daraus, dass der 84 So verwies der Jude Maier, der beim Glockengeläut entgegen der (für Christen) geltenden Regeln nicht aus Ehrerbietung den Hut abgenommen hatte, darauf, dass dies den Wertheimer Juden aber im Zuge ihrer Eidesleistung gestattet worden sei; StAWt, G-Rep. 57/1 Judensachen Nr. 50, fol. 4r –5v. 85 Ullmann, Kontakte (wie Anm. 8), S. 311. 86 Bohn, Inklusion (wie Anm. 16), S. 17. 87 Ullmann, Die jüdische Minderheit (wie Anm. 23), S. 556 f. 88 StAWt, G-Rep. 57/1 Judensachen Nr. 6, fol. 1v –2r. 89 Ullmann, Kontakte (wie Anm. 8), S. 290, betont, dass die Partizipation der Juden am zeitgenössischen Ehrdiskurs bzw. an Ehrenhändeln nicht deren Anerkennung als »Beachtenswerte, sozial gleichrangige Person[en] vorraussetzen«. 90 Weller, Thomas: Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft. Stand und Perspektiven der Forschung. In: Füssel/Weller, Soziale Ungleichheit (wie Anm. 19), S. 3–23, hier S. 7. 91 Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 38), S. 621.
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jüdischen Gesellschaft ein Platz im ›Außen‹ der christlichen zugewiesen wird und beide Gesellschaften miteinander in wechselseitigen Interdependenzen stehen. Diese lassen sich als Inklusions-/Exklusionsregime beschreiben, aus dem wiederum spezifische Semantiken und Praktiken resultieren. Die jüdische Gesellschaft stabilisiert durch ihre eigene Organisation als ›Gesellschaft‹ den Exklusionsbereich der christlichen Gesellschaft. Dieser wird damit als ein ›Außen‹ verfügbar gehalten, das die eigene Sinnhaftigkeit versichert. Die Vergabe von Schutzbriefen war seitens der Herrschaft zwar auf unterschiedlichste Weise motiviert, bestätigte jedoch die Ordnung der stratifizierten Gesellschaft, die diese spezifische Praxis überhaupt erst hervorgebracht hatte. Die aus ihr resultierende weitgehend konfliktfreie ›Koexistenz‹ von Christen und Juden ist auf Ebene der Praktiken ein Effekt der funktionslogischen Notwendigkeit der stratifizierten Gesellschaft, da die Angewiesenheit auf ein ›Außen‹ auf der Ebene der Semantiken nicht reflektiert werden kann. Dass die Duldung von Juden revidierbar war, ist der grundlegenden christlichen Unterscheidung zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ geschuldet. Die Legitimation zur rechtlichen Verankerung dieser Duldung erfolgte durch die Herrschaft. Exklusionsprozesse verliefen mithin an den Konfliktlinien zwischen den verschiedenen Dorfherren oder zwischen Herrschaft und Gemeinde. Für Inklusion wie für die Exklusion standen Herrschaften, Gemeinden und auch den Juden selbst ein mehr oder weniger dynamisches Set von Instrumentarien zur Verfügung. Dazu zählen Schutzbriefe und Ordnungen, die gleichzeitig aber auch den Status als Angehöriger einer Sondergruppe markierten und Exklusionsoptionen enthielten. Zwischen Bewilligung und Neuverhandlung von Schutzverhältnissen waren die christlichen Nachbarn diejenigen, mit denen die ›nahen Fremden‹ koexistieren mussten. In Auseinandersetzungen um wirtschaftliche Konkurrenzsituationen oder konkrete Streitfälle bedienten sich die Nachbarn der Juden semantischer Exklusionsfiguren in Form antijüdischer Stereotype. Diese wurden auch von Herrschaften instrumentalisiert, um antijüdische Maßnahmen zu legitimieren und sich von anderen, Juden schützenden Herrschaften abzugrenzen. Für herrschaftliche Inklusion lassen sich enge Zusammenhänge mit der Übernahme von Leistungsrollen durch die Schutzjuden feststellen: Die wirtschaftliche oder logistische Expertise der Juden wurde genutzt, war mitunter Voraussetzung für erfolgreiche Schutzaufnahmeverhandlungen. Diese Form der Inklusion blieb jedoch funktional orientiert, die Juden waren theoretisch ersetzbar, wenn dies auch strukturell erschwert war. Auch die Instrumente, die Juden zur Identitätsbildung verwendeten, lassen sich in ein breites Spektrum einordnen. Hier sind die Betonung glaubensspezifischen Brauchtums, wie das Begehen von Festen, die Beachtung der
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Gebote, die Bewahrung der Ehre und die Pflege von identitätsstabilisierenden Einrichtungen, besonders des jüdischen Friedhofs als Bindeglied über Raum und Zeit gleichsam als »Kommunikation mit Abwesenden«,92 zu nennen. Die Vorstellung, dass Inklusion und Exklusion immer Kehrseiten einer Medaille sind, kann dabei helfen, dem eingangs angedeuteten Forschungsdesiderat auch in einer weiteren Hinsicht abzuhelfen: Das Verständnis von Konzentrations- bzw. Formationsorten,93 an denen sich Rekonsolidierungsprozesse jüdischen Lebens abspielten, wie sie etwa in Rödelsee zweifelsfrei stattgefunden haben, sind ohne genaue Kenntnisse der vorausgehenden Exklusion, im Beispiel die Ausweisung aus dem Hochstift Würzburg, nicht erklärbar. Betrachtet man die Entwicklung einseitig aus Sicht der urbanen jüdischen Gemeinden, nach deren Ende die Flucht »aus der Stadt auf das Land«94 folgte, vernachlässigt man die aus der Retrospektive zwar transitive, aber konstitutive Bedeutung jener Siedlungsorte im Untersuchungszeitraum. Das Inklusions-/Exklusionsinstrumentarium mit seiner inhärenten Verkoppelung von Licht- und Schattenseiten – so lautet der Titel einer frühen Studie über die Juden der Grafschaft Wertheim95 – leistet hierdurch einen erkenntnisfördernden Beitrag zur Debatte um die Entwicklungen auf dem Weg zur »jüdischen Vormoderne«.96
92 Vgl. Schlögl, Hierarchie (wie Anm. 19), S. 54. 93 Mit der Begrifflichkeit ›Konzentrations-‹ bzw. ›Formationsort‹ wird die von Ullmann konstatierte »Konsolidierungsphase um 1600« auf ein lokales Phänomen angewendet, vgl. Ullmann, Nachbarschaft (wie Anm. 3), S. 35. 94 Battenberg, J. Friedrich: Aus der Stadt auf das Land? Zur Vertreibung und Neuansiedlung der Juden im Heiligen Römischen Reich. In: Richarz, Jüdisches Leben (wie Anm. 3), S. 9–35, hat unterstrichen, dass die Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen städtischen Vertreibungen und der Entstehung des Landjudentums nicht haltbar ist. 95 Löwenstein, Leopold: Licht- und Schattenseiten aus der Geschichte der Juden in Wertheim. Vortrag gehalten im Historischen Verein »Alt Wertheim« am 15. Dezember 1907. 96 Für Battenberg, Zwischen Integration (wie Anm. 2), S. 434, beginnt diese erst nach 1648.
Eine Alternative zu Integrationsmodellen? Überlegungen zu Herrschaftswechseln in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Südlichen Niederlande 1716–1725 Simon Karstens
1. Ein Herrschaftswechsel – eine Problemstellung Im Jahr 1714 endete der spanische Erbfolgekrieg, in dem die beiden Prätendenten Karl von Habsburg und Philipp von Anjou um das Erbe eines Weltreichs gestritten hatten.1 Das Ergebnis der Friedensschlüsse von Utrecht, Rastatt und Baden war eine von beiden Rivalen ungewollte, aber von ihren jeweiligen Verbündeten erzwungene Teilung des umkämpften Herrschaftsbereichs. Als ein Teil dieser Vereinbarungen erhielt Kaiser Karl VI. die Herrschaft über das Gebiet der ehemals Spanischen Niederlande, die aus mehreren relativ eigenständigen Provinzen bestanden und in etwa das heutige Gebiet Belgiens und Luxemburgs umfassten. Der folgende Beitrag ist der Frage gewidmet, wie die Legitimierung und Umsetzung seines vertraglich vereinbarten Anspruchs auf Herrschaft mit Hilfe der Betrachtungskategorien Inklusion und Exklusion untersucht und beschrieben werden kann. Dies geschieht in Abgrenzung zu einer klassischen politikgeschichtlichen Perspektive, welche diese Ereignisse als einen zielgerichteten Integrationsprozess verstehen würde, in dem ein Herrschaftsverband eine Peripherie vereinnahmt. Mit dieser Vorstellung wären implizit eine Hierarchisierung von Integrierenden und Integrierten, Kategorien von Erfolg und Scheitern sowie eine Finalität der Prozesse unterstellt – insgesamt Annahmen, die neueren Erkenntnissen zu Mechanismen von Herrschaft in der 1 Zu Ursachen und Verlauf vgl. Auer, Leopold: Österreichische und Europäische Politik um das Spanische Erbe. In: Springer, Elisabeth / Auer, Leopold (Hg.): Archiv und Forschung. Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv in seiner Bedeutung für die Geschichte Österreichs und Europas. Wien 1993, S. 96–109; Edelmayer, Friedrich (Hg.): Der spanische Erbfolgekrieg. La Guerra de Sucesio´n espan˜ola. München 2008; zu den Niederlanden de Schryver, Reginald: Les pre´tentions autrichiennes a` L’heritage des Habsbourg d’Espagne. Les Pays-Bas du Sud pendant la Guerre de Succession d’Espagne 1700–1716. In: Hasquin, Herve´ (Hg.): La Belgique autrichienne, 1713–1794. Les Pays-Bas me´ridionaux sous les Habsbourg d’Autriche. Bruxelles 1987, S. 11–36, hier S. 14–25; und zu den Friedensschlüssen vgl. Braubach, Max: Die Friedensverhandlungen von Utrecht und Rastatt. In: Historisches Jahrbuch 90 (1970), S. 284–298.
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Frühen Neuzeit widersprechen.2 Anstatt teleologisch zu beschreiben, »wie Belgien österreichisch wird«,3 gilt es vielmehr, Veränderung und Kontinuität in der politischen und gesellschaftlichen Ordnung der Provinzen zu erfassen. Hiefür bietet sich an, die Vorgänge als Prozess der Inklusionen und Exklusionen zu verstehen, auf den verschiedene Akteure Einfluss zu nehmen versuchen. Zunächst ist jedoch ein Blick auf die Rahmenbedingungen des Herrschaftswechsels unumgänglich. Sie lassen bereits die Komplexität des Prozesses und die Notwendigkeit erkennen, die Betrachtung mit spezifischen Analysekategorien zu systematisieren. Die neue Herrschaft Karls VI. wurde im Erbfolgekrieg und auch darüber hinaus auf vielfache Weise von anderen Akteuren herausgefordert, die selbst einen Anspruch auf die Stellung des Souveräns oder zumindest einen Teil seiner Rechte und Privilegien erhoben.4 Der 2 So generell Brakensiek, Stefan: Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit. In: Neuhaus, Helmut (Hg.): Die Frühe Neuzeit als Epoche. München 2009, S. 395– 408; und Schnabel-Schüle, Helga: Wer gehört dazu? Zugehörigkeitsrechte und die Inklusion von Fremden in politische Räume. In: Gestrich, Andreas / Raphael, Lutz (Hg.): Inklusion, Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart (Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 5). 2. durchges. Aufl. Frankfurt a. M. 2008, S. 51– 61; exemplarisch für unreflektierte Anwendung von Integrationstheorien vgl. hingegen Roesler, Jörg: Der Anschluß von Staaten in der modernen Geschichte. Eine Untersuchung aus aktuellem Anlaß. Frankfurt a. M. 1999. Eine neue, differenzierte Perspektive zur Erforschung von Integrationsprozessen entwickelte hingegen Emich, Birgit: Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit. Ferrara und der Kirchenstaat. Köln 2005 (zugl. Habil. Freiburg 2002). Sie führt in ihrem erweiterten Erklärungsmodell mehrere Ebenen früherer Forschung mit der Untersuchung von zeitgenössischen Mentalitäten und alltäglichen politischen Handlungen durch das Medium der politischen Kulturgeschichte zusammen. Auf diese Weise kann detaillierter und differenzierter als zuvor ein erfolgreicher Integrationsvorgang erklärt werden, der von einem Verlust von Eigenständigkeit und lokalen Identitäten in einer Peripherie beim Anschluss an ein neues Zentrum geprägt ist. Angesichts des ergebnisoffenen Charakters von Herrschaftswechseln als zeitlich eng begrenzte Ereignisse, die zwar ein möglicher Auftakt für territoriale Integration sein können, mit ihr aber nicht identisch sind, erscheint es lohnenswert, zur Untersuchung dieses Phänomens ergänzende Analysekategorien zu prüfen. 3 Dies ist die bereits im Titel erkennbare Leitfrage von Benedikt, Heinrich: Als Belgien Österreichisch war. Wien / München 1965. 4 Für eine Übersicht über den Konflikt, die konkurrierenden Herrschaftsansprüche und die Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung vgl. Gachard, Louis Prosper: Histoire de la Belgique au commencement du XVIII e siecle. Bruxelles 1880, S. 287– 403; Hasquin, Herve´: Le temps de assainissements (1715–1740). In: Ders., La Belgique autrichienne (wie Anm. 1), S. 71–94; de Schryver, Les pre´tentions (wie Anm. 1), S. 27–36; Leenders, Piet: Trois fac¸ons de gouverner dans les Pays-
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wichtigste von ihnen war Philipp von Anjou, der als testamentarischer Erbe des verstorbenen spanischen Königs Karls II. von den Ständen der niederländischen Provinzen zunächst offiziell anerkannt wurde. Zwar hatte die zentralistische Reformpolitik seines eng mit Frankreich verbündeten Statthalters Maximilian II. Emanuel von Bayern, der für einige Jahre selbst zum Souverän über einen Teil der Provinzen aufstieg, durchaus Widerspruch ausgelöst, doch auch nach 1714 besaß Philipp – inzwischen zum fünften spanischen König dieses Namens gekrönt – noch immer Anhänger in den Südlichen Niederlanden.5 Erst im Jahr 1725 kamen er und Karl VI. vertraglich überein, dass diese Provinzen beim Haus Habsburg verbleiben sollten – bis dahin wirkten beide mit wechselnder Intensität auf eine Revision der Erbteilung hin. Doch nicht nur Rivalen, sondern auch Verbündete stellten die Autorität des Habsburgers in Frage. Bereits 1706 hatten die Regierungen Englands und der Republik der Nördlichen Niederlande für Karl VI. den Großteil der belgischen Provinzen erobert und dort eine gemeinsame provisorische Verwaltung eingerichtet.6 Beide achteten zwar stets darauf, ihre Handlungen unter Berufung auf seinen Namen und seinen Status als Herrscher zu legitimieren, verfolgten aber durchaus eigene Interessen, die Ausdruck in den sogenannten Barriereverträgen fanden. Darin vereinbarten beide Mächte, die Provinzen erst dann dem rechtmäßigen Herrscher zu übergeben, wenn er ihnen dauerhaft umfangreiche wirtschaftliche und militärische Zugeständnisse einräumte.7 Bas autrichiens. In: Mortier, Roland (Hg.): Unite´ et diversite´ de l’empire des Habsbourg a` la fin du XVIII e sie`cle. Bruxelles 1988, S. 42– 46; Leenders, Piet: Vienne et Bruxelles: une tutelle qui n’exclut pas une large autonomie. In: Hasquin, La Belgique autrichienne (wie Anm. 1); Dumont, Georges-Henri: Histoire de la Belgique. Bruxelles 2000, S. 310–317; van Gelder, Klaas: Divided Loyalties. Angevin Partisans in the Southern Netherlands in the Aftermath of the War of the Spanish Succession. In: Dutch Crossing: A Journal of Low Countries Studies 34 (2010) 1, S. 59–76, hier S. 59– 64; ders.: L’empereur Charles VI et »l’heritage anjouin« dans les PaysBas me´ridionaux (1716–1725). In: Revue d’Histoire Moderne & Contemporaine 58 (2011) 1, S. 53–79. Die wechselnden Inhaber der Souveränitätsrechte in den Politikfeldern Justiz, Politik und Militär in den verschiedenen Provinzen beschreibt vergleichend de Schryver, Reginald: Who had Sovereignty in the Southern Netherlands during the War of Spanish Succession (1700–1715). In: Asaert, Gustaaf / Buntinx Willy (Hg.): Recht en instellingen in de oude Nederlanden tijdens de Middeleeuwen en de nieuwe tijd. Leuwen 1981, S. 483– 498. 5 Vgl. van Gelder, Divided Loyalties (wie Anm. 4). 6 Vgl. die noch immer grundlegende Studie Veenendaal, Augustus J.: Het EngelsNederlands condominium in de zuidelijke Nederlanden tijdens de Spaanse successieroorlog 1706–1716. Utrecht 1945. 7 Vgl. Geikie, Roderick / Montgomery, Isabel A.: The Dutch Barrier 1705–1719.
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Diese Bedingungen erschwerten die Umsetzung des Herrschaftswechsels erheblich, denn die Alliierten Karls VI. verweigerten den Abzug und die Übergabe der Herrschaft auch dann noch, als die Kampfhandlungen endeten und Ständevertreter angesichts der langen Kriegszeit und der drohenden Belastungen schnellstmöglich die Einsetzung des rechtmäßigen Herrschers forderten. Erst nachdem Karl VI. im November 1715 den Ansprüchen seiner Verbündeten in einem formellen Barrierevertrag entsprochen hatte, konnte er mit der Realisierung seines Herrschaftsanspruchs beginnen. Die Bestimmungen des Vertrages, genauer die Präsenz von Garnisonstruppen einer anderen Macht und die wirtschaftlichen Belastungen, beeinflussten jedoch ebenso wie die Spannungen mit Philipp V. die Interaktion des neuen Herrschers mit seinen Untertanen und damit den Herrschaftswechsel von 1716. 2. Herrschaftswechsel als Inklusion in herrschaftsbezogene Kommunikation Bereits seit mehreren Jahren wird in der Forschung zur Geschichte der Frühen Neuzeit Herrschaft als ein kommunikativer, auf Akzeptanz zielender Prozess zwischen Herrscher und Untertanen verstanden.8 Sie vollzieht sich in einem spezifischen, auf die Ausübung von Herrschaft bezogenen Interaktionszusammenhang, zu dem Akteure Zugang erhalten oder aus dem sie ausgeschlossen werden können. Gerade im Falle einer Neugestaltung dieser kommunikativen Beziehung bietet sich daher das Gegensatzpaar Inklusion und Exklusion als Analysekategorie an.9 Zu beachten ist Cambridge 1930; Israel, Jonathan I.: The Dutch Republic. Its rise, greatness and fall, 1477–1806. Oxford 1995, S. 979–998. Hierzu gehörten die Übergabe von Festungen an Niederländische Garnisonen, deren Besoldung, Gebietsabtretungen und günstige Handelsbedingungen. 8 Meumann, Markus / Pröve, Ralf: Die Faszination des Staates und die historische Praxis. Zur Beschreibung von Herrschaftsbeziehungen jenseits teleologischer und dualistischer Begriffsbildungen. In: Dies. (Hg.): Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses. Münster 2004, S. 11– 49, hier S. 44– 49; Schnabel-Schüle, Helga: Herrschaftswechsel. Zum Potential einer Forschungskategorie. In: Schnabel-Schüle, Helga / Gestrich, Andreas (Hg.): Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa (Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 1). Frankfurt a. M. 2006, S. 5–20, hier S. 9; und Brakensiek, Akzeptanzorientierte Herrschaft (wie Anm. 2). 9 Dieser geschichtswissenschaftliche Ausgangspunkt findet eine soziologische Entsprechung in den Ausführungen Niklas Luhmanns zur fundamentalen Bedeutung von Kommunikation für die Konstituierung von gesellschaftlichen Teilsystemen und von Gesellschaft überhaupt, so in Luhmann, Niklas: Die Politik der
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dabei allerdings, dass in einer Gesellschaft, die noch keine funktionale Differenzierung aufweist, die herrschaftsbezogene Kommunikation hierarchisch gegliedert und personell wie organisatorisch mit unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft wie Religion, Wirtschaft und Justiz verknüpft ist. Ziel aller Akteure war darin die Anerkennung ihres Anspruchs auf (Mit-) Gestaltung der politischen und sozialen Ordnung, der durch Bezug auf ihren Status in der ständischen Ordnung legitimiert wurde.10 An dieser Stelle zeigt sich bereits, dass im Folgenden der Fokus auf Akteuren und ihren Absichten liegen wird und somit in bewusste Distanz zu den Gesellschaftstheorien Niklas Luhmanns tritt, der dies als Beschränkung des Erkenntnisinteresses explizit ablehnte.11 Gerade die damit verbundene, von ihm kritisierte Konzentration auf das Verständnis des zeitgenössischen Betrachtungshorizontes ist jedoch für den Historiker von besonderem Interesse. Es gilt, ›Herrscher‹ und ›Untertanen‹ in ihrer unterschiedlichen ständischen Abstufung – in Anlehnung an Talcott Parsons – als interagierende Handlungs- oder Statusrollen zu verstehen, deren Inhaber beim Streben nach Legitimität für ihre jeweils angestrebte Position zugleich eine Bestätigung der gemeinsamen politischen Ordnung erwirken.12 Letzteres ergibt sich daraus, dass alle Beteiligten sich auf eine gemeinsame Wertebasis – gewissermaßen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2002, S. 16; zur möglichen Anwendung der Systemtheorie für die Erforschung der Frühen Neuzeit vgl. mit einem Schwerpunkt auf das Phänomen sozialer Ungleichheit Schlögl, Rudolf: Hierarchie und Funktion. Zur Transformation der stratifikatorischen Ordnung in der Frühen Neuzeit. In: Füssel, Marian / Weller, Thomas (Hg.): Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft. Theorien und Debatten in der Frühneuzeitforschung. Frankfurt a. M. 2011, S. 48– 63; zur Wirkung von Inklusions- und Exklusionsprozessen auf die Bildung sozialer Strukturen ebd., S. 58– 61. 10 Diese Intention des Souveräns zeigt sich deutlich im Schriftverkehr seiner Staatskanzlei der Jahre 1714–1716, in der seine Beamten vielfach aufgefordert werden, Karl VI. endlich in den »würklichen Posses« der Niederlande zu bringen. Vgl. bspw. Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien (HHStA), Bestand Staatskanzlei, Protokolle und Indizes, Staats und Extra Protokoll, Bd. 1715 I: Schreiben an Minister Graf Königsegg vom 21. August, fol. 120r –124r. Zur Bedeutung der Legitimität für die Umsetzung eines solchen Herrschaftsanspruchs im Umfeld von Herrschaftswechseln vgl. Olschewski, Boris: Herrschaftswechsel – Legitimitätswechsel. Die Mediatisierungen Biberachs und Friedbergs im europäischen Kontext (1802–1806). Trier 2009, S. 33– 41 und S. 47–54. 11 Luhmann, Die Politik (wie Anm. 9), S. 26. 12 Solange sie nach den spezifischen Regeln des Kommunikationssystems handeln, vgl. Opielka, Michael: Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und Parsons. 2. Aufl. Wiesbaden 2006, S. 269. Vgl. Schlögl, Hierarchie (wie Anm. 9), S. 51, der »Personen« in Bezug auf die Frühneuzeitforschung als soziale Konstruktion bezeichnet, die als »Summe ihrer Kommunikationen« zu fassen ist.
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als Schablone für ihr Handeln – beziehen, um die Rechtmäßigkeit ihres Anspruchs auf eine Handlungsrolle zu begründen.13 Grundlage dieser Wertebasis war im Kontext des Herrschaftswechsels von 1716–1725 die spanisch-habsburgische Herrschaftstradition des verstorbenen Karls II. und seiner Vorgänger.14 Die Bezugnahme auf Tradition als Argument zur Legitimierung der jeweils eigenen Handlungsrolle durch die Akteure brachte die Verwendung einer Reihe von Symbolen und Ritualen in der Kommunikation mit sich, die allgemein akzeptiert wurden, selbst wenn die scheinbar althergebrachten Praktiken unterschiedlichen Interpretationen Raum boten.15 In der neueren Forschung ist längst Konsens, dass solche Riten und Symbole – wie beispielsweise der Akt der feierlichen Inauguration – besondere Aufmerksamkeit verdienen.16 Allerdings ist zu beachten, dass in solch einer bestimmten Situation eingenommene Handlungsrollen oder ihre Verweigerung kein dauerhafter Zustand, sondern eher eine Momentaufnahme von Strukturen markieren, die sich nach einem Herrschaftswechsel in einem Prozess der Festigung befinden. Die entstehende neue Ordnung ist entsprechend nicht von vornherein klar umgrenzt, sondern bedarf einer Festlegung ihrer Reichweite durch Prozesse der Inklusion und Exklusion, auf die gerade in der Umbruchszeit zahlreiche Akteure Einfluss zu nehmen versuchen.17 Da dies wiederum auf die Stellung der an der Kommunikation beteiligten Akteure 13 Dies bezeichnete Parsons als »pattern variables«, vgl. Opielka, Gemeinschaft (wie Anm. 12), S. 286–288. 14 Die Bedeutung von Tradition als Bezugspunkt in der Frühen Neuzeit zeigt sich bereits in Nicolo Machiavellis Schrift Il Principe, in der ausgeführt wird, bei Herrschaftswechseln sei es stets empfehlenswert, den Anschein von Kontinuität zu erschaffen, vgl. Durchhardt, Heinz (Hg.): Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen. Bd. 1: Expansion und Hegemonie. Internationale Beziehungen 1450–1559, hg. v. Alfred Kohler. Paderborn [u. a.] 2008, S. 3. 15 Die Verwendung gemeinsamer Symbole und ihre unterschiedliche Aufladung durch die Akteure (energetische Besetzung) beschrieb Parsons als zentrale Eigenschaft intersubjektiven Handelns, vgl. Opielka, Gemeinschaft (wie Anm. 12), S. 286. 16 Vgl. die Arbeiten des Münsteraner Sonderforschungsbereichs 496 »Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution«, hier exemplarisch als eine Einführung StollbergRilinger, Barbara: Einleitung. In: Stollberg-Rilinger, Barbara / Weißbrich, Thomas (Hg.): Die Bildlichkeit symbolischer Akte. Münster 2010, S. 9–21. 17 Vgl. die Anmerkungen zur wissensoziologischen Perspektive zur Anwendung von Theorien der Inklusion und Exklusion bei Leisering, Lutz: Desillusionierung des modernen Fortschrittsglaubens. »Soziale Exklusion« als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und soziologisches Konzept. In: Schwinn, Thomas (Hg.): Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 2008, S. 238–268, hier S. 243–245.
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zurückwirkt und Zuschreibungen von Zugehörigkeit oder Fremdheit generieren kann, ist das Verständnis dieser Vorgänge von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis der neuen Herrschaftsordnung überhaupt. Ihr Rahmen war durch die tradierte hierarchische Struktur der Herrschaftsordnung in den niederländischen Provinzen vorgegeben, die vor der genaueren Untersuchung der Interaktionen zunächst kurz skizziert sei:18 An der Spitze stand der Landesherr als erblicher Souverän und damit Quelle der Gesetzgebung und des Rechtes, Verteidiger des Landes, der ständischen Besitztümer und Privilegien sowie der katholischen Kirche und des katholischen Glaubens. Er repräsentierte den Herrschaftsverband als Ganzes, war Bezugspunkt politischer Rituale und stellt somit das Bindeglied zwischen den einzelnen Provinzen dar. Im Zentrum seines Herrschaftsbereichs – in Wien ebenso wie sein Vorgänger in Madrid – verfügte er über einen zentralen Verwaltungsapparat, der die Kommunikation mit den Provinzen koordinierte und ihre Verwaltung mit der übergreifenden Politik in seinem gesamten Herrschaftsverband abstimmte. Seine Beamten kommunizierten mit den Provinzen sowohl auf Französisch als auch Spanisch, wobei das Gewicht beider Sprachen sich unter Karl VI. zunehmend zugunsten des Französischen verschob. Da der Souverän als Herrscher mehrerer Territorien, deren Zentrum außerhalb der niederländischen Provinzen lag, nicht persönlich vor Ort residieren konnte, entsandte er einen Statthalter von Fürstenrang, im Idealfall ein Mitglied seiner Dynastie, das einen eigenen Hofstaat in Brüssel unterhielt und dort seine Interessen vertrat. Diesem Statthalter arbeiteten lokale Ratsgremien zu, in denen Ständevertreter aus den verschiedenen Provinzen tätig waren. Ein Staatsrat, ein geheimer Rat, ein Finanzrat und ein für mehrere Provinzen zuständiges Hochgericht in Mecheln bilden hier die zentralen Institutionen. Sie standen über den einzelnen Provinzen, ohne aber die Macht der dortigen lokalen Ständevertretungen auszuhebeln, und bildeten traditionell eine vermittelnde Instanz zwischen Herrscher und Statthalter einerseits und Untertanen andererseits. 18 Hierzu liegen mehrere Übersichtswerke vor, wobei in Kombination Soenen, Micheline: Institutions centrales des Pays-Bas sous l’Ancien Re´gime. Bruxelles 1994, und Zedinger, Renate: Die Verwaltung der Österreichischen Niederlande in Wien (1714–1795). Studien zu den Zentralisierungstendenzen des Wiener Hofes im Staatswerdungsprozeß der Habsburgermonarchie. Wien 2000, zu empfehlen sind. Für einen kurzen Überblick mit weiteren Verweisen vgl. Karstens, Simon: Die spanische Illusion – Tradition als Argument der Herrschaftslegitimation Karls VI. in den südlichen Niederlanden 1702–1725. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 23 (2012) 2, S. 161–189.
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Bei der Verwaltung der Provinzen waren der Statthalter und seine Räte auf die Kooperation der Ständeversammlungen angewiesen. Sie mussten die Abgaben bewilligen und bildeten einen einflussreichen Teil der Exekutive. Ihre Zusammensetzung war in den einzelnen Provinzen unterschiedlich und konnte Kleriker, Adelige, Bürger oder Korporationen wie beispielsweise Zünfte in unterschiedlicher Kombination umfassen. Sie galten als Repräsentanten der Gesamtheit der Untertanen ihrer Region, sowohl im zeremoniellen wie auch im rechtlichen Sinne. Ihre individuellen standesspezifischen Rechte und ihre jeweilige Form der Zusammenarbeit mit den herrschaftlichen Behörden legitimierten sie durch Bezug auf traditionelle Rechtsordnungen, von denen die berühmteste, die Joyeuse Entre´e von Brabant, als Kodifikation bereits seit dem ausgehenden Mittelalter bestand. Die Bestätigung dieser Rechtssammlungen wurde von jedem neuen Herrscher bereits bei einer provisorischen Besitzergreifung und erst recht im Gegenzug für seine feierliche Anerkennung in Form einer Huldigungszeremonie erwartet. Das hiermit vereinfacht umrissene Ordnungsmuster des Herrschaftsverbandes war jedoch, wie im Folgenden zu zeigen ist, gerade im Umfeld eines Herrschaftswechsels weniger eine festgeschriebene alltägliche Verwaltungspraxis im modernen Sinne als vielmehr ein Leitbild, das Akteure interessenspezifisch mit unterschiedlichen Interpretationen aufladen konnten.
3. Wechselseitige Inklusion statt Integration Ausgangspunkt für die hier untersuchten Kommunikationsprozesse war der Herrschaftsanspruch Karls VI. , den er gegenüber seinen neuen Untertanen legitimieren und in reale Herrschaft umzusetzen bestrebt war. Sein zentrales Argument hierfür war die Tradition der spanischen Habsburger, als deren Nachfolger er sich in Abgrenzung sowohl zu seinen Rivalen als auch zu seinen Verbündeten darstellte.19 Er entsandte Truppen und Beamte, berief seinen erfahrenen Feldherren Prinz Eugen von Savoyen zum neuen Statthalter und drängte seine Vertreter dazu, möglichst rasch eine feierliche Inaugurationszeremonie in den einzelnen Provinzen durchzuführen, bei der seine neuen Untertanen ihm öffentlich huldigen und damit seine Autorität durch Eid anerkennen würden.20 Zugleich planten Karl und sein mehrheitlich aus Exilspaniern beste19 Vgl. Karstens, Die spanische Illusion (wie Anm. 18). 20 Zu den Inaugurationen in den Südlichen Niederlanden vgl. van Gelder, Klaas: The Investiture of Emperor Charles VI. in Brabant and Flanders: a Test Case for
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hender Beraterstab in Wien bereits Reformen, um die Einbindung der Provinzen in seinen Herrschaftsverband zu stärken.21 In diesen Plänen kommt eine spezifische Interpretation des herrschaftlichen Systems zum Ausdruck: Die neuen Provinzen wurden als untergeordneter Teil des übergreifenden Herrschaftsverbandes gesehen und aus seiner Stellung als Souverän leitete Karl das Recht zur Reform der politischen Ordnung in seinem Sinne ab.22 Die Perspektive der südniederländischen Stände auf den Herrschaftswechsel ist jedoch eine gegenläufige. Die Adeligen, Geistlichen und Angehörigen des dritten Standes verfügten in den weitgehend eigenständigen Provinzen bereits seit Jahrhunderten über eine eigene Rechtstradition, die sich im Umgang mit Herrschern immer wieder bewährt hatte. Man hatte Erfahrung damit, von der politischen Zentrale entfernt zu sein und weitgehend unabhängig mit den Statthaltern in Brüssel zu verhandeln. Als die Stände Karl VI. anboten, ihn als ihren Herrscher feierlich anzuerkennen the Authority of the New Austrian Government. In: European Review of History / Revue europeenne d’histoire 18 (2011) 4, S. 443– 463, und die in Vorbereitung befindliche Dissertation von Rene´ Schillings Zwischen Traditionsbewusstsein und absolutistischem Herrschaftsanspruch. Die Inszenierung Kaiser Karls VI. in seinen Inaugurationen in den Südlichen Niederlanden (Universität Trier). Vgl. auch die dringende Aufforderung Karls an seinen bevollmächtigten Minister, die Inaugurationen durchzuführen, in dessen Instruktion vom 15. Juli 1716, zitiert in: Kova´cs, Elisabeth/Pichorner, Franz: Instruktionen und Patente Karls (III. ) VI. und Maria Theresias für die Statthalter, Interimsstatthalter, bevollmächtigten Minister und Obersthofmeister der Österreichischen Niederlande (1703–1744). Wien 1993, S. 122 f. Zu Inaugurationszeremonien und ihrer Bedeutung zur Legitimitätsstiftung bei Herrschaftswechseln allgemein vgl. Holenstein, Andre´: Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800–1800). Stuttgart 1991, S. 507– 518; Olschewski, Boris: Zwangsinklusion durch Herrschaftswechsel – Besitzergreifungspatent und Erbhuldigungseid im Kontext der ersten Teilung Polens und Litauens. In: Schnabel-Schüle/Gestrich, Fremde Herrscher (wie Anm. 8), S. 359– 384, hier S. 360 f.; und Schnabel-Schüle, Herrschaftswechsel (wie Anm. 8), S. 17 f. 21 So wurde bspw. geplant, Intendanten zur Kontrolle der einzelnen Provinzen einzusetzen. Zur Übersicht über den Herrschaftsbeginn Karls vgl. Hasquin, Le temps (wie Anm. 4), S. 42– 46; Leenders, Trois fac¸ons (wie Anm. 4), S. 73–82; und Bruneel, Claude: The Spanish and Austrian Netherlands 1585–1780. In: Blom, Johan C. H. / Lamberts, Emiel (Hg.): History of the Low Countries. 2. Aufl. New York / Oxford 2006, S. 221–268. 22 Diese konträren Positionen sind klar herausgearbeitet worden durch Duerloo, Luc: Discourse of Conquest, Discourse of Contract. Competing Visions on the Nature of Habsburg Rule in the Netherlands. In: Ammerer, Gerhard (Hg.): Bündnispartner und Konkurrenten der Landesfürsten? Die Stände in der Habsburgermonarchie. Wien 2007, S. 463– 478, der sich allerdings auf das Beispiel der Huldigung in Brüssel bezieht, bei der Karl VI. angesichts von Unruhen seine Rolle als machtvoller Eroberer besonders betonte. Vgl. Karstens, Die spanische Illusion (wie Anm. 18).
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und damit seine zunächst durch reale Machtmittel und Zustimmung anderer Mächte begründete Herrschaft dauerhaft als rechtmäßige Traditionsfolge zu bestätigen, war für sie damit eine Rückkehr zu dieser bewährten Rechtsordnung verbunden. Sie wollten den neuen Souverän in Wien zu einem Teil ihrer eigenen, traditionellen politischen Ordnung machen und keine enge Bindung mit dem übergreifenden Herrschaftssystem ›Habsburgermonarchie‹ eingehen. Die Existenz dieser beiden für die Akteure handlungsleitenden Perspektiven legt es nahe, die Ereignisse als doppelten Inklusionsvorgang zu interpretieren, in dem wechselseitig verbundene gegenläufige Zielsetzungen und Interpretationen erkennbar werden, die aber in ihrer Anerkennung der zentralen Rolle des Monarchen für die Gesellschaftsordnung übereinstimmen.23 Dies lässt sich exemplarisch im kommunikativen Akt der Verhandlung über die Huldigungszeremonie zeigen. Beide Seiten schrieben diesem Ritual, durch welches das Band zwischen Herrscher und Untertanen in der Frühen Neuzeit traditionell beeidet und somit die gegenseitige Inklusion in eine neue Herrschaftsordnung vollzogen wurde, höchste Bedeutung zu und drängten auf eine rasche Durchführung.24 Ständevertreter hatten angesichts der unsicheren politischen Lage der Kriegsjahre und der Reformpolitik Philipps und seines Statthalters bereits vor dem Friedensvertrag von 1714 die Inauguration Karls gefordert und sich dabei auf seinen Status als legitimer Souverän berufen.25 Der Beginn seiner Herrschaft galt ihnen als Markstein für ein Ende des Krieges, Rücknahme strittiger Reformen und Auflösung der 1706 installierten Verwaltung seiner 23 In gesellschaftstheoretischer Hinsicht kann dies Luhmanns Einschätzung von der Bedeutung des Monarchen als »Platzhalter« eines späteren politischen Systems unterstützen, vgl. Luhmann, Die Politik (wie Anm. 9), S. 74 und S. 177. Seine zentrale Funktion ist hierbei die Überwölbung der Differenz von Herrscher und Beherrschten, und seine Legitimität begründet die Einheit des Gesellschaftssystems, ebd., S. 326, S. 341 und S. 369 f. Aus historischer Sicht lassen sich allerdings Gegenbeispiele für politische Systeme bereits des 17. Jahrhunderts anführen, die, wie England, alternative Konzepte erprobten. Ähnliche Überlegungen zu einer gegenseitigen als ›Integration‹ bezeichneten Einbindung von Herrscher und Untertanen in ein gemeinsames politisches System finden sich kurz in Greengrass, Mark: Introduction: Conquest and Coalescence. In: Ders. (Hg.): Conquest and Coalescence. The Shaping of the State in Early Modern Europe. London 1991, S. 1–24, hier S. 7. 24 Vgl. hierzu, bezogen auf die Beispiele Flandern und Brabant, zuletzt van Gelder, The Investiture (wie Anm. 20). 25 Sprunck, Alphonse: Prinz Eugen als Generalstatthalter der österreichischen Niederlande. In: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 15 (1962), S. 114– 180, hier S. 119.
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protestantischen Alliierten, deren Politik als Eingriff in die konfessionelle und wirtschaftspolitische Ordnung empfunden wurde.26 Karl bestätigte diese Sichtweise, in dem er immer wieder betonte, sich auf die Tradition der ›spanischen‹ Landesherren zu verpflichten, was die Stände auf eine Sicherung ihrer alten »privile`ges, pre´rogatives, franchises et liberte´z« hoffen ließ.27 Der positiven Erwartungshaltung standen ab 1715 jedoch eine schlechte Versorgungslage in den Provinzen und die Belastung durch den Barrierevertrag gegenüber, der nicht nur die langfristige Präsenz fremdkonfessioneller Garnisonstruppen bedeutete, sondern Karl auch zur Zahlung hoher Subsidien verpflichtete. Diese Gelder mussten von den Ständen aufgebracht werden, denen durch den Vertrag außerdem wirtschaftliche Nachteile gegenüber ihrer Konkurrenz aus den Nördlichen Niederlanden auferlegt waren. Schon früh wurden daher Ständevertreter aus Brabant und Flandern in Wien vorstellig und protestierten gegen die Vereinbarung, die sie als Widerspruch zu ihren alten Rechten beschrieben.28 Auch wenn dies vorerst ohne Ergebnis blieb, da Karl VI. nicht bereit war, einen offenen Bruch mit seinen Verbündeten zu riskieren, zeigt doch die Adressierung ihrer Beschwerde, dass die Stände ihn als Interessenvertreter gegenüber anderen Mächten akzeptierten und mit dieser Anerkennung konkrete politische Ziele verbanden.29 Der ungelöste Widerspruch zwischen ständischer und kaiserlicher Politik trat anlässlich der Vorbereitung der Inaugurationen offen zu Tage.30 Bei 26 Vgl. de Schryver, Reginald: Jan van Brouchoven, Graaf van Bergeyck 1644–1725. Een halve eeuw staatkunde in de spaanse Nederlanden en in Europa. Bruxelles 1965, S. 349; Israel, The Dutch Republic (wie Anm. 7), S. 978 f. 27 Zit. n. einem Bericht des Unterhändlers Baron Heems über die Verhandlungen um die Inauguration in Tournais an den Höchsten Rat der Niederlande vom 11. September 1719, Archives ge´ne´rales du Royaume, Brüssel (AGR ), Bestand: Departement de Pays-Bas dans la Chancellerie de Cour et d’Etat a Vienne (DPB ), Kart. 630: Inauguration in Brabant. Die positive Erwartung der Ständevertreter kommt auch in einer Nachricht des Staatsrates vom 29. März 1714 zum Ausdruck, ebd., Bestand: Conseil d’Etat de Regence, Kart. 29: Relations avec les puissances occupantes. Hier bezeichnen die Ratsmitglieder sich als »bons et fidele sujets« Karls VI. und sehnen die Inauguration als das Ende der Herrschaft der »puissances estrangeres« (!) herbei. 28 Vgl. Gachard, Histoire de la Belgique (wie Anm. 4), S. 447 und S. 452– 470; Bruneel, Netherlands (wie Anm. 21), S. 245. 29 Zur Bedeutung solcher Vorgänge für die Herrschaftslegitimation vgl. Brakensiek, Akzeptanzorientierte Herrschaft (wie Anm. 2), S. 401. 30 Vgl. für diesen Zusammenhang Gachard, Histoire de la Belgique (wie Anm. 4), S. 441; van Gelder, The Investiture (wie Anm. 20); Karstens, Simon: Herrschaftswechsel und Exklusionspolitik in den südlichen Niederlanden. Der Beginn der Herrschaft Karls VI. (1714–1725). In: Schmale, Wolfgang (Hg.): Time in the Age of Enlightenment. Bochum 2012, S. 161–195.
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den Verhandlungen über die Durchführung der Zeremonien wandten sich in einigen Fällen die Provinzialstände bereits in ihrer ersten Eingabe mit einer Bitte um sofortige Bestätigung der alten Ordnung und der Privilegien ihrer Provinz an den Monarchen.31 In einigen Fällen war Karl VI. bereit, dies zu gewähren, so dass beispielsweise in Luxemburg rasch und problemlos eine gegenseitige öffentliche Eidesleistung erfolgen konnte, bei der die Stände ihn feierlich als Personifikation der spanischen Tradition anerkannten. In anderen Fällen, wie in Tournay und Hainaut, aber auch in Flandern und Brabant, lagen jedoch Interessenkonflikte vor. Die Stände beklagten hier, dass der Barrierevertrag und einige nicht aufgehobene Reformen aus der Herrschaftszeit Philipps von Anjou ihren traditionellen Rechten widersprächen.32 Sie erwarteten von ihrem neuen Herrscher eine Wiederherstellung ihrer Freiheiten und Privilegien, genau so, wie sie einst unter Karl II. bestanden hatten, und verzögerten die Inaugurationen. Dadurch kehrten sie Karls Argument, seine Herrschaft sei im Gegensatz zu der Philipps V. durch die Fortsetzung der spanischen Tradition legitimiert, zu ihren eigenen Gunsten gegen ihn, stärkten aber zugleich die Bedeutung der Tradition als allgemeinen Bezugsrahmen für den Kommunikationsprozess. Die Tatsache, dass hier Verhandlungen über die Ausgestaltung von Herrschaft geführt werden, weist darauf hin, dass trotz stetigem Traditionsbezug die Herrschaftsstruktur von den beteiligten Akteuren nicht nur als etwas Hergebrachtes, aus sich selbst heraus Legitimes verstanden wird, sondern auch als etwas, das sich in der Gegenwart bewähren muss und verändert werden kann.33 In der diesbezüglichen Kommunikation zwischen Herrscher und Ständen, in welcher Tradition politisch instrumentalisiert wird, könnte man Elemente eines später funktional ausdifferenzierten politischen Systems erkennen, wenn auch der Wertehorizont und Bezugsrah31 Vgl. eine Eingabe der Rechenkammer anlässlich des Herrschaftswechsels am 12. Februar 1716, AGR Bestand I 110, Kart. 219: Correspondance ge´ne´rale commencement le 21. Januar 1716, fol. 143r –144r. 32 Vgl. de Schryver, Les pre´tentions (wie Anm. 1), S. 30. Vgl. auch die Dokumente des Staatsrates in Brüssel und des bevollmächtigten Ministers Prie´ zur Inauguration: AGR Bestand DPB , Kart. 630: Befehl an Eugen, die Inauguration durchzuführen vom 20. May 1719; ebd., 11. September 1719: Bericht de Prie´s über die Verzögerung durch die Stände und mögliche Gründe; zum Beispiel Hainaut vgl. den ausführlichen Bericht Prie´s vom 7. September 1717, HHStA, Bestand Belgien DD-A , Kart. Berichte 3: Prie´ an Prinz Eugen Juli-Dezember 1717, fol. 195r – 213r. Zur Verweigerung der Huldigungszeremonie als Ausdruck ständischen Protestes in der Frühen Neuzeit allgemein vgl. Holenstein 1991 (wie Anm. 20), S. 385–389. 33 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1998, S. 716 f.
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men der Akteure weiterhin stratifikatorische Kategorien blieben. Ob hierin allerdings, wie von Niklas Luhmann angenommen, ein Charakteristikum einer Übergangsperiode zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert liegt, oder ob dies nicht doch schon wesentlich früher besteht, lässt sich nicht ohne Prüfung weiterer, auch früher angesiedelter Beispiele beurteilen.34 Im Falle der Südlichen Niederlande konnten die skizzierten Gegensätze durch politisches Taktieren schließlich im symbolischen Akt der Huldigung überwunden werden.35 Konsens bestand darin, starke Bezüge auf die spanisch-habsburgische Tradition in Eidesformel und Ausgestaltung der Zeremonie einzubringen.36 Das Ritual wies dabei eine semantische Deutungsoffenheit auf, die erlaubte, noch bestehende Interessengegensätze vorläufig zu überdecken – denn dieselbe Zeremonie konnte als Bekräftigung sowohl der dynastischen Macht, wie auch ihrer Bindung an die Stände interpretiert werden.37
4. Exklusion aus herrschaftsbezogener Kommunikation Die Verbindung von Herrscher und Untertanen durch den Akt der Huldigung in den unterschiedlichen Provinzen ist aber nicht nur ein bedeutender Wegpunkt der wechselseitigen Inklusion, sondern markiert auch vollzogene Exklusionen, ohne deren Berücksichtigung die Entstehung der neuen gesellschaftlichen Ordnung nur unzureichend verstanden werden kann. Bereits als Vorstufe der Inauguration, genauer: zur alleinigen Einnahme der entsprechenden Handlungsrolle in der Kommunikation mit den Ständen, war es für Karl VI. unabdingbar, externe Einflüsse zu unterbinden. Denn nur dadurch, dass Akteure wie Philipp von Anjou ausgegrenzt wurden, ließ sich eine neue gemeinsame Form von herrschaftlicher Zugehörigkeit definieren, die das Band von Herrscher und Untertanen festigte.38 34 Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 33), S. 716–718; zu den Veränderungen des 18. Jahrhunderts ebd., S. 733 f. 35 Vgl. van Gelder, The Investiture (wie Anm. 20), S. 448– 455. 36 Vgl. mit weiteren Verweisen Karstens, Herrschaftswechsel (wie Anm. 30). 37 Dieser Gegensatz ist für den Fall der Huldigung in Brüssel untersucht worden von Duerloo, Discourse of Conquest (wie Anm. 22). 38 In einem Schreiben der herrschaftlichen Kanzlei an den bevollmächtigten Minister Königsegg kommt dies pointiert zum Ausdruck. Der Kaiser befiehlt den Ständen zu verkünden und begreifbar zu machen, »daß Sie keiner anderen Macht, als Uns, fürohin gehorsamben sollten«. HHStA, Bestand Staatskanzlei, Protokolle und Indizes, Staats und Extra Protokoll, Bd. 1715 I: Schreiben an Minister Graf Königsegg vom 21. August, fol. 120r –124r.
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Hierfür war nicht nur die militärische Vertreibung seines Feindes, die seine Verbündeten für ihn bewerkstelligten, sondern anschließend auch die Exklusion eben jener Verbündeten, die während des Krieges gewissermaßen als seine Stellvertreter die Niederlande verwaltet hatten, notwendig. Alle herrschaftsbezogenen Verbindungen der Provinzen mit dem bourbonisch gewordenen Spanien oder den Alliierten mussten daher gekappt und alle Medien zur öffentlichen Inszenierung von Herrschaft von Karl VI. exklusiv vereinnahmt werden: Er und seine Vertreter mussten verhindern, dass ein anderer Herrscher – egal ob verfeindet oder verbündet – über Behördenvorgänge informiert wurde, Zugriff auf Akten und Archive nahm, Recht sprach, Dekrete erließ, als Schiedsrichter bei Ständekonflikten angerufen wurde, Orden und Privilegien vergab, Dankgottesdienste für seine Siege feierte, Geburtstage durch Salutschüsse beging, Hoheitszeichen anbrachte oder sich gar huldigen ließ. Argumentative Grundlage hierfür war die bereits im Erbfolgekrieg propagierte Monopolisierung der spanischen Traditionslinie. Auf vielfache Weise stellten Karl VI. und seine Beamten das sogenannte Regime Anjou als eine Zeit der Fremdherrschaft dar, obwohl Philipp V. eigentlich testamentarischer Erbe des kinderlosen letzten spanischen Königs war. Es war Teil der eigenen affirmativen Herrschaftsrepräsentation, dessen Regierung als »domination etrange`re« zu diskreditieren.39 Durch derartige Vorgänge der Exklusion potentieller Rivalen aus der herrschaftsbezogenen Kommunikation und der Kontrolle über den öffentlichen Raum der Herrschaftsinszenierung wurde Karls Anspruch manifest und zugleich Fremdheit als negative Eigenschaft seines Rivalen konstruiert. Um solch eine Exklusion wirkungsmächtig zu betreiben, bedurfte der Monarch allerdings der Kooperation der Stände, die durch das öffentliche Ritual der Huldigung für die anderen Mächte sichtbar besiegelt wurde. Dadurch wurde die ausschließliche Treue zum Haus Habsburg als eine von der Mehrheit der beteiligten Akteure akzeptierte, zentrale Eigenschaft des neuen Herrschaftsverbandes nach innen und außen ebenso wie die Fremdheit aller anderen Herrscher kommuniziert. Die Festlegung solch eines Ordnungsmusters und die Konstruktion von Fremdheit eines Herrschers wirkte sich zugleich auch auf der geschichtli39 Zit. n. dem Bericht des kaiserlichen Unterhändlers Baron Heems vom 11. September 1719 aus Tournai an die Wiener Kanzlei, AGR , Bestand DPB , Kart. 630: Inauguration in Brabant, unfoliert. Vgl. mit weiteren Verweisen van Gelder, L’empereur Charles VI (wie Anm. 4); Karstens, Herrschaftswechsel (wie Anm. 30). Es gab auch eine Gegenbewegung von Seiten des Hauses Anjou und seiner Verbündeten, um die Legitimität Karls VI. zu diskreditieren. Vgl. de Schryver, Jan van Brouchoven (wie Anm. 26), S. 355; Israel, The Dutch Republic (wie Anm. 7), S. 978.
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chen Mikroebene aus. Speziell diejenigen vormals spanischen Untertanen, die sich dem Kriterium der exklusiven Loyalität zum österreichischen Erzhaus entzogen, weil sie Gefolgsleute Philipps V. bleiben wollten, waren vom Herrschaftswechsel an von Exklusion bedroht.40 Sie wurden zum Gegenstand einer regelrechten auf spezifische Diskurse und Kontexte bezogenen Exklusionspolitik, deren Mittel von der Aberkennung standesspezifischer Rechte, dem Ausschluss von Zeremonien und herrschaftsbezogener Kommunikation bis hin zur Enteignung und Verbannung reichten. Im schlimmsten Fall wurden sie rechtlich zu Fremden erklärt und sollten ebenso behandelt werden wie jedweder andere Untertan des Hauses Bourbon, der sich ohne Erlaubnis in Habsburgischem Gebiet aufhalte. Dieser Vorgang belegt einmal mehr, dass den Zeitgenossen die soziale und rechtliche Konstruierbarkeit von Fremdheit und Zugehörigkeit bewusst war. Ziel der Exklusionspolitik, so zeigt eine genauere Betrachtung, war aber nicht eine möglichst umfassende Bestrafung des als Verrat am Souverän gewerteten Verhaltens in Form der Totalexklusion aus allen Kommunikationsvorgängen. Zwar erließ der Herrscher mehrere Dekrete, die auf Konfiskation des Besitzes der Anhänger Philipps drängten, gewährte und verlängerte aber zugleich Fristen für eine Amnestie, sofern die Untertanen ihren Dienst für Philipp aufgaben und durch einen erneuten Treueeid seine eigene Autorität anerkannten. Daher erscheint die Bestätigung der gemeinsamen Herrschaftsgrundlage als das eigentliche Ziel der Exklusionspolitik.41 Dies bestätigt auch die Tatsache, dass die Exklusion kein endgültiger Zustand war, sondern einen Ausweg zur erneuten Inklusion offen ließ. Über mehrere Jahre hinweg gelang es Betroffenen, sofern sie sich von Philipp V. lossagten, ihren Besitz zurückzuerhalten und wieder in den Loyalitätsverband aufgenommen zu werden. Hierfür war allerdings die Protektion durch den Statthalter oder seinen Minister von großer Bedeutung, die als Träger zentraler Handlungsrollen in der herrschaftsbezogenen Kommunikation etabliert waren und den Wiedereinstieg vermitteln konnten. Im Jahr 1725 schließlich, als ein Frieden zwischen beiden Herrschern geschlossen wurde, folgte eine generelle Amnestie. Die Stände, auf deren Mitwirkung Karl VI. angewiesen blieb, hatten bis zu diesem Zeitpunkt die Politik Karls akzeptiert und damit die bestehende Herrschaftsordnung gefestigt, sofern er sie nicht auf Eingriffe in die Rechtsordnung oder Privilegien ausweitete. 40 Vgl. van Gelder, Divided Loyalties (wie Anm. 4), S. 64–72; ders., L’empereur Charles VI (wie Anm. 4). Zum Vergleich mit anderen Exklusionsprozessen in den Provinzen vgl. Karstens, Die spanische Illusion (wie Anm. 18). 41 Bohn, Cornelia: Inklusion, Exklusion und die Person. Konstanz 2006, S. 20–23, betont, dass Exklusion allgemein eher ein fließender, vorläufiger Zustand ist.
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Das Beispiel der Anhänger Philipps von Anjou verdeutlicht, dass die Stellung Karls VI. das Recht umfasste zu entscheiden, wer zum Herrschaftsverband gehörte und wer nicht. Dass er hierbei keineswegs ohne Rücksichtnahme handeln konnte, sondern auf teilweise widersprüchliche Interessen von Ständevertretern und Mitgliedern seiner eigenen Verwaltungshierarchie reagieren musste, zeigt sich beim Umgang mit den Anhängern der katholischen Reformbewegung des Jansenismus, deren Lehrsätze und zentralen Werke bereits vor 1716 durch mehrere päpstliche Bullen verboten worden waren.42 Der Statthalter Prinz Eugen setzte sich in diesem Fall für eine gemäßigte Politik ein, obwohl ihm in seiner Instruktion die Bekämpfung der Jansenisten, genauer ihre Exklusion aus Verwaltung, Kirche und dem Bildungswesen, vom Herrscher befohlen worden war.43 Eugen sah für den Souverän jedoch keinen Vorteil darin, sich in einem innerkonfessionellen Konflikt zu engagieren. Damit kam er den Interessen mehrerer weltlicher Ständevertreter entgegen, die eine Verbreitung der päpstlichen Bullen und damit eine befürchtete Stärkung ultramontaner Einflüsse zu unterbinden versuchten. Dies provozierte wiederum eine Gruppe Geistlicher, deren ranghöchster Vertreter Thomas Philipp d’Alsace, Erzbischof von Mecheln, auf eine stärkere Verfolgung der Jansenisten drängte. Er berief sich auf Karls Anspruch, die traditionelle Ordnung zu verkörpern und somit Verteidiger des katholischen Glaubens und der Kirche zu sein. D’Alsace forderte von Geistlichen und ebenso von anderen Untertanen einen Eid auf die umstrittenen päpstlichen Bullen und damit eine öffentliche Unterwerfung unter die ultramontane Autorität. Bei Verweigerung drohte er mit Exkommunikation, also einer Exklusion aus der religiösen Gemeinschaft, die in der Vormoderne weitreichende soziale Folgen haben konnte. 42 Zum Konflikt um die Ausbreitung der auf Cornelius Jansen (1585–1638) zurückgehenden, reformkatholischen Lehre in den Südlichen Niederlanden vgl. kurz mit weiteren Verweisen Karstens, Die spanische Illusion (wie Anm. 18); und Roegiers, Jan: Kerk en Staat in de Oostenrijkse Nederlanden. In: Blok, Dirk P./Prevenier, Walter (Hg.): Algemene geschiedenis der Nederlanden. Bd. 9: Nieuwe tijd. Politieke- en religiegeschiedenis 18de eeuw, socioculturele geschiedenis 1500–1800, overzeeze geschiedenis 17de en 18de eeuw. Haarlem 1980, S. 361–375; vgl. Braubach, Max: Prinz Eugen und der Jansenismus. In: Ders. (Hg.): Diplomatie und geistiges Leben im 17. und 18. Jahrhundert. Bonn 1969, S. 530–545; Ceyssens, Lucien: Autour de la bulle Unigenitus. Le Cardinal d’Alsace (1679–1759). In: Revue Belge de Philologie et d’histoire 66 (1988), S. 792–828. 43 Instruktion und Geheiminstruktion für den Statthalter Prinz Eugen vom 9. Mai 1716. Publiziert in Kova´cs / Pichorner, Instruktionen und Patente (wie Anm. 20), S. 79–101, hier Art. 2 und 3, S. 81.
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Proteste von Betroffenen und von Ständevertretern, die darin einen Eingriff in die traditionellen Rechte der Provinz sahen, waren die Folge. Während Prinz Eugen auf Mäßigung drängte, reiste Erzbischof d’Alsace, der inzwischen für seine Verdienste zum Kardinal erhoben worden war, nach Wien und bat den Kaiser um eine klare Stellungnahme gegen die Jansenisten. Karl VI. gab dem Drängen schließlich nach und bestätigte im Jahr 1723 die päpstlichen Bullen. Durch diese Entscheidung verbesserte er sein Verhältnis zur Kurie, das für seine Italienpolitik von großer Bedeutung war, gewann Sympathien bei Teilen des niederländischen Klerus und unterstrich zugleich seine Autorität als Verteidiger der Kirche und des Seelenheiles seiner Untertanen, die zentraler Bestandteil seiner traditionellen Herrschaftslegitimierung war. Erneuten Protesten der Stände beugte er dadurch vor, dass er d’Alsace anwies, keine Eide mehr zu verlangen und nur offenen Widerspruch gegen die Bullen zu bestrafen. Damit zeigt sich insgesamt eine mehrfach inkludierende Wirkung solcher Exklusionspolitik. Zum einen wurden betroffene Untertanen zur Aufgabe ihrer als deviant angesehenen Glaubenshaltung gedrängt, zum anderen bestätigten befürwortender Klerus, oppositionelle Stände und der Herrscher bei der Definition der Ausgrenzungskriterien einmal mehr die sie verbindende Herrschaftsordnung. Vergleicht man beide Beispiele, so ist erkennbar, dass Exklusionspolitik kein bloßes Instrument des Herrschers war, sondern umgekehrt auch als seine Pflicht angesehen und von Untertanen gefordert werden konnte. Auch wenn nicht bestritten werden kann, dass dem Souverän die Entscheidungshoheit zukam, so hatten auch andere Akteure mehr oder weniger großen Einfluss auf die gemeinsame Definition von Leitlinien der neuen gesellschaftlichen Ordnung, von denen sich Exklusionsformen ableiten ließen.44 Weiterhin ist beiden Fällen gemeinsam, dass die vollzogenen Kommunikationsakte auch im Konfliktfall die Legitimität der neuen Herrschaftsordnung stützten, solange sich alle Interessengruppen in den gegebenen Strukturen bewegten und die Autorität Karls VI. anerkannten. Unter dieser Voraussetzung ist Exklusion ein wichtiger Teil der bereits vorgestellten wechselseitigen Inklusionsvorgänge, der von einer integrationszentrierten Forschungsperspektive leicht vernachlässigt wird.
44 Vgl. zur hier beobachteten konstitutiven Bedeutung von Inklusion und Exklusion die Anmerkung von Bohn, Inklusion, Exklusion (wie Anm. 41), S. 29, die dies für stratifikatorische Gesellschaften allgemein postuliert.
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5. Ausblick Die vorgestellte Beschreibung des Herrschaftswechsels von 1716 als Prozess wechselseitiger Inklusionen, der zugleich mit angedrohten, vollzogenen oder aufgehobenen Exklusionen verwoben ist, lässt sich mit Blick auf die weiteren Ereignisse bestätigen. Bereits während der Inaugurationsverhandlungen hatte Karl VI. durch eine zentralistische Reformpolitik und die Berufung eines umstrittenen Ministers ohne fürstliche Herkunft zum höchsten Beamten in Brüssel Proteste adeliger Räte und in den Jahren 1718 und 1719 offenen Aufruhr von Seiten der Zünfte dieser Stadt ausgelöst.45 Die Untertanen forderten die Rückkehr zur traditionellen Rechtsordnung aus spanischer Zeit und die Aufhebung unerwünschter Reformen. Hier zeigt sich das auch in den folgenden Jahren schwelende Konfliktpotential, das aus der unterschiedlichen Interpretation der Handlungsrolle des Herrschers entstand. Während die Stände eine Bewahrung der Tradition forderten und zentralistische Reformen explizit ablehnten, sah Karl VI. sich zu solchen berechtigt. Er und sein Minister reagierten zunächst mit Härte auf den offenen Widerstand, bevor der Kaiser in den Jahren ab 1720 verstärkt einen Ausgleich mit den Ständen suchte, da er auf deren Kooperation angewiesen blieb, um die durch den Barrierevertrag belasteten Finanzen zu sanieren und das Gebiet zu verwalten. Hinzu kam, dass ihre Akzeptanz für die langfristige dynastische Politik des Hauses Habsburg von großer Bedeutung wurde, als Karl VI. ihre feierlich beschworene Zustimmung für eine neue Erbordnung erhalten wollte. Dieses Dokument, die sogenannte Pragmatische Sanktion von 1713, sollte nicht nur die Erbfolge seiner eigenen Nachkommen vor denen seiner Schwestern oder seines Bruders sichern, sondern mit Zustimmung aller lokalen Eliten in den Gebieten seines Reiches zu einem verbindenden Element der zusammengesetzten Monarchie werden.46 In den Südlichen Niederlanden 45 Der Statthalter Prinz Eugen konnte aufgrund anderer Verpflichtungen selbst nie in die Provinzen reisen und verwaltete sie ab 1716 über seinen bevollmächtigten Minister, vgl. Braubach, Max: Prinz Eugen von Savoyen. Eine Biographie. Bd. 4: Der Staatsmann. Wien 1965, S. 115–213. Vgl. zu den Unruhen kurz van Honacker, Karin: Lokaal verzet en oproer in de 17de en 18de eeuw. Collectieve acties tegen het centraal gezag in Brussel, Antwerpen en Leuven. Kortrijk-Heule 1993, S. 123–131. 46 Zu diesem Rechtsdokument, bei dem es sich eigentlich um eine Sammlung verschiedener Hausgesetze und Verträge handelt, vgl. Brauneder, Wilhelm: Die Pragmatische Sanktion – das Grundgesetz der Monarchia Austriaca von 1713– 1918. In: Valentinitsch, Helfried (Hg.): Recht und Geschichte. Festschrift Hermann Baltl zum 70. Geburtstag. Graz 1988, S. 51–84; zur Bedeutung seiner Anerkennung Zedinger, Die Verwaltung (wie Anm. 18), S. 39.
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erfolgte dieser Akt ritueller Inklusion, der sowohl die Verbindung der Stände mit dem Herrscher als auch die der unterschiedlichen Provinzialstände untereinander zum Ausdruck brachte, erst im Jahr 1725, ein Jahr nachdem die einzelnen Stände zugestimmt hatten. Ursache für die Verzögerung war, dass der Minister Prie´, der aufgrund seiner niederadeligen Geburt, seiner kontroversen Haltung gegenüber ständischen Privilegien und seiner Reaktion auf die Unruhen überaus umstritten war, nach dem Rücktritt des Statthalters Prinz Eugen 1724 aus Brüssel abberufen wurde. An dessen Stelle entsandte der Kaiser seine Schwester, Marie Elisabeth, die in Brüssel als Statthalterin persönlich residieren und eine eigene Hofhaltung einrichten sollte. Ihr Amtsantritt wurde von mehreren Maßnahmen flankiert, welche der ständischen Interpretation der Herrschaftsordnung entgegenkamen: Die gefangenen oder verbannten Brüsseler Aufständischen der Jahre 1718 und 1719 erhielten eine Amnestie und einige umstrittene Verwaltungsreformen wurden zugunsten einer Rückkehr zu früheren Organisationsformen aufgehoben. Darüber hinaus hatten die Stände bei der feierlichen Verkündung und Annahme der Pragmatischen Sanktion, die vor dem Eintreffen Marie-Elisabeths durch einen Interims-Statthalter durchgeführt wurde, das Versprechen des Herrschers erhalten, ihre Gebiete auf ewig ungeteilt zu belassen und zu verteidigen. Dies bedeutet, dass im Gegensatz zu den vorherigen Diskursen, die in Prozesse der Abgrenzung und Zuschreibung von Fremdheit eingebunden waren, nun eine Zugehörigkeit symbolisch sichtbar gemacht und konstruiert wurde, die im Gegensatz zu den separaten Inaugurationen alle Provinzen in ihrer Akzeptanz für seine Herrschaft vereinte. Dadurch wurde ein in der politischen Kommunikation bereits erreichtes Gleichgewicht der unterschiedlichen Interpretationen des Herrschaftswechsels öffentlich inszeniert. Hierin kann ein Übergang von einer kontroversen Orientierungsphase mit negativen Sanktionen beider Seiten zu einer Festigungsphase mit positiven Sanktionen der Akteure gesehen werden, an die sich der durch verschiedene Maßnahmen positiv konnotierte Einzug der neuen Statthalterin anschloss.47 Es bleibt allerdings unklar, ob die überwiegend positive und konstruktive Kommunikation zur Perpetuierung und Ausbalancierung des politischen Systems führte, oder ob die durch negative Sanktionen erreichte Verfestigung des Systems nicht Voraussetzung war, um zukünftig auf eben dieses Instrument zu verzichten. In jedem Fall war die zeitweise noch provisorische 47 Vgl. die Anmerkungen Luhmanns zu beiden Sanktionsformen und ihrer Bedeutung für Macht in politischen Systemen in Luhmann, Die Politik (wie Anm. 9), S. 44–52.
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Neuordnung der herrschaftsbezogenen Kommunikation vorerst stabilisiert und eine pragmatische Grundlage für eine mehrere Jahrzehnte bestehende gemeinsame politische Ordnung gelegt. Diese blieb vornehmlich auf Elemente der Tradition gestützt, barg zugleich aber den Anfang von etwas Neuem in sich, so dass man von Karl VI. pointiert als gleichermaßen dem letzten spanischen wie dem ersten österreichischen Herrscher der Südlichen Niederlande sprechen könnte.48 6. Fazit Die Analysekategorie Inklusion und Exklusion bietet sich zum Verständnis von Herrschaftswechseln in der Frühen Neuzeit – je nach Gegenstand – als Ergänzung oder auch Alternative für Integrationsmodelle an, da sie vielseitiger und offener ist als Versuche, solche Ereignisse als zielgerichtete Anbindung neuer Peripherien an ein Zentrum zu beschreiben.49 Mit ihr ließe sich verhindern, dass eine obrigkeitlich fokussierte Perspektive auf die erfolgreiche oder gescheiterte Überwindung ständischer Privilegien, welche als Teil der historischen Meistererzählung vom Absolutismus als Wegbereiter der Moderne in der Historiographie seit Längerem als veraltet gilt, automatisch erneute Bestätigung fände.50 Die Tatsache, dass absolute monarchische Herrschaft eher als historische Imagination des 19. Jahrhunderts denn als historische Realität anzusehen ist, sollte jedoch nicht den Blick darauf verschleiern, dass in einigen Territorien – wie am Beispiel der Südlichen Niederlande erkennbar – tatsächlich eine sich modernisierende und intensivierende Zentralgewalt Politikfelder wie Kirche, Militär, Wirtschaft und Administration in der herrschaftsbe48 So de Schryver, Les pre´tentions (wie Anm. 1), S. 36. 49 Die erhebliche Begrenzung des Erkenntnishorizontes bei früherer Integrationsforschung nach klassisch politikgeschichtlichen Vorbildern zeigt sich beispielsweise bei der vergleichenden Analyse von ›Anschlüssen‹ in der ›modernen‹ Geschichte durch Roesler, Der Anschluß (wie Anm. 2). Zu beachten ist, dass sich die Forschung zu territorialer Integration in der Frühen Neuzeit durch die mit einer methodischen Einleitung versehene Studie Emich, Territoriale Integration (wie Anm. 2), auf eine neue, detailliert ausgearbeitete Methodik zur Geschichte der politischen Kultur stützen kann. In Bezug auf den ersteren Fall kann daher die hier beschriebene Untersuchungsmethode als Alternative, im zweiten eher als eine Ergänzung verstanden werden. 50 Vgl. die Beiträge im Sammelband Asch, Ronald G. (Hg.): Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550–1700). Köln 1996; darin besonders kritisch der Beitrag: Henshall, Nicholas: Early Modern Absolutism 1550–1700. Political Reality or Propaganda. In: Ebd., S. 25–53.
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zogenen Kommunikation als ihre Wirkungssphären beanspruchte und darüber in Konflikt mit lokalen Führungsschichten geriet.51 Gerade solche Versuche zur Umsetzung von mehr oder weniger ausgearbeiteten Konzepten zentralistischer monarchischer Herrschaft, bei denen ein Akteur anstrebte, die lokalen stratifikatorischen Ordnungen zu schwächen, eine arkane politische Sphäre zu schaffen, in traditionelle Autonomien einzugreifen und Differenzen in der Gesellschaft durch die Identifikationsfigur des Souverän zu überwölben, sind als Vorwegnahme eines politischen Systems besonders interessant.52 Dies gilt, obwohl solche Versuche zur Zentralisierung von Staatsgewalt und Homogenisierung von Rechts- und Gesellschaftsordnungen vor dem 19. Jahrhundert kaum als realisiert gelten können. In der unterbliebenen Realisierung der herrschaftlichen Ansprüche zeigt sich einmal mehr der Übergangscharakter der Epoche Frühe Neuzeit, dem die Analysekategorie Inklusion/Exklusion durch ihre Offenheit Rechnung trägt. Sie erfasst die Entstehung neuer gesellschaftlicher Ordnungsformen als Ergebnis eines doppelten, wechselseitigen Inklusionsvorgangs sowie variantenreicher Exklusionsvorgänge innerhalb eines hierarchisch strukturierten, traditionsfokussierten Systems. Dies wird der Komplexität der historischen Prozesse sicherlich gerechter als der Blick auf erfolgreiche oder gescheiterte Anbindungen neuer Peripherien an ein überlegenes Zentrum. Zu beachten ist bei ihrer Anwendung allerdings, dass unterschiedliche Teilsysteme der Gesellschaft der Frühen Neuzeit sich zwar als Themenfelder in der herrschaftsbezogenen Kommunikation unterscheiden lassen, diese gleichzeitig aber noch vielfältig miteinander verwoben sind. Daher lassen sich auch Theorien, die einen vollzogenen Übergang von einer stratifikatorischen zu einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft voraussetzen, nicht per se anwenden. Stattdessen ist eine Bezugnahme auf die historischen Akteure als Adressaten und zugleich Inhaber von Handlungsrollen in Interaktionszusammenhängen – wie eingangs angedeutet – unumgänglich. Allen diesen Akteuren ist gemeinsam, dass sie nach Akzeptanz für ihren spezifischen Partizipationsanspruch streben. Zum Erwerb der hierfür schon von Max Weber als zentral erkannten Eigenschaft der Legitimität, die hier gewissermaßen als Leitdifferenz für die Zugehörigkeit zum Kommunikationssystem aufscheint, dienten Bezüge auf die allgemein anerkannte Wertebasis der ›Tradition‹.53 Dass diese keine gegebene objektive Tatsache war, 51 Vgl. Asch, Der Absolutismus (wie Anm. 50). 52 Vgl. Luhmann, Die Politik (wie Anm. 9), S. 77 f., S. 105 und die Verweise in Fußnote 29. 53 Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5. Aufl. Tübingen 1972, S. 16–20 und S. 122–155.
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sondern vielmehr ein Bezugsrahmen, der interpretiert und instrumentalisiert werden konnte, zeigen die Bemühungen Karls VI. , seinen Rivalen als illegitimen Usurpator darzustellen, ihn aus der herrschaftsbezogenen Kommunikation zu exkludieren und die spanische Traditionslinie zur Stärkung seiner eigenen Legitimität zu monopolisieren. Doch nicht nur Tradition und die aus ihr abgeleitete Legitimität erwiesen sich in den Betrachtungen als konstruierte Produkte sozialer Interaktion. Gleiches gilt auch für Fremdheitszuschreibungen als Argument zur Legitimation von Exklusionen. ›Fremdherrschaft‹ war im hier untersuchten Fall kein objektiv gegebener Zustand, der sich aus Herkunft oder Abstammung eines Souveräns ergab, sondern eine negativ konnotierte Zuschreibung.54 Wie ausgeführt verwendeten sowohl Stände als auch Herrscher die Zuschreibung von Fremdheit und/oder Zugehörigkeit für politische Einflussnahme auf die Neuordnung der herrschaftsbezogenen Kommunikation. Die Beispiele Philipps als Bourbone oder Karls als österreichischer Habsburger legen nahe, dass Souveräne bei Herrschaftswechseln die Akzeptanz ihrer neuen Untertanen über Situationen des Zwangs hinaus erwerben konnten, wenn sie sich erfolgreich in die lokale Tradition stellen und sich als ein Teil von ihr inszenieren konnten. War dies durch die beschriebene doppelte Inklusion erreicht, nahmen sie eine Rolle ein, die unabhängig von ihrer Herkunft kaum als ›Fremdherrscher‹, sondern vielmehr als die eines ›zugehörigen Fremden‹ beschrieben werden kann. Wenn allerdings traditionell legitimierte Akzeptanz durch kommunikative Prozesse erschaffen wurde, so legt dies nahe, dass bei Herrschaftswechseln oftmals ebenso ein anderer Fürst die Rolle des Souveräns hätte einnehmen können.55 Es wäre anhand weiterer Fälle zu prüfen, ob dies eher an 54 Zur Problematisierung des Wortes ›Fremdherrschaft‹ als wertende Zuschreibung vgl. Meumann, Markus / Rogge, Jörg: Militärische Besetzung – Einführung und Perspektiven. In: Dies. (Hg.): Die besetzte res publica. Zum Verhältnis von ziviler Obrigkeit und militärischer Herrschaft in besetzten Gebieten vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert. Berlin 2006, S. 11–27, hier S. 12 f.; mit Bezug auf die Entwicklungen zur Zeit des frühen Nationalismus ausführlich die Studie Koller, Christian: »Die Fremdherrschaft ist immer ein politisches Uebel«. Die Genese des Fremdherrschaftskonzepts in der politischen Sprache Deutschlands im Zeichen umstrittener Herrschaftslegitimation. In: Schnabel-Schüle / Gestrich, Fremde Herrscher (wie Anm. 8), S. 21– 40. Selbstverständlich sind im Zuge historischer Untersuchungen auch spätere Fremdheitszuschreibungen in historiographischen Traditionen zu beachten, speziell in Darstellungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. 55 Vgl. Koenigsberger, Helmut G.: Mars und Venus. Internationale Beziehungen und Kriegführung der Habsburger in der frühen Neuzeit. In: Roll, Christine
Eine Alternative zu Integrationsmodellen?
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der Machtlosigkeit der Stände lag, die trotz gewisser detailbezogener Spielräume diejenigen Herrscher letztlich als legitim akzeptieren mussten, die sich außenpolitisch durchsetzen konnten, oder eher daran, dass die Stellung der Stände relativ stark war und sie im wechselseitigen Inklusionsprozess in der Regel unter jedem neuen Herrscher mit einer gewissen Kontinuität rechnen konnten. Einen ersten Hinweis zur Beantwortung könnte die Tatsache liefern, dass lokale Ordnungsformen wie Kirchengrenzen, Gutsherrschaften, niedere Gerichtsbarkeit, lokale Patronagenetzwerke und Ähnliches noch im 17. und frühen 18. Jahrhundert Herrschaftswechsel für längere Perioden überdauerten.56 Daraus sollte aber keineswegs in einer übertriebenen Gegenbewegung zu früheren Absolutismusthesen eine völlige Machtlosigkeit der Herrscher abgeleitet werden. Wenn deren Autoritätsanspruch sich auf Machtmittel wie eine Verwaltungshierarchie, Armee, dynastische Beziehungen und loyale Gruppen in der Bevölkerung stützen konnte, waren sie durchaus im Stande, den herrschaftlichen Einfluss auf die Gesellschaft auszuweiten und mit Traditionen zu brechen. Aber selbst dann wurde ihre Herrschaft in den zahlreichen Erbfolgekriegen des 17. und 18. Jahrhunderts überwiegend unter Bezug auf die traditionelle Autorität der Herrscherdynastie legitimiert und blieb, wie im Beispiel deutlich wurde, in der Umsetzung hinter ihren eigenen Idealvorstellungen zurück und an die Kooperation der Untertanen gebunden.57
[u. a.] (Hg.): Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. Festschrift für Horst Rabe. Frankfurt a. M. 1996, S. 31–56, hier S. 34 f. 56 Vgl. exemplarisch Karstens, Simon: Der Pyrenäenfrieden von 1659 in Luxemburg. Ein Herrschaftswechsel in kirchenpolitischer Perspektive. In: Gantelet, Martial [u. a.] (Hg.): Le Paix des pyre´ne´es et son impact en Lorraine et au Luxembourg. Luxemburg 2010, S. 503–515. 57 Im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert gewannen neben der Tradition andere, früher sekundäre Argumentationen wie die Staatsräson zur Legitimierung von Herrschaftswechseln an Bedeutung, bis sie schließlich die legitimitätsstiftenden Kommunikationsprozesse derart prägten, dass Reform statt Traditionsbindung zum Ideal erhoben wurde, vgl. die zeitlich später angesiedelte Studie Olschewski, Herrschaftswechsel (wie Anm. 10).
Inklusion/Exklusion – ein Konzept und seine Gebrauchsweisen in der Neueren und Neuesten Geschichte Lutz Raphael
1. Die aktuellen Debatten um ›Exklusion‹ und ihre Spuren in der Geschichtswissenschaft Auch in der Neueren und Neuesten Geschichte hat das Begriffspaar Inklusion /Exklusion seit gut zehn Jahren Konjunktur. Zumindest der Gebrauch der Termini (oft auch nur eines der beiden) in Titeln geschichtswissenschaftlicher Publikationen, die sich mit der Zeit seit 1800 beschäftigen, ist inzwischen keine Ausnahme mehr. Die aktuellen sozialpolitischen und gesellschaftstheoretischen Debatten um Zusammenhalt und Gefährdung heutiger Gesellschaften durch die Entstehung neuer Zonen der Verwundbarkeit, die wachsende Zahl von »Exkludierten« oder »Überflüssigen«1 finden offensichtlich auch ein Echo in den Forschungsfragen und Themenschwerpunkten von Historikern. Der Gebrauch des Begriffspaars darf auch als Symptom gedeutet werden, dass die Verunsicherungen und kritischen Zeitdiagnosen neue Sichtweisen und Fragen an die Vergangenheit generieren. Um einen realistischen Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen zu gewinnen, soll zunächst ein Blick auf die historiographische Praxis geworfen werden: Welche Themen werden behandelt? Welche Forschungsfelder werden konkret mit dem Begriffspaar erschlossen? Die heute verfügbaren bibliographischen Fachinformationen erlauben es, zumindest annäherungsweise eine Vorstellung davon zu entwickeln, welche Themenfelder mit Hilfe des Gegensatzpaars Inklusion/Exklusion bearbeitet werden. Die folgenden Ausführungen zu Trends werten qualitativ Abfragen aus, die mittels der bibliographischen Datenbanken Historical abstracts und Jstor erstellt worden sind. Dabei sind alle Forschungspublikationen einbezogen worden, welche ›inclusion‹ und/oder ›exclusion‹ im Titel führen. Damit wird nur ein kleiner, aber aussagekräftiger Ausschnitt aus dem viel breiter streuenden Gebrauch der beiden Termini in Fachpublikationen berücksichtigt.2 1 Bude, Heinz / Willisch, Andreas (Hg.): Exklusion. Die Debatte über die »Überflüssigen«. Frankfurt a. M. 2008; Bude, Heinz: Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft. München 2008; Paugam, Serge (Hg.): L’exclusion. L’e´tat des savoirs. Paris 1996. 2 Für den Zeitraum 2000–2012 ergeben sich über 5500 Titel, wenn es nur darum
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Die übergroße Mehrzahl der ausgewerteten Titel ist englischsprachig. Bereits bei einer ersten Sichtung der Aufsätze nach Themenfeldern fällt auf, dass der Gebrauch der beiden Begriffe oder des Begriffspaars auf einige Forschungsfelder konzentriert ist. An der Spitze steht die Geschichte der Migration bzw. die Geschichte politischer Teilhabe und Zugehörigkeitsrechte von Minderheiten (zumal solcher mit Migrationshintergrund). Inwieweit öffnete sich das politische Feld der untersuchten Länder/Regionen für Frauen, NGOs oder Migranten? Wie wurden Zuwanderer in lokale Gesellschaften/Gemeinschaften inkludiert? Oder: Welche Ausgrenzungen gingen mit der Öffnung von lokalen Märkten für Agrarprodukte und Rohstoffe in sogenannten Entwicklungsländern einher? Weitere Themen, die mit Hilfe von Inklusion/Exklusion erschlossen werden, kommen aus der Geschichte von Erinnerungskulturen (Vergessen/Erinnern von Ereignissen sowie den historischen Schicksalen von Gruppen) und der Stadtgeschichte (Segregation und die komplexen Verschränkungen zwischen politischen, kulturellen und sozialen Exklusionen bei der Herausbildung von ›Ghettos‹ wie im Fall der französischen Vorstädte). Übergreifende Themen wie Studien zur Konstruktion von Gender, Nation oder Bildung nutzen die Kategorie, um Strukturen und Tendenzen über einen längeren Zeitraum zu analysieren. Untersuchungsregionen dieser Studien sind alle großen Kulturräume der Neueren und Neuesten Geschichte: vom amerikanischen Kontinent über Afrika, Asien bis nach Europa. Die quantitativen Gewichte sind dabei weniger aussagekräftig, wenn man den starken US-amerikanischen Bias der Historical abstracts berücksichtigt, die mehr als 2/3 der ausgewerteten Titel liefert. Die meisten Beiträge beschäftigen sich mit der Neuesten Geschichte, konkret mit dem Zeitraum seit 1970, und stammen zu einem erheblichen Teil von (zeit-)historisch arbeitenden Sozialwissenschaftlern: Geographen, Soziologen, vor allem aber Politik- und Kulturwissenschaftlern. Historiker stellen in dieser engeren Titelauswahl eine Minderheit dar, auch wenn explizit keine Periodika aus dem Feld der genannten Nachbardisziplinen einbezogen worden sind. Schaut man dann weiter nach den Theoriebezügen dieser Beiträge, so stellt man fest, dass vielfach die Möglichkeit genutzt wird, mit einer der beiden Kategorien die grundlegende, elementare Tatsache von Ausschluss und Teilhabe als zentralen Aspekt der untersuchten historischen Phänomene in den Mittelpunkt zu rücken. Damit ist noch keineswegs eine weiterreichende theoretische Modellbildung oder Bezugnahme zu sozialwissenschaftlichen Theorien verbunden. geht, den Gebrauch der Termini im Volltext zu untersuchen, gegenüber knapp 120 Aufsätzen und Buchbeiträgen, welche die Kategorien im Titel nutzen.
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Blickt man nun auf den engeren deutschen bzw. deutschsprachigen Forschungskontext und wirft zu diesem Zweck einen Blick auf die Trefferliste der Titelstichwörter Inklusion oder Exklusion für den Zeitraum seit 1996 in den Jahresberichten für deutsche Geschichte (insgesamt 43 Titel, davon stammen sieben aus dem Trierer SFB und sind nicht berücksichtigt worden), so zeigen sich einige Verschiebungen in den Themenfeldern, weniger im theoretischen und methodischen Status der verwendeten Begriffe. Noch stärker als in der englischsprachigen Fachliteratur dienen beide Kategorien dazu, große synthetische Überblicke und Fragestellungen aufzuspannen: Nation und Region sowie Nation und Geschlecht werden in einem Teil der Beiträge über die Leitfrage Inklusion/Exklusion problematisiert. Deutlicher als auf internationaler Ebene wird also erkennbar, dass mit diesem Begriffspaar Veränderungen in den übergreifenden Narrativen der Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung verbunden sein können. Näher an sozialgeschichtliche Standardthemen rücken beide Termini, wenn es darum geht, soziale Gruppen in ihren Praktiken der Abgrenzung/Einschließung anderer oder als Objekte der Exklusion durch die Mehrheitsgesellschaft zu beschreiben. Hier reicht das Spektrum von Arbeitermilieus über europäische Reisende bis hin zur religiösen Minderheit der Mennoniten. Die Migrationsgeschichte ist dagegen eher selten vertreten. Dominante Theoriebezüge sind, ganz ähnlich wie im internationalen Feld, nicht zu entdecken; die theoretisch-methodischen Bezüge sind eher schwach und diffus. Diese zwangsläufig partiellen Einblicke mit Hilfe bibliographischer Online-Datenbanken bedürfen der Ergänzung durch teilnehmende Beobachtung, die der Verfasser seit nunmehr zwölf Jahren auf den beiden Themenfeldern der neuzeitlichen Migrations- und Armutsforschung machen konnte. Mit Blick auf die historische Armutsforschung in Deutschland ließe sich aus dieser Perspektive feststellen, dass sich ihr (bescheidener) Aufschwung in den letzten Jahren in ganz erheblichem Maße der Tatsache verdankt, dass sie mit dem Begriffspaar von Inklusion/Exklusion ein eigenständiges Bezugssystem entwickelt hat. Es erlaubt ihr, aus den engeren Fragestellungen der Sozialstaatsgeschichte und der Geschichte moderner Wohlfahrtsregime herauszutreten und gleichzeitig einen Bezug zur aktuellen sozialwissenschaftlichen Armutsdebatte herzustellen. Die gerade in der Neuesten Geschichte unterbelichtete und bis dahin eher randständige Forschung zur Ausgrenzung/Teilhabe von Fürsorgeempfängern und Armen hat sich dank der systematischen Frage nach den Zusammenhängen zwischen sozio-ökonomischen Leistungen, politisch-rechtlichen Normierungen und sozial-moralischen Semantiken als eigenständiger Bereich der Sozial- und Wohlfahrtsstaatsgeschichte neu etablieren können. Dabei war gerade der engere
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Kontakt zu französischen, englischen und österreichischen Forschungsansätzen und Forschergruppen von besonderem Nutzen. Typischerweise gehörten französische Neuzeithistoriker zu den ersten, die angesichts der sozialpolitischen Diskussionen um ›exclusions‹ seit den späten 1980er Jahren ihr eigenes Forschungsinteresse auf frühere Formen der Exklusionen und exkludierte Gruppen richteten.3 In der Migrationsforschung sind die Effekte weniger spektakulär, nicht zuletzt deshalb, weil hier benachbarte Kategorien wie Integration/Segregation etablierte Begriffe der Forschungspraxis waren und letztlich auch geblieben sind. Demgegenüber konnte die Verwendung des Begriffspaars der Inklusion/ Exklusion als Transfer und zugleich auch als kritische Reflexion französischer sowie angelsächsischer Ansätze in diesem Forschungsfeld genutzt werden. Dieser kursorische Blick in die laufende Praxis hat gezeigt, dass der Gebrauch der Kategorien keineswegs mit einer breiteren Rezeption der Debatten um Exklusion in der Soziologie oder mit der Verbreitung systemtheoretischer Modelle oder auch nur der theoretischen Überlegungen Luhmanns oder Stichwehs zu Inklusion/Exklusion einhergeht.4 Typisch ist nach wie vor ein vortheoretischer Gebrauch der Begriffe. Sie ersetzen alltagssprachlich eingeführte Wörter wie Ausschluss, Ausgrenzung einerseits, Teilhabe oder Einschluss andererseits. Das Erkenntnispotential theoretisch informierter und forschungspraktisch erprobter Vorschläge, wie sie etwa im Zusammenhang der Debatte über die »Überflüssigen«5 oder im Kontext der Arbeiten des Trierer SFB 6006 (Bohn, Hahn) gemacht worden sind, ist, soweit erkennbar, in anderen Kontexten bislang selten genutzt worden.
2. Das Konzept der Inklusion/Exklusion und Neuorientierungen der Geschichtswissenschaft Welche zusätzlichen Erkenntnischancen eröffnet nun das Begriffspaar Inklusion/ Exklusion für die Geschichtswissenschaft »moderner Gesellschaf3 Gueslin, Andre´ / Kalifa, Dominique (Hg.): Les exclus en Europe, 1830–1930. Paris 1999. 4 Stichweh, Rudolf: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2005. 5 Bude / Willisch, Exklusion (wie Anm. 1). 6 Bohn, Cornelia: Inklusion und Exklusion: Theorien und Befunde. In: Dies. (Hg.): Inklusion, Exklusion und die Person. Konstanz 2006, S. 7–28; Hahn, Alois: Partizipative Identitäten. In: Ders.: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie. Frankfurt a. M. 2000, S. 13–79.
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ten«7 jenseits modischer Trends? Welche Forschungsfragen werden neu gestellt oder reformuliert? Welche Perspektiven und Begriffe werden mit Inklusion /Exklusion kritisiert oder verändert? Es scheint so, als würden mit dem Begriffspaar Inklusion/Exklusion vor allem zwei Phänomene in das Rampenlicht der geschichtswissenschaftlichen Aufmerksamkeit treten: Erstens hat die Beobachtung, dass soziale Integration in gegenwärtigen Gesellschaften längst nicht mehr die überwältigende Mehrheit ihrer Mitglieder erfasst, auch neue Fragen an die jüngere Vergangenheit provoziert. Vor allem die Dynamik der weltweit vernetzten wirtschaftlichen Prozesse und neuer gesellschaftlicher Konstellationen hat gezeigt, in welchem Maße die vielfältigen Einbindungen der Individuen in die nationalen Gesellschaftsordnungen gelockert oder zum Teil aufgelöst werden. Die auch von Sozialhistorikern des 19. und 20. Jahrhunderts geteilte ›unspoken assumption‹, sich Gesellschaft als Container vorzustellen, hat angesichts solcher Gegenwartsphänomene an Plausibilität verloren. Das Wechselspiel zwischen den Grenzen politisch-rechtlicher Ordnung, politisch-weltanschaulicher Vergemeinschaftungen einerseits und dem ›Sozialen‹, also sozialen Prozessen und dort angesiedelten Vergemeinschaftungen andererseits rückt seit geraumer Zeit in den Mittelpunkt: Typischerweise gehört die Frage nach grenzüberschreitenden Formen des Sozialen (Organisationen, Netzwerke, Haushalte, Unternehmungen) zu den aktuellen Modethemen der Neueren und Neuesten Geschichte. Mit der Frage nach Grenzziehungen tritt auch das Begriffspaar Inklusion/Exklusion als systematischer Bezugspunkt in den Vordergrund. Die besorgte Frage nach den »schwarzen Löchern«8 sozialen Zusammenhalts in gegenwärtigen Gesellschaften schafft also – so die These – mehr Aufmerksamkeit für Zwischenräume, Übergangszonen und Grenzüberschreitungen in den sich zunehmend nationalstaatlich organisierenden Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts und gleichzeitig auch einen schärferen Blick für das Zusammenspiel kultureller, sozialer und politischer Praktiken sowie rechtlich-polizeilicher Maßnahmen bei den vielfältigen Grenzziehungen, welche die Genese nationalstaatlicher Containergesellschaften oder die Nationalisierung, somit die Durchstaatlichung des Sozialen begleiten. 7 Dieser Begriff bedarf natürlich der Erläuterung. Damit sollen Gesellschaften bezeichnet werden, die gleichzeitig durch dynamische Basisprozesse wie Urbanisierung, Industrialisierung, Alphabetisierung und eine Historisierung bzw. reflexive Relativierung ihrer Selbstbeschreibungen und Ordnungsmuster geprägt sind. Vgl. hierzu Dipper, Christoph: Moderne.Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte (https://docupedia.de/zg/Moderne?oldid=80259 [25. 8. 2010]). 8 Stichweh, Rudolf: Inklusion / Exklusion, funktionale Differenzierung und die Theorie der Weltgesellschaft. In: Soziale Systeme 3 (1997) 1, S. 123–136, hier S. 132.
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Ein zweiter Aspekt kommt hinzu: Exklusion/Inklusion fragt gezielt nach Individuen oder Gruppen als Adressaten von Kommunikation. Aus der aktuellen Zeitdiagnostik übernimmt der Historiker ganz selbstverständlich – quasi beiläufig – die besondere Aufmerksamkeit für das Individuum oder für durch Prozesse der Exklusion markierte Gruppen/Kollektive. Die klassische politische Sozialgeschichte beschäftigte sich mit organisierten Interessengruppen, also mit Klassen und Schichten, deren Teilhabe über Gewerkschaften, Verbände oder Parteien bereits fester Bestandteil der sozialpolitischen Ordnungsmuster war oder die sich als soziale Bewegungen ihren Platz in der sozialen Ordnung erkämpften. Mit Inklusion/Exklusion ist eindeutig eine Verlagerung des Interesses weg von diesen ›Kernbereichen‹ des sozialen und politischen Konflikts hin zu den ›Rändern‹ verbunden. Mit der Rede von den ›Exkludierten‹ übernimmt die Geschichtswissenschaft zwangsläufig eine Denkfigur, welche die Nichtteilhabe von Gesellschaftsmitgliedern eigentlich bis zur Paradoxie steigert, denn wie Castel9 und nach ihm viele andere angemerkt haben, geht es meist gerade nicht um die totale Exklusion (die historisch betrachtet als Vertreibung, Abschiebung oder Ermordung im Untersuchungszeitraum vielfach zu beobachten war), sondern um jene Formen der Nichtteilhabe, welche eine soziale Existenz weiterhin zulassen, aber dies mit dem faktischen oder rechtlich-politischen Ausschluss von zentralen Ressourcen der Gesellschaft verknüpfen. Die neue Aufmerksamkeit für solche Prozesse »kumulierender Exklusion«10 knüpft historiographiegeschichtlich betrachtet an das breite Forschungsinteresse für Randgruppen und Devianz an, das sich seit den frühen 1970er Jahren artikulierte. Die politischen Konnotationen, welche dieses Interesse anfangs noch begleitete, nämlich die Vorstellung, dass gesamtgesellschaftliche Umbrüche von diesen ›Randgruppen‹ eher zu erwarten seien als von den integrierten Zentren moderner Gesellschaften, ist bestenfalls noch im postkolonialen Emanzipationsdiskurs erkennbar. Eher zu beobachten ist, dass das historische Interesse für Migranten, Fremde oder Arme von humanitärer Empathie getragen ist, die sich ethisch an dem Universalitätsanspruch der Menschenrechte orientiert. In der Sprache der Systemtheorie artikuliert sich darin letztlich die »tendenzielle Illegitimität von Exklusion in der Moderne. Die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion ist eben auch eine Unterscheidung mit einem normativen Bias für die eine Seite der Unter9 Castel, Robert: Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs. In: Bude / Willisch, Exklusion (wie Anm. 1), S. 69–86. 10 Markus Schroer: Die im Dunklen sieht man doch. Inklusion, Exklusion und die Entdeckung der Überflüssigen. In: Bude / Willisch, Exklusion (wie Anm. 1), S. 178–194, hier S. 194.
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scheidung. Inklusion ist anzustreben, Exklusion ist zu vermeiden.«11 Die Ablehnung jeglicher Fortschrittsideologie als geschichtsphilosophische Rechtfertigung von Exklusionsstrategien bildet also eine Voraussetzung für das wachsende Interesse an Problemstellungen, die mit dem Begriffspaar Inklusion /Exklusion verbunden sind. Damit sind einige Wertorientierungen und gesellschaftstheoretische Grundannahmen benannt, die vielfach implizit präsent sind, wenn sich Neuzeithistoriker mit Fragen der Inklusion/ Exklusion beschäftigen, deren Verankerung in zeitdiagnostischen Gegenwartsanalysen jedoch immer mit bedacht werden muss. Das Konzept Inklusion/Exklusion ermöglicht einen weiteren Perspektivenwechsel. Die sozialen Folgen kultureller Differenz von Symboliken der Inklusion / Exklusion werden ebenso wichtig genommen wie die Folgen ungleicher Einkommenslagen oder Machtpositionen. Die seit gut zwei Jahrzehnten zu beobachtende Akzentverschiebung hin zu Fragen sozialer, kultureller Identität (bevorzugt: Identitäten von Einzelnen oder Kollektiven) und damit differenzierungstheoretisch begründbarer Fragestellungen hat hier sicherlich ihre Spuren hinterlassen. Schließlich ist mit dieser differenzierungstheoretischen Neugierde in der Regel auch eine Hinwendung zu sozialkonstruktivistischen Grundannahmen verbunden: Inklusionen/Exklusionen sind nur als Resultat sinnverstehenden Handelns und Verhaltens zu fassen; die zuweilen beträchtlichen und folgenreichen Ressourceneffekte und Umverteilungen von Teilhabechancen sind notwendigerweise mit Semantiken verknüpft, welche für die Markierung von innen/außen sorgen. Der Gebrauch des Begriffspaares ist – so die schlichte Schlussfolgerung – ohne den spektakulären Aufstieg der ›neuen‹ Kulturgeschichte im Bereich der Neueren und Neuesten Geschichte nicht denkbar. Vor allem das kulturgeschichtliche Interesse für ›Grenzregime‹ und ›Grenzfiguren‹ wirkt hier in hohem Maße anregend. Als Ausgangspunkt kann dabei wiederum eine Theorietradition dienen, die ›Raum‹ als Träger und Ergebnis sozialer Beziehungen auffasst und danach fragt, welche Gestaltungseffekte die immer schon sozial gestaltete, sinnhaft gedeutete physikalische Umgebung ermöglicht – oder negativ formuliert, welche Handlungsgrenzen und Beharrungskräfte der Raum individuellen wie kollektiven Strategien der Veränderung entgegensetzt.
11 Stichweh, Rudolf: Leitgesichtspunkte einer Soziologie der Inklusion und Exklusion. In: Ders. / Windolf, Paul (Hg.): Inklusion und Exklusion. Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit. Wiesbaden 2009, S. 29– 42, hier S. 37 (Herv. im Original; L. R.).
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3. Begriffliche Klärungen und theoretische Bezüge des Konzepts in der Geschichtswissenschaft Stimmt diese Analyse der gegenwärtigen Forschungslage, so ergeben sich daraus wiederum einige Bemerkungen und Überlegungen zum Potential des Begriffspaars für die Weiterentwicklung der Forschungen auf den skizzierten Forschungsfeldern. Die Denkfigur von Exklusion/Inklusion entfaltet ihre heuristische Wirkung nur dann, wenn sie als Begriffspaar ernst genommen wird: Das eine setzt das andere voraus; weder Vollinklusion noch totale Exklusion von Personen oder Gruppen bezeichnen sozialstrukturelle Realitäten, sondern sind gedankliche Abstraktionen des Wissenschaftlers oder der Zeitgenossen. Historische Grenzfälle, die dieser Abstraktion entsprechen, sind Vertreibung, Verbannung oder Vernichtung. Typischerweise hinterlassen aber in Form von Diffamierung, Entehrung oder Hass selbst die aus dem sozialen Kontext Exkludierten nach ihrer Ermordung oder Vertreibung Spuren bei ihren Verfolgern und Exekutoren und sind in Exklusionssemantiken präsent. Damit ist eine erste weiterführende Unterscheidung eingeführt, die sich im Forschungsalltag bereits vielfach bewährt hat, nämlich zwischen »Sozialstruktur und Semantik für konkrete Inklusionsund Exklusionsordnungen einer gegebenen Gesellschaft«.12 Sie kann ergänzt werden durch weitere Überlegungen: – Die Kombination von Teilhabe und Ausschluss in und aus Handlungszusammenhängen und Funktionssystemen stellt dagegen den ›Normalfall‹ dar, der Menschen in der Neuzeit als unproblematisch galt, auch wenn Fragen gerechter oder ungleicher Verteilung von Ressourcen und Verweigerung von Zugangschancen erhebliches Konfliktpotential entfaltet haben. – Ein wichtiger Untersuchungsbereich sind jene Prozesse der Prekarisierung, Ausgrenzung oder Stigmatisierung, bei denen es zur Anhäufung von Exklusionen aus verschiedenen Funktionssystemen kommt, so dass ›Zonen‹ sozialer Existenz oder konkret Sozialräume entstehen, in denen nur noch prekäre Teilhabe an den sozio-ökonomischen Ressourcen besteht. Auch in diesen Fällen kumulierender Exklusion gilt es die Semantiken, zuvorderst Normen und Werte, zu untersuchen, welche solche Prozesse kumulierender Exklusion begleiten, sie als Ausgrenzungen oder Diffamierungen verstärken, in Form sozialwissenschaftlicher Expertise bekräftigen oder rechtfertigen oder aber im Namen von Religion, Moral oder Politik skandalisieren. 12 Bohn, Inklusion (wie Anm. 6), S. 19.
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– In der Neuzeit gewinnen Institutionen an Bedeutung, welche die Aspekte der Disziplinierung bzw. Erziehung und der Einschließung kombinieren. Das Repertoire solcher Kombinationen von Ausschluss und Zwangseinschließung hat sich mit Gefängnissen, Irrenanstalten, Arbeitshäusern, Arbeitslagern oder Ghettos im Verlauf der letzten drei Jahrhunderte erheblich erweitert. Es bietet sich an, diese spezifisch ›modernen‹ Formen der Verschränkung von Inklusion und Exklusion unter dem allgemeinen Begriff ›inkludierender Exklusion‹ zusammenzufassen. Institutionen dieses Typs können mit Stichweh sogar zu den »bestimmenden Erfindungen der Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts«13 gezählt werden. Ihnen lassen sich wiederum als »Gegenstrukturen« Formen der »exkludierenden Inklusion«14 zur Seite stellen, mit denen die vielfältigen Erscheinungsweisen reaktiver bzw. auf strikter Selbstexklusion beruhender Formen von Vergemeinschaftung – von der Mafia oder Jugendbanden bis hin zu Gruppen politischer oder religiöser Fundamentalopposition – bezeichnet werden können. – Schließlich erscheint es hilfreich, der sozialräumlichen Dimension von Inklusion/ Exklusion besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Raum kann als ein generelles Medium von Inklusion/Exklusion betrachtet werden. Anknüpfend an die Unterscheidungen Georg Simmels rückt damit die Frage nach der »räumlichen Spannungskapazität«15 unterschiedlicher Exklusions-/Inklusionsfiguren und die Frage nach ihrer Stabilisierung, also Fixierung durch »Verräumlichung«,16 in den Mittelpunkt. Exklusion ist durch eine tiefgründige Ambivalenz gekennzeichnet, die sich auch sozialräumlich artikuliert: Exkludierte gehören dazu und sind gleichzeitig ausgeschlossen, somit abgesondert; sind räumlich nahe, aber sozial oder kulturell fern oder umgekehrt. Bei Fremden etwa verbindet sich politisch-rechtliche Sonderung – also Diskriminierung, kulturelle, rassische oder religiöse Stigmatisierung – mit räumlicher Nähe oder dauerhafter Präsenz. Damit werden Exkludierte wie zum Beispiel Fremde und Arme typischerweise immer wieder Akteure wie Objekte von symbolischen wie praktischen Zuschreibungen von Räumen, die sich auf der gesamten Skala von der Mikro- bis zur Makroebene sozialräumlicher Ordnungen bewegen. Möglichst scharfe analytische Unterscheidungen können helfen, Licht in diese komplexen 13 Stichweh, Leitgesichtspunkte (wie Anm. 11), S. 38. 14 Stichweh, Leitgesichtspunkte (wie Anm. 11), S. 39. 15 Simmel, Georg / Rammstedt, Otthein: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt a. M. 2009, S. 717. 16 Simmel / Rammstedt, Soziologie (wie Anm. 15), S. 698.
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Vorgänge zu bringen: Als Erstes bietet es sich an, absichtsvolle Eingriffe in den Sozialraum mit dem Zweck des Ausschlusses oder des Einschlusses in Gesellschaft/Politik/Religion von sozialräumlichen Folgen und Effekten von Handlungen oder funktionalen Zusammenhängen zu trennen. Man kann in diesem Sinn von ›Raumpolitiken der Exklusion‹ sprechen, wenn man an jüdische Ghettos im frühneuzeitlichen Italien oder Deutschland oder an das öffentliche Bettelverbot in den europäischen Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts denkt. Sie richten sich typischerweise darauf, Raumordnungen zu schaffen oder zu erhalten – enthalten also Ansprüche auf Dauerhaftigkeit und haben institutionelle und diskursive Verfestigungen zur Folge. Davon zu unterscheiden sind ›Raumeffekte der Exklusion‹. Sie ergeben sich quasi als Nebenwirkungen von ökonomischen, demographischen oder sozio-kulturellen Tatsachen oder Trends. Ein solchermaßen theoretisch informiertes Konzept von Inklusion/Exklusion entfaltet seine Wirkung vor allem, wenn man es als Aufmerksamkeitsregel versteht, die dabei hilft, gedankliche Engführungen/Nebenwirkungen zu vermeiden, welche mit holistischen Ansätzen wie ›social control‹ oder Sozialdisziplinierung verbunden sind. Keineswegs in Abrede stellt das Begriffspaar den Grundgedanken dieser Ansätze, dass Inklusionsangebote an Unterschichten, Fremde, ›Randgruppen‹ mit Normierungs- und Kontrollabsichten der sich seit der Frühen Neuzeit beständig verdichtenden staatlichen Obrigkeit verknüpft sind. Die Kritik gilt nicht primär der machtoder herrschaftskritischen Zuspitzung, sondern der eindimensionalen Ausgestaltung dieser Ansätze: Die Eigenlogik der verschiedenen Medien sowie der Modi von Inklusion/Exklusion stellt gewissermaßen den Ausgangspunkt des theoretischen Modells dar. Arbeits- oder Gütermärkte, Gesetze, Polizeiverordnungen, konkrete Handlungen und das Verhalten der Rechtsund Ordnungshüter, Normen und Praktiken der sozialen Institutionen der Versorgung, Pflege, Einschließung, schließlich die Semantiken der Verfemung, Stigmatisierung, aber auch der Romantisierung und Idealisierung bis hin zu den alltäglichen Routinen im Umgang mit Armen, Bettlern, Vaganten, ›Zigeunern‹, Migranten oder Juden stellen ein Ensemble von Operationen dar, bei denen sich immer wieder die binäre Logik von Einschluss oder Ausschluss etablieren kann, bei denen sich aber auch graduelle Abstufungen, Hierarchien der Teilhabe und Zugehörigkeit entwickeln, deren Zusammenspiel erst das Gesamtbild oder die Gesamtfiguration ausmacht. Mit dem Hinweis, dass sowohl lose und als auch strukturelle Koppelungen zwischen einzelnen Elementen dieses Ensembles in Betracht zu ziehen sind,
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entzieht der Theorieansatz von Inklusion/Exklusion insbesondere all jenen Denkfiguren die Grundlage, welche a priori eine Dimension (z. B. den Markt, den Staat, die Religion) als determinierend voraussetzen. Empirische Forschung bleibt so unvorbelastet von weitreichenden makrohistorischen und geschichtstheoretischen Vorgriffen. Daraus ergibt sich auch eine gewisse skeptische Distanz gegenüber den großen Entwicklungsmodellen und Narrativen, welche bis heute die konkreten Studien zu Fremdheit und Armut im 19. und 20. Jahrhundert getränkt haben. Dies trifft ironischerweise gerade auch die Einbettung des Inklusions-/Exklusionskonzepts in den größeren Kontext der Systemtheorie. Deren weitgehend unkritische Fortschreibung klassischer soziologischer Stadienmodelle bis hin zur Entfaltung der funktional differenzierten Gesellschaft der Moderne gerät zwangsläufig ins Fadenkreuz historischer Arbeiten zu Inklusion/Exklusion. Der große Vorteil des in diesem Band diskutierten Konzepts ist, dass es an eine ganze Reihe aufschlussreicher Gesellschaftstheorien anschlussfähig ist, welche alle in je spezifischen Hinsichten für die historische Forschung genutzt werden können. Selbstverständlich bietet die Systemtheorie ein inzwischen weit aufgefächertes und in sich differenziertes Angebot weiterer Theorieelemente; aber auch die Theorien Foucaults oder Bourdieus sind problemlos nutzbar. Dies kann sicherlich als seine besondere Stärke im geschichtswissenschaftlichen Feld gelten. 4. Forschungsfelder und neue Perspektiven Typischerweise konzentrieren sich Modell- oder Theoriebildungen in den Geschichtswissenschaften eher auf die analytische Durchdringung zeitlich und räumlich klar umrissener Phänomene. Es sollen Modelle und Typologien entwickelt werden, welche es erlauben, möglichst empiriegesättigt konkrete Vergleiche durchführen und epochenspezifische sowie gegenstandsnahe Synthesen erarbeiten zu können. Für diese Art spezifisch historischer ›Theorie‹-Bildung ist das Begriffspaar Inklusion/Exklusion nur ein begriffliches Universalwerkzeug neben vielen anderen. In welchen der etablierten Forschungsfelder mit eigenen Theorieangeboten und -traditionen eröffnet das Begriffspaar neue Perspektiven? Bereits der kursorische Blick auf aktuelle Verwendungsweisen des Begriffspaars hat deutlich gemacht, dass Inklusion/Exklusion als Basisoperationen für die Konstitution politischer bzw. religiös-moralischer Ordnungen moderner Gesellschaften eine besondere Bedeutung zukommt. Während Luhmann die Vermutung äußerte, Inklusion/Exklusion könne sich zu so etwas wie der Basisunterscheidung von Gesellschaft im 21. Jahrhundert
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entwickeln, erklärt sich das Interesse des Neuzeithistorikers gerade aus der Beobachtung der Kontinuität dieser Unterscheidung. Praktiken und Semantiken des Ausschlusses haben politische Vergemeinschaftungsformen wie Nationen oder Kommunen gerade angesichts der neuen Dynamiken wirtschaftlicher, demographischer und sozialer Prozesse ständig begleitet. Historiker der Inklusion/Exklusion fragen also im Anschluss an Foucault: »Durch welches Ausschließungssystem, durch wessen Ausmerzung, durch Ziehung welcher Scheidelinie, durch welches Spiel von Negation und Ausgrenzung kann eine Gesellschaft beginnen zu funktionieren?«17 Diese Fragestellung ist keineswegs neu, wenn man sich nur daran erinnert, welche Aufmerksamkeit die Nationalismusforschung seit gut zwei Jahrzehnten der Bedeutung von Bildern innerer und äußerer Feinde für die Bildung der modernen Nationen geschenkt hat. Diese Studien gewinnen an gesellschaftstheoretischem Gewicht durch den Rückbezug auf Inklusion/Exklusion. Dies hat vor allem Alois Hahn in verschiedenen Beiträgen deutlich gemacht.18 Aber die durch gegenwärtige Debatten geschärfte Sensibilität für diese elementare Dimension politischer Vergemeinschaftung, zumal in ihren radikalen Versionen im Zeitalter der Extreme, hat dazu geführt, dass die deutsche Zeitgeschichtsforschung schließlich die radikal rassistischen Exklusionsprogramme des NS-Regimes als integralen Bestandteil der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft interpretiert und die Spuren der Wechselbeziehung von Ausschluss, Ausmerzung und Vernichtung einerseits, sozialer Integration und Gemeinschaftssemantik andererseits nunmehr auch viel stärker jenseits der offiziellen Propaganda und als ideologisches Konstrukt des Regimes in den alltäglichen Handlungslogiken der deutschen Gesellschaft zwischen 1933 und 1945 aufzuspüren sucht. Die detektivische Suche nach solchen Verschränkungen von Inklusion und Exklusion stellt in diesem Fall das Spezifikum dar, was die neueren sozialgeschichtlichen Studien zur »Volksgemeinschaft« auszumachen scheint.19 Gleichzeitig sucht sie mit der Einführung des Begriffspaars den Anschluss an diachrone sowie synchrone historische Vergleiche. 17 Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht. Berlin 1976, S. 57, hier zit. n. Schroer, Die im Dunklen (wie Anm. 10), S. 193. 18 Hahn, Alois: Exklusion und die Konstruktion personaler Identitäten. In: Raphael, Lutz/Uerlings, Herbert (Hg.): Zwischen Ausschluss und Solidarität. Modi der Inklusion / Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike (Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 6). Frankfurt a. M. [u. a.] 2008, S. 65–96. 19 Bajohr, Frank / Wildt, Michael (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 2009.
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Das radikale Beispiel nationalsozialistischer Exklusionspraktiken ist keineswegs singulär, die Dynamik exkludierender Strategien als Kehrseite inkludierender Absichten gehört zu einer der vielfach zu beobachtenden Konstanten politischer Ordnungen in der Moderne. Besonders Fremde und Deviante gerieten immer wieder in das Fadenkreuz von Prozessen, die dadurch gekennzeichnet scheinen, dass sie gleichzeitig und in vergleichbarer Intensität und Sichtbarkeit Inklusion und Exklusion markieren, also Integrationsversprechen mit Exklusionssemantiken kombinieren und die rechtliche und soziale Besserstellung eines Teils der Ausländer mit der Ausweisung oder Schlechterstellung anderer (Illegaler, Asylbewerber) kombinieren, Hilfsangebote an würdige, ›einheimische‹ Bedürftige mit der Kriminalisierung und Abschiebung fremder Bettler, Vagabunden oder ›Zigeunern‹ verbinden. Die tief gestaffelte Doppeldeutigkeit von Fremden- und Armenpolitik kann jedenfalls mit Hilfe des begrifflichen Instruments dieses Ansatzes systematisch analysiert werden. Diese Doppelstruktur des Ordnungsmusters Inklusion/Exklusion hat jedenfalls zahlreiche Migrations- und Wohlfahrtsregime im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt oder zumindest beeinflusst und die empirischen Studien im SFB 600 haben zahlreiche Untersuchungen zu den vielfältigen Institutionen ›inkludierender Exklusion‹ geliefert, welche sehr präzise die Grenzen für all jene (sozial-)politischen Programme und Entwürfe von ›Vollinklusion‹ setzten, die seit der Aufklärung und den atlantischen Revolutionen die politische Ideengeschichte Europas immer wieder beflügelt haben.20 Damit verbunden ist auch die Aufforderung an die historische Forschung, mit eigenen empirischen Beiträgen der These Rudolf Stichwehs nachzugehen, die Unterscheidung von Exklusion und Inklusion sei zu einer »asymmetrischen Unterscheidung«, somit einer »hierarchischen Opposition« geworden, bei der Inklusion zum Oberbegriff geworden sei, der das Begriffspaar einschließe.21 Diese langfristige Trendbehauptung wird jedenfalls durch zahlreiche empirische Befunde relativiert, ohne dass beim jetzigen Forschungsstand davon gesprochen werden kann, dass sie falsifiziert sei oder andersherum die Genese dieses für die Gegenwart beobachteten bzw. postulierten Trends auch nur annähernd präzise erforscht wäre. Ein zweites Problemfeld betrifft die Verschränkung oder Kombination von Ausschluss und Teilhabe. Gerade die soziologischen Kontroversen um den Exklusionsbegriff haben deutlich gemacht, dass es sehr wichtig ist, seine politische Dimension und seine konkreten Gebrauchsweisen in Feldern wie 20 Raphael / Uerlings, Ausschluss und Solidarität (wie Anm. 18). 21 Stichweh, Leitgesichtspunkte (wie Anm. 11), S. 35–37.
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der Sozial- oder Ausländerpolitik von dem Gebrauch in den Sozial- und Kulturwissenschaften zu trennen, denn zweifellos ist der Streit um die legitime Verwendungsweise des Begriffs und seiner Synonyme mit Aushandlungsprozessen über Teilhabechancen und den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen aufs engste verbunden. Hinter der binären Struktur des entweder/ oder wird eine komplexere ›Schattenzone‹ erkennbar, in der Einzelne, Familien oder größere Gruppen darauf verwiesen sind, sich in ihren prekären Zugängen zu Erwerbschancen oder Eigentum einzurichten und dabei immer wieder auf in der Regel zeitlich befristete und materiell knappe Hilfsangebote verschiedenster Art zurückzugreifen, um ihre prekäre soziale Existenz zu sichern. Mit Castel hat etwa Marx-Jaskulski diese Existenzweise als eine ›Zone‹ bezeichnet, aus der immer wieder die Bedürftigen der öffentlichen und privaten Fürsorgeeinrichtungen hervortreten, die damit zu ›Armen‹ im Sinne Simmels werden und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein materielle Teilhabe (also Inklusion durch das Wohlfahrtssystem) mit symbolischen Exklusionen erkaufen.22 Die dabei entstehenden komplexen Gemengelagen von Teilhabe, Zugehörigkeit und Ausschluss beschäftigen die gegenwärtige historische Armutsforschung. Insbesondere der Vergleich unterschiedlicher nationaler sowie regionaler oder lokaler Regime ist hier von besonderem Interesse. Der aufhaltsame Weg zur Durchsetzung eines Rechts auf Sozialhilfe stellt jedenfalls einen besonders spannenden Fall dar, um die sich verändernden Grenzziehungen zwischen den Zonen prekärer sozioökonomischer Existenzsicherung und den Formen wohlfahrtsstaatlicher Inklusion (mit der ihr eigenen Kombination von Kontrolle, Aufsicht und Abhängigkeit) zu untersuchen.23 Für viele Forschungsfelder scheint es also durchaus von Vorteil zu sein, mit dem Konzept ›Inklusion/Exklusion‹ zu arbeiten. Seine Stärke liegt vor allem darin, dass es als Aufmerksamkeitsregel im konkreten Forschungsprozess dienen kann: Die Frage nach Ausschlussregeln, Exklusions- oder Inklusionsritualen, nach strukturellen Koppelungen zwischen Ausschluss und Teilhabe an unterschiedlichen Handlungsfeldern und last but not least die Einbeziehung der symbolischen Ebene (von Sprache, Bildern, Zeichen), also der Thematisierung und Darstellung von Zugehörigkeit bzw. Ausschluss ist es, was das Begriffspaar für den Forschungsalltag so nützlich macht. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob bei der Darstellung der Ergebnisse einer systematischen Nutzung des Begriffspaars Vorteile gegen22 Marx-Jaskulski, Katrin: Armut und Fürsorge auf dem Land. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1933. Göttingen 2008, S. 26 f. 23 King, Steven: Welfare Regimes and Welfare Regions in Britain and Europe, c. 1750 to 1860s. In: Journal of Modern European History 9 (2011) 1, S. 42– 65.
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über der Verwendung synonymer Termini zuzusprechen sei. Die Beantwortung der Frage hängt ganz wesentlich davon ab, welchen Anspruch an theoretischer Anschlussfähigkeit und welches Interesse an der Generierung von Vergleichsperspektiven die konkrete Untersuchung erhebt.
5. Neuzeitliche Exklusionsfiguren als Strukturen langer Dauer? Die besondere Stärke des Konzepts zeigt sich in Forschungsfeldern und bei Forschungsfragen, bei denen sich soziologische, historische und kulturwissenschaftliche Ansätze aufs engste berühren. Dies ist etwa der Fall bei Untersuchungen sogenannter Strukturen langer Dauer. Gerade die Identifizierung von langfristig wirksamen »Inklusions- bzw. Exklusionsfiguren«24 ist von besonderem Interesse. Ausgangspunkt für eine Diskussion möglicher Erkenntnisgewinne können zwei Beobachtungen sein, die man zu Hypothesen erweitern kann: Operationen der Inklusion und Exklusion sind nicht einfach als Folgen dominanter Vergesellschaftungsformen oder Gesellschaftstypen zu fassen, sie liegen quer zu den unterschiedlichen Ordnungsmustern moderner Gesellschaften, zweifellos vielfach direkt beeinflusst von Entwicklungen in Wirtschaft oder Politik, aber zugleich abhängig von den spezifischen Semantiken (vor allem Normen) von Teilhabe oder Ausschluss, die zu einem gegebenen Zeitpunkt verfügbar sind und zirkulieren, und schließlich auch den konkreten Institutionen und Handlungsfeldern selbst, welche diese Operationen durchführen. Gerade der Aufbau und die Weiterentwicklung von Institutionen inkludierender Exklusion wie Arbeitshäuser, psychiatrische Anstalten oder Waisenhäuser hat immer wieder auf Traditionsbestände zurückgegriffen, die zum Teil weit in die Frühe Neuzeit oder darüber hinaus zurückreichten. Auch im modernen Nationalstaat wurden frühere Ordnungsmuster räumlicher Abgrenzung und Ausschließung genutzt, um die Wirksamkeit von Exklusionen aus den sich ausdifferenzierenden Teilsystemen innerhalb der Grenzen des jeweiligen Territoriums durchzusetzen. Hier stellt sich die Frage nach langfristigen Entwicklungstrends bei den unterschiedlichen ›Exklusionsfiguren‹ von Armut und Fremdheit. Explizit wirft eine solche Forschungsperspektive der ›longue dure´e‹ die Frage auf, in welchem Maße wiederkehrende Strukturmuster politischer Herrschaft sowie religiös-kulturelle Traditionen die Modi der Inklusion und Exklusion im Umgang mit Fremden und Armen bestimmt haben. 24 Bohn, Cornelia: Inklusions- und Exklusionsfiguren. In: Bohn, Inklusion (wie Anm. 6), S. 29– 48.
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Dies sei abschließend am Beispiel sozialräumlicher Exklusionsfiguren illustriert: In der Tat fördert der Blick auf die räumlichen Konfigurationen, in die Fremde und Arme in der europäischen Neuzeit eingebettet waren, eine Reihe von Sachverhalten ans Tageslicht, die sich gegen eine rasche zeitliche Einordnung in die großen Trendbeschreibungen sperren: Trotz der tiefgreifenden Umbrüche in den Gesellschaftsstrukturen im 19. Jahrhundert und trotz der enormen Veränderungen, welche die technischen Entwicklungen in Transport, Verkehr und Kommunikation mit der Verkürzung räumlicher Distanzen und der Ausweitung von Handlungsketten und Sozialräumen bewirkten, waren die meisten der Regulierungstypen eher von Kontinuität und bestenfalls graduellen Verschiebungen denn von Brüchen geprägt.25 Über alle Unterschiede im Detail hinweg lassen sich fünf Grundkonfigurationen unterscheiden, die gewissermaßen das Repertoire der Raumpolitiken und der Raumlogiken der Exklusion/Inklusion Armer und Fremder in der Zeit von 1500 bis etwa 1850 absteckten: Dies war erstens die Ortszugehörigkeit. Hinsichtlich der Rechtsnormen und Institutionen war die Ortszugehörigkeit sicherlich das grundlegende Element, die Basis der frühneuzeitlichen Raumpolitik gegenüber Armen und Fremden. Bei der vielfältigen Ausgestaltung des ›Heimatrechts‹ griffen die Obrigkeiten des Ancien Regime auf städtische Vorbilder und Praktiken des Mittelalters zurück. In zwei entscheidenden Punkten kam es jedoch zu einem deutlichen Kurswechsel: Die Territorialstaaten verpflichteten nun ihre Gemeinden, die Fürsorge für die ›eigenen‹ Armen zu koordinieren. Damit wurde die Dorf- oder Stadtgemeinde zum wichtigsten Akteur der Armenfürsorge und Fremdenpolizei, auch wenn sie in ihrer Handlungsfreiheit vielfältigen Einschränkungen und Kontrollen durch den Territorialstaat und seine Aufsichtsbehörden unterworfen wurde. Dabei geriet die Definition gemeindebezogener ›Zugehörigkeit‹ zu einem entscheidenden Kriterium neuzeitlicher Armenpolitik: Sie diente vor allem der Abwehr der Ansprüche Zugezogener (›Ortsfremder‹) auf Unterstützungsleistung. Damit entstand konkret ein Archipel von lokalen Sozialräumen, in denen Armut und Fremdheit konkret definiert wurden und die von mehr oder weniger offenen Zonen umgeben waren, in denen die Territorialstaaten Kontrollansprüche erhoben, die aber zugleich auch als Zonen des Rückzugs für die vielen mobilen Armen und Fremden dienen konnten. Diese Zonen wiederum wurden vielfach als ›Orte‹ der Gefahr erlebt und vor allem seitens der Mehrheitsgesellschaft als solche imaginiert. 25 Vgl. hierzu ausführlich Raphael, Lutz: Grenzen der Inklusion / Exklusion. Sozialräumliche Regulierungen von Armut und Fremdheit im Europa der Neuzeit. In: Journal of Modern European History 11 (2013) 2, S. 147–167.
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Zweitens etablierte sich die Grenzkontrolle. Nach dem Vorbild mittelalterlicher Städte mit ihren Stadtmauern und Torkontrollen entwickelten die Territorialstaaten der Neuzeit den ehrgeizigen, angesichts der begrenzten Ressourcen und technischen Möglichkeiten unrealistischen Anspruch, Fremde und Arme auf der gesamten Fläche des eigenen Herrschaftsgebiets zu kontrollieren und ihren Aufenthalt zu regulieren. Zum Grenzregime neuzeitlichen Typs gehört auch die Rückverlagerung der Kontrollen ins eigene Territorium. Eine wesentliche Voraussetzung war hierfür die eindeutige Identifikation von Personen. Die Existenz sicherer Zeichen wie Brandmarkungen und Ausweisdokumente – z. B. Geleitbriefe, Arbeitsnachweise, Pässe oder Visa –, aber auch sicherer Stigmata wie Hautfarbe oder Kleidung waren wichtige Voraussetzung für die Durchsetzung solcher ubiquitären und permanenten Kontrollansprüche, die mit dem neuzeitlichen Territorialstaatsprinzip verbunden waren. ›Passregime‹ gehörten deshalb ganz wesentlich zu dieser Raumpolitik.26 Es waren im Wesentlichen polizeiliche Zugriffe und Einrichtungen zur Identifizierung betroffener ›Fremder‹ und ›Vagabunden‹ – kurz: der üblichen Verdächtigen –, die hier wirksam wurden.27 Drittens sind die Räume und Orte strafender und bessernder Einschließung zu nennen. Die Erfindungen der frühneuzeitlichen Obrigkeiten auf diesem Feld sind bestens erforscht: Die ›große Einschließung‹ devianter, verrückter, vagabundierender, also: die geordnete ständische Welt irritierender Individuen in Anstalten wie den ›grands hopitaux‹, den Arbeits- und Zuchthäusern, den ›de´pots de mendicite´‹ usw. betraf die hier interessierenden Gruppen Armer und Fremder in besonderem Maße.28 Mit der Einrichtung dieser Anstalten sollten auch die vielfältigen Verbote des Vagabundierens und Bettelns effektiver umgesetzt werden. Unter den Insassen fanden sich 26 Bohn, Cornelia: Passregime. Vom Geleitbrief zur Identifikation der Person. In: Bohn, Inklusion (wie Anm. 6), S. 71–94; Torpey, John: The Invention of the Passport. Surveillance, Citizenship and the State. Cambridge 2000. 27 Ammerer, Gerhard: »durch Strafen [. . .]zu neuen Lastern gereizt«. Schandstrafe, Brandmarkung und Landesverweisung – Überlegungen zur Korrelation und Kritik von kriminalisierenden Sanktionen und Armutskarrieren im späten 18. Jahrhundert. In: Schmidt, Sebastian (Hg.): Arme und ihre Lebensperspektiven in der Frühen Neuzeit (Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 10). Frankfurt a. M. [u. a.] 2008, S. 311–339. 28 Finzsch, Norbert / Jütte, Robert (Hg.): Institutions of Confinement: Hospitals, Asylums, and Prisons in Western Europe and Northern America, 1500–1950. Cambridge 1996; Spierenburg, Petrus C.: The Emergence of Carceral Institutions. Prisons, Galleys and Lunatic Asylums, 1550–1900. Rotterdam 1984; Bashford, Alison / Strange, Carolyn: Isolation and Exclusion in the Modern World: an Introductory Essay. In: Dies. (Hg.): Isolation. Places and Practices of Exclusion. London / New York 2003, S. 1–19.
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entsprechend viele Angehörige der nicht sesshaften Armen. Bei den Anstalten handelte es sich um ›Orte‹, sichtbare Plätze inkludierender Exklusion, die mit einer gewissen Zwangsläufigkeit und logischen Konsequenz aus dem wachsenden Kontroll- und Erziehungsanspruch des frühneuzeitlichen Staats herauswuchsen, denn in der Praxis zeigte sich, dass man der unerwünschten Mobilität von Menschen ohne feste Zugehörigkeit auf der Suche nach Auskommen, Arbeit und Unterkunft mit den anderen Elementen der Raumpolitiken nicht Herr wurde; die üblichen Verfahren und Rituale der öffentlichen Strafen zeigten kaum Wirkung. Damit soll keineswegs die Bedeutung der neuen politischen, philosophisch-moralischen, dann ökonomischen Diskurse über Armut und Fremdheit in Abrede gestellt werden, die den herrschaftlichen Interventionen Legitimität verschafften oder diese erst ›denkbar‹ werden ließen.29 Auch bei der vierten Exklusionsstrategie, dem Ghetto, markiert die Neuzeit eine Zäsur gegenüber älteren Praktiken. Mit dem Typus des Ghettos ist nicht einfach ein durch ethnische Besonderheiten markiertes Viertel gemeint, sondern jener Siedlungs- oder Quartiertyp, dessen Muster die venezianische Regelung von 1516 lieferte, die aber bereits früher, etwa in Frankfurt 1460, vollzogen wurde: die zwangsweise Ansiedlung der Juden in einem geschlossenen, hier von Kanälen umschlossenen Wohnquartier, dessen Zugänge kontrolliert und dessen Bewohner besonderen rechtlichen Auflagen unterworfen waren. Mit Loı¨c Wacquant kann man als viertes Merkmal neben Zwang, Einschließung und institutioneller Absonderung schließlich auch die Stigmatisierung hinzurechnen.30 Die langfristig exkludierende Wirkung dieses Typus neuzeitlicher Raumpolitik sticht ins Auge und ist nicht zuletzt auch auf die räumliche Verdichtung und Konzentration der vielen Exklusionen zurückzuführen, die jüdische Gemeinden, Familien oder Individuen seitens der christlichen Mehrheitsgesellschaft in wachsendem Maße im Spätmittelalter erfahren hatten. Ghettoisierung ging insofern mit einer Intensivierung der Differenzwahrnehmungen gegenüber der eingesperrten Minorität und internen Angleichungsprozessen einher und war bzw. ist untrennbar damit verbunden. In welchem Maße führte die Dynamik von industrieller Entwicklung und Kapitalismus, von Nation und Wohlfahrtsstaat seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu grundlegenden Veränderungen in den sozialräumlichen Regulierungen der europäischen Gesellschaften im Umgang mit Armut und 29 Foucault, Michel: Surveiller et punir. Paris 1975. 30 Wacquant, Loı¨c: Les deux visages du ghetto. Construire un concept sociologique. In: Actes de la recherche en sciences sociales 160 (2005) 5, S. 4–21.
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Fremdheit? Die Ketten der Solidarität wurden länger, die Regime sozialer Hilfe und der Staatsbürgerschaft wurden auf nationaler sowie auf europäischer Ebene verankert. Sie funktionierten also derart, dass ein quasi neutralisierter, homogener ›Sozialraum‹ entstand, in dem standardisierte Warenkörbe, Richtsätze und Rechtsnormen über den Status der Armen und Fremden entschieden. Mit Freizügigkeit und Recht auf Sozialhilfe wurden in der Tat Normen gesetzt, die im Wesentlichen dafür sorgten, dass in den europäischen Ländern im 20. Jahrhundert deutlich einheitlichere nationale Räume sozialer Versorgung entstanden. Bei der Durchsetzung der entsprechenden Normen bedienten und bedienen sich die Armen-, später Sozial-, Fremden- oder Ausländerbehörden jedoch auch des vorhandenen Repertoires an Raumpolitiken. Im Fall der Ortszugehörigkeit lässt sich jedoch ein deutlicher Bruch auf der Makroebene der europäischen Gesellschaften beobachten: Während über mehr als vier Jahrhunderte das ›Heimatprinzip‹ galt, also das Recht auf Unterstützung nur durch den lange vorher vollzogenen Erwerb des Bürgerrechts und die vererbte Ortsansässigkeit gegeben war, bahnte die Einführung der allgemeinen Staatsangehörigkeit schließlich im 20. Jahrhundert dem ›Unterstützungswohnsitzprinzip‹ den Weg, das heißt, der nachgewiesene Aufenthalt in einer Gemeinde ermöglichte Zugänge zu sozialen Hilfen und Dienstleistungen bzw. sicherte Ansprüche auf Sozialhilfe. De facto verloren die Gemeinden die Option, sich vor dem Zuzug armer ›Inländer‹ zu schützen, das bedeutete dann aber auch, dass sie ihre politische Macht verloren, ihr eigenes Territorium ›frei‹ zu halten von Menschen aus unerwünschten sozialen Gruppen. Die Geschichte kommunalen Widerstands gegen diese nationalstaatlichen Zumutungen ist ebenso lang wie vielfältig: Die zwangsweise Rückführung von Bedürftigen in ihre ›Heimat‹-Orte, der verwaltungsrechtliche Streit zwischen Kommunen um die Zahlung von Sozialhilferechnungen, schließlich die publikumswirksame Inszenierung abschreckender oder vorbildlicher Armenhilfe und Sozialpolitik – je nach Kassen- und Interessenlage der Kommunen – gehören hierher. Ähnliches gilt für die Aufnahme unerwünschter Fremder. Kontinuität und Ausbau im Zeichen besserer technischer Möglichkeiten charakterisierte dagegen die Grenzregime. Die Passregime wurden im Zuge der Einführung des rechtlichen Instruments der Staatsangehörigkeit technisch und administrativ ständig weiterentwickelt.31 Sie gewannen gerade 31 Gosewinkel, Dieter: Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 2001; Fahrmeir, Andreas: Citizens and Aliens. Foreigners and the Law in Britain and the German States 1789–1870. New York / Oxford 2000; Weil, Patrick: Qu’est-ce qu’un Franc¸ais? Histoire de la nationalite´ franc¸aise depuis la Re´volution. Paris 2002.
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angesichts eines generalisierten Freizügigkeitsrechts für Inländer im Laufe des 19. Jahrhunderts an Bedeutung. Die Ausweisung blieb ein Instrument, dessen sich die Staaten und politischen Regime des 19. und 20. Jahrhunderts weiter gegenüber (mittellosen) Ausländern bedienten.32 Insgesamt wurde seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und dann vor allem zwischen den beiden Weltkriegen die grenzüberschreitende Mobilität immer stärker administrativen Kontrollen und rechtlichen Beschränkungen unterworfen. Die großen politisch motivierten Fluchtbewegungen sowie die verschiedenen Wellen der Arbeitsmigration zuerst nach West- und Mitteleuropa, dann schließlich auch nach Südeuropa, führten im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu entsprechenden administrativen Gegenmaßnahmen im Zeichen ungebrochener exklusiver Kontrollansprüche der Nationalstaaten über den Zugang zu ihrem Staatsgebiet. Die Überwachung und Meldepflicht zugelassener Ausländer, das Ausländerpolizeirecht insgesamt, umfasst ein Terrain, dessen Praxis nach wie vor zu den dunklen Seiten des modernen Rechtsstaats gehört und bei dem die Kontinuität zum älteren Polizeirecht der Frühen Neuzeit evident ist. Auch die ›strafende und bessernde Einschließung‹ stand bis in die jüngste Vergangenheit im Zeichen der Kontinuität: Das Weiterleben, ja der Ausbau frühneuzeitlicher Anstalten zu ›totalen Institutionen‹ ist gerade eine Tendenz dieser Periode.33 Jedenfalls bieten sich eher 1945 oder 1990 als symbolische Daten an, um das Ende dieser ›Orte‹ der inkludierenden Exklusion für eine aber immer kleiner werdende Teilgruppe armutsgefährdeter bzw. im Randbereich von Kriminalität und Marginalität Lebender zu bezeichnen. Diese spät angesetzten Daten sind allerdings mit der Bemerkung zu verbinden, dass die europäischen Gesellschaften in den gut hundert Jahren vorher in unterschiedlichem Maße bereit waren, solche Orte massiver Einschränkung der Grundrechte ihrer Bürger zu tolerieren. Auch das Ghetto verschwand keineswegs im Verlauf des 19. Jahrhunderts im Zuge der Judenemanzipation aus der europäischen Geschichte. Auffällig ist, dass die Aufladung ethnischer bzw. sozialer Differenz mit rassistischen bzw. eugenischen Deutungsmustern einen besonderen Nährboden für zahlreiche Ghettos in kleinerem Maßstab vor allem im 20. Jahrhundert lieferte. So entstanden polizeilich überwachte und zugleich sozial 32 Althammer, Beate / Gestrich, Andreas: Normen und Praktiken der Ausweisung von fremden Armen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Skizze eines deutsch-britischen Vergleichs. In: Raphael / Uerlings, Ausschluss und Solidarität (wie Anm. 18), S. 379– 406. 33 Wie die Fallstudie Jens Gründlers in diesem Band zeigt, ist jedoch auch hier eine differenziertere Betrachtung nötig, die den Abweichungen von diesem Trend genügend Aufmerksamkeit schenkt.
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betreute Sondersiedlungen für ›Zigeuner‹, ›Asoziale‹ und Obdachlose, für algerische Arbeitsmigranten, deren große Zeit in der Zwischenkriegs- und in der frühen Nachkriegszeit lag. Sie finden sich in vielen Staaten, die Kontexte ihrer Entstehung waren sehr unterschiedlich, aber immer fällt der hohe Grad an Stigmatisierung auf, der mit diesen Sondersiedlungen verbunden war.34 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gewinnt hingegen das bereits früher zu beobachtende Phänomen der Segregation zentrale Bedeutung und mit ihm sind typischerweise die vielfältigen sozialpolitischen Kontroversen um Exklusion oder Devianz städtischer Gruppen bzw. um Integration und Sozialreform bis heute verbunden geblieben. Damit verlassen wir jedoch im engeren Sinne das Terrain von Raumpolitiken der Exklusion. Der Begriff selbst ist keineswegs klar umrissen. Mit ihm werden einerseits allgemein Phänomene ungleicher stadt- oder sozialräumlicher Verteilungen sozialer Gruppen verbunden – vor allem mit Blick auf Verteilungseffekte materieller, aber auch sozialer und kultureller Ressourcen. Er dient aber auch zur engeren Beschreibung der faktischen Exklusion von Gruppen via erzwungener sozialräumlicher Marginalisierung und Stigmatisierung.35 Vor allem die zweite, engere Bedeutung ist von Relevanz. Im Medium des Raums – so die vielfach in der Stadtsoziologie und Stadtgeschichte aufgegriffene These – vollzogen sich in den urbanen Ballungsräumen im 19. und 20. Jahrhundert Exklusionen, die auf der Ebene des Rechts, der Politik und der Ideologie ignoriert, ja sogar explizit negiert werden.36 Intentionales kollektives Handeln trat insgesamt in den Hintergrund, die unkontrollierten Effekte ökonomischer, aber auch sozio-kultureller Prozesse sowie die Kumulation individueller Diskriminierungen rückten ins Zentrum der Analyse und der daran anschließenden städteplanerischen Interventionen. Typischerweise setzte gerade die sozialstatistische Selbstbeobachtung der europäischen Gesellschaften an diesem Phänomen sehr frühzeitig an und verschaffte der Segregation anhaltende Publizität in den Debatten um soziale 34 Die Geschichte der Sinti und Roma bietet zahlreiche Beispiele; für ›Asoziale‹ vgl. Hess, Henner: Ghetto ohne Mauern. Frankfurt a. M. 1973; von Saldern, Adelheid: Häuserleben. Zur Geschichte städtischen Arbeiterwohnens vom Kaiserreich bis heute. Bonn 1995, S. 218, nennt Beispiele für kontrollierte, abends abgesperrte Wohnquartiere in Amsterdam 1935 und Bremen 1936. 35 Brun, Jacques: Essai critique sur la notion de se´gre´gation et sur son usage en ge´ographie urbaine. In: Ders. / Rhein, Catherine (Hg.): La se´gre´gation dans la ville. Paris 1994, S. 21–57; Grafmeyer, Yves: Regards sociologiques sur la se´gre´gation. In: Ebd., S. 85–117. 36 Häußermann, Hartmut [u. a.]: An den Rändern der Städte. Armut und Ausgrenzung. Frankfurt a. M. 2004; Fitoussi, Jean-Paul [u. a.] (Hg.): Se´gre´gation urbaine et inte´gration sociale. Paris 2004.
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Ordnungsentwürfe und Zukunftsgefahren der Moderne. Damit ist bereits eine erste Differenz solcher sozialräumlichen Regulierungen zu den vorher genannten Raumordnungen der Exklusion bezeichnet. Statt klarer Unterscheidungen existieren eher vielfältige Übergänge. Zudem spielte nun die Selbstexklusion der im Übrigen bestens inkludierten Oberschichten aus Innenstädten oder auch gemischten Wohnvierteln eine viel wesentlichere Rolle als irgendwelche Exklusionsstrategien, ja sie waren und sind vielfach stärker als sekundäre, sozialpolitische Strategien der integrativen ›Durchmischung‹ von Wohnquartieren. Insofern markieren die Ambivalenzen der Segregation zugleich auch das langsame Ende von sozialräumlichen Ordnungsmustern, welche die Herausbildung des modernen Staates maßgeblich geprägt und die für die Ausgestaltung von Inklusion/Exklusion bei der Herausbildung und Dynamik moderner Gesellschaften in Europa eine wichtige Rolle gespielt haben.
Exklusion / Inklusion oder ›totale Institution‹? Psychiatrie um 1900
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Psychiatrische Anstalten standen immer wieder in der Kritik der Öffentlichkeit. Im 18. Jahrhundert kritisierte man die Leitung des sogenannten Bedlam Hospital, eigentlich Bethlem Royal Hospital (London), wegen der Besuchsregelungen, die die kranken Insassen, die Irren,1 zu Attraktionen einer ›Freakshow‹ machten. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts kam es immer wieder zu Skandalen wegen ungerechtfertigter Einweisungen (z. B. im Deutschen Reich und in Großbritannien), der schlechten Versorgungslage in den Anstalten oder Vernachlässigungen und Misshandlungen.2 In der Mitte des 20. Jahrhunderts skandalisierten Filme und Romane wie Anatole Litvaks Drama Die Schlangengrube 3 und Ken Keseys Einer flog übers Kuckucksnest,4 1 Hier wird dem Ansatz gefolgt, dass jede psychische Erkrankung ein Ergebnis diskursiver Aushandlungsprozesse war und ist. Die Definition von Wahnsinn war und ist gesellschaftlich bestimmt. Im Verlauf der Geschichte wurden diverse Krankheiten in die Sphäre des Wahnsinns verlagert, konnten jedoch zu einem anderen Zeitpunkt in andere Spezialgebiete der Medizin eingeordnet oder ganz aus ihrem Einflussbereich herausgenommen werden. Diverse Gesellschaften nahmen zu verschiedenen Zeiten bestimmte Verhaltensweisen als Abweichungen von der Norm wahr und markierten diese als deviant. Das Gesagte bedeutet allerdings nicht, dass die in der Praxis von Therapien und Einweisungen betroffenen Individuen keine Probleme mit/in der Gesellschaft hatten oder verursachten. Sie konnten aber erst durch die Markierung als wahnsinnig zu Objekten von Fürsorge und/ oder Disziplinierung werden. Hier werden daher Begriffe wie Geisteskrankheit, Wahnsinnige, Schwachsinnige oder Irre immer mit dem Gedanken genutzt, dass diese nicht natürlich gegeben, sondern Ausdruck kultureller Prozesse sind. Dass diese Begriffe heute unpassend und entwürdigend erscheinen, ist offensichtlich. Dennoch erweisen sie sich auch methodisch hilfreich, da die Begriffe in ihrer Offenheit die Variabilität des Konzepts psychischer Erkrankungen verdeutlichen. Sie werden hier ohne Markierung gebraucht, weil sie die Sprache der Quellen und die Offenheit der zeitgenössischen Konzepte psychischer Erkrankungen reflektieren. 2 Zu Diskussionen und Skandalisierungen im deutschsprachigen Raum im 19. und 20. Jahrhundert vgl. insbesondere Brink, Cornelia: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980. Göttingen 2010. Ein Beispiel für eine Skandalisierung in den USA findet sich in Bly, Nellie: Ten Days in a Mad-House. New York 1887. 3 Im Original The Snake Pit, USA 1948, mit Olivia de Havilland. 4 Im Original One Flew over the Cuckoo’s Nest, USA 1962. Verfilmt von Milos
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überaus erfolgreich verfilmt von Milos Forman, die Zustände in psychiatrischen Krankenhäusern. Gleichzeitig entwickelten sich innerhalb der psychiatrischen Medizin in Europa und den USA Forschungs- und Therapieströmungen, die unter dem Label Anti-Psychiatrie zusammengefasst wurden und deren Kritik sich gegen organische Erklärungen psychischer Krankheiten und gegen ›heroische‹ Therapien wie Elektro-Konvulsiv-Therapie, Psychopharmaka und Lobotomie wandte.5 Parallel dazu wurden auch in der sozialwissenschaftlichen und historischen Forschung die traditionellen Fortschrittserzählungen der Psychiatrie hinterfragt. Michel Foucault wies in Wahnsinn und Gesellschaft 6 auf die soziale Verfasstheit, d. h. die Konstruktion psychischer Krankheiten hin. Diese Markierung des Andersseins durch Verwandte und Ärzte und die damit einhergehende Behandlung der Betroffenen in spezifischen Anstalten verstand Foucault als eine Form des radikalen gesellschaftlichen Ausschlusses. In den USA charakterisierte Erving Goffman in seiner Studie Asyle 7 psychiatrische Krankenhäuser als ›totale Institutionen‹, in denen psychisch Kranke von der Außenwelt abgeschottet verwahrt werden. Anhand einer teilnehmenden Beobachtung in einer psychiatrischen Anstalt in Washington entwickelte der Soziologe dieses Konzept Ende der 1950er Jahre. In seiner Analyse verdeutlichte er die Abgeschlossenheit der Anstalten und damit Forman mit Jack Nicholson und Louise Fletcher im Jahr 1975. Das Buch entstand im Anschluss an Keseys Arbeit in einem Veteranenkrankenhaus und als Versuchsproband in Kalifornien. 5 Im Übrigen durchaus vergleichbar mit der Kritik von Medizinern am Ende des 18. Jahrhunderts, die sich ebenfalls gegen ›heroische‹ Therapien wie Aderlass und Drehstuhl wandten und eine menschliche Behandlung der Kranken einforderten. Im frühen 19. Jahrhundert entwickelten sich daraus in Großbritannien Therapiekonzepte wie Moral Treatment und Non-Restraint. Bei diesen Behandlungsmethoden verzichteten die Ärzte auf körperliche Zwangsmaßnahmen und ersetzten diese durch ›moralische Therapien‹ wie z. B. Arbeit an der frischen Luft oder eigenes, ›vorbildhaftes‹ Verhalten. Vgl. dazu u. a. Charland, Louis C.: Benevolent Theory. Moral Treatment at the York Retreat. In: History of Psychiatry 18 (2007) 1, S. 61–80; Digby, Anne: Moral Treatment at the Retreat, 1796– 1846. In: Bynum, William F. [u. a.] (Hg.): The Anatomy of Madness. Essays in the History of Psychiatry. Bd. 2: Institutions and Society. London 1985, S. 52– 72; Scull, Andrew: Moral Treatment Reconsidered. Some Sociological Comments on an Episode in the History of British Psychiatry. In: Ders. (Hg.): Madhouses, Mad-Doctors and Madmen. The Social History of Psychiatry in the Victorian Era. London 1981, S. 105–120. 6 Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a. M. 1969. 7 Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. 14. Aufl. Frankfurt a. M. 2004.
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einhergehend die Exklusion der Insassen bereits an einem zentralen Merkmal. Folgt man Goffman, so war der ›totale‹ Charakter Anstalten dieses Typs häufig bereits baulich und räumlich-geographisch eingeschrieben. Sie seien von der Außenwelt hermetisch abgeschieden und verhinderten den normalen Kontakt von Insassen und Gesellschaft durch Mauern und Stacheldrahtzäune, Wälder und Sümpfe, Berge und Klippen.8 Dieses architektonisch-topographische Zusammenspiel führe zu einer nahezu vollständigen Abschottung der Insassen von der Außenwelt.9 Das Konzept der ›totalen Institution‹ soll in diesem Beitrag mit den systemtheoretischen Begriffen Inklusion und Exklusion, wie sie Cornelia Bohn10 und Alois Hahn11 weiterentwickelt haben, in Bezug auf psychiatrische Anstalten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Schottland untersucht werden. Die These lautet, dass sich die exkludierende ›Totalität‹ derartiger Institutionen in der Analyse als brüchig erweist.12 Unter Rückgriff auf das Begriffspaar Inklusion/Exklusion kann die Gleichzeitigkeit von Offenheit und Abschluss ›totaler Institutionen‹ hervorgehoben werden. Mit Inklusion/Exklusion kann darüber hinaus der historische Wandel von Semantiken und Praktiken der verschiedenen Akteure nachgezeichnet werden. 8 Goffman, Asyle (wie Anm. 7), S. 16. Ein anderes Merkmal ›totaler Institutionen‹ war z. B. ein rigides System interner Hierarchien mit allumfassenden Tagesplänen. Darüber hinaus waren diese Institutionen durch die Aufhebung der Trennung von Wohn- und Arbeitsraum und Entindividualisierung gekennzeichnet. Ebd., S. 17. 9 Zur Aufbereitung und Kritik des Konzepts für die Geschichtswissenschaft vgl. u. a. das Sonderheft der Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit. Besonders der einleitende Artikel von Scheutz, Martin: ›Totale Institutionen‹ – missgeleiteter Bruder oder notwendiger Begleiter der Moderne? Eine Einführung. In: Ders.: Totale Institutionen. Innsbruck 2008, S. 3–19, hier S. 3– 6. 10 Bohn, Cornelia: Inklusion und Exklusion: Theorien und Befunde. In: Dies. (Hg.): Inklusion, Exklusion und die Person. Theorien und Befunde. Konstanz 2006, S. 7–27; dies.: Inklusions- und Exklusionsfiguren. In: Ebd., S. 29– 47. 11 Hahn, Alois: Exklusion und die Konstruktion personaler Identitäten. In: Raphael, Lutz/Uerlings, Herbert (Hg.): Zwischen Ausschluss und Solidarität. Modi der Inklusion/Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike (Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 6). Frankfurt a. M. 2008, S. 65–96, hier S. 66 f. 12 Im Sinne der Systemtheorie ist eine vollständige Exklusion aus allen Teilbereichen der Gesellschaft prinzipiell nicht möglich. Selbst nach Tod oder Verbannung können die Betroffenen noch adressiert werden und verbleiben damit Teil des Systems. Entscheidend sind demnach die Grade von Inklusion und Exklusion aus Teilbereichen / Funktionssystemen der Gesellschaft, wobei die Begriffe wertfrei verwendet werden. Darüber hinaus hat Alois Hahn in einem Vortrag an der Universität Trier vorgeschlagen, auch räumliche Komponenten wie Zentrum und Peripherie als Analysekriterien in die Systemtheorie einzuführen.
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Das hier gewählte Untersuchungsobjekt ist das Barony Pauper Lunatic Asylum Woodilee in der Nähe von Glasgow in der Zeit zwischen 1875 und 1921. In diesem Zeitraum wurden mehr als 12 000 psychisch erkrankte Männer und Frauen in der Anstalt behandelt. Erbaut wurde die Einrichtung von einer Armengemeinde Glasgows.13 Das bedeutet, dass alle aufgenommenen Patientinnen und Patienten durch Mittel der öffentlichen Armenfürsorge unterstützt wurden.14 Bei der Eröffnung zählte die Anstalt je 200 Betten für Männer und Frauen, zum Ende des Untersuchungszeitraums war deren Zahl auf insgesamt 1400 angewachsen. Das war weniger auf die rasante Bevölkerungszunahme der Stadt Glasgow zurückzuführen als darauf, dass der Anteil vermeintlich unheilbarer Insassen kontinuierlich anwuchs und deren Aufenthaltsdauer immer länger wurde. Die Anstalt entwickelte sich damit immer stärker zu einer Pflegeanstalt, in der Patientinnen und Patienten ›verwahrt‹ wurden. Trotzdem blieb Woodilee bei der Behandlung und Therapie der Kranken relativ ›erfolgreich‹: Noch im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entließen die Mediziner bis zu 30 Prozent der Neuaufnahmen pro Jahr als geheilt.15 13 Es würde zu weit führen, die wechselnden Verantwortlichkeiten detailliert nachzuzeichnen. Festzuhalten bleibt, dass der Status Woodilees als Anstalt der Armenfürsorge sich im Untersuchungszeitraum nicht änderte. Für eine ausführliche Analyse der Zuständigkeiten vgl. Gründler, Jens: Armut und Wahnsinn. ›Arme Irre‹ und ihre Familien im Spannungsfeld von Psychiatrie und Armenfürsorge in Glasgow, 1875–1921. München 2013. 14 Das bedeutete allerdings nicht, dass die Insassen arm waren oder zu den ärmsten Schichten gezählt werden mussten. Die Einweisung in ein Asylum der Armenfürsorge war darin begründet, dass sich die Betroffenen und ihre Familien die Unterbringung und Behandlung in einer Privatanstalt finanziell nicht leisten konnten und zur Behandlung auf ein Angebot der öffentlichen Fürsorge zurückgreifen mussten. In der Regel wurden die Angehörigen auch verpflichtet, sich an den Kosten der Therapie zu beteiligen. Diese Beteiligung ging in einigen Fällen so weit, dass die Verwandten aufgrund ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse die gesamten Kosten zu tragen hatten. Als Unterstützung im Sinne der Armenund Irrengesetze ist daher schon die Unterbringung in einer Anstalt der Armenfürsorge zu verstehen. Vgl. dazu Gründler, Armut und Wahnsinn (wie Anm. 13). 15 Während man in den ersten Jahren nach Anstaltsgründung noch bis zu 50 Prozent der Neuaufnahmen als geheilt entlassen konnte, sank diese Quote bis 1921 kontinuierlich ab. Die Abnahme der Heilungsquoten war ein globaler Trend, der in anderen Ländern jedoch zeitlich früher einsetzte. Vgl. für New South Wales in Australien Garton, Stephen: Medicine and Madness. A Social History of Madness in New South Wales, 1880–1940. Kensington 1998, S. 35–36. Für England u. a. Wright, David: The Discharge of Pauper Lunatics from County Asylums in MidVictorian England. The Case of Buckinghamshire, 1853–1872. In: Melling, Joseph/ Forsythe, Bill (Hg.): Insanity, Institutions and Society, 1880–1914. A Social His-
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Anhand der Anstalt in Woodilee soll im Folgenden zuerst der architektonisch-räumliche Charakter ›totaler Institutionen‹ bezüglich exkludierender und inkludierender Momente hinterfragt werden. Im Anschluss daran wird nach den Praktiken der Inklusion und Exklusion von zwei Akteursgruppen – Insassen und deren Familien – gefragt, die das Innenleben der Anstalt mitgestalteten. Grundlage für den zweiten Teil des Aufsatzes sind die Krankenakten, die in der Anstalt geführt wurden, und die dazugehörigen Armenakten, die von der Armenverwaltung administriert wurden.16 In einem letzten Schritt werden die Ergebnisse vorgestellt und die blinden Flecken, die bei einer mikrohistorischen Analyse einer psychiatrischen Anstalt mit dem Begriffspaar Inklusion/Exklusion bleiben, thematisiert. Topographie und Architektur Das Barony Pauper Lunatic Asylum in Woodilee wurde 1875 eröffnet. In der Diskussion darüber, wo die Anstalt zu bauen sei, hatten sich die Verantwortlichen darauf geeinigt, sich den zeitgenössischen medizinischen Vorstellungen über die geeignete Lage anzuschließen.17 Die psychiatrischen Mediziner waren tory of Madness in Comparative Perspective. London 1999, S. 93–122, hier S. 95; Smith, Cathy: Family, Community and the Victorian Asylum. A Case Study of the Northampton General Lunatic Asylum and its Pauper Lunatics. In: Family and Community History 9 (2006) 2, S. 109–124, hier S. 111. Für die USA z. B. McCandless, Peter: Curative Asylum, Custodial Hospital. The South Carolina Lunatic Asylum and State Hospital, 1828–1920. In: Porter, Roy/Wright, David (Hg.): The Confinement of the Insane. International Perspectives. Cambridge 2003, S. 173–192. 16 Aus der Gesamtzahl der Krankenakten wurden je 100 Akten aus den Jahren 1883, 1891, 1901, 1911 und 1921 ausgewählt, je 50 Frauen und 50 Männer. Zu diesen Akten, die sich im Bestand des National Health Service Greater Glasgow and Clyde Archives (NHSGGCA ) befinden, wurden die korrespondierenden Akten der Armenverwaltung, die sich im Bestand des Glasgow City Archive (GCA ) befinden, hinzugezogen. Trotz aller berechtigten Kritik der letzten Jahre an der Verwendung von Kranken- und Armenakten in der historischen Forschung gehe ich davon aus, dass aus diesem Archivgut durchaus Praktiken und Verhaltensweisen der Beteiligten zu rekonstruieren sind. Es ist klar, dass die Krankenakten kein Spiegelbild der Anstaltsrealität abbilden, sondern selbst anhand medizinischer Auffassungen konstruiert sind. Darüber hinaus besitzen derartige Akten performativen Charakter, in dem sie zeitgenössische Realität schaffen oder bedingen. Allgemein zu Krankenakten vgl. u. a. Brändli, Sibylle [u. a.] (Hg.): Zum Fall machen, zum Fall werden. Wissensproduktion und Patientenerfahrung in Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 2009; Zaft, Matthias: Der erzählte Zögling. Narrative in den Akten der deutschen Fürsorgeerziehung. Bielefeld 2011. 17 Es würde hier zu weit führen, den Entscheidungsprozess in allen Einzelheiten nachzuzeichnen. Allerdings muss festgehalten werden, dass bei der Entscheidungsfindung auch finanzielle Überlegungen eine wichtige Rolle gespielt haben.
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überzeugt, dass eine Anstalt abseits der großen Städte und gewohnten Lebensverhältnisse die besten Heilungschancen versprach.18 Die Großstadt und die industrielle Massengesellschaft mit ihrer beschleunigten Lebensweise waren von den Ärzten als Ursachen für die Zunahme psychischer Störungen ausgemacht worden.19 Die Lage auf der ›grünen Wiese‹ sollte die Versuchungen der Großstadt, die Hektik und Nervosität des urbanen Lebens aus dem Blickfeld der Patientinnen und Patienten entfernen. Darüber hinaus konnte die ländliche Lage auch für ›geeignete Beschäftigungsmöglichkeiten‹ sorgen. Diese als Therapie verstandene Arbeit sollte, und auch das kann als Kritik an der modernen, industriellen Gesellschaft verstanden werden, unter ›freiem Himmel‹ an der ›frischen Luft‹ stattfinden. Besonderen Wert legten die Ärzte daher auf Möglichkeiten der landwirtschaftlichen Betätigung. Dabei muss aber festgehalten werden, dass die wissenschaftlich-medizinischen Überzeugungen innerhalb der Armenverwaltungen aufgrund anderer Überlegungen unterstützt worden waren. Die sogenannten Farmasylums, so das Kalkül, ermöglichten einerseits eine öko18 Vgl. dazu u. a. Shepherd, Anne / Wright, David: Madness, Suicide and the Victorian Asylum. Attempted Self-Murder in the Age of Non-Restraint. In: Medical History 46 (2002) 2, S. 175–196, hier S. 182. Vgl. auch Charland, Benevolent Theory (wie Anm. 5); Digby, Moral Treatment (wie Anm. 5); dies.: Madness, Morality and Medicine. A Study of the York Retreat 1796–1914. Cambridge 1985; Reaume, Geoffrey: Remembrance of Patients Past. Patient Life at the Toronto Hospital for the Insane, 1870–1940. Toronto 2000. Auch die Commissioners in Lunacy legten besonderen Wert auf die sinnvolle Beschäftigung von Patientinnen und Patienten an der frischen Luft. Vgl. z. B. die Besuchsberichte von Arthur Mitchell vom 27. und 28. 7. 1876 oder John Sibbald vom 28. und 29. 2. 1881, die beide die Leistung der Anstaltsleitung betonen, den Großteil der Insassinnen und Insassen zu sinnvoller Beschäftigung anzuhalten. Beide Berichte in: NHSGGCA , HB 30–2, 1: Woodilee Asylum, Patient’s Book No. 1, o. S. 19 Allerdings waren das Ausmaß und die Ursache der Zunahme des Wahnsinns unter Medizinern nicht unumstritten. So bestritten die schottischen Commissioners in Lunacy bis in die 1890er Jahre, dass eine tatsächliche Zunahme stattgefunden hatte. Sie führten das Anwachsen der Einweisungen einerseits auf die größere Akzeptanz der Anstalten zurück, sodass Familien und Angehörige schneller bereit gewesen seien, Einweisungen zu veranlassen. Andererseits erkannten die Commissioners im Wachstum auch statistische Effekte, die durch die Zunahme der Behandlungsdauer und das Bevölkerungswachstum verursacht worden seien. Vgl. z. B. Sibbald, John: Memorandum for the General Board of Commissioners in Lunacy for Scotland (GBCLS ). On the Increase in the Number of the Insane on the Register of the General Board of Lunacy for Scotland, with special reference to the Allegation that it indicates an Increased Prevalence of Insanity. In: Alleged Increasing Prevalence of Insanity in Scotland. Supplement to the Thirty-Sixth Annual Report (AR ) of the General Board of Commissioners in Lunacy for Scotland. Edinburgh 1895, S. 16–56.
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nomischere Führung der Anstalten, da sie die Kosten für die Versorgung durch die Arbeit der Insassen, insbesondere in der Landwirtschaft, reduzieren konnten. Man ging davon aus, dass sich ein Großteil der Lebensmittel zur Versorgung durch diese Arbeit produzieren ließ. Darüber hinaus sollten Patientinnen und Patienten mit handwerklicher Ausbildung in den verschiedenen Werkstätten, wie Schuhmacherei und Tischlerei, eingesetzt werden, um weitere Kosten einzusparen.20 Andererseits waren die Investitionskosten für Grundstücke in ländlichen Gegenden wesentlich geringer als in urbanen oder stadtnahen. Aufgrund der medizinischen und ökonomischen Überlegungen entschied sich die Armenverwaltung zum Kauf des Woodilee Estate. Das Anwesen war circa 70 Hektar groß und hatte ausgedehnte landwirtschaftliche Nutzflächen. In den folgenden Jahrzehnten wurden ständig Flächen hinzugefügt. In den 1880er Jahren war die Größe bereits auf 182 Hektar angewachsen, in den 1930er Jahren erstreckte sich das Anstaltsgelände über insgesamt 300 Hektar. Geographisch lag das Asylum in der Nähe des Ortes Lenzie, ungefähr 20 Kilometer nordwestlich von Glasgow. Durch die Lage war der soziale Verkehr zwischen den Insassen und der Außenwelt deutlich beschränkt. Damit erfüllte Woodilee ein zentrales Kriterium von Goffmans ›totaler Institution‹. Versuchte man die geographische Lage der Anstalt mit Inklusion/ Exklusion zu beschreiben, dann kann man die Positionierung als exkludierende Praktik bezeichnen. Allerdings wurde der exkludierende Charakter der geographischen Lage durch eine Reihe inkludierender Maßnahmen nachhaltig abgeschwächt. Noch in der Planungsphase betonte die Armenverwaltung nachdrücklich, dass die Erreichbarkeit der Anstalt einen hohen Wert besäße, da man die Transferkosten bei Einweisungen gering halten, die Versorgung günstig gestalten und Besuche nicht unnötig erschweren wolle. Nicht zuletzt gab die unmittelbare Nähe des Geländes zu einem kleinen Bahnhof den Ausschlag für den Kauf. Durch diese Anbindung an das Schienennetz war die Anstalt für Amtsträger und Familien in weniger als 30 Minuten Fahrtzeit zu erreichen. Insbesondere für die Familien, die den Kontakt zu ihren Angehörigen in der Anstalt aufrechterhalten wollten, war dieser inkludierende Faktor wichtig, da er Besuche erleichterte.
20 Dass die Ökonomie eine wichtige Rolle in der Anstaltskonzeption spielte, kann auch daran verdeutlicht werden, dass viele Arbeiten nicht im Freien ausgeführt werden konnten, aber dennoch von Insassen geleistet werden mussten. Insbesondere Frauen wurden zur Arbeit in der (Wasch-)Küche, zum Putzen der Anstalt oder zum Kleidernähen verpflichtet.
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Auch die Gestaltung der Gebäude und des Geländes widerspricht dem Charakter einer ›totalen Institution‹ in mancher Hinsicht und deutet eher auf Offenheit hin. Während Goffman die Existenz von Mauern und Zäunen als Einschreibung der Abgeschlossenheit betonte, fanden sich in Woodilee keine derartig bewegungseinschränkenden Vorrichtungen, wie etwa »verschlossene Tore, hohe Mauern, Stacheldraht, Felsen, Wasser, Wälder oder Moore«.21 Woodilee war eine der ersten Anstalten in Schottland, die auf ummauerte und umzäunte Höfe verzichtete.22 Darüber hinaus war das Gelände als solches ebenfalls nur unvollständig abgeschlossen und nicht als Anstaltsgelände zu erkennen. Von der bereits erwähnten Eisenbahn konnte man das Asylum sehen und betrachten. Diese Sichtbarkeit kann als doppelte symbolische Veränderung gedeutet werden. Zum einen grenzte man sich mit der neuen Sichtbarkeit gegen ältere Formen der Offenheit ab, die die Wahnsinnigen als Objekte der Andersartigkeit in den Anstalten zur Schau stellten und vermarkteten.23 Zum anderen markierte man mit dieser neuen Offenheit auch die Differenz zu den Anstalten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in denen die Kranken aus den Augen der Öffentlichkeit entfernt und hinter Mauern versteckt ›menschenunwürdig‹ behandelt und ›verwahrt‹ worden seien.24 Diese architektonische Gestaltung und Position der Anstalt beruhte auf zeitgenössischen medizinischen Vorstellungen von Modernität. Indem sich die Gestaltung der Asylums den allgemeinen Krankenhäusern annäherte, wollten die Ärzte die traditionelle Wahrnehmung der Asylums als ›Irrenhäuser‹, in denen Aderlass, kalte Duschen, Ketten und Drehstuhl zum Arsenal der Therapie gehörten, revidieren. Der exkludierende Charakter der alten Anstalten sollte durch die neue Offenheit als Zeichen der Modernität ersetzt werden.25
21 Goffman, Asyle (wie Anm. 7), S. 16. 22 GCA , Barony Parochial Lunatic Asylum, Asylum Committee, AR 1879: GC 362.210941435 GLA , S. 8. 23 Vgl. Anm. 1. 24 Diese Wahrnehmung beruhte auf einer Reihe von Skandalen über ungerechtfertigte Einweisungen und die Zustände in einigen englischen Asylums nach der Wende zum 19. Jahrhundert. Vgl. z. B. Suzuki, Akihito: Madness at Home. The Psychiatrist, the Patient, and the Family in England, 1820–1860. Berkeley 2006. 25 Allerdings muss hier darauf hingewiesen werden, dass dieser Prozess schon Ende des 18. Jahrhunderts begonnen hatte (vgl. Anm. 5). Die zum Mythos überhöhte Befreiung der Irren durch Pinel in der Pariser Anstalt Biceˆtre in den 1790er Jahren und die Modernisierung der Therapie im englischen York Retreat durch das von Tuke begründete Moral Treatment in den 1780er Jahren wurden zu Gründungslegenden der ›modernen Irrenpflege‹ des 19. Jahrhunderts.
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Gleichzeitig versuchten die Ärzte, ›moderne‹ Therapiemethoden wie Moral Treatment und Non-Restraint in den Anstalten zur Anwendung zu bringen, um die Überwindung tradierter Methoden und Wahrnehmungen zu manifestieren. Statt der genannten körperlichen Zwangsbehandlungen sollte nun ein ›humanes‹ Regime in das Asylum Einzug halten, in dem man Wahnsinnige durch ›Zeigefinger‹ und ›vorbildhaftes Verhalten‹ therapieren wollte. Einerseits bedeutete diese Neuerung für die Insassen durchaus weniger ›körperliche Zwangsmaßnahmen‹ sowie unmittelbare Einschränkungen und in diesem Sinne auch ein Mehr an ›Humanität‹. Andererseits waren die neuen Therapien jedoch an bürgerlichen Norm- und Lebensvorstellungen orientiert, sodass der psychische Anpassungsdruck auf die Patientinnen und Patienten erhöht wurde.26 Deutlich wurde diese Neuerung unter anderem daran, dass der unstrukturierte, beschäftigungslose Alltag in einen strikt geplanten und organisierten Tag umgewandelt wurde.
Patientinnen und Patienten – exkludiert, inkludiert oder was? Die Einweisung in die Anstalten hatte für die Patientinnen und Patienten weitreichende Folgen. Zunächst wurden sie aus einer Reihe von Funktionssystemen, um in der Terminologie der Systemtheorie zu bleiben, weitgehend exkludiert. So verloren sie durch ihre Einweisung z. B. ihren Platz im System der Ökonomie, nahmen nicht mehr an dessen Praktiken teil und wurden nur selten adressiert. Die Adressierung bezog sich nur noch auf die im Rahmen der Armenverwaltung durch die Pauper Lunatics verursachten Kosten.27 Ganz ähnliche Tendenzen des Ausschlusses könnte man für den Rechtsbereich vermuten. Und tatsächlich waren die Insassen der Anstalten für weite Teile des Systems durch ihre Einweisung disqualifiziert, z. B. bezüglich der Verfügungsgewalt über ihren Besitz, da eine Einweisung einer praktischen Entmündigung gleichkam. Gleichzeitig blieben die Patientinnen und Patienten jedoch deutlich inkludiert, nicht nur als passiv adressierte Objekte, sondern durchaus auch als potentiell aktive Teilnehmer. Psychisch Kranke waren in Großbritannien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Objekt vielschichtiger und weitreichender juristischer Reformen. So 26 Diese Orientierung an bürgerlichen Normen hatte auch entscheidenden Einfluss auf die Heilungschancen der Insassen. Die Anpassung an die Regeln in der Anstalt, die Arbeitsfähigkeit und das Zurechtkommen waren neben der Abwesenheit offensichtlicher Symptome die Hauptkriterien für eine Heilung und die daran zwangsläufig anschließende Entlassung. 27 Erst wesentlich später sollten z. B. Fragen über eine Entlohnung der in den Anstalten durch die Insassen geleisteten Arbeiten diskutiert werden.
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wurden 1845 in England und Wales und 1857 in Schottland Gesetze zur Irrenpflege verabschiedet, deren zentrale Anliegen die Organisation, der Schutz, die Behandlung und Versorgung von Wahnsinnigen war. Im Lunacy (Scotland) Act28 wurden Rechte und (Aufsichts-)Pflichten aller beteiligten Akteure festgelegt. Man richtete eine nationale Behörde ein – das General Board of Commissioners in Lunacy for Scotland –, deren Aufgabe die Kontrolle aller Akteure und Institutionen war. Ein komplizierter Einweisungsprozess wurde implementiert, der Juristen, Medizinern und Armenverwaltung festumrissene Pflichten und Kompetenzen zuwies. Das Gesetz von 1857 sah für die Betroffenen keine aktiven Einspruchsmöglichkeiten vor, sondern formulierte nur Garantien und Schutzmechanismen.29 Obwohl also kein aktives Beschwerderecht formuliert worden war, bestand in der Praxis die Möglichkeit, gegen die Einweisung Widerspruch einzulegen. Durch eine Gesetzesänderung im Jahr 1866 wurde diese Möglichkeit nachträglich als besonders schutzwürdig eingestuft. Für schriftliche Beschwerden der Patientinnen und Patienten – allerdings nicht nur über die Einweisungen, sondern auch über die Verhältnisse in der Anstalt – an die General Commissioners in Lunacy galt ab diesem Zeitpunkt das Briefgeheimnis. Den Anstaltsärzten wurde das Lesen dieser Briefe bei Strafe verboten.30 Diese Privilegierung wurde ab 1913 auf den Briefverkehr mit Gerichten ausgedehnt.31 Auch wenn nur wenige Beschwerden erfolgreich waren, wie 28 An Act for the Regulation of the Care and Treatment of Lunatics, and for the Provision, Maintenance, and Regulation of Lunatic Asylums, in Scotland, 25th August 1857, 20 & 21 Vict. c. 71. 29 Diese Mechanismen bezogen sich weitgehend auf die Einweisungen. Die Anforderung, dass zwei Mediziner die Betroffenen begutachten mussten und ein Richter die Gutachten prüfen musste, sollte ungerechtfertigte Einweisungen verhindern. Als Schutz gegen Vernachlässigung und Misshandlung in den Anstalten wurden Strafandrohungen gegen Mediziner und Pflegepersonal in das Gesetz aufgenommen. Allein in Paragraph 94 wurde den Patientinnen und Patienten eine aktive Rolle zugewiesen. Nach einer Entlassung konnten sie Kopien der Einweisungsanordnung und der medizinischen Gutachten einfordern, falls sie gegen ihre Einweisung juristisch vorgehen wollten. In: An Act for the Regulation (wie Anm. 28). 30 Lunacy (Scotland) Act, An Act to Amend the Acts Relating to Lunacy in Scotland and to Make Further Provision for the Care and Treatment of Lunatics, 16th July 1866, 29 & 30 Vict., c. 51, S. 435. Inwieweit dieses Briefgeheimnis tatsächlich eingehalten wurde, kann hier nicht diskutiert werden. Allerdings war das Öffnen der Post für die Mediziner unnötig, da sie über den Inhalt der Beschwerden von den Commissioners unverzüglich in Kenntnis gesetzt wurden und Stellung beziehen mussten. 31 Mental Deficiency and Lunacy (Scotland) Act, An Act to Make Better and Further Provision for the Care of Mentally Defective Persons and to Amend the Law Relating to Lunacy in Scotland, 15th August 1913, 3 & 4 Geo. 5, c. 38, S. 37.
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Jonathan Andrews festgestellt hat, kann die gesetzliche Verankerung als Indiz dafür gewertet werden, dass die Wahnsinnigen nicht nur als Objekte, sondern in begrenztem Umfang auch als Subjekte in das Funktionssystem Recht eingebunden waren.32 Die Patientinnen und Patienten waren aus vielen Teilsystemen als aktiv Teilnehmende weitgehend ausgeschlossen. Die tendenziellen Exklusionen gingen aber mit einer weitreichenden Inklusion einher: dem Einschluss in die Anstalt. Dem Anspruch nach war dieser Einschluss, und hier gelangt man wieder zu Goffman, ›total‹. Nach der Einweisung wurde die Institution zu dem Ort, an dem sich grundsätzlich das gesamte Leben der Patientinnen und Patienten abspielen sollte.33 Der Alltag in Woodilee war einem starren Zeitplan unterworfen, der grundsätzlich für alle – auch für das Pflegepersonal – galt. Festgelegt waren in diesem Rahmen die Zeiten für Aufstehen und Schlafen, für alle Mahlzeiten, für Frei- und Arbeitszeit.34 Die Tagespläne enthielten darüber hinaus detaillierte Anweisungen, was wann und wie zu tun war: »12.30 p.m. Working patients return to their wards. Attendants and patients change their shoes, wash, and make themselves tidy for dinner.«35 Das Ziel, alle Patientinnen und Patienten arbeiten zu lassen, wurde von der Anstaltsleitung im gesamten Untersuchungszeitraum weitgehend umgesetzt. Nur ein Bruchteil der Insassen, in der Regel diejenigen, die körperlich erkrankt oder bettlägerig waren, musste nicht arbeiten.36 Alle anderen fanden ›sinnvolle‹ und ›produktive‹ Verwendung im Alltag. Die Männer waren hauptsächlich in der zur Anstalt gehörenden 32 Andrews, Jonathan: »They’re in the trade . . . of Lunacy, they ›cannot interfere‹ – They say«: The Scottish Lunacy Commissioners and Lunacy Reform in Nineteenth-Century Scotland. London 1998. 33 Dies gilt zumindest für den weitaus größten Teil der Insassen. Natürlich gab es Insassen mit besonderen Privilegien, wie z. B. ›Ausgang auf Bewährung‹, um die Wiedereingliederung nach einer anstehenden Entlassung zu erleichtern. Zudem gab es auch in Woodilee Patientinnen und Patienten, die das Anstaltsgelände verlassen durften. 34 Vgl. z. B. NHSGGCA , HB 30–2, 16: Glasgow District Lunacy Board, Regulations for the Guidance of Officials of the Glasgow District Asylum, at Woodilee, Lenzie, Glasgow 1900, S. 27–28; NHSGGCA , HB 30–2, 16: Glasgow District Asylum Woodilee, Lenzie: General Management of the Asylum and General Rules for the Guidance of Attendants, Glasgow 1909, S. 19–20. 35 NHSGGCA , HB 30–2, 16: Glasgow District Lunacy Board (wie Anm. 34), S. 28. Auch der Ablauf der Mahlzeiten und des Badens wurde in diesen Vorschriften geregelt. Vgl. ebd., S. 29–30. 36 Ältere oder nicht für ›normale‹ Arbeiten verwendbare Patientinnen und Patienten waren schon vor 1900 in einer Art Beschäftigungstherapie durch die Mitglieder der Brabazon Society eingebunden.
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Landwirtschaft oder in den Gärten eingesetzt. Darüber hinaus mussten diejenigen Patienten mit entsprechender Vorbildung aber auch in den verschiedenen Werkstätten Dienst leisten. Dagegen arbeiteten die Frauen hauptsächlich innerhalb der Gebäude. Sie waren in der Küche und der Wäscherei tätig oder mussten nähen und putzen. Diese Geschlechtertrennung wurde allerdings nicht immer strikt durchgehalten, sodass z. B. manche Männer, die nicht anderweitig Verwendung fanden, auch Putzdienste zu erledigen hatten. Diese Arbeiten und die Tagespläne waren allerdings nicht nur therapeutische und organisatorische Maßnahmen. Sie müssen vielmehr auch als kohäsive Kraft, als der Kitt, verstanden werden, mit dem man versuchte, die Anstalt in ihrem Inneren zusammenzuhalten. Damit hatten die Ärzte auch einigen Erfolg. So war der Anstaltsalltag in der Regel von ›Ruhe und Ordnung‹ geprägt und trotz der architektonischen Offenheit und geographischen Nähe zu Glasgow kam es nur selten zu Fluchtversuchen von Insassen.37 Goffmans Kriterien der ›totalen Institution‹ treffen insofern auf die Zustände und das Alltagsleben im Woodilee Asylum nicht ohne Einschränkungen zu, vor allem nicht, was die totale Abschottung der Einzelnen von der Außenwelt anbelangt. Unter Bezugnahme auf die Systemtheorie lässt sich jedoch auf anderer Ebene ein Sonderstatus der Insassen bestimmen, und zwar hinsichtlich ihrer Eigenschaft als ›Personen‹. Niklas Luhmann beschreibt die Person in der funktional differenzierten Gesellschaft als ›Exklusionsindividuum‹, das die Möglichkeit hat, über Adressierung in die Funktionssysteme inkludiert zu werden. Die in die Anstalt inkludierten Insassen sind jedoch gerade keine solchen ›Exklusionsindividuen‹, vielmehr haben sie durch die Internierung in die psychiatrische Anstalt einen festen Platz in der Gesellschaft inne, der die Adressierbarkeit im Rahmen funktionssystemspezifischer Kommunikationen maßgeblich einschränkt. Sie sind – entgegen den Regeln funktionaler Differenzierung – als ›ganzer Mensch‹ in diese Organisation, die an der Schnittstelle von Medizin und Armenfürsorge angesiedelt ist, inkludiert. Der Status des ›Exklusionsindividuums‹ wird allenfalls durch die weiterhin gegebene Adressierbarkeit der Insassen innerhalb des Systems Familie gegeben.
37 In einer 500 Insassen umfassenden Stichprobe zwischen 1875 und 1921 machten nur 25 Personen einen Fluchtversuch. Mehr als 90 Prozent dieser Versuche wurden allerdings unterbunden.
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Insassen und Angehörige Die Angehörigen der Patientinnen und Patienten stellten die bedeutendsten Akteure der Inklusion der Patienten jenseits der Anstalt dar.38 Die Verwandten hielten den Kontakt der Insassen zur Außenwelt aufrecht, informierten über familiäre Entwicklungen und versorgten die Kranken mit nützlichen und angenehmen Geschenken: Kuchen und Süßigkeiten, Tabak, Zeitungen und Briefpapier, um nur einige Beispiele zu nennen.39 Für nahezu alle in Woodilee im Untersuchungszeitraum behandelten Personen konnten enge Verwandte nachgewiesen werden, nur ein Bruchteil der Insassen hatte keine lebenden Angehörigen.40 Zwar waren in einigen Krankenakten keine Verwandten notiert worden, durch die Überprüfung der jeweiligen Akten der Armenfürsorge konnten diese Lücken aber in der Regel gefüllt werden. Diese Verwandten hatten allerdings häufig eine ambivalente Position gegenüber den Kranken inne. Schließlich waren die Angehörigen nicht selten auch für die am Beginn stehende weitreichende Exklusion, also die Einweisung der Betroffenen in die Anstalt, verantwortlich.41 Beinahe die Hälfte aller Patientinnen und Patienten zwischen 1875 und 1921 war auf Veranlassung ihrer Familien in die Anstalt gebracht worden. Dabei waren die 38 Selbstverständlich konnten die Familien auch radikale Exklusionen ihrer Angehörigen betreiben. Darüber hinaus war es möglich, dass innerhalb der Familien durchaus gegensätzliche Positionen vertreten wurden. Außerdem konnten sich die Verhaltensweisen und Praktiken der Angehörigen im Behandlungsverlauf verändern. 39 Das heißt nicht, dass die Angehörigen die einzigen Personen waren, die einen Kontakt und Informationsaustausch nach außen herstellten. Auch die Anstaltsleitung sorgte für Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, sodass sich die Patientinnen und Patienten über die Geschehnisse ›draußen‹ informieren konnten. 40 In den Krankenakten wurden immer die nächsten Verwandten erfasst. Während es bei Verheirateten jeweils Gatte oder Gattin waren, wurden bei Verwitweten häufig die Kinder, bei alleinstehenden Personen in der Regel die Eltern genannt, häufig aber auch Geschwister, seltener weiter entfernte Verwandte. Allerdings tauchten durchaus auch Tanten, Onkel, Cousinen oder Cousins auf. 41 Am Anfang steht diese Exklusion jedoch nur in Bezug auf die stationäre Behandlung. Die Krankengeschichte der Patientinnen und Patienten begann in der Regel schon viel früher. In vielen Gutachten und Krankenakten werden oft wochen- oder monatelang dauernde Versorgungen innerhalb der Familien im eigenen Heim genannt. Derartige Verzögerungen bei der Einweisung standen zwar in scharfem Kontrast zur medizinischen Meinung, dass die Betroffenen sofort nach Auftreten der ersten Symptome zur professionellen Behandlung in eine Anstalt verbracht werden sollten. Die Ansicht der Ärzte blieb aber bis weit ins 20. Jahrhundert kaum praktikabel, da die Einweisungen sowohl durch Familien als auch durch institutionelle Akteure erst bei gravierenden Vorfällen oder Symptomverschärfungen durchgeführt wurden.
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Gründe für die jeweiligen Einweisungen individuell verschieden, lassen sich aber anhand dreier Merkmale kategorisieren. Als zentrale Motive fanden sich in den medizinischen Einweisungsgutachten: Gewalttätigkeit, Selbstgefährdung42 und die ›Unfähigkeit‹ der Familie, die Betroffenen zu Hause zu kontrollieren oder zu versorgen. Diese Motive deuten bereits darauf hin, dass der Ausschluss der Kranken aus der Familie und die räumliche Trennung einerseits auf symptomatische, krankheitsbedingte Gründe zurückzuführen war, andererseits aber auch die (Über-)Belastung der Familien einen gewichtigen Einfluss auf die Einweisungen ausüben konnte. Vielfach finden sich in den Gutachten und Krankenakten belastende externe Faktoren, die die Einweisung nach teils jahre- oder monatelanger Pflege im eigenen Haus zwingend erscheinen ließen: Veränderungen in der Familienstruktur z. B. durch Tod oder Heirat eines Mitglieds, Veränderungen in den Einkommensverhältnissen oder Ausfall eines zur Pflege benötigten Angehörigen. Während der stationären Behandlung in Woodilee verfügten Angehörige über verschiedene Möglichkeiten, mit den Familienmitgliedern weiterhin zu kommunizieren. Die Erste war durch das Recht auf Besuch der erkrankten Verwandten in der Anstalt geregelt. Im Lunacy (Scotland) Act von 1857 war dieses Recht fest verankert. Besuchszeiten mussten nicht erbeten, sondern in den Anstaltsordnungen mussten feste Termine und Zeiten genannt werden, zu denen grundsätzlich jeder Angehörige die Anstalt zu einem Besuch betreten durfte. Die Anstaltsleitung hatte nur die Möglichkeit, den Besuch individueller Patientinnen und Patienten zu verbieten und zu verhindern.43 Diese Verbote mussten allerdings dem General Board of Commissioners in Lunacy for Scotland gemeldet und begründet werden. Gegen die Verbote bestand außerdem ein Einspruchsrecht, das gegenüber dem Board of Commissioners geltend gemacht werden konnte. Die genauen Besuchszahlen für Woodilee sind nur bruchstückhaft zu rekonstruieren. Vor der Eröffnung dieser Anstalt im Jahr 1875 waren die Geisteskranken der Armengemeinde in einem speziellen Gebäude des Armenhauses in Barnhill untergebracht. Die Informationen über die Besuche für dessen Insassen reichen bis in die 1860er Jahre. Anhand der halbjährlichen Berichte der Commissioners in Lunacy können die Zahlen statistisch nachvollzogen werden, allerdings nur für die Irrenabteilung im Armen42 Selbstgefährdung geht hier über angedrohte oder versuchte Suizide hinaus und umfasst z. B. auch Nahrungsverweigerung. 43 Allerdings gab es auch Ausnahmen von der Regel, Besuchsverbote nur individuell zu verhängen. Um den Jahreswechsel 1920/21 grassierte in Glasgow eine Pockenepidemie, während der die Anstaltsleitung ein allgemeines Besuchsverbot erlassen durfte.
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haus.44 So wurde in einem Bericht aus dem Mai 1860 für die vorhergehenden sechs Monate die Zahl von 1035 Besuchen angegeben. Demgegenüber lag die Zahl der Besuchsverbote bei nur fünf.45 Allerdings wiesen die Commissioners auch darauf hin, dass die Zahlen interpretationsbedürftig seien, da die Besuche sehr unterschiedlich auf die jeweiligen Insassen verteilt gewesen seien. Einige bekamen demnach sehr häufig Besuch, andere überhaupt keinen.46 Im Dezember 1862 meldeten die Commissioners insgesamt 532 Besuche für die 137 Patientinnen und Patienten des Barnhill Parochial Asylum. Diese verteilten sich aber auf 104 Personen, da 33 Insassen von niemandem besucht worden waren.47 Die absoluten Besuchszahlen waren deutlichen Schwankungen unterworfen: in den sechs Monaten bis Dezember 1865 erhielten die 146 Insassen 247 Besuche.48 Von Juni bis Dezember 1864 verzeichnete man bei 142 Betreuten 603 Besuche.49 Aufgrund der hohen Besuchszahlen und des damit verbundenen Verwaltungsaufwandes wurde der Anstaltsleitung in Barnhill ab 1867 die Einstellung des detaillierten Besucherbuches von den Comissioners gestattet. Danach mussten ausschließlich die Besuchsverbote notiert werden.50 Dementsprechend wurden die Besuchszahlen für das Woodilee Asylum nicht registriert. Ein Besucherbuch ist weder überliefert noch wird es in den Berichten der Anstaltsleitung oder der Commissioners erwähnt. Nur in einem Bericht des Barony Parochial Board aus dem Jahr 1890 wurden die Besuchszahlen einer Woche im März erwähnt. Diese stammen aus Listen, die vom Inspector of the Poor angefordert worden waren und anscheinend der Überprüfung der finanziellen Verhältnisse der Angehörigen dienen sollten. Für die genannte Woche wurden insgesamt 52 Besuche bei 551 Patientinnen und Patienten festgestellt, ohne diese Zahl in den Jahreszusammenhang einzuordnen.51 Auf ein Jahr hochgerechnet ergäben sich so bei 551 Insassen mehr als 2700 Besuche, ein Besuch pro Patient/Patientin in etwas mehr als zehn Wochen. 44 Die Commissioners in Lunacy for Scotland mussten jede Anstalt, in denen psychisch Erkrankte untergebracht werden durften, halbjährlich visitieren. Bei diesen Kontrollbesuchen wurden u. a. der allgemeine Zustand der Anstalt, die Bücher, die Krankenakten und die Ernährungslage der Insassen überprüft. 45 GBCLS : Third AR of the GBCLS , 1861, S. CVII. 46 Vgl. GBCLS : Fourth AR of the GBCLS , 1862, S. CXXXII. 47 GBCLS , Fourth AR (wie Anm. 46), S. CXXXIII. 48 GBCLS : Eighth AR of the GBCLS , 1866, S. 206. 49 GBCLS : Seventh AR of the GBCLS , 1865, S. 204. 50 »The number of visitors to patients is so large that a record of refusals of admissions may in future be considered sufficient.« GBCLS : Ninth AR of the GBCLS , 1867, S. 213. 51 Es blieb in dem Bericht unklar, ob diese Woche aus einem spezifischen Grund oder als statistisches Mittel angeführt wurde. GCA , D-HEW 2–2, 14: Asylum Committee, 1.4.1890, Barony Parochial Board (BPB ), BPB Minutes, 1889–1890, S. 280.
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Die zweite Möglichkeit, kranke und stationär behandelte Angehörige weiter in die Familie einzubeziehen, waren Briefe. Für diese Praktik liegen ebenfalls nur wenige belastbare Zahlen vor, da zum einen kaum Briefe in den Krankenakten verwahrt worden sind52 und zum anderen die Briefbücher der Anstaltsleitung erst ab Oktober 1919 erhalten sind. In diesen Briefbüchern befinden sich die Antwortschreiben des Physician Superintendent auf Anfragen von Angehörigen und offiziellen Stellen. Von den mehr als 1800 Briefen, die der Anstaltsleiter zwischen Oktober 1919 und August 1920 verfasst hatte, waren 1200 an Angehörige von Insassen adressiert. Fast 1000 dieser Briefe waren dabei Antworten auf Nachfragen von Verwandten.53 Insgesamt bezogen sich die Briefe auf 519 Patientinnen und Patienten und damit auf circa die Hälfte aller in Woodilee stationär behandelten Personen.54 Die Menge dieser Briefe kann man als Indiz dafür ansehen, dass viele Familien die Patientinnen und Patienten weiterhin als Teil der Familie betrachteten, sie also trotz der Erkrankung und der vielfach damit einhergegangenen Schwierigkeiten und Gewalttätigkeiten weiterhin einschlossen. Über die Besuche und Briefe hinaus wurden von den Familien auch vielfach praktische Inklusionsangebote gemacht, indem nicht geheilte Insassen entweder temporär und auf Probe oder dauerhaft aus der Anstalt nach Hause genommen wurden. Das kam insbesondere dann vor, wenn die Familien die Krisen, die zu den Einweisungen geführt hatten, überwunden hatten. Wenn also die finanzielle Lage sich verbessert hatte oder ein Familienmitglied die Pflege des psychisch Kranken zu Hause übernehmen konnte, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass Insassen auf Antrag ihrer Verwandten in deren Obhut entlassen wurden.55 52 Dies kann verschiedene Gründe haben. Einerseits kann das Fehlen bedeuten, dass ein Großteil der von Patientinnen und Patienten geschriebenen Briefe zugestellt und die erhaltenen Briefe bei Entlassungen den Insassen selbst oder beim Tod den Angehörigen ausgehändigt wurden. Oder aber die Ärzte sahen in den meisten Fällen keine Notwendigkeit, die Schriftstücke aufzubewahren. Die Briefe, die sich in den Akten befinden, dienten vielfach als Beleg für die Erkrankung der Betroffenen und als Beweis für die Notwendigkeit der weiteren Behandlung. Vgl. hierzu u. a. die Briefe in den Akten von John H. J., NHSGGCA , HB 30–4– 46, 47; George H., NHSGGCA , HB 30–4–29, 23; Jane G., NHSGGCA , HB 30–5–2, 35; Catherine R.McM., NHSGGCA , HB 30–5–1, 9-r. Eine dritte Möglichkeit wäre, dass die Briefe im Verlauf der Zeit aus den Akten verloren gingen. 53 NHSGGCA , HB 30–7–24: Patient Letter Book No. 15. Die Schreiben sind als maschinenschriftliche Durchschläge erhalten. Die Nummer des Buches deutet darauf hin, dass circa 25 000 Schreiben der Anstaltsleitung nicht überliefert sind. 54 In dem Zeitraum zwischen Oktober 1919 und August 1920 lag die Belegungszahl durchschnittlich bei 1160 Personen. Vgl. GCA , D-Hew 1–2, 28: Parish of Glasgow Council: Parish of Glasgow Council Minutes; ebd., D-Hew 1–2, 29. 55 Insgesamt wurden mehr als 590 erfolgreiche Anträge auf Entlassung von Ange-
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Die ambivalente Position der Angehörigen wird aus dieser Analyse deutlich. Familien fungierten im Zusammenhang mit psychisch erkrankten Verwandten sowohl als Motoren der Exklusion, wenn sie die Einweisungen veranlassten, als auch als Agenten der Inklusion, wenn man die Zeit während und nach der stationären Behandlung in einer Anstalt betrachtet.56 Darüber hinaus war die exkludierende Einweisung von den Akteuren häufig nur als temporäre Maßnahme verstanden worden – die Heilung und damit Reinklusion der Kranken in die familiären Beziehungen wurde erwartet.57
Ergebnisse Psychiatrische Anstalten oder Asylums waren keine eindimensionalen Institutionen des Ausschlusses, wie das Konzept der ›totalen Institution‹ nahelegt.58 Anstalten wie das Woodilee Asylum könnten eher als Werkzeuge der temporär weitreichenden Exklusion der Betroffenen aus vielen Teilbereichen der Gesellschaft gelten, deren Ziel aber nicht die dauerhafte Abschottung oder Isolation der Patientinnen und Patienten war. Im Gegenteil wurde die beständige Inklusion der Kranken in familiäre Netzwerke gefordert und gefördert. Darüber hinaus wurde das Asylum als gesellschaftlich akzeptabler Ort der Heilung, als ein Krankenhaus konzipiert und damit als Teil der Gesellschaft etabliert und die Einweisung als exkludierende Praktik abgemildert. Gleichzeitig wurde den weitreichenden Exklusionen hörigen gestellt, die sich auf 535 Personen bezogen. Demnach wurden fast fünf Prozent aller in Woodilee behandelten Patientinnen und Patienten zwischen 1875 und 1921 auf diesem Wege entlassen. 56 Hier könnte man ebenfalls die Zeit vor den Einweisungen anführen, in denen die Familien oft wochen- und monatelang, in Ausnahmefällen auch jahrelang, die Betreuung sicherstellten und die Inklusion der Betroffenen in weite Bereiche der Gesellschaft aufrechterhielten. 57 Diese Erwartungshaltung hing nicht zuletzt mit dem Versprechen der Mediziner zusammen, dass man in jeweils naher Zukunft auch psychische Krankheiten heilen könne wie viele organische. Zwar schufen die Mediziner immer wieder auch Kategorien von unheilbar Erkrankten, wie ›degenerierte Blöd- und Schwachsinnige‹, aber die Krankenakten zeugen davon, dass viele Angehörige mit einer Heilung rechneten. 58 Die Tendenz zu stärker repressiven Maßnahmen innerhalb der Anstalten war ein globales Phänomen, welches schon vor der Jahrhundertwende in vielen Staaten sichtbar wurde. Teilweise wurden diese Entwicklungen von den Medizinern mitangestoßen, teilweise nahmen diese gesellschaftliche Themen auf und passten sie an die Bedürfnisse der psychiatrischen Medizin an, wie im Falle der Vererbungs- und Degenerationstheorie, die im Deutschen Reich in der Vernichtung der Betroffenen gipfelte.
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aus den gesellschaftlichen Funktionssystemen mit Inklusionen in die spiegelbildlichen Systeme der Anstalt entgegengewirkt. Dass genau diese häufig umfassenden Inklusionen zu Hospitalisierungseffekten führen konnten, die die Reinklusion der Kranken in die Gesellschaft und deren Entlassung aus der Anstalt nachhaltig behinderten, steht auf einem anderen Blatt.59 Bei der mikrohistorischen Analyse von psychiatrischen Anstalten unter Rückgriff auf das Konzept von Inklusion/Exklusion bleiben allerdings auch blinde Flecken. Wenn man mit diesem Instrumentarium nach dem Lebensalltag der Patientinnen und Patienten, ihrem Verhalten in der Anstalt, nach den zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Insassen, Familien, Medizinern und Pflegepersonal, nach machtlosen und machtvollen Akteuren fragt, bleibt man damit auf einer deskriptiven Ebene. Für eine darüber hinausgehende und anders perspektivierte Analyse derartiger Prozesse sind andere theoretische Konzepte und Werkzeuge tauglicher. Eine umfassende Untersuchung dieser Fragestellungen sollte deshalb z. B. auch auf Alf Lüdtkes Konzept des Eigensinns,60 Pierre Bourdieus Kapitalmodell61 und Michel Foucaults Ideen zu Macht und Disziplinierung62 zurückgreifen, weil diese Ansätze das Verständnis von Verhalten, Einfluss und Beziehungen in alltäglichen, aber institutionell strukturierten Situationen ermöglichen.63 Während diese Theorien also helfen, den inneren Kosmos der Institutionen zu verstehen, bieten Inklusion und Exklusion die Möglichkeit, den institutionellen Mikrokosmos an die Gesellschaft im Ganzen rückzubinden und die komplexen, multilinearen Verhältnisse zu erkennen. Das Begriffspaar Inklusion und Exklusion, das sollte hier gezeigt werden, ermöglicht eine Differenzierung von Goffmans Konzept der ›totalen Institution‹. Für die Inklusion/Exklusion der ›armen Irren‹ noch wichtiger als die damit verbundenen Exklusionen, die sich aus der Einschränkung 59 Diese Effekte hat auch Goffman schon in seiner Beobachtung erkannt. Manche Insassen passten sich derart stark an das Anstaltsleben an, dass ein Leben außerhalb in ihrer Vorstellung nicht mehr denkbar war. 60 Lüdtke, Alf: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrung und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Hamburg 1993; ders.: Geschichte und Eigensinn. In: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, hg. v. d. Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994, S. 139–153. 61 Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen 1983, S. 183–198. 62 Foucault, Wahnsinn (wie Anm. 6); ders.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1976; ders.: Die Ordnung des Diskurses. 9. Aufl. Frankfurt a. M. 2003; ders.: Die Geburt der Klinik. 7. Aufl. Frankfurt a. M. 2005; ders.: Dits et E´crits. Schriften. Bd. 4: 1980–1988. Frankfurt a. M. 2005. 63 Vgl. Gründler, Armut und Wahnsinn (wie Anm. 13).
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ihrer Adressierbarkeit ergeben, ist ihre ›totale Inklusion‹ in die Anstalt. Die internierten Patienten sind keine Exklusionsindividuen: Sie gehören vielmehr als ganze Person der Anstalt an. Diese Organisation des Medizinsystems steht quer zu den Regeln funktionaler Differenzierung, da sie den ›ganzen Menschen‹ inkludiert und Funktionen anderer Systeme – etwa von ›Wirtschaft‹ (Arbeit) – übernimmt und intern reformuliert. Mit der Inklusion in die psychiatrische Anstalt hört die Person auf, ›Exklusionsindividuum‹ zu sein und sich selbständig in die Funktionssysteme (im Rahmen der individuellen ›Karriere‹) inkludieren zu können. Stattdessen sollte sich innerhalb der Anstalt grundsätzlich das gesamte Leben der Patientinnen und Patienten abspielen. Die Inklusion in die Anstalt wird insofern zu einem Surrogat für die Inklusion in die ausdifferenzierten Funktionssysteme. Vor allem die Familie – nicht zufällig das einzige System, das die Inklusion seiner Mitglieder in der Regel nicht an Bedingungen knüpft – vollzieht teilweise noch Inklusionen der Anstaltsinsassen.
Inklusion und Exklusion am Beispiel der Fremdplatzierung in der Kinder- und Jugendfürsorge zu Beginn des 20. Jahrhunderts Katharina Brandes
Die Fremdplatzierung, also die Herausnahme von Kindern aus ihrer Ursprungsfamilie und ihre Überstellung in Erziehungsanstalten oder Pflegefamilien, zählt zu den gravierendsten Eingriffen in die Biographie und die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen. Das zeigt nicht zuletzt die aktuelle Diskussion um die Heimerziehung in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre.1 Dennoch gehörte die Fremdplatzierung zu den wichtigsten Maßnahmen der Kinder- und Jugendfürsorge des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Der vorliegende Beitrag untersucht am Beispiel der Kinder- und Jugendfürsorge in Hamburg die Fremdplatzierung von Kindern, die noch zumindest einen lebenden Elternteil hatten.2 Anders als bei vollständig verwaisten Kindern stellt sich in diesen Fällen die Frage, weshalb die Kinder nicht mehr in ihren Familien bleiben konnten. Wer entschied darüber und auf welcher Grundlage wurde diese Entscheidung getroffen? Welche Diskurse über ›richtige‹ und ›falsche‹ Kindererziehung standen dabei im Hintergrund? Die gesellschaftliche Bedeutung der ›richtigen‹ Erziehung von Kindern für den Fortbestand und die Anschlussfähigkeit sozialer Strukturen und Kommunikationen wurde in der luhmannschen Systemtheorie bereits hervorgehoben: »Wenn man annimmt, daß die Gesellschaft aus Menschen bestehe, geht es in der Erziehung gewissermaßen um ihre Substanz«.3 Dies 1 Zur Aufarbeitung der Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren vgl. zum Beispiel Henkelmann, Andreas (Hg.): Verspätete Modernisierung. Öffentliche Erziehung im Rheinland – Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945–1972). Essen 2011; Lützke, Annette: Öffentliche Erziehung und Heimerziehung für Mädchen 1945 bis 1975. Bilder »sittlich verwahrloster« Mädchen und junger Frauen. Essen 2002, und Wensierski, Peter: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik. 2. Aufl. München 2006. 2 Diese Gruppe von Kindern machte im frühen 20. Jahrhundert den Großteil der Zöglinge der Hamburger Kinder- und Jugendfürsorge aus. Während 1894 noch etwa 19 % der verpflegten Kinder Vollwaisen waren, nahm diese Zahl in den folgenden Jahren immer mehr ab, bis 1909 nur noch 7,7 % der Kinder beide Elternteile verloren hatten. Vgl. zu den Zahlen die entsprechenden Jahresberichte des Waisenhaus-Collegiums in den Jahresberichten der Verwaltungsbehörden der Freien und Hansestadt Hamburg. 3 Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 2002, S. 15.
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liegt darin begründet, dass die Erziehung aus den Menschen, wie sie geboren werden, Personen macht, die sich in sozialen Interaktionen der funktional differenzierten Gesellschaft4 nach spezifischen Anforderungsregeln verhalten. Die »Funktion der Erziehung« liegt, so betrachtet, in dem »Personwerden von Menschen«.5 Während die Sozialisation in den Familien »natürliche und soziale Verhaltensbedingungen als Selbstverständlichkeiten« vermittelt, »thematisiert« Erziehung ausdrücklich »das, was sie zu erreichen sucht«,6 und macht gerade »durch die Vorstellung ›richtigen‹ Wissens und ›angemessenen‹ Verhaltens«7 die geltenden Normen transparent; zugleich weist es diese als möglichen Gegenstand der Verhandlung aus. Diskurse über die Notwendigkeit der Fremderziehung von Kindern und damit über die geltenden Normen auf dem Gebiet der Erziehung können für die Kinder- und Jugendfürsorge in Hamburg anhand der Blätter für die hamburgische Waisenpflege und Jugendfürsorge erschlossen werden.8 Diese wurden ab 1902 achtmal jährlich vom Hamburger Waisenhauskollegium herausgegeben und dienten in erster Linie dazu, »den Verkehr zwischen dem Waisenhaus-Collegium und den für dasselbe ehrenamtlich thätigen Personen zu vermitteln«.9 In dieser Zeitschrift wurden einerseits Anordnungen und Ratschläge für die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Waisenhauskollegiums veröffentlicht, andererseits aber auch allgemeine Abhandlungen zu Fragen der Kinder- und Jugendfürsorge sowie Berichte über aktuelle Ereignisse. Als Hilfestellung für die Arbeit der Mitarbeiter waren zudem in den meisten Heften unter der Überschrift »Aus der Praxis« einige Fallbeispiele als »lehrreiche Einzelfälle«10 enthalten, an denen die Mitarbeiter ihre eigene fürsorgerische Tätigkeit ausrichten konnten.11 4 Zur Entstehung der funktional differenzierten Gesellschaft vgl. Becker, Frank / Reinhardt-Becker, Elke: Systemtheorie. Eine Einführung für die Geschichtsund Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2001, S. 83–90. 5 Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 3), S. 38. 6 Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 3), S. 53. 7 Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 3), S. 49. 8 Blätter für die hamburgische Waisenpflege und Jugendfürsorge. Amtliches Organ des Waisenhaus-Collegiums 1 (1902) und folgende Jahrgänge. Ab 1910 erschien die Zeitschrift unter dem Titel Blätter für die Hamburgische öffentliche Jugendfürsorge. Amtliches Organ der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge (Blätter). 9 Zur Einführung. In: Blätter 1 (1902), S. 1. 10 Zur Einführung (wie Anm. 9), S. 1. 11 Neben den genannten Funktionen der Blätter ist nicht zu vergessen, dass es sich bei diesen um Veröffentlichungen des Waisenhauskollegiums handelte, die zwar in erster Linie den Charakter eines internen Mitteilungsblattes hatten, aber dennoch eine gewisse Öffentlichkeit erreichten und auch als Rechenschaftsbericht des Waisenhauskollegiums bzw. der Behörde für Jugendfürsorge zu verstehen sind.
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Insgesamt deckten die Blätter vor allem zwei große Themenbereiche ab. Ein Teil der Beiträge befasste sich mit der Erziehung der bereits in der öffentlichen Waisenpflege befindlichen Kinder und Jugendlichen. In diesen Artikeln wurde zum Beispiel die Beschäftigung der im Waisenhaus versorgten Kinder außerhalb der Schulzeit erörtert oder diskutiert, nach welchen Kriterien geeignete Lehrstellen für die aus der Schule entlassenen Jugendlichen ausgewählt werden sollten.12 Die Auseinandersetzungen über die ›richtige‹ Erziehung in den Blättern können im obigen Sinne als Kommunikationen innerhalb des Funktionssystems Erziehung13 gelten. Der größte Teil der Beiträge hatte aber direkt oder indirekt die Frage zum Thema, aufgrund welcher Kriterien Kinder und Jugendliche in die öffentliche Waisenpflege aufgenommen werden sollten.14 Damit war die Frage verbunden, warum die Eltern nicht mehr als für die Erziehung der Kinder geeignet angesehen wurden. Aussagen zu diesem Thema sind vor allem in den Berichten »Aus der Praxis« zu finden, in denen ausführlich die (meistens schlechte) familiäre Situation der Kinder beschrieben wurde. Niklas Luhmann hat davon gesprochen, dass der familiären Sozialisation in hoch differenzierten Gesellschaften unter anderem deshalb nicht allein die Personwerdung der Menschen überlassen werden kann, weil sie »nicht spezifisch genug« wirke und zudem »zu sehr an das Milieu gebunden [bleibe], in dem sie stattfindet«.15 Genau daraus resultiere aber »der Spielraum, den die Erziehung nutzen kann, um die Ergebnisse der Sozialisation teils zu korrigieren, teils zu ergänzen«.16 So betrachtet, zielt diese zweite Gruppe der untersuchten Beiträge auf die Diagnostizierung einer nicht mehr ausreichenden Sozialisationsleistung in den Herkunftsfamilien der Kinder. Würde diese Sozialisation fortgesetzt werden, könnte – so das Selbstverständnis der Beiträger in den Blättern – die schulische Erziehung die entstandenen 12 Vgl. z. B. Die Beschäftigung der Kinder im Waisenhause. In: Blätter 2 (1903), S. 28–29; fortgesetzt in ebd., S. 34–35; Die Beschäftigung der Kinder im Waisenhause. In: Blätter 3 (1904), S. 9; und Die Beschäftigung der Kinder im Waisenhause. In: Blätter 3 (1904), S. 18; oder Petersen, J.: Wie helfen wir den zur Schulentlassung kommenden Knaben bei ihrer Berufswahl? In: Blätter 3 (1904), S. 11–14. 13 Zu den Eigenschaften dieses Funktionssystems vgl. auch Luhmann, Niklas: Strukturelle Defizite. Bemerkungen zur systemtheoretischen Analyse des Erziehungswesens. In: Oelkers, Jürgen/Tenorth, Heinz-Elmar (Hg.): Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Systemtheorie. Weinheim 1987, S. 57–75; sowie die Zusammenfassung bei Becker/Reinhardt-Becker, Systemtheorie (wie Anm. 4), S. 121–127. 14 Zu diesen Beiträgen zählen auch die Artikel, die sich mit der Erläuterung der rechtlichen Grundlagen in der Kinder- und Jugendfürsorge befassen. 15 Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 3), S. 38. 16 Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 3), S. 38.
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Defizite nicht mehr korrigieren, und die Kinder liefen Gefahr, sich letztlich nicht zu Personen zu entwickeln, die als Adressaten der Inklusionen in Funktionssysteme infrage kämen. Dieses Selbstverständnis geht mit dem luhmannschen Befund konform, »daß die Absicht zu erziehen eine gute Absicht sein muß«.17 Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht die Frage, welche Auswirkungen die Fremdplatzierung der Kinder hatte – sowohl auf diese selber als auch auf deren Familien. Zur Beantwortung dieser Frage werden Theorieansätze zur Inklusion/Exklusion herangezogen. ›Inklusion‹ meint im Folgenden – im Anschluss an Cornelia Bohn18 – die »Berücksichtigung von Personen in sozialen Systemen«, also ihre prinzipielle Adressierbarkeit.19 Analog dazu ist unter Exklusion20 die Nicht-Berücksichtigung oder Ausgrenzung von Personen zu verstehen.21 Damit sind in modernen funktional differenzierten Gesellschaften Prozesse, die sich auf ein Funktionssystem beziehen, gemeint, im hier behandelten Fall also das der Erziehung. Die Entscheidung darüber, ob ein Kind dem Einfluss seiner Eltern entzogen und in fremde Hände gegeben werden sollte, hing im Wesentlichen davon ab, ob die Eltern dazu in der Lage waren, ihre Kinder ›richtig‹ zu erziehen. Bei der Beurteilung dieser Frage spielten nicht nur Diskurse über ›richtige‹ und ›falsche‹ Erziehung eine Rolle, sie hing zudem auch in hohem Maße von Devianzzuschreibungen sowohl gegenüber den Eltern als auch gegenüber den Kindern ab. Die Unterstellung von Devianz, verbunden mit »Schuldsemantiken, Semantiken der Andersartigkeit und Anormalität«, wobei die Devianzzuschreibungen zur Legitimierung von Exklusion dienen, ist eine der in der historischen Forschung häufig untersuchten Formen von 17 Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 3), S. 55. 18 Bohn, Cornelia: Inklusions- und Exklusionsfiguren. In: Dies.: Inklusion, Exklusion und die Person. Konstanz 2006, S. 29– 47, hier S. 33. 19 Vgl. dazu auch Luhmann, Niklas: Inklusion und Exklusion. In: Berding, Helmut (Hg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Frankfurt a. M. 1994, S. 15– 45, hier S. 20. 20 Eine Totalexklusion aus der Gesellschaft als Ganzes ist – zumindest bei einem strengen Gebrauch des Exklusionsbegriffs – in letzter Konsequenz nur als Tötung oder Verbannung des Exkludierten möglich. Auf der anderen Seite führt die Exklusion aus einem Teilbereich der Gesellschaft häufig auch die Exklusion aus anderen Teilbereichen nach sich. Vgl. Hahn, Alois: Exklusion und die Konstruktion personaler Identitäten. In: Raphael, Lutz / Uerlings, Herbert (Hg.): Zwischen Ausschluss und Solidarität. Modi der Inklusion / Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike (Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 6). Frankfurt a. M. [u. a.] 2008, S. 65–96, hier S. 66– 67. 21 Bohn, Inklusions- und Exklusionsfiguren (wie Anm. 18), S. 33.
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Exklusion.22 Devianztheoretisch argumentierende Forschungen zu Inklusion / Exklusion stützen sich dabei vor allem auf die Theorien von Michel Foucault, wie dieser sie unter anderem in Überwachen und Strafen entwickelt hat.23 Ein besonderes Verdienst der Theorien Foucaults liegt darin, dass diese auf die Wechselwirkungen zwischen Diskursen und Macht aufmerksam machen: Durch einen Diskurs wird »ein spezifisches Wissen produziert, indem er Gegenstände auf eine bestimmte Weise erfahrbar macht und in diesem Sinne soziale Wirklichkeit erst schafft«.24 Dieses Wissen (definiert als »das, was eine Gesellschaft als wahr akzeptiert«) stellt eine »spezifische Form von Macht« dar.25 Auf der anderen Seite beeinflusst Macht in Form von Gesetzen, Regeln und Verboten natürlich auch die Diskurse, also das, was unter den gegebenen Umständen gesagt werden kann (und von wem es gesagt werden kann) oder eben als wahr akzeptiert wird.26 Foucault legt in Überwachen und Strafen dar, dass die Absonderung von als deviant angesehenen Bevölkerungsgruppen in eigens für diesen Zweck errichtete Anstalten, die zur Überwachung und Disziplinierung ihrer Insassen dienen, seit dem 18. Jahrhundert als eine häufige Form der Exklusion vorkommt.27 Auch die Erziehung von Kindern und Jugendlichen in Waisenhäusern und Erziehungsanstalten ist ein Teil dieses »Kerkersystems« und wird von Foucault in einigen Beispielen angesprochen.28 Dort 22 Bohn, Cornelia: Inklusion und Exklusion: Theorien und Befunde. In: Dies.: Inklusion, Exklusion und die Person. Theorien und Befunde. Konstanz 2006, S. 7– 27, hier S. 16; sowie Hahn, Exklusion (wie Anm. 20), S. 73–74. 23 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 17. Aufl. Frankfurt a.M. 2009. 24 Seier, Andrea: Kategorien der Entzifferung. Macht und Diskurs als Analyseraster. In: Bublitz, Hannelore (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. Frankfurt a. M. 1999, S. 75–86, hier S. 77. 25 Seier, Kategorien der Entzifferung (wie Anm. 24), S. 77 (Herv. im Original; K.B.). 26 Vgl. Lorey, Isabell: Macht und Diskurs bei Foucault. In: Bublitz, Das Wuchern (wie Anm. 24), S. 87–96, hier S. 88 f.; sowie Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. 9. Aufl. Frankfurt a. M. 2003, S. 10–12. 27 Dabei ist zu beachten, dass Foucault selbst den Begriff der Exklusion als Ausschließung in einem engen räumlichen Sinn versteht und daher zurückweist. Vgl. Opitz, Sven: Eine Topologie des Außen. Foucault als Theoretiker der Inklusion / Exklusion. In: Anhorn, Roland [u. a.] (Hg.): Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit. Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme. Wiesbaden 2007, S. 41–58, hier S. 45. 28 So nennt Foucault mehrere Beispiele der Disziplinierung von Kindern aus dem Elementarschulunterricht, z. B. Foucault, Überwachen und Strafen (wie Anm. 23), S. 213–215, oder führt die Erziehungsanstalt in Mettray als Paradebeispiel für eine Anstalt des Kerkersystems an, ebd., S. 379–383. Zum Kerkersystem, d. h. zur Ausdehnung des Prinzips der Einsperrung und Disziplinierung über das Gefängnis hinaus, vgl. ebd., S. 383–385.
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sollen die Kinder und Jugendlichen zu ›nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft‹ erzogen werden, um nach ihrer Entlassung ein ›normales‹, unauffälliges Leben führen zu können. Normalität ist aber nicht nur ein Erziehungsziel, sondern auch der Maßstab, anhand dessen entschieden wird, welche Kinder und Jugendlichen in die Fremderziehung zu übernehmen sind.29 Die Verknüpfung von Luhmanns Überlegungen zum Erziehungssystem mit Foucaults devianztheoretischen Ausführungen bietet sich an, weil im Falle der fremdplatzierten Kinder das Erziehungssystem von seinen eigenen Regeln abweicht. Seine Kommunikationen sind per definitionem so strukturiert, dass sie »Ungleiches als gleich«30 behandeln – also Kinder mit unterschiedlichem familiären Hintergrund nach gleichen Maßstäben beurteilt werden und Ungleichheiten nur aus diesen Maßstäben des Erziehungssystems resultieren. Das entspricht den Postulaten des Gleichheitsprinzips, die sich im 18. Jahrhundert durchgesetzt haben und auch für andere Funktionssysteme fordern, daß keine Ungleichheit als durch die Natur gegeben hingenommen werden darf, sondern in allen Fällen auf die Teilnahme an Funktionssystemen zurückzuführen ist.31
Es liegt ferner an der funktionalen Ausdifferenzierung von ›Erziehung‹, dass die Organisationen dieses Systems von der Sozialisation in den Familien abzusehen haben. Die untersuchten Fürsorgeeinrichtungen verhielten sich in zweifacher Hinsicht anders: Sie nahmen die Herkunftsfamilien der zu platzierenden Kinder als Ausgangspunkt der Adressierung, und führten damit von Anfang an eine Ungleichheit als Prämisse in die erzieherischen Bemühungen ein. Diese wurde zum Ausgangspunkt für Devianzmarkierungen. Im Folgenden sollen nun auf der Grundlage der obigen theoretischen Vorbemerkungen Maßstäbe der Normalität beispielhaft, ausgehend von der Kinder- und Jugendfürsorge in Hamburg, untersucht werden. Dabei werden zunächst die Struktur und Organisation der Hamburger Kinder- und Jugendfürsorge erläutert und die in den Blättern für die hamburgische Waisenpflege und Jugendfürsorge geführte Diskussion über die Notwendigkeit der Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen untersucht. Im Anschluss daran werden die inkludierenden bzw. exkludierenden Wirkungen dieses Fürsorge-Diskurses und der aus ihm abgeleiteten Praktiken aufgezeigt. 29 Für eine erziehungswissenschaftliche Definition von Normalität im Anschluss an das Konzept von Jürgen Link vgl. von Stechow, Elisabeth: Erziehung zur Normalität. Eine Geschichte der Ordnung und Normalisierung der Kindheit. Wiesbaden 2004, S. 14. 30 Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 3), S. 127. 31 Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 3), S. 127.
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Struktur und Organisation der Kinder- und Jugendfürsorge in Hamburg Anfang des 20. Jahrhunderts war die Zentralisierung der Kinder- und Jugendfürsorge in Hamburg bereits weit fortgeschritten.32 Das Waisenhaus war dadurch zum zentralen Dreh- und Angelpunkt der Kinder- und Jugendfürsorge geworden. Ursprünglich war es 1604 zur Versorgung von ehelichen Kindern verstorbener Hamburger Bürger oder Findelkindern gegründet worden.33 Da allerdings nur ein Teil der hilfsbedürftigen Kinder in Hamburg von den Leistungen des Waisenhauses profitieren konnte,34 wurde 1830 das der Allgemeinen Armenanstalt unterstellte Kostkinderinstitut gegründet.35 Dieses war für die Unterbringung von hilfsbedürftigen Kindern in Pflegefamilien in Hamburg und im Umland zuständig. Für straffällig gewordene oder verwahrloste Kinder und Jugendliche wurde 1828 im Werk- und Armenhaus eine Strafklasse eingerichtet,36 aus der später die Erziehungsanstalten für Jungen und Mädchen in Ohlsdorf hervorgingen. Diese wurden 1887 der neu gegründeten Behörde für Zwangserziehung unterstellt.37 1892 wurde das gesamte System der Kinder- und Jugendfürsorge neu organisiert. Dabei ging die Beaufsichtigung des Kostkinderwesens von der Allgemeinen Armenanstalt in die Verantwortung des Waisenhauskollegiums über, welches nun »für alle innerhalb des städtischen Gebietes der 32 Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Uhlendorff, Uwe: Geschichte des Jugendamtes. Entwicklungslinien der öffentlichen Jugendhilfe 1871–1929. Weinheim 2003, S. 169–208. Zur Entstehung des Waisenhauses und dessen Entwicklung vgl. außerdem Sieverts, Rudolf: 350 Jahre Hamburgische Jugendfürsorge. In: Jugendbehörde Hamburg (Hg.): 350 Jahre Jugendwohlfahrt in Hamburg. Vom Waisenhauskollegium zur Jugendbehörde. Hamburg 1955, S. 17– 47. 33 Vgl. die Stiftungsurkunde des Waisenhauses, abgedruckt in Sieverts, 350 Jahre (wie Anm. 32), S. 23–25. 34 Viele der in Hamburg lebenden Menschen besaßen nicht das Hamburger Bürgerrecht, dessen Erwerb an bestimmte finanzielle Kriterien geknüpft war. Vgl. Evans, Richard J.: Death in Hamburg. Society and Politics in the Cholera Years 1830–1910. Oxford 1987, S. 12. Außerdem hatten uneheliche Kinder keinen Zugang zum Waisenhaus. 35 Sieverts, 350 Jahre (wie Anm. 32), S. 36. 36 Zur Strafklasse des Werk- und Armenhauses vgl. Döbler, Joachim: Gezähmte Jugend. Regulierungsprozesse in der Strafklasse des Hamburger Werk- und Armenhauses (1828–1842). Münster / Hamburg 1992. 37 Vgl. Behörde für Zwangserziehung. In: Jahresberichte der Verwaltungsbehörden über das Jahr 1887, X. Verwaltungs-Abtheilung für polizeiliche und innere Angelegenheiten. Zweites Heft: Gefängnis-Deputation und Behörde für Zwangserziehung. Hamburg 1888, S. 41. Zur Schaffung der Behörde für Zwangserziehung vgl. ausführlicher Uhlendorff, Geschichte des Jugendamtes (wie Anm. 32), S. 181–185.
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öffentlichen Pflege anheimfallenden Unmündigen« zuständig war.38 Die kommunale Armenfürsorge war damit nur noch dafür zuständig, zu beurteilen, ob Kinder unter armenrechtlichen Gesichtspunkten als hilfsbedürftig anzusehen waren.39 Nach Feststellung der armenrechtlichen Hilfsbedürftigkeit wurden die Kinder in die öffentliche Waisenpflege überwiesen. Der Großteil von ihnen wurde – nach einem kurzen Aufenthalt in der Beobachtungsabteilung des Waisenhauses – in Pflegefamilien untergebracht. Der Teil der Kinder, welcher die Anforderungen der ursprünglichen Waisenhausstiftung von 1604 erfüllte, wurde allerdings als sogenannte Stiftskinder im Waisenhaus erzogen. Gegebenenfalls konnten Kinder auch in die Erziehungsanstalten der Behörde für Zwangserziehung überwiesen werden. Nachdem Anfang des 20. Jahrhunderts auch noch weitere Aufgaben, wie z. B. die Beaufsichtigung der unter Vormundschaft stehenden Kinder, an das Waisenhauskollegium übertragen worden waren, hatte dieses die Verantwortung für fast alle Teilbereiche der Kinder- und Jugendfürsorge inne.40 Nur die Zwangs- und Fürsorgeerziehung blieb weiterhin der Behörde für Zwangserziehung unterstellt und wechselte nach längeren Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft erst 1907 in die Verantwortung des Waisenhauskollegiums über.41 Der Prozess der zunehmenden Konzentration aller Aufgaben der Kinder- und Jugendfürsorge beim Waisenhauskollegium fand 1910 mit der Umbenennung desselben in Behörde für öffentliche Jugendfürsorge seinen Abschluss.42 Das Aufgabengebiet dieser neuen 38 Vgl. Jahresbericht des Waisenhaus-Collegiums für das Jahr 1892, S. 1. In: Jahresberichte der Verwaltungsbehörden der freien und Hansestadt Hamburg 1892. VII. Verwaltungs-Abtheilung für öffentliche Wohlthätigkeit. Hamburg 1893. Wie der Name sagt, war das Waisenhauskollegium ursprünglich nur für die Verwaltung des Waisenhauses zuständig gewesen. Es bestand ab 1863 aus zwei Mitgliedern des Senats, einem Mitglied der Finanzdeputation sowie sechs Provisoren, die von der Bürgerschaft gewählt wurden. Vgl. Uhlendorff, Geschichte des Jugendamtes (wie Anm. 32), S. 171. 39 Geschäftsordnung für die Armenpflege der Allgemeinen Armenanstalt. Hamburg 1893, § 54. 40 Vgl. Uhlendorff, Geschichte des Jugendamtes (wie Anm. 32), S. 179. 41 Zu den Verhandlungen vor der Verabschiedung des neuen Gesetzes über die Zwangserziehung Minderjähriger von 1907 vgl. Uhlendorff, Geschichte des Jugendamtes (wie Anm. 32), S. 187–194. 42 Vgl. Uhlendorff, Geschichte des Jugendamtes (wie Anm. 32), S. 197–198, sowie den Jahresbericht der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge (früher Waisenhauskollegium) für das Jahr 1910, S. 1. In diesem Zusammenhang erfolgte auch die Umbenennung der Blätter für die hamburgische Waisenpflege und Jugendfürsorge in Blätter für die Hamburgische öffentliche Jugendfürsorge. Amtliches Organ der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge.
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Behörde umfasste nun sämtliche Teilgebiete der Jugendfürsorge, darunter die Fürsorge für armenrechtlich hilfsbedürftige Minderjährige, die Fürsorgeerziehung, die Mitwirkung im Vormundschaftswesen und die Aufsicht über das Waisenhaus und andere staatliche Erziehungsanstalten sowie über das Pflegekinderwesen. Diskurse über die Fremdplatzierung von Kindern Die rechtlichen Grundlagen der Fremdplatzierung von Kindern waren für das gesamte Deutsche Reich im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 festgelegt. Zusätzlich hatte aber jeder der Bundesstaaten des Deutschen Reiches seine eigenen Ausführungsgesetze.43 Grundsätzlich gab es laut den gesetzlichen Bestimmungen in Hamburg zwei Gründe dafür, ein Kind in die öffentliche Waisenpflege aufzunehmen. Auf der einen Seite stand die durch die Allgemeine Armenanstalt festgestellte armenrechtliche Hilfsbedürftigkeit des Kindes. Sie lag vor allem dann vor, wenn Kinder verwaist oder verlassen waren oder wenn die Eltern vorübergehend oder dauerhaft aufgrund von Krankheit, Verhaftung oder ähnlichen Gründen nicht dazu in der Lage waren, für ihre Kinder zu sorgen.44 In der Praxis wurden aber auch Kinder aufgrund von Armut von der Allgemeinen Armenanstalt an die Waisenpflege überwiesen.45 Der Zeitraum, für den Kinder in die öffentliche Waisenpflege aufgenommen werden sollten, wurde von der Allgemeinen Armenanstalt festgelegt. Wenn nicht eindeutig eine vorübergehende (z. B. bei einem Krankenhausaufenthalt der Mutter) oder dauerhafte Aufnahme bis zur Mündigkeit (v. a. bei Waisen) angeordnet wurde, wurde häufig 43 In Artikel 135 des Einführungsgesetzes zum BGB wurde festgelegt, dass die landesgesetzlichen Vorschriften über die Zwangserziehung Minderjähriger weiterhin gültig bleiben sollten. Außerdem konnten »Landesgesetze [. . .] die Entscheidung darüber, ob der Minderjährige, dessen Zwangserziehung angeordnet ist, in einer Familie oder in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt unterzubringen sei, einer Verwaltungsbehörde übertragen, wenn die Unterbringung auf öffentliche Kosten zu erfolgen hat.« Zit. n. Blum-Geenen, Sabine: Fürsorgeerziehung in der Rheinprovinz von 1871–1933. Köln / Bonn 1997, S. 117 f. 44 § 54, I 4 der Geschäftsordnung für die Armenpflege der Allgemeinen Armenanstalt. Hamburg 1897. 45 In den Jahresberichten des Waisenhauskollegiums sind Statistiken enthalten, die über die Situation der Eltern der aufgenommenen Kinder Auskunft geben. Armut des noch lebenden Elternteils wird neben Krankheit, Aufenthalt des Elternteils in einer Strafanstalt oder unbekanntem Aufenthalt des Elternteils als eine der Kategorien genannt. Vgl. z. B. Jahresbericht des Waisenhauskollegiums für das Jahr 1903. In: Jahresberichte der Verwaltungsbehörden der freien und Hansestadt Hamburg 1903. Hamburg 1904, S. 2.
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eine Aufnahme in die Waisenpflege für einen Zeitraum zwischen sechs Monaten und zwei Jahren festgesetzt.46 Dieser Beschluss konnte gegebenenfalls verlängert werden, ansonsten wurden die Kinder am Ende der festgelegten Zeit zu ihren Angehörigen entlassen.47 Der Antrag auf Übernahme der Kinder in die öffentliche Waisenpflege erfolgte in der Regel durch die Eltern oder den Vormund des Kindes.48 Kinder konnten aber auch in die öffentliche Waisenpflege überwiesen werden, wenn ihre Eltern als ›zur Erziehung ungeeignet‹ angesehen wurden. Auch schon vor der Übertragung der Zuständigkeit für die Zwangserziehung an das Waisenhauskollegium findet sich in den Jahresberichten des Waisenhauskollegiums diese Kategorie in den Statistiken der Aufnahmegründe.49 Rückblickend begründet der Direktor der öffentlichen Jugendfürsorge in Hamburg dies damit, dass in der alten Fassung des Zwangserziehungsgesetzes von 1887 »unverdorbene Kinder, die durch ihre Eltern gefährdet waren (›gute Kinder schlechter Eltern‹)«, und verwahrloste Jugendliche über 16 Jahren von der Zwangserziehung ausgeschlossen waren.50 Das Gesetz von 1887 sah die Anordnung von Zwangserziehung nämlich nur für Kinder und Jugendliche vor, die straffällig geworden waren oder »gegen Kinder unter 16 Jahren, bei welchen die gewöhnlichen Erziehungsmittel des Hauses und der Schule sich als unzureichend erwiesen haben, um sie vor sittlichem Verfall zu bewahren«.51 Eine Hamburger Besonderheit war daneben die Möglichkeit der ›freiwilligen Fürsorgeerziehung‹. Diese konnte von den Erziehungsberechtigten beantragt werden.52 Erst die Neufassung des Gesetzes über die Zwangserziehung Minderjähriger von 1907 sah vor, dass Zwangserziehung in Ergänzung der bisherigen 46 Vgl. § 54, II 3 der Geschäftsordnung für die Armenpflege der Allgemeinen Armenanstalt. Hamburg 1897. 47 Vgl. § 54, III der Geschäftsordnung für die Armenpflege der Allgemeinen Armenanstalt. Hamburg 1897. 48 Vgl. die Erläuterungen zum Gesetz über die öffentliche Fürsorge für Minderjährige von 1907. In: Petersen, Johannes / Vogt, P. (Hg.): Die hamburgischen Gesetze über die öffentliche Jugendfürsorge nebst einem Anhang enthaltend das Gesetz über das Armenwesen vom 11. September 1907. Hamburg 1908, S. 12–13. 49 Vgl. z. B. Jahresbericht des Waisenhauskollegiums für das Jahr 1903 (wie Anm. 45), S. 2. 50 Petersen, Johannes: Die Hamburgische Öffentliche Jugendfürsorge. Hamburg 1911, S. 33. Vgl. zu den gesetzlichen Regelungen zur Zwangserziehung nach dem Gesetz von 1887 auch Uhlendorff, Geschichte des Jugendamtes (wie Anm. 32), S. 183–184. 51 Gesetz, betreffend die Zwangserziehung verwahrloster jugendlicher Personen, vom 6. April 1887, zit. n. Uhlendorff, Geschichte des Jugendamtes (wie Anm. 32), S. 183. 52 Vgl. Uhlendorff, Geschichte des Jugendamtes (wie Anm. 32), S. 184.
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Bestimmungen auch angeordnet werden konnte, um »die Verwahrlosung des Minderjährigen zu verhüten«.53 Damit wurden die gesetzlichen Regelungen zur Zwangserziehung in Hamburg an das 1900 eingeführte Bürgerliche Gesetzbuch angeglichen. Dort war in § 1666 Folgendes festgelegt worden: Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen. Das Vormundschaftsgericht kann insbesondere anordnen, daß das Kind zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungsanstalt oder einer Besserungsanstalt untergebracht wird.54
In der Regel war mit der so begründeten Fremdplatzierung eines Kindes ein Verfahren zum Entzug des Sorgerechtes gegen die Eltern verbunden. Gegenüber der älteren gesetzlichen Regelung war nun die Verhängung von Zwangserziehung in den Fällen erleichtert worden, in denen Kinder noch nicht auffällig geworden waren, ein vorbeugendes Eingreifen aber aufgrund von Vernachlässigung des Kindes oder aufgrund der schlechten Familiensituation geboten schien. Die Gesetzesänderung zielte damit vor allem auf die sogenannten guten Kinder schlechter Eltern ab. Dementsprechend wurde in Hamburg die Zwangserziehung als »gegen den Erziehungsberechtigten gerichtete[r], nicht etwa [...] gegen den Minderjährigen selbst anzuwendende[r], besondere[r] Zwange« aufgefasst.55 Damit hatte sich eine neue Auffassung von der Funktion der Zwangserziehung durchgesetzt, die deutlich von den Regeln des Funktionssystems Erziehung abweicht, weil sie die familiäre Sozialisation erstens überhaupt beurteilt und zweitens sogar deren ›Devianz‹ zum Ausgangspunkt erzieherischer Maßnahmen macht. Während 1887 die Zwangserziehung noch als Maßnahme zur Disziplinierung der Kinder verstanden worden war und die ›Besserung‹ der bereits straffällig oder zumindest auffällig gewordenen Kinder zum Ziel hatte, sollte sie nun als Disziplinarmaßnahme gegen die Eltern wirken. Ziel war jetzt die ›Rettung‹ von Kindern, die in schlechten Verhältnissen aufwuchsen.56 Die Auflösung der Behörde für Zwangserziehung (welche zusammen mit der Gefängnisdeputation der Abteilung für polizeiliche und innere Angelegenheiten zugeordnet gewesen war57) und die Übertragung der Zuständigkeit 53 Vgl. § 1 des Gesetzes über die Zwangserziehung Minderjähriger vom 11. September 1907. In: Petersen / Vogt, Die hamburgischen Gesetze (wie Anm. 48), S. 37. 54 Zit. n. Blum-Geenen, Fürsorgeerziehung (wie Anm. 43), S. 115. 55 Erläuterung zum Gesetz über die Zwangserziehung Minderjähriger vom 11. September 1907. In: Petersen/Vogt, Die hamburgischen Gesetze (wie Anm. 48), S. 38. 56 Vgl. auch Uhlendorff, Geschichte des Jugendamtes (wie Anm. 32), S. 185–186. 57 Diese Zuordnung wird aus der Anordnung der Jahresberichte in den Jahresberichten
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für die Zwangserziehung an das Waisenhauskollegium unterstrichen zusätzlich das neue Verständnis von der Zwangserziehung als pädagogischer, nicht als strafender Maßnahme.58 Betrachtet man nur die Gesetzestexte für sich allein genommen, bleibt zunächst noch etwas unklar, in welchen Fällen die Zwangserziehung angewendet werden sollte. Im Mittelpunkt der gesetzlichen Bestimmungen stehen neben dem Begriff der ›Verwahrlosung‹ Formulierungen wie ›ehrloses oder unsittliches Verhalten‹ oder die Gefahr des ›sittlichen Verfalls‹ der Kinder und Jugendlichen. All diese Formulierungen bieten einen weiten Auslegungsspielraum und müssen noch mit Inhalt gefüllt werden.59 Einen ersten Ansatzpunkt dafür bieten die in einer Sammlung der Gesetze zur Hamburger Jugendfürsorge veröffentlichten Kommentare zum Zwangserziehungsgesetz von 1907. Dort wurde dargelegt, welche Verhaltensweisen jeweils unter die Bestimmungen des § 1666 BGB (Missbrauch der elterlichen Gewalt, Vernachlässigung, unsittliches Verhalten) fielen. Als Missbrauch der elterlichen Gewalt konnte demnach nicht nur Misshandlung oder Ausnutzung des Kindes, sondern auch das »Verlangen einer Mutter, die außerstande ist, dem Kinde die nötige Pflege angedeihen zu lassen, das anderswo gut untergebrachte Kind in Pflege zu bekommen«, gewertet werden.60 Vernachlässigung lag bei mangelhafter Bekleidung und Ernährung der Verwaltungsbehörden der Freien und Hansestadt Hamburg ersichtlich. Vgl. zum Beispiel das Inhaltsverzeichnis der Jahresberichte der Verwaltungsbehörden der freien und Hansestadt Hamburg 1892. Hamburg 1893 [o. S.]. 58 Dennoch wurde in Hamburg – anders als im Großteil des Deutschen Reiches – an der Bezeichnung Zwangserziehung festgehalten, während ansonsten der Begriff der Fürsorgeerziehung gebräuchlich war. Vgl. Petersen / Vogt, Die hamburgischen Gesetze (wie Anm. 48), S. 39. Durch die Verwendung dieses Begriffes sollten – zumindest in Hinblick auf die Erziehung verwahrloster Kinder – »Konnotationen von Strafe und Stigma« vermieden werden. Vgl. Schmidt, Heike: Gefährliche und gefährdete Mädchen. Weibliche Devianz und die Anfänge der Zwangs- und Fürsorgeerziehung. Opladen 2002, S. 63. 59 Vgl. zum Begriff der Verwahrlosung u. a. Dickinson, Edward Ross: The Politics of German Child Welfare from the Empire to the Federal Republic. Cambridge 1996, S. 12, oder Blum-Geenen, Fürsorgeerziehung (wie Anm. 43), S. 39– 41. 60 Petersen / Vogt, Die hamburgischen Gesetze (wie Anm. 48), S. 42. Dies trifft auch für andere Fälle zu, in denen Eltern sich dem entgegenstellen, was ›objektiv‹ als das Beste für ihr Kind erscheint, z. B. einer Unterbringung von behinderten Kindern in einer geeigneten Anstalt, vgl. ebd. Ein Beispiel für einen solchen Fall ist in einem Pflegerbericht dokumentiert. Die Mutter hatte sich geweigert, ihren an epileptischen Anfällen leidenden Sohn in eine Pflegeeinrichtung zu geben, woraufhin ihr das Sorgerecht entzogen wurde. Vgl. Pflegerbericht. In: Blätter 5 (1906), S. 21–22. Ähnlich liegt auch ein Fall, in dem einem an Lungentuberkulose erkrankten Vater das Sorgerecht entzogen wurde, da dieser sich weigerte, in eine
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sowie bei ungenügender Erziehung und Beaufsichtigung des Kindes vor, während Alkoholismus oder Betteln als »ehrloses oder unsittliches Verhalten« angesehen wurden.61 All diese Umstände führten zu Situationen, in denen die Gefahr einer Verwahrlosung vorlag, rechtfertigten also die Einleitung eines Zwangserziehungsverfahrens. Wie die gesetzlichen Bestimmungen im Einzelnen ausgelegt wurden, kann unter anderem aus den in den Blättern veröffentlichten Berichten »Aus der Praxis« erschlossen werden. Sie zeigen exemplarisch, von welchen Kriterien sich die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Waisenhauskollegiums, in deren Händen die Aufgabe der Bewertung der Lebenssituation von Familien und ihrer potentiell gefährdenden Wirkung für die Kinder lag, in ihrer Arbeit leiten ließen.62 Ein immer wiederkehrendes Indiz der Verwahrlosung ist in den dort geschilderten Fällen zum Beispiel die Tatsache, dass die Mutter »in wilder Ehe lebt und damit das geistige Wohl ihrer Kinder gefährdet«.63 Auch wenn der frühere Lebenswandel und eventuelle Vorstrafen herangezogen wurden, um ein Urteil über den Charakter der Eltern zu fällen, sollte doch immer die gegenwärtige Lebenssituation der Eltern bewertet werden.64 Der frühere Lebenswandel der Eltern allein konnte nicht als Begründung der Gefahr der Verwahrlosung eines Kindes akzeptiert werden, insbesondere dann, wenn es sich z. B. um Fälle handelte, in denen die Mutter des Kindes nach einer Heirat darum bat, ihre Kinder wieder zu sich nehmen zu dürfen.65 In leichteren Fällen von Verwahrlosung, die hauptsächlich durch Unsauberkeit, Unordnung und ähnliche Verhaltensweisen geprägt waren, wurde zum Teil versucht, vor einer Entfernung der Kinder aus ihrer Familie durch andere »zur Abwendung der Gefahr erforderlich[e] Maßregeln« positiv auf die familiäre Situation einzuwirken.66 Zu
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Lungenheilanstalt zu gehen oder seine Kinder in Pflege zu geben. Diese Maßnahmen waren zur Vermeidung einer Ansteckung der Kinder angeordnet worden. Vgl. Aus der Praxis. Landgerichtliches Erkenntnis. In: Blätter 12 (1913), S. 20. Petersen / Vogt, Die hamburgischen Gesetze (wie Anm. 48), S. 43– 44. Dabei darf nicht übersehen werden, dass hier nur Berichte über bestimmte Einzelfälle zur Verfügung stehen, die von der Redaktion der vom Waisenhauskollegium herausgegebenen Zeitschrift gezielt ausgewählt wurden. In meiner Dissertation werde ich daher ergänzend dazu auch Einzelfallakten der im Waisenhaus oder in Pflegefamilien erzogenen Kinder und Jugendlichen in Hamburg heranziehen. Aus der Praxis. Beschluß der Vormundschaftsbehörde betreffend Zwangserziehung. In: Blätter 5 (1906), S. 9–10, hier S. 10. Vgl. Aus der Praxis. In: Blätter 6 (1907), S. 2–3, hier S. 3. Vgl. z. B. Aus der Praxis. Beschluß der Vormundschaftsbehörde. In: Blätter 7 (1908), S. 19–20. § 1666 BGB.
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diesen Maßnahmen gehörten z. B. wiederholte Kontrollbesuche, verbunden mit »freundlichen Ermahnungen«.67 In einem anderen Fall, in dem nur der an »Trunksucht« leidende Vater als eine Gefährdung für den Rest der Familie angesehen wurde, wurden die Kinder vorübergehend in die öffentliche Waisenpflege aufgenommen, während die Mutter sich wegen der Geburt ihres jüngsten Kindes im Krankenhaus befand. Während dieser Zeit konnte der zuständige Waisenpfleger den Vater zum Eintritt in eine Guttemplerloge und somit zur Alkoholabstinenz überreden. Eine »Erziehung der Kinder N. durch den Staat in Form der Zwangserziehung« konnte somit abgewendet werden.68 Gerade in solchen Fällen, in denen man nicht gleich zur Entziehung des Sorgerechts und der Fremdplatzierung, sondern zunächst zu anderen Maßnahmen griff, um die Kinder bei ihren Eltern belassen zu können, konnte es zu Konflikten zwischen dem Waisenhauskollegium auf der einen Seite und der Vormundschaftsbehörde bzw. der Allgemeinen Armenanstalt auf der anderen Seite kommen. Während die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Waisenhauskollegiums häufig unter pädagogischen Gesichtspunkten relativ schnell für eine Entfernung der Kinder aus den vorgefundenen schlechten Verhältnissen plädierten, wurde andererseits die Vormundschaftsbehörde dazu angehalten »zu prüfen, ob die Aberkennung der Elternrechte absolut erforderlich ist, um eine Verwahrlosung der Kinder zu verhüten, und ob nicht andere Maßnahmen geeignet sind, den Zweck, das Kind vor dem Verkommen zu schützen, zu erreichen.«69 Auf diese Weise fand eine Kopplung zwischen dem Funktionssystem Erziehung und dem System Familie statt, die rechtlich verankert wird. Auch die Allgemeine Armenanstalt (welche in den meisten Fällen für die Finanzierung der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in der Waisenpflege oder Zwangserziehung zuständig war70) machte die Unterbringung von Kindern in der Regel nicht von päd67 Der Erfolg solcher Maßnahmen wird dargestellt in Aus der Praxis. Erfolg fortgesetzter und eingehender Revisionen. In: Blätter 5 (1906), S. 34–35. 68 Vgl. zu diesem Fall Pflegerbericht. In: Blätter 8 (1909), S. 8. 69 Aus der Praxis. Eine Erkenntnis des Hanseatischen Oberlandesgerichts. In: Blätter 3 (1904), S. 28 f., hier S. 29. 70 Dies war auch dann der Fall, wenn Kinder nicht unter armenrechtlichen Gesichtspunkten, sondern wegen der Anordnung von Zwangserziehung in Fremderziehung kamen. Die Kosten für die Zwangserziehung sollten eigentlich durch die Erziehungsberechtigten erstattet werden. Wenn aber nach § 1666 BGB die Unterbringung des Kindes in einer Anstalt oder Pflegefamilie angeordnet worden war, diese aber von den Eltern nicht bezahlt werden konnte, wurde dies als Eintritt einer armenrechtlichen Hilfsbedürftigkeit gewertet. Vgl. Die Aberkennung der Elternrechte in ihrer Bedeutung für die öffentliche Armenpflege. In: Blätter 1 (1902), S. 37 f., hier S. 38.
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agogischen, sondern nur von rein armenrechtlichen Gesichtspunkten abhängig.71 Hier wird deutlich, dass jede der zuständigen Behörden ihre eigene Sichtweise auf das Geschehen hatte. Während das Waisenhauskollegium die Perspektive der Kinder einnahm und die Situation unter pädagogischen Gesichtspunkten beurteilte, wurden von Seiten der Vormundschaftsbehörde72 auch die Rechte der Eltern und von der Allgemeinen Armenanstalt die (finanzielle) Lage der gesamten Familie betrachtet. Inklusion und Exklusion Die inkludierenden und exkludierenden Effekte der Fremderziehung von Kindern und Jugendlichen sind natürlich einerseits von der gewählten Form der Fremdplatzierung abhängig, andererseits aber auch davon, ob Kinder aus armenrechtlichen Gründen oder aufgrund der Anordnung von Zwangserziehung in die Obhut des Waisenhauskollegiums kamen. Versteht man Exklusion als Nicht-Berücksichtigung von Personen in bestimmten Funktionsbereichen,73 kann im Allgemeinen die aus der Fremdplatzierung resultierende Trennung der Eltern von ihren Kindern als Exklusion der Kinder aus dem System Familie bezeichnet werden. Sobald die Kinder im Waisenhaus oder einer Pflegefamilie untergebracht waren, konnten die Eltern nur noch in sehr eingeschränktem Maße Einfluss auf die Sozialisation ihrer Kinder nehmen. Dies galt natürlich v. a. für diejenigen Eltern, denen im Rahmen eines Zwangserziehungsverfahrens das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen worden war, besonders nachdem – wie oben ausgeführt – durch die Neufassung des Gesetzes von 1907 die Möglichkeiten der Verhängung von Zwangserziehung ausgedehnt wurden und diese zunehmend als Zwangsmaßnahme gegen die Eltern verstanden wurde. Es traf aber auch für diejenigen Eltern zu, deren Kinder aus armenrechtlichen Gründen, also auf Antrag oder zumindest mit Billigung der Eltern, in Fremderziehung untergebracht waren. Diese Gruppe von Eltern behielt zwar das Sorgerecht und hatte daher z. B. das Recht, einen Antrag auf Rückgabe ihrer Kinder zu stellen.74 Auch Dienst- oder Lehrverträge für solche 71 Die Aberkennung der Elternrechte (wie Anm. 70), S. 38. 72 Zur Arbeit der Hamburger Vormundschaftsbehörde vgl. Richter, Johannes: »Gute Kinder schlechter Eltern«. Familienleben, Jugendfürsorge und Sorgerechtsentzug in Hamburg. 1884–1914. Wiesbaden 2011. 73 Vgl. Bohn, Inklusions- und Exklusionsfiguren (wie Anm. 18), S. 33. 74 Allerdings wurde davon ausgegangen, dass die Rechte der Eltern ruhten, während das Kind in der vollständigen Fürsorge des Waisenhauskollegiums war. Vgl. zu den Rechten der Eltern Über die familienrechtlichen Verhältnisse der von der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge beaufsichtigten Minderjährigen. In: Blätter 9 (1910), S. 24–26, insbesondere S. 24.
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Zöglinge konnten nur mit Einwilligung der Eltern geschlossen werden.75 Auf die tägliche Sozialisation ihrer Kinder hatten die Eltern dennoch wenig Einfluss.76 Trotzdem kann nicht pauschal von einer vollständigen Exklusion der Kinder aus ihren Herkunftsfamilien gesprochen werden, da familiäre Kommunikation – wenn auch maßgeblich eingeschränkt – mitunter aufrechterhalten wurde. Dies gilt erst recht für die oben beschriebenen Fälle, in denen die Kinder im Haushalt ihrer Eltern verbleiben konnten und die Familie nur unter strengere Aufsicht gestellt wurde. Diese stellen allerdings einen Sonderfall dar, auf den hier nicht näher eingegangen werden kann. Aus Sicht der Kinder stellte sich die Situation bei der Trennung von den Eltern noch deutlich ambivalenter dar. Für sie begann der Übertritt in die öffentliche Waisenpflege in der Regel mit der Einweisung in die Beobachtungsabteilung des Waisenhauses, wo die Kinder einige Wochen lang untergebracht wurden, bis entschieden worden war, ob sie in eine Pflegefamilie kamen oder im Waisenhaus blieben bzw. in eine andere Anstalt überwiesen wurden.77 Dieses Herausreißen der Kinder aus ihren gewohnten Lebenszusammenhängen in Familie, Nachbarschaft und Schule kann als exkludierender Vorgang verstanden werden. Gleichzeitig ging das Leben in einer geschlossenen Anstalt wie dem Waisenhaus mit der Exklusion aus weiteren gesellschaftlichen Funktionssystemen einher. Auch auf Waisenhäuser und Erziehungsanstalten trafen die Kriterien totaler Institutionen, wie sie von Erving Goffman entwickelt wurden, zumindest zum Teil zu. Diese Kriterien lauten: 1. Alle Angelegenheiten des Lebens finden an ein und derselben Stelle, unter ein und derselben Autorität statt. 2. Die Mitglieder der Institution führen alle Phasen ihrer täglichen Arbeit in unmittelbarer Gesellschaft einer großen Gruppe von Schicksalsgenossen aus, wobei allen die gleiche Behandlung zuteil wird und alle die gleiche Tätigkeit gemeinsam verrichten müssen.
75 Die Direktion des Waisenhauses: Die vormundschaftliche Stellung des Waisenhaus-Collegiums zu seinen Zöglingen. In: Blätter 1 (1902), S. 2. 76 Dies konnte zu Konflikten zwischen den Eltern der Kinder und der Leitung der Erziehungsanstalt führen. Vgl. dazu am Beispiel des Waisenhauses der Vereinigten Hospitien in Trier Brandes, Katharina / Thielen, Eva: Familienideale in Antragsschreiben in Not geratener Eltern im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Die ›andere‹ Familie. Repräsentationskritische Analysen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 18), hg. v. Arbeitskreis Repräsentationen des SFB 600. Frankfurt a. M. [u. a.] 2013, S. 417– 439, hier S. 435– 436. 77 Vgl. zur Aufnahmestation des Waisenhauses Das Verwaltungsgebäude des Waisenhauskollegiums. In: Blätter 7 (1908), S. 28–29, sowie Petersen, Hamburgische Öffentliche Jugendfürsorge (wie Anm. 50), S. 70–71.
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3. Alle Phasen des Arbeitstages sind exakt geplant, eine geht zu einem vorher bestimmten Zeitpunkt in die nächste über, und die ganze Folge der Tätigkeiten wird von oben durch ein System expliziter formaler Regeln und durch einen Stab von Funktionären vorgeschrieben. 4. Die verschiedenen erzwungenen Tätigkeiten werden in einem einzigen rationalen Plan vereinigt, der angeblich dazu dient, die offiziellen Ziele der Institution zu erreichen.78
Auch wenn hier aus Platzgründen nicht im Einzelnen dargelegt werden kann, in welcher Art und Weise diese Kriterien auch auf das Hamburger Waisenhaus zutreffen, lässt sich dennoch sagen, dass nicht nur das erste Kriterium der Einheit des Ortes für alle Bereiche des Lebens zutrifft. Auch das Merkmal der Beschränkung des Kontakts mit der Außenwelt findet sich im Hamburger Waisenhaus.79 Dass die Kriterien der Gemeinschaft von Schicksalsgenossen und des durch eine Hausordnung geregelten Tagesablaufs in einer Erziehungsanstalt wiederzufinden sind, ist wohl unzweifelhaft. Das Waisenhaus lässt sich auch insofern als ›totale Institution‹ beschreiben, als es die »absichtslose Sozialisation«,80 wie sie im Rahmen familiärer Kommunikation erfolgt, selbst übernahm und als durchgeplanten Tages- und Kommunikationsablauf auf die Insassen anwandte. Dadurch drohte die Gefahr, die Devianz, die es zu bekämpfen galt, gerade erst hervorzurufen, denn Sozialisation sollte »natürliche und soziale Verhaltensbedingungen als Selbstverständlichkeiten«81 vermitteln, was unter den Bedingungen der Anstalt gerade nicht gegeben war. Die Substitution der Inklusion in die Familie durch die Ersatz-Inklusion in die Anstalt konnte dadurch also Probleme für die Selbstkonstitution der Betroffenen als Person nach sich ziehen. Die Erziehung innerhalb der Anstalt trägt spezifische totalitäre Züge, weil durch die personenbezogene Aktenführung ›Lebensläufe‹ der einzelnen Insassen teilweise bis zum 21. Lebensjahr konstruiert wurden, ihre Lebensführung einer strengen Kontrolle unterzogen und ausgehend davon Entscheidungen über deren Platzierung in Ersatz-Familien oder Arbeitsverhältnisse getroffen wurden.82 »Die Erziehung schreibt keinen Lebenslauf vor. Sie kann nicht beanspruchen, die Lebensführung ihrer Zöglinge zu kontrollieren. 78 Goffman, Erving: Über die Merkmale totaler Institutionen. In: Ders.: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a. M. 1973, S. 13–77, hier S. 17. 79 Vgl. Goffman, Merkmale totaler Institutionen (wie Anm. 78), S. 15 f. 80 Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 3), S. 54. 81 Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 3), S. 53. 82 Zur Macht von personenbezogenen Verwaltungsakten vgl. zum Beispiel die Beiträge in Kaufmann, Claudia (Hg.): Was Akten bewirken können. Integrationsund Ausschlussprozesse eines Verwaltungsvorgangs. Zürich 2008.
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Das wäre ›totalitäre‹ Erziehung und mit gesellschaftlicher Differenzierung, also auch mit der Ausdifferenzierung des Erziehungssystems, nicht zu vereinbaren.«83 Genau das geschah jedoch in den Fürsorgeeinrichtungen. Als Selbstbeschreibung der Institution kann die ›Rettung‹ der Kinder aus ihrer früheren Lebenssituation und die Erziehung der Kinder zu ›nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft‹ angesehen werden. Damit wurde den Kindern gleichzeitig mit der Exklusion aus ihrer Herkunftsfamilie das Angebot der Inklusion in eine andere Gemeinschaft gemacht, das, ganz im Sinne des Systems Erziehung, »Möglichkeiten eines Lebenslaufs erschließen« sowie »Wissen« und »Informationen« bereitstellen sollte,84 was für zukünftige Inklusionen – etwa in Wirtschaft – sachdienlich sein sollte. Luhmann hat darauf hingewiesen, dass sowohl Sozialisation als auch Erziehung auf die Möglichkeit des ›Widerstandes‹ angewiesen sind. Die Person wird in der modernen Gesellschaft als Individuum aufgefasst, und der »Weg des Widerstandes ist besonders deshalb attraktiv, weil er Chancen bietet, Individualität zu entwickeln« – im Unterschied zum »bloßen Copieren von Kulturmustern«.85 Die Sozialisations- und Erziehungsprogramme der Anstalten sahen aber kaum solche Spielräume individuellen Widerstands vor; es liegt nahe, dass dieser vielmehr als zu bekämpfende ›Devianz‹ aufgefasst wurde. Kontrolle und Normierung der Insassen können als versuchter Eingriff in ihre »Selbstsozialisation«86 aufgefasst werden, und dies wirkte sich potentiell kontraproduktiv für die individuelle Selbstkonstitution als vielfach adressierbare Person aus. Dies gilt weniger für diejenigen Kinder, die in Pflegefamilien untergebracht wurden. Sie konnten in ihrer neuen Familie so wie andere Kinder auch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und besuchten zum Beispiel eine normale öffentliche Schule.87 Wie der Aufenthalt in einer Pflegefamilie von den betroffenen Kindern aber tatsächlich erlebt wurde, lässt sich anhand der in Hamburg erhaltenen Quellen leider nicht rekonstruieren. In der Schweiz durchgeführte Befragungen von Personen, die in ihrer Kindheit in den 1920er bis 1950er Jahren als sogenannte Verdingkinder in Pflegefamilien untergebracht waren, lassen aber vermuten, dass auch für viele der Hamburger Pflegekinder ihre Erfahrungen in der Pflegefamilie nicht gerade von einem Gefühl der Inklusion geprägt gewesen sein dürften.88 83 84 85 86 87
Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 3), S. 101. Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 3), S. 101. Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 3), S. 49. Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 3), S. 52. Allerdings gelten auch für die in Familienpflege untergebrachten Kinder die Überlegungen zur Aktenführung und zur Kontrolle des Lebenslaufes bis zum 21. Lebensjahr.
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Fazit Die (temporäre) Exklusion der Kinder aus den Herkunftsfamilien stellt – so sehr sie auch aufgrund extremer Armut oder anderer gravierender Probleme geboten war – einen schwerwiegenden biographischen Einschnitt dar, weil die Familie in der funktional differenzierten Gesellschaft als einziges Funktionssystem eine Totalinklusion der Person verspricht. Insgesamt lässt sich für die Fremderziehung sagen, dass (laut Selbstbeschreibung) die Totalinklusion der Kinder in die Anstalt dabei mit der Absicht der Herstellung langfristiger Adressierbarkeit vonseiten anderer gesellschaftlicher Systeme begründet wurde.89 Um dieses Ziel zu erreichen, wurde allerdings das Mittel der Inklusion in das Waisenhaus als einer Anstalt, die ›Erziehung‹ und ›Sozialisation‹ in sich vereint und zudem Züge einer totalen Institution trägt, gewählt. Zudem stand mit der Exklusion aus den Herkunftsfamilien eine Negativ-Selektion der Kinder als ›ungleich‹ am Anfang der erzieherischen Maßnahmen, die eigentlich ›Ungleichheit‹ nur nach systemspezifischen Kriterien – etwa schulische Leistungen – feststellen sollten. Die Kinder sollten »in die Außenwelt integriert werden [...], während diese Welt ihnen jedoch systematisch vorenthalten« wurde.90 Im Falle der Pflegekinder zeigte die Exklusion aus den Herkunftsfamilien aufgrund der angestrebten Inklusion in Ersatz-Familien und der damit verbundenen größeren Möglichkeiten des Widerstands und der Spielräume der ›Selbsterziehung‹ vergleichsweise geringere Exklusionseffekte. Insgesamt wurden die Kinder und Jugendlichen aber einer disziplinierenden Überwachung und Kontrolle unterworfen, wie sie Foucault in seinem Werk Überwachen und Strafen beschreibt.91 88 In den in Leuenberger, Marco / Seglias, Loretta (Hg.): Versorgt und vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen. Zürich 2008, zusammengestellten Lebenserinnerungen von Verdingkindern ist häufig von Misshandlungen, einer hohen Arbeitsbelastung oder psychisch belastenden Lebensumständen die Rede. Ähnliches gilt auch für die in den vielen Projekten, die momentan mit der Aufarbeitung der Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren beschäftigt sind, gesammelten Lebenserinnerungen. Vgl. dazu z. B. Wensierski, Schläge (wie Anm. 1). Es ist wahrscheinlich, dass auch die im Untersuchungszeitraum in Fremderziehung untergebrachten Kinder und Jugendlichen ähnliche Erfahrungen gemacht haben. 89 Vgl. dazu Hahn, Alois: »Exklusion legitimiert sich hier also dadurch, dass sie nicht nur die Braven vor den Sündern schützt, sondern dass sie umgekehrt auch den Sündern selbst dient. [. . .] Eigentlich müsste der Exkludierte froh sein über seine Ausschließung.« Hahn, Exklusion (wie Anm. 20), S. 77. 90 Goffman, Merkmale totaler Institutionen (wie Anm. 78), S. 24. 91 Nach Sven Opitz werden Disziplinarinstitutionen wie z. B. Erziehungsanstalten dabei, indem »sie die Körper ihrer Insassen festsetzen und deren Träger mit einem persönlichen Profil ausstatten, das die Möglichkeiten einschränkt, in anderen
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Getragen wurde dies auch durch die umfangreiche Aktenführung über die Kinder und ihre Familien, die mit der Berichterstattung über die Verhältnisse in den Herkunftsfamilien einsetzte. Darauf folgten die Berichte der Vertrauensmänner der Behörde (häufig Pfarrer) über das Betragen der Kinder in ihren Pflegefamilien; dazu gehörten auch die regelmäßigen Gutachten der Vertrauensmänner über die Jugendlichen nach Ende der Schulzeit, die sich auf die Dienst- und Lehrzeit der Pflegekinder bezogen.92 Diese Organisation des Funktionssystems Erziehung sorgte also (gemäß seiner Aufgabe) dafür, dass den Pflegekindern und jungen Erwachsenen Wissen vermittelt wurde, zugleich brachte sie aber selbst Wissen über die einzelnen Individuen hervor, kontrollierte und regulierte sie, und stellte Versuche des Widerstands – die im ›Normalfall‹ Individualität begründen – unter Devianzverdacht. Obgleich für die Zeit nach dem Erreichen der Volljährigkeit wenig Material vorliegt, liegt es nahe, dass ein ehemaliges Pflegekind daher zumindest schwerer »mit seinem Personsein zurechtkommt«,93 was zumindest als ein potentieller Exklusionseffekt der Anstaltserziehung gelten kann. Während in der bisherigen Forschung häufig vor allem die Perspektive der betroffenen Kinder und Jugendlichen eingenommen wurde,94 konnten hier mit Hilfe der Analysekategorie Inklusion/Exklusion Familie, Erziehung und Sozialisation sowie die Hamburger Jugendfürsorge als Organisation des Funktionssystems Erziehung gemeinsam in den Blick genommen und hinsichtlich ihres Zusammenwirkens auf die gesellschaftliche Situierung der fremdplatzierten Kinder und ihrer Adressierbarkeit als Personen analysiert werden.
sozialen Bereichen anschlussfähig zu kommunizieren, [...] durch die Regulierung der Inklusionschancen zu Exklusionsagenturen«. Vgl. Opitz, Topologie des Außen (wie Anm. 27), S. 48 (Herv. im Original; K. B.). 92 Zur Aufgabe der Vertrauensmänner bei der Überwachung der Erziehung der Zöglinge vgl. Jahresbericht des Waisenhaus-Collegiums für das Jahr 1892 (wie Anm. 38), S. 5 f. 93 Luhmann, Erziehungssystem (wie Anm. 3), S. 38. 94 Dies gilt besonders für die deutschsprachige Forschung und trifft vor allem auf Forschungsprojekte zu, die sich mit der Untersuchung der Fremderziehung von heute noch lebenden Betroffenen befassen und dabei auch das Ziel des Erhalts von Entschädigungen verfolgen. In anderen Fällen lässt sich dieses Phänomen aber auch dadurch erklären, dass über die Eltern der in Anstalten versorgten Kinder relativ wenige Informationen aus den Quellen zu erschließen sind. In der britischen Forschung dagegen gibt es auch Studien, die die Situation der gesamten Familie betrachten, so z. B. Behlmer, George K.: Friends of the Family. The English Home and its Guardians. 1850–1940. Stanford 1998.
Inklusion und Exklusion in sozialräumlicher Perspektive: Raumordnungspolitik als Instrument sozialer Ein- und Ausgrenzung in ländlichen Gebieten der frühen BRD Susanne Hahn
1. Exklusion, Inklusion und Raum Eines der Versprechen der Moderne lautete, dass Lebenslagen und Lebenschancen zukünftig unabhängig von zufälliger räumlicher Zugehörigkeit seien. Jeder sollte dort leben können, wo seine Entfaltungschancen am größten seien, und benachteiligte Gebiete sollten durch gezielte Förderung auf das vorherrschende Niveau angehoben werden.1 Deshalb gehörte es in der Bundesrepublik zum Verfassungsauftrag, einen Ausgleich der Länder herbeizuführen, um die Entstehung ›rückständiger Regionen‹ zu verhindern. Die Raumordnungspolitik sollte auf nationaler Ebene diesen Ausgleich schaffen. Das galt nicht nur für die Angleichung der Lebensqualität aller Bundesländer, sondern auch und besonders für die Überwindung des StadtLand-Gefälles. Die damit verbundenen Inklusionshoffnungen, daneben aber auch die ungeplanten Exklusionseffekte sollen im Folgenden untersucht werden. Dabei soll mittels der Verknüpfung von Systemtheorie und Ungleichheitstheorien versucht werden, Inklusion/Exklusion gewinnbringend zur Klärung des Zusammenhangs zwischen Lebensraum und sozialer Ungleichheit zu nutzen. Die luhmannsche Systemtheorie als Theorie mit universalistischem Anspruch bot die Möglichkeit, Probleme und Phänomene, die sich in der Praxis ergaben, zu beschreiben, indem der Einzelne als ›Exklusionsindividuum‹ gedacht wurde, das als ›Person‹ in die Organisationen einzelner Funktionssysteme sowie über Teilnahme an systemspezifischer Kommunikation inkludiert werden kann. Wenn soziale Systeme aus »Kommunikationen und nichts anderem als Kommunikationen«2 bestehen, spielt die Kategorie Raum für deren Erklärung zunächst keine Rolle; diese Gesellschaftstheorie ist »in der Bestimmung der 1 Schroer, Markus: Jenseits funktionaler Differenzierung? Räumliche Ungleichheiten in der Weltgesellschaft. In: Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.): Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede. München 2006, S. 862–875, hier S. 862. 2 Niklas Luhmann in einem Brief vom 12. 10. 1983 an Helmut Klüter, zit. n. Klüter, Helmut: Raum als Element sozialer Kommunikation. Gießen 1986, S. 54 f.
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Gesellschaftsgrenzen nicht auf Raum und Zeit angewiesen«.3 Erst mit der »Entdeckung«, dass es »doch Exklusionen gibt, und zwar massenhaft und in einer Art von Elend, die sich der Beschreibung entzieht«,4 wurde es notwendig, Raumeffekte als mögliche Faktoren, die Inklusions- bzw. vor allem Exklusionskopplungen begünstigen, mit zu bedenken.5 Die Analyse der Inklusions-/Exklusionseffekte der Raumordnungspolitik wird sich so zum einen auf die klassische Systemtheorie stützen, nämlich dort, wo gezeigt werden soll, in welche Funktionssysteme inkludiert bzw. aus welchen exkludiert wurde, zum anderen auf den von Kronauer formulierten Exklusionsbegriff. Dabei kann an Ansätze angeschlossen werden, die System- und Ungleichheitstheorien im Hinblick auf räumliche Exklusionseffekte (etwa Schroer 2004) bereits verknüpft haben.6 Offenkundig bestehen – zumindest für strukturell benachteiligte Regionen – Korrelationen zwischen Geburts- bzw. Wohnort und sozialer Ungleichheit, weil die räumlichen Strukturen Einfluss auf den Zugang zu Arbeit, Bildung und Gesundheit nehmen. Vor diesem Hintergrund kann die Auseinandersetzung mit den Raumordnungspolitiken der BRD in den 1960er Jahren Auskünfte darüber geben, inwiefern räumliche Inklusions-/Exklusionseffekte bestanden und sich diese als ›Ungleichheit‹ beschreiben lassen. Im Diskurs der Raumordnungsexperten und Politiker galten die ländlichen Räume der Bundesrepublik als »rückständig«, »unterentwickelt« oder »schwach«; diese Charakterisierung statuierte raumspezifische Gemeinsamkeiten und schloss diese Räume zugleich von der Teilhabe an der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung der 60er Jahre aus. Der ländlichen Bevölkerung wurde ›Passivität‹ unterstellt, sie sei ›Opfer‹ von Rückständigkeit und erleide einen selbst verschuldeten Ausschluss. Bei der Untersuchung der Semantiken und Praktiken der Inklusion/Exklusion, die sich hier vollzogen, sind vor allem zwei Funktionssysteme zu bedenken: Wirtschaft und Politik. Man wünschte sich ökonomische Prosperität im Sinne eines Anschlusses an das bundesrepublikanische Wohlstandsniveau. Erreicht werden sollte dies durch politische Maßnahmen. 3 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1998, S. 30, Anm. 24. 4 Luhmann, Niklas: Jenseits von Barbarei. In: Ders. (Hg.): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4. Frankfurt a. M. 1999, S. 138–150, hier S. 147. 5 Zur Kritik am ›zweiten‹ Exklusionsbegriff Luhmanns vgl. Kronauer, Martin: Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt a. M. 2010. Kronauer hat versucht, einen Exklusionsbegriff zu prägen, der soziale Ungleichheit quantifiziert (vgl. ebd., S. 141) und die Gleichzeitigkeit von »Drinnen und Draußen« (vgl. ebd., S. 243 f.) mit bedenkt. 6 Schroer, Jenseits (wie Anm. 1), S. 871.
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Hier zeigte sich bereits eine problematische Seite der raumplanerischen Bemühungen, die möglicherweise auch zu ihrem weitgehenden Scheitern im Untersuchungszeitraum führten: Die für Raumordnung zuständigen Stellen in Ministerien, in Landesverwaltungen und auf der Ebene der Kommunen führten eine politische Kommunikation über die Inklusion ländlicher Bevölkerungsanteile in die Wirtschaft. Dem Selbstverständnis dieser politischen Kommunikation lag die Eingangsprämisse zugrunde, dass die bestehende Exklusionsgefahr erstens einen räumlichen Bezug hätte und zweitens mit dem Selbstentwurf vieler in diesem Raum lebenden Personen zusammenhinge. Der ländliche Raum sei für die Bauern identitätsstiftend, und so präge seine Rückständigkeit stets die Selbstentwürfe der darin lebenden Bevölkerung dahingehend, dass ihre Inklusion in das System der Wirtschaft sich zeitlich verzögere oder ganz ausbliebe. Daran fällt zweierlei auf: Erstens, dass durch die Verlagerung der Verantwortung auf die Betroffenen eine Absicherung für den Fall des politischen Scheiterns geschaffen wurde – denn gegen das Beharren auf einem rückwärtsgewandten Selbstentwurf, der Exklusionseffekte nach sich zog, konnte die Politik wenig ausrichten. Zweitens fand hier eine politische Kommunikation darüber statt, wie die Inklusion der ländlichen Bevölkerung in die Organisationen der Wirtschaft gesteuert werden könnte. Dies zeugte zunächst davon, dass die Politik erkannt hatte, dass, wenn große Teile der Landbevölkerung keine Leistungsrolle in der Wirtschaft einnahmen, möglicherweise die Gefahr einer Exklusionsspirale bestand: [. . .] keine Arbeit, kein Geldeinkommen, kein Ausweis, keine stabilen Intimbeziehungen, kein Zugang zu Verträgen und zu gerichtlichem Rechtsschutz, keine Möglichkeit, politische Wahlkampagnen von Karnevalsveranstaltungen zu unterscheiden, Analphabetentum und medizinische wie ernährungsmäßige Unterversorgung [...].7
Laut Luhmann beobachtete die Politik das Funktionssystem Wirtschaft unter anderem mit Blick darauf, inwiefern diese den »Unterschied von reich und arm« hervorbringen würde, »wobei die Armen, nicht aber die Reichen der Hilfe bedürften«.8 In diesem Sinne handelte die Raumordnungspolitik, wenn sie mit Subventionen und infrastrukturellen Maßnahmen wirtschaftliche Prosperität bewirken wollte. So kann Politik das Funktionssystem Wirtschaft zwar irritieren, indem es bestimmte Anreize setzt oder Verhaltensweisen etwa durch Entzug von Subventionen bestraft, aber sie kann nicht stellvertretend für die Wirtschaft operieren. »Ob und wie sich Subventionen auswirken, entscheidet die Wirtschaft (und allenfalls 7 Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 3), S. 630. 8 Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2002, S. 263.
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durch sie vermittelt, der räumliche Standort).«9 Dass Politik nicht Entscheidungen treffen kann, die den Organisationen der Wirtschaft obliegen, liegt in der operativen Geschlossenheit der Funktionssysteme begründet. Hinzu kommt, dass »[d]ie Einzeleffekte einzelner dieser Maßnahmen [...] angesichts der Autopoiesis und der Komplexität des ökonomischen Systems schwer zu bestimmen [sind]«.10 Dadurch werden auch schon die Grenzen der Reichweite raumordnungspolitischer Bemühungen erkennbar. Besondere Schwierigkeiten ergeben sich gerade daraus, dass eine räumliche Fokussierung gegeben ist: Nicht nur, dass die Operationen des Funktionssystems Wirtschaft beeinflusst werden sollen, sie sollen auch an einen bestimmten Raum gebunden werden: »In der offiziellen Perspektive von Raum- und Regionalpolitik [liegt] der Akzent [...] auf Entwicklungsplanung bzw. auf Ausgleich der Benachteiligung bestimmter Regionen. Aber Kommunikation ist an sich keine raumgebundene Operation«11 – und über Standorte entscheidet die Wirtschaft nach ihrem eigenen Code. Die Raumordnungspolitik lief daher Gefahr, sich in einer eigenen Nischenkommunikation zu verstricken, die sich – und zum Teil die anvisierten Räume – von den Regeln der funktionalen Differenzierung ausnahm und lediglich sekundäre Inklusionseffekte mit sich brachte. Mit der Raumbezogenheit »gewinnen aber auch weniger willkommene Aspekte an Gewicht: Häufigkeit der Kontakte, Rücksichten auf Netzwerke, persönliche Bekanntschaft, Verfilzung von Interessen. Regionalförderungsprogramme der offiziellen Politik mögen diesen interaktiven Aspekt verstärken«.12 Davon ausgehend verfolgt die vorliegende Untersuchung der Raumordnungspolitik der 1960er Jahre die These, dass diese schon aufgrund ihrer Anlage und der gewählten Ziele und Maßnahmen entgegen ihrer Selbstbeschreibung nur bedingt Inklusion in Wirtschaft, dafür aber spezifische Exklusionseffekte mit sich brachte. 2. Die Raumordnung in der Bundesrepublik Deutschland Die Raumordnungspolitik der Bundesrepublik orientierte sich seit 1961 an den Gutachten eines Sachverständigenausschusses, die festlegten, dass sie Aufgabe des Staates sei. Dabei sei sie »nicht eine Aufgabe bestimmter Ressorts oder Dienststellen, sondern steht in der Verantwortung aller derjenigen, denen im Staat Entscheidungen der Gesetzgebung, Regierung oder 9 10 11 12
Luhmann, Luhmann, Luhmann, Luhmann,
Die Die Die Die
Politik Politik Politik Politik
(wie (wie (wie (wie
Anm. 8), Anm. 8), Anm. 8), Anm. 8),
S. 263. S. 386. S. 263. S. 263.
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Verwaltung anvertraut sind«.13 Raumordnungspolitik kann als institutionell ausgehandelter Prozess betrachtet werden. Inklusions- und Exklusionsmechanismen müssen deshalb in der Auseinandersetzung mit Raumordnung als ein Prozess aufgefasst werden, der durch Institutionen gesteuert wird. Armutslagen seien, so Kronauer, abhängig von institutionellen Politikund Handlungsstrategien, die von gesellschaftlichen »Zentren« getragen werden, die ausgrenzten: »Unternehmenszentralen, die darüber entscheiden, welche Arbeitsplätze geschaffen und vernichtet werden; die Auswahlkriterien, Leistungsbemessungen und Zuteilungspraktiken sozialstaatlicher Institutionen; die Wirtschafts- und Sozialpolitik von Regierungen«.14 Im hiesigen Untersuchungszusammenhang übernahmen die Raumordnungsexperten die Rolle eines politischen »Zentrums«, das darüber befand, welche ländlichen Regionen förderungswürdig waren und in welchem Maße eine Abwanderung von Bevölkerungsteilen stattfinden durfte. Raumpolitiken können in diesem Zusammenhang als »absichtsvoller Eingriff in den Sozialraum mit dem Zweck des Ausschlusses bzw. Einschlusses in [die] Gesellschaft«15 beschrieben werden. »Solche Raumpolitiken richten sich typischerweise darauf, Raumordnungen zu schaffen bzw. zu erhalten – enthalten also Ansprüche auf Dauerhaftigkeit und haben institutionelle und diskursive Verfestigungen zur Folge.«16 Die Raumordnungspolitik der Bundesrepublik sollte ländliche Regionen wirtschaftlich fördern und die Lebensqualität verbessern. So wurde 1963 im ersten Raumordnungsbericht der Bundesregierung deutlich gemacht, dass die Raumordnungspolitik einem Ausgleich im Sinne sozialer Gerechtigkeit und dem Prinzip der freiheitlichen Entwicklung – damals zusammengefasst unter dem Begriff der sozialen Marktwirtschaft – verpflichtet sei.17 Fraglich ist jedoch, ob diese beiden Zielsetzungen miteinander verträglich waren, oder nicht vielmehr die Orientierung an der sozialen Marktwirtschaft unter der ländlichen Bevölkerung Exklusionseffekte zeitigte – zumal, wie weiter oben dargelegt, die Politik ohnehin nicht stellvertretend für Wirtschaft operieren konnte. 13 Die Raumordnung in der Bundesrepublik. Stuttgart 1961, S. 65. 14 Kronauer, Martin: Inklusion – Exklusion: ein Klärungsversuch. Vortrag auf dem 10. Forum Weiterbildung des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung, Bonn, 8. Oktober 2007 (www.die-bonn.de/doks/kronauer0701.pdf [20.09.2012]). 15 Raphael, Lutz: Grenzen der Inklusion / Exklusion: sozialräumliche Regulierungen von Armut und Fremdheit im Europa der Neuzeit, 2010, Vortrag, S. 3 (www. exc16.de/cms/uploads/media/Diskussionsbeitrag Raphael NF9.pdf [20.09.2012]). 16 Raphael, Grenzen (wie Anm. 15), S. 3. 17 Strubelt, Wendelin: Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als Element der sozialen Integration. In: Kecskes, Robert (Hg.): Angewandte Soziologie. Wiesbaden 2004, S. 247–285, hier S. 250.
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Was galt als Maßstab für die Feststellung eines raumordnungspolitischen Handlungsbedarfs? Hier wurde lediglich die Abweichung der Lebensverhältnisse vom Bundesdurchschnitt genannt, die ländlichen Räumen ohne empirische Prüfung unterstellt wurde. ›Lebensqualität‹ blieb dabei ein unscharfer Begriff; es blieb im Untersuchungszeitraum noch weitgehend unklar, welchen Ansprüchen er genügen musste. So konfrontierte die Raumordnungspolitik gewissermaßen die ›rückständige‹, armutsgefährdete Bevölkerung ländlicher Gebiete mit äußeren Anforderungen an deren Lebensführung, denen sie nicht entsprechen wollte oder konnte, aber eigentlich musste, um ›vollständig‹ dazuzugehören. Auch im zweiten Raumordnungsbericht, der 1966 erschien, wurde lediglich formuliert, dass es erstrebenswert sei, die noch immer großen Unterschiede zwischen den Ballungsräumen und den ländlichen Regionen »durch die Entwicklung der ländlichen und der zurückgebliebenen Gebiete«18 abzubauen. Auch in diesem Bericht ging es um allgemeine Ziele, die vor allem aus regionalen Unterschieden abgeleitet wurden. Hinweise darauf, dass auch der Anspruch der ländlichen Bevölkerung auf individuelle Chancengleichheit Berücksichtigung fände, gab es nicht. Im Vordergrund stand auch hier der räumliche Ausgleich im Sinne wirtschaftlichen Ausgleichs ganzer Landstriche im Sinne einer »gesamtgesellschaftlich orientierten Integrationsstrategie«.19 Wirtschaftliches Wachstum wurde mit einer Verbesserung der Lebensqualität gleichgesetzt. Die Raumordnungsexperten der Bundesrepublik behaupteten nun, dass Raumordnung nicht mehr nur als »technische Planung«, sondern als eine »praktische, d. h. politische und sozialverantwortliche Aufgabe«20 verstanden wurde. Erkannt wurde also bereits, dass man bei der praktischen Umsetzung der geplanten Maßnahmen, die Wirtschaftswachstum befördern sollten, auf Schwierigkeiten stoßen werde. Im dritten Bericht von 1968 wird der Versuch erkennbar, sich – nicht zuletzt angesichts politischer und wirtschaftlicher Veränderungen – nun auch den sozialen und individuellen Gleichheitsansprüchen ländlicher Bevölkerungsgruppen anzunehmen. So finden sich Untersuchungen über Geburtenhäufigkeiten und Wanderungsbewegungen, die darüber Auskunft gaben, dass ländliche Gebiete oft eine hohe Geburtenhäufigkeit verzeichneten, gleichzeitig aber Abwanderungsgebiete seien, da sie »aus naturräumlichen und ökonomischen Gründen oft keine ausreichende Existenzgrundlage 18 Raumordnungsbericht 1966 der Bundesregierung, S. 37. 19 Strubelt, Gleichwertigkeit (wie Anm. 17), S. 252. 20 Ante, Ulrich / Wille, Volker: Raumordnung, Landes- und Regionalplanung. In: Zur geschichtlichen Entwicklung der Raumordnung, hg. v. d. Akademie für Raumforschung und Landesplanung. Hannover 1991, S. 430– 439, hier S. 430 f.
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schaffen«21 könnten. Um diese Wanderungen zu beeinflussen, wurden als Maßnahmen neben verstärkten Infrastrukturinvestitionen Untersuchungen der »Verhaltensweisen der Bevölkerung«22 vorgeschlagen. Dieser Gedanke wurde jedoch bald wieder aufgegeben. Einerseits hatten solche biopolitischen Erhebungen auch problematische Seiten; andererseits boten sie Möglichkeiten, politische Planungen nicht an abstrakten Vorstellungen von ›Raum‹, sondern an den Bedürfnissen und Lebensgewohnheiten der Menschen auszurichten. Die Raumplanungspolitik ging weiterhin nicht von Bevölkerungsinteressen aus, sondern verstand unter Sozialverantwortung den Ausgleich zwischen ›wirtschaftsschwachen‹, vor allem ländlichen, und ›entwickelten‹, urbanen Gebieten. Die Raumordnungsberichte der Jahre 1963 bis 1969 sprechen davon, dass schwach strukturierte Räume an Infra- und Wirtschaftsstrukturen angebunden werden sollten, um eine Abwanderung weiter Bevölkerungsteile aus den ländlichen Regionen zu verhindern. Es wurde ein Ausgleich von Regionen mit traditionellen Entwicklungskonzepten, die von den Menschen und ihren Bedürfnissen absah und sich an einer abstrakt gedachten wirtschaftlichen ›Gleichheit‹ orientierte, angestrebt. Das änderte sich grundlegend zu Beginn der 70er Jahre: Im fünften Raumordnungsbericht von 1972 ging es darum, »allen Menschen in allen Teilen des Bundesgebietes gleichwertigere und bessere Lebenschancen zu schaffen«.23 Hier wurde nicht mehr mit Bezug auf ›Räume‹, sondern auf ›Menschen‹ argumentiert. Zeigte die Analyse der Raumordnungsberichte der Bundesrepublik der 60er Jahre, dass die Inklusionsbestrebungen vor allem auf räumlich-wirtschaftliche Ausgewogenheit zielten, so deutete sich hier auch ein Scheitern dieser Bemühungen an, was zum einen mit der (mit der operativen Geschlossenheit der Systeme einhergehenden) Unmöglichkeit zusammenhing, wirtschaftliche Operationen politisch zu steuern, und zum anderen in der Nichtberücksichtigung sozialer Lebensansprüche und Handlungsperspektiven der Einwohner begründet lag. Man versuchte, Personen aus ländlichen Räumen in das System Wirtschaft zu inkludieren, gleichzeitig nahm man dabei aber in Kauf, dass diese Bevölkerungsgruppen aus sozialen Netzwerken und familiären Bindungen herausfielen, indem man etwa darüber disponieren wollte, dass Personen in die Nähe wirtschaftlicher Standorte zögen – oder umgekehrt die Abwanderung verhindern wollte, damit eine gewisse Bevölkerungsdichte erhalten bliebe. 21 Raumordnungsbericht 1968 der Bundesregierung, S. 3. 22 Raumordnungsbericht 1968 der Bundesregierung, S. 7. 23 Raumordnungsbericht 1968 der Bundesregierung, S. 2.
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Anhand einiger Beispiele aus dem Quellenkorpus der Raumordnungsund Agrarpolitik sollen im Folgenden Exklusionseffekte exemplarisch untersucht werden, die sich aus der auf Inklusion in Wirtschaft zielenden Politik ergaben.
3. Das Inklusionsprogramm der Raumordnungspolitik Ausgangspunkt des verstärkten Einsetzens raumordnungs- und strukturpolitischer Anstrengungen ab Mitte der 50er Jahre war die Erkenntnis, dass periphere ländliche Räume wegen ihrer Strukturschwäche, die wiederum durch Abwanderung und Arbeitslosigkeit bedingt war und sich u. a. im Fehlen von Bildungs- und Kulturangeboten manifestierte, an der allgemein günstigen Entwicklung in Wirtschaft und Kultur kaum partizipieren konnten. Hinzu kam die Sorge der Raumordnungsexperten, dass bei weiterer Abwanderung aus diesen Gebieten der Ballungsprozess in den Städten nicht mehr auf ein »Optimum« zu begrenzen sei.24 Ländliche Funktionsräume galten ihnen als von vornherein benachteiligt. Mitursächlich dafür waren ihrer Meinung nach ›Verspätungserscheinungen‹ sowohl in der wirtschaftlichen als auch in der mentalen Entwicklung der bäuerlichen Bevölkerung. Ländlichkeit implizierte somit einen abgekoppelten geographischen Raum, der aufgrund seiner spezifischen Gegebenheiten als ›rückständig‹ zu bewerten sei. Es war deshalb unumgänglich, dem Exklusionsproblem ländlicher Räume ein Inklusionsprogramm entgegenzusetzen, das allerdings marktwirtschaftlich vertretbar sein musste. Im Gutachten des Sachverständigenausschusses für Raumordnung, dem sogenannten SARO-Gutachten Die Raumordnung in der Bundesrepublik (1961), fand dieser Gedanke darin seinen Ausdruck, dass die Gestaltung ganzer Funktionsräume postuliert wurde, aber gleichzeitig die Beibehaltung eines wirtschaftlichen und sozialen Raumgefälles gefordert wurde, da es »eine wesentliche Antriebskraft der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung überhaupt« sei.25 Die besorgniserregende Lage der Landwirtschaft sowie die schlechten Erwerbsmöglichkeiten auf dem Land wurden eingehend thematisiert. So bemängelte das SARO-Gutachten, »dass viele arbeitsfähige Menschen in Gegenden untergebracht worden sind, von denen aus überhaupt keine Möglichkeit zur Arbeitsaufnahme geboten war. Es sind die Gebiete mit überwiegend agrarischem Charakter, sie liegen in einer weiten Entfernung von den Ballungsgebieten. Daraus ergab sich eine strukturelle Arbeitslosigkeit, die 24 Die Raumordnung (wie Anm. 13), S. 56. 25 Die Raumordnung (wie Anm. 13), S. 56.
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ausschließlich auf regionale Faktoren zurückzuführen ist.«26 Dieser Mangel an Erwerbsmöglichkeiten wurde auf die regionale Strukturschwäche bzw. wirtschaftliche Abkoppelung zurückgeführt, die als Exklusion aus dem Funktionssystem Wirtschaft aufgrund räumlicher Differenz interpretiert werden kann. Fand ein solcher räumlicher Ausschluss erst einmal statt, waren auch die Bewohner davon betroffen. Folge dieser räumlichen Ausgrenzung war beispielsweise der Ausschluss von Bevölkerungsgruppen aus dem System der Lohnarbeit. Stichweh (1997) formulierte diesen Umstand folgendermaßen: Wenn eine räumliche Differenzierung einmal begonnen hat, haben wir es schnell mit einem informationell und infrastrukturell verarmten [. . .] Raum zu tun – Fehlen von Arbeitsplätzen, Transportmitteln, Entstehung einer Kultur der Armut, Informationsdefizite [...] –, der seinen Bewohnern wenig Wiederanknüpfungsmöglichkeiten bietet, so dass von einem sich selbst verstärkenden Prozess auszugehen ist.27
Raumordnungs- und Agrarexperten sahen Handlungsbedarf besonders in der Förderung strukturschwacher Gebiete und einer Neuordnung der Landwirtschaft. Die Leitbilder der Bundesraumordnung beinhalteten dann auch u. a. die Beseitigung der Notstandsgebiete, denn »Notstandsgebiete sind Ausdruck für eine Gefährdung der Vitalsituation. Sie zeigen an, dass den Leitgedanken des sozialen Ausgleichs auf der Grundlage eines angemessenen Standards und der Sicherheit nicht Rechnung getragen worden ist«. ›Gesunde‹ Agrargebiete sollten einerseits gefördert werden, denn: »Dezentralisierung der Industrie kann nicht bedeuten und hat nie bedeutet, in jedes gesunde Bauerndorf noch eine Fabrik« zu platzieren. Andererseits sollte »soziale [. ..] Erosion« verhindert werden, denn »Abwanderung von Industriebetrieben und damit auch von Bevölkerung« wurde als Gefahr angesehen. Ein »Gewähren lassen dieses Wanderungsprozesses würde Freiheit und soziale Sicherheit in nicht tragbarer Form bedrohen«.28 Dass diese Leitbilder in sich zum Teil widersprüchlich waren und nur vage formulierten, was denn nun eigentlich ›Notstandsgebiete‹ oder ›gesunde Agrargebiete‹ seien, schien bei der Verwirklichung der Ziele mittels Planung von Subventionen und Wirtschaftsförderung nicht zu stören. Dass es gerade nicht die Abwanderung aus sogenannten Notstandsgebieten war, die die ›soziale Sicherheit‹ gefährdete, sondern ländliche Bevölkerungsgruppen auch in ›gesunden Agrargebieten‹ von Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit aufgrund mangelnder beruflicher Qualifikation bedroht waren, ganz zu schweigen von den Defiziten an sozialen und kulturellen Einrichtungen, schien nicht zu 26 Die Raumordnung (wie Anm. 13), S. 56. 27 Stichweh, Rudolf: Inklusion / Exklusion, funktionale Differenzierung und die Theorie der Weltgesellschaft. In: Soziale Systeme 3 (1997) 1, S. 123–136, hier S. 131. 28 Die Raumordnung (wie Anm. 13), S. 57 ff.
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stören. Letztlich ging es wohl doch eher darum, die urbanen Ballungsgebiete zu entlasten und weniger um Freiheit und soziale Sicherheit für das ›Landvolk‹. Blieben die genannten Leitbilder hinsichtlich ihrer Inklusionsbestrebungen eher schwammig, versprach das Leitbild der Raumordnung im Grünen Bericht eine Konkretisierung. Anhand verschiedener Maßnahmen agrarstruktureller Förderung sollten sowohl landwirtschaftliche Betriebe als auch außerlandwirtschaftliche Arbeitsplätze gefördert werden. Letzteres sollte mittels der »Errichtung gewerblicher und industrieller Betriebe in ausgesprochen kleinbäuerlichen Gebieten« erreicht werden. Dadurch würden »für ländliche Arbeitskräfte, insbesondere für die in den Kleinbetrieben vielfach nicht oder nicht voll ausnutzbaren Familienarbeitskräfte, zusätzliche Erwerbsmöglichkeiten geschaffen«, wie es im Grünen Bericht von 1957 hieß. Wurde nun damit vor allem die Inklusion in den Arbeitsmarkt verfolgt, blieben all jene unberücksichtigt, die entweder als mithelfende Familienangehörige in der kleinbäuerlichen Wirtschaft auch bei geringem Verdienst unentbehrlich waren, aber auch diejenigen, die keinen Zugang zu qualifizierenden Weiterbildungen für die verschiedenen Bereiche der industriellen Wirtschaft hatten. Erfolgversprechend bei der Neuordnung der Landwirtschaft schien die Kombination von Subventionen in Form staatlich geförderter Maßnahmen und Investitionen, die die Landwirte selbst zu tätigen hatten. Bezuschusst wurden vor allem erfolgversprechende Strategien wie Flurbereinigung und Aussiedlung. Ziele der staatlichen Förderung waren primär, das Missverhältnis zwischen Ertrag und Aufwand zu beheben und das Einkommen der bäuerlichen Bevölkerung an das anderer Berufsgruppen anzugleichen. Allerdings waren diese Subventionen an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. In den Richtlinien der Bundesregierung für die Durchführung des Grünen Berichts wurde im Abschnitt Aussiedlung und Aufstockung bereits unter 2. festgelegt, dass für die Gewährung von Darlehen und Beihilfen nach diesen Richtlinien [. . .] in der Regel nur bäuerliche Familienbetriebe sowie solche Betriebe in Betracht [kämen], bei denen insbesondere als Folge der Aussiedlung zu erwarten ist, dass sie die Größe eines bäuerlichen Familienbetriebes in absehbarer Zeit erreichen werden.29
Die angestrebte Größe solcher Betriebe wurde von den Agrarexperten festgesetzt. Wer darunter lag, blieb von der Möglichkeit der Aufstockung ausgeschlossen. Gleiches galt bei der Vergabe der Mittel zur Gewährung von 29 Grüner Bericht und grüner Plan. Bd. 6: Grüner Bericht der Bundesregierung, hg. im Auftr. d. Bundesministeriums f. Ernährung, Landwirtschaft u. Forsten. München [u. a.] 1961, S. 281.
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»Darlehen für Betriebsanpassung und Betriebsverbesserung«. Sie durften nicht für eine Umschuldung alter Verbindlichkeiten genutzt werden und wurden nur an Inhaber bäuerlicher Familienbetriebe vergeben, welche Beiträge zur landwirtschaftlichen Alterskasse leisteten oder befreit waren. Außerdem sollte ein angemessener Teil der Kosten des Vorhabens aus Eigenmitteln aufgebracht werden können, da die Höhe des Darlehens 20 000 DM nicht überschreiten durfte.30 Zur Beitragsleistung in die landwirtschaftliche Alterskasse war ein landwirtschaftlicher Unternehmer zwar verpflichtet, aber nur, wenn sein landwirtschaftliches Unternehmen die Grundlage für die Existenz einer bäuerlichen Familie bilden konnte. Die Größe einer ›Existenzgrundlage‹ wurde regional verschieden von den landwirtschaftlichen Alterskassen festgesetzt. Außerdem konnte einem Antrag auf Befreiung unter besonderen Umständen entsprochen werden. Diese Befreiung war jedoch unwiderruflich und schloss jeglichen Anspruch auf Altersgeldansprüche aus. Laut einer Studie aus dem Jahr 1965 leisteten von den 1,7 Millionen statistisch ausgewiesenen land- und forstwirtschaftlichen Betrieben über 0,5 ha Betriebsfläche nur 43,9% Beiträge zur Alterskasse, von den Betrieben unter 2 ha Landfläche waren es nur 5%.31 All jene, die dementsprechend wegen einer fehlenden ›Existenzgrundlage‹ nicht in die Alterskasse einzahlten, hatten somit auch keinen Anspruch auf ein Darlehen zur Aufstockung ihres Betriebes. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Maßnahmen der Raumordnungs- und Agrarpolitik zur Herstellung des wirtschaftlichen Anschlusses im Sinne der Verminderung der Einkommensdisparitäten zwischen Land und Stadt für das einzelne Individuum an Voraussetzungen geknüpft waren, die es erfüllen musste, um überhaupt Zugang zu dem System staatlicher Förderung zu erhalten. Wurden diese nicht erfüllt, konnte die weiter oben beschriebene Kette von Exklusionseffekten greifen. Die Schwäche der politischen Inklusionsbestrebungen offenbarte sich im Ausschluss der schwächsten Glieder, denen die Teilhabe an Förderung verweigert wurde. Die Methode der Tragfähigkeitsprüfung sollte es ermöglichen, bäuerliche Familienbetriebe auf überflüssige Arbeitskräfte zu testen, die dann für einen außerlandwirtschaftlichen Arbeitsplatz abgestellt werden sollten. Dabei konnte eine Inklusion in die Organisationen der Wirtschaft, wie bereits aufgezeigt, ohnehin nicht garantiert werden. Ziel war es, eine hohe wirtschaftliche Rentabilität zu erreichen und das Familieneinkommen zu verbessern. 30 Vgl. Grüner Bericht (wie Anm. 29), S. 327. 31 Van Deenen, Bernd: Materialien zur Alterssicherung in der deutschen Landwirtschaft. Bonn 1965, S. 5 f.
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Solche Erwägungen gab es bereits im Zusammenhang der ›Volk ohne Raum‹Ideologie im Nationalsozialismus.32 Auch nach 1949 vertrauten die Raumordnungsexperten auf dieses Konzept. Der Begriff der »Tragfähigkeit« eines Raumes war »der Ausdruck der sozialen und ökonomischen Existenzgrundlagen für eine bestimmte Bevölkerungsdichte und Struktur«.33 Er war rein ökonomisch konnotiert und sollte Aufschluss darüber geben, wie viele Menschen in einem bestimmten Raum langfristig Existenzmöglichkeiten finden könnten.34 Laut dieser Auffassung müsse die Zahl der Einwohner und der daraus hervorgehenden Arbeitskräfte in einem »gesunden Verhältnis« stehen; und wenn die Bevölkerungszahl die Tragfähigkeit der Region überschreite, müsse man von »Überbevölkerung« sprechen.35 Hier wird besonders deutlich, dass die Raumordnungspolitik nicht die einzelnen Individuen und ihre Bedürfnisse im Blick hatte, sondern von einem abstrakten, an theoretischen Parametern gebundenen Kalkül ausging. Für die landwirtschaftlichen Betriebe sollte der Tragfähigkeitsbegriff insofern Anwendung finden, als dass die vorhandenen Arbeitskräfte und mithelfenden Familienangehörigen der Struktur ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse anzupassen wären. Eine Untersuchung in landwirtschaftlichen Betrieben der Eifel (Rheinland-Pfalz) aus den 1950er Jahren kam zu dem Ergebnis, dass als Bestimmungsgründe der Tragfähigkeit zum Zwecke der Abgrenzung wirtschaftlich schwach entwickelter Gebiete genannt werden [können]: 1. die Struktur und Anzahl der Arbeitsplätze, 2. das Verhältnis von Arbeitsplätzen und Erwerbsbevölkerung und 3. der Überbesatz an landwirtschaftlichen Arbeitskräften.36
Der sogenannte Überbesatz wurde modellhaft über die Haushalts- und Familienstruktur berechnet: Als Modellbesatz eines 9 ha großen Betriebes galten ein Mann und zwei Frauen. Lebten ein 65-jähriger Mann mit seinem Sohn, dessen Ehefrau und zwei Kindern auf diesem Hof, gab es keinen ›Überbesatz‹, denn die vorhandenen Haushaltsmitglieder wurden nicht in ihrer Gesamtheit als Arbeitskräfte berücksichtigt. Männer ab dem 65. Lebensjahr galten als Rentner und damit nicht mehr als Arbeitskraft, die Frau musste die Kinder betreuen und galt nicht als Erwerbsperson. Blieb ein 32 Ausführlich zur Raumplanung im Nationalsozialismus Mai, Uwe: »Rasse und Raum«. Paderborn 2002. 33 Van Deenen, Bernd: Wirtschafts- und Erwerbsstruktur als Bestimmungsgründe der Tragfähigkeit. In: Forschung und Planung in ländlichen Entwicklungsgebieten, hg. v. d. Forschungsgesellschaft für Agrarpolitik und Agrarsoziologie. Bonn 1963, S. 27– 46, hier S. 27. 34 Vgl. Leendertz, Ariane: Ordnung schaffen. Göttingen 2008, S. 255 f. 35 Die Raumordnung (wie Anm. 13), S. 75. 36 Van Deenen, Wirtschafts- und Erwerbsstruktur (wie Anm. 33), S. 32.
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arbeitsfähiger Mann in einem 9 ha-Betrieb, dem damit natürlich kein Überschuss an Arbeitskräften unterstellt wurde. Nach Anwendung dieser Methode sollte es möglich sein, annähernd genau zu bestimmen, wie viele nicht-landwirtschaftliche Arbeitsplätze zu schaffen seien, um alle überflüssigen landwirtschaftlichen Arbeitskräfte auffangen zu können. Gerade die Planungen zur Umplatzierung von Bevölkerungsteilen zeigte, dass hier nicht Politik für Menschen, sondern Biopolitik betrieben wurde, was mit dem Anspruch, auch soziale Verantwortung zu übernehmen, im Widerspruch stand. Unberücksichtigt blieb auch, dass meist eine fehlende berufliche Qualifikation den Einsatz in einem anderen Erwerbszweig als dem landwirtschaftlichen nahezu unmöglich machte. Hinzuweisen ist hier auch auf den Umstand, dass es sich bei einer solchen Tragfähigkeitsberechnung im Sinne einer Verbesserung der Einkommenslage eigentlich um eine ›Milchmädchenrechnung‹ handelte. Rentner und Ehefrauen bewältigten trotz Alter und Kindern einen nicht geringen Teil der bäuerlichen und häuslichen Wirtschaft, ohne dabei mit einem geregelten Einkommen rechnen zu können.37 Auch die regionalen Planungsgemeinschaften, die sich als freiwillige kommunale Organisationen gründeten und aktiv an raumordnerischen Prozessen von Kreisen und Kommunen beteiligt waren, operierten mit dem Begriff der Tragfähigkeit. So sahen ihre Vertreter die Tragfähigkeit eines Landkreises bestimmt durch »die Bevölkerung mit einer ausreichenden beruflichen Tätigkeit«. Modifiziert würde »diese Bemessungsgrundlage [...] bei der Landwirtschaft insofern [...], dass hier nicht die heute gesunden Betriebe den ungesunden gegenübergestellt und letztere als Tragfähigkeitsüberbesatz ausgeschieden werden, sondern hier geht man von der landwirtschaftlichen Nutzfläche aus«. Und es stelle sich die Frage: Wieviel Menschen könnten in gesunden Betrieben in jeder Gegend leben? Naturgemäß sind es, bedingt durch den hohen Anteil der Kleinlandwirtschaft, viel weniger als heute hauptberuflich in der Landwirtschaft leben. Ein Teil von ihnen müsste einer nichtlandwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit zugeführt werden, damit die verbleibenden ihre Betriebe vergrößern könnten. Die Überzähligen liegen also über der natürlichen Tragfähigkeit des Raumes.38
Auch diese Überlegungen verweisen schon aufgrund ihrer Semantik auf die Exklusionsproblematik innerhalb einer vorgeblichen Bemühung um Inklusion ländlicher Räume. Sind es ausschließlich die ›gesunden Betriebe‹, 37 Vgl. dazu Inhetveen, Heide / Blasche, Margret: Frauen in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Opladen 1983, S. 217. 38 Generallandesarchiv Karlsruhe 466, 1981–75, Nr. 407: Planungsgemeinschaft Odenwald, Der Tauberplan, Grundlagen zum Raumordnungsplan von Heinz Günter Steinberg.
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von denen Menschen leben könnten, sollten auch nur diese vergrößert werden. Alle ›ungesunden‹ Betriebe wären Risikobetriebe und ihre Inhaber sollten ihren Lebensunterhalt anderweitig verdienen. Sie galten als die ›Überzähligen‹. Mit der Methode der Tragfähigkeitsbestimmung machte die Raumordnungspolitik deutlich, wie stark ihr ›Inklusionsprogramm‹ zur Versachlichung sozialer Bindungen und damit zu einer Exklusion aus dem System sozialer Netzwerke, sei es Familie oder Familienbetrieb, beitrug. Damit soll nicht unterstellt werden, dass es grundsätzlich kein Bedürfnis nach außerlandwirtschaftlichen Arbeitsplätzen gab. Nur zeigten sich in den 60er Jahren wenige Alternativen, meist blieb nur die Abwanderung. Eine Ansiedlung von industriellen Betrieben in der Eifel beispielsweise war wenig erfolgversprechend und blieb marginal. Der Vorsatz, einen wirtschaftlichen Ausgleich zu erreichen, indem vorgegeben wurde, den ›Überflüssigen‹ die Teilhabe am Erwerbsprozess zu ermöglichen, ohne jedoch überhaupt das Interesse und die Handlungsbereitschaft der ländlichen Bevölkerung zu berücksichtigen, zeigt zum einen die Janusköpfigkeit der Raumordnungspolitik, zum anderen eben auch ihre rein technokratisch ausgerichtete Handlungsweise. Verbunden mit dieser ökonomisch-technokratischen Denk- und Handlungsweise waren auch Vorurteile und Stigmatisierungen der ländlichen, insbesondere der bäuerlichen Bevölkerung. Die »Mentalität« der Bauern wurde für die Raumordnungspolitiker zum »retardierenden«39 Moment innerhalb ihrer Planungsbestrebungen. So würden die Bauern selbst ihre soziale Integration verhindern, indem sie sich nicht von althergebrachten Strukturen lösen wollten. Vor allem in Gebieten, »in denen früher ein meist wohlhabendes Bauerntum nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich eine führende Rolle gespielt [habe]«,40 wären die Landwirte kaum bereit, ihren Betrieb aufzugeben, auch wenn ihr Einkommen unterhalb der Existenzgrenze läge. Für die Mehrzahl der bäuerlichen Unternehmer sei eine Umstellung auf eine außerlandwirtschaftliche Tätigkeit keine Alternative. So sei nicht nur die Furcht der Landwirte vor einem sozialen Abstieg41 Grund für ihre Wei39 Isenberg, Gerhard: Folgerungen für die Raumplanung. In: Die Zukunft des ländlichen Raumes, hg. v. d. Akademie für Raumforschung und Landesplanung. Teil 2. Hannover 1972, S. 119–128, hier S. 126. 40 Isenberg, Folgerungen (wie Anm. 39), S. 126. 41 Von Malchus, Viktor: Analyse der Problematik des ländlichen Raumes. In: Der ländliche Raum. Randerscheinung oder integriertes Ausgleichsgebiet. Referate und Diskussionsbericht anlässlich der Wissenschaftlichen Plenarsitzung 1973 in Nürnberg, hg. v. d. Akademie für Raumforschung und Landesplanung. Hannover 1974, S. 11–21.
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gerung, sondern auch die damit einhergehende Minderung des sozialen Status innerhalb der Dorfgemeinschaft. Diese Aspekte hielt die Raumplanungspolitik aber für nebensächlich. Als hemmend in der praktischen Umsetzung von Fördermaßnahmen wurden auch die »unterschiedlichen Bewusstseinslagen« der agrarpolitischen Akteure empfunden, die »im soziologischen Sinne eines Innewerdens und Begreifens gesellschaftlicher Vorgänge, Zustände und Zusammenhänge«42 verstanden wurden. Ausdruck fänden diese unzureichenden Bewusstseinslagen der Bauern etwa darin, dass sie die Sprache der Professoren nicht [verständen] und sich von der Wissenschaft verraten [fühlten]. Die Politiker warfen den Praktikern Rückständigkeit vor, wenn diese auf progressive Programme ablehnend reagierten. Und die Bauern wiederum scheuten sich nicht, Politiker, die sich redlich um eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft bemühten, als ›Bauernkiller‹ zu beschimpfen.43
Bestimmte Denk- und Handlungsweisen mit Hilfe der ›Mentalität‹ zu erklären, war ein beliebtes Modell der soziologischen Forschung nach vorhandenen Ungleichheiten zwischen bestimmten Schichten.44 Damals wie heute führten kollektive Zuschreibungen auf Bevölkerungsgruppen nicht nur zur Konstruktion von Ungleichheiten, sondern eben auch zum Ausschluss aus verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens, der als selbstverschuldet galt. So waren es nicht nur die ländlichen Räume an sich, die als rückständig bezeichnet wurden, sondern auch deren Bevölkerung. Die Beschreibung bäuerlicher Mentalität und Bewusstseinslagen diente den Experten dazu, die Schwierigkeiten der Realisation raumgestalterischer Maßnahmen bei den Betroffenen zu suchen. Aufgrund seiner Prägung durch eine ständische Ordnung wäre »eine Industriegesellschaft, die der Idee nach auf dem Leistungsprinzip und dem Wettbewerb aller um die beste soziale Stellung basiert [...], dem bäuerlichen Wesen fremd«.45 Natürlich wurde stets betont, dass sich die Einstellung der Landwirte wandele, doch gäbe es noch starke Differenzen, die nach Meinung einiger Agrarsoziologen, sogar eine »eigenständige Weiterentwicklung«46 des ländlichen Raums rechtfertigen würden. Die Raumordnungspolitik setzte aber 42 Planck, Ulrich: Bewußtseinslagen als Gegebenheiten agrarpolitischer Willensbildung. In: Schlotter, Hans-G. (Hg.): Die Willensbildung in der Agrarpolitik. München 1971, S. 71–87, hier S. 72. 43 Planck, Bewußtseinslagen (wie Anm. 42), S. 71. 44 Ausführlich dazu Burzan, Nicole: Soziale Ungleichheit. Wiesbaden 2011. 45 Von Blanckenburg, Peter: Die Berufsbejahung in der Landwirtschaft. In: Berichte über Landwirtschaft 37 (1959) 1, S. 21– 40, hier S. 35. 46 Von Blanckenburg, Peter: Einführung in die Agrarsoziologie. Stuttgart 1962, S. 74.
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gerade nicht auf eigenständige Entwicklungen ausgehend von lokalen Strukturen und individuellen Bedürfnissen, sondern auf eine abstrakte Planung der (ohnehin nicht steuerbaren) Inklusion in das System Wirtschaft. Dass die Erfolge gering blieben, wie die Experten bereits in den 1970er und 1980er Jahren konstatierten,47 lag vor diesem Hintergrund auf der Hand. Der abschließende Blick auf dieses Scheitern soll zeigen, dass die Raumordnungspolitik ihrem Anspruch in den 1960er Jahren nicht gerecht werden konnte, weil es ihr nicht gelang, die Probleme des ländlichen Raumes unter angemessenen Gesichtspunkten zu erfassen und die eigenen politischen Spielräume richtig einzuschätzen. 4. Raumordnungspolitik zwischen Konservatismus und Moderne Die Instrumente der Raumordnungspolitik in ihrem Bestreben, einen räumlichen Anschluss ländlicher Gebiete herbeizuführen, beruhten – so könnte man zusammenfassen – auf dem Primat wirtschaftspolitischer Denkweisen in Form technokratisch-statistischer Berechnungen. Gleichzeitig wurden alte Vorurteile gegenüber Denk- und Handlungsweisen der ländlichen Bevölkerung beibehalten. So waren es nicht nur die personellen Kontinuitäten,48 die einen Bruch mit alten Denkmustern verhinderten, sondern besonders die Semantiken, der man sich bei der Beschreibung von ländlichen Räumen und ihrer Bevölkerung weiterhin bediente. Die Verwendung von Zuschreibungen wie ›rückständig‹, ›gesund‹ und ›ungesund‹ oder ›Überbesatz‹ waren somit auch in ihrer Bedeutung althergebracht und machten einen Zugriff auf die sozialen Probleme einer veränderten bzw. sich verändernden 47 Zu dieser Einschätzung gelangt u. a. Gatzweiler: »Angesichts der Erfolglosigkeit von Raumordnung und Landesplanung im Bemühen, die von ihnen postulierten Ziele zu erreichen, sind die ›alten‹ Handlungskonzepte in den letzten Jahren zunehmend auf Kritik gestoßen.« Gatzweiler, Peter: Entwicklung des ländlichen Raums im Bundesgebiet. In: Schmals, Klaus (Hg.): Krise ländlicher Lebenswelten: Analysen, Erklärungsansätze und Lösungsperspektiven. Frankfurt a.M. 1986, S. 21– 47, hier S. 32. Kritische Anmerkungen auch bei Braun, Walter: Probleme der Raumordnungspolitik – Das Beispiel Baden-Württemberg. In: Stark, Jürgen/ Doll, Martin (Hg.): Strukturwandel und Strukturpolitik im ländlichen Raum. Stuttgart 1978, S. 58–77; sowie bei Storbeck, Dietrich: Chancen für den ländlichen Raum. Entwicklungspotential, Entwicklungschancen, Entwicklungsziele. In: Raumforschung und Raumordnung 6 (1976), S. 269–277. 48 Ausführlich dazu Leendertz, Ordnung (wie Anm. 34) für die Raumordnungspolitik; für die Agrarpolitik Dornheim, Andreas: Rasse, Raum und Autarkie, Sachverständigengutachten zur Rolle des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft in der NS-Zeit. 2011 (www.bmelv.de/SharedDocs/Downloads/Ministerium/ RolleReichsministeriumNSZeit.pdf?blob=publicationFile [08.04.2013]).
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Gesellschaftsstruktur unmöglich. Die Raumordnungspolitik der 1960er Jahre verkannte, dass Inklusionsbemühungen bei den Möglichkeiten, Wünschen und bereits vorliegenden Vernetzungen der einzelnen Person ansetzen mussten, statt sich an statistischen Werten und vermeintlich allgemeingültigen Normierungen zu orientieren. Außerdem überschätzte sie ihren Aktionsradius dahingehend, dass sie Inklusionen in die Wirtschaft nur bedingt steuern konnte, und dass auch Subventionen nicht automatisch bestimmte Operationen im System Wirtschaft nach sich zogen. Sie verblieb zumindest bis Mitte der 1960er Jahre beschränkt auf den wirtschaftlichen Ausgleich von Räumen ausgerichtet, ohne die sozialstrukturelle Differenzierung der ländlichen Bevölkerung zu berücksichtigen. Verbunden damit war auch die Vernachlässigung der bestehenden Wünsche und Hoffnungen der Bevölkerung hinsichtlich gleichwertiger Lebenschancen, besonders im sozialen und kulturellen Bereich. Nicht die realen Existenzweisen und Lebensverhältnisse wurden zum Anknüpfungspunkt für mögliche raumstrukturelle Veränderungen, sondern das Bild einer konservativen, rückständigen Bauerngesellschaft wurde als Prototyp ›ländlichen Lebens‹ imaginiert und zum Ausgangspunkt der Politik gewählt. Möglicherweise haben raumstrukturierende Maßnahmen punktuell zu Inklusionen in das Wirtschaftssystem geführt, aber inwiefern hier ein Kausalzusammenhang vorlag, ist ebenso schwer nachzuweisen, wie die Nachhaltigkeit dieser Inklusionen. Dafür hätte es flankierender sozial- und agrarsozialpolitischer Maßnahmen von Bund und Ländern bedurft. Der Raumordnungspolitik der Bundesrepublik der 1960er Jahre gelang es kaum, den Horizont ihrer offenkundig wirklichkeitsfernen Konstruktion des ›ländlichen Raums‹ zu überschreiten und die Vielfalt tatsächlicher Lebensverhältnisse zu registrieren, um mit ihrem Inklusionsprogramm genau dort anzusetzen. Auch die funktionale Differenzierung der Gesellschaft blendete sie weitgehend aus und berücksichtigte zu wenig, dass Operationen der Wirtschaft und Entscheidungen ihrer Organisationen politisch nur bedingt beeinflussbar waren und sind.
Inklusion / Exklusion als sozial- und politikwissenschaftliches Analyseinstrument Winfried Thaa und Markus Linden
1. Einleitung Der Exklusionsbegriff und damit logischerweise auch das Gegensatzpaar von Inklusion und Exklusion sind während der letzten Jahre weit über die Sozialwissenschaften hinaus zu einer festen Größe der kritischen Selbstbeschreibung zeitgenössischer Gesellschaften geworden. Ob es um die Verweigerung von Rechtsgleichheit für Individuen oder um die Erosion der Teilhabechancen ganzer Bevölkerungsgruppen geht, der Exklusionsbegriff scheint geeignet, die Weiterexistenz von Ungleichheiten in individualisierten, nicht länger durch manifeste vertikale Klassen- und Schichtstrukturen charakterisierten Gesellschaften differenziert erfassen zu können. Gleichzeitig verweist die Redeweise von der ›Exklusion‹ auf den konstatierten Skandal der Nichteinlösung von Inklusionsversprechen der modernen Gesellschaft. Eine weit verbreitete Auffassung lautet, ältere Formen der sozialen Ungleichheit seien noch mit gruppenspezifischen Zugehörigkeiten und Solidaritäten einhergegangen, heute jedoch zeichne sich soziale Ungleichheit dadurch aus, dass sie von einer wachsenden Anzahl von Menschen als persönlicher, nicht-gruppenbezogener Ausschluss aus gesicherten Arbeitsverhältnissen, gesellschaftlicher Anerkennung und politischer Teilhabe erfahren werde – mithin also als individuelles Schicksal. An die Stelle einer hierarchischen Gesellschaftsstruktur und der Konflikte zwischen ihren Gruppen sei die Dichotomie von Inklusion und Exklusion getreten. Heinz Bude bringt diese Sichtweise auf folgende griffige Formel: »Die Frage ist nicht, wer oben und wer unten, sondern wer drinnen und wer draußen ist«.1 In dieser Zuspitzung erinnert die Dichotomie von Inklusion und Exklusion an die funktionalistische Systemtheorie von Niklas Luhmann, aus der das Begriffspaar auch in der Tat stammt. Dass eine von Luhmanns Analysekategorien zur Grundlage der Erforschung der sogenannten Neuen Armut und ihrer bedrohlichen Auswirkungen auf die politische Demokratie werden sollte, entbehrt nicht der Ironie: Zeichnen sich moderne Gesellschaften aus der Perspektive der funktionalistischen Systemtheorie doch 1 Bude, Heinz: Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft. Bonn 2008, S. 13.
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dadurch aus, dass sie grundsätzlich jedem Individuum den Zugang zu ihren Funktionssystemen ermöglichen und die Politik diesen gegenüber ihre übergreifende Stellung verliert und zu einem ausdifferenzierten Teilsystem neben anderen wird. Folgt man dieser Sichtweise, so muss der Demokratie jene übergeordnete Steuerungsleistung abgesprochen werden, von der die Politikwissenschaft gemeinhin ausgeht. Die trotz dieser systemtheoretischen Tradition beobachtbare Attraktivität der Ausrichtung an der Opposition von Inklusion und Exklusion resultiert zu nicht unerheblichen Teilen aus der Kritik an einer älteren Leitvokabel, die zwar heute die öffentliche Debatte prägt (insbesondere in der Migrationspolitik), aber aus wissenschaftlicher Perspektive oftmals mit Skepsis betrachtet wird. Die Rede ist vom Begriff der Integration. Der Konjunktur des Integrationsgebots in der aktuellen politischen Diskussion und der Bedeutung des Begriffs im Rahmen von Großtheorien der Gesellschaft2 steht in den heutigen Sozial- und Geisteswissenschaften eine kritische Diskussion des Integrationskonzepts gegenüber. Beanstandet wird vor allem der vermeintlich holistische, für manche auch antipluralistisch-fremdenfeindliche3 Charakter der Kategorie. Stattdessen erhofft man sich vom Begriffspaar Inklusion/Exklusion in deskriptiver Hinsicht Vorteile, insbesondere was den Längs- und Querschnittsvergleich anbelangt, und glaubt, normative Fehlannahmen sowie Vorfestlegungen vermeiden zu können. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht stellt sich die Frage, was die begriffliche Opposition von Inklusion und Exklusion analytisch zu leisten vermag. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive ist im engeren Sinn danach zu fragen, inwiefern das Begriffspaar geeignet ist, der spezifischen Wechselwirkung von Politik und Gesellschaft gerecht zu werden. Darüber hinaus steht zur Diskussion, ob und in welcher Ausformung Integration auch weiterhin als Schlüsselkategorie nutzbar gemacht werden kann. Schließlich ist zu klären, inwiefern die Orientierung an Integration und Inklusion/ Exklusion einen konkurrierenden oder komplementären Charakter besitzt. Zur Beantwortung dieser Fragen werden wir im Folgenden: a) die Kritikpunkte am Integrationsbegriff erläutern (Abschnitt 2); b) den systemtheoretischen Ursprung der Dichotomie von Inklusion und Exklusion darstellen und die daraus für eine politikwissenschaftliche 2 Z. B. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1981. 3 So z. B. van Ooyen, Robert Christian: Demokratische Partizipation statt »Integration«: normativstaatstheoretische Begründung eines generellen Ausländerwahlrechts. Zugleich eine Kritik an der Integrationslehre von Smend. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 13 (2003) 2, S. 601– 627.
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Verwendung des Begriffspaares resultierenden Probleme thematisieren (Abschnitt 3); c) auf die kontroverse Übernahme des Konzepts von Inklusion/Exklusion durch die neuere Armutsforschung eingehen (Abschnitt 4); d) und dann spezifischer diskutieren, welchen Beitrag die Analysekategorie Inklusion/Exklusion für die politikwissenschaftliche Forschung zu Fragen der Repräsentation von schwachen Interessen, insbesondere von Armen und Fremden bzw. Nichtstaatsbürgern, zu leisten vermag (Abschnitt 5). Wir möchten zeigen, dass das Begriffspaar wichtige Aspekte der neuen Armut und der besonderen Situation von Migranten erfassen und insbesondere paradoxe Effekte der exkludierenden Inklusion sichtbar machen kann, dies allerdings nur, sofern es in ein normatives, an gleichen Mitwirkungsmöglichkeiten und angemessener politischer Repräsentation orientiertes Demokratieverständnis eingebettet wird. Hierfür bleiben der Begriff und die Zielvorgabe der politischen Integration unseres Erachtens maßgeblich.
2. Integrationskritik Für die wissenschaftliche Orientierung am hergebrachten Integrationsparadigma stellt insbesondere die poststrukturalistische Hervorhebung der Bedeutung von Differenz und Pluralität eine Herausforderung dar. Integration verweist nach klassischem Verständnis auf die Hervorbringung und Aufrechterhaltung einer Ausgestaltung von Einheit bzw. Ganzheit.4 Demgegenüber behaupten Theoretiker der Postmoderne, der Einheitsgedanke und die Orientierung am vermeintlich feststehend Strukturierten seien überkommen und führten analytisch in die Irre.5 ›Diffe´rance‹ (Jacques Derrida), unaufhebbarer ›Widerstreit‹ (Jean-Franc¸ois Lyotard) und ›Dekonstruktion‹ lauten die Stichworte. Mit dem Integrationsgedanken lässt sich dies nur schwerlich verbinden. Wolfgang Welsch beschreibt die Denkrichtung folgendermaßen: »[N]icht das Totum und auch nicht das (darauf noch immer bezogene) Fragment, sondern die Pluralität des Heterogenen ist das Ideal; die Perspektive einer entwickelten Gesellschaft liegt nicht in der Integration, sondern in der Divergenz unterschiedlicher Lebensentwürfe und Handlungsformen«.6 4 So z. B. Smend, Rudolf: Verfassung und Verfassungsrecht. In: Ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze. 2. Aufl. Berlin 1968, S. 119–276. 5 Einen guten Überblick gibt Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. 6. Aufl. Berlin 2002. 6 Welsch, Moderne (wie Anm. 5), S. 57.
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Ähnlich argumentieren Vertreter postkolonialer Theorieansätze. Die Integrationsmaxime erscheint aus dieser Perspektive als Teil eines imperialen Diskurses, der die einseitige Anpassung zum Gegenstand hat. Dabei wird die – ob der Verwendung des Kulturbegriffs – tendenziell extensiv auslegbare Vokabel ›Leitkultur‹ genauso kritisiert wie der Multikulturalismus, dem ebenfalls individualitätsnegierende Tendenzen zugesprochen werden. Paradigmatisch für diese normative Kritik stehen zahlreiche Beiträge in einem programmatisch mit No integration?! betitelten Band.7 Auch in analytischer Hinsicht wird in diesem Zusammenhang Kritik am Integrationsbegriff geübt. Erol Yildiz beschreibt die Entstehung vielfältiger, kleinteilig-subversiver (Rückzugs-)Räume und Strategien von Migranten. Diese Alltagspraxis sei mit dem hergebrachten Vokabular nicht mehr adäquat zu fassen. Yildiz konstatiert: »Konventionelle politische und soziale Utopien wie ›Integration‹ oder ›Assimilation‹ verhindern [...], dass solche Entwicklungen, neue Geschichten und biografische Ressourcen überhaupt erkannt und verstanden werden.«8 Angesichts der offensichtlichen Attraktivität poststrukturalistischen Denkens und vor dem Hintergrund jener hinreichend konstatierten Umbruchsprozesse, die unter dem Begriff ›Globalisierung‹ firmieren, verwundert es nicht, dass auch das Großkonzept der Nation und ihrer Integration in die Kritik gerät. In dem erwähnten Sammelband schreibt Kien Nghi Ha: In Zukunft wird sich die Tendenz verstärken, die kulturelle Hegemonie des Nationalen in Frage zu stellen, da immer mehr Subjekte ihre Existenz in transnationalen Verhältnissen verorten und praktischerweise nach einer postnationalen Vergesellschaftung streben.9
In der politischen Theorie sind Konzeptionen der Weltgesellschaft vor allem seit dem Epochenbruch von 1989/90 en vogue. Die Integration von Gesellschaften im Rahmen politisch gesetzter Grenzen ist demzufolge als ein überkommenes Kennzeichen der Moderne anzusehen. So schreibt Martin Albrow: Immer mehr Menschen empfinden die Kategorien, Strukturen und Grenzen des alten Staates der Moderne als Fremdkörper, die ihnen die Organisation ihres Alltagslebens erschweren. [. . .] Die Weltgesellschaft beruht nicht auf einem Pakt zwischen Nationalstaaten, sondern auf grenzüberschreitenden Bindungen.10 7 Hess, Sabine [u. a.] (Hg.): No integration?! Bielefeld 2009. 8 Yildiz, Erol: Was heißt hier Parallelgesellschaft? Von der hegemonialen Normalität zu den Niederungen des Alltags. In: Hess [u. a.], No integration (wie Anm. 7), S. 153–167, hier S. 164. 9 Ha, Kien Nghi: The White German’s Burden. Multikulturalismus und Migrationspolitik aus postkolonialer Perspektive. In: Hess [u. a.], No integration (wie Anm. 7), S. 51–72, hier S. 70. 10 Albrow, Martin: Abschied vom Nationalstaat. Staat und Gesellschaft im globalen Zeitalter. Frankfurt a. M. 1998, S. 259.
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Für die neuere Systemtheorie, deren Fokus weniger auf Strukturen, Akteuren und subjektiven Einstellungen als auf operativen Funktionen und Kommunikationen liegt, ist die Diagnose von der Weltgesellschaft sowieso selbstverständlich.11 ›Integration‹ als Begriff wird dabei nicht obsolet, aber so umgedeutet, dass die damit bezeichneten Erscheinungen nur noch wenig mit der hergebrachten wissenschaftlichen Verwendungsweise und mit dem heutigen Alltagsverständnis zu tun haben. Niklas Luhmann definiert Integration »als die Reduktion der Freiheitsgrade von Teilsystemen. [...] Die Einschränkung der Freiheitsgrade kann in Bedingungen der Kooperation liegen, sie findet sich aber noch viel stärker im Konflikt.«12 Der Integrationsbegriff wird hier rein analytisch verstanden. Desintegration ist demnach nichts Schlechtes. Abgelehnt wird die Vorstellung, Integration sei – beispielsweise durch das politische Teilsystem – steuerbar. Luhmann spricht vom »Ausfall hierarchischer Integration«.13 Stattdessen bezeichne Integration die sich ständig wandelnden gegenseitigen Kopplungen von Teilsystemen: Die Vorlage eines Haushaltsplans im Parlament kann ein Ereignis im politischen System, im Rechtssystem, im System der Massenmedien und im Wirtschaftssystem sein. Dadurch findet ständig Integration statt im Sinne einer wechselseitigen Einschränkung der Freiheitsgrade der Systeme.14
Skeptisch äußert sich Luhmann über normative Integrationsvorstellungen, die auf »Konsensprämissen« beruhen und »Einheitsperspektiven oder sogar Solidaritätserwartungen [...] formulieren« bzw. anmahnen.15 Dazu seien Gesellschaften heute schlichtweg zu komplex. Im partiellen Gegensatz zu Luhmann spricht Rudolf Stichweh16 sowohl den Akteuren als auch den Normen (in Form »gemeinschaftsbildender Semantiken«) eine weiterhin bedeutsame Rolle zu. Außerdem versteht er unter Integration auch heute noch einen Sachverhalt, der auf soziale Kooperation zielt. Insgesamt kommt seine Konzeption aber ähnlich grenzenlos und lose daher wie postmodern-pluralitätsfixierte Ansätze. Für Stichweh beruht Integration in der Weltgesellschaft nämlich vor allem auf einem durch die einzelnen Funktionssysteme hergestellten »weltweiten Kommunikationszusammenhang« 11 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1997, S. 145–171; Stichweh, Rudolf: Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen. Frankfurt a.M. 2000. 12 Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 603 f. 13 Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2002, S. 355. 14 Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 605. 15 Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 602 f. 16 Vgl. Stichweh, Rudolf: Der Zusammenhalt in der Weltgesellschaft. Nicht-normative Integrationstheorien in der Soziologie. Working-Paper des Instituts für Weltgesellschaft. Luzern 2004 (www.unilu.ch/files/23stwweltgesellschaft.pdf [12.05.2010]).
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sowie auf anderen »plurale[n] Strukturbildung[en]« wie »Netzwerke, epistemische und professionelle Communities und [...] Organisationen«.17 Letztlich fällt hier jegliche Bindung unter den Integrationsbegriff. Es verwundert deshalb nicht, wenn Stichweh hervorhebt: »Integration [...] ist offensichtlich nicht etwas, das durch eigene Mechanismen und Prozesse der Integration betreut würde, vielmehr handelt es sich um eine Leistung, die sich der zunehmenden Komplikation der Sozialstruktur verdankt«.18 Zwar wird in Stichwehs Konzeption weiterhin auch den Nationalstaaten eine strukturbildende Wirkung unterstellt. Eine entscheidende Parallele zu den vorgenannten integrationskritischen Positionen ist jedoch offensichtlich: Das klassische Paradigma von der tendenziell eher konsensuellen Integration in bestimmbaren Grenzen scheint der Differenziertheit der heutigen Situation nicht mehr gerecht werden zu können. Wissenschaftlich gilt ›Integration‹ – zumindest in der hergebrachten und öffentlich dominanten Lesart des Begriffs – oft als überholt.
3. Der Inklusionsbegriff der Systemtheorie19 Im Gegensatz zum neueren Funktionalismus zeichnet sich die ältere Systemtheorie Talcott Parsons durch eine definitorische Nähe zur alltagssprachlichen Verwendung des Integrationsbegriffs aus. Sie unterscheidet noch zwischen System- und Sozialintegration. Dabei bezieht sie den zweiten Begriff auf die Beziehungen zwischen handelnden Menschen innerhalb eines Sozialsystems.20 Demgegenüber will die neuere funktionalistische Systemtheorie Niklas Luhmanns das auf Max Weber zurückgehende handlungstheoretische Erbe der Systemtheorie überwinden und das Verhältnis handelnder Individuen zueinander allenfalls noch indirekt thematisieren. Deshalb schlägt Luhmann vor, »das Thema Sozialintegration [...] durch die Unterscheidung Inklusion/Exklusion [zu] ersetzen«.21
17 Stichweh, Der Zusammenhalt (wie Anm. 16), S. 6. 18 Stichweh, Der Zusammenhalt (wie Anm. 16), S. 6. 19 Die folgenden Teile 3 und 4 sind eine modifizierte Version der entsprechenden Kapitel eines 2011 verfassten Arbeitspapiers (vgl. Thaa, Winfried: Neue Ungleichheit und politische Repräsentation. Arbeitspapier 1/2011 des Teilprojekts C7 im SFB 600 »Fremdheit und Armut«. Trier 2011, S. 19–27). 20 Vgl. Lockwood, David: Social Integration and System Integration. In: Zollschan, George K. / Hirsch, Walter (Hg.): Exploration in Social Change. Boston 1964, S. 244–257. 21 Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 619.
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Was dies bedeutet, erschließt sich erst vor dem Hintergrund der Hauptthese der neueren Systemtheorie, derzufolge in modernen Gesellschaften an die Stelle vertikaler Stratifizierung die Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme getreten sei. Demnach kennt eine in Funktionssysteme wie Wirtschaft, Wissenschaft, Recht und Politik ausdifferenzierte Gesellschaft keine Instanz, die Individuen eine bestimmte hierarchische Position zuweisen könnte: Die Gesellschaft bietet [. . .] keinen sozialen Status mehr, der zugleich das definiert, was der Einzelne nach Herkunft und Qualität ›ist‹. Sie macht die Inklusion von hochdifferenzierten Kommunikationschancen abhängig, die untereinander nicht mehr sicher und vor allem nicht mehr zeitbeständig koordiniert werden können.22
So gesehen inkludieren die als Kommunikationszusammenhänge beschriebenen Teilsysteme Individuen, indem sie diese mit ihrem jeweiligen binären Code (›wahr/ unwahr‹, ›recht/unrecht‹ etc.) adressieren.23 Inklusion bezeichnet demnach die »Berücksichtigung oder Bezeichnung von Personen in Sozialsystemen«.24 Dies impliziert zum einen, dass die Regelung der Inklusion den Teilsystemen überlassen wird. Damit können Ungleichheiten »nur gerechtfertigt werden, wenn sie von dem jeweiligen Funktionssystem selbst ausgehen«.25 Wer über mehr Geld verfügt, kann im Teilsystem Wirtschaft höhere Zahlungen tätigen als andere, wer wahre Aussagen macht, wird vom Wissenschaftssystem anders adressiert als jemand, der nachweislich unzutreffende Behauptungen aufstellt, usw. Legitimiert werden diese Ungleichheiten nach Lesart der neueren Systemtheorie nicht durch eine zentrale gesellschaftliche Instanz, sondern durch das Funktionieren der ausdifferenzierten Teilsysteme und ihrer spezifischen Codierung. Zum zweiten schließen Funktionssysteme, jedenfalls idealtypischerweise, niemanden aufgrund von Status, Herkunft oder anderen persönlichen Eigenschaften aus. Deshalb konnte Luhmann mit seiner Sicht auf moderne Gesellschaften ursprünglich den evolutionären und zweifellos auch normativ attraktiven Anspruch verbinden, es läge »in der Logik funktionaler Differenzierung, jedem Teilnehmer am gesellschaftlichen Leben Zugang zu allen Funktionen zu erschließen, soweit nicht die Funktion selbst dies ausschließt 22 Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 625. 23 Vgl. Nassehi, Armin: Die paradoxe Einheit von Inklusion und Exklusion. Ein systemtheoretischer Blick auf die Phänomene. In: Bude, Heinz / Willisch, Andreas (Hg.): Das Problem der Exklusion. Frankfurt a.M. 2006, S. 46–69, hier S. 50. 24 Stichweh, Rudolf: Zur Theorie der politischen Inklusion. In: Holz, Klaus (Hg.): Staatsbürgerschaft. Wiesbaden 2000, S. 159–170, hier S. 159. 25 Luhmann, Niklas: Inklusion und Exklusion. In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 6. Frankfurt a. M. 1995, S. 226–251, hier S. 233.
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oder sinnlos macht«.26 Im Prinzip sollte in einer modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft jeder rechtsfähig sein, an der Wirtschaft teilnehmen können, Anspruch auf minimale Sozialleistungen haben oder wahlberechtigt sein. So heißt es bei Luhmann über Individuen in funktional differenzierten Gesellschaften: »Sie müssen an allen Funktionssystemen teilnehmen können, je nachdem, in welchen Funktionsbereich und unter welchem Code ihre Kommunikation eingebracht wird«.27 Allerdings weist Luhmann in frühen Bestimmungen der Logik funktionaler Differenzierung darauf hin, dass diese ein »Gleichheitspostulat« hervorbringe, das im 19. Jahrhundert »einem Realisierungsprozeß überantwortet« worden sei, aber in dem Maße, wie der »sozialistische Wohlfahrtsstaat der bürgerlichen Gesellschaft« an Grenzen stoße, immer deutlicher als Ideologie erkennbar werde.28 Die im Theorem funktionaler Differenzierung angelegte evolutionäre Logik aufgreifend, betont Rudolf Stichweh noch im Jahr 2000, dass in einer entlang von Funktionen differenzierten Gesellschaft, jedenfalls theoretisch, »für jedes psychische System, das für Bezeichnungen in Frage kommt, eine Leistungs- und/oder Publikumsrolle in jedem dieser entlang von Funktionen differenzierten Makrosysteme vorgesehen ist« und deshalb auch »die Vollinklusion aller Gesellschaftsmitglieder in jedes der Funktionssysteme« zu erwarten sei.29 Im Gegensatz zu dem »zweifellos beobachtbaren Imperativ der Vollinklusion« ließen sich jedoch auch vielfältige Exklusionen empirisch nicht bestreiten.30 Man könnte zusammenfassend sagen, der funktionalen Geschlossenheit der Teilsysteme entspräche eine prinzipielle Offenheit gegenüber allen Teilnehmern gesellschaftlichen Lebens. Bei dieser prinzipiellen Offenheit gesellschaftlicher Teilsysteme handelt es sich um ein zentrales Element der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften. Als logische Kehrseite davon werde dann allerdings die Nichtberücksichtigung eines Individuums durch ein Teilsystem nicht mehr als gesellschaftliches Problem gesehen, sondern dem Individuum selbst zugeschrieben. »Und wenn jemand seine Chancen, an Inklusion teilzunehmen, nicht nutzt, wird ihm das individuell zugerechnet.«31 26 Luhmann, Niklas: Frühneuzeitliche Anthropologie. Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1993, S. 162–234, hier S. 168. 27 Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 625. 28 Luhmann, Frühneuzeitliche Anthropologie (wie Anm. 26), S. 168. 29 Stichweh, Zur Theorie der politischen Inklusion (wie Anm. 24), S. 159–170, hier S. 162. 30 Stichweh, Zur Theorie der politischen Inklusion (wie Anm. 24), S. 162 f. 31 Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 625.
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Individuen sind jedoch immer nur partiell, soweit sie eben vom spezifischen Code eines Teilsystems adressiert werden, in dieses inkludiert. Exklusion bezeichnet dann systemtheoretisch erst einmal nur die notwendige Kehrseite der Inklusion, keineswegs aber ein soziales Problem. Wer vom Code eines Teilsystems adressiert und damit funktional inkludiert wird, wird zugleich in anderer Hinsicht immer auch ausgeschlossen. Wo es um Rechtsfragen geht, zählt der religiöse Glaube nichts, die Teilnahme an Wahlen hängt nicht vom Einkommen ab, die Fälligkeit einer Zahlung nicht vom Bildungsstand. So gesehen bilden Exklusionen stets die notwendige Kehrseite von Inklusionen. Sie ermöglichen überhaupt erst, dass ein Individuum – als Rechtssubjekt, als Staatsbürger, als Konsument oder qua welcher Adressierung auch immer – in verschiedene Teilsysteme inkludiert werden kann. Die Funktionssysteme selbst können zwar nach eigenen Kriterien Unterschiede machen und darüber entscheiden, wie weit es jemand bringt (ob er Recht bekommt, wie viel Geld er ausgeben kann etc.), sie können jedoch niemanden als Person gesellschaftlich ausschließen. Somit, meint Luhmann, »ist die Barbarei verschwunden«.32 Im Gegensatz zu traditionalen Gesellschaften bringe die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft nicht mehr ein mit asymmetrischen Gegenbegriffen bezeichnetes Anderes hervor. Mit diesem Zwischenstand scheint die systemtheoretische Unterscheidung von Inklusion und Exklusion für die Analyse sozialer Ungleichheit disqualifiziert zu sein. Denn wenn ihr zufolge der arbeitslose Sozialhilfeempfänger über seine alltäglichen Zahlungen ebenso ins Teilsystem Wirtschaft inkludiert ist wie der Investmentbanker, beide aber als Staatsbürger, Ehemann oder religiös Gläubiger vom Wirtschaftssystem exkludiert werden, kann dieses Begriffspaar ja offensichtlich die Ungleichheitsbeziehung zwischen ihnen nicht erfassen. Dieses Defizit blieb schließlich auch den Systemtheoretikern und ihrem Vordenker, Niklas Luhmann, nicht verborgen. Im Spätwerk bezeichnet er den Inklusionsanspruch, der die Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften präge, als »totalitäre Logik«, die »verlangt, daß ihr Gegenteil [die Exklusion] ausgemerzt wird«.33 Luhmann kommentiert das Phänomen der individuellen Zurechnung ausbleibender Inklusion wie folgt: »Auf diese Weise erspart die moderne Gesellschaft, zunächst jedenfalls, es sich, die andere Seite der Form, die Exklusion, als sozialstrukturelles Phänomen wahrzunehmen«.34 Luhmann konstatiert eine »Nichtreflexion der Exklusion ... Aber damit ist das Problem der Exklusion 32 Luhmann, Niklas: Jenseits von Barbarei. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik (wie Anm. 26), Bd. 4 (1999), S. 138–150, hier S. 143. 33 Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 626. 34 Luhmann, Die Gesellschaft (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 625.
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eher verdeckt als gelöst.«35 Die Gesellschaft tendiere fälschlicherweise dazu, »Inklusion ohne Exklusion« zu konzipieren.36 Besondere Prominenz erlangten in diesem Zusammenhang die Überlegungen Luhmanns, die er nach einem Besuch Lateinamerikas und der dort von ihm zur Kenntnis genommenen Favelas anstellte. Luhmann konstatiert, »dass es doch Exklusionen gibt, und zwar massenhaft und in einer Art Elend, das sich jeder Beschreibung entzieht«.37 In seinem Versuch, das unbestreitbare Phänomen begrifflich zu fassen, wendet er sich zunächst gegen übliche Ausbeutungs- und Marginalisierungstheorien, die vor allem »Adressaten für Vorwürfe« suchten und dabei nach wie vor eine stratifizierte Gesellschaft unterstellten.38 Statt die Phänomene auf Aktivitäten irgendwelcher herrschenden Kreise zurückzuführen, will er sie weiter aus seiner Theorie der Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme erklären. Dazu revidiert er nicht etwa die oben skizzierte Logik funktionaler Differenzierung, sondern er erweitert den oben schon gegen das Gleichheitspostulat erhobenen Ideologievorwurf nun auf die Funktionslogik der Teilsysteme selbst. Aus ihrer Inklusionslogik wird ein unrealisierbares Postulat. Entscheidend ist dabei, dass Luhmann die Unrealisierbarkeit keineswegs als temporäres empirisches Phänomen begreift, sondern aus der Funktionsweise der Teilsysteme selbst ableitet: »Denn funktionale Differenzierung kann, anders als die Selbstbeschreibung der Systeme es behauptet, die postulierte Vollinklusion nicht realisieren. Funktionssysteme schließen, wenn sie rational operieren, Personen aus oder marginalisieren sie so stark, dass dies Konsequenzen hat für den Zugang zu anderen Funktionssystemen«.39 Exklusion wäre damit ein kumulativer Effekt des normalen Funktionierens von Funktionssystemen. Wer etwa durch die Operationen des Bildungssystems keine brauchbare Ausbildung bekommt, findet keine Arbeit, wer keine Arbeit hat, verfügt über kein Einkommen, usw. Die differenzierte Adressierung durch ein Funktionssystem kann demnach Effekte haben, die zum Ausschluss von anderen Funktionssystemen führen. Diese Annahme ist zwar empirisch plausibel, sie passt aber nicht zur behaupteten Inklusionslogik funktional ausdifferenzierter Gesellschaften. Eine Logik, die zwingend ihr eigenes Gegenteil hervorbringt, ist keine mehr. Martin Kronauer weist deshalb darauf hin, dass Luhmann mit dieser Begründung von 35 36 37 38 39
Luhmann, Luhmann, Luhmann, Luhmann, Luhmann,
Die Gesellschaft (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 629. Die Gesellschaft (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 625. Jenseits (wie Anm. 32), S. 147. Jenseits (wie Anm. 32), S. 147. Jenseits (wie Anm. 32), S. 148.
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Exklusion aus dem Funktionieren von Teilsystemen die Grundannahmen seiner Systemtheorie dementiert.40 Das sehen Systemtheoretiker ähnlich. Armin Nassehi wirft Luhmann zum einen vor, die Logik der Vollinklusion noch zu sehr an eine von Parsons stammende evolutionäre Perspektive zu binden, andererseits mit seiner Wende zu einem als Kumulationseffekt mangelhafter Inklusion zu verstehenden Exklusionsbegriff in den neunziger Jahren zu übersehen, dass auch die aus ›normalen‹ Lebensformen Verdrängten immer noch auf dem Bildschirm der Funktionssysteme auftauchten, sei es auch nur als säumige Zahler oder als Hilfsbedürftige.41 In beiden Fällen unterstelle Luhmann, die Inklusion durch Funktionssysteme sei bereits die Lösung, »doch durch das bloße Faktum der Inklusion [...] ist das strukturelle Problem individueller Lebenslagen noch keineswegs angemessen beschrieben«.42 Um dem Phänomen sozialer Ungleichheit näher zu kommen, schlägt Nassehi deshalb eine theoretische Umstellung von der Systemreferenz Gesellschaft auf die Systemreferenz Organisation vor. Da Organisationen auf Mitgliedschaft basierten und sich über Entscheidungen reproduzierten, bilde Exklusion für sie den Normalfall. Organisationen exkludierten qua definitionem, sie seien »Exklusionsmaschinen«.43 Nicht nur, dass auch Funktionssysteme Organisationen ausbildeten (die Wirtschaft kennt Unternehmen, das Bildungssystem Schulen, die Wissenschaft Universitäten usw.). Die moderne Gesellschaft insgesamt zeichne sich dadurch aus, dass sich der Universalismus der Vollinklusion von Beginn an am prinzipiellen Partikularismus von Organisationen brach, Menschenrechte und Gleichheitspostulate etwa an der Mitgliedschaft im Nationalstaat.44 Bezogen auf Organisationen stellt Exklusion demzufolge kein theoretisches Problem mehr dar. Die neuen Formen sozialer Ungleichheit lassen sich aus dieser Perspektive als Lebenslagen beschreiben, »denen das Andocken an das Organisationsarrangement der auf 40 Vgl. Kronauer, Martin: Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt a. M. / New York 2002, S. 127. Bemerkenswert ist, dass Luhmann die Vollinklusion im Spätwerk, wie gesehen, als Selbstbeschreibungssemantik moderner Gesellschaften darstellt – und kritisiert. Seine Äußerungen über die vorherrschende »Nichtreflexion der Exklusion« (Luhmann, Die Gesellschaft [wie Anm. 11], Bd. 2, S. 629) stellen eine hervorragende Ideologiekritik dar, die allerdings auf die Grundannahmen des Autors selbst zurückfällt. 41 Nassehi, Armin: Inklusion, Exklusion, Ungleichheit. Eine kleine theoretische Skizze. In: Schwinn, Thomas (Hg.): Differenzierung und soziale Ungleichheit. Frankfurt a. M. 2004, S. 323–352, hier S. 330. 42 Nassehi, Die paradoxe Einheit (wie Anm. 23), S. 52. 43 Nassehi, Inklusion (wie Anm. 41), S. 338. 44 Nassehi, Die paradoxe Einheit (wie Anm. 23), S. 61.
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Arbeit gestützten Kumulation von Organisationsmitgliedschaften nicht mehr gelingt«.45 Indem Nassehi Exklusionseffekte den Organisationen zuschreibt, scheint er die Funktionssysteme davon freizusprechen. Seine Argumentation ist jedoch komplizierter. Ihr zufolge gelang es der industriellen Moderne nämlich nur »durch ungleiche Inklusion in Organisationen der Arbeit, der Fürsorge, der politischen Teilhabe, der rechtlichen Anspruchsregulierung«,46 u. a. das von der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ausgehende Versprechen der Vollinklusion wenigstens partiell einzuhalten. Möglich wurde dies durch eine »primär politisch induzierte Selbstbeschreibung der Gesellschaft«, sprich: durch den Nationalstaat und das in seinem Rahmen existierende »Organisationsarrangement«.47 Die klassische Moderne lasse »die Inklusion von Individuen in die Gesellschaft über den Umweg der Organisationsmitgliedschaft laufen«.48 Der paradoxe Charakter dieser Argumentation verdient es, festgehalten zu werden: Das Inklusionsversprechen der funktional differenzierten modernen Gesellschaft konnte nur (ansatzweise) erfüllt werden durch Organisationen, die auf Mitgliedschaft und damit auf Exklusion basieren. Die naheliegende Frage, warum Organisationen, und insbesondere der Nationalstaat, diese Inklusionen in der jüngeren Vergangenheit immer weniger leisten, beantwortet Nassehi mit einem weiteren Paradox: Mit der für die letzten Jahrzehnte charakteristischen Entfesselung der Funktionssysteme, die ja »der Logik nach« zur Vollinklusion führen müsste, sollen sich die »Steuerungsfiktion der Organisierbarkeit der Funktionssysteme« und die »Gruppensimulation stabiler Organisationsmitgliedschaften« auflösen und Exklusionen zum Normalfall für Organisationsmitgliedschaften werden.49 Damit ist gemeint, die typischen industriegesellschaftlichen Organisationen hätten durch die Verschiebung des Verhältnisses zwischen Ökonomie und Politik im deregulierten Finanzmarktkapitalismus ihre Inklusionsfähigkeit eingebüßt, was in unterprivilegierten Lebenslagen zur Kumulation von individuellen Exklusionserfahrungen (aus dem Betrieb, der Gewerkschaft, der Rentenversicherung u.a.m.) führte. Da die Individuen jedoch ungeachtet dieser Entwicklung in »vollinklusiven Verhältnissen einer modernen Gesellschaft« lebten,50 könnten sie sich 45 46 47 48 49 50
Nassehi, Nassehi, Nassehi, Nassehi, Nassehi, Nassehi,
Die Die Die Die Die Die
paradoxe paradoxe paradoxe paradoxe paradoxe paradoxe
Einheit Einheit Einheit Einheit Einheit Einheit
(wie (wie (wie (wie (wie (wie
Anm. Anm. Anm. Anm. Anm. Anm.
23), 23), 23), 23), 23), 23),
S. 64. S. 63. S. 63. S. 61. S. 63 f. S. 64.
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nicht mehr dadurch entlasten, dass sie ihre Exklusionserfahrungen dem gesellschaftlichen Ort einer bestimmten sozialen Gruppe zuschreiben. Vielmehr müssten sie die erfahrenen Exklusionen als individuelles Scheitern der eigenen Biographie zuordnen. Spätestens an diesem Punkt stellt sich die Frage, ob es zur Erkenntnis von Exklusionen aus Organisationsarrangements einer bis zur Selbstwidersprüchlichkeit modifizierten Systemtheorie bedarf.51 Dies gilt umso mehr, als die Abstraktionsebene, auf der Nassehi die widersprüchlichen Beziehungen zwischen der auf funktionaler Differenzierung basierenden ›Systemreferenz Gesellschaft‹ und der auf Mitgliedschaft basierenden ›Systemreferenz Organisation‹ beschreibt, es kaum zulässt, die historische Entwicklung im Verhältnis von Ökonomie und Staat, um die es hier doch geht, konkreter zu erfassen. So stellt etwa auch Martin Kronauer fest, dass die modifizierten Theorien funktionaler Differenzierung nicht in der Lage sind, die Zentralität des Lohnarbeitsverhältnisses für Ungleichheits- und Exklusionsphänomene zu begründen.52
4. Der Exklusionsbegriff der Ungleichheitsforschung Vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten der Systemtheorie, die Phänomene von Armut und sozialer Ausgrenzung begrifflich adäquat zu fassen, muss es erstaunen, dass mit Inklusion/Exklusion eines ihrer zentralen Begriffspaare zur Zentralkategorie der neueren Armutsforschung werden konnte. Das Rätsel löst sich jedoch zumindest teilweise, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass die soziologische Ungleichheitsforschung ihren Exklusionsbegriff aus der bereits in den 1980er Jahren einsetzenden französischen Debatte über die Gruppen der sogenannten ›exclus‹ bezieht. Diese Debatte setzt ohne theoretischen Bezug zur funktionalistischen Systemtheorie am Phänomen der sich für bestimmte Gruppen wie Jugendliche, Ungelernte und Migranten zuspitzenden und verfestigenden Arbeitsmarktprobleme an, die zu einem Ausschluss ganzer Gruppen, eben zu ihrer Exklusion führten.53 Nach Kronauer zeichnet sich die französische Debatte dabei von Beginn an durch die Berücksichtigung von zwei Dimensionen des Exklusionsbegriffs 51 Ausführlicher zu Nassehis Versuch, das »Problem der Kollektivität« in die Theorie funktionaler Differenzierung zu integrieren, vgl. Brodocz, Andre´: Politische Theorie und Gesellschaftstheorie. In: Buchstein, Hubertus/Göhler, Gerhard (Hg.): Politische Theorie und Politikwissenschaft. Wiesbaden 2007, S. 156–174. 52 Kronauer, Martin: Exklusion. Nachwort zur 2. Aufl. Frankfurt a. M. / New York 2010, S. 225–263, hier S. 243. 53 Kronauer, Die Gefährdung (wie Anm. 40), S. 38–51.
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aus: den Ausschluss am Arbeitsmarkt und die Schwächung sozialer Einbindung. Dabei soll Exklusion in ihrer ersten Bedeutung nicht nur Arbeitslosigkeit im engen Sinn erfassen, sondern auch die Formen ungesicherter, befristeter oder zeitweise unterbrochener Beschäftigung. In der zweiten, auf Sozialbeziehungen gerichteten Bedeutung bezieht sich der Begriff auf die Auflösung sozialer Nahbeziehungen, die Gefährdung der durch sie vermittelten personalen Identität sowie den fehlenden Zugang zu gesellschaftlichen Institutionen.54 Während diese Konzeption von Exklusion im Wesentlichen den Ausschluss von sozialer Wechselseitigkeit in Kooperationsverhältnissen und sozialen Netzen meint, identifiziert Kronauer in der französischen Debatte einen weiteren Exklusionsbegriff, der sich auf die Teilhabe an verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bezieht. Dabei geht es um den Ausschluss von wesentlichen Aspekten dessen, was nach allgemein geteilten Vorstellungen angemessene Lebenschancen ausmacht: im Bereich des Konsums, der Interessenvertretung, der materiellen Sicherheit, des Status und der Selbstbestimmung.55 Kronauer sieht in dieser auf Teilhabe bezogenen Bedeutung des Exklusionsbegriffs einen eigenen Modus der gesellschaftlichen Zugehörigkeit, der sich nicht auf die Einbindung in vergesellschaftende Arbeitsteilung und in soziale Netze reduzieren lasse.56 Interdependenz und Partizipation nennt er deshalb unterscheidbare Modi der gesellschaftlichen Zugehörigkeit, die aufeinander bezogen sind, aber auch in Spannung zueinander treten können.57 Dass ein solcher, noch einmal intern differenzierte Dimensionen umfassender Exklusionsbegriff geeignet sei, die neuen Züge sozialer Ungleichheit zu erfassen, ist allerdings umstritten. Robert Castel, einer der prominentesten Vertreter der französischen Ungleichheitsforschung, hält den Begriff der ›Exklusion‹ für zu pauschal und zu statisch, um die von einer Dynamik der Entkollektivierung der Arbeitsbeziehungen ausgehende Wiederkehr sozialer Unsicherheit zu erfassen. Er sei zu pauschal, weil er die heterogenen Verhältnisse sehr unterschiedlicher Gruppen in eins setze. Jugendliche, Langzeitarbeitslose und Menschen ohne festen Wohnsitz teilten zwar den Mangel, hätten positiv aber wenig gemein. Außerdem sei der Begriff statisch, weil er für die Betroffenen einen quasi stabilen Zustand unterstelle und 54 Kronauer, Die Gefährdung (wie Anm. 40), S. 43 f. 55 Kronauer, Die Gefährdung (wie Anm. 40), S. 45. 56 Kronauer zieht hier Parallelen zu T. H. Marshalls Konzept der sozialen Bürgerrechte (›social citizenship‹), das die Teilhabedimension berücksichtige. Allerdings kritisiert er Marshalls enge Bindung des Bürgerstatus an Erwerbsarbeit, die heute so nicht mehr möglich sei; Kronauer, Die Gefährdung (wie Anm. 40), S. 76–95. 57 Kronauer, Die Gefährdung (wie Anm. 40), S. 46.
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nicht erfasse, dass sich Menschen, bevor sie zu ›Ausgeschlossenen‹ werden, häufig in einer Situation der Verwundbarkeit oder Prekarität befinden. Dieser Prozess der Prekarisierung kumuliere zwar am Sockel der Gesellschaftspyramide, betreffe jedoch auch Teile des Mittelstands, der seine Qualifikationen entwertet sehe oder auch von Arbeitslosigkeit betroffen sein könne.58 Neben diesen eher phänomenologischen Schwächen ist der Exklusionsbegriff für Castel aber auch gesellschaftsanalytisch irreführend, weil er eine atomisierte Sichtweise der Gesellschaft befördere und die kollektive Dimension der Auflösungsphänomene ausblende.59 Mit diesem letzten Aspekt verbindet Castel schließlich eine normativ-politische Ablehnung des Exklusionsbegriffs. Aus seiner Sicht entspricht der Exklusionsbegriff der klassischen Zielbestimmung der Sozialarbeit. Er ziele auf die Eingrenzung von Problemgruppen und ihre gezielte Betreuung, lenke damit zugleich aber von Ungleichheiten und ihrem Abbau ab. Kurz, der Exklusionsbegriff stoße auf breiten Konsens, weil es einfacher sei, das Problem auf die Ränder der Gesellschaft zu verschieben, als den Prozess der Prekarisierung und seine wirtschaftlichen Ursachen politisch unter Kontrolle zu bringen.60 Castel wirft der »Rede vom Ausschluss« sogar vor, das »Supplement an Seele« darzustellen, »das eine Politik benötigt, die die Hegemonie der ökonomischen Gesetze und die Diktate des Finanzkapitals akzeptierte«.61 Ähnlich sehen das Luc Boltanski und E`ve Chiapello. Sie konstatieren, dass der gutgemeinte Verweis auf zu überwindende Exklusionen leicht in eine einseitige Verantwortungszuweisung umgedeutet werden kann: Demgegenüber war es dem Konzept der sozialen Klasse und vor allem auch des Proletariats gelungen, gerade diese Koppelung von Armut und Verantwortung oder, genauer gesagt, von Armut und den persönlichen Eigenschaften, die sich ohne weiteres zu Faktoren individueller Verantwortung umdeuten lassen, aufzubrechen. Folglich ist die Ausgrenzung etwas Schicksalhaftes, das man zu bekämpfen habe, und nicht eine Folge des sozialen Ungleichgewichts, aus dem manche auf Kosten anderer Profit schlagen.62 58 Castel, Robert: Die Wiederkehr der sozialen Ungleichheit. In: Ders. / Dörre, Claus (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. / New York 2009, S. 11–34, hier S. 28–31. 59 Castel, Die Wiederkehr (wie Anm. 58), S. 29 f. 60 Castel, Robert: Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs. In: Mittelweg 36 9 (2000) 3, S. 11–25, S. 17 f. 61 Castel, Die Fallstricke (wie Anm. 60), S. 15; zudem vergleicht er die aktuelle Konzentration auf die Ausgeschlossenen mit dem Umgang der vorindustriellen Gesellschaft mit Bettlern und Vagabunden. In beiden Fällen vermeide man es, sich dem breiten, große Volksschichten erfassenden Prozess der Prekarisierung zu stellen und befasse sich nur mit dessen äußersten Spitzen (ebd., S. 18 f.). 62 Boltanski, Luc / Chiapello, E`ve: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003, S. 390.
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Folgt man dieser Kritik, so führt die Ersetzung des Klassen- und Schichtenkonzepts durch den Exklusionsbegriff zu einer unangemessenen Individualisierung und Destrukturierung bei der Analyse und kausalen Ableitung sozialer Positionierungen. Die weiterhin stark ausgeprägte Korrelation zwischen Exklusion und hergebrachten Schicht- und Milieuzugehörigkeiten werde ignoriert.63 Die rein negative Einstufung der Betroffenen (keine Arbeit, kein Geld, keine Papiere, keine gute Umgebung usw.) stehe zudem ihrer politischen Mobilisierung entgegen. Das bedeutet allerdings auch, dass bei der Beschreibung der Allerärmsten all jene positiven Aspekte tendenziell verblassen, die in hundert Jahren Arbeitskampf und revolutionärer Literatur mit der Figur des einfachen Mannes aus dem Volk identifiziert wurden: seine nie verzagende Hoffnung, seine Offenheit und Großzügigkeit, seine Solidarität.64
Eine Vergegenwärtigung der vorherrschenden Bilder vom »abgehängten Prekariat« oder von der Jugend im Banlieu steht diesem Urteil sicherlich nicht entgegen. Martin Kronauer, neben Heinz Bude65 der prominenteste Vertreter des Exklusionsbegriffs in der deutschsprachigen Debatte, gibt der Kritik partiell recht. Er übernimmt die Warnung vor einem statischen und dichotomen Exklusionsbegriff, weil dieser sowohl die bereits im Innern der Gesellschaft einsetzende Dynamik als auch die ökonomischen Ursachen von Ausgrenzungsprozessen verdecke.66 Ausdrücklich übernimmt er im 2010 geschriebenen Nachwort zur zweiten Auflage seines Buches Castels Bild von den drei durch fließende Übergänge verbundenen Zonen: der »Zone der Integration«, der »Zone der sozialen Verwundbarkeit« und der »Zone der Entkoppelung«, um so den Prozesscharakter und die transversale Qualität von Exklusionen zu unterstreichen.67 63 Groh-Samberg, Olaf: Armut und Klassenstruktur. Zur Kritik der Entgrenzungsthese aus einer multidimensionalen Perspektive. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 56 (2004) 4, S. 653– 682. 64 Boltanski / Chiapello, Der neue Geist (wie Anm. 62), S. 384. 65 Bude, Die Ausgeschlossenen (wie Anm. 1). 66 Kronauer, Die Gefährdung (wie Anm. 40), 139 f. 67 Kronauer, Nachwort (wie Anm. 52), S. 257; ähnlich die Unterscheidung von Claus Offe, der zwischen »Gewinnern«, »Verlierern« und »Überflüssigen« unterscheidet. Offe, Claus: Moderne »Barbarei«: Der Naturzustand im Kleinformat? In: Miller, Max / Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnosen am Ende des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1996, S. 258–289, hier S. 274 f.; daran anschließend lässt sich eine treffende Kritik neoliberaler Prekarisierungspolitiken formulieren, die den konstitutiven »Wert« der Exkludierten für die Aufrechterhaltung vermarktlichter Gesellschaftsstrukturen aufzeigt: »Diese Dreiteilung des Spektrums von Lebenschancen führt zur Dif-
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Zudem räumt Kronauer ein, der Exklusionsbegriff blende, solange ihm der Maßstab für einen angemessenen Lebensstandard fehle, Verteilungsfragen aus und ziele lediglich auf die Wiedereingliederung in die gesellschaftliche Hierarchie.68 Gegen diese Gefahr glaubt sich Kronauer allerdings durch die auf angemessene Partizipation am gesellschaftlichen Leben zielende Dimension seines Ausgrenzungsbegriffs gewappnet und verweist im Übrigen darauf, dass auch Castel und Paugam den Fluchtpunkt der Prekarisierung in Kategorien der Nutzlosigkeit und des Machtverlusts beschreiben.69 Theoretisch will Kronauer die dichotomischen Aporien des Exklusionsbegriffs durch Georg Simmels Überlegungen zur Gleichzeitigkeit von ›Drinnen‹ und ›Draußen‹ in sozialen Konfigurationen der Ausgrenzung überwinden. Das ›Draußen‹ der Armen sei so gesehen immer nur Folge und Bestätigung einer Ungleichheit im ›Drinnen‹. Als Prozess betrachtet bedeute Ausgrenzung deshalb eine Machtverschiebung von wechselseitiger zu einseitiger Abhängigkeit, deren Fluchtpunkt in der Nutz- und Machtlosigkeit eines einseitigen Objektstatus liege.70 Die Kontroverse um den Exklusionsbegriff verweist auf die offensichtliche Schwierigkeit, zwei für die neue soziale Ungleichheit charakteristische Phänomene unter einen begrifflichen Hut zu bekommen: nämlich zum einen die weit in die arbeitnehmerische Mitte hineinreichende Prekarisierung der Arbeitswelt mit zunehmender Beschäftigungsunsicherheit, der Entwertung erworbener Qualifikationen, sozialen Abstiegserfahrungen und materiellen Einbußen, zum anderen die quantitative Zunahme und Verfestigung von Lebenslagen, in denen die Betroffenen aufgrund dauerhafter Arbeitslosigkeit oder Marginalisierung am Arbeitsmarkt, der Auflösung sozialer Bindungen und des Verlusts gesellschaftlicher Teilhabemöglichkeiten als exkludiert bezeichnet werden können.71
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ferenz zwischen ›Verlierern‹ und ›Untauglichen‹. Nicht die Verlierer sind marginalisiert (paradox könnte man sogar sagen: wenn man bloß Verlierer ist [. . .], dann hat man schon gewonnen, weil man über die Statusrechte eines legitimen Teilnehmers verfügt). Marginalisiert sind die von der Teilnahme Ausgeschlossenen: Nicht-Versicherte, Schulabbrecher, ›the unemployable‹, Ausländer ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis (›Illegale‹), Kriminelle [. . .].« (ebd., S. 274 f.). Kronauer, Die Gefährdung (wie Anm. 40), S. 144. Kronauer, Die Gefährdung (wie Anm. 40), S. 140. Kronauer, Die Gefährdung (wie Anm. 40), S. 149; darin folgt ihm Hildegard Mogge-Grotjahn in ihrem Handbuch-Artikel zum Thema Armut und Ausgrenzung. Auch sie betont, dass sozialer Ausschluss nie mit dem Ausschluss aus der Gesellschaft gleichzusetzen sei. Mogge-Grotjahn, Hildegard: Gesellschaftliche Ein- und Ausgrenzung. Der soziologische Diskurs. In: Huster, Ernst-Ulrich (Hg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. Wiesbaden 2008, S. 39–53, hier S. 51. Diese Formulierung entspricht dem Exklusionsbegriff Kronauers. Heinz Bude
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Bemerkenswert ist, dass die Debatte um die Angemessenheit des Exklusionsbegriffs weniger mit empirischen als mit gesellschaftsanalytischen und politisch-strategischen Argumenten geführt wird. Eine wichtige Rolle scheint dabei die Frage zu spielen, wie weit die Phänomene der neuen sozialen Ungleichheit noch an Distributionskonflikte zwischen Kapital und Arbeit zu binden sind. Die Skeptiker befürchten, die Konzentration auf den Ausgrenzungsaspekt vernachlässige Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und ziele auf die Inklusion in eine individualisierte Konkurrenzgesellschaft. Inkludiert ist dann, wer einen, aber eben auch irgendeinen Job hat und darüber am Erwerbsleben teilnimmt. Darauf bezogen versucht Kronauer mit seiner prozeduralen Bestimmung des Exklusionsbegriffs einen Balanceakt, der es ermöglichen soll, der neuartigen Situation der in mehrfacher Hinsicht exkludierten Gruppen gerecht zu werden, ohne die verursachenden und weitere Kreise betreffenden Veränderungen im Arbeitsbereich auszublenden und nur noch die sozialintegrative Perspektive der Sozialarbeit einzunehmen. Gewiss haben die Begriffe, mit denen die Sozialwissenschaft Abstiegserfahrungen und Spaltungen der Gesellschaft beschreibt, Implikationen die öffentliche Debatte über und den politischen Umgang mit den bezeichneten Phänomenen. Aus unserer Sicht stellt sich zunächst aber die Frage, ob bzw. wie die sozialwissenschaftliche Begrifflichkeit die Probleme der politischen Repräsentation der von Prekarisierung und Ausgrenzung betroffenen Gruppen erfassen kann. Die hier diskutierte Literatur thematisiert den Zusammenhang zwischen neuen Ungleichheitsformen und politischer Demokratie jedoch wenig und wenn ja, dann in erster Linie beschränkt auf die Wahlbeteiligung und die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten der betreffenden Gruppen. Kronauer etwa sieht in den jüngeren Exklusionstendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung eine Erosion des Gleichheitspostulats der Demokratie und warnt, ähnlich wie später Colin Crouch,72 vor einer nur noch formal demokratischen Elitenherrschaft.73
definiert leicht abweichend die Exkludierten als diejenigen, die »aufgrund sozialökonomischer Marginalisierung, lebenskultureller Entfremdung und sozialräumlicher Isolierung den Anschluss an den Mainstream unserer Gesellschaft verloren haben« (Bude, Heinz: Das Phänomen der Exklusion. In: Mittelweg 36 13 [2004] 4, S. 3–15, hier S. 4), und betont in seinen Veröffentlichungen als Exklusionskriterium stärker die subjektive Auffassung der eigenen Chancenlage. Bude, Heinz/Lautermann, Horst-Dieter: Soziale Exklusion und Exklusionsempfinden. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58 (2006) 2, S. 233–252. 72 Crouch, Colin: Postdemokratie. Frankfurt a. M. 2008. 73 Kronauer, Die Gefährdung (wie Anm. 40), S. 227–238.
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Darüber hinaus finden sich in der Literatur zwar immer wieder Hinweise auf das Problem der Repräsentierbarkeit – sei es auf die Naturalisierung von Ungleichheit durch eine radikalisierte »Wettbewerbslogik«,74 auf den »disqualifizierenden Charakter« der neuen Armut75 oder auf den »negativen Individualismus«.76 Die für die Politikwissenschaft zentrale Diskussion, was die Begrifflichkeit zu einem besseren Verständnis der Repräsentationsfähigkeit und damit der politischen Integration der betroffenen Gruppen beitragen kann, wird jedoch nicht geführt. Als isoliertes Gesamtkonzept ist das Begriffspaar Inklusion/Exklusion offensichtlich wenig geeignet, das Wechselverhältnis von Demokratie, Repräsentation und sozialer Ungleichheit angemessen beleuchten zu können.
5. Der analytische Wert der Kategorie Inklusion/Exklusion Unseres Erachtens zeigt die skizzierte Diskussion, dass die Ausrichtung am Begriffspaar Inklusion/Exklusion Vor- und Nachteile besitzt. Die hohen Ansprüche, die mit der Analysekategorie verbunden werden, erfüllen sich jedenfalls nicht. So erweist sich insbesondere der Versuch der Emanzipation vom vermeintlich brüchig gewordenen Paradigma des Oben und Unten letztlich als Fehlannahme. Luhmann sieht sich vor allem im Spätwerk gezwungen, gegenüber der hergebrachten systemtheoretischen Grundannahme von der Vollinklusion eine beißende Ideologiekritik zu formulieren.77 Das dabei vorgebrachte Argument, jegliche Inklusion bringe gleichzeitig eine Exklusion mit sich, wird von ihm aber im umgekehrten Fall negiert. Im Rahmen der Analyse von Kettenexklusionen sind es nämlich vor allem die Ausschlussmechanismen, die kumulieren, mit denen dann aber keine gleichwertige Inklusionsleistung der Teilsysteme mehr einhergeht. Demzufolge tendieren die Lebenslagen unterer Gesellschaftsschichten nicht nur trotz, sondern auch wegen der funktionalen Ausdifferenzierung zur Verfestigung. Mithin formuliert Luhmann eine eigentlich wenig innovative Feststellung, die analog dazu von der neuen Ungleichheitsforschung mit dem Begriff der 74 Lessenich, Stephan / Nullmeier, Frank: Deutschland zwischen Einheit und Spaltung. In: Dies. (Hg.): Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft. Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 7–27. 75 Paugam, Serge: Die elementaren Formen der Armut. Hamburg 2008. 76 Castel, Robert: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz 2000. 77 Wobei die Bisshärte auch in den späten Publikationen variiert. In Die Politik der Gesellschaft spricht er davon, dass »es selbst in entwickelten politischen Systemen noch Restprobleme der Exklusion« gibt. Luhmann, Die Politik (wie Anm. 13), S. 427.
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›Exklusion‹ beschrieben wird. Die Verkürzungen, die mit der binären Codierung von Inklusion und Exklusion in diesem Zusammenhang einhergehen, werden in den Kritiken von Castels oder Boltanski und Chiapello richtig erkannt und können auch durch den Rettungsversuch Kronauers nicht umfassend kompensiert werden. Insbesondere kommen prozedurale und graduelle Aspekte zu kurz. Das Gegensatzpaar suggeriert eine strikt zweipolige und stabile Einteilbarkeit von Gruppen und Individuen, die höchstens an idealtypisch gedachten Rändern zutreffen kann. Gleichzeitig ist auch der Kritikpunkt der (wenngleich impliziten) Verantwortungsverlagerung, die mit der positiven Fixierung auf den Inklusionsanspruch der Gesellschaft einhergeht, nicht von der Hand zu weisen. Auf die Feststellung bestehender Exklusion folgt nämlich im logischen Umkehrschluss die individuelle Förderung von Inklusionsvoraussetzungen sowie die Aufforderung zur Inklusion. Diese entspricht einem klassisch liberalen Gesellschafts- und Gerechtigkeitsverständnis, das auf die kollektive Bereitstellung und individuelle Nutzung von Chancen rekurriert. Politisch mag man dieses Konstrukt teilen oder ablehnen, in jedem Fall verstellt das Gegensatzpaar jedoch den Blick auf politische Alternativen zur liberalen Logik des letztlich selbstverantworteten Ein- und Ausschlusses. Das Paradigma des Oben und Unten ist demgegenüber schon rein begrifflich weitaus stärker verknüpft mit der Hinterfragung sozialer Determinanten politischen Einflusses – und somit auch mit der potentiellen Veränderung dieser Determinanten durch eine von gleichberechtigten Bürgern ausgehende Politik. Kurzum: eine eigentlich gesellschaftskritisch motivierte Exklusionkritik kann ungewollt zur einseitigen Dominanz liberaler Politiken des Förderns und Forderns beitragen, ohne dahinterstehende gesellschaftliche Verhältnisse, Machtasymmetrien, Gerechtigkeitsvorstellungen sowie die relative Dominanz ökonomischer Parameter über Politik und Gesellschaft zu hinterfragen. Wie gesehen geht die neue Ungleichheitsforschung zwar von solchen Asymmetrien aus, versäumt es jedoch, den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und politischer Demokratie ausreichend zu hinterfragen. Weder die systemtheoretische noch die ungleichheitstheoretische Fassung des Phänomens der Exklusion thematisieren in ausreichendem Maß das für die Relevanz von Ungleichheiten ausschlaggebende Verhältnis von Politik und Ökonomie. Gerade zur Beschreibung dieses Wechselverhältnisses stellt die Unterscheidung Inklusion/Exklusion unseres Erachtens kein angemessenes Gesamtkonzept dar. Mit der Forderung nach Inklusion geraten mangels gradueller Differenzierung (von Inklusion) die Qualität des Einschlusses und mangels kritischer Hinterfragung (des systemischen bzw. gesellschaftlichen Inklusionsziels) die Legitimität dessen, worin jemand
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inkludiert werden soll, außer Acht. Der Einzelne bleibt Zuordnungsobjekt, seine Handlungsmöglichkeiten finden ihre Grenze in gesellschaftlichen Leitparametern, die unseres Erachtens selbst politisch variabel sein sollten. Diese Zurückweisung der Ersetzung hergebrachter sozial- und politikwissenschaftlicher Kategorien durch das Inklusions-/Exklusions-Paradigma soll jedoch nicht als generelle Ablehnung des Begriffspaars missverstanden werden. Die Opposition von Inklusion und Exklusion bildet nämlich ein brauchbares Analyseinstrument, das als solches verstanden nicht nur den Längs- und Querschnittsvergleich erleichtert, sondern ein eigenständiges Potential zur Differenzierung und Kritik besitzt. Bei der Analyse des Wechselverhältnisses zwischen demokratischen Prozessen und sozialen Determinanten erweist sich diesbezüglich vor allem ein Grundgedanke als hilfreich, der paradoxerweise die systemtheoretische Ableitung des Gegensatzpaars von Inklusion und Exklusion prägt: Mit jeglicher Inklusion sind gleichzeitig Exklusionen verbunden. Für die Demokratie heißt das, dass vermeintlich inklusive Politiken auch auf ihre potentiell exklusiven Wirkungsweisen hin analysiert werden müssen. Auf diese Weise können beispielsweise verschiedene demokratische Repräsentationsformen mittels des Analyseinstruments Inklusion/Exklusion beschrieben und miteinander verglichen werden. Dabei wird deutlich, in welchem Maß der politische Prozess Einfluss auf soziale Determinanten besitzt oder selbst von sozialen Determinanten und ökonomischen Faktoren beeinflusst wird. Wendet man Inklusion und Exklusion als Analyseinstrumente im Bereich der Repräsentationsforschung an, so wird insbesondere deutlich, dass die Auswirkungen vermeintlich inklusiver Repräsentationsformen gegenüber verschiedenen sozialen Gruppen höchst unterschiedlich ausfallen. Mithilfe des Analyseinstruments kann auf der analytischen Ebene gezeigt werden, welche ausschließenden Effekte inkludierende Strategien im Bereich der Politik haben können. Ein Beispiel dafür findet sich in diesem Band. Christiane Bauschs Arbeit zu Ausländer- und Integrationsbeiräten zeigt, dass inklusiv gedachte Repräsentationsgremien, in denen die Minderheitenperspektiven von Migranten qua institutionalisierter Gruppenvertretung positiv diskriminiert werden, aus der Sicht der Betroffenen die paradoxe Form der exkludierenden Inklusion annehmen können. Durch die Nähe zwischen Migrantenvertretern und Ratsmitgliedern in Integrationsbeiräten sollen der Intention nach überlappende Mitgliedschaften entstehen.78 In der Praxis macht diese Nähe aus der Perspektive einiger Migrantenvertreter aber gerade erst deutlich, 78 Truman, David B.: The Governmental Process. Political Interests and Public Opinion. 2. Aufl. New York 1953.
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wie sehr sie im politischen Prozess benachteiligt sind, sei es aus Gründen der unterschiedlichen Stellung oder aus der subjektiven Wahrnehmung der ›Anderen‹ als Politprofis. Exkludierende Inklusion heißt hier, dass der Einschlussversuch den Ausschluss aus subjektiver Sicht deutlicher hervortreten lässt. Das mag dann im vorgelagerten Fall aber auch für jenen Teil der Migrantenbevölkerung gelten, die sich ohne Zugehörigkeit zu einer organisierten Migrantengruppe von Gremien der Migrantenselbstrepräsentation, die durch solche (v. a. ethnische) Gruppen dominiert werden, eben nicht repräsentiert sehen. Gegenläufige Effekte nimmt die vermeintlich umfassend inklusive Repräsentation benachteiligter Gruppen auch in anderen Repräsentationsformen an.79 Exkludierende Inklusion vollzieht sich dann vor allem als Benachteiligung spezifischer Untergruppen. So wurde das im Jahr 2000 eingerichtete deliberative Gremium der Unabhängigen Kommission Zuwanderung (die sogenannte Süssmuth-Kommission) von Migrantenadvokatoren und -vertretern als migrantenfreundlich und somit marginalisierte Perspektiven einbringend gelobt. Die auf rationalen Konsens ausgerichtete Verfasstheit der Repräsentationsform führte jedoch trotz der migrantenfreundlichen Besetzung dazu, dass jene Interessen, die sich nicht an ein ökonomisch verstandenes Gemeinwohl rückkoppeln ließen, benachteiligter waren als im herkömmlichen politischen Prozess. Das betrifft insbesondere Flüchtlingsinteressen, die gerade durch das vermeintlich inklusive Gremium systematisch exkludiert wurden. Ähnliches lässt sich für den Fall der sogenannten Hartz-Kommission beobachten.80 Deren Ergebnisse führten zu einer relativen Inklusion der Anliegen leistungsbereiter, flexibler und leistungsfähiger Arbeitsloser (z. B. durch die Offerierung der Möglichkeiten einer ›Ich-AG‹), wohingegen schwer vermittelbare, ältere und unqualifizierte Arbeitslose defizitär repräsentiert wurden, was im Ergebnis auf die Optimierung der Variable des ›Forderns‹ hinauslief. Expertokratisch besetzte deliberative Gremien stärken mithin die Stellung ökonomisierbarer Interessen.
79 Vgl. zum Folgenden Linden, Markus: Wissensbasierte Disparität. Die parlamentarisch-parteipolitische und deliberativ-rationale Repräsentation von Migranteninteressen in der Ära Schröder. In: Linden, Markus / Thaa, Winfried (Hg.): Die politische Repräsentation von Fremden und Armen. Baden-Baden 2009, S. 145– 179; und Linden, Markus / Thaa, Winfried: Die Unabhängige Kommission Zuwanderung und die parlamentarische Repräsentation von Migranteninteressen: Exklusion durch deliberative Rationalisierung? In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 41 (2010) 1, S. 50– 67. 80 Eigentlich Kommission moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, 2002.
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Will man über diese rein analytischen Feststellungen hinaus eine gesellschaftspolitische Gesamtperspektive einnehmen, also eine über Mikrostudien hinausreichende politikwissenschaftliche Analyse und Bewertung der Ergebnisse zur Inklusion bzw. Exklusion im Rahmen verschiedener Repräsentationsformen vornehmen, bedarf es eines Maßstabs. Unseres Erachtens steht es außer Frage, dass solche Maßstabssetzungen immer normativen Charakter besitzen. Wie gesehen kann der Begriff der ›Inklusion‹ keinen solchen übergeordneten Maßstab darstellen. Da politikwissenschaftliche Arbeiten politisch relevante Begriffe zwar kritisch reflektieren, aber, sofern sie am Kriterium demokratischer Selbstregierung und Emanzipation festhalten, nicht ohne normative Begriffe auskommen können, halten wir am Integrationsbegriff fest.81 Diesbezüglich bildet die politische Repräsentation einen zentralen, oft unterschätzten Modus der pluralistisch verstandenen politischen Integration demokratischer Gemeinwesen. Ohne hier näher darauf eingehen zu können, zeichnet sich integrative politische Repräsentation vor allem durch vier Kriterien aus: die Mäßigung, die symbolische Repräsentation relevanter gesellschaftlicher Konflikte und Perspektiven, die inhaltliche Repräsentation der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen sowie die Verantwortlichkeit und Zurechenbarkeit politischer Entscheidungen, welche letztlich als Grundbedingung für ein gehaltvolles Wechselspiel von bürgerschaftlicher Partizipation und parlamentarisch-parteipolitischer Repräsentation firmiert. Die dargestellten Exklusionseffekte neuer Repräsentationsformen tangieren alle Merkmale des kursorisch skizzierten Begriffs integrativer politischer Repräsentation. Welche Schlüsse aus der mittels des Begriffspaars Inklusion/ Exklusion erfolgten Analyse für die politische Repräsentation abgeleitet werden können, wollen wir abschließend am Aspekt der inhaltlichen Repräsentation aufzeigen. Als integrativ erweist sich die repräsentative Demokratie in diesem Sinne dann, wenn strukturelle Benachteiligungen, also dem politischen Prozess eingeschriebene Diskriminierungen, möglichst minimiert werden. Insofern ist es ein Defizit, wenn mit spezifischen Repräsentationsformen die systematische Benachteiligung bestimmter Interessen einhergeht. Der Vergleich zeigt beispielsweise, dass deliberative Gremien für schwache und nicht an die gängigen Vorstellungen vom Allgemeinwohl anzubindende Interessen wesentlich exkludierender wirken als die parlamentarisch-parteipolitische 81 Ausführlicher zum Folgenden Linden, Markus: Politische Integration im vereinten Deutschland. Baden-Baden 2006; und Linden, Markus: »Die im Dunkeln sieht man nicht« – Potentiale, Probleme und Perspektiven der Integration durch Repräsentation. In: Weißeno, Georg (Hg.): Bürgerrolle heute. Migrationshintergrund und politisches Lernen. Bonn 2010, S. 161–174.
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Repräsentation. Mit Hilfe des Maßstabs der politischen Integration lässt sich zeigen, dass vermeintlich altbackene Repräsentationsformen Vorteile gegenüber ›repräsentativen Innovationen‹ besitzen können. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Die Opposition von Inklusion und Exklusion ist eine hilfreiche analytische Kategorie, deren Gefahr darin besteht, sie zu einem umfassenden sozialwissenschaftlichen Großkonzept mit handlungsleitendem Charakter umdeuten zu wollen. Es handelt sich um ein Analyseinstrument, mehr aber auch nicht.
Eine Inklusionsmaßnahme und ihre Exklusionseffekte: Die politische Repräsentation von Migranten in Ausländer- und Integrations(bei)räten Christiane Bausch Einleitung Wenn es um die gesellschaftliche und politische Einbindung von Migrantinnen und Migranten geht, wird in der Politikwissenschaft in der Regel über ›Integration‹ diskutiert. Das Thema hat in jüngerer Zeit vor dem Hintergrund zunehmender ethnisch-kultureller Pluralisierung und daraus resultierender Fragen nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt an Relevanz hinzugewonnen. Obwohl das, was unter Integration verstanden wird, nicht einheitlich definiert ist, besteht weitestgehend Konsens dahingehend, dass Integration die politische Partizipation und Repräsentation – damit also die Inklusion in das politische System – voraussetzt. So fungiert Roland Roth zufolge in repräsentativen Demokratien vor allem das Wahlrecht als »zentraler Modus politischer Inklusion«.1 Über das Wahlrecht zu verfügen, eröffne nicht nur die Teilnahme an Wahlen, sondern begünstige auch die politische Selbstorganisation und stärke die gesellschaftliche Anerkennung. Ferner würde der Verlauf von öffentlichen Debatten über Zuwanderung und Integration durch die Zusammensetzung der Wahlberechtigten beeinflusst.2 In der praktischen Politik dominiert ebenfalls ›Integration‹ als zentraler Begriff. In Nordrhein-Westfalen wurde im Jahr 2005 das erste Landesministerium für die Integration von Zuwanderern eingerichtet, dem mittlerweile weitere gefolgt sind. Schon durch ihre Bezeichnung verdeutlichen auch die kommunalen Integrationsräte, um die es neben den Ausländerbeiräten in diesem Beitrag gehen wird, diese Tendenz. Trotz der augenscheinlichen Dominanz des Integrationsbegriffes kursiert der Begriff ›Inklusion‹ mitunter aber auch in der Politik. Die Stadt Solingen hat beispielsweise mit Beginn der Legislaturperiode 2010 einen Unterausschuss für Gender, Inklusion und demographischen Wandel eingeführt, wobei sich Inklusion hier auf die gesellschaftliche Einbindung von behinderten Personen bezieht. 1 Roth, Roland: Integration durch politische Partizipation und bürgerschaftliches Engagement. In: Gesemann, Frank / Roth, Roland (Hg.): Lokale Integrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft. Migration und Integration als Herausforderung von Kommunen. Wiesbaden 2009, S. 195–215, hier S. 197. 2 Roth, Integration (wie Anm. 1), S. 197.
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In der jüngeren partizipatorischen Demokratietheorie, die das handlungsermöglichende Potenzial politischer Repräsentation hervorhebt und vor allem die Erfüllung des Gleichheitsanspruchs der Demokratie im Blick hat, wird ebenfalls auf die Begriffe Inklusion und Exklusion rekurriert. Sie finden hier vornehmlich als Synonyme für die Einbeziehung in die bzw. den Ausschluss aus der Politik Verwendung. Seit den 1990er Jahren beschäftigen sich vor allem US-amerikanische Theoretikerinnen und Theoretiker mit dem Einfluss von Gruppenzugehörigkeiten – insbesondere entlang der Kategorien ›gender‹ und ›race‹ – auf die politische Repräsentation.3 Ihnen geht es um die Exklusion gesellschaftlicher Gruppen aus der Interessenvertretung, die zwar formal rechtlich gleichgestellt sind, aber aufgrund von strukturellen Barrieren nicht über dieselben Teilhabechancen verfügen.4 Vor dem Hintergrund der politischen Unterrepräsentation von Frauen und ethnischen Minderheiten in den USA plädieren sie für die Erhöhung sogenannter deskriptiver Repräsentanten; das heißt Repräsentanten, die selbst strukturell benachteiligten Gruppen angehören und deshalb bestimmte individuelle Merkmale oder Erfahrungen mit den übrigen Gruppenmitgliedern gemein haben. Die Befürworterinnen deskriptiver Repräsentation gehen dabei davon aus, dass zwischen der Präsenz und der Chance, dass spezifische Interessen und Perspektiven von strukturell benachteiligten Gruppen Berücksichtigung finden, ein Zusammenhang besteht. Ihres Erachtens müssen politische Maßnahmen getroffen werden, um Exklusionsmechanismen entgegenzuwirken und damit auch die Fortschreibung struktureller Ungleichheiten zu unterbrechen. Deskriptive Repräsentation ist auch der Modus, nach dem die bundesdeutschen Migrantenvertretungen funktionieren, die in diesem Beitrag untersucht werden. Insofern sie die Einbeziehung der Interessen und Sichtweisen von Migranten zum Ziel haben, können sie als eine Inklusionsmaßnahme gesehen werden. Zu unterscheiden sind zwei Typen von Migrantenvertretungen: die Ausländerbeiräte und die in jüngerer Zeit eingerichteten Integrationsräte. Die klassischen Ausländerbeiräte stellen ausschließlich für Einwohnerinnen und Einwohner ohne Bürgerstatus eine Partizipationsmöglichkeit dar. Die ersten Ausländerbeiräte wurden angesichts einer steigenden Zahl an 3 Vgl. etwa Phillips, Anne: Politics of Presence. 2. Aufl. Oxford 2003; Young, Iris M.: Inclusion and Democracy. Oxford 2000. 4 Dass Nicht-EU-Ausländern in Deutschland das Wahlrecht verwehrt ist, stellt wiederum einen eindeutigen Fall von rechtlich begründeter Exklusion dar, die im weberschen Sinne als eine Form sozialer Schließung beschrieben werden kann. Hier greift ein dichotomes Verständnis von Inklusion / Exklusion im Sinne von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit.
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in Deutschland lebenden ›Gastarbeitern‹ zu Beginn der 1970er Jahre institutionalisiert, als sich die Auffassung durchsetzte, dass der Ausschluss von jeglicher politischer Teilhabe nicht mit demokratischen Grundsätzen vereinbar ist. Sie sollten zumindest eine eingeschränkte Interessenvertretung für ausländische Einwohner ohne Wahlrecht gewährleisten. Dieses Modell existiert bis in die Gegenwart, wurde jedoch in jüngerer Zeit zumindest in einigen Bundesländern reformiert. Obschon die neu eingerichteten Integrationsräte enger mit der allgemeinen Kommunalpolitik verzahnt sind – es sind auch aus dem Stadtrat entsandte Ratsmitglieder eingebunden und stimmberechtigt – und ihr Zuständigkeitsbereich erweitert wurde, handelt es sich auch bei ihnen weiterhin um Gremien mit lediglich beratender Kompetenz. Die Ausländer- und Integrations(bei)räte folgen insofern der Logik deskriptiver Repräsentation, als darin Migranten die Interessen von Migranten zur Geltung bringen sollen, wobei dieses Prinzip in den Integrationsräten durch die Beteiligung von kommunal gewählten Ratsmitgliedern relativiert wurde. In diesem Beitrag soll nun am Beispiel dieser Gremien gezeigt werden, inwiefern die Heranziehung sozialwissenschaftlicher Konzepte von Inklusion / Exklusion für eine genauere, die paradoxen Effekte erfassende Beschreibung ihrer Funktionsweise weiterführend sind. Die Datenbasis bilden dabei qualitative Leitfadeninterviews mit Mitgliedern der Ausländerbeiräte von Mainz und Koblenz sowie der Integrationsräte von Essen und Solingen und die Sitzungsprotokolle der entsprechenden Gremien.5 Im Folgenden werden zunächst die politisch geschaffenen Inklusionsmaßnahmen betrachtet, bevor anschließend die aus diesen hervorgehenden Exklusionseffekte aufgezeigt werden. Inwiefern tragen die Ausländer- und Integrations(bei)räte zur Inklusion von Migranten in das politische System bei? Hier wird zum einen die inhaltliche und zum anderen die symbolische Einbeziehung in den Blick genommen. Angesichts der Heterogenität von Migranten stellt sich zudem die Frage, wie sich die Gremien auf die politische Repräsentation von Subgruppen auswirken. Abschließend soll auf 5 Eingehendere Ergebnisse finden sich in der Dissertation der Verfasserin zum Thema »Inklusion durch politische Selbstvertretung? Die Repräsentationsleistung von Ausländer- und Integrations(bei)räten«. Untersucht wurden die Ausländerbeiräte von Koblenz und Mainz sowie die Integrations(bei)räte von Essen und Solingen in der Wahlperiode 2005–2009. Insgesamt wurden 30 qualitative Leitfadeninterviews geführt und analysiert sowie die Sitzungsprotokolle der Gremien im Untersuchungszeitraum systematisch ausgewertet. Das methodologische Rahmenkonzept bildete die Grounded Theory in der Fassung von Corbin, Juliet / Strauss, Anselm: Basics of Qualitative Research. Thousand Oaks 2009.
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den Zusammenhang zwischen Inklusion/Exklusion und politischer Integration eingegangen werden. Inklusionsmechanismen Inklusion der Perspektiven und Interessen marginalisierter Gruppen Grundsätzlich eröffnen die Ausländer- und Integrations(bei)räte Migrantinnen und Migranten zunächst einmal einen Zugang zum politischen Feld, denn sie garantieren ihnen ein gewisses Maß an politischer Selbstrepräsentation. Der hier wirksam werdende Inklusionsmechanismus ist Partizipation.6 Die Gremien bieten Personen mit Migrationshintergrund die Möglichkeit, spezifische Perspektiven und Belange vorzubringen und – möglicherweise befördert durch den Prozess der Repräsentation – neue Interessen, die sich bislang noch nicht herauskristallisiert hatten, zu formulieren.7 Wie die Interviews zeigen, lassen sich solche migrantenspezifischen Interessen vor allem im Bereich Bildung und Schule identifizieren. Vielen Migrantenvertretern geht es darum, die Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund zu verbessern, wobei insbesondere Sprachförderung, etwa muttersprachlicher Unterricht, einen wichtigen Aspekt darstellt. Auch die Verbesserung des Übergangs von der Schule in den Beruf ist ein zentrales Anliegen. Daneben werden auch gruppenspezifische Interessen artikuliert, die sich hauptsächlich auf den kulturellen Bereich beziehen. So äußern vor allem Migrantenvertreter aus ethnischen Listen,8 ihnen gehe es insbesondere darum, sich dafür einzusetzen, dass Migranten ihre kulturellen Gepflogenheiten und Werte beibehalten können. Für jemanden, der sich gar nicht mehr an den Werten der Herkunftskultur orientieren würde, so ein Mitglied der Essener Liste Allianz der Essener Türken, brauche er sich 6 Im Anschluss an Kronauer, Martin: Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, 2. akt. u. erw. Aufl. Frankfurt a.M. 2010, der sich von einem systemtheoretischen Verständnis von Inklusion/Exklusion distanziert, bestehen grundsätzlich zwei Inklusionsmodi: zum einen ›Interdependenz‹ und zum anderen ›Partizipation‹. Interdependenz bezieht sich auf die Einbindung in Erwerbsarbeit und in wechselseitige Nahbeziehungen sowie unterstützende soziale Netzwerke. Partizipation meint die Teilhabe am Lebensstandard und an Lebenschancen, wozu auch die politische Interessenvertretung zählt. 7 Vgl. Mansbridge, Jane: Should Blacks Represent Blacks and Women Represent Women? A Contingent »Yes«. In: The Journal of Politics 61 (1999) 3, S. 628– 657. 8 Dazu zählen jene Listen, die sich in ihrer Bezeichnung und in der Regel auch in ihrem Selbstverständnis an ethnisch definierten Gruppen orientieren, zum Beispiel die beiden Listen Allianz der Essener Türken und der Libanesische Zedernverein in Essen.
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auch nicht einzusetzen, denn »der ist in den Augen der Aufnahmegesellschaft schon integriert, der braucht uns gar nicht, der lehnt uns auch ab«.9 Einerseits äußern einige, sie verstünden sich als Repräsentanten aller Migranten, jedoch meinen sie andererseits, man könne die Interessen und Probleme der eigenen Herkunftsgruppe überzeugender wiedergeben. Dies sei deutschen Ratsmitgliedern ohne Migrationserfahrung und Mitgliedern von Migrantengruppen aus anderen Kulturkreisen nicht gleichermaßen möglich, da diese nicht über das notwendige soziale Wissen und die persönliche Erfahrung verfügten. Zwar könnten Mitglieder beispielsweise Migrantenvereine besuchen und sich mit diesen austauschen, aber was sich tatsächlich an der Basis zutrage, sei von außen nicht zu durchdringen. Diese Sichtweise wird allerdings keineswegs von allen Migrantenvertretern geteilt. Vielen ist es nach eigener Aussage ein Anliegen, sich für alle Gruppen einzusetzen und potentielle Spaltungslinien entlang ethnischer oder religiöser Zugehörigkeiten zu überwinden. Immer wieder wird die Bedeutung des unmittelbaren Kontaktes zu Migranten betont. Diese, so ein Mitglied des Solinger Integrationsrates, würden nicht jedem ihre Probleme – zum Beispiel mit ihren Kindern, die keine Ausbildungsstelle finden oder mit Integrationskursen, die sie unter Druck setzen, aber mitunter keine Wirkung zeigten – anvertrauen. Durch ihren unmittelbaren Zugang zu den einzelnen Migrantencommunities können die Migrantenvertreter also auf Problemlagen und Bedürfnisse aufmerksam machen, die andernfalls mit einiger Wahrscheinlichkeit keine Berücksichtigung auf der politischen Tagesordnung finden würden. Dies gilt insbesondere für die Belange weniger gut integrierter Migranten, die sonst möglicherweise nicht erreicht werden würden. In der Berücksichtigung migrantenspezifischer Interessen und der Erweiterung der politischen Agenda liegt mithin das inkludierende Potenzial dieser Sondergremien. Die engere institutionelle und personelle Anbindung der Integrationsräte an den Stadtrat hat zudem ihre Einflussmöglichkeiten vergrößert. Durch die Einbeziehung von Ratsvertretern erhalten die Migrantenvertreter einen Einblick in die Positionen der Parteien und die Konfliktlinien der allgemeinen Kommunalpolitik. Überdies lernen sie den Diskussionsstil und gängige Verfahrensweisen in politischen Gremien kennen. All das kann die Weiterentwicklung politischer Fachkompetenzen fördern.
9 Interview mit einem Migrantenvertreter aus dem Essener Integrationsbeirat, geführt am 11. 02. 2011.
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Symbolische Repräsentation – Inklusion in das politische Gemeinwesen Inwiefern tragen nun die Migrantenvertretungen zur symbolischen Repräsentation von Personen mit Migrationshintergrund und damit zu ihrer Inklusion in das politische Gemeinwesen bei? Symbolische Repräsentation bezeichnet eine Repräsentationsbeziehung, in der die Repräsentierten einem Repräsentanten vertrauen und ihn als solchen anerkennen, dies aber in erster Linie nicht aufgrund der von ihm vertretenen politischen Inhalte. Sie beruht damit eher auf affektiven Zuschreibungen seitens der Bürger an einen politischen Vertreter.10 Mit Blick auf Einwanderer könnten gemeinsame individuelle Merkmale sowie die geteilte Migrationserfahrung als verbindendes Element empfunden werden und deskriptive Repräsentation darauf Einfluss haben, dass sich Migranten politisch vertreten fühlen. Gefragt nach der Einschätzung der politischen Repräsentation von Migranten in Deutschland, äußerten mehrere Migrantenvertreter in den Interviews, immerhin gäbe es inzwischen eine gewisse Anzahl türkischstämmiger Politikerinnen und Politiker und dementsprechend würde sich die politische Repräsentation von Migranten verbessern. Es besteht folglich aus Sicht der Migrantenvertreter ein grundsätzlicher Zusammenhang zwischen der Präsenz von Politikern mit Migrationshintergrund und dem Gefühl, politisch vertreten zu werden. In einem erweiterten Verständnis symbolischer Repräsentation vermag diese – vermittelt über Institutionen – Wertvorstellungen und Ordnungsprinzipien zum Vorschein zu bringen, die dem politischen Gemeinwesen zugrunde liegen.11 Die Präsenz von Migranten in der bundesdeutschen Politik könnte demnach die Anerkennung von ethnisch-kultureller Vielfalt und Chancengleichheit sichtbar und erfahrbar machen. Das wiederum könnte Personen mit Migrationshintergrund das Gefühl vermitteln, ein gleichberechtigtes Mitglied des politischen Gemeinwesens zu sein und als solches anerkannt zu werden. Dass den Gremien aus der Perspektive der befragten Migrantenvertreter durchaus eine gewisse symbolische Bedeutung zukommt, zeigt sich darin, dass viele von ihnen den Eindruck formulierten, durch ihre politische Aktivität hätten sie gegenüber der Mehrheitsgesellschaft wie auch gegenüber den Migranten selbst deutlich gemacht: Auch Migranten sind politisch aktiv. So äußerte eine Migrantenvertreterin aus dem Essener Integrationsbeirat, die migrantischen Mitglieder würden schon allein durch ihre aktive politische Partizipation etwas zur Integration beitragen, indem 10 Vgl. Pitkin, Hanna: The Concept of Representation. Berkeley 1972. 11 Vgl. Göhler, Gerhard: Institution – Macht – Repräsentation. Wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken. Baden-Baden 1997.
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sie den Einwohnern mit Migrationshintergrund signalisierten, dass Migranten in der Politik etwas bewirken können. Damit hätte man auch einem Anspruch auf Selbstbestimmung Ausdruck verliehen: »Wir lassen nicht über uns bestimmen, wir wollen auch mitbestimmen.«12 Die politische Partizipation an sich trägt aus Sicht der Migrantenvertreter zu einer Bedeutungsverschiebung bei: Migranten werden nicht länger als Objekte der Politik gesehen, sondern als politisch handelnde Subjekte. Allerdings wurde auch betont, die deutlich eingeschränkten Einflussmöglichkeiten der Gremien konterkarierten das symbolische Potenzial. Wie ist es nun um die Wahrnehmung der Gremien von außen bestellt? Im Vergleich der beiden Modelle Ausländerbeirat und Integrationsrat ist festzustellen, dass Letzteres schon allein durch die personelle Verzahnung von Seiten der Politik und der Verwaltung stärker wahrgenommen und berücksichtigt wird. Allerdings ist die geringe Wahlbeteiligung – diese lag bei den letzten Wahlen in vielen Kommunen bei unter 10% –, die für alle untersuchten Gremien festzustellen ist, als ein klares Indiz dafür zu sehen, dass den Gremien von Seiten der Bevölkerung mit Migrationshintergrund nur eine geringe symbolische Bedeutung beigemessen wird. Ob dies allerdings auf fehlende Informationen über die Gremien oder mangelndes Interesse zurückzuführen ist, kann aufgrund der Datenlage an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Betrachtet man die mediale Berichterstattung über die Gremien in der lokalen Presse, so ist vor allem für den Essener Integrationsbeirat, über den vergleichsweise viel berichtet wurde, festzustellen, dass diese überwiegend negativ ausfällt: Berichtet wird hier vor allem über kriminelle Verwicklungen einzelner gewählter Migrantenvertreter. Auf das Ansehen des Gremiums in der Öffentlichkeit dürfte sich dies wohl alles andere als förderlich auswirken. In der Tendenz ist eine negative Aspekte betonende Berichterstattung auch für den Solinger Integrationsrat zu konstatieren. Während der Koblenzer Ausländerbeirat in der lokalen Presse gewisse Beachtung findet und verhältnismäßig sachlich über ihn berichtet wird, gilt für den Mainzer Ausländerbeirat, dass er in der lokalen Presse kaum vorkommt.13
12 Interview mit einer Migrantenvertreterin aus dem Essener Integrationsbeirat, geführt am 25. 02. 2010. 13 Untersucht wurden die jeweils auflagenstärksten lokalen Tageszeitungen im Untersuchungszeitraum: Die Essener Ausgabe der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, das Solinger Tageblatt, die Koblenzer Rhein Zeitung sowie die Mainzer Allgemeine Zeitung.
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Exklusionseffekte von Ausländer- und Integrations(bei)räten Aber auch unabhängig von der medialen Marginalisierung muss geprüft werden, ob man von politischer Inklusion durch Ausländer- und Integrations(bei)räte sprechen kann oder ob es sich nicht vielmehr um eine Form der »external inclusion« handelt, also einer exkludierenden Inklusion, wie sie Iris Marion Young beschreibt: Having obtained a presence in the public, citizens sometimes find that those still more powerful in the process exercise, often unconsciously, a new form of exclusion: others ignore or dismiss or patronize their statements and expressions. Though formally included in a forum or process, people find that their claims are not taken seriously and may believe that they are not treated with equal respect. The dominant mood may find their ideas or modes of expression silly or simple, and not worthy of consideration.14
Ihr zufolge sind es also auch hegemoniale Kommunikationsnormen und Sprechstile, die diejenigen Gruppen benachteiligen, die diese nicht verinnerlicht haben. Wie ist es nun um solche Exklusionsformen in den Ausländer- und Integrations(bei)räten bestellt? Trotz der oben beschriebenen inkludierenden Wirkungsweise von Ausländer- und Integrations(bei)räten sind exkludierende Nebeneffekte festzustellen, die der angestrebten Inklusion zuwiderlaufen. Darunter fallen erstens der Ausschluss von Migrantenvertretern durch die Verwehrung von Anerkennung, zweitens die unzulängliche Einbeziehung in Entscheidungsprozesse und damit der Ausschluss im Hinblick auf die substanzielle Repräsentation und drittens die Exklusion von Subgruppen. Wie die Untersuchung – und insbesondere der Vergleich der beiden Formen von Migrantenvertretungen – zeigt, sind diese Mechanismen der Exklusion einerseits bereits in die konkrete institutionelle Ausgestaltung der Gremien eingeflossen und werden andererseits durch ihre spezifische Funktionsweise perpetuiert und verstärkt. Exklusion von Migrantenvertretern – Verwehrung von Anerkennung Durch die garantierte Selbstvertretung erhalten Migranten zunächst Zugang zum politischen Feld; das heißt, sie werden formal inkludiert. Doch werden sie dort auch als gleichberechtigte Akteure anerkannt? Bei der Frage nach der Exklusion muss es darum gehen, ein graduell gestaltetes Verhältnis im Inklusionsbereich genauer zu beleuchten.15 Im Mittelpunkt steht daher die 14 Young, Inclusion (wie Anm. 3), S. 55. 15 Besonders ergiebig für die Analyse der hier wirksam werdenden Mechanismen erweist sich die Heranziehung von theoretischen Ansätzen, die explizit den Versuch unternehmen, Inklusion / Exklusion und Ungleichheit zusammenzudenken.
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Qualität von Teilhabe im gesellschaftlichen Teilbereich der Politik. Ein dichotomes Verständnis von Inklusion und Exklusion im Sinne von drinnen oder draußen ist nicht hilfreich. Vielmehr muss Exklusion im Sinne von Kronauer als sich grundsätzlich innerhalb der Gesellschaft vollziehend betrachtet werden. Diese setzt ihm zufolge »den (gewohnheitsmäßigen oder normativen) Anspruch beziehungsweise die formale Berechtigung auf Zugehörigkeit geradezu voraus – ohne dass dieser Anspruch eingelöst würde«.16 Exklusion müsse zugleich als Zustand wie als Prozess betrachtet werden.17 Im Hinblick auf die Ausländerbeiräte ist festzustellen, dass sie zwar einen relativ geschützten Diskussionsraum bilden, von dem aus zugleich aber wenig nach außen dringt. Wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen, bleiben die Gremien außen vor. Dies gilt auf eine andere Art und Weise auch für die neueren Modelle, die Integrationsräte. Hier haben sich die Modi der Inklusion gewandelt: Auch deutsche Staatsbürger sind wählbar und wahlberechtigt, allerdings nur insofern, als sie über einen Migrationshintergrund verfügen. Es ist folglich nicht länger die ausländische Staatsbürgerschaft, die eine gesonderte Repräsentation begründet, sondern die Migrationserfahrung und die Annahme, dass daraus spezifische Bedürfnis- und Problemlagen erwachsen. Anders als die Ausländerbeiräte, deren Beratungsspektrum auf ausländerspezifische Themen beschränkt ist, können sich die reformierten Integrationsräte mit allen Angelegenheiten der Gemeinde befassen. Im Vergleich zu den traditionellen Ausländerbeiräten sind sie dadurch deutlich näher an der allgemeinen Kommunalpolitik. Allerdings haben zahlreiche gewählte Mitglieder geäußert, sie fühlten sich von Das Fehlen einer solchen Zusammenführung begrenzt mitunter die analytische Reichweite systemtheoretischer Modelle von Inklusion / Exklusion, was Armin Nassehi wie folgt beschreibt: »Die meisten systemtheoretischen Beschreibungen entlasten sich mit dem Rekurs auf exotische Exklusionen auch davon, die inklusive soziale Ungleichheit angemessen zu beschreiben. [. . .] Auch darauf habe ich schon mehrfach hingewiesen: Auch Zahlungsunfähigkeit, mangelhafte politische Repräsentation, schlechte oder fehlende Bildungsabschlüsse usw. sind spezifisch moderne Formen der Inklusion in die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft.« Nassehi, Armin: Inklusion, Exklusion, Ungleichheit. Eine kleine theoretische Skizze. In: Schwinn, Thomas (Hg.): Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. Frankfurt a. M. 2004, S. 323–352, hier S. 329. 16 Kronauer, Martin: »Exklusion« als Kategorie einer kritischen Gesellschaftsanalyse. Vorschläge für eine anstehende Debatte. In: Bude, Heinz / Willisch, Andreas (Hg.): Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige. Hamburg 2006, S. 27– 45, hier S. 40. 17 Vgl. Kronauer, Gesellschaftsanalyse (wie Anm. 16); vgl. auch Kronauer, Exklusion (wie Anm. 6).
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Seiten der Verwaltung und der Politik nicht ernst genommen und die Kommunikation finde nicht auf Augenhöhe statt. Der beschriebene Eindruck wird auch von einigen interviewten Stadtratsmitgliedern bestätigt. So zeigt sich hier stärker noch als bei den Ausländerbeiräten, was Kronauer als ein spezifisches Ungleichheitsverhältnis beschreibt, das sich durch die »Gleichzeitigkeit von Drinnen und Draußen« auszeichnet.18 Zwar sind hier zahlreiche Migrantenvertreter deutsche Staatsbürger und überdies demokratisch gewählte Interessenvertreter, werden aber dennoch nicht als gleichberechtigte Akteure anerkannt. Dies ist wohl im Zusammenhang damit zu sehen, dass ›die Migranten‹ in den meisten Fällen als Laien in das politische Feld eintreten. Ihre Sachkompetenz wird weniger an erworbenen inhaltlichen Fachkenntnissen festgemacht als vielmehr an ihrer persönlichen Lebensgeschichte und ihren Erfahrungen. Dies führt wiederum dazu, dass sie bei Diskussionen von Querschnittsthemen – also zum Beispiel von Stadtplanungskonzepten oder Schulentwicklungsplänen – häufig überfordert sind und nicht mitreden können. Hinzu kommt, dass sie beim Eintritt in die Gremien oftmals über keinerlei Erfahrungen in politischen Ämtern verfügen und die impliziten Regeln des politischen Feldes mitunter nicht kennen. Dies hängt vor allem mit der Art und Weise zusammen, wie die Mitglieder rekrutiert werden. Ein Großteil ist von Migrantenvereinen motiviert worden, für einen Sitz in Ausländer- und Integrations(bei)räten zu kandidieren, oftmals jedoch ohne dass bereits konkrete politische Zielvorstellungen vorhanden waren. Pierre Bourdieu hat mit Blick auf die politische Partizipation einen weiteren wichtigen Punkt herausgearbeitet, der auch hier zum Tragen kommt. So steht ihm zufolge Sachkompetenz in einem engen Zusammenhang zu Statuskompetenz; das heißt, es muss auch das »Gefühl« vorhanden sein, »berechtigt zu sein, sich überhaupt mit Politik zu beschäftigen, ermächtigt zu sein, politisch zu argumentieren, über die Autorität zu verfügen, um über Politisches in politischen Begriffen zu sprechen, also eine spezifische politische Bildung einzusetzen [...].«19 Zwar wird den Migrantinnen und Migranten sowohl Sach- wie Statuskompetenz von außen zugesprochen, jedoch stoßen sie gleichzeitig in der Praxis immer wieder an die Grenzen der Möglichkeiten politischer Einflussnahme, was bei vielen zu Frustration und teilweise auch zu Resignation geführt hat. In den Ausländerbeiräten wurden insgesamt wenige politische Forderungen erhoben und die Sitzungen wurden von einzelnen engagierten Mitgliedern gestaltet. Ein Mitglied des Mainzer Ausländerbeirates beschreibt die Situation in den Sitzungen folgendermaßen: 18 Kronauer, Exklusion (wie Anm. 6), S. 195. 19 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Frankfurt a. M. 1987, S. 639.
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Die Migranten oder Ausländer, die reden überhaupt nicht. Wenn sie wüssten, dass ihre Stimme Wert hat, dann fangen sie auch an, aber wenn es so ist wie jetzt, dann ziehen sie sich natürlich zurück und meiner Meinung nach ist es so weit gekommen.20
Hier wirkt sich also im Vergleich zu den Integrationsräten noch zusätzlich aus, dass die gewählten Mitglieder keine deutschen Staatsbürger und damit formal rechtlich nicht gleichgestellt sind. Mit Blick auf die Integrationsräte zeigt sich im Vergleich zu den Ausländerbeiräten, die von der allgemeinen Kommunalpolitik mehr oder weniger losgelöst sind, noch deutlicher das Herausfallen aus feldspezifischen Anerkennungslogiken.21 Viele würden sich, so ein Migrantenvertreter, angesichts der politisch versierteren Ratsvertreter nicht trauen, das Wort zu ergreifen. Manchen falle es zudem schwer, die komplexe politische Sprache zu durchdringen. Die zahlreichen Verwaltungsvorlagen würden oftmals nicht richtig verstanden oder es fehle auch die Zeit, sich damit zu beschäftigen. Dies führt dazu, dass einige Mitglieder eher als passive Zuhörer die Diskussionen der Ratsvertreter verfolgen. So äußerte eine Migrantenvertreterin aus dem Essener Integrationsbeirat: Wie gesagt, ich hatte die ganze Zeit im Integrationsbeirat das Gefühl gehabt, wir werden bevormundet. Als ob wir das alles nicht können. Also ich hab immer gesagt: lass es uns versuchen, ich weiß, ich kann es nicht wie eine deutsche Politikerin, eine Frau, die in einer Partei jahrelang Mitglied ist und unterstützt wurde und bearbeitet wurde. Aber lass mich das mal auf meinem Wege machen. Das werde ich auch lernen. Das meine ich jetzt nicht nur für mich, sondern für uns allgemein.22
Durch die Gremien wird ihnen also eine bestimmte Rolle zugeschrieben und sie werden als ›die Migranten‹ sichtbar. Ein anschauliches Beispiel für unterschiedliche Vorstellungen von gelungener politischer Praxis bildet der Verlauf einer Sitzung des Essener Integrationsbeirates im Jahr 2006, in der es um die Abschiebung eines libanesischen Staatsbürgers in die Türkei ging.23 Damals kritisierten die Migrantenvertreter die Ausländerbehörde äußerst scharf und argumentierten dabei oftmals 20 Interview mit einem Migrantenvertreter aus dem Mainzer Ausländerbeirat, geführt am 30. 11. 2010. 21 Bourdieu zufolge verläuft Anerkennung und Nicht-Anerkennung im politischen Feld entlang der binären Unterscheidung Politiker versus Laien. Zu der »stillschweigenden Prämisse der politischen Ordnung« gehört es, »daß nämlich Laien von ihr ausgeschlossen sind.« Bourdieu, Pierre: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft. Konstanz 2001, S. 44. 22 Interview mit einer Migrantenvertreterin aus dem Essener Integrationsbeirat, geführt am 07. 04. 2010. 23 Sitzungsprotokoll des Essener Integrationsbeirats vom 02. 05. 2006.
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moralisch. Zu der Sitzung hatten sie einen Rechtsanwalt eingeladen, der einen konkreten Abschiebefall als juristisch fragwürdig darstellte. In einer Sitzung des Ausschusses für Zuwanderung und Integration einen Tag später äußerten sich die Ratsmitglieder äußerst kritisch über den Ablauf der vorherigen Sitzung.24 Vor allem die Präsenz des Rechtsanwaltes wurde kritisiert und seine Stellungnahme als eine »Bewerbungsrede« gedeutet. Ein Stadtratsmitglied bezeichnete die Sitzung als eine »Showveranstaltung« und betonte, »um eine Eskalation zu vermeiden, habe man sich bewusst nicht zu Wort gemeldet«. Eine Verwaltungsvertreterin gab außerdem zu bedenken, »[e]s könne auch grundsätzlich nicht sein, dass Einzelschicksale in einem solchen Gremium behandelt würden.« Demgegenüber wurde die Sitzung von der Mehrheit der Migrantenvertreter als sehr gelungen empfunden und die Rede des Anwalts habe »viel Wahrheit enthalten«. Der Vorsitzende des Integrationsbeirates erklärte, »die Menschen, die sich in einer solchen Notlage befänden, hätten immer wieder das Bedürfnis, sich gerade in einem solchen Gremium äußern zu dürfen«. Das Beispiel zeigt, wie den Migrantenvertretern indirekt auch eine gewisse politische Inkompetenz angelastet wird, indem die von ihnen gewählten Handlungsweisen sowie die zum Ausdruck gebrachten Perspektiven abqualifiziert werden. Insgesamt wird in den Interviews, die mit gewählten Mitgliedern der Integrationsräte geführt wurden, die Tendenz deutlich, dass sich diese bevormundet sehen. Hier tritt die Kehrseite positiver Diskriminierung von Gruppen hervor, die Robert Castel als eine von drei Formen der Exklusion, die in der Gegenwart am ehesten vorzufinden ist, nachdrücklich kritisiert: Der dritte Fall der Ausschließung, wodurch manchen Bevölkerungsschichten ein spezieller Status zugeschrieben wird, ist zweifellos die Form, die in der aktuellen Lage am ehesten droht. Sie hängt zusammen mit der grundlegenden Zweideutigkeit einer Politik positiver Diskriminierung. [...] Im Prinzip sind diese politischen Maßnahmen (Stadtpolitik, ›Mindesteingliederungseinkommen‹, Ausbildungsförderung, um den Zugang zu Beschäftigung zu erleichtern, usw.) nicht anzufechten, denn sie zielen darauf ab, denen ein Plus zu gewährleisten, die im Minus sind, um sie dem gewöhnlichen Lebensstandard anzunähern. Doch die elementarste soziologische Beobachtung zeigt, daß die positive Diskriminierung sich leicht in negative verkehrt.25
24 Sitzungsprotokoll des Essener Ausschusses für Zuwanderung und Integration vom 03. 05. 2006. 25 Castel, Robert: Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs. In: Mittelweg 36 9 (2000) 3, S. 11–25, hier S. 24.
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Ausschluss von substanzieller Repräsentation Exklusionen im Bereich der politischen Partizipation können mitunter »Erfahrungen von Macht- und Chancenlosigkeit«26 zur Folge haben. Zwar sind die Migrantinnen und Migranten durch die Ausländer- und Integrations(bei)räte in das politische System inkludiert, sie werden jedoch zugleich ausgeschlossen, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen. Die Frage ist also auch, welche Bedeutung den Gremien im Hinblick auf die effektive inhaltliche Vertretung zukommt. Schaut man sich an, inwieweit die im Rahmen der Migrantenvertretungen behandelten Themen auch auf die Agenda der entsprechenden Stadträte gelangt sind, so ist das selten der Fall. Dies ist mitunter auf das mangelnde Engagement der Migrantenvertreter zurückzuführen, das unter anderem in der unregelmäßigen Teilnahme an den Sitzungen der Gremien zum Ausdruck kommt. Daneben spielen aber die unzureichende politische Erfahrung vieler Migrantenvertreter, den eigenen Anliegen Gewicht zu verleihen, und die eingeschränkten rechtlichen Möglichkeiten der Gremien eine Rolle. Im Vergleich zwischen Ausländerbeiräten und Integrationsräten ist festzustellen, dass bei Letzteren die substanzielle Repräsentation durch die Einbindung der Ratsmitglieder und die dadurch erzielte engere Anbindung an den Stadtrat erhöht wird. So sind es häufig die Ratsvertreter, die die Themen auf die politische Agenda des Stadtrates setzen. Aber auch im Fall der Integrationsräte ist festzustellen, dass diese bei Entscheidungen oftmals übersehen werden und die von den Migrantenvertretern artikulierten Positionen und Ansprüche sich als nicht anschlussfähig erweisen.27 So wurde im Solinger Stadtrat im März 2007 beispielsweise über eine Änderung der Satzung über die Erhebung von 26 Kronauer, Exklusion (wie Anm. 6), S. 35. 27 Niklas Luhmann geht zwar davon aus, dass Exklusionen nicht auf der Ebene des Gesellschaftssystems, wohl aber auf der Ebene von Organisationen möglich sind. Unter Heranziehung von Luhmanns Beschreibung von politischen Organisationen als nach Zentrum/Peripherie differenziert lassen sich die Exklusionseffekte von Migrantenvertretungen in Bezug auf die substanzielle Repräsentation präzise fassen. In ihrer Funktion, Komplexität für die Entscheidungsfindung des Stadtrates zu reduzieren, sind Ausländer- und Integrations(bei)räte als politische Organisationen im Teilsystem Politik eindeutig der Peripherie zuzuordnen. Die entscheidende Frage im Hinblick auf Inklusion/Exklusion lautet nun, ob es ihnen gelingt, kommunikative Anschlussfähigkeit herzustellen, mit anderen Worten, ob die von ihnen formulierten Vorschläge auch eine Aussicht auf Realisierung haben. Anhand des untersuchten Materials lässt sich jedoch zeigen, dass dies weitestgehend nicht der Fall ist: Die Inklusion in die Organisation eines Ausländer- oder Integrations(bei)rates stellt letztlich keine tatsächliche Inklusion in das Funktionssystem Politik dar. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2002, S. 232 f.
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Nutzungsgebühren für Übergangsheime von Aussiedlern und Flüchtlingen abgestimmt. Obwohl es sich dabei eindeutig um ein Thema handelt, das den thematischen Zuständigkeitsbereich des Integrationsrates unmittelbar betrifft, wurde dieser nicht einbezogen.28 Dass der Beschluss am Integrationsrat vorbei getroffen wurde, wurde dann auch durch den von der Ratsfraktion Bündnis 90/Die Grünen entsandten Ratsherrn in der nächsten Sitzung des Integrationsrates vorgebracht, was aber ohne Folgen blieb. Ähnliche Beispiele für die nicht erfolgte Einbeziehung des Gremiums in Entscheidungsprozesse ließen sich auch in Bezug auf den Essener Integrationsbeirat anführen.29 In den Interviews erklärten mehrere engagierte Migrantenvertreter, sie würden sich aufgrund ihrer enttäuschenden Erfahrungen im Hinblick auf die Wirksamkeit der Gremien nicht noch einmal um einen Sitz in einem solchen Gremium bewerben. Wie Cornelia Bohn, an Bourdieus Definition von Politik – als ein Spiel mit impliziten Regeln30 – anknüpfend, treffend formuliert: »Moves that produce no effects in the game are the moves of the excluded.«31 Exklusion von Subgruppen? Neben den beschriebenen Exklusionsmechanismen der auf Inklusion ausgerichteten Migrantenvertretungen, die vor allem im Verhältnis zu anderen kommunalen Gremien zum Ausdruck kommen, ist auch in den Blick zu nehmen, wer alles nicht in die Gremien eingebunden ist; das heißt, wer unter den Migrantinnen und Migranten von vornherein über keine oder eine vergleichsweise geringe Chance verfügt, über das Gremium politisch zu partizipieren. Im Falle der klassischen Ausländerbeiräte liegt dies auf der Hand: Migranten, die die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben, werden durch diese nicht vertreten. Bei den Integrationsräten wurde der Personenkreis erweitert und es ist nicht länger die ausländische Staatsbürgerschaft, sondern der Migrationshintergrund, der das entscheidende Teilnahmekriterium darstellt. 28 Sitzungsprotokoll des Stadtrates vom 22.03.2007. 29 So kritisierte der Vorsitzende des Integrationsbeirates in der Sitzung vom 07.02.2006, dass über die im Ratsausschuss für Integration und Zuwanderung gestellten Anträge oftmals am Integrationsbeirat vorbei abgestimmt würde und diesem keine Stellungnahme ermöglicht würde. 30 Bourdieu, Feld (wie Anm. 21), S. 47. 31 Bohn, Cornelia: Inclusion and exclusion: Theories and Findings. From Exclusion from the Community to Including Exclusion. In: Gestrich, Andreas [u. a.] (Hg.): Strangers and Poor People. Changing Patterns of Inclusion and Exclusion in Europe and the Mediterranean World from Classical Antiquity to the Present Day. Frankfurt a. M. 2009, S. 35–53, hier S. 44.
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Sieht man sich die Zusammensetzung der Ausländerbeiräte wie der Integrationsräte an, so ist festzustellen, dass einige Gruppierungen besonders stark vertreten sind, andere nur schwach oder gar nicht. Nun stellt sich die Frage, inwieweit sich die Diskrepanzen in der Zusammensetzung der Gremien auf die inhaltliche Vertretung auswirken. Oftmals dominieren türkischstämmige Migranten, die sich in der Regel zu türkischen, meist muslimisch geprägten Listen zusammenfinden. Der Zusammenschluss ethnischer Gruppierungen zu Listen findet sich auch für andere Herkunftsgruppen: In Mainz gibt es die Kroatische Liste, in Solingen die Italienische Liste und in Essen den Libanesischen Zedernverein – um nur einige Beispiele zu nennen. Es fällt auf, dass diese Listen verstärkt für die Interessen der eigenen Herkunftsgruppe eintreten, wobei das nicht für alle gleichermaßen gilt. Kleinere Migrantengruppen haben sich oftmals zu sogenannten internationalen oder demokratischen Listen zusammengefunden, die sich aus einer Vielzahl von Herkunftsgruppen zusammensetzen. Da sie Wähler unabhängig von geteilten Merkmalen wie der nationalen Herkunft oder der Religion ansprechen – Eigenschaften, die starke Mobilisierungsfaktoren darstellen –, erzielen sie oftmals weniger gute Wahlergebnisse. Des Weiteren fällt auf, dass bestimmte Herkunftsgruppen nur selten in den Gremien zu finden sind. So waren in den untersuchten Gremien beispielweise keine afrikanischen Vertreter präsent, obwohl gerade diese Gruppe als besonders benachteiligt gilt. Ebenso werden Flüchtlinge nur indirekt, entweder durch Flüchtlingsorganisationen, die zumeist beratend in die Gremien eingebunden sind, oder aber durch in diesem Politikfeld besonders engagierte Ratsmitglieder vertreten. Obwohl nicht präsent, kommen ihre Interessen also durchaus zur Geltung; folglich kann mit Blick auf diese Gruppe trotz fehlender deskriptiver Repräsentanten nicht von ihrer Exklusion ausgegangen werden. Eine weitere Gruppe, die inzwischen unterrepräsentiert ist, sind die EUAusländer. Dies hängt allerdings vor allem mit ihrem gegenüber anderen Migrantengruppen privilegierten Status zusammen, der ihnen als Bürger der EU das kommunale Wahlrecht zugesteht. Deshalb sehen viele keine Notwendigkeit, sich in Beiräten zu engagieren bzw. sich an den Wahlen zu beteiligen. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass sich die ethnisch-kulturelle Vielfalt mitnichten in diesen Gremien widerspiegelt, wodurch die Gremien an Repräsentativität einbüßen.
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Fazit: Inklusion/Exklusion und Integration Was beschreiben nun die Konzepte von Inklusion und Exklusion im Unterschied zum sozialwissenschaftlichen Schlüsselkonzept der Integration? Wie deutlich geworden ist, liegt das analytische Potenzial des Begriffspaars Inklusion/Exklusion in der Erfassung sich gleichzeitig vollziehender Prozesse, die in diesem Fall die Ambivalenzen gut gemeinter Inklusionspolitiken hervortreten lassen. Vor allem die theoretischen Fassungen des Konzepts, wie sie etwa Martin Kronauer und Robert Castel vornehmen, die sich von einem systemtheoretischen Verständnis weitestgehend lösen und den Versuch unternehmen, Inklusion/Exklusion mit sozialer Ungleichheit zusammenzudenken, erweisen sich als fruchtbar. Als Analyseinstrumente ermöglichen sie es, Rückschlüsse über den erreichten Grad politischer Integration zu treffen, der ein übergeordnetes Paradigma darstellt. Politische Integration, die über Partizipation und Repräsentation hergestellt und aufrechterhalten wird, erfordert unter anderem »die möglichst gleichwertige symbolische und inhaltliche Repräsentation der vorhandenen gesellschaftlichen Interessen und Werthaltungen«.32 Politische Repräsentation wirkt daher umso integrativer, je inklusionsfähiger sie ausgestaltet ist. Schaut man sich dahingehend die auf Inklusion angelegten Ausländer- und Integrationsräte im Vergleich an, so ist festzustellen, dass beide Modelle ihre je eigenen Exklusionseffekte mit sich führen. Während die Ausländerbeiräte einen nach innen geschützten Raum bieten, gleichzeitig jedoch wenig Wirkung nach außen haben, sind es in den Integrationsräten vor allem die ungleichen Ausgangsbedingungen zwischen Ratsmitgliedern und Migrantenvertretern sowie die Nicht-Anerkennung der Migrantenvertreterinnen und -vertreter als gleichberechtigte Akteure, die zu (Status-)Konflikten und der Festschreibung von kollektiven Identitäten führen. Die Tatsache, dass die Migrantenvertreter durch die engere Verzahnung der Integrationsräte mit dem Stadtrat eine Beziehung zu den allgemeinen Konfliktlinien der Kommunalpolitik aufbauen können, dürfte sich auf die politische Integration eher förderlich auswirken. Allerdings stehen dieser (im Sinne politischer Integration wünschenswerten) Entwicklung die beschriebene Verfestigung von Gruppenidentitäten sowie die eingeschränkte substanzielle Repräsentation entgegen. Exklusionen sind also zum einen bereits in die institutionelle Ausgestaltung der Sondergremien eingeflossen und werden zum anderen in der politischen Praxis (re-)produziert. 32 Linden, Markus: Kreuzung politischer Kreise. »Überlappende Mitgliedschaft« als Inklusions- und Kohäsionskonzept für pluralistische Einwanderungsgesellschaften. In: Meimeth, Michael [u. a.] (Hg.): Integration und Identität in Einwanderungsgesellschaften. Herausforderungen und transatlantische Antworten. Baden-Baden 2008, S. 81–95, hier S. 88 f.
Armutspolitische Konvergenz und Divergenz im Parteienwettbewerb. Inklusion und Exklusion im Bundestagswahlkampf 2009 Timo Frankenhauser und Simon Stratmann
1. Einleitung Der Problemkomplex Armut und Ausgrenzung hat in Deutschland in den vergangenen Jahren verstärkt Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs und die mediale Berichterstattung gefunden. Die politikwissenschaftliche Parteienforschung hat sich indes noch kaum mit diesen Phänomenen beschäftigt; zur Repräsentation von Armutsthematiken durch die deutschen Parteien liegen bisher keine systematischen Befunde vor. In der Politikwissenschaft wird Armutspolitik als Appendix wohlfahrtsstaatlicher Fragestellungen behandelt und so häufig im Rahmen sozialer Ungleichheit thematisiert.1 Im vorliegenden Beitrag wird für ein differenziertes, den spezifischen Charakter von Armut und deren politischer Bekämpfung in den Blick nehmendes Verständnis plädiert. Mit Armutspolitik sind dabei primär Maßnahmen gemeint, die dann einsetzen, wenn die soziale Situation Einzelner oder von Gruppen ein Maß erreicht, das von politischen Akteuren als nicht mehr erträglich definiert wird. In Abgrenzung zur Sozialpolitik im weiteren Sinne sind dabei für die vorliegende Fallstudie folgende Analysekriterien von Relevanz: erstens die Konzentration auf die drei Politikbereiche Grundsicherung, steuerfinanzierte Transferleistungen und Arbeitsmarktpolitik2 und 1 Vgl. u.a. Greven, Michael T. (Hg.): Sozialstaat und Sozialpolitik. Krise und Perspektiven. Neuwied 1980; Nullmeier, Frank: Spannungs- und Konfliktlinien im Sozialstaat. In: Frech, Siegried / Schmid, Josef (Hg.): Sozialstaat. Reform, Umbau, Abbau? Schwalbach 2004, S. 43–57; Schmidt, Manfred G.: Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich. Wiesbaden 2005; Bäcker, Gerhard / Neugebauer, Jennifer: Soziale Sicherung und Arbeitsförderung bei Armut durch Arbeitslosigkeit. In: Huster, Ernst-Ulrich (Hg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. Wiesbaden 2008, S. 501–522; Schmid, Josef: Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistung und Probleme. Wiesbaden 2010. 2 Nicht in die Fallstudie einbezogen werden insbesondere jene von den Parteien genannten Maßnahmen aus den Säulen des Sozialversicherungssystems, die nur im weiteren Sinne die Sicherung des Lebensstandards und damit nicht nur das soziokulturelle Existenzminimum gewährleisten sollen: Rentenversicherung, Pflegeversicherung, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung usw. Bei der Arbeitsmarktpolitik
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zweitens die Frage, welche Lebensbedingungen von den politischen Parteien – über die ›klassischen‹ Risikogruppen (z. B. Obdachlose) hinaus – als veränderungsbedürftig qualifiziert werden. Im Folgenden soll zunächst gezeigt werden, dass sich das sozialwissenschaftliche Exklusionskonzept als Problemzugang für die Verortung der Parteien im armutspolitischen Wettbewerb sinnvoll nutzen und an ein etabliertes Analyseinstrumentarium der Parteienforschung anschließen lässt. Die darauf folgende Fallstudie über die armutspolitischen Semantiken der Parteien im Bundestagswahlkampf 2009 zeigt dann auf, dass die Frage der Inklusion von Armen zunehmend zum Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen wird. Teils werden dabei von den Parteien auch Semantiken benutzt, die bestimmten Gruppen aus soziomoralischen Erwägungen Exklusion androhen und damit die Bedingungen für eine Inklusion von Armen neu definieren. Dieser empirische Befund einer Diskurserweiterung in der Sozialstaatsdebatte stellt die häufig geäußerte Annahme einer sozialpolitischen Konvergenz der Parteien3 in Frage.
2. Das Exklusionskonzept als Problemzugang für die Parteienforschung Das Exklusionskonzept bildet derzeit das dominante Forschungsparadigma in der sozialwissenschaftlichen Armutsforschung und hat damit einkommensbasierten Konzepten oder dem Lebenslagenansatz tendenziell den Rang abgelaufen bzw. sogar den Armutsbegriff selbst überlagert.4 Dieser geht es daher in diesem Beitrag nicht um Maßnahmen, die allgemein der Minderung sozialer Ungleichheit und einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen dienen. Stattdessen sollen besonders die im dritten Sozialgesetzbuch geregelten Maßnahmen der Arbeitsförderung, die Fragen der Lohnuntergrenzen und des Lohnabstandsgebots sowie Bezugnahmen auf den Niedriglohnsektor behandelt werden. 3 Christoph Butterwegge wirft allen »etablierten Parteien« vor, einer »neoliberalen Hegemonie« zu dienen, die nur von der Partei »Die Linke« aufgebrochen werden konnte. Butterwegge, Christoph: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird. Frankfurt a. M. 2011, S. 8, S. 197 und S. 322; Niklas Potrafke argumentiert, dass bei » SPD und CDU [. . .] insgesamt große Gemeinsamkeiten der Positionen« festzustellen seien. Potrafke, Niklas: Konvergenz in der deutschen Finanz- und Sozialpolitik. Berlin 2009, S. 241 f. 4 Bude, Heinz / Willisch, Andreas (Hg.): Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige. Hamburg 2006, S. 11; Huster, Ernst-Ulrich: Armut in Europa. Opladen 1996; Buhr, Petra / Leibfried, Stephan: Ist die Armutsbevölkerung in Deutschland exkludiert. In: Stichweh, Rudolf / Windolf, Paul (Hg.): Inklusion und Exklusion: Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit. Wiesbaden 2009, S. 103–122; Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang: Exklusion als soziologisches Konzept. In: Sozialer Sinn 10 (2009) 1, S. 3–28.
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Paradigmenwechsel ist nicht zuletzt auf die gesteigerte Bedeutung von wohlfahrtsstaatlichen Verteilungskonflikten zurückzuführen, die den sozialpolitischen Diskurs im vergangenen Jahrzehnt wesentlich geprägt haben. Das Exklusionskonzept nimmt direkt Bezug auf den Charakter und die Folgen dieser Verteilungskonflikte: »Der Ursprung dieses Begriffs [Exklusion, Anm. d. Verf.] liegt eigentlich im politischen Raum, wo er der Kennzeichnung neuartiger sozialer Probleme dient, die den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden.«5 Das Diktum der gesellschaftlichen Ausgrenzung wird dabei in der soziologischen Debatte mit zahlreichen anderen Begriffen bzw. Gruppenbezeichnungen – Unterschicht(en), Überflüssige, abgehängtes Prekariat – von teils »evokative[r] Metaphorik«6 verknüpft, auf die hier jedoch nicht weiter eingegangen werden soll. Stattdessen wird ein Begriff von Exklusion gewählt, der geeignet erscheint, den Forschungsgegenstand der parteipolitischen Deutungsmuster7 von Armut zu erhellen und dabei die aktuellen Entwicklungen der deutschen Exklusionsdebatte aufzunehmen. Im Zuge der zunehmenden Anerkennung von Armutsbetroffenheiten und empfundener Ausgrenzung als relevanten gesellschaftlichen Problemen hat in Deutschland insbesondere Martin Kronauer den Exklusionsbegriff in den armutssoziologischen Diskurs eingeführt. Er verbindet in seiner Arbeit Exklusion: Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus das aus der französischen Wissenschaftstradition entlehnte Verständnis von ›exclusion sociale‹8 mit dem auf den britischen Wohlfahrtsstaattheoretiker 5 Bude, Heinz: Das Phänomen der Exklusion. Der Widerstreit zwischengesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Rekonstruktion. In: Bude, Heinz/Willisch, Andreas (Hg.): Exklusion. Die Debatte über die »Überflüssigen«. Frankfurt a. M. 2008, S. 246–260, hier S. 247. 6 Vgl. Castel, Robert: Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs. In: Bude / Willisch, Die Debatte (wie Anm. 5), S. 69–86, hier S. 69; dies.: Die Debatte über die »Überflüssigen«. Einleitung. In: Ebd., S. 9–30, hier S. 9. 7 Deutungsmuster werden hier verstanden als Verknüpfungen »unterschiedliche(r) Bedeutungselemente zu einer kohärenten (nicht notwendig: konsistenten) Deutungsfigur, die in unterschiedlicher manifester Gestalt auftreten kann«. Keller, Reiner: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen. Wiesbaden 2007, S. 104 f. 8 Ihren Ausgangspunkt nimmt die französische Exklusionsforschung in dem auf Emile Durkheim zurückgehenden Verständnis von »organischer Solidarität«, welches die integrative Wirkung von primär aus gesellschaftlicher Arbeitsteilung erwachsenden Interdependenzbeziehungen betont. Das Brüchigwerden der durch organische Solidarität vermittelten Interdependenzbeziehungen hat in jüngerer Vergangenheit die französische Armutsforschung zur Entwicklung von Typologien sogenannter Gefährdungszonen gesellschaftlicher Ausgrenzung veranlasst. Vgl. u. a. Castel, Robert: Die Metamorphosen der Sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz 2000; Paugam, Serge: Die elementaren Formen der Armut. Hamburg 2008.
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T. H. Marshall zurückgehenden Konzept sozialer Bürgerrechte9 zu einem gesellschaftskritischen Analyserahmen, der Exklusionsphänomene in Interdependenz- und Partizipationsaspekte zu differenzieren und im Rahmen einer Vier-Felder-Matrix aufeinander zu beziehen vermag. Interdependenz und Partizipation bilden für Kronauer zwei verschiedene Modi der Zugehörigkeit zu modernen Gesellschaften. Während unter Interdependenz die Einbindung in Erwerbsarbeit und soziale Nahbeziehungen als zentrale Vergesellschaftungsinstanzen zu verstehen ist, zielt Zugehörigkeit durch Partizipation auf die Verwirklichung von politisch-institutionellen, kulturellen und materiellen Teilhaberechten ab. Das Problem der gesellschaftlichen Ausgrenzung ergibt sich folglich aus einem Mangel in der Verwirklichung eines oder beider Modi der Zugehörigkeit.10 Durch die Verschiebung des Analysefokus vom Rand – also den Armen selbst – auf das Zentrum und damit die Frage der gesellschaftlichen Ursachen von Armut setzt ein solches Exklusionsverständnis dezidiert auf eine neue Perspektive: Es bestimmt Armut nicht über (insbesondere monetäre) Unterschwellen, sondern versucht die Folgen von zunehmender Armut und Arbeitslosigkeit bzw. prekärer Beschäftigung in ihrer sozialen Relationalität, »als abgestufte soziale Verhältnisse von Teilhabe bzw. Ausschluss«11 zu erfassen, denn – wie Robert Castel betont – »die wesentlichen Züge der Exklusionssituation finden sich nicht in diesen Situationen selbst«.12 Im Anschluss an Georg Simmel13 stellt Kronauer dabei fest, Ausgrenzung müsse in funktional differenzierten Gesellschaften mehr denn je als »Ausgrenzung in der Gesellschaft begriffen werden [...]. Die Ausgegrenzten sind Teil der Gesellschaft, auch wenn sie nicht an ihr teilhaben.«14 Kronauer betrachtet damit gesellschaftliche Ausgrenzung als dringendes politisches Problem, denn »[i]m Phänomen der Exklusion steht die Demokratie auf dem Spiel«.15 9 Der zweite Theoriestrang, auf den sich das Exklusionskonzept Kronauers bezieht, geht auf den britischen Soziologen und Wohlfahrtsstaattheoretiker T. H. Marshall (1893–1981) zurück. Er nimmt weniger die durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung vermittelten Interdependenzverhältnisse als vielmehr die individuelle Ausstattung mit Partizipationsrechten im Sinne politischer, sozialer und kultureller Teilhabe in den Blick. 10 Kronauer, Martin: Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt a. M. 2010, S. 145 ff. 11 Kronauer, Die Gefährdung (wie Anm. 10), S. 1. 12 Castel, Die Fallstricke (wie Anm. 6), S. 71 (Herv. im Original; T. F. / S. S.). 13 Simmel, Georg: Der Arme. In: Ders. (Hg.): Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin 1908, S. 345–374. 14 Kronauer, Martin: »Exklusion« als Kategorie einer kritischen Gesellschaftsanalyse. Vorschläge für eine anstehende Debatte. In: Bude / Willisch, Das Problem (wie Anm. 4), S. 27– 45, hier S. 29 (Herv. im Original; T. F. / S. S.). 15 Kronauer, »Exklusion« als Kategorie (wie Anm. 14), S. 29.
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Die politikwissenschaftliche Parteienforschung ist der Aufforderung Kronauers, den Blick auf das Zentrum der Gesellschaft und damit auch und vor allem auf die Armutspolitik der Parteien zu richten, bisher nur ansatzweise nachgekommen,16 obwohl die genannten Modi der Zugehörigkeit – Interdependenz und Partizipation – für die Parteienforschung heuristisch durchaus anschlussfähig sind. Kronauers Konzeptionalisierung von Exklusion als Prozess, der eine Gefahr für die »sozialen Grundlagen der Demokratie«17 darstellt, verweist auf einen zentralen Gegenstandsbereich der Politikwissenschaft: die kritisch-reflexive Frage nach dem Zustand des Gemeinwesens und der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen zum Wohle der Gesellschaft. Die vorliegende Analyse trägt dieser Konzeptionalisierung Rechnung, indem sie Instanzen untersucht, die zentrale Träger demokratischer Prozesse sind: die politischen Parteien als Akteure, die in der Gesellschaft verwurzelt sind, jedoch als intermediäre Organisationen auch in den Staat hineinwirken und deren Problemwahrnehmungen und Programmentwicklungen für die Ausgestaltung politischer Entscheidungen von großer Bedeutung sind.18 Für die Parteien im politischen System der BRD stellt sich folglich vor dem Hintergrund der Problemdiagnosen der Exklusionsforschung die Frage nach entsprechenden Handlungsoptionen zur Bekämpfung von Armut und zur Aufrechterhaltung der Integrationskraft und demokratischen Qualität der Gesellschaft. Das Sprechen über Arme bzw. Armut kann als symbolischer Konstruktionsprozess verstanden werden, der den Raum des Sagbaren konstituiert und damit auch den Spielraum für politisches Entscheidungshandeln beeinflusst. Dabei weisen empirische Studien auf einen signifikanten Zusammenhang zwischen Politikdarstellung und -herstellung hin und belegen auch für die Wahlkampfkommunikation der Parteien, dass durchaus ein »statistischer Zusammenhang zwischen Wahlversprechen und Regierungspraxis«19 besteht. Zur Verortung der parteilichen Deutungsmuster 16 Vgl. etwa den kurzen Beitrag von Neugebauer, Gero: Die Unterschicht und die Parteien. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 56 (2008) 33–34, S. 31–38. 17 Kronauer, Die Gefährdung (wie Anm. 10), S. 19. 18 Jun, Uwe: Wandel des Parteien- und Verbändesystems. In: APuZ 57 (2009) 28, S. 28–34. 19 Stöss, Richard / Niedermayer, Oskar: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Stand und Perspektive der Parteienforschung in Deutschland. Opladen 1993, S. 7–34, hier S. 23; vgl. ähnlich auch Maurer, Marcus: Wissensvermittlung in der Mediendemokratie. Wie Medien und politische Akteure die Inhalte von Wahlprogrammen kommunizieren. In: Politische Vierteljahresschrift (2009), Sonderheft: Politik in der Mediendemokratie, S. 151–173; Klingemann, Hans-Dieter (Hg.): Parties, Policies, and Democracy. Boulder 1994; Rölle, Daniel: Parteiprogramme und parlamentarisches Handeln. In: Ders. (Hg.): Politik und Fernsehen. Inhaltsanalytische
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von Armut im symbolischen Raum gesellschaftlicher Ideen soll im Folgenden zunächst ein theoretisch-methodisches Instrumentarium der Parteienforschung skizziert werden. Die beiden Modi der Zugehörigkeit, Interdependenz und Partizipation, können dabei als zusätzliche Interpretationsrahmen dienen, um politische Maßnahmen und Werthaltungen auf die von Kronauer beschriebenen mehrdimensionalen Exklusionsphänomene zu beziehen.
3. Armut in Deutschland: Deutungskämpfe im Parteienwettbewerb 3.1 Die Repräsentation gesellschaftlicher Konflikte durch Parteien Die Parteien sind gemäß ihres »ubiquitären«20 Charakters im politischen System der BRD jene Akteure, die in umfassendster Weise die wechselseitige Rückbindung von Bürgern und Staat sicherstellen sollen. Als politische Vermittlungsagenturen haben sie eine Reihe von wichtigen Funktionen, zu denen unter anderem die politische Repräsentation sozialer Gruppen und ideologischer Ziele sowie die Vermittlung demokratischer Legitimation gehören.21 Aus diesen Gründen sind ihre Positionen nicht allein politischen Sachzwängen, strategischen Gesichtspunkten oder rein pragmatischen Erwägungen geschuldet, sondern eng mit lebensweltlichen Konflikten verbunden, die die Mitglieder der Gesellschaft in Befürworter und Gegner bestimmter Positionen trennen und von den Parteien als Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen reproduziert werden. Diese »cleavages« werden als »tief greifende, über eine längere Zeit stabile, konflikthafte und im Rahmen des intermediären Systems organisatorisch verfestigte Spaltungslinie[n]«22 verstanden. Die im Anschluss an Lipset und Rokkan23 in der Politikwissenschaft derzeit gängigste Polaritätsbeschreibung des Parteiensystems findet sich bei Niedermayer. Er zeigt anhand einer Meta-Analyse quantitativer und qualitativer Studien auf, dass für die BRD eine Zweidimensionalität der
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Untersuchungen. Wiesbaden 2001, S. 7–90. Diese Befunde sind umso höher zu bewerten, da die (bisher durchgehend vorhandene) Notwendigkeit der Bildung von Koalitionen im politischen System der BRD die Durchsetzbarkeit parteipolitischer Positionen erschwert. Decker, Frank: Parteiendemokratie im Wandel. In: Decker, Frank / Neu, Viola (Hg.): Handbuch der deutschen Parteien. Wiesbaden 2007, S. 19– 61, hier S. 19. Vgl. Steffani, Winfried: Parteien als soziale Organisationen. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 19 (1988) 4, S. 549–560, hier S. 550. Niedermayer, Oskar: Gesellschaftliche und parteipolitische Konfliktlinien. In: Kühnel, Steffen (Hg.): Wähler in Deutschland. Wiesbaden 2009, S. 30–67, hier S. 35. Lipset, Seymour M. / Rokkan, Stein: Party Systems and Voter Alignments: Cross National Perspectives. New York 1967.
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Repräsentation von Konflikten im Parteiensystem festzustellen ist.24 Zum Einen handelt es sich dabei um einen sozioökonomischen Konflikt, der sich auf die politische Auseinandersetzung zwischen Sozialstaatswahrung oder einer möglichst freien Marktwirtschaft bezieht. Zum Anderen besteht ein soziokultureller Konflikt zwischen libertären Werthaltungen, die u. a. eine Befürwortung heterogener Lebensweisen und Toleranz gegenüber Minderheiten umfassen, sowie autoritären Werthaltungen, die eine Unterordnung unter Autoritäten, homogene Lebensweisen und starke Eingliederungsgebote gegenüber Minderheiten befürworten. Diese Konfliktlinien lassen sich in verschiedenen Politikfeldern vorfinden und können als grundlegende Orientierungs- und Deutungsmuster verstanden werden. Sie unterfüttern theoretisch das Spannungsfeld, in dem die Auseinandersetzungen stattfinden, und bieten gleichzeitig eine Forschungsheuristik zur Einordnung von parteipolitischen Positionen. In einem nächsten Schritt sollen die genannten Konfliktlinien für das Feld der Armutspolitik konkretisiert werden. Es wird dabei davon ausgegangen, dass die Parteipositionen »symbolische Verdichtungen«25 aufweisen, die in Verbindung mit dem soziologischen Exklusionskonzept weiter erhellt werden können. 3.2 Armutspolitische Deutungsmuster im Parteienwettbewerb 26 Die Modi der Zugehörigkeit nach Kronauer liefern eine Reihe von interessanten Anknüpfungspunkten, um die Repräsentation von Armut im Parteienwettbewerb und deren entsprechende Deutungsmuster zu untersuchen. Die fehlende Einbindung in Erwerbsarbeit und eine mangelnde Partizipation durch soziale Rechte als Kategorien seiner Krisendiagnose des Kapitalismus werden von den Parteien aufgegriffen und im Rahmen konflikthafter ökonomischer und kultureller Deutungsmuster verhandelt. In ökonomischer Perspektive steht die Frage im Vordergrund, ob die Inklusion von Armen in die Gesellschaft durch Erwerbsarbeit und soziale Rechte vor allem unter dem Paradigma der Marktlogik geschehen oder ob der Staat der Hauptgarant für die Bereitstellung dieser Inklusionsmodi mit dem Ziel der Armutsbekämpfung sein soll. Welches dieser beiden Systeme (Markt oder Staat) besitzt in der Perspektive der Parteien exkludierende Wirkungen? Einer Markt-Logik entsprechen Positionen, die eine möglichst 24 Niedermayer, Konfliktlinien (wie Anm. 22), S. 38. 25 Sarcinelli, Ulrich: Symbolische Politik. Zur Bedeutung symbolischen Handelns in der Wahlkampfkommunikation der Bundesrepublik. Opladen 1987, S. 243. 26 Der folgende Abschnitt basiert auf den theoretischen Arbeiten von Uwe Jun und Tilman Heisterhagen im Teilprojekt C10 des SFB 600.
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freie Marktwirtschaft für die beste Armutspolitik halten, einen positiven Bezug auf ökonomisch formulierte Anreiz- und Sanktionssysteme an die Adresse des (arbeitslosen) Individuums herstellen und prinzipiell Eigenverantwortung bevorzugen. Die Forderungen nach größtmöglicher Dekommodifizierung der Arbeitskraft des Einzelnen und entsprechenden Transferbzw. Garantieleistungen sind dagegen dem Deutungsmuster ›Inklusion durch Staat‹ zuzuordnen und verweisen auf die inkludierende Wirkung des Sozialstaates durch die Gewährung von Partizipationsrechten. In sozialpolitischer Perspektive lassen sich diese Oppositionen beispielsweise in die Befürwortung einer Wahrung des Lohnabstandsgebots auch auf den Niedriglohnsektor (Markt) bzw. die Einführung eines substantiellen gesetzlichen Mindestlohns (Staat) übertragen. Unter dem Gesichtspunkt der Inklusion durch den Markt bzw. Staat kann erhellt werden, inwieweit für die Parteien Partizipation und Interdependenz im Rahmen ihrer armutspolitischen Positionen als eigenständige Modi der Zugehörigkeit eine Rolle spielen und welches der beiden Systeme aus Parteienperspektive für Exklusion verantwortlich ist. In soziokultureller Perspektive ergeben sich armutspolitische Spannungsfelder, die sich zwischen egalitären und meritokratischen Positionen bewegen. Aussagen der Parteien lassen sich in der soziokulturellen Dimension verorten, wenn sie gerechtigkeits- oder anerkennungstheoretische Fragestellungen thematisieren. Parteipositionen sind einem egalitären Deutungsmuster zuzuweisen, wenn sie in ihren Aussagen die Prinzipien der Bedarfs- und Verteilungsgerechtigkeit vertreten. In egalitärer Perspektive stellt sich das anerkennungstheoretische Moment der Armutspolitik folgendermaßen dar: Möglichst viele Bedürftige sollen von den Instrumenten der Armutsbekämpfung erfasst werden können, Sozialtransfers werden als Ausdruck von Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt verstanden. Die Würde des Menschen gebiete demnach eine umfassende soziale Absicherung des Einzelnen im Bedarfsfall. Daher sei der Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen weitestgehend offen zu halten und die Höhe von materiellen Zuwendungen an einem soziokulturell definierten Wohlstandsniveau auszurichten. Die Inklusion durch Partizipation (soziale Rechte) ist bei diesem Deutungsmuster somit als größtmöglich zu verstehen und Maßnahmen gegen die Exklusion des Einzelnen werden mit prinzipiellen moralischen Erwägungen begründet. Das egalitäre Deutungsmuster wird durch das Solidarprinzip sozialpolitisch konkretisiert.27
27 Für Leistungen des Sozialstaates nach dem Solidarprinzip gilt: »Letztlich zahlen alle in ein System in der Erwartung ein, dass der- bzw. diejenige dann eine Leistung erhält, wenn der soziale Risikofall eingetreten ist.« Boeckh, Jürgen [u. a.]: Sozialpolitik in Deutschland. Eine systematische Einführung. Wiesbaden 2006, S. 164.
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Die meritokratische Position dagegen möchte Maßnahmen der Armutsbekämpfung an Voraussetzungen knüpfen, die vom Armen selbst abhängen, also Arbeitswille oder in der Vergangenheit erbrachte Arbeitsleistungen, sowie individuelle Merkmale wie Behinderung oder Kindheit. Transferleistungen erscheinen als sekundär und werden in ihrer Logik und Wirkung als problematisch angesehen. Die Re-Inklusion in den Arbeitsmarkt wird vielmehr als primäres Instrument der Armutsbekämpfung verstanden. Diese Deutungsmuster sind eng verknüpft mit Leistungsgerechtigkeit als zentralem gesellschaftlichen Ordnungsprinzip, das im Bereich der Sozialpolitik durch das Äquivalenzprinzip konkretisiert wird.28 Daraus folgt auch, dass soziale Ungleichheit keine soziomoralische Verfehlung darstellt, sondern der wirtschaftlichen Entwicklung und damit letztlich der Armutsbekämpfung dient. Die meritokratische Position erachtet Einschränkungen von Unterstützungsleistungen – verstanden als Partizipationsrechte – bei gesellschaftlich unerwünschtem Verhalten der Betroffenen (z. B. Ablehnung von als zumutbar geltender Arbeit) deshalb als notwendig. Die erwartete Wirkung entsprechender Sanktions- und Anreizsysteme wird auch für die Armutsbekämpfung und die Aufrechterhaltung sozialstaatlicher Handlungsfähigkeit als zielführend angesehen.29 Auf Basis der armutspolitischen Deutungskonflikte ist im Folgenden zu untersuchen, welche Positionen die Parteien im Bundestagswahlkampf 2009 kommuniziert haben, um Armut und Armutsrisiken politisch zu bekämpfen, welche Inklusionsstrategien dabei verfolgt und wie diese moralisch begründet wurden. Die Besetzung von Themen bzw. themenbezogenen Betrachtungsweisen durch öffentlichkeitszentrierte Kommunikation dient den Parteien, zumal in Zeiten fortgesetzter Mitgliederverluste und eines stetig 28 Die Leistungsgewährung nach dem Äquivalenzprinzip erfolgt nach der Logik von Versicherungssystemen: »Der Tatsache, dass der Einzelne für sich selbst Eigenverantwortung wahrnehmen soll, entspricht, dass die Leistungen, die er aus der Sozialversicherung erhält, ein Äquivalent zu seinen Vorleistungen, sprich seinen Beitragszahlungen, sein soll.« Boeckh [u. a.], Sozialpolitik (wie Anm. 27), S. 177 f. 29 Diese idealtypische Beschreibung der Pole der Konfliktlinien soll verdeutlichen, dass die Sozialstaatsverpflichtung (Art. 21 GG ) im Rahmen des Parteienwettbewerbs unterschiedlich interpretiert wird. Wenngleich die Analyse keine verfassungsrechtlichen Diskussionen führen will, ist auf den Umstand hinzuweisen, dass seit der Ablösung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG ) 2003 durch die Sozialgesetzbücher (SGB I–XII ) der Konsens über Zugangsanspruch und Leistungsumfang des soziokulturellen Existenzminimums brüchig geworden ist. Die verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen um Regelsätze und Bedarfsermittlung verdeutlichen diesen Befund. Vgl. Thome´, Harald (Hg.): Existenzsicherung: Gesetzessammlung mit Einführung. Baden-Baden 2011.
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zurückgehenden Stammwähleranteils,30 dazu, die öffentliche Deutungshoheit zu erlangen und – besonders im Wahlkampf – ihr Ziel der Stimmenmaximierung in Wahlen zu erreichen. Dies gilt für alle politischen Themenfelder, es galt im vergangenen Jahrzehnt jedoch in ganz besonderem Maße für die Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung des Sozialstaats. Das Problem der Exklusion und ihrer Bekämpfung ist längst zu einem relevanten gesellschaftlichen Konfliktfeld geworden, das sich auch auf den Parteienwettbewerb ausgewirkt hat. Die Semantiken von Armut nehmen dabei Bezug auf konkrete politische Entscheidungen bzw. werden von den Parteien mit dem Ziel kommuniziert, Legitimität für zukünftige Entscheidungen im Bereich der Sozial- bzw. Armutspolitik zu erlangen.
4. Fallstudie: Inklusions- und Exklusionssemantiken im Bundestagswahlkampf 2009 In der nun folgenden Analyse sollen für die im Bundestag vertretenen Parteien31 ausgewählte Auszüge aus Wahlprogrammen bzw. Pressemitteilungen im Bundestagswahlkampf 2009 analysiert werden, um den symbolischen Raum der politischen Repräsentation von Armutsthematiken aufzuspannen. Das Material ist so gewählt worden, dass es als möglichst exemplarisch für die betreffende Partei gelten kann.32 (1) SPD Aktionsplan gegen Kinderarmut. [. . .] Die Hauptursachen von Armut sind Arbeitslosigkeit oder ein unzureichendes Erwerbseinkommen der Eltern. Neben der materiellen Armut gefährden ungleiche Bildungschancen, gesundheitliche Beeinträchtigungen und soziale Ausgrenzung die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Deshalb werden wir einen abgestimmten Aktionsplan gegen die Ar30 Jun, Uwe: Politische Parteien als Gegenstand der politischen Soziologie. In: Kaina, Viktoria / Römmele, Andrea (Hg.): Politische Soziologie: Ein Studienbuch. Wiesbaden 2009, S. 235–266, hier S. 237 ff. 31 Aufgrund der Fraktionsgemeinschaft im Bundestag und den gemeinsamen Wahlkampfauftritten (z. B. in Form eines gemeinsamen Wahlprogramms) von CDU und CSU werden die Positionen der beiden Parteien als gemeinsame behandelt. 32 Die gewählten Beispiele sind damit nicht als ›Ausreißer‹ zu verstehen, bei denen die Parteiposition in stark zugespitzter Form vorliegt, sondern als exemplarische Belege einer über einen längeren Zeitraum vorhandenen, relativ stabilen Parteipositionierung. Zur Kontextualisierung der Textstellen wurden diese in einem zweiten Schritt in den Gesamtzusammenhang des jeweiligen Wahlprogramms eingeordnet, um Aussagen zur Relevanzzumessung zum Thema Armut treffen zu können und auch Einordnungen der Parteien zu berücksichtigen, die in der ausgewählten Textstelle nicht vorhanden sind.
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mut von Kindern und Jugendlichen umsetzen, in dem wir Maßnahmen aus allen Politikbereichen zu einer integrierten Strategie bündeln. [. . .] Gute Arbeit für die Eltern. Vermittlung in Gute Arbeit und Qualifizierung, ein gesetzlicher Mindestlohn, die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Weiterentwicklung von Kinderzuschlag und Wohngeld helfen entscheidend, um Familien vor Armut zu schützen. [. . .] Grundsicherung für Kinder. Wir wollen eigenständige, bedarfsgerechte Kinderregelsätze durch eine zielgenauere Bedarfsermittlung verbessern.33
Die SPD räumt Armut und sozialen Notlagen in ihrem Wahlprogramm insgesamt einen hohen Stellenwert ein – dies ist für eine seit elf Jahren regierende Partei in Anbetracht des Skandalisierungspotentials von Armutsthemen durchaus ungewöhnlich. In Bezug auf den Parteienwettbewerb setzt sich die SPD dabei auch in sozialpolitischer Hinsicht vom »Marktradikalismus [...] maßgeblicher Teile von Union und FDP «,34 also u. a. dem bisherigen Koalitionspartner, ab. Die von den anderen Parteien im Wahlkampf ebenfalls thematisierte Problematik der Kinderarmut wird zum Ausgangspunkt genommen, um allgemein auf die gesellschaftlichen Ursachen von Armut einzugehen. Der Begriff der »soziale[n] Ausgrenzung« wird dabei explizit genannt und dem Staat bei der »integrierte[n] Strategie« zur Bekämpfung von Familien- bzw. Kinderarmut eine zentrale Rolle zugewiesen. »Vermittlung und Qualifizierung«, ein »gesetzlicher Mindestlohn« und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch staatliche Infrastruktur stehen dabei ebenso im Vordergrund wie die verschiedenen staatlichen Transferleistungen (›Kinderzuschlag‹, ›Wohngeld‹, ›Kinderregelsätze‹). Diese ökonomischen Elemente der sozialdemokratischen Armutspolitik werden in soziokultureller Hinsicht durch die Konzepte der Bedarfs- und Chancengerechtigkeit (›ungleiche Bildungschancen‹, ›zielgenauere Bedarfsermittlung‹) unterfüttert. Der Begriff der »Guten Arbeit« verweist auf ein Verständnis von Interdependenz, das nicht dichotom zwischen bestehenden Arbeitsverhältnissen und Arbeitslosigkeit unterscheidet, sondern im Sinne Kronauers die Qualität der durch Erwerbsarbeit vermittelten Interdependenzverhältnisse in den Blick nimmt. In Anbetracht ›unzureichende[r] Erwerbseinkommen‹ sollen daher die Schwächen des Marktes ausgeglichen werden. Die Gewährleistung von Inklusion durch vom Staat garantierte soziale Rechte soll dem Einzelnen helfen, Armut zu überwinden bzw. zu vermeiden. Das vielschichtige Verständnis der SPD von Armut (materiell, immateriell, rechtlich und moralisch) korrespondiert dabei mit dem von Kronauer dargestellten Problem der mehrdimensionalen Armutslage als Ausdruck relational abgestufter Ex33 Programm der SPD zur Bundestagswahl 2009, S. 57 f. (Herv. im Original; T. F. / S. S.). 34 Programm der SPD zur Bundestagswahl 2009, S. 9.
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klusionsprozesse. Der Verweis auf individuelle Anreiz- und Sanktionssysteme an die Adresse von Arbeitslosen bzw. Armen, der im Zuge der HartzReformen einen großen Stellenwert besaß, spielt nunmehr eine klar untergeordnete Rolle. Ob diese Veränderungen einen grundlegenden Kurswechsel in der Armutspolitik bedeuten oder ob die festgestellten Deutungsmuster eher der strategischen Ausrichtung der SPD im Bundestagswahlkampf 2009 geschuldet sind, muss an dieser Stelle offen bleiben. (2) CDU / CSU Wir stehen für eine effektive und effiziente Arbeitsmarktpolitik, die Arbeitslose dabei unterstützt, rasch wieder eine Stelle zu finden. Wir begegnen den Sorgen vieler Menschen vor Abstieg und Überforderung, indem wir marktgerechte Arbeitsplätze fördern statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Das Prinzip des »Förderns und Forderns« wird weiter Maßstab unseres Handelns sein. Nur Maßnahmen, die Arbeitslose wirksam in Beschäftigung mit Perspektive bringen, sollen fortbestehen.35
In der Perspektive des Parteienwettbewerbs schließt sich die Union den gemeinsam mit der rot-grünen Bundesregierung (1998–2005) beschlossenen Reformen an, indem sie die Hartz-IV-Reformlogik des »Förderns und Forderns« bejaht. Der Verweis auf »marktgerechte Arbeitsplätze« zeigt, dass die Union staatliche Eingriffe in die Wirtschaft zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit als nachrangig betrachtet. Das Verhalten von Arbeitslosen in Richtung einer Inklusion in den (Arbeits-)Markt soll vielmehr durch die Prinzipien von Anreiz und Sanktion gesteuert werden, wobei Letztere im Gegensatz zur FDP im Programm der Union jedoch nicht konkretisiert werden. Die Partei nimmt eine zunehmende Verunsicherung in der Bevölkerung durchaus als Problem wahr – siehe den Verweis auf »Sorgen vor Abstieg und Überforderung«. Erwerbslosen soll jedoch in erster Linie durch eine Befähigung zur Teilnahme am Arbeitsmarkt und die Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geholfen werden, was sich auch in dem programmatischen Statement »Sozial ist, was Arbeit schafft«36 widerspiegelt. Im Bundestagswahlprogramm benutzt die Union den Begriff Armut nur in Bezug auf die Gefahr einer wachsenden Altersarmut, der sie mit einer stärkeren Förderung privater Altersvorsorge – also ebenfalls einer marktorientierten Maßnahme – Abhilfe schaffen will.37 Sie bezieht indes im armutspolitischen Wettbewerb, auch als Ausdruck ihres Volksparteicharakters, keine Extrem-, sondern eine Mittelstellung mit einer Präferenz für die Inklusion Armer durch marktwirtschaftliche Mechanismen. Im Gegensatz 35 Programm der CDU / CSU zur Bundestagswahl 2009, S. 30. 36 Programm der CDU / CSU zur Bundestagswahl 2009, S. 29. 37 Programm der CDU / CSU zur Bundestagswahl 2009, S. 30.
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zu den anderen Parteien werden die ökonomischen Deutungsmuster der Union kaum mit soziomoralischen Argumenten unterfüttert. (3) Bündnis 90 / Die Grünen Gerade in Zeiten der Krise wächst bei vielen Menschen das Bedürfnis nach Sicherheit. Umso wichtiger sind verlässliche soziale Sicherungssysteme und ein soziales Netz, durch das niemand ins Bodenlose fällt. Dafür streiten wir mit der Bürgerversicherung, der Garantierente und unserer grünen Grundsicherung. Wir wollen allen Menschen ermöglichen, durch einen gesetzlichen Mindestlohn von ihrer Arbeit leben zu können und wir wollen das Arbeitslosengeld II sofort aufstocken. Das ist vor allem eine Frage der Gerechtigkeit, die nebenbei auch das Geschäft belebt. Die Konjunktur kurbelt man nicht durch Steuergeschenke an, die die Reichen auf die hohe Kante legen, sondern durch eine Steigerung der Massenkaufkraft.38
Die Grünen beziehen in ihrem Programm armutspolitische Positionen, die überwiegend dem Deutungsmuster des Egalitarismus zugerechnet werden können und Inklusion durch staatlich gewährte Partizipationsrechte präferieren. In ihren Argumentationen vertritt die Partei das Postulat einer Interdependenz ohne Vorbedingungen (»soziales Netz, durch das niemand ins Bodenlose fällt«) und plädiert dabei für eine (bedarfs-)gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes, auch weil dies positive volkswirtschaftliche Wirkungen habe. In armutspolitischer Hinsicht ist dieses Deutungsmuster materiell auch in die konkrete Forderung nach einer Anhebung des ALG II umgesetzt. Aus Sicht von Bündnis 90 / Die Grünen kann Eigenverantwortung von Arbeitslosen bzw. sozial Benachteiligten nur auf der Basis staatlich gewährter Teilhaberechte erwachsen. Die Partei kritisiert im Wahlprogramm aus heutiger Perspektive das von ihr mitbeschlossene Konzept des »Förderns und Forderns« und spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer »Unkultur des Sanktionierens«, welche »die große Koalition durch immer neue Verordnungen noch verstärkt«39 habe. Das Ziel der Sicherung eines soziokulturellen Mindestbedarfs scheint insbesondere in der Idee der »grünen Grundsicherung« auf, die weit über die Gewährung des materiellen Grundbedarfs hinausgeht.40 In sozialpolitischer Perspektive entspricht schließlich die Bürgerversicherung dem Gedanken des Solidarprinzips. Sie ist für die Partei der kollektive Inklusionsmodus sozialer Absicherung für möglichst viele Menschen. Das Bekenntnis der Grünen zu einer staatlichen Garantieleistung in Form der Bürgerversicherung, der Garantierente und einem Modell der Grundsicherung lässt 38 Programm von Bündnis 90 / Die Grünen zur Bundestagswahl 2009, S. 15 f. 39 Programm von Bündnis 90 / Die Grünen zur Bundestagswahl 2009, S. 78. 40 Vgl. Programm von Bündnis 90 / Die Grünen zur Bundestagswahl 2009, S. 85 ff.
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in sozioökonomischer Perspektive eine klare Präferenz für Inklusion durch soziale Bürgerrechte, vermittelt durch den Sozialstaat, erkennen. Auch die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn verweist auf die wichtige Funktion des Staates im Rahmen der grünen Armutspolitik. Vor dem Hintergrund der Verknüpfung von Deutungsmusteranalyse und Exklusionskonzept lässt sich abschließend festhalten, dass Bündnis 90 / Die Grünen Inklusionsmaßnahmen durch egalitäre Argumentationen normativ legitimiert und die umfassende Sicherung von gesellschaftlicher Partizipation als Modus der Zugehörigkeit hierbei als zentralen Begründungszusammenhang heranzieht. (4) FDP Wir Liberale wissen, dass eine staatliche Absicherung des Existenzminimums notwendig ist. Jeder kann in eine Situation geraten, in der er ohne Unterstützung nicht mehr weiter kann. Bequemlichkeit honorieren wir nicht. Ziel liberaler Sozialpolitik ist es, allen Bürgern selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Handeln zu ermöglichen.41 Das Bürgergeld sichert die Lebensgrundlage für Bürger, die nicht über ein ausreichendes Einkommen verfügen. Durch die Zusammenfassung und Pauschalierung von Leistungen und ihrer Verwaltung in einer Behörde werden diejenigen vom Bürgergeld profitieren, die dies nach unserem Willen sollen: die Bedürftigen, nicht die Findigen. [. . .] Unser Bürgergeld sorgt für ein Mindesteinkommen, das Beschäftigung fördert und Arbeitseinkommen nicht benachteiligt. Dieses Mindesteinkommen verhindert Armut besser als staatlich verordnete Mindestlöhne.42 Guido Westerwelle: »Die Treffsicherheit des Sozialstaates muss größer werden. Ich finde es unerträglich, wenn manche in Talk-Shows erklären, sie lebten vom Sozialstaat und arbeiteten schwarz und noch das Publikum dafür beschimpfen, dass es morgens aufsteht und zur Arbeit geht. Die werden bei uns kein Geld bekommen. Es gibt kein Recht auf staatlich bezahlte Faulheit.«43
Im Parteienwettbewerb positioniert sich die FDP als klarste Vertreterin einer Präferenz für die Re-Inklusion Armer durch den Arbeitsmarkt, die moralisch durch meritokratische Argumente unterfüttert wird. Das Bürgergeld als genuin armutspolitische Maßnahme soll so gestaltet sein, dass es einerseits das Lohnabstandsgebot wahrt (»Arbeitseinkommen nicht benachteiligt«) und andererseits beschäftigungsfördernd wirkt, da es im Gegensatz zu Mindestlöhnen nicht in marktwirtschaftliche Prozesse eingreift. Es soll die »Lebensgrundlage« bzw. das »Existenzminimum« sichern und gleichzeitig Selbstbestimmung und Eigenverantwortung ermöglichen. Be41 Programm der FDP zur Bundestagswahl 2009, S. 5. 42 Programm der FDP zur Bundestagswahl 2009, S. 8–9. 43 Pressemitteilung der FDP im Bundestagswahlkampf 2009.
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gründet wird der Reformvorschlag mit einer armutspolitischen Diagnose, die »Bequemlichkeit« und »Findigkeit« bei einem signifikanten Anteil der Transferleistungsempfänger ausmacht und dieses individuelle Fehlverhalten zu minimieren sucht. Das Bürgergeldsystem der FDP erhöhe die »Treffsicherheit des Sozialstaates«, indem es »staatlich bezahlte Faulheit« zu verhindern suche. Die Anreize zur Arbeitsaufnahme sollen daher erhöht, die Sanktionen bei Arbeitsverweigerung verschärft werden. Diese meritokratische und stratifizierende Positionierung der FDP wird in gerechtigkeitstheoretischer Perspektive an das Bestehen von (wirklicher) Bedürftigkeit geknüpft. Dabei wird die Unterscheidung in Erwerbsfähige und NichtErwerbsfähige zum zentralen Differenzierungskriterium im Bürgergeldsystem. Während nicht-erwerbsfähige Menschen (z. B. Kinder, Behinderte, Schwangere) automatisch die zur Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums notwendigen staatlichen Transferleistungen erhalten, sind jene bei Erwerbsfähigen an Bedingungen geknüpft. Mit der Aufforderung gegenüber den Erwerbsfähigen, sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen und bei Ablehnung von als zumutbar erachteten Stellenangeboten entsprechende materielle Sanktionen zu tragen – »Die würden bei uns kein Geld bekommen« –, knüpft die Partei an eine Position an, die sie bereits im Wahlkampf 2002 vertrat: Die Kürzung der Hilfe bei Arbeitsverweigerung auf die »Existenz sichernden Leistungen wie Ernährung, Unterkunft, Kleidung und Hausrat«.44 Die FDP betrachtet folglich auf der Ebene der ökonomischen Deutungsmuster die (direkte) Re-Inklusion von Erwerbsfähigen in den Arbeitsmarkt als zentrales Instrument, um Armut zu verhindern. Dementsprechend befürwortet sie meritokratisch legitimierte Sanktionen gegenüber arbeitsunwilligen Erwerbsfähigen und damit eine Androhung der Beschränkung von Partizipationsrechten als eigenständigem Modus gesellschaftlicher Zugehörigkeit. Die Exklusion der erwerbsfähigen Armutsgefährdeten soll mithin durch das Setzen von Inklusionsanreizen verhindert werden. (5) Die Linke Die Linke fordert [. . .]: – Hartz IV durch eine bedarfsdeckende und sanktionsfreie Mindestsicherung ersetzen, die Armut tatsächlich verhindert und die die Bürgerrechte der Betroffenen achtet; – Anspruch für alle in der Bundesrepublik lebenden Menschen, die über kein ausreichendes Einkommen und Vermögen verfügen, um ihren Mindestbedarf zu decken.45
44 Programm der FDP zur Bundestagswahl 2002, S. 9. 45 Programm der Partei Die Linke zur Bundestagswahl 2009, S. 25.
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Das Grundgesetz bestimmt Deutschland als demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen soll oberstes Gebot jedes staatlichen Handelns sein. Der Gebrauch des Eigentums soll auch dem Allgemeinwohl verpflichtet sein. Der Staat ist gefordert, zum sozialen Ausgleich und zu sozialer Gerechtigkeit aktiv beizutragen. Die Wirklichkeit entspricht diesen Geboten vielfach nicht: So wird Erwerbslosen im Hartz IV-Bezug die elementare sozialstaatliche Freiheit vorenthalten, Arbeiten unterhalb bestimmter sozialer Standards ohne existenzielle Folgen abzulehnen, das Anwachsen von Kinderarmut und -verwahrlosung geduldet und Wohnungslosigkeit hingenommen.46 Guido Westerwelle präsentiert sich vor den Bundestagswahlen, wie es alle Politiker von Helmut Kohl bis zu Gerhard Schröder gemacht haben, als sie gegen Erwerbslose hetzten, um den Sozialabbau und weitere Repressionen gegen Erwerbslose mehrheitsfähig zu machen. Nur ist der Trick mit dem angeblich Leistungen missbrauchenden und faulen Erwerbslosen inzwischen zu durchsichtig geworden. Dagegen zeigt die neoliberale Ideologie der FDP , wer staatlich organisierte Reichtumspflege für wenige gegen das Grundrecht auf Existenz und Teilhabe eintauschen möchte.47
Die Linke wirft den Befürwortern der Hartz-Reformen vor, »für Kinderarmut und -verwahrlosung«, »Wohnungslosigkeit« und einen Bruch der verfassungsmäßigen Rechte (»sozialstaatliche Freiheit vorenthalten«) verantwortlich zu sein. Sie bezeichnet insbesondere die »neoliberale Ideologie« der FDP als Gefahr für die sozialstaatlichen Grundrechte der Bevölkerung. Die voraussetzungslose Würde des Einzelnen wird als Begründung für inkludierende Maßnahmen (»bedarfsdeckende und sanktionsfreie Mindestsicherung«) herangezogen, die alle in Deutschland lebenden Menschen umfassen soll. Das soziokulturelle Deutungsmuster des Egalitarismus bzw. der Verteilungsgerechtigkeit steht im Vordergrund, wobei der »demokratische und soziale Rechtsstaat« die Inklusion in die Gesellschaft gewährleisten soll. In sozioökonomischer Perspektive befürwortet die Partei eine umfassende Dekommodifizierung der Arbeitskraft des Einzelnen durch soziale Bürgerrechte (Partizipation) und einen gesetzlichen Mindestlohn (Interdependenz).48 Die Forderung, wonach der Staat »zum sozialen Ausgleich und zu sozialer Gerechtigkeit aktiv beizutragen« habe, belegt ebenso eine Präferenz für Inklusion durch den (Sozial-)Staat wie die Betonung der Gemeinwohlverpflichtung privaten Eigentums. Auch bei fehlender Erwerbsarbeit plädiert die Linke für eine Aufrechterhaltung partizipatorischer Zugehörigkeit in Form einer sanktionsfreien Mindestsicherung (s. die Kritik an der ›Hetze‹ gegen Arbeitslose) und grenzt sich damit von den Positionen der anderen Parteien ab. 46 Programm der Partei Die Linke zur Bundestagswahl 2009, S. 42. 47 Pressemitteilung der Partei Die Linke zur Bundestagswahl 2009. 48 Programm der Partei Die Linke zur Bundestagswahl 2009, S. 7.
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Explizit wendet sich die Linke gegen die Positionen der FDP , deren Bürgergeldsystem wegen der Beschneidung sozialer Rechte die Inklusion Armer brüchig werden lasse, und bezichtigt die Partei einer beabsichtigten Ausweitung von Armutsrisiken, die im Interesse ihrer Kernklientel liege. Auch aufgrund der Rolle als erklärter Oppositionspartei liegt der Fokus der Linken dabei weniger auf der Frage der politischen Realisierbarkeit ihrer Positionen als vielmehr auf der Funktionalisierung und Skandalisierung von Armut zur Legitimierung eigener gesellschaftspolitischer Vorstellungen. 5. Fazit Ein Vergleich der armutspolitischen Positionen der etablierten Parteien im Bundestagswahlkampf 2009 zeigt eine große Bandbreite armutspolitischer Deutungsmuster. Prinzipiell lassen sich dabei in den Armutssemantiken der Parteien zwei politische Lager unterscheiden: Auf der einen Seite ein marktliberal-konservatives, welches der Inklusion durch den Markt und der Meritokratie als gesellschaftlicher Ordnungsvorstellung den Vorrang einräumt. Hier vertritt besonders die FDP die jeweiligen Extrempositionen, während die Union schon wegen ihres Charakters als Volkspartei stärker zur Mitte des Parteienspektrums orientiert ist. Auf der anderen Seite ein rot-grünrotes Lager, dessen armutspolitische Positionen sich im Wahlkampf 2009 wieder angenähert haben. Nach wie vor vertritt zwar Die Linke in klarer rhetorischer Abgrenzung zu den anderen Parteien jeweils am deutlichsten die auf dem Staats- bzw. Egalitarismuspol befindlichen Positionen. SPD und Grüne – Letztere noch wesentlich stärker – haben jedoch ihre Positionen in der Sozial- und Armutspolitik seit der Durchsetzung der HartzGesetze wieder in Richtung Inklusion durch Staat sowie egalitären anerkennungs- und gerechtigkeitstheoretischen Deutungsmustern verschoben. Die in der Programmatik der Union weiterhin vorhandene Formel des ›Förderns und Forderns‹, die auf die verschärften Zumutbarkeits- und Sanktionsregeln für erwerbsfähige Arbeitslose in den Hartz-Gesetzen anspielt, findet sich bei SPD und Grünen nicht mehr. Von einer Konvergenz in der Armutspolitik der deutschen Parteien kann folglich aus heutiger Sicht zumindest in der Programmatik der Parteien keine Rede (mehr) sein. Das Exklusionskonzept vermag die Semantiken der Parteien insofern theoretisch zu erhellen, als es die armutspolitischen Maßnahmen(-vorschläge) und normativen Leitbilder der Parteien als differenzierbare Positionen erfasst, die Folgen für deren Inklusion in die deutsche Gesellschaft haben. Die Inklusionsmodi Markt/Staat und die sie stützenden moralischen Deutungsmuster sind zudem stark umkämpft. Dabei beziehen sich die Parteien
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auch direkt aufeinander, um ihre eigenen Deutungen im öffentlichen Diskurs über Armut als allgemeingültig durchzusetzen. Die Positionen variieren zwischen einer Affirmation sozialer Bürgerrechte als eigenständigem Inklusionsmodus – verbunden mit einem hohen politischen Steuerungsanspruch – und einer Einschränkung sozialer Rechte durch Sanktionsandrohungen (materiell/rechtlich), welche eine Exklusion bestimmter Gruppen (nicht arbeitswillige Erwerbsfähige) zumindest androht. Dies deutet auf eine Polarisierung des Parteienwettbewerbs auf dem Feld der Armutspolitik hin. Inwiefern sich diese armutspolitischen Oppositionsstellungen im konkreten politischen Entscheidungsprozess widerspiegeln, gilt es in zukünftigen Studien zu untersuchen.
Inklusion und Exklusion im städtischen Raum. Das Bund-Länder-Programm »Soziale Stadt« in Trier und Jena Isabelle Borucki
Armut in deutschen Städten – die Ausgangslage Die Kommunen sind als unterste Einheit des politischen Mehrebenensystems Deutschlands für eine Reihe von Aufgaben zuständig, zu denen vor allem auch die Armutsprävention und -bekämpfung zählt.1 Sie haben deshalb mit multidimensionalen Ausprägungen von Armut wie Bildungsferne, Arbeitslosigkeit und verringerten gesellschaftlichen und politischen Teilhabemöglichkeiten Betroffener besonders zu kämpfen.2 In sozialwissenschaftlicher Perspektive sind die Kommunen als räumliche Armutskategorie zu sehen, da die funktionale Ausrichtung und soziale Zusammensetzung eines Quartiers3 für Armutspolitik entscheidend ist. Um der Herausbildung von armen Stadtvierteln entgegenzuwirken und zu höherer Inklusion auf lokaler Ebene beizutragen, haben Parteienvertreter qua ihrer Funktion den verfassungsmäßigen Auftrag, als Repräsentanten für Betroffene aufzutreten. Allerdings beschränken Bundes- und Landesgesetzgebung den Handlungsspielraum der Kommunen im Bereich der Armutspolitik.4 Im Folgenden soll untersucht werden, wie dieser Spielraum genutzt wird. Konkret geht es um (Armuts-)Semantiken und Netzwerkstrukturen 1 Die Verwaltung von Hartz IV müssen die Kommunen aus ihren Etats bestreiten, ebenso die freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben (Armenfürsorge, Altenpflege, Suchtberatung, Krankenhäuser), vgl. Art. 28 Abs. 2 GG. 2 Greiffenhagen, Sylvia / Neller, Katja (Hg.): Praxis ohne Theorie? Wissenschaftliche Diskurse zum Bund-Länder-Programm »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt«. Wiesbaden 2005. 3 Der Begriff meint ein Stadtviertel. Dieses ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit einem Stadtteil, welcher der formalen Einteilung von Städten entspricht. Ein Stadtteil kann beispielsweise mehrere Stadtviertel, also Quartiere, haben, in welchen unterschiedliche Wohnbevölkerungen zu finden sind. 4 Bogumil, Jörg / Holtkamp, Lars: Local Governance und gesellschaftliche Integration. In: Schimank, Uwe / Lange, Stefan (Hg.): Governance und gesellschaftliche Integration, Kurs Nr. 33710 der FernUniversität in Hagen. Hagen, S. 157–184 [www.oocities.org/utkum/local governance.pdf (09.01.2012)]; dies.: Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung. Eine policyorientierte Einführung. Wiesbaden 2006. In diesem Beitrag wird aus forschungspragmatischen Gründen nur die unterste Ebene dieses Mehrebenensystems betrachtet.
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von Parteienvertretern in Trier und Jena und die Funktion von Politik, stellvertretend für die Betroffenen im systemtheoretischen Sinn kommunikative Anschlussfähigkeit zu generieren. Die Kommunikation vollzieht sich über Netzwerke von Parteienvertretern und Trägern der Wohlfahrtspflege. Über diese Strukturen werden Kommunikationen selegiert und weitergegeben,5 weshalb diese Netzwerke für die Wahrnehmung armutspolitischer Belange zentral sind und mit der Untersuchung der Semantiken verbunden werden müssen. In diesem Sinne soll untersucht werden, über welches Inklusionspotenzial die Parteienvertreter in von Armut besonders betroffenen Quartieren der beiden Kommunen, d. h. in den Stadtteilen Trier-West und Jena-Lobeda, verfügen. Der Fokus der Analyse liegt darauf, die Semantiken und (potentiellen) Kommunikationsbeziehungen sowie die lokale Vernetzung von Kommunalpolitikern in Trier und Jena zur Herstellung kommunikativer Anschlussfähigkeit mit Blick auf Prozesse von Inklusion und Exklusion zu erschließen. Dazu wird zunächst theoretisch skizziert, wie das Zusammenspiel von Inklusion und Exklusion sowie sozialem Raum modelliert werden kann. In der anschließenden Fallstudie zur »Sozialen Stadt«6 werden ausgewählte Bereiche der städtischen Armutsprävention und -bekämpfung (Arbeit, Bildung, Wohnen) näher betrachtet, um Strukturen und Effekte der intendierten Maßnahmen herauszuarbeiten. Die Formen sozialer Hilfe, welche als Maßnahmen der »Sozialen Stadt« entwickelt werden, können in diesem Zusammenhang als sekundäres Funktionssystem beschrieben werden.
Inklusion und Exklusion in städtischen Quartieren. Theoretische Grundlegung Systemtheoretisch formuliert, kann Inklusion als Möglichkeit der Adressierung zur Kommunikation durch Funktionssysteme interpretiert werden.7 Exklusion wäre dann die Unmöglichkeit einer solchen Adressierung. 5 Häußermann, Hartmut: Desintegration durch Stadtpolitik? In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) (2006) 40– 41, S. 14–22, hier S. 14–15. 6 Der vollständige Titel des Bund-Länder-Programms lautet »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Soziale Stadt«. 7 Vgl. Kronauer, Martin: »Exklusion« in der Armutsforschung und der Systemtheorie. Anmerkungen zu einer problematischen Beziehung. In: SOFI-Mitteilungen 26 (1998), S. 117–126, hier S. 124. Kronauer diskutiert das Verhältnis von Inklusion und Exklusion im Hinblick auf eine Verknüpfung mit der Armutsforschung und dem Verhältnis von Exklusion I und II in der Systemtheorie, vgl.
Inklusion und Exklusion im städtischen Raum
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Soziale Exklusion umfasst in funktional differenzierten Gesellschaften neben der zeitlichen eine räumliche Differenzierung.8 Ergänzt man dies mit Niklas Luhmann, kann der lokale Raum in den untersuchten Städten als sekundäres Funktionssystem verstanden werden, welches sich wesentlich mithilfe der wechselseitigen Verstärkung zweier Funktionssysteme – in diesem Fall lokale Politik und lokale Trägerlandschaft, d. h. Vereine und Verbände; zweiter Arbeitsmarkt – durch die Kommunikationen zur »Sozialen Stadt« konstituiert.9 Die »Soziale Stadt« und insbesondere deren bauliche Maßnahmen könnten als empirische Ausprägungen dieses sekundären Funktionssystems interpretiert werden.10 Mit städtebaulichen Maßnahmen kann eine einschließende Exklusion durch eine räumliche Inklusion vormals Exkludierter (z. B. Bewohner marginalisierter Randstadtteile) erfolgen.11 Der
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Stichweh, Rudolf: Inklusion / Exklusion und die Theorie der Weltgesellschaft. In: Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.): Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Soziologie – Dresden 1996. Kongreßband II. Wiesbaden 1997, S. 599– 607, hier S. 603 f. Stichweh, Rudolf: Inklusion / Exklusion, funktionale Differenzierung und die Theorie der Weltgesellschaft. In: Beck, Ulrich / Poferl, Angelika (Hg.): Große Armut, großer Reichtum: Zur Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Berlin 2010, S. 240–260, hier S. 245–246; Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997, S. 633– 634. Vgl. Baecker, Dirk: Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft. In Zeitschrift für Soziologie 23 (1994), S. 93–110. Vgl. hierzu Luhmanns Äußerung dass »damit zu rechnen [sei], daß sich ein neues, sekundäres Funktionssystem bildet, das sich mit den Exklusionsfolgen funktionaler Differenzierung befasst – sei es auf der Ebene der Sozialhilfe, sei es auf der Ebene der Entwicklungshilfe«. Luhmann, Gesellschaft (wie Anm. 8), S. 633 f. Dass es sich um ein sekundäres Funktionssystem im Sinne Luhmanns handelt, ist damit zu begründen, dass die Kommunikationen zur »Sozialen Stadt« nicht einzig anhand der Unterscheidung von Hilfe und Nichthilfe codiert sind, sondern durchaus in Macht und Nicht-Macht bzw. Regierung vs. Opposition, da hinter der Durchsetzung solcher Programme auch Machtinteressen der regierenden Parteien dahingehend stehen, dass die untersuchten Stadtteile große Bevölkerungsanteile und somit Wählerstimmen repräsentieren. Vgl. zur Diskussion um die (Nicht-)Eigenständigkeit dieses Systems sozialer Hilfe Fuchs, Peter / Schneider, Dietrich: Das Hauptmann-von-Köpenick-Syndrom: Überlegungen zur Zukunft funktionaler Differenzierung. In: Soziale Systeme 1 (1995), S. 203– 244, hier S. 204 und S. 209–210. Vgl. auch für die systemtheoretische Konsistenz unter der Ägide von Inklusion und Exklusion argumentierend Merten, Roland: Inklusion / Exklusion und Soziale Arbeit. Überlegungen zur aktuellen Theoriedebatte zwischen Bestimmung und Destruktion. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 4 (2001), S. 173−190, hier S. 179, 181 ff. Raphael, Lutz: Figurationen von Armut und Fremdheit. Eine Zwischenbilanz interdisziplinärer Forschung. In: Raphael, Lutz/Uerlings, Herbert (Hg.): Zwischen
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der »Sozialen Stadt« zugrunde liegende Zusammenhang von Semantiken12 sowie Kommunikationen und Raum lässt sich als wechselseitig bedingender Prozess verstehen. Vor diesem Hintergrund kann der Bezug auf den städtischen sozialen Raum13 hergestellt werden. Der soziale Raum der Nachbarschaft in Städten ist symbolisch konstruiert,14 der Stadtteil »stellt [...] einen Raum dar, der soziale und materielle Ressourcen bereitstellt oder den Zugang zu solchen Ressourcen erschwert bzw. verhindert«.15 Je nachdem, wie der soziale Raum der Stadt gestaltet wird und Lebenslagen der Betroffenen berücksichtigt werden, ermöglicht das Quartier als eigener sozialer Raum innerhalb der Stadt Inklusion oder bewirkt Exklusion16 – die Möglichkeiten der Adressierung von Kommunikationsakten variieren also in Abhängigkeit der konkreten Kooperation von Akteuren in der Stadt. Das Quartier stellt insofern Ermöglichungs- oder Restriktionschancen bereit. »Soziale Stadt« und Armutsprävention in Trier und Jena Zur Verbesserung der Situation in von Armutslagen betroffenen Stadtteilen werden seit 1999 Programme zur »Sozialen Stadt« aufgelegt; sie wurden zuletzt 2006 um sozial-integrative Maßnahmen erweitert und sind ein politisches Instrument, das Inklusion bewirken und städtischer Segregation entgegenwirken soll. Dabei sind die politischen Akteure und Ortsbeiräte neben lokalen NGOs als Repräsentanten Betroffener im Sinne »inhaltlicher Repräsentation«17 sowie die Beteiligung der Bewohner von zentraler Bedeutung.18 Inklusion als Handlungsprogramm gegen räumliche Ausgren-
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Ausschluss und Solidarität. Modi der Inklusion / Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike. Bd. 6. Frankfurt a. M. 2008, S. 13–36, hier S. 19–23; vgl. Kronauer, »Exklusion« (wie Anm. 7), S. 119. Im Sinne von Diskursformationen als Regeln des Sagbaren und Nichtsagbaren. Exemplarisch Gestring, Norbert (Hg.): Schwerpunkt: arme reiche Stadt. Opladen / Farmington Hills, Mich. 2008; vgl. auch Häußermann, Desintegration (wie Anm. 5), S. 2. Vgl. Häußermann, Desintegration (wie Anm. 5), S. 16; Häußermann, Hartmut/ Kronauer, Martin: Räumliche Segregation und innerstädtisches Ghetto. In: Stichweh, Rudolf/Windolf, Paul (Hg.): Inklusion und Exklusion. Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit. Wiesbaden 2009, S. 157–173, hier S. 168. Häußermann / Kronauer, Räumliche Segregation (wie Anm. 14), S. 157. Kronauer, Martin: Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt a. M. 2002. Dieser Begriff meint, dass es zu einem Willensbildungsprozess zwischen Repräsentanten und Repräsentierten kommen sollte. Vgl. Pitkin, Hanna Fenichel: The Concept of Representation. Berkeley, California 1967.
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zung bemisst sich an der Ausprägung heterogener Strukturen im Stadtteil: Je verschiedenartiger der Stadtteil sowohl in Bezug auf städtebauliche Maßnahmen als auch soziale Einrichtungen gestaltet wird (Bildung, Sport, Begegnungsstätten, Qualifizierungsmaßnahmen), desto inklusiver können die vor Ort beteiligten Vereine, Träger und Verbände gemeinsame Interessen auf die politische Ebene der jeweiligen Kommune transferieren und somit zur armutspolitischen Interessensvermittlung beitragen, weil argumentiert werden kann, dass ein großer Teil der Bevölkerung mit derlei Maßnahmen erreicht wird. Deshalb soll das sogenannte Quartiersmanagement im Rahmen der »Sozialen Stadt« in betroffenen Stadtteilen zur Einbindung von Wohlfahrtsverbänden und Trägern von Einrichtungen führen. Programmziel ist ein »integriertes Entwicklungskonzept [...] aus einer Hand«.19 Die Einbindung von Beteiligten und Betroffenen im Rahmen eines solchen Konzepts hängt davon ab, wie umfangreich die städtebaulichen Maßnahmen mit Initiativen im Rahmen des SGB II und VIII verknüpft werden können und somit in für Armutspolitik relevanten Bereichen20 zum Tragen kommen. Dabei spielen die Kommunalparlamente als Antragsteller bei Land und Bund eine entscheidende Rolle.21 Maßgeblich für die Verbindung dieser beiden Aspekte, d. h. Kommunikation und Koordination auf lokaler Ebene sowie städtebauliche Initiative, sind parteipolitische Akteure in Netzwerken auf Stadtteilebene bzw. die Erweiterung bestehender politischer Netzwerke um armutspolitisch relevante Träger. Diese Strukturen werden idealiter – über ›Runde Tische‹ und den Ortsbeirat (Trier) und Ortsteilrat [sic!] (Jena) – als ›Stadtteilparlament‹ institutionalisiert, was in vielen Programmgebieten auch geschehen ist.22 Hervorzuheben ist, dass von Relationen zwischen Wohlfahrtsverbänden und Trägern der Programme »Soziale Stadt« nicht auf konkrete Inklusionen von Armen als Einzelpersonen geschlossen werden kann. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Interessenverbände die Belange der Betroffenen 18 Zimmermann, Karsten: Der Beitrag des Programms »Soziale Stadt« zur Stadtentwicklung. In: Hanesch, Walter (Hg.): Zukunft der »Sozialen Stadt«. Strategien gegen soziale Spaltung und Armut in Kommunen. Wiesbaden 2011, S. 181–201. 19 Bogumil, Jörg: Möglichkeiten und Grenzen nationaler Stadtpolitik. In: Hanesch, Zukunft (wie Anm. 18), S. 81–96, hier S. 87. 20 Bildung, Kindertagesstätten, Jugendarbeit, Erwachsene/Erwerbsarbeit, Familien. 21 Insbesondere in Anbetracht der gekürzten Mittel für die Programme werden den Kommunen die Handlungsspielräume eingeschränkt, vgl. Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode: 40 Jahre Städtebauförderung – Erfolgsmodell für die Zukunft der Städte und Regionen erhalten und fortentwickeln. Drucksache 17/6444 2011. [http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/064/1706444.pdf (06. 09. 2011)]. 22 Zimmermann, Beitrag (wie Anm. 18), S. 188–192.
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aggregieren und im Stadtteil sowie dem Stadtrat artikulieren. Die »Soziale Stadt« fungiert dabei als Bündelung von Inklusionsmaßnahmen zur Pufferung insbesondere von Quartierstypeneffekten, wie Homogenisierung oder Gettoisierung. Dieser Komplex soll im Folgenden eingehender analysiert werden.23 Die Materialgrundlage dafür bilden erstens Interviewtranskripte aus Gesprächen24 mit Vertretern der Parteien, der Wohlfahrtsverbände und der im Programm »Soziale Stadt« involvierten Quartiersmanager in Trier und Jena. Zweitens werden ausgewählte Primärquellen, wie Konzepte der Stadträte zur »Sozialen Stadt«, Beschlussvorlagen und Protokolle, qualitativ25 untersucht. Aus diesen Quellen werden exemplarisch Textstellen für zentrale Arbeitsbereiche des Programms »Soziale Stadt« untersucht. Zur Analyse der Programmmaßnahmen dienen die erwähnten Primärquellen, welche dezidiert den jeweiligen Handlungsspielraum im Sinne von Semantiken anhand konkreter Beschlüsse der Stadträte aufzeigen.26
Zwei Quartiere: Ausgangslage und integrierte Entwicklungskonzepte Die beiden Universitätsstädte Trier und Jena sind vergleichbar hinsichtlich ihrer Einwohnerzahl, ihrer sozio-ökonomischen Strukturen und der Probleme in sogenannten Brennpunktbezirken. Die Stadtparlamente haben sowohl in Jena-Lobeda als auch in Trier-West mit einer homogenen Bevölkerungsstruktur mit hoher Arbeitslosigkeit und Armutsquote sowie einem hohen Anteil gering qualifizierter Einwohner zu kämpfen. Zudem ist die Arbeitslosenquote in beiden Städten etwa gleich hoch.27 Unterschiede finden sich indessen in folgenden Feldern: Jena hat eine höhere Akademikerquote, ist Industriestandort und gilt als der ›Leuchtturm‹ für den wirt23 Das intendierte Ziel der Inklusion durch die Programmgebiete der »Sozialen Stadt« ist Interpretationsleistung des Forschers und lässt sich nicht direkt aus dem untersuchten Material erschließen. 24 In diesen Gesprächen wurde eine Netzwerkanalyse durchgeführt, um die strukturelle Einbettung im lokalen Kontext zu erfassen. Die Angaben der Befragten werden in anonymisierter Form dargestellt. 25 Mayring, Philipp / Gläser-Zikuda, Michaela: Die Praxis der qualitativen Inhaltsanalyse. Weinheim 2008; Früh, Werner: Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis. Konstanz 2009. 26 Die Analyse kann dabei nur einen kursorischen Einblick in die Programme zur »Sozialen Stadt« geben und will nicht als Policy-Analyse verstanden werden. 27 Bevölkerungsanzahl (31. 12. 2011): Jena 105 463; Trier 105 678; Arbeitslosenquote (September 2012): Jena 6,6 %; Trier: 5,3 %; Empfänger von Grundsicherung Jena 715 (Dezember 2011); Trier 1 767 (Juli 2011) (Gesis / destatis; Bundesagentur für Arbeit).
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schaftlichen Wiederaufbau Ostdeutschlands. Zudem unterscheidet die beiden Städte bei der Verwaltung von Hartz IV , dass Jena im Unterschied zu Trier optierende Kommune ist, d. h. das Arbeitslosengeld in einem kommunalen Eigenbetrieb selbst verwaltet. Die Quartiere, welche durch die Programme »Soziale Stadt« betreut werden, unterscheiden sich in ihrer baulichen Struktur.28 Beide Städte sind bereits seit längerem am Programm »Soziale Stadt« beteiligt und daran interessiert, dieses fortzuführen.29 Für die untersuchten Stadtteile liegen gemäß der Zielsetzung des Bundesprogramms sogenannte integrierte Entwicklungskonzepte vor, welche vom Stadtrat verabschiedet wurden und die lokalen Maßnahmen im Rahmen der »Sozialen Stadt« bündeln sollen. Schwerpunkte der Stadtentwicklung in Jena-Lobeda, das seit Beginn des Programms 1999 teilnimmt, sind laut dem dortigen Konzept die »städtebauliche Entwicklung und Freiraum, Wohnen, soziale Infrastruktur, Betreuung, Bildung und Qualifizierung, Zusammenleben und Integration, Gesundheitsförderung und Sport, Stadtteilkultur, Partizipation, Steuerung und Vernetzung«.30 Dabei sollen insbesondere Wechselwirkungen der Maßnahmen und ›Mehrfacheffekte‹, d. h. positive Wirkungen im Sinne von Synergien in mehreren Bereichen, erzeugt werden.31 Aufgabe der anschließenden Maßnahmen sei es, »auf der Basis einer Bestandsanalyse, die für die Stadtteilentwicklung Lobedas relevanten Politik- und Handlungsfelder sowie den bestehenden Handlungsbedarf herauszuarbeiten, zusammenzuführen und durch Ziele und notwendige Maßnahmen zu untersetzen«.32 Für Trier-West, das seit 2003 am Programm »Soziale Stadt« teilnimmt, 28 In Jena handelt es sich mit Lobeda um eine sogenannte Neubau-Siedlung, welche in den 60er und 70er Jahren die zunehmende Nachfrage insbesondere der Industriearbeiter nach Wohnraum mittels Plattenbauten stillen sollte. Diese Blöcke sind inzwischen größtenteils modernisiert worden und in der Hand von Wohnungsbaugesellschaften sowie der Stadt. In Trier findet sich oftmals weniger moderner Wohnraum, der so günstig ist, dass sich Personen mit geringem Einkommen eine solche Wohnung leisten können. In Trier-West findet sich derlei Wohnraum vor allem in Nachkriegsbauten. 29 Stadt Jena: Niederschrift über die 8. Sitzung des Stadtrates der Stadt Jena am 24. 2. 2010. 30 Stadt Jena, Dezernat Stadtentwicklung, Fachbereich Stadtentwicklung und Stadtplanung: Integriertes Entwicklungskonzept Jena-Lobeda. Programmgebiet der Sozialen Stadt 2009, S. 12. 31 Das Konzept wurde in drei Werkstattgesprächen mit den Beteiligten vor Ort diskutiert. Vgl. Stadt Jena, Niederschrift (wie Anm. 29), S. 9; Stadt Jena, Integriertes Entwicklungskonzept (wie Anm. 30), S. 9. In Trier-West gibt es regelmäßige Bewohnergespräche. Jugendamt der Stadt Trier, Stadtplanungsamt der Stadt Trier, Stadtteilbüro Trier-West: Integriertes Handlungs- und Entwicklungskonzept für das Programmgebiet »Soziale Stadt Trier-West« 2009, S. 34. 32 Stadt Jena, Integriertes Entwicklungskonzept (wie Anm. 30), S. 4.
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sind die Handlungsfelder, in denen agiert werden soll, ähnlich, allerdings etwas differenzierter formuliert.33 Hier wird als Ziel des integrierten Entwicklungskonzeptes »die Steigerung der Lebensqualität, die Förderung der ausgeprägten Identität und der Aufbau eines positiven Images«34 für den Stadtteil genannt. Dies beinhaltet auch einerseits »die Nutzung und Entwicklung der Potenziale, andererseits die Reduzierung und Beseitigung der Probleme im Programmgebiet«.35 An der Programmdurchführung sind unterschiedliche Akteure auf der jeweiligen Stadtteilebene beteiligt. Erstens sind hier die Ortsbeiräte als politische Kollegialorgane der untersten staatlichen Organisationsebene zu nennen. Sie versammeln die Parteien auf Stadtteilebene. Zweitens sind das Quartiersmanagement sowie die Träger der Stadtteilbüros36 wesentlich für die Koordination der Maßnahmen in den Stadtteilen verantwortlich. Drittens sind weitere Einrichtungen wie Stadtteilzentren als Begegnungsstätten, Kitas und Schulen zu nennen.37 Damit wird versucht, einen umfassenden Ansatzpunkt in den benachteiligten Quartieren zu erreichen. Es scheint demnach auf der politischen Ebene einen Konsens zu geben, dass man präventiv und inklusiv tätig sein will. Zudem sind die Akteure breit aufgestellt und – sofern sie es nicht bereits sind – bereit, sich künftig zu vernetzen. Nach dieser kurzen Bestandsaufnahme werden im Folgenden die Einschätzungen und Meinungen der Befragten zu den Bereichen Arbeit, Bildung und Wohnen hinsichtlich der Frage nach Inklusions- oder Exklusionssemantiken untersucht.
33 Beschäftigung, Qualifizierung und Ausbildung, Wertschöpfung im Gebiet, Soziale Aktivitäten und soziale Infrastruktur, Schule und Bildung, Gesundheitsförderung, Umwelt und Verkehr, Stadtteilkultur, Sport und Freizeit, Zusammenleben unterschiedlicher sozialer und ethnischer Gruppen, Wohnungsmarkt und Wohnungsbewirtschaftung, Wohnumfeld und öffentlicher Raum, Imageverbesserung und Öffentlichkeitsarbeit. Jugendamt der Stadt Trier, Integriertes Handlungs- und Entwicklungskonzept (wie Anm. 31), S. 33. 34 Jugendamt der Stadt Trier, Integriertes Handlungs- und Entwicklungskonzept (wie Anm. 31), S. 28. 35 Jugendamt der Stadt Trier, Integriertes Handlungs- und Entwicklungskonzept (wie Anm. 31), S. 28. 36 In Trier ist das die Caritas, in Jena Komme e. V., ein kleinerer Träger des Quartiermanagements. 37 Vgl. Rathauszeitung Trier vom 13. 5. 2005.
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Arbeit, Bildung, Wohnen – die Sicht der befragten Akteure Sozialarbeit ist nach wie vor sehr wichtig, gerade weil viele Menschen in Armut verschiedenste Probleme haben. Da ist [. . .] oftmals Arbeitslosigkeit, auch eine Perspektivlosigkeit. Gar nicht zu wissen, wo man anfangen soll, um aus diesem Dilemma des niedrigen Einkommens herauszukommen. (E769272 )38
Zwar wird Armut von diesem Befragten zunächst mit Arbeitslosigkeit und dem Mangel an finanziellen Ressourcen assoziiert. Arbeit und Qualifizierung (SGB II und SGB VII ) stellen als existenzsichernde Grundlagen den ersten und genuinen Teil der lokalen Armutspolitik dar. Das Zitat zeigt durch die Verneinung (»Perspektivlosigkeit«) deutlich, wie vielschichtig die Problemlagen gestaltet sind und dass aus Sicht des Befragten grundsätzlich eine Aussicht auf Zukunft gegeben sein muss. Armut ist damit ein komplexer Problembereich, dem nicht nur mit Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen begegnet werden kann, sondern der auch eine ›weiche‹ Komponente der psychischen und sozialen Unterstützung Betroffener erfordert. Dieser Appell ist als negative Bestätigung für einen hier zu beschreibenden Zukunftsdiskurs bzw. eine Zukunftssemantik zu verstehen. Diese Diskursformation ist dadurch gekennzeichnet, dass die Zukunft Betroffener durch Strukturbedingungen im Rahmen der »Sozialen Stadt« gestaltet werden soll, die ihnen eine ›Perspektive‹ gibt. Diese Formation liegt quer zu Semantiken von Inklusion in einzelne Funktionssysteme wie Wirtschaft (Arbeit) oder Kunst (Teilhabe an Kultur). Charakteristisch für den Befund des Zukunftsdiskurses ist, dass sich dieser in allen Funktionssystemen, die am Komplex Armut beteiligt sind, zeigt. Zukunft und die Aussicht darauf durchziehen also sämtliche Bereiche der differenzierten städtischen Gesellschaft. Problematisch am Komplex ›Arbeit‹ ist, dass die Kommunen hierbei im Wesentlichen Vollzugsgewalten ausüben.39 Insofern ist der Handlungsspielraum in diesem Bereich, wie die Befragten verdeutlichen, begrenzt. Soweit es geht, entwickelt jede Kommune eigene Handlungsstrategien, etwa im Rahmen von offener Jugendarbeit (SGB VIII ) im Sinne von Prävention durch Bildung und Qualifizierung von Kindern und Jugendlichen, um ihnen dadurch »aus Armut herauszuhelfen«, dass man »Bildungschancen erweiter[t]« (E331245 ). Wie das Zitat zeigt, sollen Möglichkeiten gegeben werden, die eigene Zukunft zu gestalten, und Anschluss an gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden. 38 Hier und im Folgenden werden die zitierten Interviewpartner mit verschlüsselten Zahlen-Buchstaben-Kombinationen kenntlich gemacht. Die Interviews wurden im Zeitraum 2010–2011 mit insgesamt 42 Gesprächspartnern geführt. 39 Vgl. Anm. 5.
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Grundsätzlich wirken sich die unterschiedlichen institutionellen Gegebenheiten vor Ort (Eigenbetrieb in Jena; Arbeitsagentur und Jobcenter in Trier) auf die Strategien im Bereich Arbeit aus. Als Kompensation zu fehlender lokaler Verankerung der Arbeitsagentur gibt es in Trier den sogenannten Bürgerservice. Das ist ein in Trier-West ansässiger, von der Stadt geförderter Betrieb (gGmbH), der Arbeitssuchenden auf Basis von EinEuro-Jobs Möglichkeiten (Projekt »Aktiv in Arbeit«) gibt, den (Wieder-) Einstieg in den Arbeitsmarkt zu finden. Diese Rolle übernehmen in Jena der Eigenbetrieb jenarbeit sowie freie Träger. Unterschiedliche Rollen nehmen die Kirchen in beiden Kommunen ein: In Jena organisieren die Gemeinden übergreifende Organisationen und sind aktiv in die Trägernetzwerke eingebunden, wohingegen die Trierer Kirchen karitativer orientiert sind und selbst als Träger auftreten, wenngleich auch sie umfassend in die kommunalen Netzwerke eingebunden sind. Besonders gravierend machen sich fehlende Erwerbsarbeit und die Abhängigkeit von Hartz IV für Alleinerziehende und generell für Kinder bemerkbar: Wenn die Familie also dauerhaft von Hartz IV lebt und die Mitarbeiter im Bereich der Schulsozialarbeit, der offenen Kinder- und Jugendarbeit bei uns in den Einrichtungen sagen das: Da haben die Kinder einfach kein Geld zur Verfügung, um bestimmte Dinge finanzieren zu können. (E196064 )
In der Folge führt dies zum Ausschluss und der Stigmatisierung betroffener Kinder, deren Eltern sich bestimmte Aufwendungen nicht leisten können.40 Wie die Beispiele zeigen, sind die Bereiche Arbeit und Bildung eng miteinander verbunden, weil ohne ein entsprechendes Bildungsniveau keiner qualifizierten, existenzsichernden Arbeit nachgegangen und folglich Kindern nur ein ungenügendes Rüstzeug für die Zukunft mitgegeben werden kann. Ein Mangel an Perspektiven für die Zukunft wird meist mit Einkommensarmut und geringem Einkommen verknüpft. Damit einher geht ein Ausschluss aus der kommunalen Gesellschaft durch verminderte Teilhabe, was sich für Kinder drastisch auswirken kann. Insofern besteht ein enger Zusammenhang zwischen der semantischen Figur ›Arbeitslosigkeit macht arm‹ und der Bildungsarmut der Kinder. Dies entspricht der quer zu verortenden Zukunftssemantik, Betroffenen Perspektiven zu eröffnen, denn Bildung ist für viele der Befragten eine Grundvoraussetzung, um den Menschen aus ihren prekären Lagen zu helfen bzw. ihre Kinder erst gar nicht in diese abgleiten zu lassen, sondern Möglichkeiten zu bieten, die eigene Zukunft 40 »Armut im Sinne von Einkommensarmut, also geringen Familieneinkommen, aber auch im Sinne von Bildungsbeteiligung, Bildungsarmut, [. . .] fehlender, mangelnder kultureller Beteiligung in der Kommune und auch mangelnden Möglichkeiten, wirksam zu werden im partizipativen Sinne.« (E331245 ).
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selbstbestimmt zu gestalten. Diese Semantik ist relativ unabhängig vom Quartier. Umgekehrt ist jedoch festzustellen, dass sich in betroffenen Quartieren Problem- und Armutslagen sowie die Koinzidenz von Arbeitslosigkeit und Bildungsarmut häufen. Dies wird bei den Äußerungen der Befragten zum Komplex Bildung deutlich: Ich halte das für extrem wichtig, dass die jungen Leute eine Chance haben, einen guten Abschluss zu machen, oder den Hauptschulabschluss nachzuholen [. . .], auch in einer Arbeitsmarktintegration eine Chance haben. [. . .] Wenn man auf die Kinder guckt, ist das A und O aus meiner Sicht, dass man es wirklich schafft, die frühzeitig in die Institutionen zu bekommen, in den Kindergarten, in die Ganztagsschule und das Bildungssystem. (E804907 )
Es gibt aus Sicht dieses Befragten einen engen Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau und der Chance, an der Gesellschaft teilzuhaben und zu partizipieren. Grundsätzlich bedeutet das im Umkehrschluss, dass wenig oder gar nicht gebildete Kinder und Jugendliche bzw. deren Eltern auch keine oder weniger Teilhabechancen haben. Dieses Inklusionsregime besagt, dass die Beteiligung an der Gesellschaft über einen gewissen Bildungsstand und damit ›Zukunftsfähigkeit‹ gewährleistet werden soll: Inklusion in andere Funktionssysteme wird so über Inklusion in das Erziehungs- und Bildungssystem angestrebt. Dafür sind aus der Sicht der Akteure Kindergärten und -tagesstätten sowie Schulen von wesentlicher Bedeutung. Schließlich ist gerade die kommunale Ebene für die Bildungslandschaft zuständig und hat z. B. darauf Einfluss, in welchem Stadtteil welche Schulart, d. h. hier vor allem integrative Schule oder Realschule plus, angesiedelt wird. In Jena sieht das integrierte Entwicklungskonzept für den Bildungsbereich vor, dass Schulen und Kitas »bildungspolitische Schwerpunkte der Stadt« sind. Hierzu wird eine Erhöhung der Inanspruchnahme von Kitaplätzen bei unter Dreijährigen sowie die Verbesserung der Sprachkompetenz, nicht nur für Migranten, angestrebt. Neben intensiverer Elternarbeit soll eine engere Vernetzung von Schulen, Kindertageseinrichtungen und Jugendhilfe durch räumliche Konzentration Synergien für die inhaltliche Arbeit erzeugen helfen. Dies soll zu weiterer Profilierung führen.41 Die Maßnahmenbündel zur »Sozialen Stadt« sind zwar schwerpunktmäßig städtebaulich orientiert, in Trier wird aber der Fokus neben dem Wohnraum auch auf Sprachförderung und frühkindliche Bildung gelegt, was die Bedeutung des Funktionssystems Erziehung zeigt.42 Integrationsbedarf 41 Stadt Jena, Integriertes Entwicklungskonzept (wie Anm. 30), S. 24 f. In Jena kommen zu den genannten Aktionsbereichen Maßnahmen für Senioren und Jugendliche hinzu. 42 Jugendamt der Stadt Trier, Integriertes Handlungs- und Entwicklungskonzept (wie Anm. 31). »Ein Schritt ist da [. . .] die Bildung von Anfang an. Also die ab
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besteht in beiden Städten bei den Schulen. In Trier wurde neben dem Standort für eine integrierte Gesamtschule auch um den Standort für die Realschule plus gerungen, die nun als weiterführende Schule in Trier-West angesiedelt ist. Da sehen wir schon das Problem, dass gerade in diesem Stadtteil, wenn dort keine Realschule plus, keine weiterführende Schule kommt, dass wir dann noch mehr Schulabbrecher bzw. Schulverweigerer auf der Seite sehen könnten und dass der Masterplan, der als Grundlage für alles genommen wird, das dort gebaut wird: Haus des Jugendrechts, die ArGe . . ., dass das alles damit ad absurdum geführt wird. (E473566 )
Das Zitat zeigt, wie wichtig aus Sicht der Parteienvertreter eine gute Vernetzung vor Ort im Bereich der Bildungspolitik zum Zweck der Armutsprävention im Sinne einer Inklusion in primäre Funktionssysteme ist. Diese kann nur realisiert werden, wenn zentrale Einrichtungen wie die genannten in dem Stadtteil ansässig sind, in dem es die meisten Probleme gibt, wie es der ›Masterplan‹ für Trier im städtebaulichen und infrastrukturellen Bereich auch vorsieht.43 Dieser Plan stellt die städtebauliche Entsprechung der Inklusionspolitik dar. Bezogen auf den neben ›Arbeit‹ und ›Bildung‹ dritten Bereich, die Wohnsituation und die Formulierung sowie Umsetzung der entsprechenden Inklusionsmaßnahmen im Rahmen der »Sozialen Stadt«, sind Trier-West und Jena-Lobeda unterschiedlich. Zu den Zielen des Entwicklungskonzepts von Jena gehört die »Sicherung eines qualitativ guten und bezahlbaren Wohnungsangebotes«, die »Förderung der Bindung langjähriger Mieter an Wohnung und Stadtteil« sowie »Anpassung der Bestände an die veränderte Nachfrage und zeitgemäßen Anforderungen« und zuletzt eine »Fortsetzung des Stadtumbaus im Kontext erwarteter rückläufiger Einwohnerzahlen und Haushalte mit dem Schwerpunkt Lobeda-Mitte«.44 In Trier sind die Kommunalpolitiker dagegen mit einer anderen Situation konfrontiert, nämlich verfestigter Armut im untersuchten Quartier. Ähnlich wie beim Zusammenhang von Arbeit und Bildung zeigt sich bei der Einschätzung der Wohnsituation in den Stadtteilen ein vielschichtiges Bild 2-jährigen so schnell wie möglich in die Gesellschaft integrieren und erst gar nicht sozusagen die vererbte Arbeitslosigkeit zuzulassen.« (E539033 ). Die Kitas sind in Jena gut ausgebaut, bedürfen aber wegen des steigenden Zuzugs und der demographischen Entwicklung sowie des Bundesgesetzes zum Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige eines weiteren Ausbaus; zudem werden Sprachförderprogramme und frühkindliche Bildungsangebote gefördert. 43 Stadt- und Regionalplanung Dr. Jansen GmbH: Masterplan Trier-West. Stadterneuerungskonzept 2010. 44 Stadt Jena, Integriertes Entwicklungskonzept (wie Anm. 30), S. 31.
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der Zusammenhänge: Ein Parteienvertreter aus Trier charakterisiert die Wohnsituation gar als den Ausgangspunkt für die zu ergreifenden Maßnahmen im Bereich der Armutsprävention, da schlechte Wohnsituation, Bildungsdefizite und reduzierte Berufschancen eng zusammengehörten, was zur erwähnten Zukunftssemantik passt: Also: miserable Wohnverhältnisse bedeutet: Die Kinder gehen nicht in die Schule. Wenn ich keine Bildung habe, habe ich keine Berufschancen, wenn ich keine Berufschancen habe und keinen Beruf habe, habe ich wieder Armut und lande wieder im ›Sozialhilfebereich‹. Das ist also dieser Teufelskreis. Und es gab immer wieder Bemühungen auch hier in der Stadt Trier, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, wenn ich hingehe und sage: Womit fängt man an? Der Anfang ist wichtig: Wohnung. (E766512 )
Insofern liegt der Ansatzpunkt für Maßnahmen im Rahmen der »Sozialen Stadt« aus Sicht des Befragten bei den baulichen Begebenheiten vor Ort. Dabei lassen sich, so darf man interpretieren, zwei Dinge verbinden: die Imageverbesserung, die zugleich Stigmatisierungen mildert, und die Verbesserung von Teilhabechancen, vor allem durch Bildungsangebote für Jugendliche. Die Wohnsituation und der Zustand der Wohnbebauung in den Quartieren sind nach der Meinung vieler Befragter nicht weniger von Bedeutung als die Verknüpfung von Arbeitslosigkeit und Armut. Inklusion durch armutspolitische Netzwerke im lokalen Raum Im Anschluss an die Analyse der Semantiken sollen im Folgenden die armutspolitischen Netzwerke untersucht werden. Wie bereits angedeutet, werden seitens der Kommunalpolitiker sowie der Trägervertreter in beiden Städten möglichst alle Akteure miteinbezogen und es wird versucht, Lobbyarbeit für den jeweiligen Stadtteil beim Kommunalparlament zu betreiben, Ziele zu erreichen und ›Rückendeckung‹ für die Unterstützung weiterer Förderphasen zu erhalten. Beide Städte haben diese Strukturen mit Runden Tischen, Arbeitsgemeinschaften oder Arbeitskreisen institutionalisiert, welche als Organisationen beschrieben werden könnten, die das sekundäre Funktionssystem ›sozialer Hilfe‹ formieren. Im Folgenden werden exemplarisch zwei Netzwerke aus Trier und Jena betrachtet. In diesen gibt es eine horizontale Diffusion von Information und Kommunikation sowie einen vertikalen Austausch von Information von der Stadtteilebene auf die Gesamtstadtebene. Dabei sind insbesondere die untere und die mittlere Ebene gut ausdifferenziert, hier können auf breiter Basis Informationen gesammelt und abgefragt werden. Der ›Runde Tisch TrierWest‹ sowie die genannten Projektgruppen dienen als Sammelbecken für die Problemlagen, Forderungen und Ideen der Betroffenen in Trier-West, die über
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Bewohnergruppen und Vereine miteinbezogen werden. Die intermediäre Ebene, bestehend aus dem Quartiersmanagement und der Lenkungsgruppe, gibt die Informationen aus dem Stadtteil an die Gesamtstadtebene weiter, sodass die Entscheider über Problemlagen im Quartier informiert sind, da sie meist nicht die Zeit haben, selbst bei den Verantwortlichen nachzufragen.45 Hier wird also versucht, möglichst viele Kommunikationswege zu erschließen und zu formalisieren. Betrachtet man nun ergänzend die Strukturen der Kommunikation in exemplarischer Form46 zeigt sich, dass gerade Parteivertreter über Kontakte verfügen, die weniger auf die Stadtteilebene bezogen sind, als vielmehr über die Gesamtstadt einen Zugriff erlauben, sodass die Repräsentanten der Funktion von Volksvertretern gerecht werden können. Hervorzuheben ist die enge Verknüpfung der Akteure untereinander (Abbildung 1).
Abbildung 1: Netzwerkgrafik eines Parteivertreters aus Trier. Quelle: Eigene Erhebung und Darstellung.
Die Grafik zeigt, dass der Befragte (in der Mitte) zehn andere Parteimitglieder (in Grautönen eingefärbt) nennt, vornehmlich aus der eigenen Partei (fünf, dunkelgrau), und elf Nicht-Mitglieder (weiß). Diese sind den Trägern 45 Vgl. die Grafik in Jugendamt der Stadt Trier, Integriertes Handlungs- und Entwicklungskonzept (wie Anm. 31), S. 52. Jena verfügt über ähnliche Strukturen. 46 Die Grafiken sind als typisch für das Sample der erhobenen Netzwerke zu sehen und zeigen die unterschiedliche Vernetzung auf kommunalpolitischer Ebene.
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auf der Quartiers- und Stadtebene zuzuordnen. Die Kreise des Diagramms bilden ab, wo die Personen zu verorten sind: Auf Stadtteilebene, auf Gesamtstadtebene oder auf Landesebene. Im Stadtteil (kleinster, innerer Kreis) wurden viele Trägervertreter verortet, wohingegen sich auf der Gesamtstadtebene (mittlerer Kreis) Kommunalpolitiker befinden und auf der Landesebene (äußerster Kreis) ein Landespolitiker. Ein ähnliches Bild zeigt sich für Jena (Abbildung 2). Hier sind ebenfalls auf der Stadtteilebene Akteure aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich angesiedelt, wohingegen die Akteure auf der Gesamtstadtebene vorwiegend Kommunalpolitiker sind. Das Jenaer Netzwerk hat allerdings etwas weniger Akteure auf der Stadtteilebene als das Trierer, dagegen jedoch mehr Akteure auf der Gesamtstadtebene. Das deutet darauf hin, dass die für Armutspolitik relevanten Strukturen in Jena eher auf der Gesamtstadtebene zu finden sind, während diese in Trier im Stadtteil selbst vorzufinden sind.47
Abbildung 2: Netzwerkgrafik eines Parteivertreters aus Jena. Quelle: Eigene Erhebung und Darstellung.
47 Dieser Zusammenhang hat sich auch, in unterschiedlich starker Ausprägung, bei den übrigen untersuchten Netzwerken gezeigt. Inwiefern sich diese strukturellen Unterschiede auf die Durchsetzung und den Erfolg von Maßnahmen auswirken, kann aufgrund der synchron erhobenen Daten nicht abgeschätzt werden.
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An den teilweise multiplexen, also mehrfach besetzten Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Ebenen der beiden Netzwerke zeigt sich deutlich, dass enge Kommunikationsbeziehungen zwischen der Stadtteilebene und der Gesamtstadtebene bestehen. Kommunalpolitiker, die in den Stadtteilen beheimatet sind, verfügen aufgrund ihrer Repräsentations- und Informationsaggregationsfunktion über besondere Potenziale zur Kommunikation über Armut und deren Anschlussfähigkeit im Stadtrat sowie dessen Gremien, insbesondere den Sozialausschüssen der beiden Städte. Damit bergen Kontakte zu Parteivertretern im Sinne des angeführten sekundären Funktionssystems ›sozialer Hilfe‹ das Potenzial, Interessen und Bedürfnisse der Betroffenen in ihrer Stadt zu aggregieren und an die nächsthöhere politische Ebene zu artikulieren.
Soziale Hilfe, sekundäre Inklusion und temporale Semantiken in der »Sozialen Stadt« Im sozialen Raum der beiden untersuchten Städte, welche sich hinsichtlich ihrer sozio-ökonomischen Strukturen ähneln, hat sich in der kommunalen Gesellschaft durch wechselseitige Verstärkung unterschiedlicher an Armutsbekämpfung beteiligter Funktionssysteme ein sekundäres Funktionssystem sozialer Hilfe herausgebildet,48 das seine empirische Entsprechung in den Programmen zur »Sozialen Stadt« findet. Dieses sekundäre Funktionssystem wurde anhand dreier Politikbereiche (Arbeit, Bildung, Wohnen) sowie der Struktur armutspolitischer Netzwerke expliziert. Dabei wurden drei Ebenen unterschieden: Die erste ist jene der an Armutspolitik beteiligten Funktionssysteme selbst. Die zweite lässt sich als ›sekundäre Inklusion‹ bezeichnen: Die »Soziale Stadt« fungiert als Inklusionsprogramm in dem Sinne, dass Exklusionen von den Rändern der Städte, den untersuchten Stadtteilen, auf Inklusionsmechanismen im Zentrum der lokalen Gesellschaft hinweisen. Dies zeigt sich an der Quartierssemantik. Insofern stellt die »Soziale Stadt« eine andere, sekundäre Form der Inklusion dar, die primäre Inklusion (Arbeit, gesellschaftliche Teilhabe, Teilnahme am lokalen öffentlichen Leben) erst ermöglicht. Eine dritte Ebene wird durch die Semantiken gebildet. Diese Ebene ist nicht an den Grenzen der Funktionssysteme oder politischen Bereichen orientiert, sondern liegt quer dazu, durchdringt sie gewissermaßen. Es handelt sich um temporale Semantiken (›Perspektive‹, ›Zukunft‹). Das Sprechen über Bildung und Perspektiveneröffnung kann im Sinne eines Zukunftsdiskurses gesehen werden, mit dessen 48 Vgl. Anm. 8 und 9.
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Mechanismen der Machtdurchsetzung und -kontrolle Betroffene inkludiert werden sollen. Die systemtheoretische Perspektive hat nicht nur zur Analyse der Kommunikationen und Semantiken und der vielfältigen Einschlüsse und Ausschlüsse der von Armut Betroffenen beigetragen, sondern auch zur Beschreibung des Systems der sozialen Hilfe, wie es sich in den Programmen der »Sozialen Stadt« zeigt, als ein neues, sekundäres Funktionssystem.
Multiple Inklusionen von ›Russlanddeutschen‹: Transmigration als Karriere
Anett Schmitz
In den letzten vierzig Jahren hat sich das Begriffspaar Inklusion/Exklusion in der sozialwissenschaftlichen Forschung etabliert. Die Termini beziehen sich auf ökonomische, politische, kulturelle sowie soziale Bereiche des Lebens und beschreiben die gesellschaftlichen Prozesse von Ausschluss und Teilhabe. In der Migrationsforschung gelten die Migranten und Migrantenkinder häufig als von Exklusion bedrohte und betroffene ›Fremde‹. Es soll damit die fehlende Möglichkeit der Teilhabe der Migranten an den wichtigsten Systemen des gesellschaftlichen Lebens wie Bildung, Politik und Wirtschaft bezeichnet werden.1 Die oft ›prekären‹ Zugehörigkeiten von Migrantenkindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund werden in der Migrationsforschung mit Wurzel- bzw. Heimatlosigkeit in Verbindung gebracht. Die Migrationsforschung untersucht jedoch auch die Inklusion, d. h. die verschiedenen Formen der Teilhabe von Migranten am sozialen Leben. Dabei kommt dem ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital eine bedeutende Rolle zu.2 Im Folgenden soll im Blick auf junge und bildungserfolgreiche ›Russlanddeutsche‹3 gezeigt werden, wie ihre Identitäts- und Zugehörigkeitserfahrungen, sozialen Netzwerkstrukturen, Verortungs- bzw. Beheimatungsstrategien sowie die daraus entwickelten Lebensentwürfe im Kontext von transnationalen Migrationsprozessen analysiert werden können und wie transnationale 1 Vgl. Luhmann, Niklas: Inklusion und Exklusion. In: Berding, Helmut (Hg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Frankfurt a. M. 1994, S. 14– 45. 2 Vgl. Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen 1983, S. 183–198. 3 Als junge, bildungserfolgreiche ›Russlanddeutsche‹ gelten in diesem Aufsatz Personen mit einem akademischen Status (Studium, akademischer Beruf etc.) im Alter zwischen 22 und 30 Jahren, die Ende der 1980er /Anfang der 1990er Jahre als Kleinkinder mit ihren Eltern aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik migriert sind. In der wissenschaftlichen Forschung werden sie als »mitgenommene Generation« oder »Generation 1.5« bezeichnet (vgl. dazu Tosˇic´, Jelena / Streissler, Anna: »Zwischen den Kulturen«? Kinder und Jugendliche der 2. Generation. In: Six-Hohenbalken, Maria / Tosˇic´, Jelena [Hg.]: Anthropologie der Migration. Theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Aspekte. Wien 2009, S. 185–204).
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Lebensentwürfe zwischen Herkunfts- und Ankunftsländern entstehen sowie zwischen Inklusions- und Exklusionsprozessen gestaltet werden.4 Gegenstand der Untersuchung sind Interviews mit Spätaussiedlern aus der ehemaligen UdSSR, die als Kleinkinder mit ihren Eltern Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland eingereist sind und zum Zeitpunkt der Untersuchung (2009–2011) als junge Erwachsene unter Nutzung ihres sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapitals5 zwecks Aus- und Weiterbildung, Beruf und Karriere zwischen Deutschland und Russland pendeln. Damit rückt die Frage der Brain Circulation6 in den Vordergrund.7 Von ihr könnten sowohl Deutschland als auch die Rückkehrländer profitieren, insbesondere im Rahmen des transnationalen Wissenstransfers und der Durchführung gemeinsamer (akademischer oder wirtschaftlicher) Projekte, die unabhängig von einer physischen Präsenz realisiert werden können.8 Ein Schlüsselphänomen bei der Beobachtung und Gestaltung dieser Prozesse ist die Frage nach der Identität und kulturellen Zugehörigkeit in diesen wechselnden Migrationsprozessen. Wie wird der Begriff räumlich, zeitlich und kulturell in den zirkulären Migrationsprozessen verhandelt und welche (Beheimatungs-)Strategien werden dabei entwickelt? Zur Beantwortung dieser und weiterer Fragen wurden, basierend auf ethnographischen Methoden9 und im Stil der Grounded Theory,10 mit jungen bildungserfolgreichen Spätaussiedlern zwanzig Interviews durchgeführt.
4 Die in diesem Beitrag vorgestellten Ergebnisse beziehen sich auf ein Dissertationsprojekt zum Thema »Junge, bildungserfolgreiche Russlanddeutsche im transnationalen Kontext« im Rahmen des Teilprojekts »Netzwerkbeziehungen und Identitätskonstruktionen – Rückkehrstrategien von Spätaussiedlern im Kontext sich wandelnder Migrationsregime« im Sonderforschungsbereich 600 »Fremdheit und Armut« an der Universität Trier. 5 Vgl. Bourdieu, Kapital (wie Anm. 2), S. 183–198. 6 Diesem Begriff zufolge wird die Migration nicht als Endpunkt gesehen, sondern als zirkuläre Perspektive. 7 Vgl. Heß, Barbara: Bleiben hochqualifizierte Zuwanderer in Deutschland? Befragungsergebnisse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. In: soFid Migration und ethnische Minderheiten 2 (2009), S. 11–30. Vgl. auch Ette, Andreas / Sauer, Lenore: Auswanderung aus Deutschland. Daten und Analyse zur internationalen Migration deutscher Staatsbürger. Wiesbaden 2010, S. 26. 8 Vgl. Heß, Zuwanderer (wie Anm. 7), S. 11. 9 Als ethnographische Methode werden hier insbesondere qualitative Interviews und im Rahmen einer Feldforschung in St. Petersburg teilweise auch teilnehmende Beobachtungen herangezogen. 10 Vgl. Glaser, Barney G. / Strauss, Anselm L.: The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research. Chicago 1967.
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Um den Zusammenhang von Identität, transmigrantischem Selbstkonzept und der Semantik der Nation in theoretischer Hinsicht zu beleuchten, wird auf Arbeiten von Niklas Luhmann11 und Alois Hahn12 zurückgegriffen. Dies wird es erlauben, Transmigration als Karriere zu fassen. Transmigranten: Zwischen oder in den Kulturen? Seit Beginn der 1990er Jahre kann man beobachten, wie die Begriffe transnational, Transnationalisierung und transnationale Migration auch im deutschsprachigen Raum zunehmend Verwendung finden.13 Im Wissenschaftsdiskurs spricht man von Transmigranten14 oder von ›Border People‹,15 die transnationale soziale Räume zwischen ihren Herkunfts- und Ankunftsländern dauerhaft anlegen16 und so zwischen diesen Ländern pendeln. Die ersten theoretischen Ansätze zur transnationalen Migration und Transnationalisierung findet man bei den amerikanischen Anthropologinnen Schiller, Basch und Blanc-Szanton, die die Migrationsvorgänge im transnationalen Kontext im karibisch-mexikanischen Raum beschreiben.17 Im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff des Transnationalismus zunächst von Soziologen aufgegriffen.18 Stets geht es bei ›Transmigration‹ und ›Transnationalismus‹ darum, die neue Qualität transnationaler Migration zu betonen und sie in den Zusammenhang der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen 11 Luhmann, Niklas: Individuum, Individualität, Individualismus. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1993, S. 149–258. 12 Hahn, Alois: Exklusion und die Konstruktion personaler Identitäten. In: Raphael, Lutz / Uerlings, Herbert (Hg.): Zwischen Ausschluss und Solidarität. Modi der Inklusion / Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike (Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 6). Frankfurt a. M. [u. a.] 2008, S. 65–96. 13 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Transmigration kein neues Phänomen ist. Bereits 1927 werden die sozialen Beziehungen zwischen Herkunftsund Ankunftsland dargestellt, vgl. Thomas, William/Znaniecki, Florian: The Polish Peasant in Europe and America. New York 1927. 14 Vgl. Pries, Ludger: Internationale Migration. Bielefeld 2001. Vgl. ders.: Transnationalisierung. Theorie und Empirie grenzüberschreitender Vergesellschaftung. Wiesbaden 2010. 15 Vgl. Martı´nez, Oscar J.: Border People: Life and Society in the U. S.-Mexico Borderlands. Tucson 1994. 16 Vgl. Pries, Migration (wie Anm. 14), S. 53. 17 Vgl. Glick-Schiller, Nina [u. a.] (Hg.): Towards a Transnational Perspective on Migration. Race, Class, Ethnicity, and Nationalism Reconsidered. New York 1992. 18 Vgl. Pries, Migration (wie Anm. 14) und Pries, Transnationalisierung (wie Anm. 14); sowie Faist, Thomas (Hg.): Transstaatliche Räume. Politik, Wirtschaft und Kultur in und zwischen Deutschland und der Türkei. Bielefeld 2000.
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Globalisierungsprozesse zu stellen. Es geht dabei um »grenzüberschreitende Phänomene [...], die – lokal verankert in verschiedenen Nationalgesellschaften – relativ dauerhafte und dichte soziale Beziehungen, soziale Netzwerke oder Sozialräume konstituieren«.19 Die Dichte und Intensität der zwischenmenschlichen Beziehungen unterscheidet dieses Migrationsmodell von den früheren historischen Migrationsmodellen, wie etwa den grenzüberschreitenden Familienkontakten und Beziehungen deutscher Auswanderer nach Brasilien oder die USA im 19. Jahrhundert, die eher sporadischen Charakter hatten.20 In Anlehnung an Pries21 lässt sich das Leben der bildungserfolgreichen ›Russlanddeutschen‹ zwischen Herkunftskulturraum und Ankunftskulturraum als typisch für das Verhalten moderner Transmigranten bezeichnen: Die sozialen Netzwerke werden sowohl in Deutschland als auch im Kulturraum GUS ›direkt‹, ›persönlich‹ und ›intensiv‹ aufrechterhalten, unabhängig von der physischen Präsenz. So ›treffen‹ sich diese Transmigranten z. T. täglich mit ihren Freunden und Verwandten in einem Skype- oder Facebookchat zu intensiven Gesprächen über Familienereignisse, Politik, Wirtschaft u. a. Auf diese Weise entsteht eine räumliche Inklusion, die auf Dauer angelegt wird und sich über verschiedene Nationalgesellschaften hinweg erstrecken kann.22 Durch die Überbrückung der räumlichen Distanz gelingt es den Transmigranten, über große Entfernungen hinweg an Gesellschaften teilzuhaben, ohne eine innere Zerrissenheit oder Wurzellosigkeit zu erleben. Dies hängt oft damit zusammen, dass sie Bildung und Sprache als kulturelles Kapital für die Verbindung beider Länder produktiv nutzen und im besten Fall nationalgesellschaftliche und kulturelle Wertvorstellungen beider Länder gleichermaßen aufrechterhalten können. Transmigranten leben insofern nicht ›zwischen den Kulturen‹, sondern streben im Gegenteil gerade die Aufrechterhaltung unterschiedlicher Kulturen an. Insofern stellen sich einige grundlegende Fragen der Migrationsforschung auf neue Weise: Wie entstehen und verändern sich Identitäten in diesem transnationalen Raum? Welche Rolle spielen dabei Inklusion/Exklusion sowie damit verbundene Selbst- und Fremdbeschreibungen? Gibt es bei Transmigranten ein Bedürfnis nach ›Heimat‹ und falls ja, welchem (geographischen oder nicht geographisch fassbaren) Raum wird sie zugeordnet?
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Pries, Transnationalisierung (wie Anm. 14), S. 13. Vgl. Pries, Transnationalisierung (wie Anm. 14), S. 13 f. Vgl. Pries, Transnationalisierung (wie Anm. 14), S. 59– 62. Vgl. Pries, Migration (wie Anm. 14), S. 49.
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Hybride Identitäten und ›Third Space‹ Für die neuen Identitätsformen der Transmigranten, wie sie in den Interviews empirisch fassbar werden, haben sich in der wissenschaftlichen Diskussion die Begriffe ›hybride Identitäten‹,23 ›Patchworkidentitäten‹,24 ›Kulturmelange‹25 u. a. etabliert. Identitäten werden als hybrid bezeichnet, »wenn die Bestandteile der Mischung aus verschiedenen kulturellen Kontexten stammen«.26 In seiner Geographie der Hybriden stellt Zierhofer (1999) neben dem Selbst und dem Anderen das ›ausgeschlossene Dritte‹ dar, was er als Hybride charakterisiert.27 Das ›ausgeschlossene Dritte‹ kann im transnationalen Migrationskontext als ›Dritter Stuhl‹28 oder ›Third Space‹29 verstanden werden, wo zwei oder mehrere Kulturen aufeinander treffen. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität,30 in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt.31 Der ›Third Space‹ und die ›Hybride Perspektive‹ im transnationalen Migrationskontext können den Blick für eine differenzierte Betrachtung lebensweltlicher Aspekte transstaatlicher Verflechtungen eröffnen, die von Weltsystem, Weltgesellschafts- und Globalisierungskonzepten vernachlässigt werden32 und einen großen Spielraum für die neue Identitätsbildung von Migranten bieten. Interessant ist aus dieser Perspektive, wie die jungen, bildungserfolgreichen 23 Vgl. Bhabha, Homi K.: The Third Space. In: Rutherford, Jonathan (Hg.): Identity. Community, Culture, Difference. London 1990, S. 207–221. 24 Vgl. Keupp, Heiner [u. a.]: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek b. Hamburg 2002. 25 Vgl. Nederveen Pieterse, Jan: Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural. In: Beck, Ulrich (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt a. M. 1998, S. 87–124. 26 Vgl. Nederveen Pieterse, Der Melange-Effekt (wie Anm. 25), S. 116. 27 Vgl. Zierhofer, Wolfgang: Geographie der Hybriden. In: Erdkunde 53 (1999) 1, S. 1–13, hier S. 7. 28 Vgl. Badawia, Tarek: »Der dritte Stuhl«. Eine Grounded-theory-Studie zum kreativen Umgang bildungserfolgreicher Immigrantenjugendlicher mit kultureller Differenz. Frankfurt a. M. 2002. In dieser Studie wird die Identitätslage von bildungserfolgreichen türkischen Migranten durch das Bild eines ›dritten Stuhls‹ dargestellt, was nichts anderes bedeutet als eine Alternative zur Vorstellung vom Leben ›zwischen den Kulturen‹. 29 Vgl. Bhabha, Space (wie Anm. 23). 30 Der Begriff der ›Hybridität‹ wird bei Bhabha im Kontext der Kolonialisierung verwendet. Im Prozess der Kolonialisierung treffen verschiedene Kulturen aufeinander, sodass man sie voneinander nicht mehr unterscheidet. 31 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, S. 5. 32 Faist, Räume (wie Anm. 18), S. 45.
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›Russlanddeutschen‹ ihre Identitäten im Laufe der transnationalen Migrationsprozesse wahrnehmen und wie sie sich aus der hybriden Identitätsperspektive definieren: [. . .] ich habe von beiden Gruppen sehr viel mitgenommen [. . .]. Also ich bin so deutsch zum Teil erzogen von der Schule aus, aber in der Freizeit verhalte ich mich ganz anders als Deutsche. [. . .] ich würde mich wie so einen Mix beschreiben, ich kann mich auch keiner Gruppe zugehörig fühlen, weil ich immer, wenn ich irgendwo anders bin, dann denk ich immer, dass da noch etwas ist in mir, was anderes [. . .]. Ich würde dann sagen, einfach so europäisch. Ich möchte mich nicht festlegen auf irgendein Land. Das ist schwierig [. . .]. Ich kann ja nicht nur eins akzeptieren und das andere abstoßen. (IP 1)33
Hier wird deutlich, dass die Zuschreibung zu nur einer ethnischen Gruppe für einen Transmigranten nicht denkbar ist. Vielmehr kommt es auf die ›Transkulturalität‹ an, die als ein Phänomen der Vermischung und gegenseitigen Durchdringung verschiedener Kulturen verstanden werden kann.34 Diesem Ansatz zufolge kann die kulturelle Identität also nicht als Zugehörigkeit zu einem einzigen Kulturraum definiert werden, sondern nur als Bildung verschiedener Komponenten aus mehreren nationalen Kulturen und als Verbindung dieser Komponenten in der Phase der Identitätsformung. Dabei scheint eine wichtige Voraussetzung zu sein, dass sich die Individuen mit der eigenen Vielfältigkeit und den Widersprüchlichkeiten auseinandersetzen, um mit der gesellschaftlichen Transkulturalität umgehen zu können.35 Der Interviewpartner macht auf die Komponente eines »Nationalgeistes« aufmerksam, die durch »Symbole« und »Punkte«, die er später »kulturelle Fixpunkte« nennt, geprägt sei. Das kulturelle Wertesystem, das offenkundig in frühkindlicher Mutter-Kind-Kommunikation entstanden ist, prägt sein Zugehörigkeitsgefühl zu seinem Herkunftsland: Wenn es so eine Art Gefühl geben sollte für irgendein Nationalgefühl, dann wäre es vielleicht eher mit Russland verbunden. Es gibt da einfach viel mehr, was mit Russland zu tun hat, und deswegen habe ich da einfach mehr Symbole und mehr Punkte, die mich mehr an Russland erinnern. Wenn ich bestimmte Lieder höre oder Kinderlieder, fühle ich mich dann damit verbunden. Für Deutschland ist das ganz anders. Ich habe eigentlich keine kulturellen Fixpunkte in meiner Kindheit gehabt, deshalb habe ich für Deutschland nicht so einen Nationalgeist entwickelt. (IP 1) 33 Interviewpartner (IP ) 1 wurde 2010 in Russland von der Autorin interviewt, z. Zt. des Interviews war die Person 22 Jahre alt. Alle Hervorhebungen hier und in den folgenden Interviewausschnitten wurden von der Verfasserin zur Betonung des Argumentationsstranges vorgenommen. 34 Welsch, Wolfgang: Transculturality. The Puzzling Form of Cultures Today. In: Featherstone, Mike (Hg.): Spaces of Culture: City, Nation, World. London 1999, S. 194–213, hier S. 197. 35 Vgl. Welsch, Transculturality (wie Anm. 34), S. 201.
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Mit dem Satz »Ich bin ein ordnungsliebender Mensch« versucht er etwas später den »anderen Teil« seiner Identität als ›Deutscher‹ zu beschreiben, indem er auf seine ›deutschen‹ Eigenschaften, wie Ordnung und Fleiß zurückgreift. Um die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Russland im Rahmen der eigenen Identitätsbildung zu bewältigen, präsentiert er sich als ›Europäer‹: »Es ist bei mir [...] ich würde sagen, einfach so europäisch. Ich möchte mich nicht festlegen auf irgendein Land. [...]« (IP 1). Während das Konzept hybrider Identitäten aufzeigt, dass multiple Zugehörigkeiten denkbar sind, soll im Folgenden auch im Einzelnen auf Erfahrungen defizitärer Zugehörigkeit eingegangen werden.
Inklusion und Exklusion durch Fremd- und Selbstzuschreibung Wenn ich Leute kennenlerne [. . .] oder einfach in eine Gesellschaft komme, wo nur Deutsche sind, die merken schon, dass ich einen russischen Akzent habe. Und schon verhalten sie sich mir gegenüber anders, [...] so, dass ich Migrationshintergrund habe. [...] du wirst zuerst abgegrenzt und du gehörst nie dazu. [...] Du bist dann wirklich anders, siehst, dass die Leute anders reden, [...] dass die Leute anders denken. Sie haben nicht deine Denkweise. Ich habe aber auch nicht zum Beispiel die Denkweise von Russen, aber auch nicht von Deutschen. Das ist sehr kompliziert. Aber du weißt, du gehörst einfach nicht dazu, nicht richtig [...]. (IP 2)36
Die Formulierungen machen deutlich, dass im Bewusstsein des Interviewten ›Fremdheit‹ ein relationales Phänomen ist: ›Anders‹ sind, je nach Perspektive, sowohl die Deutschen als auch die Russen als auch er selbst. Es wird deutlich, dass er sowohl in der Fremd- als auch in der Selbstbeschreibung in Bezug auf beide Nationalitäten durch Semantiken des Andersseins charakterisiert wird. Der Befragte weiß sich zwar in der einheimischen Gesellschaft rechtlich durch seinen deutschen Pass und seine deutsche Staatsbürgerschaft inkludiert, dennoch nimmt er sich als jemanden wahr, der sich aufgrund seiner Denk- und Handlungsmuster von den Einheimischen unterscheidet, und auch von diesen als Fremder gesehen wird, was er für sich als ›Ausgrenzung‹ interpretiert. In einem späteren Interviewabschnitt spricht der Interviewpartner über seine emotionalen Bindungen an Russland, wo er bis zu seiner Ausreise nach Deutschland im Alter von sieben Jahren eine schöne Kindheit verbracht habe. Er sagte zwar einerseits, er sei davon überzeugt »ein hundertprozentiger deutscher Bürger« zu sein, meinte aber zu einem späteren Zeitpunkt, dass das nicht so einfach sei, denn um ein »hundertprozentiger« deutscher Bürger 36 Interviewpartner 2 wurde von der Autorin in Russland im Jahr 2010 interviewt, z. Zt. des Interviews war die Person 25 Jahre alt.
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zu sein und sich dieser Gesellschaft »hundertprozentig« zugehörig zu fühlen, bedürfe es auch der Annahme ihrer »Kultur und Mentalität«, und hier gebe es eben doch für ihn eine Grenze: »Du gehörst schon dazu [... ], aber ob ich jetzt die deutsche Kultur habe und die deutsche Mentalität, das habe ich nicht [...]« (IP 2). Derartige Differenzerfahrungen hat mein Interviewpartner nicht nur in Deutschland gemacht, sondern auch während seines temporären Studienaufenthaltes in Russland. Obwohl er in Deutschland fortwährend dachte, dass er den »Russen ähnlich sei«, wird ihm in Russland oft das deutschenähnliche Verhalten und die »zu deutsche Denkweise« von Einheimischen im ›Rückkehrland‹ zugeschrieben. Es gibt immer das ›etwas Andere‹ und dieses ›Andere‹ wird auch als ein Teil seiner persönlichen Selbstbeschreibung verwendet. ›Anderssein‹, ›sich anders fühlen‹ und ›anders denken‹ sind häufige Metaphern, die als Selbstzuschreibung für diese Transmigranten fungieren. Dieser Ausnahmezustand (engl. ›state of emergency‹), in dem sie leben, wird zu einer Regel und zur Herausforderung bei der Beantwortung der Frage nach der Zugehörigkeit zwischen Herkunfts- und Ankunftsland. Die Lösung des Problems sieht so aus, dass die Antwort an die unterschiedlichen Situationen angepasst und ständig aktualisiert wird. Der Ausnahmezustand ist für die Transmigranten mit Bhabhas Worten immer auch ein Zustand des Neuentstehens (engl. ›emergence‹).37 Hierbei scheinen die Identitäten in den Zeiten der Globalisierung nicht mehr im traditionellen Sinne stabile Vorgaben zu sein,38 sondern sie werden immer wieder ausgehandelt und unterliegen im Sinne Stuart Halls dem Spiel der Geschichte und der Differenz.39 Während die ›Russlanddeutschen‹ in wirtschaftlichen, rechtlichen, politischen, beruflichen und familiären Funktionszusammenhängen ganz überwiegend sehr gut inkludiert sind, wird die personelle Identität in hohem Maße durch das Gefühl bestimmt, »in einem Fremdkörper« zu sein, was dann wiederum als ein »Normalzustand« empfunden wird: [. . .] ich fühl mich so, ich weiß auch nicht. Ich hab so eine Gelassenheit, glaube ich. Ich finde es in Berlin auch deshalb so angenehm, weil du hier . . .es ist normal in einem Fremdkörper zu sein [. . .] irgendwie anders zu sein als der Rest, weil alle anders quasi sind. Du findest keinen normalen Berliner und die [normalen] Berliner, die du findest, sind langweilig [. . .]. (IP 3)40 37 Vgl. Bhabha, Verortung (wie Anm. 31), S. 61. 38 Vgl. Gamper, Markus: »Islamischer Feminismus?« – Eine triangulative Studie zu Religiosität, Identität und Geschlechterrolle von Muslima in unabhängigen Frauenvereinen in Deutschland. Bielefeld 2010, S. 86. 39 Vgl. Gamper, Islamischer Feminismus (wie Anm. 38).
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Der Normalzustand des ›Andersseins‹ oder ›In-einem-Fremdkörper-Seins‹ kann für den jungen Transmigranten in diesem Kontext auch als Selbstfindung des Eigenen betrachtet werden. Diese Selbstfindung kann insofern als wichtig angesehen werden, weil er sich durch seinen Identitätsentwurf von den anderen Migrantengruppen wie Diaspora-Migranten, Einwanderern, Rückkehrmigranten unterscheidet. Während die Letzteren eine eindeutige kulturelle und räumliche Zuordnung in ihren Lebensentwürfen schaffen, um nicht hin- und hergerissen zu sein, fühlt sich der Transmigrant überall dort, wo eine eindeutige Zuordnung verlangt wird, fremd.41 Mein Interviewpartner positioniert sich mit einem eher ambivalenten Verhältnis zum Herkunfts- und Ankunftsland, wobei er sich überall zu Hause fühlt und versucht die Balance zwischen den beiden Polen zu halten: [...] ich kann mich überall wohl fühlen, überall zu Hause fühlen, aber diese Entspanntheit, die hatte ich bisher nur in Petersburg [...] in Berlin kann ich auch diesen Alltag haben, diese alltägliche Erfahrung, dass man sich irgendwie wohl fühlt, aber ein Teil von mir [...] ja gehört einem anderen Kulturkreis [...], aber es ist auch so, wenn ich dort [in Russland] lebe, dass ein anderer Teil Deutschland vermisst [...], irgendwie brauch ich dann auch die deutsche Sprache, sonst ist man zerrissen [...]. (IP 3)
Es wird deutlich, dass bei einem Transmigranten gerade die eindeutige Zuschreibung und Zugehörigkeit zu einem Land, einer Kultur oder einer ethnischen Gruppe das Gefühl der ›Zerrissenheit‹ hervorrufen kann.
Identitäts- und Exklusionsgeneratoren: Transmigration als Karriere Inklusion- und Exklusion spielen für die Produktion der Identitäten eine wichtige Rolle. Nach Alois Hahn hat insbesondere Exklusion eine wichtige Funktion für die Genese von Identität: Identitätsgeneratoren sind immer auch Exklusionsgeneratoren. Die beiden Perspektiven widersprechen einander nicht. Sie lassen sich vielmehr wie die Vorderseite und die Rückseite einer Medaille lesen [. . .]. Alle Formen von Identitätskonstruktionen führen als ihre Schatten neue Formen von Entfremdung und damit zumindest virtuelle Exklusionen mit sich.42
Hahn bezeichnet mit dem Terminus ›Identitätsgenerator‹ Verfahren, mit denen es möglich ist, Einzelne durch autoritative Fremdzuschreibungen auf eine Identität festzulegen, die aufgrund der in Anspruch genommenen Autorität für den Einzelnen zur identitätsstiftenden Selbstbeschreibung wird. 40 Interviewpartner 3 wurde von der Autorin im Jahr 2009 in Deutschland interviewt, z. Zt. des Interviews war die Person 28 Jahre alt. 41 Vgl. auch Pries, Transnationalisierung (wie Anm. 14), S. 71. 42 Hahn, Exklusion (wie Anm. 12), S. 69 f.
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Seine Beispiele sind Devianzzuschreibung wie ›Schuld‹, ›Krankheit‹, ›Fremdheit‹. Die entsprechenden Identitätsgeneratoren sind demnach medizinische Diagnosen, pastorale Beichten oder ein besonderer Rechtsstatus als Ausländer. Sie werden für den Einzelnen zum Test, anhand dessen er erfahren kann, »wer er ›wirklich‹ ist«.43 Zu Exklusionsgeneratoren werden diese Tests dann, weil sie ebenfalls festschreiben, »wer man nicht ist, von wem man sich unterscheidet«.44 Da die interviewten ›Russlanddeutschen‹ die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, kann man davon ausgehen, dass auf Ebene der staatlichen und juristischen Praktiken in Deutschland, wo der Lebensmittelpunkt der Interviewten liegt, keine unmittelbaren Nachteile aus dem Status als Transmigrant resultieren. Das Gleiche gilt für primäre Funktionssysteme wie Medizin, Wissenschaft, Erziehung, Wirtschaft usw., da die Untersuchung sich auf bildungserfolgreiche, vielseitig inkludierte Personen beschränkt. Hahns Analysen können allerdings trotzdem für diese Gruppe der Transmigranten fruchtbar gemacht werden, indem gezeigt wird, dass sein Konzept nicht nur Anwendung finden kann, wenn die Personen als deviant markiert werden, sondern dass auch Differenzen, die nicht von vornherein stigmatisierend oder moralisch gewertet sind, als Tests fungieren können, die einem sagen, wer man (nicht) ist – solange sie von der Person als unhintergehbar anerkannt werden. Die Gemeinsamkeit einer medizinischen Diagnose und Transmigration wäre dann darin zu sehen, dass beide Zuschreibungen von der Person als Tatsachen anerkannt werden müssen: Man kann weder etwas daran ändern, dass man krank ist, noch etwas daran, in welchem Land man geboren ist, und vor allem kann man es nicht ändern, dass man sich dadurch von den allermeisten Menschen in seinem Umfeld unterscheidet. Es wird zu zeigen sein, ob der Status als Transmigrant tatsächlich die Funktion eines Exklusionsgenerators übernimmt, also ob das, was bei den jungen ›Russlanddeutschen‹ besonders in der Anfangsphase ihrer Identitätsentwicklung als Erfahrungen von Selbst-Entfremdung und Anderssein zu beobachten ist, als ›virtuelle Exklusion‹ bezeichnet werden kann. Um diese Frage zu beantworten, soll im Folgenden das Konzept der Transmigration als hybride Identität noch um einen Aspekt erweitert werden. Unter Bezugnahme auf Niklas Luhmanns Konzept von Identität45 sieht Alois Hahn in der Semantik der Nation die entscheidende kohäsive 43 Hahn, Exklusion (wie Anm. 12), S. 69 f. 44 Hahn, Exklusion (wie Anm. 12), S. 69 f. 45 Vgl. Luhmann, Individuum (wie Anm. 11).
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Kraft der funktional differenzierten Gesellschaft. Hahn stellt das Verhältnis von Nationssemantik und modernem Individuum wie folgt dar: Einerseits ermöglicht die Moderne Personenbildungsprozesse und Individualisierungen in einem vorher unmöglichen, ja unvorstellbaren Ausmaß. Der Preis dafür (der gleichzeitig Möglichkeitsbedingung ist) ist aber die Unmöglichkeit, diese einzigartige Individualität als ganze zum Teil eines sozialen Systems zu machen, sie als ganze zu inkludieren, es sei denn auf dem Wege einer funktionsfähigen Fiktion. Die nationale Identifikation hat überall in Europa diese Rolle gespielt und spielt sie noch.46
Zunächst soll der erste Teil von Hahns Zitat betrachtet werden, in dem er Luhmanns These aufgreift, dass Individuen in vormodernen Gesellschaften auf einer Differenzierungsebene immer nur in je ein gesellschaftliches System inkludiert waren: In nur eine Familie und in nur ein Stratum. Damit war das Individuum als einzelner Mensch Teil der Gesellschaft, weil sein Platz in der Gesellschaft ihn in seiner individuellen Identität sehr stark prädeterminiert hat, wohingegen das Individuum in der Moderne außerhalb der Gesellschaft verortet ist und sich als Person in die einzelnen Funktionssysteme inkludieren lassen muss.47 Folglich sieht sich das moderne Individuum vor der Aufgabe, seine individuelle Identität teilweise selbst herstellen zu müssen, teilweise als kontingente Rahmenbestimmung zu erfahren. Das Selbstkonzept, also das mehr oder weniger bewusste (aber verlässlich identische) Bild, das ein Individuum von sich selbst anfertigen muss, um gesellschaftlich kommunizieren zu können, muss dann in Abstimmung mit den jeweiligen aktuellen Inklusionen entstehen und lässt sich durch selbstangestoßene In- bzw. Exklusionen verändern. Luhmann meint nun, dass [w]irkliche Individuen, die heute leben [. . .] ihre Individualität recht locker zu handhaben [pflegen], und dafür müßte eine zeitgemäße Semantik entwickelt werden, die unnötige Insuffizienzgefühle abräumt. Es gibt, realistisch gesehen, keine andere Möglichkeit, als den Individuen zu konzedieren, daß Individualität ihre eigene Angelegenheit sei.48
Er nennt unter anderem eine mögliche Art, ein solches Selbstkonzept zu bilden: Das Lebensschicksal ist jetzt nicht mehr ein Problem der Selbsterhaltung gegen äußere, unter anderem soziale Gefährdungen. Es muß auf Sukzession von selektiven Ereignissen umgedacht werden, die jeweils (aber mit unterschiedlicher 46 Hahn, Exklusion (wie Anm. 12), S. 95. 47 Anders als in stratifizierten Gesellschaften kann eine Person nun jedoch nicht mehr in nur ein System inkludiert sein. Es gibt nicht die Politiker, die Erzieher, die Wissenschaftler, sondern jede Person muss sich in (nahezu) alle Funktionssysteme inkludieren. 48 Luhmann, Individuum (wie Anm. 11), S. 229.
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Gewichtsverteilung) Selbstselektion und Fremdselektion kombinieren. Das dafür gültige Zeitmodell nennen wir Karriere.49
Mit Blick auf den zweiten Teil von Hahns Zitat lassen sich nun die Anschlussmöglichkeiten an sein oben eingeführtes Konzept der ›Identitätsgeneratoren‹ zeigen und gleichzeitig deutlich machen, wie sich die ›virtuelle Exklusion‹ im Falle der Transmigranten genau fassen lässt. Die hybride Identität, also sich weder der einen noch der anderen noch ganz einfach beiden Kulturen in vollem Maße zugehörig zu fühlen, ist unhintergehbare Ausgangsituation für die Bildung der Selbstkonzepte, die in der Fremdbeschreibung und Selbstbeschreibung immer wieder aktualisiert werden. Dennoch machen die Interviewpartner deutlich, dass sie gerade ihre besondere Ausgangssituation als Transmigranten in der funktional differenzierten Gesellschaft als Karrierechance begreifen und diese für ihr Selbstkonzept und ihre Identität in diesem Sinne fruchtbar machen. Von den jungen bildungserfolgreichen ›russlanddeutschen‹ Transmigranten wird die hybride Identitätsform als Zugewinn und Vorteil empfunden, denn sie ermöglicht es ihnen, sich zwischen zwei Welten zu bewegen, die Bildungsund Berufsmöglichkeiten in beiden Ländern wahrzunehmen und zwischen beiden Ländern zu vermitteln: Es ist ein Vorteil, mit zwei Identitäten zu leben [...]. Du kennst die beiden Kulturen [...]. Du hast Osteuropa in Dir und Du hast Westeuropa in Dir. Du kannst sie vereinigen und Du weißt, wie man damit umgeht, und das ist ein Vorteil [...]. (IP 2)
Geht man mit Luhmann davon aus, dass die Karriere »eine Semantik von Leistung mit dem Differenzschema Erfolg/Misserfolg und entsprechende Zurechnungsverfahren auf interne und externe Ursachen [produziert]«,50 kann der Lebensentwurf der bildungserfolgreichen, jungen ›Russlanddeutschen‹ als spezifisch modernes Phänomen bewertet werden: Das Individuum der funktional differenzierten Gesellschaft ist zum einen Möglichkeitsbedingung, zum anderen wird die besondere Situation ganz konkret Ausgangspunkt der individuellen Karriere, indem Chancen und Aufgaben motivieren, das Selbstkonzept als ›russlanddeutsche‹ Karriere zu begreifen, also »Glück (in der Form begünstigender Konstellationen) und Leistung«51 als kontingente Selektionen zu fassen, denn »[a]lle Karriereereignisse sind kontingente Selektionen weiterer Selektionen«:52 Transmigration bedeutet ja gerade nicht einfach Leben mit Migrationshintergrund, sondern die bewusste und gewollte Bezugnahme auf beide Kulturen. 49 50 51 52
Luhmann, Luhmann, Luhmann, Luhmann,
Individuum Individuum Individuum Individuum
(wie (wie (wie (wie
Anm. Anm. Anm. Anm.
11), 11), 11), 11),
S. 232 (Herv. A. S.). S. 236. S. 234. S. 233.
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Die angesprochene Präzisierung des Konzepts der ›Identitätsgeneratoren‹ ist dann darin zu sehen, dass die mitgeführte Rückseite der Medaille, die ›virtuelle Exklusion‹, sich auf die Unmöglichkeit der Inanspruchnahme einer Semantik bezieht, die als fiktive Vollinklusion selbstverständliche Zugehörigkeit bietet. Auf der Ebene der Praktiken findet keine Exklusion statt, auf der Ebene der Semantiken allerdings stellt sich der Status der Transmigranten als »difference that makes a difference« dar.53 Es kann wohl mit einigem Recht behauptet werden, dass das, was Hahn als Funktion der Nationssemantik fasst, nach wie vor in engem Zusammenhang mit Semantiken der ›Heimat‹ steht. Im Folgenden soll daher herausgestellt werden, was die Transmigranten unter ›Heimat‹ fassen.
Grenzen und Verortungen: ›Heimat‹ im transnationalen Kontext Da die Analyse sich in diesem Abschnitt auf Untersuchungsmaterial beschränkt, das aus Interviews gewonnen wurde, muss zunächst eine klare Trennung zwischen dem Begriff ›Heimat‹ und der Bezeichnung Heimat eingeführt werden. Es wird hier lediglich um die Bezeichnung ›Heimat‹ und deren Verwendung in der Selbstbeschreibung der Transmigranten gehen. Ein analytisch trennscharfer Begriff existiert nicht. Die Semantik der ›Heimat‹ wird in der Migrationsforschung oft als unklar und konflikthaft betrachtet und durch neue Begriffe wie ›symbolische Ortsbezogenheit‹,54 ›menschliche Territorialität‹ etc. ersetzt.55 In der Tat hat die Bezeichnung ›Heimat‹ in Deutschland vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart erhebliche Bedeutungsverschiebungen erfahren und ist zusätzlich auch durch die Globalisierung und die wachsende Mobilität komplexer und diffuser geworden. In einer Welt, in der Herkunftsbindungen und Grenzen ihre Bedeutung zu verlieren scheinen, scheint auch ›Heimat‹ ein überholtes semantisches Konzept zu sein. Die Empirie spricht jedoch gegen diese pauschale Annahme. Schönhuth spricht in diesem Kontext vom Entstehen »neuer sozialer und ethnischer Landschaften«, in denen die »räumlichen Konstellationen eingebettet sind«56 und der »lokale Schauplatz« auch durch 53 So die Definition von Information bei Gregory Bateson. Vgl. Bateson, Gregory: Steps to an Ecology of Mind. New York 1972, S. 272. 54 Vgl. Treinen, Heiner: Symbolische Ortsbezogenheit: eine soziologische Untersuchung zum Heimatproblem. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 17 (1965) 17, S. 73–97. 55 Vgl. Korfkamp, Jens: Die Erfindung der Heimat. Zu Geschichte, Gegenwart und politischen Implikaten einer gesellschaftlichen Konstruktion. Berlin 2006, S. 11. 56 Schönhuth, Michael: Heimat? Ethnische Identität und Beheimatungsstrategien
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die nicht physisch Anwesenden strukturiert werden kann.57 Dementsprechend ist ›Heimat‹ in der modernen Welt, jedenfalls für Transmigranten, nicht mehr im traditionellen Sinne durch Inklusion in ein Territorium zu bestimmen, sondern als Ergebnis multipler Bezugnahme auf zwei oder mehrere Orte gleichzeitig. Als Produkte von kreativen Verhaltensweisen der Migranten mit mehreren Kulturen, sozialen Bindungen und transnationalen Lebensentwürfen entstehen ›multilokale Heimaten‹.58 Die Semantik der ›Heimat‹ ist dennoch untersuchenswert, da sie etwas grundlegend anderes beschreibt als die Inklusion in Funktionssysteme. Sie muss jedoch mit einer offenen und mobilen Gesellschaft kompatibel sein, der Pluralisierung von Lebensformen und Identitäten entsprechen und der Tatsache Rechnung tragen, dass ›Heimat‹ mindestens teilweise auch das Ergebnis strategischer Handlungen sein kann. Ich glaube so etwas wie eine Heimat gibt es nicht [. . .]. Ich empfinde Heimat für mich als eine Einschränkung. Dann müsste ich mich auf einen Ort festlegen und würde alles andere abstreiten [. . .], es ist für mich eher beschränkend eine Heimat zu finden [. . .]. Ich will jetzt nicht eine Heimat auswählen und mich dann gegen die anderen entscheiden müssen [. . .].« (IP 4)59
Während die Eltern dieser Interviewpartnerin durch die Pflege der in der alten Heimat vorhandenen verwandtschaftlichen Beziehungen sowie durch die Beibehaltung der russischen Sprache und Traditionen im deutschen Alltag Russland als ihre Heimat ›im Herzen‹ betrachten und bewahren, kann die Tochter in gewisser Hinsicht als ›heimatlos‹ bezeichnet werden. Der exkludierende Charakter der Heimatsemantik wird dadurch deutlich, dass die traditionelle, auf ein bestimmtes Territorium bezogene Bedeutung der Heimat von der jungen Transmigrantin als einschränkend empfunden wird, als eine ›Scheuklappe‹, die den Blickwinkel nur in eine einzige Richtung lenkt, statt mehrdimensionales Agieren zu ermöglichen. Der Angst, sich »für immer für ein bestimmtes Territorium« und »gegen die anderen« entscheiden zu müssen, begegnet sie mit einer Strategie der ›Beheimatung‹ und ›Verortung‹ in mehreren Orten, Gesellschaften, sozialen Systemen. Das gilt auch für Transmigranten aus anderen Herkunftsländern. So haben Sievers einer entbetteten Volksgruppe im transnationalen Raum. In: Ipsen-Peitzmeier, Sabine / Kaiser, Markus (Hg.): Zuhause fremd – Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland. Bielefeld 2006, S. 365–380, hier S. 375. 57 Vgl. Schönhuth, Heimat (wie Anm. 56), S. 375 f. 58 Vgl. Römhild, Regina: Welt Raum Frankfurt. In: Bergmann, Sven / Römhild, Regina (Hg.): global heimat. Ethnografische Recherchen im transnationalen Frankfurt. Frankfurt a. M. 2003, S. 7–20, hier S. 12. 59 Interviewpartnerin 4 wurde von der Autorin im Jahr 2010 in Deutschland interviewt, z. Zt. des Interviews war die Person 25 Jahre alt.
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[u. a.] in ihrer Studie über deutsch-türkische bildungserfolgreiche Transmigranten festgestellt, dass sich diese in beiden Ländern, Deutschland und der Türkei, ›zu Hause‹ fühlen und in beiden Ländern beheimatet sind.60 Im oben zitierten Interviewausschnitt wird gegen die als einschränkend empfundene ›Heimat‹ ein Verständnis von ›Beheimatung‹ ins Spiel gebracht, das vor allem auf ›Freiheit‹ setzt und dem eine dynamische Bedeutung von Heimat zugrunde liegt. Heimat für einen Transmigranten kann in diesem Kontext nicht als etwas Gegebenes oder gar Natürliches begriffen werden und erst recht nicht als ein bestimmter geographischer Ort, sondern nur als etwas, das im Rahmen von teils unbewussten, teils bewussten und aktiv herbeigeführten sowie wechselnden Identifikationsprozessen erworben und angeeignet wird.61 Ein Beispiel dafür können die folgenden Interviewpassagen liefern, bei dem das Heimatbild im Laufe seiner Migrationsgeschichte unter einem biographischen Aspekt geprägt wird, wobei dieses Bild retrospektiv auf die Zeit der Kindheit und Jugend zurückgeht, also an den Ort zurück, wo er noch Verbindungen zu Menschen, Symbolen, Erinnerungen finden kann: [. . .] als meine Heimat . . . Ich habe immer diese Vorstellung von meiner Kindheit, ich habe eine sehr schöne Kindheit in Russland gehabt [. . .]. Heimat in meinem Herzen ist da, wo ich aufgewachsen bin, wo meine ersten Erinnerungen sind [. . .], das prägt einen, aber ich denke, meine Heimat liegt irgendwo in der Vergangenheit. Meine Heimat gibt es nicht mehr. [...] Das Land, das ich verlassen habe damals, gibt es nicht mehr sozusagen. Das ist nur in meinen Erinnerungen [...]. (IP 2)
Die Semantik der Heimat kann hier als ›Erinnerungsraum‹ definiert werden, der mit der ›Welt der Kindheit‹ gleichgesetzt wird.62 Heimat wird durch individuelle Gedächtnisleistung rekonstruiert. Die Zeitdimension geht in die Vergangenheit zurück und die Raumdimension stellt ›Heimat‹ als eine Utopie dar.63 Das heißt aber nicht, dass das durch Kindheits- und Jugenderinnerungen geprägte Heimatbild ein starres, einmaliges Projekt darstellt. Parallel zu neuen multiplen Identitätsformen werden auch ›neue Heimaten‹ im Laufe der Migrationsprozesse angeeignet,64 wie der Interviewte später verdeutlicht: »[. ..] meine jetzige Heimat ist Deutschland [...].« (IP 2). Die Frage nach Heimat als geographischer Raum scheint generell für die jungen, bildungserfolgreichen ›russlanddeutschen‹ Transmigranten unklar zu sein. Der Beheimatungsprozess verläuft sehr individuell. Heimat ist für 60 Vgl. Sievers, Isabel [u. a.] (Hg.): Bildungserfolgreiche Transmigranten. Eine Studie über deutsch-türkische Migrationsbiographien. Frankfurt a. M. 2010, S. 100. 61 Vgl. Korfkamp, Erfindung (wie Anm. 55), S. 15–16. 62 Vgl. Korfkamp, Erfindung (wie Anm. 55), S. 90. 63 Vgl. Korfkamp, Erfindung (wie Anm. 55), S. 90 f. 64 Vgl. Römhild, Welt (wie Anm. 58), S. 12 f.
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sie vor allem ein Konstrukt, das in einer pluralistischen Gesellschaft und globalisierten Welt von jedem Subjekt selbst gestaltet wird, wobei für die Gestaltung dieses Konstrukts unterschiedliche Aspekte, wie kulturelle Werte, Identitäten, Sprache, das Gefühl, zu Hause zu sein, Symbole und nicht zuletzt die Erinnerungen an die Kindheit eine relevante Rolle spielen. Anders gesagt, Heimat ist weder angeboren noch verordnet, sondern genauso wie die Identität ein ›work in progress‹. Der nächste Interviewpartner greift eine sehr interessante Erklärung seines persönlichen Heimatverständnisses auf, das er durch Formulierungen wie ›Habitus‹ und ›geistiges Wurzelgefühl‹65 erklärt: [. . .] wenn ich das ganz konkret bezeichnen müsste, [. . .] würde schon sagen, dass meine Heimat in Russland liegt, dort, wo meine Großeltern jetzt leben, in diesem kleinen Dorf, da sehe ich irgendwie meine Wurzeln [. . .]. In dieser Region sehe ich auch häufiger Leute, die so aussehen wie ich [. . .] und denke, aha, die Leute sehen mir ähnlich, also müssen hier irgendwo meine Wurzeln sein. [. . .] Deshalb hab ich dort den Eindruck [. . .], dass mir das alles sehr nah vorkommt, dass ich das schon kenne und wenn ich dort bin, fühl ich mich zu Hause, dann fühl ich mich eigentlich in meiner Heimat. (IP 1)
Während die emotionale und kulturelle (Orts-)Bezogenheit zu Russland für meinen Interviewpartner einen dominierenden Charakter trägt, geraten die »kulturellen Fixpunkte« zu Deutschland in den Hintergrund. Der physische Wohnort meines Interviewpartners in Deutschland kann ihm kein befriedigendes Heimatgefühl oder eine Zuordnungsmöglichkeit des Ortes als Heimat bieten. Er verbleibt nur als geographische Verortung des häuslichen Umfelds ([...] da haben wir einfach ein Haus [...]), als Ort, wo mein Interviewpartner »hingezogen« sei, aber nicht als Ort, wo er trotz seiner guten Integration in Deutschland »ganz angekommen« sei: In Deutschland ist es einfach so, dass ich hier meine Familie habe und wenn ich meine Familie besuche, ist es für mich auch ein Stückchen Heimat, aber dieser Ort, wo wir leben, da sind wir ja hingezogen [. . .], es gibt keinen Bezug zu diesem Ort [. . .], dort hat noch nie jemand von uns gelebt [. . .]. Während das in Russland anders ist, da haben schon seit Jahrhunderten Leute von uns gelebt [...] da habe ich meinen Bezug zu. Also [in Deutschland] haben wir einfach ein Haus, wir wohnen da jetzt drin, aber es gibt keinen historischen und kulturellen Bezug zu. (IP 1)
Obwohl die Transmigranten sich nicht auf einen geographischen Ort allein festlegen möchten, ist auffällig – und hier können die ausgewählten Interviews als exemplarisch gelten –, dass bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Heimat sehr viel häufiger und ausgiebiger auf Russland Bezug genommen wird als auf Deutschland. Sucht man nach möglichen Gründen für 65 »[. . .] Heimat ist erlebte und erlebbare Totalverbundenheit mit dem Boden. Und noch mehr: Heimat ist geistiges Wurzelgefühl«, Eduard Spranger (1924), zit. n. Korfkamp, Erfindung (wie Anm. 55), S. 57.
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diese Präferenz, so wird deutlich, dass mit der Bezeichnung Heimat vor allem Verlusterfahrungen in Verbindung gebracht werden: zunächst der Verlust von Aufgehobenheit in der Familie, also der Verlust der Kindheit, der dadurch charakterisiert ist, dass es keinen Ort mehr gibt, an dem man sich als Mensch in allen Belangen zugehörig fühlen kann. Eine Erfahrung, die Transmigranten aber mit allen modernen Individuen teilen: Dass Heimat mit den Orten der Kindheit in Verbindung gesetzt wird, kann wohl kaum als transmigrantisches Spezifikum gelten. Was allerdings die Situation selbstverständlich für die Transmigranten weiter verschärft, ist, dass der Weggang aus ihren Geburtsländern den Punkt markiert, ab dem Semantiken der Fremdheit auf sie angewendet werden. Der Blick auf die Heimatssemantik in der Selbstwahrnehmung der Transmigranten zeigt also tatsächlich, dass Transmigration als Exklusionsgenerator virtuelle Exklusionen nach sich zieht, die ganz konkret als Unmöglichkeit der Inanspruchnahme einer (wenn auch nur fiktiven) Vollinklusionssemantik erfahren werden: Als Heimat wird eigentlich die Zeit bezeichnet, in der man noch kein Transmigrant war. Als erwachsener Transmigrant allerdings ist das Verhältnis zu Heimat ambivalent und es wird versucht, Bezüge zu beiden Ländern und Kulturräumen zu aktualisieren. Diese Ambivalenz wird durch eigene kulturübergreifende Kompetenzen, wie mehrdimensionales kulturelles Handeln und Denken, Mehrsprachigkeit und besonders durch die Bildungskompetenz produktiv bewältigt. Dabei kann Beheimatung eine wichtige Strategie sein, um sich in beiden kulturellen Räumen, Deutschland und Russland, inkludiert zu fühlen und in beiden Kulturen gleichermaßen zu leben, ohne hin- und hergerissen zu sein. Dies wurde oben als ›Selbstkonzept der Transmigrationskarriere‹ bezeichnet. Im Folgenden wird nun deutlich werden, welche Chancen sich den Transmigranten durch diese Karriere bieten.
Multiple Inklusion über Grenzen hinweg: transnationale Netzwerke Transnationale Sachverhalte lassen sich nach Pries nach dem Grad der Häufigkeit, Dauerhaftigkeit und Bedeutung der transnationalen Austauschprozesse analytisch in drei Formen unterscheiden: transnationale Beziehung, transnationale Netzwerke und transnationale Sozialräume.66 Als transnationale Netzwerke definiert Pries die mehr oder weniger verbindlichen, grenzüberschreitenden, intensiven und dichten Interaktionsverhältnisse zwischen Akteuren einer oder mehrerer Gruppen (z. B. Familienverbund), die durch 66 Vgl. Pries, Transnationalisierung (wie Anm. 14), S. 29.
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eine gewisse Gruppenidentität gekennzeichnet sind.67 Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten die Inklusions- und Exklusionsprozesse anhand von Identitätsbildung und Beheimatungsstrategien diskutiert wurden, soll im Folgenden anhand eines Netzwerkbilds68 demonstriert werden, inwieweit sich Inklusionsmuster durch transnationale soziale Netzwerke über Grenzen hinweg bestimmen lassen.
Abb. 1: Netzwerkerhebung mit einem bildungserfolgreichen Transmigranten, IP 3 Quelle: Eigene Erhebung und Darstellung
Der Transmigrant, dessen Netzwerk das Schaubild wiedergibt, ist im Alter von neun Jahren Anfang der 1990er Jahre aus Kasachstan nach Deutschland migriert. Während seines Aufenthaltes in Deutschland pendelt er im Rahmen von Verwandtschaftsbesuchen, aber auch Studien- und Praktikumsaufenthalten mehrere Male zwischen Deutschland, Russland und Kasachstan. So gelingt es ihm, seine sozialen Netzwerke nicht nur lokal, sondern auch translokal zwischen diesen Ländern zu gestalten. Das soziale Netzwerkbild des Befragten (EGO in der Mitte) hebt somit den Transnationalismus in 67 Vgl. Pries, Transnationalisierung (wie Anm. 14), S. 29. 68 Die Netzwerkbilder sind mit einer egozentrierten Netzwerkerhebungsmethode (VennMaker) entstanden. Hierzu wurden Namensgeneratoren und verschiedene Arten von Interaktionen definiert. Ausführliche Informationen über die Erhebungsmethode unter www.vennmaker.com (02. 02. 2013).
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seinem Lebensentwurf hervor, indem es seine Vernetzung zu verschiedenen Akteuren69 (Freunde, Verwandte, Organisationen etc.) durch drei konzentrische Kreise innerhalb des Netzwerkes,70 die die räumliche Nähe der Netzwerkakteure zu Ego darstellen, und drei Sektoren,71 die die ethnische Zugehörigkeit der Akteure bezeichnen, wiedergibt. Die durchgezogenen schwarzen Linien geben Auskunft über die aktiven Beziehungen des Befragten zu den jeweiligen Akteuren.72 Hervorzuheben sind insbesondere die Akteure, die sich in Russland und Kasachstan befinden. Denn diese spielen für den transnationalen Lebensentwurf meines Interviewpartners eine große Rolle, da sie seine temporären Aufenthalte im Herkunftsraum durch unterschiedliche Hilfeleistungen (Wohnungssuche, Visaangelegenheiten) unterstützen.73 Durch die rasante Entwicklung der Kommunikations- und Transporttechnologien kann er wie andere Transmigranten heute seine sozialen Netzwerke über die Grenzen hinweg so konstruieren, dass Zeit, Raum und physische Präsenz dabei kein zentrales Hindernis darstellen. Über Internet und verschiedene soziale Netzwerke (z. B. Skype und Facebook) ›betritt‹ er einen von den Netzwerkmitgliedern gemeinsam definierten transnationalen sozialen Raum,74 in dem er mit allen Netzwerkmitgliedern (gleichzeitig) aktive Beziehungen pflegt und somit Inklusionen in zwei oder mehreren Gesellschaften schafft. Im Laufe der empirischen Erhebungen konnten solche Inklusionsmuster über Grenzen hinweg bei der Mehrheit der befragten Personen beobachtet werden. Inklusionsmuster werden aber nicht nur durch die Anzahl der transnationalen Kontakte ausgeprägt, sondern auch durch die Intensität und Häufigkeit der Vernetzung. Der Interviewpartner gibt an, mindestens einmal in der Woche per Internet (Skype und Facebook) seine sozialen Beziehungen über nationale Grenzen hinweg zu pflegen. Daher kann hier von aktiven und starken sozialen Bindungen gesprochen werden, die wiederum Inklusion in der Herkunftsgesellschaft bedeuten kann. 69 Die Akteure sind durch Kreise gekennzeichnet, die unterschiedliche Rollen (Familie, Freunde, Partner, Verwandte, Bekannte etc.) tragen. 70 Die drei konzentrischen Kreise stehen für Deutschland, Russland und Kasachstan. 71 Die drei Sektoren stehen für Spätaussiedler, ethnische Deutsche und andere ethnische Gruppen. 72 Zu allen anderen Akteuren, die nicht durch eine Linie mit dem Ego verbunden sind, unterhält der Befragte nur sporadische Beziehungen. 73 Diese sind unter anderem Familie, Freunde und aufgrund seiner transnationalen Lebens- und Karriereabsichten verschiedene NGO’s, Kulturorganisationen und Forschungseinrichtungen in Russland. 74 Zu »transnationalen sozialen Räumen« vgl. Pries, Migration (wie Anm. 14) und Pries, Transnationalisierung (wie Anm. 14).
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Fazit Die kurzen Einblicke in die (transnationalen) Lebensentwürfe von jungen ›Russlanddeutschen‹ legen die Annahme nahe, dass durch Globalisierung und Mobilität die sozialen Identitäten und der Begriff der Heimat nicht mehr starre, einmalige Strukturen, sondern flexible und kreative Projekte sind. Die individuellen Strategien und Verhaltensweisen im Umgang mit ›gemischten‹ Identitäten verlangen jedoch von beteiligten Personen bestimmte soziokulturelle Kompetenzen und setzen bestimmte Ressourcen voraus. Daher ist an dieser Stelle noch einmal anzumerken, dass es sich bei der untersuchten Migrantengruppe um bildungserfolgreiche Transmigranten handelt, die sich durch ihre soziokulturellen Kompetenzen, Mehrsprachigkeit und vor allem ihr Bildungskapital gleichzeitig in verschiedenen Kulturen und Gesellschaften bewegen können. Inwieweit sich solche transnationalen Lebens- und Identitätsformen auch bei anderen (Trans-)Migrantengruppen, z. B. nicht-bildungserfolgreichen, finden lassen, muss hier offen bleiben. Es sollte jedoch nicht der Eindruck entstehen, als könnten durch die Transnationalisierung die klassischen Migrationsformen und die dauerhafte Inklusion in der Ankunftsgesellschaft überflüssig werden. Wie aber Sievers [u. a.] feststellen, »müssen sie um die Analyse der transnationalen Sozialräume und des neuen Wanderungstyps der Transmigration ergänzt werden«.75 Im Interviewmaterial zeigt sich, dass der Begriff ›Heimat‹ sehr häufig an familiäre Nahbeziehungen gekoppelt ist. Die Interviewten sprechen von »Kinderliedern«, von »dort, wo meine Großeltern jetzt leben«, allerdings auch von »Mentalität«, von spezifischer »Denkweise von Russen [und] Deutschen« und von »Nationalgeist«. Dass – wie Alois Hahn vermutet – nun die semantische Fiktion der Nation einen Teil der verloren gegangenen Beheimatung des modernen Individuums auffängt, erhält in Bezug auf Transmigration besondere Brisanz, da »[d]er Preis für diese Identitätsstiftung (oder sollte man Anstiftung sagen?) [. ..] hoch [ist]. Nationale Identität lässt sich nicht herstellen ohne ihr korrespondierende Definitionen von Fremden.«76 Wie gehen also die Transmigranten damit um, dass die Beheimatungsfunktion der Nation darauf aufbaut, dass man nur genau einer Nation angehört? Das Interviewmaterial hat gezeigt, dass die besondere Situation hinsichtlich des semantischen Komplexes von Nation, Heimat und Fremdheit in der Selbstwahrnehmung ambivalent bewertet wird: Einerseits erfahren die 75 Sievers, Transmigranten (wie Anm. 60), S. 141. 76 Hahn, Exklusion (wie Anm. 12), S. 94.
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Transmigranten die eigene Identität tatsächlich als durch Fremdheit gekennzeichnet. Andererseits beziehen sich die Interviewpartner auf beide Nationen positiv und lösen sich gerade nicht vom Konzept ›Nationalität‹ – und selbst wenn von den beiden Einzelnationen abgesehen wird, bedient sich z. B. IP 1 lieber einer Ersatznation, anstatt das Konzept an sich in Frage zu stellen: »Ich würde dann sagen, einfach so europäisch.« Es kann festgestellt werden, dass das Selbstkonzept der Transmigration als spezifisch modernes Individualisationskonzept beschrieben werden kann. Transmigration lässt die Chancen der funktional differenzierten Gesellschaft auf Seiten der Praktiken erkennen und zeigt gleichzeitig die Grenzen auf Seiten der Semantiken auf, indem deutlich wird, wie wirkmächtig die Fiktion der Nation weiterhin ist. Die Transmigranten gestalten ihre besondere Situation allerdings jeweils als Karriere: Die hybride Identität ist nicht nur eine beliebige Bezugnahme auf beide Nationen als Semantik, sondern gerade die Bewältigung von Schwierigkeiten, die Realisierung von Chancen, die Arbeit an der Karriere, kurz: Die Transmigrationskarriere als ›Erfolgsgeschichte‹ wird zur beheimatenden Semantik. Transmigration als Karriere zu begreifen, bedeutet dann, dass hybride Identität für die Transmigranten nicht nur eine (vorgefundene) Mischung ist, sondern auch eine individuelle, identitätsstiftende Leistung.
Inklusion und Exklusion als Bausteine einer literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung Nike Thurn
In Der Nazi und der Friseur (1977) bedient sich Edgar Hilsenrath eines der klassischen Bauprinzipien des literarischen Antisemitismus, der Kontrapunktik zweier Biographien.1 Während bürgerliche Romanciers wie Wilhelm Raabe im Hungerpastor (1864) und Gustav Freytag in Soll und Haben (1855) dieses »Strukturschema der parallelen Lebensläufe«2 jedoch nutzten, um die Zeichnung jüdischer und nicht-jüdischer Figuren dergestalt zu kontrastieren, dass »[d]er moralischen Aufwärtsentwicklung des Deutschen [...] die wachsende Korrumpierung seines jüdischen Pendants [...] gegenüber[steht]«3 und Letzterer durch den Einsatz z. T. perfider sprachlicher Mittel zunehmend exkludiert wird, zeigt Hilsenrath die entgegengesetzte Szenerie. Im Zentrum stehen bei ihm die verschränkten Lebensgeschichten zweier Nachbarskinder: Der eine »war blond und blauäugig, hatte eine gerade Nase, feingeschwungene Lippen und gute Zähne«,4 der andere »hatte schwarze Haare, Froschaugen, eine Hakennase, wulstige Lippen und schlechte Zähne«. Der Erste, »Itzig Finkelstein«, ist Jude; der Zweite, »Max Schulz«, »rein arischer Sohn der Minna Schulz«,5 wird ihn später im KZ Laubwalde erschießen, nach dem Krieg seine Identität annehmen und dann nach Palästina auswandern. Hilsenraths Roman zeigt so zum einen, wie sich das Verhältnis von Prestige und Stigma umkehrt, wenn die Exkludierten die Verfolgung überleben. Zugleich unterläuft er die antisemitischen Rasse-Stereotype durch satirische Überzeichnung und entlarvt dabei, wie sehr diese auch in der zeitgenössischen Lesererwartung weiterhin virulent sind. Die aberwitzige Konstruktion des Nazis, der sich nach 1945 als Jude ausgibt und nicht nur unerkannt, sondern weitgehend unhinterfragt bleibt, spielt mit der Persistenz physiognomischer, biologisierender Stigmatisierungen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. 1 Vgl. Mayer, Hans: Außenseiter. Frankfurt a. M. 2007, S. 381. 2 Gubser, Martin: Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1998, S. 87. 3 Gubser, Literarischer Antisemitismus (wie Anm. 2), S. 87. 4 Hilsenrath, Edgar: Der Nazi und der Friseur. München 2006, S. 31 f. 5 Hilsenrath, Der Nazi (wie Anm. 4), S. 32.
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Max, der ›arische‹ Deutsche, der einer zum Leben erweckten StürmerKarikatur gleicht, muss sich nach dem Krieg nur seine SS-Tätowierung entfernen und durch eine KZ-Nummer ersetzen lassen, sowie schließlich einen Arzt aufsuchen, um durch einen kleinen Schnitt die Verkleidung als jüdischer ›Itzig‹ perfekt zu machen: Doktor Hugo Weber entfernte [. . .] das Vorhäutchen an meinem Geschlechtsglied, operierte mit zittrigen, runzeligen Händen, ein letzter Liebesdienst für Führer und Vaterland. Sagte bloß: »Max Schulz! Das verstümmelte Glied . . . das paßt zu Ihrem Gesicht.« Hätte ihm gern erwidert: »Herr Doktor. Das sind antisemitische Vorurteile. Ich habe ja gar kein jüdisches Gesicht.« Zog es jedoch vor, zu schweigen.6
Hilsenraths Der Nazi und der Friseur ist damit eines der wenigen gelungenen »Beispiele für eine dialektische Verwendung antisemitischer Vorstellungsbilder«,7 für Texte, deren Figurengestaltung durchaus in der Tradition literarischer Stigmatisierung stehen können, diese dabei jedoch bloßstellen, anstatt sie zu perpetuieren, und so umso beeindruckender die in- und exkludierende Macht von Sprache und Literatur zeigen, um die es im Folgenden gehen soll. Literatur und Inklusion/Exklusion Die Kommunikationsmedien Sprache, Schrift und Bild beeinflussen Verhandlungen von Einschlüssen und Ausschlüssen deutlich: Wer, wie und warum inund exkludiert wird, kann hierüber ebenso maßgeblich verhandelt werden wie die Wahrnehmung und Bewertung dieser Ein- und Ausschließungen.8 Sprache und Bild sind so Themensetzer, liefern diese Themen besetzende Semantiken9 und entwickeln diese Themen diskursiv verändernde Dispositive: 6 Hilsenrath, Der Nazi (wie Anm. 4), S. 191 f. 7 Eke, Norbert Otto: Im »deutschen Zauberwald«. Spiegel- und Kippfiguren des Antisemitismus in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. In: Bogdal, Klaus-Michael [u. a.] (Hg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Stuttgart / Weimar 2007, S. 243–261, hier S. 251. 8 Vgl. Bohn, Cornelia: Inklusion, Exklusion und die Person. Konstanz 2006, S. 23. 9 Ich beziehe mich in meiner Verwendung des Begriffs ›Semantik‹ auf die Definition von Klaus Holz: »Semantiken sind ein festgefügter, über relativ lange Zeiträume reproduzierter Sinnvorrat einer Gesellschaft. Sie sind kulturelle Deutungsmuster, hier also beispielsweise die vor rund zweihundert Jahren in der Linguistik erfundene Unterscheidung zwischen ›Ariern‹ und ›Semiten‹. [. . .] Solche Begriffe sind kulturelle Deutungsmuster, ohne die es nicht gäbe, was sie bezeichnen. Deshalb ist die semantische Konstruktion des Eigenen und des Fremden konstitutiv für den Nationalismus, den Antisemitismus und die Xenophobie.« Vgl. Holz, Klaus: Die antisemitische Konstruktion des »Dritten« und die nationale Ordnung der Welt. In: Von Braun, Christina / Ziege, EvaMaria (Hg.): »Das ›bewegliche‹ Vorurteil«. Aspekte des internationalen Antisemitismus. Würzburg 2004, S. 43– 61, hier S. 46.
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Indem bildgebende Verfahren [und als solches ist auch Sprache, vor allem in Form der Literatur, anzusehen, N. T.] Unsichtbares sichtbar machen, konstituieren sie ihr eigenes Analysefeld in der Weise, dass sich die Frage ihrer substituierenden Funktion gar nicht mehr stellt. Bilder inkludieren Wahrnehmung insofern in die Kommunikation, da sie als für die Kommunikation hergestellte Wahrnehmungen fungieren.10
Wie Herbert Uerlings daher betont, können »[l]iterarische Texte herrschende Diskurse nicht nur reproduzieren, sondern ganz oder in wesentlichen Teilen auch allererst produzieren«11 – Diskurse, die wiederum maßgebliche Macht über Inklusion und Exklusion von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen besitzen. Die literaturwissenschaftliche Antisemitismusforschung ist dabei ein Teilbereich der Literaturwissenschaft, der sich explizit mit solcherlei literarischen Ausschlussprozessen, mit literarischen, aber in der Realität wirkmächtigen Ausschlüssen beschäftigt und für den sich die Arbeit mit dem Inklusions-/ Exklusionsinstrumentarium daher besonders anbietet. Dem vielfach geäußerten Vorwurf eines mangelnden oder unterkomplexen theoretischen und methodischen Unterbaus, dem sich Arbeiten zum literarischen Antisemitismus in den letzten Jahren vielfach ausgesetzt sahen, wird zunehmend mit einer Öffnung gegenüber Theorie-Bausteinen der Gender und Postcolonial Studies, der Soziologie und der Minoritätenforschung begegnet. Die sich dabei anbietenden Schnittstellen mit kulturwissenschaftlichen Theoremen haben sich bereits als außerordentlich fruchtbar erwiesen.12 10 Bohn, Inklusion (wie Anm. 8), S. 24. Vgl. hierzu auch ebd., S. 23: »Die Analyse klassischer neuerer bildgebender Verfahren zeigt, dass es in der auf Bilder referierender [sic!] Kommunikation weder darum geht, ein zuverlässiges Instrument zu konstruieren, das die Unzuverlässigkeit des menschlichen Auges korrigiere, noch um die Repräsentation äußerer Realität, sondern um Entdeckungen, die das menschliche Auge gar nicht entdecken könnte.« 11 Uerlings, Herbert: »Ich bin von niedriger Rasse«. (Post-)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur. Köln [u. a.] 2006, S. 3. 12 Vgl. etwa Schößler, Franziska: Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und E´mile Zola. Bielefeld 2009; Körte, Mona: »Juden und deutsche Literatur«. Die Erzeugungsregeln von Grenzziehungen in der Germanistik. In: Dies. / Bergmann, Werner (Hg.): Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Berlin 2004, S. 353–374; Körte, Mona: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phantastik. Frankfurt a. M. / New York 2000; dies.: Judaeus ex machina und ›jüdisches perpetuum mobile‹. Technik oder Demontage eines Literarischen Antisemitismus? In: Bogdal [u. a.], Literarischer Antisemitismus (wie Anm. 7), S. 59–73. Die Kritik an älteren, rein literaturwissenschaftlichen Arbeiten aus dem Bereich der Antisemitismusforschung teile ich in dieser Stärke jedoch nicht.
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In der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung vorherrschende Ansätze wie motivgeschichtliches Arbeiten und kritisches ›close reading‹ enden vielfach damit, lediglich literarische Bilder, Sprachfiguren und deren Gebrauch zu extrapolieren. Sie sind so nicht in der Lage, die Diskursregeln antijüdischer Repräsentationen in unterschiedlichen historischen Konstellationen fassbar zu machen.
Inklusion/Exklusion als Metaform Neben der geforderten stärkeren geschichtswissenschaftlichen Untermauerung der Textanalysen, etwa durch Einbeziehung von Bausteinen der historischen Diskursanalyse oder des New Historicism, bieten sich für die Erarbeitung einer kulturwissenschaftlichen Minoritätstheorie der Inklusion/ Exklusion auch weitere Fachdisziplinen und Theoriebausteine an. So hat Klaus Holz anhand programmatischer Texte Heinrich von Treitschkes und anderer gezeigt, dass es möglich ist, die Lektüren durch soziologische Instrumentarien zu grundieren und rückzubinden. Seine dabei gewonnenen Analyse-Raster entlang der semantischen Felder der Gegensatzpaare ›Täter versus Opfer‹, ›Gemeinschaft versus Gesellschaft‹ und ›Identität vs. nichtidentische Identität‹13 haben inzwischen vielfach Einzug in literaturwissenschaftliche Textanalysen gehalten.14 Gewinnbringend erscheint mir vor allem die Heranziehung der ›ZweiSeiten-Form‹, eine ursprünglich auf George Spencer Browns ›Laws of Form‹ zurückgehende und später von Niklas Luhmann popularisierte Analysekategorie, die Holz allerdings anders fasst als die beiden Urheber des Begriffs.15 Im Rahmen seiner Studien zum »Nationalen Antisemitismus« 13 Vgl. u. a. Holz, Klaus: Die Paradoxie der Normalisierung. Drei Gegensatzpaare des Antisemitismus vor und nach Auschwitz. In: Bogdal [u. a.], Literarischer Antisemitismus (wie Anm. 7), S. 37–57. 14 Vgl. zentral Bogdal [u. a.], Literarischer Antisemitismus (wie Anm. 7). 15 In Holz’ Adaption der Zwei-Seiten-Form gibt es einige Diskrepanzen zu dem theoretischen Herkunftszusammenhang des Terminus, die auch in den folgenden Ausführungen aufscheinen. So schreibt Holz u. a.: »Eine Form hebt also nicht nur irgendetwas unter vielen Möglichkeiten hervor und lässt alle anderen Möglichkeiten mehr oder minder im Halbdunkel.« Holz, Die antisemitische Konstruktion (wie Anm. 9), S. 46. Bei Luhmann hingegen ist es gerade ein Spezifikum der Zwei-Seiten-Form, dass eine der beiden Seiten »im Halbdunkel« bleibt: »Unerläßlich ist als andere Seite der unmarked space, die ins Unendliche weiterverweisende Anzeige anderer Möglichkeiten, die am Ort nicht festgehalten werden kann.« Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997, S. 189. Während die Kriterien für Luhmanns Formbegriff erfüllt sind, so-
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nutzt Holz sie zur Beschreibung der aneinander gebundenen »nationalistischen Selbst- und Fremdbilder«,16 die diese antisemitische Argumentationsstruktur begründen und an welche die hier im Zentrum stehenden Kategorien von Inklusion und Exklusion intrikat gekoppelt sind. Auch diese bilden ein solches »fixiertes Begriffspaar«17 im Sinne Browns: Formen markieren eine scharfe Differenz zwischen zwei Seiten, die sich ausschließen, die es aber nur in Bezug aufeinander gibt. Gäbe es keine Inländer, gäbe es auch keine Ausländer. Der Vorteil solcher Formen ist, dass sie hoch integriert sind. Sind sie einmal etabliert, verweist die eine Seite quasi automatisch auf die andere Seite.18
Ausgehend von den weiteren von Holz angeführten Beispielen für solche Zwei-Seiten-Formen – »Arier/Semit, Deutscher/Ausländer, Mann/Frau, Schwarz / Weiß, Freund/Feind usw.«19 – könnte Inklusion/Exklusion als Metaform gefasst werden – als übergeordnete, aber implizite Operation, die weiteren Unterscheidungen eingeschrieben ist. Was sie umklammert, würde dann mithin darüber entscheiden, auf welche »Einheit der Form« mit ihr Bezug genommen wird: Nach Holz hebt »[d]er Formbegriff [...] darauf ab, dass jede Form eine Einheit konstituiert, nämlich die Einheit des Unterschiedenen. Die zwei Seiten einer Münze sind die Münze, männlich und weiblich sind Geschlecht«.20 Durch die Inklusions-/Exklusionsklammer würden ›männlich‹ und ›weiblich‹ zu Variablen einer zwischengelagerten Kategorisierung: ›Männlich‹ und ›weiblich‹ bilden die Kategorie ›Geschlecht‹,
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bald etwas von allem anderen unterschieden ist, wird bei Holz hingegen etwas Bestimmtes von etwas Bestimmten unterschieden. Um die ›Einheit der Unterscheidung‹, d. h. die Form als Ganze, zu benennen, gibt es bei Luhmann – anders als bei Holz – in der Regel keinen Oberbegriff, häufig ist sie nur als Paradoxie denkbar. Deshalb ließe sich ausgehend vom brownschen und luhmannschen Begriff der ›Zwei-Seiten-Form‹ auch nicht von einer ›Figur des Dritten‹ im Sinne Holz’ sprechen, diese entspräche allenfalls einer paradoxen ›Einheit der Unterscheidung‹. Trotz der Abweichungen vom ursprünglichen Konzept Browns / Luhmanns bietet Holz mit seiner Adaption m. E. jedoch für den hier besprochenen Zusammenhang ein hilfreiches Analyseinstrument. Vgl. Holz, Die antisemitische Konstruktion (wie Anm. 9), S. 46. Holz, Die antisemitische Konstruktion (wie Anm. 9), S. 46. Holz, Die antisemitische Konstruktion (wie Anm. 9), S. 47. Demgemäß »[sind Formen] [i]n der Semantik einer Gesellschaft [. . .] häufig besonders festgefügte, kondensierte Sinn-Konstrukte, in denen ein lange tradierter und vielfältig verästelter Deutungsvorrat auf den Punkt gebracht wird«. Ebd., S. 46. Holz, Die antisemitische Konstruktion (wie Anm. 9), S. 46. Holz, Die antisemitische Konstruktion (wie Anm. 9), S. 47. Während die Einheit bei diesem Beispiel offenkundig ist, nennt Holz die übergeordnete Einheit seiner zuvor genannten Begriffspaare »Arier/Semit« und »Freund/Feind« jedoch nicht. Wie müssten diese lauten?
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die in einem konkreten Fall über Inklusion und Exklusion entscheidet – die übergeordnete Inklusions-/Exklusionseinheit wäre dann etwa die Mitgliedschaft im Opus dei, die Erlaubnis, ein Frauenhaus zu betreten, oder das Wahlrecht in Deutschland vor 1919. Entscheidend ist für die Postulierung einer ›Form‹, ob sie bezüglich der Zuordnungen symmetrisch ist (wie die Unterscheidung ›Nation/Nation‹, also etwa ›Grieche/Deutscher‹, im Gegensatz zur Unterscheidung ›Christ/ Heide‹). Dies ist der Fall, wenn Außen- und Innenseite in der gleichen Kategorie definiert werden, d. h., »die Außenseite nicht nur als Negation der Innenseite« bestimmt wird. Bei einer Symmetrie kann die Grenzziehung sowohl von der Position ›innen‹ wie der Position ›außen‹ vorgenommen werden, wobei sich die Wahrnehmung davon, was ›innen‹ und was ›außen‹ ist, dabei jeweils umkehrt (das Bild der Münze, das Holz nutzt, eignet sich daher gut, da es die Paradoxie zweier außen liegender Seiten deutlich macht, die jedoch beide ein ›Innen‹ für sich beanspruchen): Eine Pointe der symmetrischen Konstruktion der Zuordnungen in der nationalen Form also ist, dass auf der Außenseite ›nur‹ die Bewertungen (und insofern die Zuschreibungen) geändert werden müssen, um sie als Innenseite zu konstituieren: black is beautiful.21
Die Grenzen zu asymmetrischen Konstruktionen sind jedoch fließend. Holz differenziert sie am Beispiel der Gegenbegriffe ›Christ/Heide‹, bei denen Letzteres lediglich eine Fremdkonstruktion der ersten Gruppe ist: Die, die als Heiden christlich verstanden werden, verstehen sich selbst nicht als Ungläubige, sondern als Angehörige irgendeiner anderen Religion, die aus christlicher Sicht nicht nur als feindlich eingestuft, sondern als Religion nicht anerkannt wird. Diese Grenze kann von der Innen- und Außenseite nicht in der gleichen Weise bestimmt sein.22
Wie jedoch etwa Beispiele aus den Gender Studies zeigen, wurden auch asymmetrisch entstandene Fremdkonstruktionen – wie etwa ›gay‹ – in der Vergangenheit erfolgreich übernommen und resignifiziert. Die (gefährliche) Ökonomie in Bezug auf literarische Texte liegt bei diesen Formen darin, dass sie 21 Holz, Die antisemitische Konstruktion (wie Anm. 9), S. 50 (soweit nicht anders vermerkt, entstammen Hervorhebungen aus Zitaten hier und im Folgenden dem Original). Er ergänzt in einer Fußnote: »›Nur‹ heißt nicht, dass das sozial oder psychisch leicht fällt, sondern dass die nationale Form Wir-Gruppen sozusagen vorstanzt, indem sie zunächst als Fremdgruppen entworfen werden. Die Fremdgruppen müssen dann ›nur‹ die ›weiße Maske‹, das aufoktroyierte Fremdbild, von der ›schwarzen Haut‹, dem zu gewinnenden Selbstbild, ziehen – ein überaus schmerzhafter Prozess der Um-Identifizierung, den Frantz Fanon eindrücklich beschrieben hat.« 22 Holz, Die antisemitische Konstruktion (wie Anm. 9), S. 50.
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wie Kürzel eingesetzt werden [können], die eine komplexe Semantik des Eigenen und Fremden bezeichnen. Insbesondere Eigennamen, die für die jeweilige WirGruppe zu Synonymen für die Innenseite der Form werden, dienen als ›kultureller Code‹ im Sinne von Shulamit Volkov.23
Auf das Problem symmetrischer oder asymmetrischer Fremdheitskonstruktionen zielt auch Klaus-Michael Bogdals Kritik an der in Arbeiten des Forschungsfeldes z. T. absenten (oder analytisch ungenügend geleisteten) Unterscheidung zwischen Judenbildern als Konstruktionen des Fremden oder des Eigenen, die eine Distanz markieren, und antisemitischen Konstruktionen des Anderen [. . .], die eine Differenz herstellen, die wiederum ein asymmetrisches Verhältnis zum Bezeichneten begründen bzw. legitimieren soll.24
Ihm zufolge hängt mit der mangelnden Unterscheidung auch ein anderer, bisher in [der] Forschung zu wenig beachteter Aspekt zusammen. Literarische Judenbilder bleiben, wie die übrigen Bilder des Fremden und des Anderen, allenfalls ästhetisch interessante, singuläre Einfälle, wenn sie nicht als kollektive Wahrnehmung einer WirGruppe präsentiert werden, für die in den Texten wiederum ein Konzept exkludierender / inkludierender Gemeinschaft vorhanden sein muss.25
Solche In- und Exklusionskonzepte kollektiver Identitäten können vielfältiger Natur sein, sollten jedoch immer dort mit besonderem Argwohn betrachtet werden, wo ›der Jude‹ im Rahmen eines manichäisch aufgebauten Weltbildes fungiert »als ein alter, das dem ego entgegengesetzt wird«.26 In Bezug auf literarische Judendarstellungen geht dies vielfach so weit, dass jüdische Figuren gänzlich aus dem nationalen Diskurs ausgeschlossen, d. h. weder als Innoch als Ausländer gekennzeichnet werden und somit als »Dritte« fungieren: Mit dem Status des Inländers oder Ausländers wären womöglich Freund-FeindBeziehungen verbunden. Aber das ist nicht das Wesentliche, denn auch die Feindschaft 23 Holz, Die antisemitische Konstruktion (wie Anm. 9), S. 46 f. 24 Bogdal, Klaus-Michael: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Perspektiven der Forschung. In: Ders. [u. a.], Literarischer Antisemitismus (wie Anm. 7), S. 1–12, hier S. 8. 25 Bogdal, Perspektiven (wie Anm. 24), S. 8. »Diese Konzepte können sehr unterschiedlich sein und sie codieren Bilder des Juden nicht immer antisemitisch. Selbstbilder können spiegelbildlich entweder als Bilder des Fremden (der Distanz) oder des Anderen (der Differenz) entworfen werden. Im besten Fall lösen sich Fremdbilder durch Nähe auf bzw. verlieren ihre Bedrohlichkeit. Das ist ein typisches Erzählmuster interkultureller Literatur. Bilder des Anderen hingegen, zumal wenn sie auf Dauer der eigenen Identitätsbildung dienen sollen wie im nationalen Antisemitismus, gewinnen durch Nähe an Bedrohlichkeit und erzeugen eliminatorische Phantasien.« 26 Bogdal, Perspektiven (wie Anm. 24), S. 8.
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würde ihren Subjektstatus und ihre Identität nicht tangieren. Erst derjenige, der ›die Negation der Unterscheidung zwischen der eigenen und den anderen ›Nationen‹‹ verkörpert, der Dritte, verliert beides. Er ist an jedem Ort de-plaziert. Der ›Jude als Dritter‹ ist das Resultat eines intellektuellen Gewaltaktes. Einer Gruppe wird die Selbstbestimmung über ihre Identität bestritten und genommen. Literarische Werke, die diese nicht-logische Figur des Dritten durch Figurencharakterisierungen und Erzählungen plausibel erscheinen lassen und sie als Wahrnehmungsmuster einprägen helfen, sind als antisemitisch zu bezeichnen.27
Bei der Analyse von literarischen Darstellungen sind daher die relationalen Positionierungen innerhalb eines Textes entscheidend; d. h., es ist nicht vorrangig zu prüfen, ob die angeführte Eigenschaft an sich diskreditierend (oder kreditierend) ist, sondern ob ihr Einsatz »den einen Typus zu stigmatisieren [vermag], während sie die Normalität eines anderen bestätigt«.28 Dass diese ›normstabilisierende‹, die eigene ›Wir-Gruppe‹ – Adorno spricht von »Eigengruppe«29 – affirmierende Funktion ein maßgebliches Ziel und Charakteristikum (nicht nur literarischer) antisemitischer Texte darstellt, ist u. a. von Martin Gubser am Beispiel Gustav Freytags,30 von Klaus Holz am Beispiel Heinrich von Treitschkes31 und von Matthias N. Lorenz am Beispiel Martin Walsers eindrücklich gezeigt worden.32 Das walsersche Zitat im Titel von Lorenz’ 2005 erschienener Dissertation, »Auschwitz drängt uns auf einen Fleck«, zeigt diese Tendenz in nuce.33 27 Bogdal, Perspektiven (wie Anm. 24), S. 9. 28 Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a. M. 1967, S. 11. Auch hier wird daher die Nähe zur Kippfigur Inklusion/Exklusion, auf die ich im Kommenden näher eingehen werde, deutlich. 29 Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt a. M. 1973, S. 124 f. 30 Gubser, Literarischer Antisemitismus (wie Anm. 2). 31 Holz, Klaus: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg 2001. 32 Lorenz, Matthias N.: »Auschwitz drängt uns auf einen Fleck«. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Stuttgart / Weimar 2005. 33 (Herv. N. T.) An den genannten Autoren wird zudem bereits deutlich, dass es sich hierbei nicht um ein spezifisch historisch verortbares – bzw. verzeitlichbares – Charakteristikum, sondern im Gegenteil um ein Beispiel für die Beweglichkeit der antisemitischen Argumentation handelt. Führt im 19. Jahrhundert die Emanzipation und Assimilation zu literarisch immer stärker behaupteten Eigenheiten und proklamierten ›Wir / Ihr-Binaritäten‹, und wird im Nationalsozialismus die nationale Einheit maßgeblich über die Exklusion eines ›internen Anderen‹ vollzogen, so wird nach 1945 die ob dieser vorangegangenen Verbrechen unmöglich gewordene positive nationale Identifizierung zu einem movens neuer Formen des Antisemitismus. Vgl. hierzu Bergmann, Werner / Erb, Rainer: Neue Perspektiven der Antisemitismusforschung. In: Dies. (Hg.): Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945. Opladen 1990, S. 11–18, u. a. S. 13;
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Wie Holz betont, können »Fremdbilder [...] daher nur angemessen analysiert werden, wenn man das komplementäre Selbstbild berücksichtigt. Fremdbilder dienen als Gegenbegriffe für die Konstruktion von Selbstbildern.«34 Die Fremdbilder sagen weit mehr über ihren Erfinder als über das vermeintliche Vorbild der Erfindungen aus und sind nur als Quelle zur Analyse von Eigenschaften der Urheber von wissenschaftlichem Nutzen. Auch Herbert Uerlings hat an einem Beispiel aus dem Referenzbereich der Postcolonial- und Gender-Studies hervorgehoben, dass das Signifikat hier vielfach keinerlei Realitätsbezug hat, sondern beliebig und damit analytisch wenig interessant ist: »Nicht die wechselnden Signifikate sind daher das eigentlich Interessante, sondern die Bezeichnungspraxis selbst, genauer gesagt die Konstruktion des Bezeichnenden durch den Akt der Repräsentation.«35 Entscheidend ist dabei nicht, dass die zu analysierenden Bilder dem proklamierten Selbstbild spiegelbildlich gegenüberstehen (dies ist sowohl bei Bildern des Fremden wie des Eigenen der Fall), sondern ob sie diesem gegenüber in einem asymmetrischen Machtgefüge verortet sind.36 Die von Bogdal extrapolierte und geforderte genaue Unterscheidung zwischen Bildern der Distanz (die überbrückbar ist) und Bildern der Differenz (die Unüberbrückbarkeit suggerieren) sollte daher neben Martin Gubsers bereits etablierter Unterscheidung zwischen dem Aufzeigen und dem Aufweisen von Antisemitismus37 stehen und jegliche Analyse eines unter Antisemitismusverdacht stehenden Textes grundieren. Dies ist nicht insofern misszuverstehen, dass ausschließlich Differenzen produzierende Texte Formen der In- und Exklusion verhandeln, produzieren
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dies.: Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung von 1946–1998. Opladen 1991, u. a. S. 231; Holz, Die Paradoxie (wie Anm. 13), u. a. S. 49. Holz, Die antisemitische Konstruktion (wie Anm. 9), S. 45. Uerlings, Ich bin von niedriger Rasse (wie Anm. 11), S. 2. Nicht »die idealisierende [...] oder diskriminierende Repräsentation der ›Anderen‹« birgt ihm zufolge daher die entscheidenden Erkenntnisse, sondern die Analyse des »hegemoniale[n] Subjekt[s], das die Macht hat, Alterität zu definieren, d. h. auf Individuen und Gruppen, deren Identität sich um die Signifikanten der anderen ›Rasse‹ und des anderen Geschlechts bildet und stabilisiert. Im Zentrum der Analysen stehen nicht die Anderen als Opfer oder die Unangemessenheit der Bilder, die von ihnen gemacht werden, sondern das Subjekt, das sie als konstitutives Außen braucht.« Bogdal, Perspektiven (wie Anm. 24), S. 8. Gubser, Literarischer Antisemitismus (wie Anm. 2), S. 310. Gubser weist mit dieser wichtigen Binnendifferenzierung darauf hin, dass es einen Unterschied gibt, ob ein Text antisemitische Strukturen aufweist, sie ihm unterlaufen, oder ob er antisemitische Stereotype einsetzt, um sie sicht- und kritisierbar zu machen, sie also aufzeigt.
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und etablieren würden. Repräsentationen von Distanz können ebenso inund exkludierend sein, vielfach gar in der besonders perfiden Form inkludierender Exklusion. Für die Nutzbarmachung zur literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung ist daher die Tatsache zentral, dass es sich bei Inklusion/Exklusion um eine Kippfigur handelt: Wer Differenzierungen vornimmt und Grenzen einzieht, schließt immer zugleich ein und aus,38 es können entsprechend keine Ausschlüsse beschrieben werden, wenn der Raum des Einschlusses, die Eingeschlossenen und Ausschließenden nicht berücksichtigt werden. Durch die Charakteristik der Kippfigur – Uerlings spricht von einem »intrikaten Verhältnis von Inklusion und Exklusion«39 – geraten in jeder mit diesem Instrumentarium arbeitenden Analyse automatisch zwei Gruppen in den Blick: die Aus- und die Eingeschlossenen, die Exkludierten und die Exkludierenden.40
Sichtbarmachung Eine Erweiterung der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung um das Konzept Inklusion/Exklusion könnte daher auch die Impulse der Post-Colonial Studies aufnehmen.41 Deren Prägung durch das intrikate Verhältnis zwischen Kolonialisierer und Kolonialisiertem machen die Nähe und unauflösliche Verbundenheit mit Inklusion/Exklusion schnell deutlich,42 zumal, wenn man sich von der allzu wörtlichen Bedeutung des Begriffs ›postkolonial‹ löst und als von ihrem etymologischen Ursprung ge38 Vgl. Bohn, Inklusion (wie Anm. 8), S. 12. 39 Uerlings, Ich bin von niedriger Rasse (wie Anm. 11), S. 2 f. 40 Wobei deutlich sein muss, dass gerade literarisch besonders reizvolle Figuren beide Positionen in sich vereinen können. So sind die Kategorien von Ein- und Ausschluss in den einzelnen Fällen zwar trennscharf, eine Figur kann aber in verschiedenen (gesellschaftlichen, sozialen etc.) Konstellationen zur gleichen Zeit vielfältige Ein- und Ausschluss-Positionen einnehmen. 41 Die Ansätze der Post-Colonial Studies werden in der Literaturwissenschaft vielfach noch kritisch beäugt. Dass sie mittlerweile nichtsdestoweniger vielfach Einzug gehalten haben und im Fach angekommen sind, zeigt nicht zuletzt das sehr aktive DFG-Netzwerk »Postkoloniale Studien in der Germanistik«, aus dem heraus zahlreiche neue Publikationen in dem Umfeld dieses Forschungskontextes erschienen sind. Für eine wesentlich skeptischere Einschätzung der Durchsetzung der Postcolonial Studies in der Germanistik vgl. Uerlings, Herbert: Interkulturelle Germanistik/Postkoloniale Studien in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft. Eine Zwischenbilanz zum Grad ihrer Etablierung. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 2 (2011) 1, S. 27–38. 42 Vgl. hierzu Schößler, Franziska: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen 2006, S. 141.
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löste Begrifflichkeit zur Beschreibung eines »Syndrom[s] von Machtverhältnissen und damit verbundenen Repräsentationsformen«43 gebraucht. Insbesondere das Konzept der Mimikry eignet sich, um hieran Analysen der Verhandlungen von In- und Exklusion, vor allem der inkludierenden Exklusion anzuschließen. Wiederholungen und Imitationen führen nach Homi K. Bhabha zu Entstellungen und Verschiebungen,44 die vielfach den Blick frei machen (oder auch: zu allererst bilden) auf das, was nachzubilden versucht wird, auf das, woran dies scheitert oder die Bedingungen, warum es glückt. Erkennbar wird dies etwa an (literarischen wie nicht-literarischen) Texten zur jüdischen Assimilation, die deutlich machen, wie eng die Verbindung von ›Ähnlichkeit‹ mit Inklusion und Exklusion ist, einer Korrelation, die zentral in Homi K. Bhabhas berühmt gewordener Formulierung des ›white but not quite‹ aufscheint. Ein Ziel der literarischen Antisemitismusforschung müsste es daher sein, Darstellungsverfahren zu extrapolieren und damit ›fassbar‹ zu machen, denen es systematisch gelingt, diese ›kleinen Unterschiede‹ als gleichwohl unüberwindliche erscheinen zu lassen. Die In- und Exklusionsmacht von Sprache ist daher besonders augenfällig in Bezug auf sogenannte interne Andere, deren ›Andersartigkeit‹ aufgrund ihrer ›Unsichtbarkeit‹ zuallererst diskursiv behauptet werden muss. Bohns oben zitierte Formulierung, dass bildgebende Verfahren Unsichtbares sichtbar machen, erhält hier somit eine neue Dimension. Nachweislich hatten (und haben) literarische Texte Einfluss auf (vielfach durch sie) gesellschaftlich etablierte Bilder ›vom Juden‹, dessen Unterschiedenheit und Unterscheidbarkeit von ›den Deutschen‹ immer dann besonders behauptet wurde, wenn Emanzipation und Assimilation zu immer mehr Ununterscheidbarkeit führten. Aus der Gemeinschaft, dem ›Wir‹, muss jemand exkludiert werden, der genauso aussieht, spricht, heißt wie die Vertreter dieses ›Wir‹. Es müssen also Marker hergestellt werden, die diesen jemand nichtsdestoweniger sichtbar, d. h. erkennbar und dadurch exkludierbar machen.45 43 Uerlings, Herbert: Kolonialer Diskurs und deutsche Literatur. Perspektiven und Probleme. In: Dunker, Axel (Hg.): (Post-)Kolonialismus und deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie. Bielefeld 2005, S. 17– 44, hier S. 17. 44 Vgl. Schößler, Literaturwissenschaft (wie Anm. 42), S. 149 f. 45 Erving Goffman, der sich intensiv mit Stigmata und dem (performativen) Umgang mit ihnen beschäftigt hat, unterscheidet in seiner Studie zwischen diskreditierten und diskreditierbaren Stigma-Trägern, d. h. zwischen sichtbaren (die eine Person unmittelbar und zwangsläufig ›brandmarken‹, durch die sie also direkt diskreditiert ist) und nicht sichtbaren Stigmata (die von der Person versteckt, verschwiegen etc. werden können, die sie jedoch diskreditierbar machen, da sie aufgedeckt werden, ans Licht kommen könnten). Ein Beispiel wäre ein
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Eine solche Bündelung von Menschen zu Gruppen, denen spezifische, ihrer Erkennbarkeit dienende Markierungen zugeordnet werden, geschieht über ein z. T. jahrhundertelang tradiertes Wissens-, besser: Vorurteilsreservoir. Erving Goffman spricht von einem »kompletten Satz von Attributen [. ..], die man für die Mitglieder jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet«.46 Dieser attribuierte und antizipierte Satz bildet Goffman zufolge die ›virtuale soziale Identität‹ im Gegensatz zur ›aktualen sozialen Identität‹ eines Menschen – Begriffe, die auch für die Untersuchung literarischer Stigmatisierungen und damit verbundener In- und Exklusionen Anknüpfungspotential bieten. Wenn Goffman ausführt, dass die Einteilung von Menschen in Kategorien samt dazugehörigen Attributen gesellschaftlich produziert ist, so liegt nahe, dass dieses gesellschaftliche ›Wissen‹ immer auch maßgeblich von Medien generiert, gespeist und geändert werden kann und wird. Das Wissen um die Wirkmächtigkeit von Literatur hat daher umgekehrt ebenfalls längst dazu geführt, diese als wissenschaftlich ernstzunehmenden Faktor etwa der soziologischen Antisemitismusforschung anzuerkennen. So wird literarischen Werken wie Karl Borromäus Sessas Unser Verkehr (1813) an den Ausbrüchen der Hep-HepKrawalle ebenso Anteil zugesprochen wie den Büchern Anne Franks und Rolf Hochhuths an der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung.47 Zur virtualen sozialen Identität werden die literarischen Darstellungen, da es für die ›Erkennbarkeit‹ eines literarischen (vermeintlichen) ›Juden‹ nicht von Bedeutung ist, ob die attribuierten und der Erkennung dienenden (physiognomischen, onomastischen, vestimentären etc.) Eigenschaften statistisch tatsächlich überproportional in dieser Gruppe anzutreffen oder aber (anti-, philo-, allosemitische) Klischees sind, solange sie nur gesellschaftlich etaRollstuhlfahrer vs. ein Analphabet. Die Verwendung dieser Kategorien ist für die Untersuchung von unter Antisemitismusverdacht stehenden Texten – und ihrem Ergebnis – zentral: Wird Sichtbarkeit behauptet und Judentum als diskreditierendes Stigma – oder wird Unsichtbarkeit behauptet und Judentum als diskreditierbares Stigma entworfen? Welche Wertungen dessen sind erkennbar, welche Funktionen für den Textaufbau und den Fortgang der Geschichte lassen sich beobachten? Die Behauptung und in der Folge Herstellung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit (in der literarischen Repräsentation) von ›Juden‹ ist somit für die In- und Exklusion zentral. Goffman, Stigma (wie Anm. 28), S. 12. 46 Goffman, Stigma (wie Anm. 28), S. 9 f. 47 Vgl. Richter, Matthias: Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750–1933). Studien zu Form und Funktion. Göttingen 1995, S. 157; Bergmann, Werner: Auschwitz zum Trotz. Formen und Funktionen des Antisemitismus nach 1945. In: Von Braun / Ziege, Das ›bewegliche‹ Vorurteil (wie Anm. 9), S. 117–141, hier S. 124.
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bliert sind/ wurden. Matthias Richter hat dies am Beispiel der ›jüdischen Sprache‹ in der Literatur herausgearbeitet: Deren von faktischen sprachlichen Besonderheiten, empirisch überprüfbaren Eigenheiten unberührte Fiktionalität fasst er unter dem Begriff ›Literaturjiddisch‹ zusammen,48 was demnach ein Baustein der literarischen virtualen sozialen Identität von ›Literaturjuden‹ wäre. Im Laufe der jahrhundertelangen Produktion literarischer Judenfiguren haben sich sukzessive solcherlei Konventionen und Marker formiert und etabliert, mit denen Autorinnen und Autoren gezielt eine ›Erkennung‹ des literarischen Juden durch Leserinnen und Leser nahelegen oder gar voraussetzen können. Der von Goffman beschriebene ausgeprägte Glaube an die eigene Fähigkeit, die ›soziale Identität‹ unseres Gegenübers zu antizipieren,49 setzt sich auch in der Lektüre, der Rezeption und gefühlten ›Entschlüsselung‹ von Texten fort. Die literarische Gestaltung ›jüdisch‹ assoziierter personaler Attribute und Eigenschaften sendet Signale aus, weckt Erwartungen, die vom Text anschließend in der Schwebe gehalten, verifiziert oder falsifiziert werden können. Goffman spricht von »antizipierten Anderen«.50 Alois Hahns Beschreibung der hier wirksamen Mechanismen – »Die Identifikation arbeitet mit konventionellen Gewißheiten.«51 – macht dies deutlich. Die vermeintliche Identifizierung wandelt sich schließlich in normative Erwartungen, die wir an die Figur zu stellen können glauben.52 Auf das hierzu signifikant notwendige Zusammenspiel von Autor und Rezipient bei der (z. T. notdürftigen) Codierung und der (z. T. mühelosen) Decodierung hat Eva Lezzi aufmerksam gemacht: »In jedem Fall ist die Annäherung an das in den Romanen nicht benannte Jüdische auf Projektionen seitens der Interpreten angewiesen und sagt mindestens ebenso viel über 48 Vgl. Richter, Die Sprache (wie Anm. 47). 49 Goffman erklärt die Verwendung dieses Terminus statt des verwandten des ›sozialen Status‹ überzeugend damit, dass dieser zu präferieren sei, da »persönliche Eigenschaften wie zum Beispiel ›Ehrenhaftigkeit‹ ebenso einbezogen sind wie strukturelle Merkmale von der Art des ›Berufs‹«. Goffman, Stigma (wie Anm. 28), S. 10. Er ist dadurch auch für den hier verhandelten ›jüdischen‹ Kontext passender, da gerade die antisemitischen Kategorisierungen maßgeblich auch mit antizipierten Charaktereigenschaften – z. B. verbreitet dem Absprechen der von Goffman hier erwähnten ›Ehrenhaftigkeit‹ – einhergehen. 50 Goffman, Stigma (wie Anm. 28), S. 10. 51 Hahn, Alois: Wohl dem, der eine Narbe hat. In: Von Moos, Peter (Hg.): Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Köln [u. a.] 2004, S. 43– 62, hier S. 53. 52 Vgl. Goffman, Stigma (wie Anm. 28), S. 10.
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deren kulturelle Konstruktionen aus wie über die ästhetischen Prinzipien der Romane.«53 Denn natürlich handelt es sich bei diesen konventionalisierten Markern um kulturell konstruierte und etablierte Fiktionen. Sie sind Repräsentationen, die mit der Realität, auf die sie sich beziehen, nichts zu tun haben, zugleich aber massiv realitätserzeugend sind. Durch und mit Stereotypisierung werden also Repräsentation, Differenz und Macht – und dadurch Entscheidungen über In- und Exklusionen – verknüpft.54 Wie Erving Goffman, der seinen Stigma-Begriff als die »Diskrepanz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität«55 definiert, jedoch herausstellt, müssen nicht alle Diskrepanzen zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität Stigmata sein – sie können auch lediglich eine Auf- oder Abstufung innerhalb des Kategorien-Systems oder eine nicht wertende Umstufung bedeuten. Die entscheidende Frage jeglicher Analyse literarischer Texte muss daher darum kreisen, ob die vom Text durch die Repräsentation eröffneten Assoziationsräume beherrscht werden – oder ob der Text im Gegenteil von ihnen beherrscht wird.56 Beides ist, wie erneut Uerlings betont, möglich: Die ästhetische Differenz eröffnet aber auch Spielräume, die zu anderen Formen der Inszenierung genutzt werden können: zur spielerischen oder kritisch-subversiven Sichtbarmachung der Diskursmuster und Dichotomien, die die symbolische Ordnung [. . .] strukturieren.57 53 Lezzi, Eva: » . . . ewig rein wie die heilige Jungfrau . . . «. Zur Enthüllung des Jüdischen in der Rezeption von deutschsprachigen Romanen um 1800. In: Jasper, Willi [u. a.] (Hg.): Juden und Judentum in der deutschsprachigen Literatur. Wiesbaden 2006, S. 61–86, hier S. 82. 54 Hall, Stuart: Das Spektakel des ›Anderen‹. In: Ders.: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften. Bd. 4, hg. v. Juha Koivisto und Andreas Merkens. Hamburg 2004, S. 108–165, hier S. 145. Hall extrapoliert drei Kennzeichen der Stereotypisierung: 1. die Reduktion, Essentialisierung, Naturalisierung und Fixierung von ›Differenz‹, 2. die Schließung und – damit zwangsläufig verbunden – auch die Ausschließung, der Ausschluss durch mit ihrer Hilfe errichteter symbolischer Grenzen, und schließlich 3. ihr Auftauchen immer dort, wo Machtasymmetrien bestehen (ebd., S. 144). Die Spaltung erzeugende und etablierende Funktion von Stereotypisierungen ist für jegliches Nachdenken über Inklusion und Exklusion entscheidend, da durch sie das abzuspaltende, auszuschließende erst herausgelöst und definiert wird. 55 Goffman, Stigma (wie Anm. 28), S. 11. 56 Vgl. hierzu zentral Körte, Juden (wie Anm. 12), S. 68 und S. 72. 57 Uerlings, Ich bin von niedriger Rasse (wie Anm. 11), S. 3; vgl. hierzu auch Hall, Das Spektakel (wie Anm. 54), S. 158: »Wenn Bedeutung durch Repräsentation endgültig festgelegt werden könnte, gäbe es keinen Wandel – und somit keine Gegenstrategien oder Interventionen. Natürlich vollbringen wir extreme Anstrengungen, um Bedeutung zu fixieren – genau darauf zielen die Strategien des
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Der ›Andere‹ muss also zu allererst als solcher produziert und rezipiert werden, wobei die genannten konventionalisierten Marker behilflich sind. Über diesen ›Anderen‹ wird die eigene Identität erst wahrgenommen, behauptet und hergestellt.58 Die literarische Etablierung der jeweiligen ›Abweichung‹ hiervon, die Differenz suggerierende virtuale Identität des ›Anderen‹, folgt dabei diskursanalytisch rekonstruierbaren Regeln. Die Etablierung und Konventionalisierung dieser Marker hat zugleich zur Folge, dass sich so auch Figuren ›jüdisch‹ markieren – und exkludieren – lassen, die gar keine sind. Deutlich wird hier, wie »›Stereotypisierung‹ als Repräsentationsform«,59 wie Stuart Hall dies genannt hat, als »signifizierende Praxis«60 wirkt. So liest etwa Christina von Braun die Figur des katholischen Spekulanten Saccard aus Emile Zolas Roman Das Geld (1890/91) als jüdische Aufladung einer nicht-jüdischen Figur: Wüsste man nicht, woher dieses Zitat kommt und auf wen es sich bezieht, man würde meinen, es handle sich um die Beschreibung Joseph Süß Oppenheimer oder eines anderen ›Geldjuden‹ in einem der vielen antisemitischen Romane. Zola beschreibt jedoch einen katholischen Spekulanten, dessen Kapital der ›blinde Glaube‹ ist, der ihm und seinen magischen Finanzgeschäften entgegengebracht wird. Eben das ist der Verdienst dieses Romans [. . .]: Er verdeutlicht, wie stark es sich bei den Bildern vom ›Geldjuden‹ sowie den damit einhergehenden sexuellen Aufladungen um Projektion aus der christlichen Denkwelt auf die Gestalt des Juden handelt.61
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Stereotypisierens, oft für eine bestimmte Zeit mit beträchtlichem Erfolg. Aber letztlich beginnt Bedeutung unweigerlich zu entgleiten; sie beginnt, sich zu verschieben, verdreht oder in neue Richtungen gebogen zu werden. Neue Bedeutungen werden über alte hinüber gestülpt. Wörter und Bilder tragen Konnotationen in sich, die niemand vollständig kontrolliert und diese marginalen oder untergründigen Bedeutungen kommen an die Oberfläche. Sie ermöglichen, dass unterschiedliche Bedeutungen konstruiert, verschiedene Dinge gezeigt und gesagt werden können.« Vgl. hierzu auch Hall, Das Spektakel (wie Anm. 54), S. 144: »Mit anderen Worten ist Stereotypisierung Teil der Aufrechterhaltung der sozialen und symbolischen Ordnung. Sie errichtet eine symbolische Grenze zwischen dem ›Normalen‹ und dem ›Devianten‹, dem ›Normalen‹ und dem ›Pathologischen‹, dem ›Akzeptablen‹ und dem ›Unakzeptablen‹, dem, was ›dazu gehört‹, und dem, was ›nicht dazu gehört‹ oder was ›das Andere‹ ist, zwischen ›Insidern‹ und ›Outsidern‹, Uns und Ihnen. Sie vereinfacht das ›Zusammenbinden‹ oder ›Zusammenschweißen‹ zu einer ›imaginierten Gemeinschaft‹; und sie schickt alle ›Anderen‹, alle diejenigen, die in irgendeiner Weise anders, ›unakzeptablel‹ [sic!] sind, in ein symbolisches Exil.« Hall, Das Spektakel (wie Anm. 54), S. 108. Hall, Das Spektakel (wie Anm. 54), S. 143. Von Braun, Christina: Einleitung. In: Dies. / Ziege, Das ›bewegliche‹ Vorurteil (wie Anm. 9), S. 11– 42, hier S. 41.
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Hieran wird deutlich, inwieweit auch Sprache und durch sie geformte literarische Repräsentationen Anteil an der performativen Herstellung von Markern und vermeintlichen ›Erkennungszeichen‹ haben, wenn – wie Manuela Günter zusammenfasst – Performativität [. . .] mit Judith Butler die diskursive Produktion von Referenten wie Subjekt, Identität, Körper usw. durch ritualisierte Wiederholung und Reinszenierung bestimmter Normen und Bilder [meint]. Die scheinbar naturhafte Vorgängigkeit dieser diskursiven Effekte entlarvt Butler dabei als Resultat einer Verwechslung, die in der rhetorischen Figur der Metalepse ihren Ausdruck findet. Der ›Jude‹, der im Akt der Benennung diskursiv produziert wird, erscheint nachträglich als Voraussetzung dieser Benennung. In diesem Kontext müssen deshalb ›die Juden‹ in Anführungszeichen stehen, um zu vermeiden, daß man diese ›Juden‹ mit den wirklichen Juden verwechsele.62
In ihrem Aufsatz Zur Enthüllung des Jüdischen in der Rezeption von deutschsprachigen Romanen um 1800 hat sich Lezzi mit diesen Erkennen suggerierenden literarischen Markern auseinandergesetzt. Am Beispiel von Lessings Die Juden zeigt sich durch die doppelbödig verhandelte Frage der Identifizierbarkeit des ›Jüdischen‹ deren Brüchigkeit besonders deutlich. Durch die mühelose Kostümierung durch nichts als ›Judenbärte‹ zeigen die Räuber »die beliebige Zirkulation der Zeichen, die doch zugleich als Marker eindeutiger Identität dienen und nur aus diesem Grund überhaupt als Verkleidungsutensilien funktionieren können«.63 Die zweifelsfrei identifizierte und decodierte Identitätsmarkierung stellt sich jedoch als Maskerade heraus. »Die jüdische Identität des Reisenden wiederum erscheint einzig diskursiv – und in einem geradezu klassischen Sinne performativ – hergestellt, sie lässt sich aus nichts anderem herleiten, denn aus seiner Aussage: ›Ich bin ein Jude.‹«64 Deutlich führt Lezzi dabei vor, dass die zunehmende Unmöglichkeit der Identifikation durch vestimentäre, coiffeuristische etc. 62 Günter, Manuela: Identität und Identifizierung. Einige Überlegungen zur Konstruktion des ›Juden‹ nach dem Holocaust. In: O’Dochartaigh, Po´l (Hg.): Jews in German Literature since 1945: German-Jewish Literature? Amsterdam / Atlanta 2000, S. 435– 446, hier S. 436. 63 Lezzi, Ewig rein (wie Anm. 53), S. 61. 64 Lezzi, Ewig rein (wie Anm. 53), S. 61 f. »Die Wirkung dieser Aussage ist jedoch in einem radikalen Sinne realitätserzeugend: So wird der Reisende aus der Sicht seines Dieners rückblickend zum Juden, d. h. zu einem, der ›kein Schweinefleisch essen wollte, und sonst hundert Alfanzereien machte.‹ Das rückwirkende Erkennen des Dieners zeigt zudem, dass der Reisende seine jüdische Identität den Anderen zuvor zwar nicht explizit ent-deckt hat, doch ebenso wenig hat er sich aktiv verstellt. [. . .] Ein Jude muss sich nicht als Christ maskieren, sondern einzig seine jüdische Identität unerwähnt lassen, um in der Dominanzkultur nicht als Anderer aufzufallen.« Ebd., S. 62.
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Marker um 1800 mitnichten zu einer Abnahme der literarischen Behauptung der Möglichkeit von Identifizierbarkeit führt: Trotz – oder vielleicht gerade wegen – solcher zeithistorisch relevanter Verschiebungen von kulturellen Grenzen, die die äußere Differenz zwischen Juden und Christen in vielerlei Hinsicht einebnen, bleiben die Diskurse um die Entdeckung, Erkennung und Benennung von Juden und Jüdischem auch in der Zeit der Romantik virulent.65
Die »prinzipielle Konstruiertheit und diskursive Herstellung«66 von Kategorien wie Geschlecht und kultureller Zugehörigkeit, auf die Lezzi in diesem Zusammenhang hinweist, lässt sich daher auch für die Kategorie ›race‹ feststellen. Die Literatur spielt dabei für die Etablierung in- und exkludierender Zeichen und Signale, ihrer Konventionalisierung und damit Decodierbarkeit eine zentrale Rolle, ihr Einfluss auf die »Einübung von Vorurteilshaltungen«67 und damit zwangsläufig auf – auch außerliterarische – In- und Exklusionen ist nicht zu unterschätzen.
65 Lezzi, Ewig rein (wie Anm. 53), S. 62 f. Als maßgebliches Beispiel nennt sie hier Achim von Arnims Rede vor der christlich-deutschen Tischgesellschaft »Über die Kennzeichen des Judentums«: »Anders als Lessing leitet von Arnim aus solchen äußeren Annäherungen nicht etwa einen universellen Gleichheitsanspruch, sondern neue Vorurteile ab. Es gilt zu warnen vor der jüdischen ›Kunst, sich zu verstecken‹, ›sich zu verheimlichen‹, sich ›anzuschmiegen‹ oder ›in allen Orten einzuschleichen‹.« Ebd., S. 62. 66 Lezzi, Ewig rein (wie Anm. 53), S. 64. 67 Lorenz, Matthias N.: Juden. Bilder in Literatur und Film. In: Text + Kritik 180 (2008) (Juden.Bilder), S. 3–5, hier S. 3.
Kafka beobachtet Buber. Beim Bau der chinesischen Mauer und die Paradoxien religiöser Selbstbeschreibung Iulia-Karin Patrut und Dominik Zink Kafkas 1917 verfasstes Erzählfragment Beim Bau der chinesischen Mauer 1 handelt vom scheiternden Versuch des Ich-Erzählers, sich den Sinn eines gigantischen Bauwerkes zu erschließen, das einerseits selbst sinn- und identitätsstiftend wirkt, andererseits nur als eine funktionslose Ansammlung von Bruchstücken wahrgenommen wird. Die Annahme einer kohärenten, widerspruchsfreien Sinnhaftigkeit des Bauprojekts, an dem sich das ganze Volk beteiligt hatte, wird an zwei unterschiedliche, aber gleichermaßen transzendent gesetzte und als Garanten der gegenwärtigen Ordnung imaginierte Zentral-Instanzen geknüpft: das Kaisertum und die ›Führerschaft‹. Sie lassen sich jedoch nicht vergegenwärtigen und sind für direkte Kommunikation unzugänglich. Diese Inkonsistenzen, Widersprüche und Paradoxien gaben der KafkaForschung zahlreiche Rätsel auf; man diskutierte sie, so Oliver Jahraus, als Reflexion der »Unmöglichkeit des Schriftverkehrs«,2 wie Ute Gerhard (im Anschluss an Deleuze/Guattari) als »Subversion der Symbolischen Ordnung«3 durch Deterritorialisierung, oder, so Alexander Honold, als eine »Kartographie der Außengrenze«,4 an der sich Identität im Modus des paradoxen, nur scheinbaren Bezugs auf ein zeitlich dissoziiertes Zentrum konstituiere. Jenseits dieser Interpretationen, die auf allgemeine Probleme des Verstehens und der Identitätskonstruktion zielen, hat sich eine Forschungsrichtung mit möglichen Beziehungen zum Judentum, speziell zum Zionismus befasst. Im Anschluss an Clement Greenbergs Überlegung, China und die Mauer seien – aufgrund der Bezeichnung der Erbauer als »Ost- und 1 Kafka, Franz: Beim Bau der chinesischen Mauer. In: Ders.: Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe, hg. v. Jürgen Born [u. a.]. Bd. 1: Nachgelassene Schriften und Fragmente. Teilband 1, hg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt a. M. 1993, S. 337–357. Alle Seitenangaben im Fließtext beziehen sich auf diese Ausgabe. 2 Jahraus, Oliver: Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate. Stuttgart 2006, S. 361. 3 Gerhard, Ute: Entstellte Grenzen. In: Bay, Hansjörg / Hamann, Christof (Hg.): Odradeks Lachen. Fremdheit bei Kafka. Freiburg i. Br. 2006, S. 69–87, hier S. 79. 4 Honold, Alexander: Kafkas vergleichende Völkerkunde: Beim Bau der chinesischen Mauer. In: Dunker, Axel (Hg.): (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Bielefeld 2005, S. 203–218, hier S. 211.
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Westheer [.. .]« (337) – Metaphern der jüdischen Diaspora,5 ging Ritchie Robertson davon aus, es handle sich bei dem Text möglicherweise um »eine nachdenkliche Betrachtung über die Ursprünge sozialer Zusammengehörigkeit [.. .], wobei der besondere Nachdruck auf der Geschichte der Juden liegt«.6 Robertson hat in diesem Zusammenhang, ohne dem weiter nachzugehen, erwogen, dass der Austausch Kafkas mit Jirˇi Georg Langer, einem Kenner der osteuropäischen jüdischen Überlieferung und der Tradition der Zaddikim, Anstöße für die Erzählung gegeben haben könnte. Im Folgenden wird Kafkas Text ebenfalls als Kommentar zur jüdischen Selbstverständigung gelesen. Die Probleme des Verstehens und die Paradoxien der Selbstbegründung, auf die der Text seine Leser stößt, werden jedoch auf eine konkrete prominente zeitgenössische Position bezogen: den religiösen Zionismus Martin Bubers. Der Aufsatz verfolgt ein zweifaches Erkenntnisinteresse: Erstens soll gezeigt werden, dass Kafkas Erzählfragment Beim Bau der chinesischen Mauer eine literarische Kommentierung der frühen Texte Martin Bubers darstellt, und zweitens wird unter Bezugnahme auf den systemtheoretischen Beobachtungs-Begriff die poetische Positionierung des Textes im Bezug auf Bubers Diskurs jüdischer Selbstverortung interpretiert. Kafkas ästhetische Kommentierung von Bubers politischer Mystik Eines der wenigen klar ordnenden Strukturelemente in Kafkas Beim Bau der chinesischen Mauer liegt im Eintreffen der Nachricht vom Mauerbau in dem Dorf, aus dem der Erzähler stammt; die Nachricht markiert eine zeitliche Zäsur. Von dieser aus lässt sich eine zentrale Achse nicht nur der intradiegetischen Chronologie, sondern vor allem der Erzählstruktur erkennen: Im ersten Teil des Textes berichtet der Erzähler von der Zeit nach dem Eintreffen der Nachricht, im zweiten Teil von dem chinesischen Dorfleben in der davor liegenden Zeit. Von der Untersuchung dieser früheren Zeit verspricht er sich (vergebens) eine Erklärung des Mauerbaus, nachdem seine unmittelbaren Erklärungsversuche gescheitert waren. Die Textlogik legt es jedoch nah, auch diese Nachricht, an deren Wahrhaftigkeit der Erzähler selbst nicht zweifelt, zu hinterfragen, da sie von einem Schiffer überbracht wird, der Erzähler aber bereits zu einem früheren Zeitpunkt dar5 Greenberg stellt erstmals die These auf: »China became the name of Kafka’s figure of speech for Diaspora Jewry.« Greenberg, Clement: At the Building of the Great Wall of China. In: Flores, Angel / Swander, Homer (Hg.): Franz Kafka Today. New York 1977, S. 77–81, hier S. 77. 6 Robertson, Ritchie: Kafka. Judentum Gesellschaft Literatur. Stuttgart 1988, S. 233.
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gelegt hat, dass »es kaum möglich [war] etwas zu erfahren, nicht vom Pilger [. ..], nicht in den nahen und fernen Dörfern, nicht von den Schiffern, die doch nicht nur unser Flüßchen, sondern auch die heiligen Ströme befahren.« (349 f.) Weshalb die Dorfbewohner ausgerechnet die Nachricht vom Beginn des Mauerbaus als eine echte ›kaiserliche Botschaft‹ erachten, bleibt im Text völlig offen. Aufgrund der herausragenden Bedeutung der Nachricht stellt der Erzähler damit die gesamte von ihm erzählte Welt unter Generalverdacht. Im Folgenden wird dargelegt, dass die Unzuverlässigkeit des Erzählens und die Paradoxien, in denen die Sinnerschließungsversuche des Erzählers enden, als Modi ästhetischer Gestaltung eines Kommentars zu den Schriften Martin Bubers interpretierbar sind. Es wurde in der Forschung bislang übersehen, dass die Fragen, Kategorien und Deutungsmuster des Erzählers teilweise bis in die einzelnen Formulierungen hinein denjenigen Martin Bubers entsprechen; dies gilt insbesondere für dessen Schriften Drei Reden über das Judentum (1911) und Vom Geist des Judentums (1916).7 Die Parallelen zeigen sich jedoch nicht allein in inhaltlicher Hinsicht, sondern selbst die Methode der buberschen religiös-politischen Selbstverortung durch wissenschaftliche Vergleiche zwischen Juden und weiteren Völkern kehrt in Kafkas Erzählung wieder. So meint der Erzähler, dass er seinen Fragen nur mit »vergleichender Völkergeschichte [...] an den Nerv herankommt« (348). Darüber hinaus greift die China-Metapher in Kafkas Erzählung Bubers Vorstellung der Verwandtschaft zwischen Juden und Chinesen als Orientalen auf: Ich möchte den orientalischen Menschentypus, wie er ebenso in den Urkunden der asiatischen Antike wie im heutigen Chinesen oder Inder oder Juden erkennbar ist, im Gegensatz zum abendländischen, der etwa durch den Griechen der Perikleischen Zeit oder durch den Italiener des Trecento oder durch den Deutschen unserer Tage repräsentiert wird, als den motorischen im Gegensatz zum sensorischen ansprechen.8
Die Aufwertung chinesischer Literatur und Kultur sowie die Beschreibung der Juden als Asiaten mit explizitem Bezug auf die chinesische Kultur kann im zionistischen Diskurs als Spezifikum Bubers erachtet werden. Buber hatte Chinesische Geister- und Liebesgeschichten 9 herausgegeben, die Kafka kannte,10 und 7 Im Folgenden werden lediglich jene Schriften Bubers berücksichtigt, die bis 1916 erschienen sind. Dass Kafka zahlreiche Veröffentlichungen Bubers gelesen und auch einige seiner Reden gehört hat, ist belegt. Außerdem erschienen in der von Buber herausgegebenen Zeitschrift Der Jude Erzählungen Kafkas, darunter Schakale und Araber. 8 Buber, Martin: Der Geist des Orients und das Judentum. In: Ders.: Vom Geist des Judentums. Reden und Geleitworte. Leipzig 1916, S. 9– 48, hier S. 11 f. 9 Pu, Songling: Chinesische Geister- und Liebesgeschichten. Übersetzt und herausgegeben von Martin Buber. Frankfurt a. M. 1911. 10 Aus einem Brief Kafkas an Felice Bauer vom 20./21. 01. 1913 ergibt sich, dass
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zog in seinen Schriften und Reden vielfach Vergleiche und Analogien zwischen Chinesen und Juden. So behauptete er eine Verwandtschaft von Laotses Konzept der All-Einheit der Welt mit der Mystik des Judentums;11 in seiner Rede Das Judentum und die Menschheit argumentierte er, die Juden würden mit »der ganzen Gewalt asiatischer Genialität« auf das »Einswerden der Seele hinstreben« und damit »dem Okzident [...] das Asien der Schrankenlosigkeit und der heiligen Einheit, das Asien Laotses und Buddhas«12 vorleben. In Kafkas Oktavheft C findet sich direkt im Anschluss an die ebenfalls in China angesiedelte Erzählung Ein altes Blatt, die auf Beim Bau der chinesischen Mauer folgt, die Passage: »Diese (vielleicht allzusehr europäisierende) Übersetzung einiger alter chinesischer Manuskriptblätter stellt uns ein Freund der Aktion zur Verfügung. Es ist ein Bruchstück. Hoffnung, daß die Fortsetzung gefunden werden könnte besteht nicht.«13 Dies lässt sich auf die beiden vorstehenden China-Erzählungen beziehen, die damit als ironische Kommentare zu Bubers Selbstorientalisierung der Juden als Chinesen erscheinen. Die Aktion war der Titel eines damals bekannten und auch von Buber häufig angesprochenen Expose´s zu Theodor Herzls Der Judenstaat und wurde zu einer der Chiffren für den Zionismus insgesamt. Da Kafka selbst Chinadarstellungen und Zionismus überblendet und Buber der einzige Zionist war, der eine Verwandtschaft zwischen Juden und Chinesen behauptete,14 liegt es nahe, diese Erzählungen mit Bezug auf ihn zu lesen. Kafka hatte Buber rezipiert, spricht jedoch in einem Brief an Max Brod ein hartes Urteil über dessen Schriften aus: Abscheuliche, widerwärtige Bücher, alle drei zusammen. [. . .] Es sind Bücher, die sowohl geschrieben als auch gelesen werden können nur in der Weise, dass man wenigstens eine Spur wirklicher Überlegenheit über sie hat. So aber wächst mir ihre Abscheulichkeit unter den Händen.15
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diese den Band erworben hatte und Kafka bereits aus einer »ausführlichen Besprechung, in der verschiedene Citate standen«, darüber unterrichtet war. Franz Kafka: Briefe an Felice, hg. v. Erich Heller und Jürgen Born. Frankfurt a. M. 1970, S. 259–261, hier S. 260. Buber, Martin: Die Jüdische Mystik. In: Ders., Geist (wie Anm. 8), S. 96–116, hier S. 97. Buber, Martin: Das Judentum und die Menschheit. In: Ders.: Drei Reden über das Judentum. Frankfurt a. M. 1920, S. 35–56, hier S. 48. Kafka, Schriften Tagebücher (wie Anm. 1), S. 361. In den Ausgaben bis Ende 1916 der wichtigsten jüdischen Zeitungen und Zeitschriften wie Der Jude, Die Welt, Ost und West oder Selbstwehr finden sich abgesehen von Bubers Texten keine Vergleiche zwischen Juden und Chinesen. Kafka, Franz: Brief an Max Brod vom Januar 1918. In: Ders.: Gesammelte Werke. Briefe 1902–1924, hg. v. Max Brod. Frankfurt a.M. 1966, S. 222–226, hier S. 225.
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Buber ging es im Wesentlichen um eine religiös-politische Renaissance:16 Durch »Neuschaffen aus uraltem Material« sollte mittels eines »positiven festgefügten Aktionsprogramms [...] einer Bewegung« ein neues »Brudertume der Herzen« entstehen, eine »Wiedergeburt des Judenvolkes«.17 Buber fasst den Zionismus dabei jedoch nicht wie Theodor Herzl primär als politische Notwendigkeit oder wie Achad Haam als kulturelles Projekt auf, sondern als ein religiöses: Meine Ethik ist eine Exekutive meiner Religion: der Wille, die Macht Gottes auf Erden zu mehren und die Macht des Übels zu mindern. Und der Staat ist eines der Gebilde, an denen sich diese Ethik bewähren kann. [. . .] Diese Kontrolle aber vermag kein anderer auszuüben als der zur legitimen Autorität gewordene Geist, dem die Völker und die Staaten Untertan sind: Die lebendige Religion.18
Vor diesem Hintergrund lässt sich der Mauerbau in Kafkas Text als Anspielung auf die von Buber anvisierte religiöse Erneuerung des Judentums auffassen. Die oben angesprochene Zäsur in der Erzählung, das Eintreffen der Nachricht vom Beginn des Mauerbaus, markiert für den Erzähler eine Neuordnung. Diese beschreibt er ebenso mit buberschen Kategorien wie die Zeit vor dem Mauerbau, die Bubers Ausführungen zum Zustand der zu erneuernden jüdischen Religion entspricht. Im zweiten Teil des Textes, der sich mit dem Verhältnis zwischen dem als transzendent imaginierten Kaisertum, das »groß durch alle Stockwerke der Welt« (350) ist, und dem chinesischen Volk vor Beginn des Mauerbaus befasst, beschreibt der Erzähler ein durchgehend von passiver Schicksalsergebenheit geprägtes Dorfleben. Das Volk wird von Priestern regiert, die Erlasse vom Altar aus verkünden, jedoch unfähig sind, den Geist des Gesetzes, für das sie einstehen sollten, zu erkennen und dem Volk zu vermitteln. Daher folgert der Erzähler, das chinesische Volk führe im Grunde ein »gewissermaßen freies, unbeherrschtes Leben« (354), ja, es habe »im Grunde gar keinen Kaiser« (354), obwohl es »kein kaisertreueres Volk« (354) als dieses gäbe. Diese Treue komme jedoch »dem Kaiser nicht zugute« (354); sie erweist sich bei näherem Hinsehen als Festhalten an einer althergebrachten Gesetzesgläubigkeit, die jeglichen Bezug zum Kaisertum und damit zur Transzendenz verloren hat. Eben so beschreibt Buber den Zustand des »offiziellen Scheinjudentum[s], das ohne Berufung herrscht und ohne Legitimität repräsentiert«.19 Denn diese falsch gelebte Religion äußert sich bei ihm vor allem durch ein »Aufsichnehmen des 16 Buber, Martin: Jüdische Renaissance. In: Ost und West 1 (1901) 1, S. 7–10. 17 Buber, Renaissance (wie Anm. 16), S. 10. 18 Buber, Martin: Zion, der Staat und die Menschheit. Bemerkungen zu Herrmann Cohens Antwort. In: Der Jude 1 (1916) 7, S. 425– 431, hier S. 429. 19 Buber, Martin: Jüdische Religiosität. In: Ders., Geist (wie Anm. 8), S. 49–74, hier S. 57.
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überlieferten Gesetzes«,20 das von den Priestern und Schriftgelehrten nicht als eine wahrhafte, »im Leben auszugestaltende, mit neuem Lebenssinn zu füllende Verkündigung, sondern als eine Satzung, eine Summe von Vorschriften behandelt« werde, »die lebendige Religiosität nicht fördernd, sondern unterbindend«.21 Das Hauptcharakteristikum der zu überwindenden Religion sieht Buber allerdings in der »Passivität«:22 »Nur für den Lässigen, den Entscheidungslosen, den Geschehenlassenden, den in seine Zwecke Verstrickten ist Gott ein unbekanntes Wesen jenseits der Welt«.23 Auch für die Chinesen der dörflichen Provinz ist die Vorstellung des transzendenten Kaisertums »fremder als das jenseitige Leben« (354), und das Kaisertum wird imaginiert als »eine Wolke, ruhig unter der Sonne sich wandelnd im Laufe der Zeiten« (354). Für Buber allerdings hat »[e]chte Religiösität [...] nichts gemein weder mit den Träumereien schwärmerischer Herzen, [...] noch mit den tiefsinnigen Spielen einer geübten Intellektualität«.24 Passives Träumen allerdings ist genau der Modus, in dem die Chinesen seit jeher verharren; deshalb scheitern sie daran, sich die Transzendenz zu vergegenwärtigen. Eine Sage, »die dieses Verhältnis gut ausdrückt« (351), berichtet davon, wie jede Kommunikation zwischen dem »jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten« (351) und dem Kaiser misslingt: »Du aber sitzt an deinem Fenster und erträumst sie Dir wenn der Abend kommt« (352). Die hier gemeinte kaiserliche Botschaft kann den Untertan nie erreichen, die Ursache dafür sieht dieser darin, dass der Bote an der Unmöglichkeit scheitert, die Grenze zwischen dem als transzendentem Zentrum imaginierten kaiserlichen Palast und dem weltlichen China zu überschreiten. Für Buber stellt die Annahme der radikalen Differenz von Immanenz und Transzendenz ebenso eine falsche Auffassung von Religion dar wie das untätige Warten auf einen göttlichen Boten. Genau in diesem Zustand der Abgeschiedenheit von seiner eigentlichen Religiosität stagniere das jüdische Volk nach dem Versiegen des durch das »intellektuelle Gebilde der rational-monotheistischen Rabbinerreligion«25 geschwächten Chassidismus, der nicht genügend prophetische Lehrer habe aufbringen können, um das »natürliche Gebilde der mythisch-monotheis20 21 22 23 24 25
Buber, Religiosität (wie Anm. 19), S. 51. Buber, Religiosität (wie Anm. 19), S. 68. Buber, Religiosität (wie Anm. 19), S. 51. Buber, Religiosität (wie Anm. 19), S. 61. Buber, Religiosität (wie Anm. 19), S. 73 f. Buber, Martin: Der Mythos der Juden. In: Ders., Geist (wie Anm. 8), S. 75–95, hier S. 82.
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tischen Volksreligion«26 am Leben zu erhalten: »Wir leben in der problematischen Situation, die auf diese Versuche gefolgt ist: in der im Judentum der letzte alte Aufbau des orientalischen Geistes erschüttert und einem neuen kein Grund gelegt scheint.«27 Auch die Chinesen in Kafkas Eine kaiserliche Botschaft leben in einem solchen Zustand der Selbstentfremdung: Sie haben weder einen Bezug zur eigenen Geschichte noch zum Kaiser, und dies gilt, mit Kantorowicz gesagt, sowohl für den body natural als auch für den body politic und die Transzendenz, die er verkörpern soll: Es [das Volk] weiß nicht welcher Kaiser regiert und selbst über den Namen der Dynastie bestehen Zweifel. In der Schule wird vieles dergleichen der Reihe nach gelernt, aber die allgemeine Unsicherheit in dieser Hinsicht ist so groß daß auch der beste Schüler mit in sie gezogen wird. (352)
Kaiser, die nur noch »im Liede« leben, haben »vor Kurzem eine Bekanntmachung erlassen, die der Priester von dem Altare verliest« (352), und das Volk könnte der Hinrichtung seines Kaisers ruhig zusehen, ohne zu wissen, dass es sich um das eigene Oberhaupt handelt. Auch Buber beschreibt, wie es dem jüdischen Volk seit Mitte des 19. Jahrhunderts an prophetischmessianischen religiösen Anführern gemangelt habe und es daher fast zu einer »Zerstörung des jüdischen Gemeinwesens«28 als solchem gekommen sei. Auch die »Sittenreinheit« (354), mit der die Dörfler der »Weisung und Warnung gehorch[en], die aus alten Zeiten« zu ihnen »herüberreicht« (355), ist nicht vom Geist lebendiger Religion erfüllt, sondern als Dogma erstarrt. Es bietet keine Grundlage für die Einheit des chinesischen Volkes, da sich nicht einmal der Einzelne mit ihm zu identifizieren und einen Bezug zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen herzustellen vermag. In diese Richtung weist ein Textentwurf, in dem von der Unmöglichkeit berichtet wird, sich mit den Einwohnern aus dem Nachbardorf des Erzählers zu verständigen: Eine von dort stammende Flugschrift enthalte veraltete Zeichen und Ausdrücke, weshalb man das darin Geschilderte nicht auf Aktuelles und Reales beziehen könne, so die allgemeine Auffassung der Dörfler. Im kollektiven Imaginären des chinesischen Volkes fehlt eine gemeinsame Gegenwart. Ferner spielt diese Textpassage auf die zionistischen Debatten um die Notwendigkeit einer gemeinsamen jüdischen Sprache an; Buber zählte zu den Befürwortern der Einführung des Neuhebräischen. Bubers Hauptkritikpunkt am Zustand des Judentums liegt darin, dass dieses von der Tat als identitätsstiftendem Wesensmerkmal abgerückt sei. In 26 Buber, Mythos (wie Anm. 25), S. 82. 27 Buber, Geist des Orients (wie Anm. 8), S. 42. 28 Buber, Geist des Orients (wie Anm. 8), S. 40.
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Umkehrung des orientalistischen Diskurses behauptet Buber: »Für den Orientalen ist die Tat [...] die entscheidende Verbindung zwischen Mensch und Gott«29 und dies gelte in besonderem Maße für die Juden, da deren »Volkscharakter« von den »drei Ideen des Judentums – Einheit, Tat, Zukunft«30 bestimmt sei. Diese Ideen führten gegenwärtig lediglich als ›Keime‹ ein »stummes, unterirdisches Leben«31 im tiefen »Grunde des Volksgeistes«;32 insbesondere im europäischen Osten unter den »Dörflern« Galiziens und auf dem »Boden der Ukraine«33 lebe die Hitlahabut, die Inbrunst, mit der sich das Volk, »ursprünglich im Glauben«,34 nach der Einheit mit Gott sehnte, weiter. In der Hitlahabut sei »die Welt des Raumes und der Zeit überwunden«.35 In Kafkas Erzählfragment äußert sich Ähnliches im Desinteresse der Landchinesen an den konkreten zeitlichen und räumlichen Verhältnissen, insbesondere aber in der brennenden Sehnsucht der Dorfleute, sich den Kaiser gegenwärtig zu machen. Das Volk will, so der Erzähler, im Grunde »nichts Besseres«, als einmal »die Berührung [des Kaisertums] zu fühlen und daran zu vergehen« (355). Auch für Buber äußert sich wahre Inbrunst in der Bereitschaft, sich der Idee der Einheit mit Gott ganz ›darzubringen‹.36 Laut Buber gebe es in der »Seele des Juden« einen »Kern, eine Sicherheit, eine Substanz«, nämlich »das Pathos«, mit dem sie »das Schrankenlose zu umfangen«37 versuche. Dieses Pathos ist auch Kafkas chinesischen Dorfbewohnern zu eigen, denn ihr gesamtes Denken »gilt nur dem Kaiser« (349), überhaupt sind sie stets von der »einzige[n] Neugierde« (349) erfüllt, etwas von ihm zu erfahren, und vermeintliche Neuigkeiten erzählen sie »mit glühendem Gesicht« (353) und »fallen« ihrem Nachbarn damit »ins Haus« (353). Der Wendepunkt tritt erst mit der Nachricht von dem Beginn des Mauerbaus ein. Erst jetzt begreifen die Dorfleute, dass sie, wie Buber formuliert, selber einen »Kampf« austragen müssen, nämlich jenen zwischen »dem Gestaltenden und dem Gestaltlosen«.38 Die »Botschaft«, die prägend 29 Buber, Martin: Die Erneuerung des Judentums. In: Ders., Drei Reden (wie Anm. 12), S. 57–102, hier S. 79. 30 Buber, Erneuerung (wie Anm. 29), S. 75. 31 Buber, Erneuerung (wie Anm. 29), S. 96. 32 Buber, Erneuerung (wie Anm. 29), S. 98. 33 Buber, Mystik (wie Anm. 11), S. 110. 34 Buber, Mystik (wie Anm. 11), S. 110. 35 Buber, Martin: Das Leben der Chassidim. In: Ders., Geist (wie Anm. 8), S. 137– 192, hier S. 142. 36 Vgl. Buber, Mystik (wie Anm. 11), S. 99. 37 Buber, Mystik (wie Anm. 11), S. 99 f. 38 Buber, Martin: Das Gestaltende. In: Der Jude 1 (1916) 2, S. 66–72, hier S. 70.
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für das Wirken Moses gewesen sei, laute gerade: »Wir wollen nicht hinaufgehen«;39 vielmehr sollte auf das, was »unmittelbar gegeben war«,40 gestaltend eingewirkt werden. Das Dorfleben der Chinesen vor der Botschaft, die sie als Aufforderung zur einheitsstiftenden Tat begreifen, lässt sich insgesamt als Darstellung nicht des »jüdischen Mittelalters, der Begriff wäre unrechtmäßig, wohl aber der spezifisch jüdischen Epoche eines ›Golus‹«,41 wie Buber formuliert, interpretieren: »Seine [des Judentums] Krankheit im Golus, das ist die Ohnmacht und Entfremdung vom Gestaltenden«,42 die auch dazu geführt habe, dass das »Gemeinschaftsgebilde [...] starr und taub und sinnlos wurde«.43 Allerdings, so Buber 1916 in Der Jude, statte einen »die Ahnung«, dass die gegenwärtige Zeit des auf die jüdische Antike folgenden Golus »zugleich auch der Beginn einer dritten Epoche ist, in der die Gestaltenden wiederkehren«, »mit Kraft und Zuversicht«44 aus. Buber berichtet von einer Sage, die der Baalschem, der Begründer des Chassidismus, erzählt haben soll, und die als Vorlage für die Sage in Kafkas Erzählung in Betracht kommt. Sie handelt von dem Versuch, den König, der die Fürsten zu sich gerufen hat, zu finden und zu sehen: Der Baalschem erzählte: Ein König baute einst einen großen und herrlichen Palast mit zahllosen Gemächern [. . .]: da waren Türen offen nach allen Seiten, von denen führten gewundene Gänge in die Fernen, und da waren wieder Türen und wieder Gänge, und kein Ende stand vor dem verwirrten Auge.45
Dem Sohn des Kaisers gelingt es schließlich, seinen Vater zu sehen – eine Parabel, die auf die Vergegenwärtigung Gottes zielt. Auch der Bote, den der Kaiser in Kafkas Sage entsendet, »zwängt sich durch die Gemächer des innersten Palastes, und gelänge ihm das, nichts wäre gewonnen, die Treppen hinab müsste er sich kämpfen [...]«. (352) In beiden Texten geht es um die (Un-)Möglichkeit der Vergegenwärtigung der zentralen transzendenten Instanz. Buber knüpft daran die Forderung nach aktivem Hervorbringen dieser Instanz durch die Juden im Diesseits – und genau in diesem Sinne lässt sich das Vorhaben des Mauerbaus verstehen.
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Buber, Buber, Buber, Buber, Buber, Buber, Buber,
Gestaltende (wie Anm. 38), S. 70. Gestaltende (wie Anm. 38), S. 71. Gestaltende (wie Anm. 38), S. 72. Gestaltende (wie Anm. 38), S. 71. Gestaltende (wie Anm. 38), S. 71. Gestaltende (wie Anm. 38), S. 72. Chassidim (wie Anm. 35), S. 148.
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Von hier ausgehend lässt sich Kafkas Erzählung als Figuration einer Epoche der jüdischen Wiedergeburt im Zeichen der gestaltenden Tat deuten. In einem früheren, Gegenwartsarbeit betitelten Artikel formulierte Buber, es komme auf eine »Verbesserung und Veredelung unseres Menschenmaterials«46 an, was nur durch ein »exzeptionelles Programm [...] einer grossen und radikalen Volkserziehung« zu verwirklichen sei. Dabei geht es ihm um ein Programm des angewandten Zionismus: auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis aufgebaut, concret, lebensvoll, im schönsten Sinne praktisch [. . .], allen Kräften Bethätigung zuweisend, weit, aber nicht vieldeutig, das Höchste an That verlangend, aber auch das Höchste an Beseligung bietend.47
Nur durch ein solches »Actions-Programm« könnten die Kräfte »der Wiedergeburt vereinigt«48 werden. Man muss vielmehr daran gehen, die jüdische Geistigkeit umzuwerten [. . .] durch die Heranbildung immer neuer Schichten eines kolonisationsthätigen Menschenmaterials, und zugleich einen Plan zu entwerfen, aufgrund dessen es sich, wenn die ›Kolonisation in großem Stile‹ beginnt, bewerkstelligen liesse, dass gerade diese entwickeltsten Schichten zum Krystallisationskern dieser Ansiedlungen werden. Die Heranbildung des Menschenmaterials hängt mit der nationalen Erziehung aufs innigste zusammen [. . .] und wir können keine Ackerbauschule gründen, die nicht wie ein Quell nationaler Verjüngung wäre. Die wesentliche Frage der nationalen Erziehung ist selbstverständlich die Jugenderziehung[, weil] nur jungen und unfertigen, noch richtungslosen Seelen gegenüber ein Werk solcher Umgestaltung möglich ist, und auch hier nur stufenweise und über mehrere Generationen.49
Der Mauerbau in Kafkas Erzählfragment greift fast alle hier genannten Aspekte auf. Der Erzähler berichtet, er habe beim Mauerbau Gelegenheit gehabt, »Menschenmaterial« (355) aus fast allen Provinzen zu beobachten, das bereits größtenteils einer Generation angehörte, die – wie er selbst – von Kindestagen an im Geiste des Mauerbaus erzogen wurde. Man war nicht leichtsinnig ans Werk herangegangen. Fünfzig Jahre vor Beginn des Baues hatte man im ganzen China, das ummauert werden sollte, die Baukunst, insbesondere das Mauerhandwerk zur wichtigsten Wissenschaft erklärt und alles andere nur anerkannt, soweit es damit in Beziehung stand. (339 f.)
Er erinnert sich, wie er mit Gleichaltrigen »als kleine Kinder, kaum unserer Beine sicher« (340), von einem Lehrer angeleitet wurde, »aus Kieselsteinen eine Art Mauer« (340) zu bauen, die der Lehrer dann zerstörte, um die Unzulänglichkeit des Geleisteten deutlich zu machen: »Ein winziger Vor46 47 48 49
Buber, Martin: Gegenwartsarbeit. In: Die Welt 5 (1901) 6, S. 4–5, hier S. 4. Buber, Gegenwartsarbeit (wie Anm. 46), S. 4. Buber, Gegenwartsarbeit (wie Anm. 46), S. 5. Buber, Martin: Ein geistiges Centrum. In: Ost und West 2 (1902) 10, S. 663– 672, hier S. 667.
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fall, aber bezeichnend für den Geist der Zeit« (340). Selbst jene, die vor Beginn des Mauerbaus die Ausbildung durchlaufen hatten und »jahrelang mit ihrem Wissen nichts anzufangen« (340) wussten und sich »im Kopf die großartigsten Baupläne, nutzlos herum[trieben]« und schließlich »in Mengen« »verlotterten« (340), finden bei Buber eine Entsprechung in den »jungen Zionisten«, die in der Anfangszeit der Bewegung »um Arbeit« »baten«.50 »Es wurde doch bei ihnen nichts Ganzes daraus«, obwohl sie »willensstarke und leistungsfähige Menschen waren«, weil sich noch keine richtige Führerschaft herausgebildet hatte, die ihnen nach »Eigenart ihrer Befähigung« das richtige »Thätigkeitsgebiet«51 hätte zuweisen können; so blieben sie »junge Schwärmer«.52 Dies ist in der Zeit, aus der Kafkas Erzähler berichtet, bereits anders geworden: Eine Führerschaft, die in einer absoluten Beobachterposition imaginiert wird, plant und koordiniert in einer für den einzelnen Erbauer uneinsehbaren Weise jedes Detail des Mauerbaus: »Sie [die Führerschaft] kennt uns. Sie, die ungeheure Sorgen wälzt, weiß von uns, kennt unser kleines Gewerbe, sieht alle zusammensitzen in der niedrigen Hütte [...]« (347). Daraus ergibt sich allerdings, dass gerade die in der Verheißung der Vollendung der Mauer angestrebte Einheit vom Einzelnen – so auch von dem Erzähler – nicht gedacht werden kann. Statt der Einheit des Volkswerks, das sich gerade nicht als Kreis schließt, sondern fragmentarisch bleibt, erleben die Erbauer nur eine phantasmatische Einheit als Volk, dessen »Reigen« sich im »Kreislauf des Bluts« schließt, das »süß rollend und doch wiederkehrend« (342) ganz China durchströme. Die von Buber häufig verwendeten Blut-Metaphern sollen allerdings noch eine ganz andere Einheit begründen: »Um aus der Zwiespältigkeit zur Einheit zu kommen, dazu bedarf es der Besinnung auf das, was unser Blut in uns bedeutet [.. .]«,53 nämlich das »Gestaltende«,54 das die Zwiespältigkeit zu überwinden vermag. Die Einheit des Werks bleibt – aus Gründen, die weiter unten erörtert werden – für Kafkas Erzähler ebenso unbegreiflich wie die Einheit des Sinns, der sich im Werk verwirklichen soll. Unbegreiflich bleibt ihm auch, weshalb der Bau, wie die Führerschaft angab, gegen die Nomaden aus dem Norden errichtet werden sollte. Auch dieser Aspekt erweist sich bei näherem Hinsehen als literarische Gestaltung einer buberschen Argumentationslinie: »Einige Gelehrte, die sich mit der Psychologie des 50 51 52 53
Buber, Gegenwartsarbeit (wie Anm. 46), S. 4. Buber, Gegenwartsarbeit (wie Anm. 46), S. 4. Buber, Gegenwartsarbeit (wie Anm. 46), S. 4. Buber, Martin: Das Judentum und die Juden. In: Ders., Drei Reden (wie Anm. 12), S. 11–31, hier S. 25. 54 Buber, Judentum und Juden (wie Anm. 53), S. 25.
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Judentums befasst haben, sprechen mit axiomatischer Sicherheit die Ansicht aus, Israel sei ein Nomadenvolk gewesen und geblieben [...].«55 Dabei habe es selten ein Volk gegeben, das so »von seiner Sesshaftigkeit [...] beseligt war«.56 Von hier aus gedeutet, erweist sich das Erbauen der Mauer zum Schutz gegen die Nomaden, die lediglich eine den »Bücher[n] der Alten« (347) entsprungene Schreckgestalt des Wissensdiskurses waren, als ein Ankämpfen gegen eine Fremdbeschreibung, die auf das Judentum selbst zielt, somit als ein Richtigstellen des eigenen Selbstbildes. Aber auch dieser Zusammenhang erschließt sich dem Erzähler nicht, der sich erneut mit dem Verweis auf die Allwissenheit der Führerschaft zufrieden gibt. Vor allem lässt sich aber die strenge hierarchische Organisation der Arbeiten an einzelnen Mauerabschnitten als ein Durchspielen der von Buber vorgeschlagenen Kristallisation jeder Siedlung um gut Ausgebildete verstehen: »[...] schon zur Leitung von vier Taglöhnern war ein verständiger im Baufach gebildeter Mann nötig, ein Mann der imstande war, bis in die Tiefe des Herzens mitzufühlen um was es hier ging.« (339) Auch schon diese niedrigen Bauführer fühlten »sich mit dem ersten Stein, den sie in den Boden einsenken ließen, dem Bau gewissermaßen verwachsen [...]« (340). Der Erzähler in Beim Bau der chinesischen Mauer berichtet offenkundig von der Arbeit am großen Volks-Bau, den Buber anvisiert, wobei das von ihm nicht verstandene System des Teilbaus der Gründung einzelner Siedlungen entspricht. »Die Bausteine mögen, ja müssen schon jetzt zusammengetragen werden, aber das Haus wird erst dann errichtet werden können, wenn das Volk wieder zum Baumeister geworden ist.«57 »Nur ein ganzes und geeintes Werk« könne »das Judentum erneuern«58 und dadurch die »Seele zu einer Einheit bilden, auf daß sie fähig werde, Einheit zu konzipieren«.59 Das chinesische Dorfleben war von Gottes- und Gesetzesferne, vom Ausbleiben einer Vorstellung von der Einheit des chinesischen Volkes und vom untätigen Warten auf das unmögliche Eintreffen einer Botschaft aus der transzendenten Sphäre des Kaisertums geprägt; beim Mauerbau wird dagegen die Quintessenz dessen, was Buber in seinen Schriften als die eigentliche Berufung des Judentums bezeichnet, nämlich die Arbeit am Volkswerk, als ein Hinwirken auf die Einheit mit Gott als Zusammenführen der Galut Schechina mit dem Wesen Gottes in die Tat umgesetzt:
55 56 57 58 59
Buber, Buber, Buber, Buber, Buber,
Geist des Orients (wie Anm. 8), S. 35 f. Geist des Orients (wie Anm. 8), S. 37. Erneuerung (wie Anm. 29), S. 99. Erneuerung (wie Anm. 29), S. 99. Erneuerung (wie Anm. 29), S. 102.
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In der Unbedingtheit seiner Tat erlebt der Mensch die Gemeinschaft mit Gott [. . .]; für den Wählenden, den sich Entscheidenden, den um sein Ziel Entbrennenden, den Unbedingten ist er das Nächste, das Vertrauteste, das er selber handelnd ewig neu verwirklicht und erlebt, und eben darin das Geheimnis der Geheimnisse. Ob Gott ›transzendent‹ oder ›immanent‹ ist, ist nicht eine Sache Gottes; es ist eine Sache des Menschen.60
Das Vorgehen beim Mauerbau entspricht auf den ersten Blick den Anforderungen, die Buber an die Arbeit am ›Volkswerk‹ stellt. Es wird angeleitet von einer göttlich inspirierten Führerschaft, die sich in Bubers Reihe der wahrhaft berufenen, auf die Einheit des Volkes in der Einheit mit Gott hinwirkenden prophetisch-messianischen Anführer des jüdischen Volkes einfügen lässt. So beschreibt er Rabbi Nachman als einen »Führer«, der »die Seele des Volkes«61 sei und die Juden, die allerdings in seiner Zeit noch nicht »stark und rein genug«62 waren, »erlösen«63 wollte. Er selbst habe zwar »sein Werk nicht gewirkt«, aber das Schicksal des Judentums könne sich nur verwirklichen, wenn »sein Pathos« zur »Tat«64 werde. Von hier aus lässt sich die »Meinung« des Erzählers deuten: »Vielmehr bestand die Führerschaft wohl seit jeher und der Beschluß des Mauerbaus ebenfalls« (348) – nun sei aber die Zeit, »am Volkswerk zu arbeiten« (342), tatsächlich gekommen. In der »Stube der Führerschaft [...] kreisten wohl alle menschlichen Gedanken und Wünsche und in Gegenkreisen alle menschlichen Ziele und Erfüllungen, durch das Fenster aber fiel der Abglanz der göttlichen Welten auf die Pläne zeichnenden Hände der Führerschaft«. (345) Obgleich es der Führerschaft gelungen ist, die ›Volkskraft‹ zu bündeln, musste die Mauer letztlich doch in ihrem Zustand als ›Stückwerk‹ für »beendet« (337) erklärt werden – zumindest aus Sicht des Erzählers, der sie sich nicht als Ganzes denken kann. Dieser Unfähigkeit der Erbauer (denn der Erzähler »rede[t] hier wohl im Namen vieler«, 344), diese Einheit zu denken, wird im folgenden Abschnitt nachgegangen. Sie betrifft nicht allein die (Un-)Möglichkeit der Vergegenwärtigung einheitsstiftender Transzendenz, sondern auch den Selbstentwurf des Erzählers, der sich wie seine Zeitgenossen »im Nachbuchstabieren der Anordnungen der obersten Führerschaft [...] selbst kennengelernt und gefunden« (344) hat. Die spezifische Leistung von Kafkas ästhetischer Kommentierung lässt sich mit Luhmanns Konzept der Beobachtung als Zwei-Seiten-Form beschreiben. 60 Buber, Religiosität (wie Anm. 19), S. 61 f. 61 Buber, Martin: Rabbi Nachman von Bratzlaw. In: Ders., Geist (wie Anm. 8), S. 118–136, hier S. 119. 62 Buber, Nachman (wie Anm. 61), S. 136. 63 Buber, Nachman (wie Anm. 61), S. 118. 64 Buber, Nachman (wie Anm. 61), S. 118.
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Paradoxe Beobachtungen in einem paradoxen Inklusionsregime Niklas Luhmann hat vorgeschlagen, Texte als Formen-Arrangements zu betrachten, die als ganze Kunstwerke Metaformen bilden. Der Terminus Form wird von Luhmann im Anschluss an John Spencer Browns Laws of Form 65 verwendet. In systemtheoretischer Terminologie konstituiert jede Beobachtung eine Zwei-Seiten-Form, deren eine (Innenseite) etwas unter Ausschluss der anderen Seite (Außenseite) zeigt. Die Formen entstehen im Kunstwerk – wie alle Formen in sozialen und psychischen Systemen – im Medium Sinn:66 Das Kunstwerk baut als kontingentes Artefakt eigene Ordnungszwänge auf, die aber aufgrund der verwendeten Unterscheidungen geordnet und deswegen verstehbar sein müssen.67 Jede Beobachtung bekommt (als formallogische Möglichkeitsbedingung) zweierlei nicht in den Blick. Sie ist »immer mit einer doppelten Ausgrenzung verbunden. Ausgegrenzt wird der unmarked space auf der anderen Seite der Unterscheidung, das jeweils Nichtbezeichnete. Und ausgegrenzt wird auch die Einheit der Operation, die eine Unterscheidung verwendet [. ..].«68 Eine Form entsteht also, indem ein Beobachter eine Grenze zieht, wobei das Umgrenzte sichtbar und das Ausgegrenzte – ebenso wie der Standpunkt, von dem die Beobachtung ausgeht und damit die Einheit der gerade verwendeten Unterscheidung – unsichtbar bleibt. Literarische Texte sind immer Beobachtungen (mindestens) zweiter Ordnung, denn von der Ebene der Gesamttextlogik aus betrachtet werden Beobachtungen von Figuren oder Ich-Instanzen beobachtet. Dadurch wird alles »modalisiert«, was gegeben zu sein scheint, und es steht unter den Vorzeichen des »Auch-anders-möglich-Seins«.69 Bubers Zionismus-Diskurs konstruiert eine Außenseite der Form, also einen Exklusionsbereich, in dem all das verortet wird, was nicht seiner Definition des ›jüdischen Volkscharakters‹ entspricht – und dazu gehören auch assimilierte Juden und nicht primär religiös denkende Zionisten wie Theodor Herzl. Diese ausgrenzende Unterscheidung ist in seinem Diskurs nicht beobachtbar. Im literarischen Text Kafkas ist sie dies jedoch durchaus, was damit zusammenhängt, dass sich die mediale Verfasstheit der Literatur von den unmittelbar auf 65 Brown, G. Spencer: Laws of Form. 2. Aufl. New York 1972. 66 Zu Sinn als einem Grundbegriff Niklas Luhmanns vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Frankfurt a. M. 1987, S. 92–147. 67 ›Verstehbar‹ bedeutet hier nicht ›vollständig verständlich‹, sondern ›eine (unabschließbare) verstehende Auseinandersetzung‹ herausfordernd. 68 Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997, S. 399 (Herv. im Original; I.-K. P. / D. Z.). 69 Luhmann, Die Kunst (wie Anm. 68), S. 112.
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vollständige Beobachtung des ›realen Selbstentwurfs‹ zielenden Formen im Medium Sinn grundlegend unterscheidet. Im Medium der Kunst ist es möglich, die Beobachtungen im Diskurs zum Gegenstand von Beobachtungen zweiter Ordnung zu machen und die verwendeten Unterscheidungen in den Blick zu bekommen – und damit das durch diese Unterscheidungen Exkludierte wie auch das Inkludierte. So kann die Einheit der Form Inklusion / Exklusion in ihrer konstitutiven Funktion für den Selbstentwurf erfasst und gezeigt werden, dass sie im Zentrum der Gründungsaporien des Selbst, nämlich in dessen blindem Fleck liegt. Das heißt selbstverständlich nicht, dass Literatur ›absolute Beobachtung‹ ermöglicht. Vielmehr verhält es sich laut Luhmann wie folgt: Die Schließung des Kunstwerks erfolgt also durch Wiederinanspruchnahme des schon Bestimmten als andere Seite anderer Unterscheidungen. Das führt zu einer [. . .] zirkulären Sinnanreicherung dessen, was schon festliegt. Es kann dann herauskommen, daß alles Bestimmte in mehreren Unterscheidungen eine Rolle spielt, an mehreren Formen zugleich mitwirkt, also multifunktional und damit unauswechselbar dasteht. So entsteht dann der Gesamteindruck, daß das Kunstwerk, obwohl hergestellt, obwohl individuell, obwohl nicht seinsnotwendig, sondern kontingent, notwendig so ist, wie es ist. Es kann sich, könnte man sagen, gegen die eigene Kontingenz durchsetzen.70
Das Kunstwerk zeigt also etwas, was nur dieses Kunstwerk zeigen kann, weil es eben ein einmaliges Formenensemble und damit eine einmalige Meta-Form ist. Dieses aufgezeigte Etwas ist die Fremdreferenz des Kunstwerks, wobei jeder Leser dabei prinzipiell etwas anderes in den Blick bekommen kann.71 Die Ordnungszwänge der Erzählung geben die Unterscheidungen in Bubers Diskurs als solche und in ihrer Kontingenz zu beobachten; die dortigen Paradoxien werden sichtbar gemacht, nicht aber aufgelöst. Von diesem Standpunkt aus und in diesem Sinne kommentiert Kafkas Erzählfragment Bubers diskursives Versprechen einer Zwei-Seiten-Form, deren Inklusionsseite mit dem jüdischen Selbstentwurf identisch zu sein beansprucht. Bubers Konzept beruht darauf, dass die Unterscheidung von Inklusion /Exklusion und der damit verbundene blinde Fleck im Selbstentwurf nicht beobachtet bzw. ausgeblendet werden. Zur Invisibilisierung der 70 Luhmann, Die Kunst (wie Anm. 68), S. 193. 71 Inwieweit dieser Vorschlag, von zirkulärer Sinnanreicherung zu sprechen, Berührungspunkte mit hermeneutischen Herangehensweisen aufweist, müssten weitere Untersuchungen zeigen. Hans Ulrich Gumbrecht meint, »man könnte [. . .] postulieren, daß die Systemtheorie, wann immer sie von Sinn spricht, Interpretation bereits einschließt«. Gumbrecht, Hans Ulrich: Interpretation versus Verstehen von Systemen. In: De Berg, Henk / Prangel, Matthias (Hg.): Differenzen. Tübingen 1995, S. 171–185, hier S. 173.
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Paradoxie muss (bei Buber wie auch im Kafka-Text) eine transzendente Autorität angenommen werden. Durch die Dekonstruktion dieser Transzendenz werden in Kafkas Erzählung Bubers verdeckte Paradoxien revisibilisiert. Die Beobachtungssituation in Beim Bau der chinesischen Mauer stellt sich wie folgt dar: Der Text als Kunstwerk macht die Beobachtungen des Ich-Erzählers beobachtbar und arrangiert diese strukturanalog zu den Unterscheidungen Martin Bubers. Die Welt in Kafkas Erzählung ist eine ästhetische und verweist nicht unmittelbar auf Reales, sondern in erster Linie auf die eigene Binnenlogik, außerdem aber auch auf Bubers Texte, die ihrerseits den Anspruch erheben, Möglichkeiten in der realen Welt zu bezeichnen. Die ästhetischen Ordnungszwänge in Kafkas Text-Welt sind so arrangiert, dass sie offen legen, wie die von Buber entwickelten Ideen an den Ordnungszwängen des Mediums scheitern, in dem diese Ideen formuliert sind: Sie werden als Paradoxien der Selbstbegründung enggeführt. Der Text kann also als verfremdende Reformulierung der buberschen Rhetorik verstanden werden, die zur Kenntlichkeit entstellt wird. Er stellt die erzählte Welt als Welt aus Sicht eines Buber-Anhängers dar. Es wird durchgespielt, wie jemand, der »die oberste Prüfung der untersten Schule abgelegt« (340) hat, daran scheitert, zu einem plausiblen Weltbezug und Selbstentwurf zu gelangen. Das Erzählfragment gibt damit jene Paradoxien zu beobachten, die in Bubers religiös-politischer Idee vom »absoluten Wert der Tat«72 angelegt sind. Der Erzähler versucht von den Ereignissen und den Gründen des Mauerbaus Bericht zu erstatten. Als unhintergehbar setzt er dabei jedoch die als transzendent imaginierte Führerschaft. Letztlich wird der Erzähler bei seinen Versuchen, den Sinn des Mauerbaus zu beobachten, immer wieder auf sein Vertrauen in diese Führerschaft zurückgeworfen: »Warum? Frage die Führerschaft. Sie kennt uns.« (347) Dies hat zweierlei zur Folge: Zum einen führt er, sobald er in seinen eigenen Beobachtungen auf Unverständliches stößt, das auf »[d]ie Grenzen, die meine Denkfähigkeit mir setzt« (346) zurück und zum andern stellt er jede mögliche Erklärung, die er selbst findet, unter den Verdacht, doch nicht die ganze Wahrheit zu erfassen: »Dadurch wird das System des Teilbaus verständlich, aber es hatte doch wohl noch andere Gründe.« (342) Der Erzähler ist sich dessen bewusst, dass die Mauer-Arbeiter (und auch er selbst) sich »eigentlich erst im Nachbuchstabieren der Anordnungen der obersten Führerschaft [...] selbst kennengelernt und gefunden« (344) haben und dass weder »unsere Schulweisheit noch unser Menschenverstand auch 72 Buber, Religiosität (wie Anm. 19), S. 28.
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nur für das kleinste Amt, das wir innerhalb des großen Ganzen hatten, ausgereicht hätte«. (344 f.) Ebenso wie der Erzähler sich selbst durch das ›Nachbuchstabieren‹ kennengelernt hat, will Buber, dass sich das Judentum durch das ›Nachbuchstabieren‹ der richtigen Autoritäten kennenlernt: Er nennt vor allem die alttestamentarischen Propheten, das Urchristentum, Lurja, den Baalshem und den Rabbi Nachman. Er beruft sich dabei zwar auf eine Innerlichkeit, die als religiöse Erfahrung gegenwärtig werden könnte, aber dies ist nur möglich, sofern den Autoritäten ein Vertrauensvorschub geleistet wird: Auf diesem offenbaren und latenten Orientalismus, diesem unter allen Einflüssen erhaltenen Seelengrund des Juden baut sich mein Glaube an eine neue geistigreligiöse Schöpfung des Judentums auf. In der Abgelöstheit und Aufgelöstheit seiner abendländischen Existenz kann ihm freilich nur Stückwerk geraten. Kühne Wagnisse des Geistes können übernommen werden, starre Worte des Geistes können geprägt werden; religiöse Erregungen können aus dem wetterschweren Dunkel des Volksschicksals aufblitzen; aber eine große Schöpfung, die sie alle in einer Synthese vereinigt, die die Kontinuität des jüdischen Werdens wiederaufnimmt und dem unsterblichen jüdischen Einheitstrieb wieder adäquaten Ausdruck gewährt, wird nur erstehen können, wenn die Kontinuität des palästinensischen Lebens wiederaufgenommen wird, aus dem einst die großen Konzeptionen dieses Einheitstriebs erwuchsen.73
Buber stellt etwas in Aussicht, was nicht im Voraus begriffen, sondern nur im Vollzug, in der Tat, erfahren werden kann. Steht die Sache so, kann jedoch auch ein möglicher Irrtum nie erkannt werden, weil die fehlende Einsicht in die Wahrheit und Richtigkeit eines eben noch nicht vorhandenen Ganzen nur das Wissen von der eigenen Unwissenheit bestärkt. Wenn sich die Tat, um die es ja gehen soll, wie die Mauer als Stückwerk herausstellt, kann davon ausgegangen werden, »daß die Führerschaft den Teilbau beabsichtigte«. (345) Selbst wenn das von Buber beschriebene Streben »[n]ach Einheit im einzelnen Menschen[,] [n]ach Einheit zwischen den Teilen des Volkes, zwischen den Völkern, zwischen Menschheit und allem Lebendigen[,] [n]ach Einheit zwischen Gott und der Welt«74 in der subjektiven Sicht des Erzählers eingelöst wäre, könnte er immer noch nicht auf das Vertrauen in die Transzendenz verzichten, denn wer sollte dafür bürgen, dass man tatsächlich das gefunden hat, wonach man sucht, wenn nicht jene Instanz, die einen auf die Suche geschickt hat und das Hervorgebrachte als das Richtige identifiziert. Dieses Problem tritt in Kafkas Text an der Stelle zutage, an der der Erzähler ausruft: »Einheit! Einheit! Brust an Brust, ein Reigen des Volkes, Blut, nicht mehr eingesperrt im kärglichen Kreislauf des Körpers, sondern süß rollend und doch wiederkehrend durch das unendliche China.« (342) Dies ist 73 Buber, Geist des Orients (wie Anm. 8), S. 45 f. 74 Buber, Judentum und Menschheit (wie Anm. 12), S. 44.
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das Paradox, das Kafkas Text aufzeigt: Buber geht es um Innerlichkeit, um private Religiosität, die allererst gegenwärtig werden kann durch die unbedingte Tat, die die Einheit mit der Welt und mit Gott stiftet. Um an diese Möglichkeit zu glauben, ist allerdings gerade nicht ein Vertrauen auf Innerlichkeit notwendig, sondern ein Vertrauen darauf, dass die von Buber angeführten Autoritäten im Recht sind und den richtigen Weg weisen. Die absolute Präsenz Gottes kann nicht über die Zugehörigkeit zum ›Volk‹ und die Teilhabe am ›Volkscharakter‹ eingelöst werden; dieses Konzept Bubers erkennt Kafka als unmögliche Inklusionsbedingung in die jüdische Selbstreferenz. Der Erzähler ist kategorial aus dem ausgeschlossen, worin er sich zu inkludieren hätte. Im Text findet dieses Paradox seine Entsprechung darin, dass eine Beobachterposition (die der Führerschaft) vom Erzähler beobachtet wird, von der nichts gewusst werden kann, außer dass ihre Anweisungen richtig sind. Dies hat zweierlei zur Folge: Erstens wird dadurch jede eigene Beobachtung, also jedes eigene innerliche Wissen zu einem abhängigen Wissen, das nur als richtig erwiesen werden kann, wenn diese Richtigkeit von der Transzendenz bestätigt wird, womit dann auch jede Tat nur noch eine bedingte wäre; und zweitens wäre ein rationaler Zugang zu Gründen und Erklärungen – wie die nutzlosen Beobachtungsversuche des Erzählers zeigen – unmöglich. Dies wird im Text vor allem in der Bewertung der Vorstellung vom Pekinger Kaisertum, die in seinem Heimatdorf herrscht, durch den Erzähler deutlich: Eine Tugend ist also diese Auffassung wohl nicht. Umso auffälliger ist es, daß gerade diese Schwäche eines der wichtigsten Einigungsmittel unseres Volkes zu sein scheint, ja wenn man sich im Ausdruck soweit vorwagen darf, geradezu der Boden auf dem wir leben. Hier einen Tadel ausführlich begründen, heißt nicht an unserem Gewissen, sondern was viel ärger ist an unseren Beinen rütteln. Und darum will ich in der Untersuchung dieser Frage vorderhand nicht weiter gehen. (356)
Hier überblendet der Text das, was er insgesamt zu beobachten gibt, mit der Beobachtung des Erzählers. Wie sollte ein Tadel im Heimatdorf des Erzählers etwas ausrichten können, wenn dort sowieso keine Nachricht (bis auf die vom Mauerbau) geglaubt wird? Warum sollte das im gesamten Text bis dahin Formulierte nicht dieselbe Wirkung haben? Und vor allem: Warum verwendet der Erzähler das Pronomen in der ersten Person, warum sollte die Entlarvung eines Irrtums, über den er sich schon im Klaren ist, auch an seinen Beinen rütteln? Der Text zeigt, dass der Erzähler hier Halt machen muss, weil die Unklarheit, der die Chinesen aufsitzen, strukturanalog ist mit dem Paradox, das er selbst konstruiert hat – und auch deckungsgleich mit jenem, das in Bubers Vorstellung von Innerlichkeit steckt: die unmögliche Beobachtung einer absoluten Beobachterposition als Inklusionsbedingung in den indi-
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viduellen und kollektiven Selbstentwurf. Die Chinesen in der Provinz – so erzählt die Sage – glauben zu wissen, dass eine Botschaft an sie unterwegs ist, von einem Ort, von dem aus niemals eine Botschaft ankommen kann. Dieses Wissen ist unmöglich. Der Erzähler glaubt zu wissen, dass seine Führerschaft ein absolutes Wissen hat, weil diese ihm die Information hat zuteilwerden lassen. Das ist, wenn man daran glaubt, tautologisch, und wenn man nicht daran glaubt, paradox. Martin Buber kritisiert Ersteres als falsche Religion und propagiert Letzteres als Inklusionsbedingung der wahren Religiosität. Die Transzendenz der Führerschaft anzuerkennen wird als Inklusionsbedingung für die Teilhabe an der Gesellschaft des Erzählers ausgewiesen. Es gibt gar keine andere Möglichkeit für den Erzähler, weil allein von der Führerschaft aus die Verständlichkeit der Welt – über die vom Erzähler bemerkten Paradoxien – abgeleitet wird. In gleicher Weise beschreibt Buber das Judentum, indem er die Anerkennung seiner Transzendenzvorstellungen als Inklusionsbedingungen zu installieren versucht, wenn er im Zuge seiner Auslegung der jüdischen Geschichte festlegen will, wer wirklich jüdische ›Religiosität‹ besitzt und wer lediglich an geistlos erstarrte ›Religion‹ glaubt. Dies ist noch insofern unproblematisch, als es lediglich um die Auslegungshoheit über die ›wahre‹ Religion geht. Kafkas Text übt jedoch keine allgemeine Kritik an der Religion, und auch nicht an dem Zionismus schlechthin, sondern an Bubers spezifischer Verknüpfung von Religion und Politik. Buber schlägt ein zionistisches Projekt vor, bei dem sich zu entscheiden hat, »[o]b Gott ›transzendent‹ oder ›immanent‹ ist«; dies sei »nicht eine Sache Gottes«, sondern »eine Sache des Menschen«.75 Damit wird Politik von unbeobachtbaren Beobachtungen abhängig. Gleiches gilt für den damit verbundenen kollektiven Selbstentwurf, der auf tatsächliche Präsenz und Erfahrbarkeit der All-Einheit zielt. Der Text gibt also ein paradoxes Inklusions-/Exklusionsregime zu beobachten: Die Selbstbegründung im Zuge einer ›absoluten politischen Tat‹ ist unmöglich. Kafkas Beobachtungen an Bubers Texten machen dies deutlich, indem sie den Widerspruch zwischen diskursiver Herstellung des Einheitsgedankens durch Erziehung und Wissenschaften, die allein auf den Mauerbau ausgerichtet sind, einerseits, und der Erwartung absoluter, voraussetzungsloser und unmittelbarer Erfahrung der All-Einheit andererseits herausstellen. Diese Paradoxie versucht Buber zu überwinden, indem er Führer-Figuren als zuverlässige Vermittler der Transzendenz einsetzt. Damit führt er die Paradoxie jedoch lediglich wieder ein, als ›re-entry‹ auf der Innenseite des Selbstentwurfs. Genau daran übt Kafkas Text eine besonders 75 Buber, Religiosität (wie Anm. 19), S. 62.
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pointierte Kritik: Der Erzähler kann lediglich einen schwer zu fassenden ›Abglanz‹ des Göttlichen auf den Händen der Führerschaft imaginieren, und hinzu kommt, dass ihn (wie alle Erbauer) eine unüberbrückbare Distanz von der Führerschaft trennt. Fazit Kafkas Erzählfragment greift die Metaphern und Bilder Bubers bis in die wörtlichen Formulierungen hinein auf und arrangiert die in seiner Beschreibung des ›wahren‹ Judentums verdeckten Probleme individueller und kollektiver Selbstverortung neu, sodass sie als offensichtliche Paradoxien exponiert werden. Dies geschieht vor allem im Zuge der Engführung ihrer politischen und ihrer auf Transzendenz bezogenen Dimensionen. Luhmanns Konzepte der Beobachtung als Zwei-Seiten-Form und der Kunst als Beobachtung zweiter Ordnung sind geeignet, um herauszuarbeiten, wie Kafka das von Buber entworfene Inklusions-/Exklusionsregime einer ›jüdischen Selbstreferenz‹ kommentiert. Beim Bau der chinesischen Mauer kann als Ablehnung von Bubers Kurzschluss von Religiosität und Politik gedeutet werden.76 Kafka problematisiert das von Buber entworfene paradoxe Inklusionsregime, das den Sinn der Selbstreferenz zum Un-Sinn werden lässt; die angestrebte All-Einheit kann nur Fragment bleiben, der Erzähler kann sie sich (wie alle Erbauer) nicht vergegenwärtigen. In diesem Sinne ist auch Kafkas nach den ›chinesischen Erzählungen‹ niedergeschriebene, eingangs erwähnte Oktavheft-Notiz: »Hoffnung, daß die Fortsetzung gefunden werden könnte besteht nicht«77 zu lesen. 76 Ob und inwieweit Kafka anderen Formen des Zionismus gegenüber offen war, ist eine in der Forschung viel diskutierte Frage. Man kann sagen, dass Kafka dem politischen Gedanken der Gründung eines jüdischen Staats grundsätzlich positiv gegenüberstand. Zu Kafkas persönlicher Lebensplanung wäre zu sagen, dass Else Bergmann 1923 versuchte, ihn zu überzeugen, nach Palästina auszuwandern, wo sie bereits seit 1919 lebte. In häufig zitierten Briefpassagen vergleicht Kafka eine Ostseereise mit einer »kleine[n] Vorprobe zur größeren Reise« (Brief Kafkas an Else Bergmann vom 13. Juli 1923. In: Kafka, Briefe [wie Anm. 15], S. 436), aber eine Auswanderungsabsicht Kafkas kann daraus nur bedingt abgeleitet werden. Kafka formuliert wenige Tage später eine Absage an Else Bergmann, in der er von der Unmöglichkeit seiner Abreise spricht: »Ich weiß, daß ich jetzt ganz gewiß nicht fahren werde [. . .]. [E]s wäre keine Palästinafahrt geworden, sondern im geistigen Sinne etwas wie eine Amerikafahrt eines Kassierers, der viel Geld veruntreut hat, und daß die Fahrt mit Ihnen gemacht worden wäre, hätte die geistige Kriminalität des Falles noch sehr erhöht.« (Brief Kafkas vom Juli 1923 an Else Bergmann. In: Kafka, Briefe [wie Anm. 15], S. 437 f.). 77 Kafka, Schriften Tagebücher (wie Anm. 1), S. 361.
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Daran lässt sich die Beobachtung knüpfen, dass Kafkas Erzählung ein selbstreflexives Spiel mit dem Verstehen betreibt. Der Leser sieht sich, solange er an dem Anspruch der Sinnhaftigkeit des Textes festhält, in derselben Lage wie der Erzähler, der die Mauer als Ganzes zu verstehen versucht. Wie der Erzähler sieht sich auch der Leser auf Fragmente zurückgeworfen und muss sich eingestehen, dass er das Sinn-Ganze, das der Erzähler verfehlt, ebenfalls nicht in den Blick bekommt. Die Pointe liegt darin, dass der Text auch durch seine fragmentarisch-unzuverlässige Struktur Martin Bubers Versprechen der Schau einer All-Einheit als unmöglich markiert und dem Leser gegenüber deutlich macht, dass es nicht um eine Beobachtung dessen geht, was Bubers Konzept nicht zu zeigen vermag, sondern um ein Aufzeigen seines blinden Flecks als solchem. Die Inklusion ins ›jüdische Volk‹ ist bei Buber gekoppelt an das Aufsichnehmen eines uneingestandenen, unauflösbaren Widerspruchs zwischen politischer Kontingenz und religiöser Gewissheit. Vor diesem Widerspruch die Augen zu verschließen, ist Kafka nicht bereit. Der in literaturwissenschaftlicher Hinsicht wichtige Unterschied liegt aber im unterschiedlichen Umgang mit Inklusion/Exklusion im religiösen und im ästhetischen Diskurs. Während Bubers religiöser Diskurs, um plausibel zu bleiben, eine Unterscheidung zwischen Innen und Außen durchführen muss, ohne sie zu beobachten (was unmöglich ist), lebt Kafkas ästhetischer Diskurs davon, dass er mehrfach re-entries dieser Unterscheidung auf der Innenseite der Form vorführt und die Paradoxien dieser Operation ausstellt. Alle Texte Kafkas erzählen von Inklusion/Exklusion und führen sie an ihren Ursprungsort, den blinden Fleck der Selbstbeobachtung, zurück.
Erinnerndes Vergessen. Zur Memoria des Porrajmos Herbert Uerlings
1. Inklusion/Exklusion und kollektives Gedächtnis Das kollektive Gedächtnis entsteht durch Inklusions- und Exklusionsprozesse. Sie vollziehen sich in unterschiedlicher Form auf drei Ebenen: (1) als Erinnern / Vergessen in den verschiedenen Gedächtnistypen, (2) als Formierung zunächst subkultureller Begleitsemantiken marginalisierter Gruppen gegenüber den Leitsemantiken auf der Ebene der Erinnerungskonkurrenzen und schließlich (3) als Einschluss und Ausschluss auf der Ebene konkreter Erinnerungsräume. Von (1) Erinnern und Vergessen als den beiden Grundoperationen des kollektiven Gedächtnisses spricht die am Modell des Individuums gebildete Memoria-Forschung. Sie kann sich dabei auf Nietzsche und mit ihm auf eine bis in die Antike zurückreichende Tradition berufen; plausibel ist das aber nur, wenn man dabei bedenkt, dass spätestens in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften das kollektive Gedächtnis seine Homogenität verloren hat und auch nicht mehr angemessen als Verlängerung des individuellen und des kommunikativen Gedächtnisses vorstellbar ist.1 An die Stelle einer weitgehenden Übereinstimmung von individuellem, kommunikativem und kollektivem Gedächtnis ist eine ausgeprägte Differenzierung, an die Stelle der Nachahmung sind Abweichung und Umdeutung getreten, Statik wird durch Performanz abgelöst. Das kollektive Gedächtnis wird von Pluralität, Mehrdeutigkeit, medialen Eigenlogiken und Expertenkulturen dominiert. Über das, was inkludiert oder exkludiert wird, entscheidet die kommunikative Anschlussfähigkeit, und diese muss in einem immer unübersichtlicher werdenden Feld erst diskursiv hergestellt werden. Im Bereich des kollektiven Gedächtnisses geschieht dies weitgehend mittels Antagonismen wie Legitimation/Delegitimation, Offizielles Gedächtnis / Gegen-Gedächtnis sowie sozialer Distinktion. An den Schnittstellen entstehen (2) Begleitsemantiken, ›inoffizielle‹ Diskurse, die gesellschaftlich marginalisierte oder ausgegrenzte Erfahrungen von minoritären Gruppen 1 Zur Funktion des Vergessens und der Rolle der Kommunikationsmedien in einer Perspektive langer Dauer vgl. Esposito, Elena: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2002.
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als Teil einer Kultur oder als eigenständige Kultur in Erinnerung rufen wollen. Um dem in theoretischer Hinsicht Rechnung zu tragen, muss man davon ausgehen, dass es neben Funktionssystemen andere Systemtypen gibt, namentlich die sozialen Bewegungen, die die Grenzen der Funktionssysteme überschreiten und sich in diesen als quer laufende Subkulturen etablieren können. Sie transportieren Begleitsemantiken mit entsprechenden Problemstellungen, Identitätsvorstellungen und Geschichtsbildern in mehrere Funktionssysteme hinein und lösen dort Innovationen und Kontroversen aus.2 Das manifeste Ergebnis dieser Prozesse sind (3) Erinnerungsräume. Sie organisieren die Grenzen zwischen Inklusion und Exklusion, d. h. zwischen Erinnern und Vergessen, Privilegierung und Stigmatisierung, Legitimierung/Delegitimierung, Ausschluss und Zugehörigkeit, und zu diesem Zweck bedienen sie sich des ganzen Repertoires an Mitteln der (bildlichen, schriftlichen, oralen etc.) Repräsentation, um es zu erweitern oder zu verengen, fortzuschreiben oder umzucodieren, neue Narrative zu erfinden oder sich in alte einzuschreiben oder Monologizität durch Mehrstimmigkeit, Redevielfalt und Heterotopien zu ersetzen. Erinnerungsräume sind Symbole des kulturellen Gedächtnisses. An dieser, an die antike Toposlehre anknüpfende und sie erweiternde Definition ist gegen reduktionistische Verengungen auf physische Orte wie Denkmäler oder historische Bauten festzuhalten, und zwar durchaus im Sinne der jüngeren Memoria-Forschung: Erinnerungsräume können, das zeigte bereits die Bandbreite der von Nora und Assmann untersuchten Objekte, ganz unterschiedliche Formen annehmen: Geographische Orte, Gebäude, Denkmäler, mythische Gestalten, Fahnen, Rituale, Ereignisse, Institutionen, Begriffe, Texte, Filme, Theater, bildende Kunst – alles kann zum Erinnerungsraum werden.3 Die besondere Affinität zwischen kollektivem Gedächtnis und Raumsymbolik machte sich bekanntlich bereits die antike Mnemotechnik zunutze, die im Wesentlichen räumlich strukturiert war. Vor allem aber hat der ›spatial turn‹ in den Kulturwissenschaften dazu geführt, ›Raum‹ primär als Organisationsform kulturellen Wissens, als kulturelle Größe und als Ergebnis sozialer Beziehungen in den Blick zu nehmen und die Frage, ob es sich dabei zugleich um geographische und physikalische Räume oder um mediale Raumverdichtungen unterschiedlichen Typs handelt, als sekun2 Vgl. Holl, Mirjam-Kerstin: Semantik und soziales Gedächtnis. Die Systemtheorie Niklas Luhmanns und die Gedächtnistheorie von Aleida und Jan Assmann. Würzburg 2003, hier, S. 99–117. 3 Vgl. Nora, Pierre (Hg.): Les lieux de me´moire. 7 Bde. Paris 1984–1992; und Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999.
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där zu behandeln. Gerade die Raumsymbolik des kulturellen Gedächtnisses ist evidentermaßen eng mit der Logik von Einschluss und Ausschluss und ihren Zwischenformen verknüpft. Die Arbeit am kulturellen Gedächtnis, der Kampf um die Anschlussfähigkeit der Begleitsemantiken minoritärer Gruppen oder Positionen, richtet sich in erster Linie darauf, Exklusionsprozesse durch emphatische, eben memoriale Inklusion zu revidieren. Das wichtigste, komplexeste und folgenreichste Beispiel dafür ist die Anerkennung einer durch die Erinnerungsgemeinschaft begangenen Totalexklusion in Form eines Völkermords. Zur Semantik solch totaler Exklusionen gehört eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft in Form asymmetrischer Gegenbegriffe, d. h. jener Begriffe, die sich »auf ungleiche Weise konträr«4 gegenüberstehen, weil in ihnen der positiven Selbstbeschreibung die negative Fremdzuweisung entgegengesetzt wird. Kulturwissenschaftliche Analysen von Semantiken des kulturellen Gedächtnisses müssen ihr Augenmerk daher vor allem auf die Frage richten, worin die negative Fremdzuweisung bestand und was mit diesem semantischen Komplex, der zum Ausschlusskriterium wurde, in der Memoria geschieht. Es ist insbesondere danach zu fragen, ob sich in ihr die Ausschlussprozesse – und sei es in verschobener oder versteckter Form – wiederholen. Solche Effekte sind erwartbar. Wären sie es nicht, bedürfte es keiner Arbeit am kollektiven Gedächtnis. Zudem ist dieses ausgesprochen träge, nicht nur weil es sich aus zahlreichen komplexen und z. T. langwierigen Kommunikationen zusammensetzt, sondern auch weil – und insbesondere dann, wenn – mit der Frage nach dem Gegenstand der Erinnerung die Selbstdeutung und die Extension des Kollektivs, das ›sich‹ erinnert, auf dem Spiel stehen. Letzteres ist bei der Erinnerung an einen Völkermord in eminenter Weise der Fall. Erwartbar sind daher Formen ›erinnernden Vergessens‹, d. h. die Wiederkehr der negativen Fremdbezeichnung. Was vergessen werden soll, kehrt wieder, weil es von dem Erinnerten nicht wirklich getrennt wurde, sondern nach wie vor mit ihm verbunden ist und, so lässt sich die fortgesetzte Wirksamkeit deuten, für die Selbstbeschreibung der Gesellschaft funktional ist. Aus der Psychoanalyse ist diese Figur inkludierender Exklusion als Wiederkehr des Verdrängten in einer ganzen Bandbreite von Erscheinungsformen bekannt – von der Fehlleistung bis zum Unheimlichen. Der Vergleich scheint sich freilich zu verbieten, geht es doch im individualpsychologischen Modell um Prozesse, die durch ihre Bewusstmachung 4 Koselleck, Reinhart: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Weinrich, Harald (Hg.): Positionen der Negativität. München 1975, S. 65–104, hier S. 66.
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aufgelöst werden sollen, während die Inklusion eines Völkermords ins kulturelle Gedächtnis nur in Verbindung mit einem Höchstmaß an (Selbst-) Aufklärung möglich, ja mit diesem identisch zu sein scheint. Die folgende Untersuchung ist der Memoria des Porrajmos, des Völkermords an den europäischen Sinti und Roma, gewidmet.5 Sie ist Teil jener Erinnerungskulturen, wie sie vermehrt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sind und die sich auf Totalexklusionen vor allem kolonialer und/ oder genozidaler Art richten, in der erklärten Absicht, durch die memoriale Konstituierung einer ›geteilten Geschichte‹ das kollektive Gedächtnis und mit ihm das Kollektiv neu zu fassen. Eine Memoria des Porrajmos außerhalb der Nachfahren der Opfer wäre ohne die Erinnerung an den Holocaust nicht denkbar gewesen. Diese Konstellation hat freilich auch zu einer Erinnerungskonkurrenz zwischen den Opfergruppen geführt. Sie sind vergleichbar, aber nicht identisch, was sich bereits in den Konnotationen der Antonyme zeigt. ›Jude‹ und ›Zigeuner‹ wurden mit derselben mörderischen Konsequenz, aber aus unterschiedlichen Gründen zu asymmetrischen Gegenbegriffen, und während ›Jude‹ außerhalb des Antisemitismus ohne die asymmetrische Konnotation verwendet wurde und wird, ist das im Falle des ›Zigeuners‹ kaum möglich, obwohl beides sowohl Selbstwie Fremdbezeichnungen sind. Es muss also genauer nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den negativen Fremdbezeichnungen und ihrem möglichen Fortleben im kollektiven Gedächtnis gefragt werden. Die Antwort, die darauf im Folgenden gegeben wird, lautet: Als Spezifikum der Roma gilt die ›angeborene Asozialität‹. Sie ist der Kern der negativen Fremdbezeichnung, die die Totalexklusion legitimiert hat und die, so die These, auch aus den hier untersuchten gegenwärtigen Formen der Memoria des Porrajmos nicht verschwunden ist.
2. ›Zigeuner‹ als Grenzfigur Dreh- und Angelpunkt jener Totalexklusion der Roma, die im Porrajmos mündete, war die Bildung einer ›Zigeuner-Rasse‹. Die nachfolgenden Überlegungen zur Memoria dieses Völkermords richten sich deshalb auf die Auseinandersetzung mit dieser Konstruktion in Erinnerungsräumen. Die aktuelle Präsenz der geteilten Geschichte von Roma und Deutschen im kollektiven Gedächtnis wird an drei Beispielen untersucht, die unterschiedlichen Medien angehören: Denkmal, Text und Film. Sie bilden jeweils spe5 Wenn im Folgenden lediglich von ›Roma‹ gesprochen wird, so bezieht sich das auf den weiteren, die Sinti und andere Gruppen einschließenden Begriff.
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zifische Erinnerungsräume und rekurrieren dabei nolens volens, weil sie das zu Erinnernde vergegenwärtigen müssen, auf jene symbolischen Zeichen und Verfahren, die mit der – biologisch oder kulturell begründeten – Erfindung einer ›Zigeuner-Rasse‹ verbunden sind. Diese Konstruktion war aber selbst bereits ein eminent topischer, raumsemantischer Akt: Es handelte sich im Wesentlichen um einen Grenzziehungsakt. Daran, d. h. an raumsemantische Aspekte bei der Konstruktion der Rasse ›Zigeuner‹ vor der Bildung retrospektiver Erinnerungsräume, sei daher zunächst erinnert. Die Konstruktion einer ›Zigeuner-Rasse‹ beginnt – mit Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann – bereits in der Aufklärung, voll ausgebildet wird sie rund einhundert Jahre später im Kontext der Eugenik in der Schweiz und in Deutschland. Bis dahin dominiert im 19. Jahrhundert ein polizeilicher Ordnungsbegriff, der nicht rassisch, sondern soziographisch gefasst, also auf eine Lebensweise gerichtet ist: ›Zigeuner‹ sind diejenigen, die gewerbsmäßig im Familienverband umherziehen. Diese enge Verbindung zur ›Policeywissenschaft‹ ist charakteristisch für die Konstruktion der ›Zigeuner-Rasse‹ und eng mit der Herrschaft über geographische, soziale und symbolische Räume verbunden. Erfassung und Exklusion begannen mit der Entstehung der frühneuzeitlichen Territorialstaaten, sie verstärkten sich in dem Maße, in dem die tatsächliche staatliche Kontrolle des Herrschaftsgebietes möglich wurde, und sie verbanden sich dann eng mit dem von Foucault beschriebenen Prozess der Normalisierung: In einer zunehmend normalisierten Gesellschaft markierten die zur ›Rasse‹ werdenden ›Zigeuner‹ die Grenzen des Sozialen. Bei ihrer Konstruktion als ›Rasse‹ spielen deshalb raumbezogene Kategorien und Gegensatzbildungen eine Schlüsselrolle: Mobilität vs. Sesshaftigkeit, Orient vs. Europa, Autochthonie vs. Allochthonie, räumliche Segregation vs. Mischung und Peripherie vs. Zentrum, d. h. insbesondere soziale Randstellung und randständige Ansiedlung. Damit korrespondierte die stets scheiternde Zuweisung zu den Orten der Normalisierung, des Überwachens und des Strafens: Staat, Kirche, Ökonomie, Schule, Gefängnis oder Psychiatrie. Wie mit allen Grenzfiguren verband sich mit dem ›Zigeuner‹ eine Semantik des Unheimlichen, nämlich des ebenso faszinierenden wie bedrohlichen Grenzgängers der sozialen Ordnung, je nach Perspektive randständig oder ortlos, im Normalfall nicht normal, sondern deviant, im Idealfall nicht ideal, sondern die Anpassung nur vortäuschend, dahinter nichts als Mimikry (›white, but not quite‹).6 6 Die Befunde sind selbstredend solche für den ›Zigeuner‹, nicht für Sinti und Roma, die auf vielfältige Weise inkludiert waren, nicht nur im Wandergewerbe und in Nischenberufen, sondern z. B. auch im Militärwesen.
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Hier liegt der Dreh- und Angelpunkt der Raumsemantik des ›Zigeuners‹: Er ist eine Grenzfigur der sozialen Ordnung, er markiert (und erzeugt) die Unterscheidung der Räume des Sozialen und des Asozialen. Die ›Zigeuner‹ wurden deshalb bereits sehr früh, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, nicht zufällig zu einem zentralen Objekt der Eugenik. Die Schweizer Jenischen waren die erste Gruppe, für die systematisch erbpathologische Befunde erhoben wurden, und die hier entwickelten Maßnahmen – Entfernung aus dem Milieu durch Zwangseinweisung in ein Heim, Heiratsverbot, Kindeswegnahme etc. – wurden bis in die 1970er Jahre praktiziert. Die ›Zigeunerforschung‹, angesiedelt an der Schnittstelle zwischen Polizeiarbeit und Sozialpolitik, Vererbungsforschung und Verwaltungshandeln, international vernetzt und interdisziplinär ausgerichtet, zählte um die Jahrhundertwende zum international profiliertesten Bereich der Produktion von Wissen über ›abweichendes Verhalten‹ sowie der Erfassung von (auch potentiellen) ›Delinquenten‹. Das in der Schweiz, um die Jahrhundertwende das Mekka der Eugenik, produzierte Wissen, auch und gerade das über die ›Zigeuner‹, fand direkten Eingang in die NS-Rassenhygiene. Nachdem die ›Zigeuner‹ 1936 zu einer gegenüber dem deutschen Volkstum ›artfremden Rasse‹ erklärt worden waren, sollte durch das Zusammenwirken der ›Zigeunerforscher‹ der ›Rassenhygienischen Forschungsstelle‹ mit dem Reichskriminalpolizeiamt ein entscheidender Beitrag zur Verwirklichung der NS-Utopie einer von Asozialen und Verbrechern freien ›Volksgemeinschaft‹ erreicht werden.7 Die Mittel dazu waren Erfassung, Segregation (Verbannung an die Ränder der Städte und Gemeinden, auf separate Plätze, in Lager oder ein Reservat) und am Ende die Vernichtung. Es war zugleich eine phantasmatische Tätigkeit: Identifizierung, Erforschung, Grenzziehung, Entmischung, Dekontaminierung, Reinigung des Volkskörpers – Versuche, die ›zigeunerhafte‹ Mimikry ein- für allemal aufzudecken und zu beenden. Dahinter stand der Traum vom gesunden Volkskörper, jene fixe Idee, die die Abweichung produzierte, die sie beseitigen wollte. Die rassische Konstruktion des ›Zigeuners‹ zielte, im Unterschied zu der kolonisierter Völker, nicht auf die Eroberung fremder, sondern auf die Kontrolle ›eigener‹ Räume, die Regeln 7 Vgl. Wagner, Patrick: Kriminalprävention qua Massenmord. Die gesellschaftsbiologische Konzeption der NS-Kriminalpolizei und ihre Bedeutung für die Zigeunerverfolgung. In: Zimmermann, Michael (Hg.): Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2007, S. 379–391; und Wagner, Patrick: Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Hamburg 1996.
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der Konstruktion interner und externer Anderer waren aber vergleichbar und das erleichterte die symbolische wie die praktische Neuregelung der Grenzen zwischen Innen/Außen, eigen/fremd und zugehörig/nicht-zugehörig. Nach dieser kurzen Erinnerung an das, was erinnert werden soll, geht es im Folgenden um die Erinnerung an diese Zusammenhänge von Raum und Rasse: Wie wird an eine für überwunden erklärte ›rassistische‹ Phase der geteilten Geschichte von Roma und Nicht-Roma, von Minderheit und Mehrheitsgesellschaft erinnert? Kann man erinnern, ohne zu wiederholen?
3. Ein Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma 3.1 Porrajmos und Shoa Das politische Selbstverständnis der Bundesrepublik – ihre Legitimität, ihre Verfassung und ihre Selbstbeschreibung als Nation – beruht zu einem wesentlichen Teil auf dem proklamierten Bruch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Dem entspricht eine seit den 1990er Jahren stark ausdifferenzierte Gedenkkultur, zu der auch das im Oktober 2012 eingeweihte Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in unmittelbarer Nähe des Reichstagsgebäudes gehört. Auf den 1992 gefassten Beschluss zur Errichtung folgte zunächst jedoch ein jahrelanger Streit der Interessenverbände um die geplante Inschrift, vor allem um das Wort ›Zigeuner‹ – eine Auseinandersetzung, die in Teilen der Presse durchaus mit antiziganer Häme kommentiert wurde, die man aber auch als produktiven Beitrag zur Erinnerungspolitik ansehen kann.8 8 Es wurden grundlegende Fragen aufgeworfen, vor allem die der ›Opferkonkurrenz‹ zwischen Roma und Juden, in diesem Zusammenhang die Frage nach dem ›Völkermord‹ und der Zahl der Ermordeten, dann die der Selbstbezeichnung als ›Zigeuner‹ oder ›Sinti und Roma‹ und schließlich die nach der Zugehörigkeit der ›Jenischen‹ zu der Gruppe der als ›Zigeuner‹ Verfolgten. Zur Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Sinti und Roma in der Bundesrepublik vgl. Margalit, Gilad: Die Nachkriegsdeutschen und ›ihre Zigeuner‹. Die Behandlung der Sinti und Roma im Schatten von Auschwitz. Berlin 2001; Wippermann, Wolfgang: »Auserwählte Opfer?« Shoah und Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse. Berlin 2005; und Patrut, Iulia-Karin: Antiziganismus/Opferkonkurrenz. In: Fischer, Torben/Lorenz, Matthias N. (Hg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld 2007, S. 313–321. Für einen kritischen Kommentar der publizistischen Debatte vgl. Robel, Yvonne: Konkurrenz und Uneinigkeit. Zur gedenkpolitischen Stereotypisierung der Roma. In: End, Markus [u. a.] (Hg.): Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments. Münster 2009, S. 110–130. Zur Problematik des Begriffs ›Antiziganismus‹ vgl. Zimmermann, Michael: Antiziganismus – ein Pendant zum Antisemitismus? Überlegungen zu einem bundesdeutschen Neologismus. In: Bogdal, Klaus-Michael
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Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas © Sandra Steins, bpa Einweihung am 24.10.2012 in Anwesenheit u.a. von Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie Bundestagspräsident Lammert, Kulturstaatssekretär Bernd Neumann, Architekt Dani Karavan, Romani Rose, Reinhard Florian, Altbundespräsident Weizsäcker, Zoni Weiss und des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit.
Der Streit wurde dadurch beendet, dass als zentraler Text nun das Gedicht Auschwitz des 1964 geborenen italienischen Rom-Dichters Santino Spinelli gewählt wurde: Auschwitz Eingefallenes Gesicht erloschene Augen kalte Lippen Stille ein zerrissenes Herz ohne Atem ohne Worte keine Tränen
[u. a.] (Hg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Stuttgart / Weimar 2007, S. 337–346.
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Dieses Gedicht ist, in mehreren Sprachen, sowohl (mit Titel) auf einer steinernen Tafel wie (ohne Titel) auf dem Rand des kleinen Sees zu lesen, der den Mittelpunkt des Denkmals bildet. Diese Lösung ist nicht ganz unproblematisch. Der Text zeichnet mit wenigen Zügen das Porträt eines sogenannten Muselmanns und er kann damit jedes Auschwitz-Opfer meinen. Das führt ins Zentrum des Denkmalstreits, aber auch des Selbstverständnisses des Zentralrats der Sinti und Roma und der Debatte um den Völkermord, nämlich die Frage nach der Vergleichbarkeit von Porrajmos und Shoa. Diesbezüglich spricht das Gedicht eine eindeutige Sprache: Mit ihm hat sich die These von der Parallelität des Völkermords an den Juden und an den als ›Zigeunern‹ Stigmatisierten durchgesetzt. Dem entspricht die begleitende ›Chronologie‹ des Völkermords, die mit den Worten des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog aus dem Jahre 1997 endet, der »Völkermord« an den »Sinti und Roma« sei »aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden«.9 Bezug und Gleichsetzung werden, etwas subtiler, auch dadurch hergestellt, dass der Denkmalsentwurf von Dani Karavan stammt und dass das Mahnmal, zumal wenn die Säule in der Mitte des Sees hochfährt, zentrale Elemente des Denkmals wiederholt, das Karavan für Walter Benjamin in Portbou entworfen hat.10 9 Die Chronologie des Völkermordes an den Sinti und Roma ist auf der Website der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas zugänglich, die die Betreuung des Denkmals für die Sinti und Roma übernommen hat [www.stiftungdenkmal.de/denkmaeler/denkmal-fuer-die-ermordeten–sinti-und-roma/chronologie. html#c1886 (25. 10. 2012)]. Die Chronologie wurde unter Federführung des Kulturstaatsminister-Büros vom Institut für Zeitgeschichte in München und dem NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln erarbeitet und vom Bundesrat am 20. 12. 2007 einstimmig beschlossen. Der Text ist auf der Einfriedung der Denkmalsanlage zu lesen; das Herzog-Zitat findet sich, gemeinsam mit einer 1982 vom damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt ausgesprochenen Anerkennung der Verfolgung als Völkermord, außen auf der dem Reichstag zugewandten Seite. 10 Auf diese Bezüge hat Karavan bei der Vorstellung des Entwurfs 2008 in Berlin selbst hingewiesen; vgl. in der Rubrik »Kehrseite« Stoessel, Marleen: Uneins nur über die Inschrift. Dani Karavan erläutert seinen Entwurf für das Sinti-und-Roma-Denkmal. In: Das Parlament (24.01.2005) 4 [http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show.php? fileToLoad=1717&id=1149 (07. 05. 2011)]. Beide Denkmäler arbeiten mit Kreis, einer zentralen Geraden und Wasser als zentralen Elementen, von daher liegt auch die Verbindung mit Karavans ›Ma’alot‹ nahe, die begehbare Kölner Installation aus Becken, Schiene und Stufen, die an prominenter Stelle fünfzehn biblische Psalmen mit der Stadt und ihrer Geschichte verbindet. Die für das Denkmal für die Sinti und Roma gewählte Formensprache ist also durchaus als eine
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Die im Denkmal zum Ausdruck gebrachte Gleichsetzung von Porrajmos und Shoa findet ihre Berechtigung darin, dass es sich in beiden Fällen um einen Völkermord aus rassistischen Motiven gehandelt hat. Darüber hinaus wird man sagen müssen, dass eine Anerkennung des Völkermords an den europäischen Sinti und Roma nicht durchsetzbar gewesen wäre, wenn die Betroffenen nicht in ihrem Kampf um Rehabilitation – von der Opferentschädigung bis zum Platz in der Gedenkpolitik – jahrzehntelang mit großer Beharrlichkeit auf diese Parallele hingewiesen und damit an die zentrale moralische Norm bundesdeutscher Politik appelliert hätten. Die Gleichsetzung ist dennoch problematisch. Im Folgenden soll aber nicht der dadurch ausgelöste Streit um die Frage der ›Einzigartigkeit‹ der Shoa fortgesetzt, sondern ein ganz anderer Aspekt aufgegriffen werden – ein blinder Fleck in der bisherigen Diskussion. Die Gleichsetzung ist Ausdruck eines opfer- bzw. erinnerungspolitischen Dilemmas; dessen Kehrseite ist, dass der ganz andere Verlauf und die anders geartete Begründung für die Verfolgung unterschlagen werden. Die Juden galten als das eschatologisch Böse und wurden aufgrund ihrer Rassenzugehörigkeit verfolgt, zuständig im Reichssicherheitshauptamt (RSH ) war das Amt IV (Gestapo). Die ›Zigeuner‹ hingegen waren zunächst nicht per se Gegenstand der Verfolgung. Als problematisch angesehen wurden weniger die ›Reinrassigen‹ als die ›Zigeunermischlinge‹ (eine Kategorie im Schnittpunkt von soziographischer und rassischer Definition, die 80–90% der als ›Zigeuner‹ Erfassten ausmachte) und ›nach Zigeunerart umherziehende Nicht-Zigeuner‹. Im Auschwitz-Erlass waren ›Reinrassige‹ und ›gut angepasste Mischlinge‹ von der Deportation und Sterilisation ausgenommen, allerdings haben die lokalen Behörden die großen Ermessensspielräume in der Regel zur Verfolgung genutzt. Für die Verfolgung der ›Zigeuner‹ im RSH zuständig war das Amt V, das RKPA , also die Kriminalpolizei. Das verweist auf den Kern der jahrhundertelangen Verfolgung, das Stigma der Asozialität. ›Asozialität‹, ein Syndrom aus Arbeitsscheu, Unterschichtszugehörigkeit, sittlicher Verwahrlosung, Kriminalität und Gewalttätigkeit, machte auch in den Augen der NS-Rasseforschung das Wesen der ›Zigeuner-Rasse‹ aus und war der Grund für Verfolgung und Vernichtung: ›Zigeuner‹ galten als ›geborene Asoziale‹.11 Da man davon ausging, dass fast alle gegenwärtig ledes jüdischen Gedenkens konnotiert. Karavan selbst hat im Rahmen der Einweihung des Denkmals betont, wie sehr gerade diese Arbeit für ihn mit dem Verlust von Angehörigen seiner eigenen Familie durch den Holocaust verbunden sei. 11 Zur Konstruktion ›zigeunerischer Asozialität‹ vgl. Uerlings, Herbert: Zigeuner als ›Asoziale‹? Zur visuellen Evidenz eines Stigmas. In: Armut. Perspektiven in Kunst
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benden ›Zigeuner‹ aus einer Vermischung mit dem kriminellen Bodensatz der Mehrheitsbevölkerung hervorgegangene ›Mischlinge‹ seien, wuchs – anders als bei den Juden – der Grad der Bedrohlichkeit mit dem Grad der Mischung. Aus demselben Grund erwog Himmler vice versa vorübergehend, ›rassereine Zigeuner‹, die gewissermaßen arische Verwandte oder doch eine primitive Vorstufe der Arier seien, zunächst von der Vernichtung auszunehmen. Diesen erinnerungspolitisch heikelsten Teil des ›Zigeuner‹-Stigmas, den ›Asozialitäts‹-Vorwurf, thematisiert das Denkmal nicht; er wird durch die Gleichsetzung von Juden und ›Zigeunern‹, von Shoa und Porrajmos, verdeckt.12 Ausgeblendet wird damit jener Teil der NS-Geschichte, der bis heute fortwirkt und dem man durch die Nicht-Thematisierung vielleicht einen Bärendienst erweist.13 Die Nicht-Thematisierung ist geeignet, sowohl das Trauma der Überlebenden zu konservieren wie das Fortwirken des Stigmas bei staatlichen Organen und Öffentlichkeit zu begünstigen. 3.2 Autochthone nationale Minderheiten Der Kampf um den eigenen Platz in der öffentlichen Gedenkkultur wurde begleitet von der Durchsetzung des Anspruchs auf Zugehörigkeit zum Territorium, dem deutschen Staatsgebiet, d. h. die Anerkennung der Sinti und Roma als ›nationale Minderheit‹.14 Als nationale Minderheiten werden in und Gesellschaft, hg. v. Herbert Uerlings [u. a.]. Ausst.-Kat. Stadtmuseum Simeonstift Trier und Rheinisches Landesmuseum Trier. Darmstadt 2011, S. 249–258. 12 Zur Erinnerungspolitik der Interessenverbände gehört deshalb auch das Herunterspielen der Rolle der Kriminalpolizei als zentraler Verfolgungsinstanz. Zum Streit um das Verhältnis von Porrajmos und Shoa vgl. Anm. 8. Ein weiterer wesentlicher Unterschied betrifft den Stellenwert antisemitischer und antiziganer Diskurse in der deutschen Geschichte und Gegenwart. Auf solche Unterschiede hinzuweisen, bedeutet keine Relativierung, sondern verweist auf die Notwendigkeit der Differenzierung. Der vorliegende Beitrag hebt darauf im Blick auf die ›rassische‹ Verfolgung ab: Das Kriterium trifft für beide Gruppen zu, meint aber etwas Unterschiedliches. 13 Das Wort ›Zigeuner‹ erscheint jetzt zwar in der ›Chronologie des Völkermords an den Sinti und Roma‹, aber als Quellenbegriff, dessen Bedeutung durch die NS-Rassenforschung festgelegt sei; die entsprechenden Verweise erfolgen auf die Nürnberger Gesetze (»Zu den artfremden Rassen gehören alle anderen Rassen, das sind in Europa außer den Juden regelmäßig nur die Zigeuner.«) und auf den Himmler-Erlass von 1938 zur »Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse«. 14 Die Anerkennung der Sinti und Roma als ›nationale Minderheit‹ in Deutschland erfolgte bei der Umsetzung des 1995 beschlossenen Europäischen Rahmenübereinkommens zum Schutz und zur Förderung nationaler Minderheiten: In einem ›Vorbehalt‹ vor der Ratifizierung im Jahre 1998 legte die Bundesregierung dar, dass es in Deutsch-
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der Bundesrepublik seit 1995 vier ethnische Gruppen definiert und anerkannt, die in Deutschland, das ist das ausschlaggebende Kriterium, seit Jahrhunderten ein angestammtes Siedlungsgebiet haben und sich außerdem durch eine eigene ›Sprache, Kultur und Geschichte‹ auszeichnen und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Die Anerkennung als ›autochthone Minderheit‹ ist mit besonderen Schutz- und Förderrechten verbunden und bezeichnet eine privilegierte Form der Zugehörigkeit, die die ›autochthonen‹ von den lediglich ›neuen‹ Minderheiten unterscheidet.15 Es ist nun aber offensichtlich so, dass für drei der vier ›nationalen Minderheiten‹, nämlich für die Dänen, die Friesen und die Sorben, das Kriterium des ›angestammten Siedlungsgebietes‹, also einer Region, die durch eigene Siedlungen und deren Wechselwirkung untereinander sowie mit dem Umland geprägt ist, ebenso einleuchtet wie das Kriterium der langen, vor die deutsche Nationsbildung zurückreichenden Dauer – nicht aber für die Sinti oder gar die Roma.16 Um diesem Problem zu entgehen, hat man de facto das gesamte Bundesgebiet zum angestammten Siedlungsgebiet der Sinti und Roma erklärt. Wie im Falle des Denkmals ist gegen die damit verbundene politische Absicht nichts einzuwenden, wohl aber ist fraglich, ob der Zweck so erreicht wird oder nicht stattdessen unter der Hand das Gegenteil.
land nur vier nationale Minderheiten gebe: Dänen, Sorben, Friesen und Sinti und Roma, soweit die Angehörigen dieser Gruppen die deutsche Staatsangehörigkeit besäßen. Im ersten Staatenbericht, vorgelegt am 24. Februar 2000, wurde diese Auffassung erläutert: »Als nationale Minderheiten in Deutschland werden Gruppen deutscher Staatsangehöriger angesehen, die in der Bundesrepublik Deutschland traditionell heimisch sind und dort in angestammten Siedlungsgebieten leben, sich aber vom Mehrheitsvolk durch eigene Sprache, Kultur und Geschichte – also eigene Identität – unterscheiden und diese Identität bewahren wollen. Dies betrifft die dänische Minderheit, das sorbische Volk, die Friesen in Deutschland und die deutschen Sinti und Roma.« Erster Bericht der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 25 Absatz 1 des Rahmenabkommens des Europarates zum Schutz Nationaler Minderheiten. 1999 [www.mi.niedersachsen.de/download/33825 (07.05.2011)], S. 16. 15 Zu dieser Ungleichbehandlung unterschiedlicher ethnischer Gruppen in Deutschland vgl. Luchterhandt, Otto: ›Autochthone‹ und ›neue‹ Minderheiten in Deutschland. In: Bergner, Christoph/Weber, Matthias (Hg.): Aussiedler und Minderheitenpolitik in Deutschland. Bilanz und Perspektiven. München 2009, S. 117–133. 16 Das kommt im Ersten Bericht der Bundesrepublik Deutschland (wie Anm. 14) auch verschiedentlich zum Ausdruck, vgl. S. 8 (spätes ›Heimisch-werden‹ der Roma im Unterschied zu den Sinti), S. 9 und S. 16 (vereinzelte Siedlungsgebiete, auch dort nur minimaler ›nicht bezifferbarer Anteil der Bevölkerung‹, kein einheitliches Sprachgebiet) – hinzu kommen, wie bei den Friesen, unterschiedliche Auffassungen der Verbände der Betroffenen zur Bezeichnung als ›nationale Minderheit‹ (vgl. S. 10).
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Die emphatische Betonung der Sesshaftigkeit geht einher mit einer Hervorhebung des ›Deutsch-Seins‹. So nennt sich der Zentralrat eben nicht ›Zentralrat der Sinti und Roma in Deutschland‹, sondern sehr bewusst ›Zentralrat Deutscher Sinti und Roma‹. Das impliziert, dass man sich nicht nur als ›nationale Minderheit‹ begreift, sondern sich auch oder sogar im Gegenteil dazu – das entspricht dem Selbstverständnis vieler Sinti – zugleich als »Teil des deutschen Volkes«17 versteht. Vice versa wird aber eine kulturelle Differenz behauptet, die Voraussetzung für die Anerkennung als ›nationale Minderheit‹ ist, vielfach aber nicht mehr erfüllt wird. So wird das Romanes, zentraler Bestandteil der ›eigenen‹ Kultur, häufig gar nicht mehr gesprochen, und vieles, was an Sitten und Gebräuchen überliefert war, ist mit dem Völkermord, aber auch der Inklusion in die Mehrheitsgesellschaft untergegangen. Die Probleme, die bei einer politisch-kulturellen Anerkennung als nationale Minderheit über räumliche Zugehörigkeit entstehen, zeigen sich besonders deutlich bei einem Vergleich mit der Schweiz. Auch hier ist die Anerkennung und Minderheitenbildung über den Raum erfolgt, dabei ist die Schweiz jedoch den umgekehrten Weg gegangen.18 Das entscheidende Kriterium ist hier nicht das ›angestammte Siedlungsgebiet‹, sondern im Gegenteil eine ›fahrende Lebensweise‹. Dieses soziographische Kriterium ist nicht ethnisch gemeint, sondern steht quer zur alten Unterscheidung von ›Zigeunern‹ und ›nach Zigeunerart Umherziehenden‹, es umfasst vor allem Schweizer Jenische, in zweiter Linie auch die Schweizer Sinti (Manusches). Die Anerkennung als ›Fahrende‹ schließt zwar staatlicherseits die sesshaften Jenischen und Sinti ein, in der politischen Praxis geht es aber ausschließlich um die Förderung der Belange der Reisenden. Um ansässige Roma geht es per definitionem nicht, weil diese, wie so viele 17 Vgl. den Ersten Bericht der Bundesrepublik Deutschland (wie Anm. 14), S. 10. Während der Zentralrat dafür plädiere, Sinti und Roma als ›nationale Minderheit in Deutschland, zugleich aber Teil des deutschen Volkes‹ zu begreifen, lehne die Sinti Allianz Deutschland die Bezeichnung ›nationale Minderheit‹ ab und spreche stattdessen von der ›Sinti-Volksgruppe im deutschen Volk‹. 18 Zu den Jenischen in der Schweiz vgl. Meier, Thomas Dominik / Wolfensberger, Rolf: »Eine Heimat und doch keine«. Heimatlose und Nicht-Sesshafte in der Schweiz (16.–19. Jahrhundert). Zürich 1998; Huonker, Thomas: Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe. Zürich 1987; Huonker, Thomas: Fremdund Selbstbilder von ›Zigeunern‹. In: Uerlings, Herbert/Patrut, Iulia-Karin (Hg.): ›Zigeuner‹ und Nation. Repräsentation – Inklusion – Exklusion (Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 8). Frankfurt a.M. [u.a]. 2008, S. 312–364; und, mit Bezug auf die Denkmaldebatte, Opfermann, Ulrich: »Die Jenischen und andere Fahrende«. Eine Minderheit begründet sich. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 19 (2010), S. 126–150.
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andere Minderheiten in der Schweiz, die deshalb einen sehr hohen Ausländeranteil hat, keine Schweizer Staatsbürger sind. Auch verbandspolitisch kam es deshalb 1985 zu Umorientierungen: Die Selbstorganisationen der ›Fahrenden‹ grenzen sich zunehmend von den Sesshaften ab, und die große Gruppe der fahrenden Jenischen neigt zur Gleichsetzung von ›Fahrenden‹ und ›Jenischen‹ mit dem Ergebnis, dass diese Gruppe sich zu der vom Schweizer Bundesstaat gemeinten und geschützten ›nationalen Minderheit‹ erklärt. Hinzu kommt, wie bei den Jenischen in Deutschland, die Konstituierung als NS-Opfergruppe bzw. genauer als vom Genozid betroffenes Volk. Schweizer Fahrende betonen zudem, analog zur Politik des deutschen Zentralrats, nicht zuletzt in Abgrenzung zu den ausländischen Fahrenden, ihre Identifikation mit der Schweizer Leitkultur (›Sauberkeit der Standplätze‹), grenzen ihre ›eigene Kultur‹ aber zugleich nicht minder vehement gegen die der Sesshaften ab, etwa in der Ablehnung der ›kulturzerstörenden‹ Schulpflicht. Sowohl in Deutschland wie in der Schweiz erfolgt die politische und kulturelle Anerkennung also über Raumvorstellungen, diese sind dann jedoch einander diametral entgegengesetzt und führen in beiden Fällen dazu, dass die Differenz, die anerkannt werden soll, erst produziert oder doch entscheidend mitgestaltet wird. Es entsteht der Eindruck eines Selbstverständnisses als Minderheit, dem eine prekäre Mischung aus emphatischer Zugehörigkeit und mitunter nicht minder emphatischer Selbstexklusion zugrunde liegt. Das wiederum ist geeignet, den gewünschten Effekt der Zugehörigkeit trotz Differenz zu destabilisieren und, in Kombination mit der – echten oder vermuteten – sozialen Randstellung, die von der Mehrheitsbevölkerung als brisant empfundene Ambivalenz der Gruppe fortzuschreiben.19 3.3 Wiederkehr des Verdrängten Auch im Falle des Berliner Denkmals hat sich die zunächst schlüssig wirkende Begrenzung auf die ›Opfer rassischer Verfolgung‹ inzwischen aufgelöst, und damit ist auch die in sich geschlossene räumliche Komposition Dani Karavans ins Wanken geraten. Denn der Streit um die Inschrift hat dazu geführt, dass die erläuternde Tafel zur ›Chronologie‹ des Völkermords ein ganz anderes Gewicht erhalten und die Bedeutung des Denkmals sich verschoben hat. In die Gruppe der Opfer, also derjenigen, die »als ›Zigeuner‹ verfolgt« wurden, wurden die Jenischen expressis verbis mit aufge19 Das strukturelle Problem gibt es auch bei den anderen nationalen Minderheiten, d. h. den Dänen, Friesen und Sorben, aber hier fehlt natürlich mit dem Stigma ›Asozialität‹ jede gesellschaftspolitische Brisanz. Ein anderes Bild dürfte der Blick auf einige ›neue‹ Minderheiten, namentlich die Türken oder Muslime ergeben.
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nommen: »Von Verfolgungsmaßnahmen betroffen waren auch Angehörige der eigenständigen Opfergruppe der Jenischen und andere Fahrende.«20 Diese Aussage ist für sich genommen zutreffend, macht aber die Idee eines Denkmals für die ermordeten Sinti und Roma als Opfer rassischer Verfolgung zunichte. Die Jenischen gehören weder zu den Sinti und Roma, noch wurden sie im Nationalsozialismus als ›Rasse‹ bezeichnet oder waren als Gruppe von Verfolgung und Vernichtung betroffen. Ihre Verfolgung geht vielmehr auf den weiter gefassten polizeilichen Ordnungsbegriff ›Zigeuner‹ des 19. Jahrhunderts zurück, der auf die Lebensweise bezogen war und im Nationalsozialismus weiter wirksam blieb. Deshalb wurden Jenische – als Einzelne – auch nach der Rassifizierung der ›Zigeunerpolitik‹ als deutschstämmige Asoziale verfolgt. Mit ihrer Erwähnung in der ›Chronologie‹ kehrt im Denkmal wieder, was verschwiegen werden sollte: das Stigma der Asozialität. 4. Schuldabwehrantiziganismus 4.1 Richard Wagner: »Das reiche Mädchen« Auch in den Erinnerungsräumen, die Literatur und Film entwerfen, ist die Gleichsetzung der Opfer des Völkermords, der Juden und der Sinti und Roma, ein weit verbreitetes Muster. Sie erfolgt entweder mit dem Ziel der Bewusstmachung einer Schuld, des zweiten Völkermords im Nationalsozialismus, oder aber im Gegenteil mit der Absicht, einen ›Schlussstrich‹ unter eine ›deutsche Fixierung auf Auschwitz‹ zu ziehen. Ein jüngeres, besonders aufschlussreiches und markantes Beispiel für Letzteres ist Richard Wagners 2007 erschienener Roman Das reiche Mädchen.21 Das Buch ist als Porträt einer Generation angelegt, und zwar der um 1960 geborenen sogenannten Nach-Achtundsechziger, die nach Meinung Wagners in der Bundesrepublik die Meinungsführerschaft innehaben. Diese Generation wird im Roman verkörpert durch die Protagonistin Bille Sundermann – den ›Gutmenschen‹ schlechthin. ›Gutmenschentum‹ – diese Formel enthält den Kern von Wagners Kulturkritik, wie er sie auch in verschiedenen Essay-Bänden entwickelt hat. Der Roman erzählt, in enger Anlehnung an das Leben der Roma-Ethnologin und Bürgerrechtsaktivistin Kathrin Reemtsma, davon, wie Bille Sundermann, das ›reiche Mädchen‹, sich in der Rolle der barmherzigen Samariterin Dejan Ferari zuwendet, einem serbischen Rom und Bürgerkriegsflüchtling, dem sie Asyl verschafft, mit dem 20 Zit. n. Chronologie des Völkermordes (wie Anm. 9). 21 Wagner, Richard: Das reiche Mädchen. Roman. Berlin 2007.
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sie eine Ehe eingeht und ein Kind in die Welt setzt – und der sie am Ende dennoch ermordet.22 Richard Wagner legt die Fatalität dieser Konstellation Seite um Seite offen. Er zeigt, auf welche Mittel und Wege der unbedingte Wunsch, Gutes zu tun, eine Schuld abzutragen, die nicht die eigene ist, verfallen und wie selbstgerecht und blind dieses Bedürfnis machen kann. Er zeigt außerdem, was es für das Gegenüber bedeutet, Teil dieses bösen Spiels zu sein, als Flüchtling seine Lebensgeschichte an den Erwartungen anderer ausrichten zu müssen und auch im privaten Leben zum Objekt einer Beweisführung zu werden, die mit dem eigenen Leben nichts zu tun hat. Als die beiden Protagonisten merken, dass das, was sie zusammengebracht hat, ihnen zugleich den Boden unter den Füßen wegzieht, ist es bereits zu spät und die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten. Das in Thema, Stoff und Konzeption zweifellos enthaltene Potential für einen guten Roman wird jedoch von dem Wunsch durchkreuzt, die Geschichte als Fallbeispiel für die Lage der Nation zu erzählen. Die zu Beginn durchaus erkennbaren Ansätze mehrstimmigen Erzählens weichen deshalb im Fortgang des Romans zunehmend einer ressentimentgeladenen Konstruktion. Das nationale ›Gutmenschentum‹ ist, so die Logik des Textes, eine Folge von ›Auschwitz‹ bzw. der daraus erwachsenen ›deutschen Selbstbezichtigung‹.23 Diese ›deutsche Selbstbezichtigung‹ bestimmt Billes Verhältnis zu Dejan. Bille wiederholt, indem sie dem Rom die Rolle des Wiedergutmachungsobjekts zuweist, ›Auschwitz‹. Sie wird Dejan psychisch zerstören und ihn in einen Zustand treiben, in dem er sich nicht anders zu helfen weiß als durch die Ermordung seiner einstigen Retterin. Dafür verbüßt er eine Haftstrafe und wird anschließend nach Ex-Jugoslawien abgeschoben. Bille Sundermanns Exotisierung des Rom im Kontext von Wiedergutmachungsphantasien zieht ihm also vollständig den Boden unter den Füßen weg und provoziert eine ›archaisch‹ konnotierte Gegengewalt. Bille exekutiert freilich nur ein Urteil, das ohnehin über Dejan verhängt ist. Denn dieser ›Balkan-Mensch‹ passt per se nicht in diese westdeutsche und westeuropäische Welt. Er ist der geborene osteuropäische Underdog, der De22 Zur Interpretation des Romans vgl. ausführlicher Uerlings, Herbert: Opfer von Auschwitz? Richard Wagners problematischer Zeitroman Das reiche Mädchen. In: Gut¸u, George [u. a.] (Hg.): ›Zigeuner‹ zwischen Ost und West. Beiträge zu Literatur und Film (19.–20. Jh.). Bukarest 2011, S. 14– 46. 23 Wagner hat dieses Argument in seinem Buch Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes programmatisch ausgeweitet: Nach dem Zweiten Weltkrieg seien die Europäer in eine »Ära der Selbstbezichtigung« (S. 56) eingetreten. Wagner, Richard: Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes. Berlin 2006.
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serteur vor dem Leben, der in Berlin bei seinesgleichen Zuflucht sucht und darüber das wird, wovor er hatte fliehen wollen: ein Mörder. Einer wie er, der allenfalls in einem streng hierarchischen Männerbund wie dem der Häftlinge einen Halt findet, hat keine Chance in einem Berlin, in dem – im Roman – die archaisch-patriarchalischen Gesetze des Balkans nicht gelten. Deshalb bleibt Dejan, im Namen seines Stolzes, am Ende nur eine Art ›Ehrenmord‹ an derjenigen, deren ›Wiedergutmachungswille‹ seine Identität bedroht hat. Hinter diesem Bild des ›Balkan-Barbaren‹ steht im Roman der mit fundamentalistischen Zügen ausgestattete Andere; bezeichnenderweise werden die Quartiere der Ex-Jugoslawen in Berlin von den nachrückenden Türken besetzt. Wagner nimmt offenkundig eine markante Umbesetzung im Erinnerungsraum ›Auschwitz‹ vor. Die Deutschen erscheinen – wie auch in Wagners essayistischer Kulturkritik – in vielfacher Weise als Opfer von Auschwitz. Insofern ist Richard Wagners Werk durchaus einem spätestens mit Walsers Friedenspreisrede salonfähig gewordenen Schuldabwehrdiskurs zuzurechnen. Neu scheint auf den ersten Blick zu sein, dass bei Wagner ein ›Zigeuner‹ an der Stelle des ›Juden‹ steht. 4.2 Martin Walser/Asta Scheib: »Armer Nanosh« Für Wagners Schuldabwehrantiziganismus gibt es jedoch ein Vorbild, und zwar ebenfalls bei Martin Walser, genauer gesagt in dem Film Armer Nanosh, einem erstmals 1989 ausgestrahlten Kriminalfilm in der Tatort-Reihe, dessen Drehbuch von Martin Walser und Asta Scheib stammt.24 Die Ausstrahlung 24 Vgl. außerdem die auf dem Drehbuch basierende Romanfassung Scheib, Asta / Walser, Martin: Armer Nanosh. München 1989. Möglicherweise enthält Wagners ›Drehbuchschreiber Carlos‹ eine Anspielung auf den ›Drehbuchschreiber Walser‹. Bislang wurde die ›Zigeuner‹-Figur vor allem im Kontext des Antisemitismus, d. h. als verkappter Jude gedeutet; vgl. Margalit, Gilad: On Ethic Essence and the Notion of German Victimization. Martin Walser and Asta Scheib’s Armer Nanosh and the Jew within the Gypsy. In: German Politics and Society. The Center for European Studies, Harvard University 20 (2002) 3, S. 15–39, und Lorenz, Matthias N.: »Auschwitz drängt uns auf einen Fleck«. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Stuttgart / Weimar 2005, hier S. 345– 352. Walser hat mehrfach öffentlich behauptet, er beziehe sich auf einen realen Fall und in diesem sei der Rom der Täter gewesen. Das habe er aus Angst vor der ›Political Correctness‹ der Kritiker nicht umzusetzen gewagt (vgl. Becker, Jurek/Hage, Volker/Steinert, Hajo/Walser, Martin: Literarisches Colloquium Berlin [Podiumsgespräch und Lesung]. Deutschlandfunk, 01.12.1990; und: »Lass den Täter weg«. Von Martin Walser gab es auch mal einen ›Tatort‹ – mit bösen Folgen [Martin Walser im Interview mit Katharina Riehl]. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 275 vom 27. / 28. November 2010, S. 22). Margalit hat nachgewiesen,
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wurde trotz des Protestes des Zentralrats bis 2006 noch achtmal wiederholt. In diesem Film begeht der Prokurist eines Kaufhauses, Frohwein, einen Mord aus Schuldgefühl. Frohweins Vater war während des Zweiten Weltkriegs Polizist in Krakau, wurde deshalb nach dem Krieg verurteilt und verstarb in der Haft. Der unschuldige Sohn des Täters übernimmt vom Vater die ›deutsche‹ Schuld und büßt sie durch seine aufopferungsvolle Tätigkeit für das Kaufhaus, denn dessen Chef ist ein knapp dem Genozid entkommener Rom namens Valentin Sander. Insofern ist der Prokurist Opfer eines NS-Opfers – eine auf Dauer nicht lebbare Selbsterniedrigung, der er durch den Mord entkommen will. Er tötet die Geliebte seines Chefs und versucht, letztlich vergeblich, diesem den Mord in die Schuhe zu schieben. Am Ende ist der Rom rehabilitiert: Er war nicht der Täter, der Täter war der Deutsche, der sich zuletzt selbst tötet. Der Schluss bekräftigt aber mit der Selbsttötung des Prokuristen zugleich die Grundthese, die Deutschen seien Opfer der NS-Opfer, und zwar auch und gerade dann, wenn sie erneut zu Tätern werden. Und der Film bekräftigt, dass Roma kein legitimer Bestandteil einer deutschen Nation sind, dass ethnische Differenzen vielmehr unüberbrückbar sind und Segregation erfordern. Am Kaufhauserben Valentin Sander ist alles falsch: sein Name, seine Sprache, sein gesellschaftlicher Stand, seine Selbstbeherrschung, sein Deutschtum – am Ende bekennt er sich dazu, nicht ›Valentin Sander‹, sondern ›Nanosh Steinberger‹ zu sein, ein Sinto, dessen kulturelle Grenzüberschreitung mehrere Menschen ins Verderben gestürzt hat. Als reicher Rom ist Nanosh alias Valentin eine Ausnahmefigur in der deutschen Literatur und erinnert an die antisemitische Karikatur des jüdischen Aufsteigers.25 Hinter der Maske des assimilierten ›Zigeuners‹ kommt aber der Rom als ›geborener Asozialer‹ zum Vorschein, wie ihn die Schweizer und später die NS-Rassenforschung beschrieben hat: Er ist gekennzeichnet durch mangelnde Selbstkontrolle, Unaufrichtigkeit, leichte Reizbarkeit, Triebhaftigkeit, Arbeitsscheu bzw. ökonomischen Unverstand, hohe Gewaltbereitschaft, bedingungslose Loyalität gegenüber der eigenen Sippe und ihrer Abschließung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft – kurzum: ›Gemeinschaftsfremdheit‹.
dass der Plot keineswegs auf einen wirklichen Fall zurückgeht, sondern auf eine literarische Vorlage (Martin Cruz Smith’ Gypsie in Amber ), die zudem philozigane Züge hat. Erst Richard Wagner sucht sich einen realen Fall, in dem der ›Zigeuner‹ tatsächlich zum Mörder wurde, um dann dieselbe Anklage zu formulieren: Deutsche ›Gutmenschen‹ destabilisieren durch die Inklusion von Sinti und Roma die ›deutsche Nation‹. 25 Vgl. Lorenz, Judendarstellung bei Walser (wie Anm. 24), S. 350.
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Der Blick, mit dessen Augen sich der Erinnerungsraum für den Zuschauer konstituiert, ist – genrebedingt – der polizeiliche: Die Ermittler durchqueren unbeschadet alle Räume, deren Vermischung für alle anderen Figuren Kontaminierung, Verderben, Unglück und Tod bedeutet hat: Kaufhaus und Atelier, Villa und Wohnwagen, Bar und Lager, Familie und Sippe. Ermittlungsarbeit ist Grenzziehungsarbeit: Die Polizei schützt und rettet die ›Zigeuner‹, nämlich Valentin/Nanosh vor Frohwein und die Steinberger-Sippe auf dem Lagerplatz vor den Angriffen rechtsradikaler Rocker, und sie stellt gegenüber dem Mörder Frohwein klar, dass dieser seine historische Lektion nicht gelernt habe, nämlich Auschwitz so zu akzeptieren, dass er sich von der Fixierung auf die Schuld anderer lösen könne. Insofern ist der Film ›gut gemeint‹: Der ›Zigeuner‹ wird als Verdächtiger inszeniert, um dann nachzuweisen, dass er es natürlich nicht war. Das Dilemma dieser Form von Aufklärung im Unterhaltungsgenre ist jedoch ihr parasitäres Verhältnis zum Stereotyp: Sie muss es aufleben lassen, um es zu ›entlarven‹. Auslöschen, Vergessen-machen, kann man es durch diese Form der Erinnerung gerade nicht. Ein spezielles Problem solcher Aufklärung über ›Zigeuner‹ im Kriminalfilm ist, dass sie durch die Polizei erfolgt. Armer Nanosh rehabilitiert auf diese Weise die zentrale NS-Verfolgungsinstanz, die Kriminalpolizei, und zwar dadurch, dass der Film letztlich eben jenes Bild erneut zeichnet, das sie immer schon entworfen hat: das vom ›Zigeuner‹ als Grenzfigur, der – und gegen die – nur Segregation hilft. Der Zynismus dieses Antiziganismus nach Auschwitz besteht darin, dass er Auschwitz zum Anlass für ein Inklusionsexperiment nimmt, bei dem deutsche Gutmenschen, namentlich Familie Sander, die Nanosh als Kind vor dem Porrajmos rettete, bei sich aufzog und zum Erben machte, Valentins Ehefrau und auch Frohwein, der sich jahrelang für Sander aufreibt, dem ›Zigeuner‹ in höchstem Maße symbolische und materielle Anerkennung zuteil werden lassen, dieser aber erneut nur seine Asozialität unter Beweis stellt. Nur so kann er auch ernsthaft unter Mordverdacht geraten, denn er war für einen Moment tatsächlich bereit, seine Geliebte zu ermorden – und Frohwein hat ihn dabei, wie so oft, diesmal jedoch heimlich, gefilmt. Diesen Zwang, alles filmen zu müssen, erklärt Frohwein selbst damit, dass mehr Informationen mehr Macht und damit mehr »Recht« bedeuteten. Das Filmen ist damit Ausdruck seiner, wie er sie nennt, »Unterlegitimiertheit«, genauso wie der Mord, mit dem er seinem Vater, sich und »Deutschland« Recht verschaffen will – ein Programm, das der Film als unangemessen verwirft. Von daher wird Frohweins Filmerei stimmig als dramaturgisches Mittel zum Zweck eingesetzt: Es führt die Ermittler auf die Spur des wirklichen Schuldigen. Andererseits unterläuft der Film aber
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auch hier seine aufklärerische Absicht: Da Frohweins Filme von Valentins/ Nanoshs ›abweichendem Verhalten‹ im Film wieder und wieder gezeigt werden, kann sich, das gehört zum Spannungsaufbau, beim Zuschauer die Asozialität des ›Zigeuners‹ stereotyp verfestigen und das Opfer zum potentiellen Täter werden, während das Leiden des Buchhalters so inszeniert wird, dass der Täter spätestens mit seiner Selbsttötung nur noch als Opfer erscheint. Bei der Asozialität des ›Zigeuners‹ scheint es sich darüber hinaus um einen genetischen Defekt mit dominantem Erbgang zu handeln, denn auch seine beiden ›Mischlingskinder‹ gehen keinen anderen Weg: Sohn Georg schlägt sich von vornherein auf die Seite, auf die er gehört, und geht von der Villa der Familie zum Wohnwagen der Sippe, macht ›Zigeunermusik‹ und liebt dieselbe Frau wie sein Vater, der andere Sohn, Moritz, übernimmt das Kaufhaus und versagt dabei selbstredend. Die ›asoziale Rasse‹ als Pendant zur nicht als Rasse markierten normalisierten Mehrheitsbevölkerung und zur Polizei bleiben zwei Seiten einer Medaille.26 Das entspricht natürlich den Konventionen des Genres. Bemerkenswert daran ist das Nicht-Selbstverständliche: die Wiederkehr des asozialen ›Zigeuners‹ in einem Film, der doch zugleich die Perspektive vermittelt, dass eine nationale deutsche Identität ohne Anerkennung der Schuld für Auschwitz und die Übernahme einer daraus erwachsenden Verantwortung nicht möglich ist. Walser scheitert an dieser selbst gestellten Aufgabe, der Film wiederholt eben jenes Zigeunerbild, das der Verfolgung und Vernichtung zugrunde liegt. Auch später wird es Walser nie gelingen, deutsche Nation und geteilte Geschichte(n) zusammen zu denken. Für ihn scheint das, wie für Wagner und andere, eine aporetische Konstellation zu sein.
26 Unter Gender-Gesichtspunkten ist das zentrale Motiv des Films das der ReMaskulinisierung Deutschlands als imaginärer Volkskörper. Sie scheitert, weil die Identifizierung mit der Väter-Generation unmöglich geworden ist. Das ist das Problem Frohweins, dessen Vater Täter war, und, auf den ersten Blick, Valentins / Nanoshs, dessen Familie ermordet wurde und dessen Ersatzvater ihm ein Erbe vermacht hat, das ihn zwischen alle Stühle geraten und am Ende ins Unglück stürzen lässt. Andererseits, und das führt auf den Selbstwiderspruch des Films zurück, hat Steinberger von seinem Vater, dem ›Zigeuner‹, eine ausgesprochen virile Männlichkeit geerbt, die im Drehbuch und in der Umsetzung, auch durch die Besetzung der Rolle mit dem slowakischen Schauspieler Juraj Kukura, breit ausgespielt wird. Offensichtlich ist die Identität der Opfer durch den Völkermord weniger zerstört als die der Täter.
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5. Erinnerungsräume und unheimliche Revenants Bei Wagners Roman und dem Drehbuch von Walser und Scheib handelt es sich also um Fälle von Schuldabwehrantiziganismus im Dienste der Imagination einer homogenen deutschen Nation. In beiden Fällen sind Parallelen und Bezüge zum Schuldabwehrantisemitismus vorhanden, der ›zigane‹ Strang hat aber ein eigenständiges Gewicht. Es wird eine letztlich fundamentale Differenz zwischen Roma und Deutschen unterstellt, damit wird nicht nur die offizielle Politik von Zentralrat und Bundesregierung – Anerkennung als nationale, autochthone Minderheit – unterlaufen, sondern auch die Erinnerungskultur präzise konterkariert, insofern die Behauptung der NichtZugehörigkeit mit der Asozialität begründet, der Kern der NS-Verfolgung also bestätigt wird. Eine Gedenkpolitik, die sich mit diesem Kern des Antiziganismus nicht auseinandersetzt, greift zu kurz. Auch im Falle des Denkmals wäre es sinnvoll gewesen, die Überschneidung von rassischem und sozialem Rassismus im Stigma der ›geborenen Asozialen‹ mit zu thematisieren.27 Ein Gedenken für »als ›Asoziale‹ stigmatisierte« Roma würde zudem auf einen weiteren blinden Fleck der bundesdeutschen Erinnerungspolitik verweisen, denn ein Denkmal für die im Nationalsozialismus als ›Asoziale‹ Verfolgten gibt es nicht. Hier, in der gesellschaftlichen Konstruktion von Asozialität, liegt der eigentlich brisante Punkt, die ›asoziale Rasse‹ ist nur ein Effekt davon. In dieser Sicht zeigt sich noch einmal die Ambivalenz des Denkmals für die Sinti und Roma. Pointiert gesagt: Die Roma haben ein Mahnmal erhalten um den Preis, dass sie als ›rassisch Verfolgte‹ gelten, nicht (auch) als Teilgruppe der als ›Asoziale‹ Verfolgten. An dieses Stigma wollten offenbar weder die Opferverbände der Sinti, Roma und Jenischen noch die übrige politische Öffentlichkeit rühren. Jedenfalls hat die Bundesregierung zuletzt im Sommer 2008 erklärt: »Bundesministerien und nachgeordnete Behörden, so auch das Bundeskriminalamt, haben bei der Aufarbeitung ihrer Geschichte keine Aktivitäten ergriffen oder geplant, die speziell den Umgang mit den so genannten Asozialen betreffen.«28 27 In der Mitte des Sees befindet sich ein schwarzer Winkel in Form eines Dreiecks. Er umschließt eine versenkbare Stele, die, begleitet von einem Geigenton, einmal täglich hochgefahren wird und im Innern des Dreiecks eine frische Blume zum Vorschein bringt. Dieses Herzstück der Erinnerungsstätte erinnert an den schwarzen Winkel der ›Asozialen‹, der hier vereinnahmt zu werden droht als Kennzeichnung ausschließlich für die Sinti und Roma, gleichzeitig aber wider Willen deren Definition als ›geborene Asoziale‹ und die Zuordnung zu dieser Gruppe in Erinnerung ruft. 28 Deutscher Bundestag: Drucksache 16/9887 vom 01.07.2008, Antwort der Bun-
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Erinnerungsräume, in denen nicht unversehens das wiederholt wird, was als Vergangenes erinnert werden soll, findet man vor allem bei Roma-Autoren und Autorinnen, etwa in Ceija Stojkas Autobiographie, Hugo Höllenreiners und Reinhard Florians Lebensgeschichte oder Mariella Mehrs autobiographisch geprägten Romanen.29 Gerade Letztere führen – in Auseinandersetzung mit der eigenen Verfolgung als Jenische – eindringlich vor, was die Stigmatisierung als ›geborene Asoziale‹ im Extremfall, der sich hier in der Schweiz ereignet hat, bedeutet: eine Kolonisierung der gesamten Person, durch die auch deren Artikulations- und Widerstandsmöglichkeiten definiert und begrenzt werden.30 Sieht man von diesem Teil des literarischen Feldes ab, so gilt: Die gedenkpolitische und die literarische Repräsentation von Roma ist durch eine desregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Katja Kipping, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 16/9405 – Gedenken und Erinnerung an die Aktion »Arbeitsscheu Reich« 1938. [http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/098/1609887.pdf (30.05.2011)], S. 4. Bezeichnenderweise wird in diesem Kontext der Zurückweisung eines Denkmals für die als ›Asoziale‹ Verfolgten und Ermordeten – und nur in diesem – der Zusammenhang von ›Zigeuner‹- und ›Asozialen‹-Verfolgung von der Bundesregierung thematisiert: »Soweit Homosexuelle oder Sinti und Roma als ›Asoziale‹ verfolgt und inhaftiert wurden ist auf das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen bzw. das in Errichtung befindliche Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma zu verweisen. Weitere Initiativen sind nicht geplant.« (ebd.). 29 Vgl. außerdem Jelinek, Elfriede: Stecken, Stab und Stangl. o. O. 1995; ein Stück, das auf die Problematik der Repräsentation von Roma im kollektiven Gedächtnis, wie sie hier mit Blick auf das Denkmal, Wagner und Walser beschrieben wurde, reagiert, indem es die ›Zigeuner‹-Figuren nur als Stereotype auf die Bühne bringt: Sie sprechen nicht, sondern existieren nur als Effekte der Rede der Mehrheitsgesellschaft, in diesem Sinne sind die Opfer des Bombenattentats, das Anlass für das Stück war und seinen Hintergrund bildet, ›Untote‹. Vgl. Uerlings, Herbert: Inkludierende Exklusion. Zigeuner und Nation in Riefenstahls Tiefland und Jelineks Stecken, Stab und Stangl. In: Uerlings / Patrut, ›Zigeuner‹ und Nation (wie Anm. 18), S. 67–134. 30 Vgl. Stojka, Ceija: Träume ich, dass ich lebe? Befreit aus Bergen-Belsen, hg. von Karin Berger. Wien 2005; dies.: Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin. Wien 1988; dies.: Reisende auf dieser Welt. Aus dem Leben einer Rom-Zigeunerin, hg. von Karin Berger. Wien 1992; Tuckermann, Anja: »Denk nicht, wir bleiben hier.« Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner. München 2005; Florian, Reinhard: Ich wollte nach Hause, nach Ostpreußen! Das Überleben eines deutschen Sinto, hg. von Jana Mechelhoff-Herezi und Uwe Neumärker. Berlin 2012; Mehr, Mariella: Angeklagt. Zürich 2002; dies.: Brandzauber. Zürich 1998; dies.: Daskind. Berlin 1995; zu Mehr vgl. Sälzer, Anna-Lena: »Sich selbst zum Spieleinsatz machen«. Prosatexte Mariella Mehrs zwischen Wahrheits- und Erfahrungsbuch. Diss. Trier 2010.
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Parallelisierung von Roma und Juden geprägt, die das Spezifikum der Roma-Verfolgung, die Stigmatisierung als ›geborene Asoziale‹, im einen Fall ausblendet und im anderen ausschlachtet, Ersteres um den Preis des Fortwirkens von Trauma und Stigma, Letzteres im Interesse einer Schuldabwehr, die Antiziganismus und Antisemitismus verbindet. Die Erinnerung an den antiziganen Rassismus bildet also symbolische Räume aus, in denen das Vertriebene wie ein Revenant wiederkehrt. Die Gründe dafür können hier nur stichwortartig benannt werden: Ungleichheiten und Opferkonkurrenzen im Blick auf Shoa und Porrajmos, Paradoxien bei der Anerkennung von Minderheiten, die Emphatisierung der Nation nach der ›Wiedervereinigung‹, aber auch in Reaktion auf die EUOsterweiterung und die Globalisierung, vor allem aber eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft, die die Grenzen des Sozialen und der Normalität durch eine ambivalente, unheimliche Grenz- und Projektionsfigur markiert und diese Stelle mit dem ›Zigeuner‹ besetzt. ›Unheimlich‹ sind nicht die Sinti und Roma, sondern die Erinnerungsräume, in denen der ›Zigeuner‹ nach wie vor sein Unwesen treibt. Das kollektive Gedächtnis des Porrajmos ist demnach Ausdruck einer komplexen Gemengelage von Inklusionen und Exklusionen. Obwohl es Betroffenen-Verbänden und Bürgerrechtsbewegungen gelungen ist, Begleitsemantiken, die auf eine geteilte Geschichte und damit auch auf memoriale Inklusion zielten, zu entwickeln und in die Funktionssysteme Recht und Politik zu transportieren und dadurch eine Bekräftigung und Neuregelung der Zugehörigkeit (Anerkennung als Opfer der NS-Verfolgung und als autochthone Minderheit) zu erreichen, wiederholt sich in den Erinnerungsräumen des kollektiven Gedächtnisses, was doch vergessen werden sollte: der Kern der negativen Fremdbezeichnung, das Stigma der Asozialität. Man wird diesen Effekt als die memoriale Variante des einschließenden Ausschlusses bezeichnen dürfen: erinnerndes Vergessen.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Christiane Bausch, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Politische Repräsentation, Demokratietheorie, Migration. Titel der an der Universität Trier eingereichten Dissertation: Inklusion durch politische Selbstvertretung? Die Repräsentationsleistung von Ausländer- und Integrations(bei)räten. Mark Beck, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Alten Geschichte an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Hellenismus, Kaiserzeit, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Arbeitstitel der Dissertation: Der Euergetismus und dessen Rezipienten im hellenistischen und kaiserzeitlichen Kleinasien. Isabelle Borucki, geb. Roth, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Politikwissenschaft (Westliche Regierungssysteme) an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Parteien- und Regierungsforschung, Netzwerkanalyse, qualitative Methoden. Publikationen: Regieren mit Medien (Arbeitstitel, Diss. erscheint 2014); Parteien und Medien (Aufsatz, Mitautorin, erscheint 2013). Katharina Brandes, Neuere und Neueste Geschichte, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Armenfürsorge und Kinderfürsorge im 19. und 20. Jahrhundert. Dissertationsprojekt: Kinderarmut und Kinderfürsorge in einer deutschen Großstadt: Die Kinder- und Jugendfürsorge in Hamburg zwischen Armenfürsorge und Pädagogik (1884–1914). Christoph Cluse, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent der Geschäftsführung am Arye Maimon-Institut für Geschichte der Juden der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Juden, Geschichte der Sklaverei im Mittelalter. Publikation: Europas Juden im Mittelalter. Beiträge des internationalen Symposiums in Speyer. Trier 2004 (Hg., auch in engl. Sprache). Katrin Dort, Historikerin, Mittelalterliche Geschichte, Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Hospitäler, Arme und Fürsorge im Mittelalter, Herrschaft, Sozialgeschichte, italienisches Mittelalter. Publikationen: Armenfürsorge in den karolingischen Kapitularien (Aufsatz zusammen mit Christian Reuther, 2008); Armenfürsorge in Lucca. Hospitäler in Stadt und Bistum vom frühen 8. bis ins frühe 13. Jahrhundert (erscheint 2013). Katrin Engfer, Alte Geschichte, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungscluster »Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke« an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Römische Sozialgeschichte und Lateinische Epigraphik. Dissertationsvorhaben: Die private Munifizenz der römischen Oberschicht in den Stadtgemeinden Mittel- und Süditaliens. Jörg Erdtmann, Mitarbeiter im Fach Geschichte der Universität Trier, 2009 bis 2012 im SFB 600 »Fremdheit und Armut«. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: hellenistisch-römische Kultvereine, Euergetismus, die Familie in der Antike. Dissertationsvorhaben: Kultisch-gesellschaftliche Fürsorgemaßnahmen und Euergetismus.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Timo Frankenhauser, Politikwissenschaft, Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Armutsforschung, Populismus. Jens Gründler, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Forschungsschwerpunkte: Sozialgeschichte der Psychiatrie, Armut und Fürsorge, Migration und Gesundheit. Buchpublikation: Armut und Wahnsinn. ›Arme Irre‹ und ihre Familien im Spannungsfeld von Psychiatrie und Armenfürsorge in Glasgow, 1875–1921. München 2013; weitere Aufsatzpublikationen zu Lebensläufen vor und nach der Entlassung aus einer psychiatrischen Anstalt. Susanne Hahn, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Geschichte an der Universität Trier. Aktueller Forschungsschwerpunkt: Ländliche Strukturpolitik als Armutspolitik in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg 1949 bis 1974 (Dissertationsvorhaben). Simon Karstens, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Geschichte (Frühe Neuzeit) an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Biographie zwischen Darstellungsform und historischer Methode, Normen und Praktiken von Prozessen des Souveränitätstransfers und Scheitern als Erfahrung im Kontext kolonialer Expansion. Publikation: Lehrer, Schriftsteller, Staatsreformer. Die Karriere des Joseph von Sonnenfels (1733–1817). Wien [u. a.] 2011. Markus Linden, Dr. phil., Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungszentrum Europa an der Universität Trier. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Demokratietheorie und empirische Demokratieforschung, insbesondere Politische Repräsentation und Politische Partizipation. Publikationen: Krise und Reform politischer Repräsentation. Baden-Baden 2011 (Hg., mit Winfried Thaa); Politische Integration im vereinten Deutschland. Baden-Baden 2006. Iulia-Karin Patrut, Dr. phil., Privatdozentin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier, derzeit Vertretungsprofessorin an der Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte: Kulturwissenschaftliche Literaturtheorie, Interkulturelle Literaturwissenschaft. Publikationen: Postkolonialismus und Kanon. Bielefeld 2012 (Hg., mit Herbert Uerlings); ›Zigeuner‹, Deutsche, Juden. Poetische Arbeit an einer Triangulation (erscheint 2013). Lutz Raphael, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, Geschichte der modernen Geschichtswissenschaften. Publikationen: Atlas of European Historiography. The Making of a Profession 1800–2005. Basingstoke 2010 (Hg., mit Ilaria Porciani); Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart. 2. Aufl. München 2010; Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945. München 2011. Sebastian Schmidt, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungszentrum Europa an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Neuere und Neueste Geschichte, insb. Ungleichheit und Partizipation, Konfessionalisierung,
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Diversity. Publikationen: Arme und ihre Lebensperspektiven in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. [u. a.] 2008 (Hg.); Armut und Armenfürsorge in den Geistlichen Kurfürstentümern Trier, Köln und Mainz (erscheint voraussichtlich 2013). Anett Schmitz, Ethnologin und Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Migration, Transnationalismus, Hochqualifizierte Migranten und Migrantinnen. Publikation: Transnational leben: Bildungserfolgreiche (Spät-)Aussiedler zwischen Deutschland und Russland. Bielefeld 2013. Simon Stratmann, Politikwissenschaftler und Stipendiat der Friedrich-EbertStiftung. Forschungsschwerpunkte: Parteienforschung, Armutsforschung, Sozialpolitik. Promoviert an der Universität Trier zum Thema Armut als Gegenstand des Parteienwettbewerbs seit 1980. Torben Stretz, Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte des Jüdischen Volkes der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Jüdische Geschichte (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit). Aufsatzpublikationen zur Gewalt gegen Juden im Franken des Dreißigjährigen Kriegs und zur jüdisch-christlichen Koexistenz im 16. und 17. Jahrhundert. Buchpublikation: Juden in Franken zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Diss., 2012). Winfried Thaa, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Trier. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Politisches Denken im 20. Jahrhundert, Demokratietheorie, Politische Repräsentation und Partizipation. Publikationen: Politisches Handeln. Demokratietheoretische Überlegungen im Anschluss an Hannah Arendt. Baden-Baden 2011; Die politische Repräsentation von Fremden und Armen. Baden-Baden 2009 (Hg., mit Markus Linden); Inklusion durch Repräsentation. Baden-Baden 2007 (Hg.). Nike Thurn, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Germanistischen Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Literarischer Antisemitismus, kulturwissenschaftliche Literaturtheorie. Dissertationsprojekt: ›Falsche Juden‹ – performative jüdische Identitäten in der Literatur (Arbeitstitel). Aktuelle Publikation: Prekäre Obsession. Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder. Bielefeld 2012 (Hg., mit Nicole Colin und Franziska Schößler). Herbert Uerlings, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier, ehemaliger Sprecher des SFB 600 »Fremdheit und Armut«. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Literaturwissenschaft, Postkoloniale Studien. Publikationen: »Ich bin von niedriger Rasse.« (Post-)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur. Köln [u. a.] 2006; ›Zigeuner‹ und Nation. Repräsentation – Inklusion – Exklusion. Frankfurt a. M. [u. a.] 2008 (Hg., mit Iulia-Karin Patrut); Postkolonialismus und Kanon. Bielefeld 2012 (Hg., mit Iulia-Karin Patrut). Dominik Zink, Germanistik, Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Universität Trier.
Margot Berghaus
LuhMann Leicht geMacht eine einführung in die systeMtheorie (utB für Wissenschaft 2360 M)
Niklas Luhmann ist einer der großen Gesellschaftsanalytiker des 20. Jahrhunderts. Er untersucht die Gesellschaft und ihre Teilbereiche als soziale Systeme, die allein aus Kommunikation bestehen. In den Sozial-, Kultur-, Wirtschaftsund Rechtswissenschaften genießt seine Theorie hohes Ansehen. Der Zugang allerdings fällt schwer: Luhmanns Werk ist komplex, die Sprache kompliziert. Dieses Buch bietet wertvolle Hilfe. Es schließt die Theorie auf leicht verständliche Weise auf. Dafür sorgen die klare Darstellung des Stoffes in überschaubaren Schritten sowie zahlreiche Beispiele, Schaubilder und Cartoons. Der Text ist bewusst einfach gehalten, aber auch Luhmann selbst kommt in vielen Zitaten zu Wort. Leser – auch Studienanfänger ohne Vorkenntnisse – finden so den Einstieg mit Leichtigkeit und Vergnügen. Das vielfach bewährte Studienbuch erscheint bereits in dritter, aktualisierter Auflage. 3., überarbeitete und ergänz te auflage 2010. ca. 302 S. ca.167 S/w-abb. br. 150 x 210 mm. iSbn 978-3-8252-2360-1
„[E]ine vorzügliche, vergnüglich zu lesende Einführung in Luhmanns Theorie […]. Sie sollte man aber auch jedem im Mediensystem praktisch Tätigen in die Hand drücken.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau.de | köln weimar wien
Liter atur – KuLtur – GeschLecht studien zur literatur- und KulturgescHicHte Kleine reiHe Herausgegeben von anne-K atHrin reulecKe und ulriKe vedder in verbindung mit inge stepHan und sigrid Weigel eine ausWaHl
bd. 26 | alexandra tacKe, bJörn Weyand (Hg.)
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2009. 247 s. 38 s/W-abb. br.
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2010. 274 s. 25 s/W-abb. br.
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