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German Pages 420 Year 2016
Kinder und Krieg
Historische Zeitschrift // Beihefte (Neue Folge)
beiheft 68 herausgegeben von andreas fahrmeir und hartmut leppin
Alexander Denzler, Stefan Grüner und Markus Raasch (Hrsg.)
Kinder und Krieg Von der Antike bis in die Gegenwart
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.
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Dieses Papier ist alterungsbeständig nach din / iso 9706. Gestaltung: Katja v. Ruville, Frankfurt a. M. Satz: Roland Schmid, mediaventa, München Druck und Bindung: Grafik und Druck, München isbn 978-3-11-046681-2 e-isbn (pdf) 978-3-11-046919-6 e-isbn (epub) 978-3-11-046693-5
Inhalt
Kinder und Krieg. Ein epochenübergreifender Zugriff // Alexander Denzler, Stefan Grüner und Markus Raasch
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I. Erziehung, Fürsorge und Propaganda Kriegswaisen und staatliche Fürsorge: Griechenland, Rom, Byzanz // Andreas Hartmann Verstümmelte Knaben, vergewaltigte Mädchen. Zur Konstruktion von Kreuzzugspropaganda im „Alexiosbrief“ // Alexander Berner Erziehung, Bildung und Ausbildung von Soldatenkindern im 18. Jahrhundert // Stefan Kroll Kinder und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Eine transnationale Perspektive // Eberhard Demm
_____ 105
„Autogramm bitte!“. Heldenverehrung unter deutschen Jugendlichen während des Zweiten Weltkrieges // Colin Gilmour
_____ 131
Timur. Sowjetische Kinder und der Krieg um das Gute // Matthias Stadelmann
_____ 151
II. Alltag und Erfahrung Kinder im Krieg als Thema der römischen Geschichtsschreibung der späten Republik und frühen Kaiserzeit // Christoph Schubert
_____ 179
Krieg im Mittelalter. Der Blick auf die Kinder // Hans-Henning Kortüm _____ 201 „mit weib und kinderlein wider von der statt nach hauß getzogen“. Kinder im Dreißigjährigen Krieg // Claudia Jarzebowski
_____ 219
Von Kontinuität und Wandel. Eltern-Kind-Beziehungen in den beiden Weltkriegen // Julia Brandts, Clara Hesse, Kathrin Kiefer, Markus Raasch, Hanna Rehm und Desiree Wolny
_____ 245
III. Prägungen und Erbschaften Kindheit in ‚eisernen Zeiten‘. Mentalitätsgeschichtliche und transgenerationale Aspekte von Kriegskindheiten im Ersten Weltkrieg // Barbara Stambolis
_____ 273
Deutsche Kriegswaisen im 20. Jahrhundert. Gesellschaftliche Deutungen und individuelle Erfahrungen // Lu Seegers
_____ 293
Die Waisenkinder der „verwaisten Nation“. Armenische Kinder als Überlebende des Völkermordes im Ersten Weltkrieg // Andreas Frings
_____ 321
„So verlief meine Jugend und so wird sie mir ewig im Gedächtnis bleiben – hart und ohne Freude“. Kriegsprägungen und der Weg in die SA // Lara Hensch
_____ 345
Jüdische Kindheit nach dem Zweiten Weltkrieg. Aufwachsen zwischen Trauma und Neubeginn // Kristina Dietrich
_____ 367
„Kindersoldaten“. Zur Kontinuität kämpfender Kinder in Kriegen und bewaffneten Konflikten // Michael Pittwald
_____ 383
Die Autorinnen und Autoren
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Verzeichnis der Zeitschriftensiglen
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Register
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Kinder und Krieg Ein epochenübergreifender Zugriff von Alexander Denzler, Stefan Grüner und Markus Raasch
1. Schlaglicht: Es ist Krieg. Der kleine Junge hat Abschied vom Vater zu nehmen. Die Mutter kann die Tränen nicht zurückhalten und bittet: „Mache nicht zur Waise das Kind, und zur Witwe die Gattin!“ Der kleine Junge schreit. Der Vater streichelt die Mutter und küsst den Sohn. Er wiegt ihn in den Armen und bittet für den Kleinen, der doch immer so gerne auf seinen Knien gesessen hat. 1 Indes: Der kleine Junge wird seinen Vater nicht lebend wiedersehen. Während der Totenfeier weint der Junge bitterlich und geht „umher zu den Freunden des Vaters. Fleht und faßt den einen am Rock, und den andern am Mantel“. Die Anwesenden sagen sich: „Doch viel duldet er künftig, beraubt des liebenden Vaters.“ 2 2. Schlaglicht: Die Männer kämpfen im Krieg. Die Kinder übernehmen an der ‚Heimatfront‘ die Arbeit. Sie helfen im Haus, kümmern sich um die Tiere und arbeiten auf dem Feld. Manchmal haben sie sich der Soldaten zu erwehren, die aus Wut, Verzweiflung oder Hunger auf den Feldern ihr Unwesen treiben: „Aber er frißt eindringend die tiefe Saat; und die Knaben schlagen umher mit Stecken; doch schwach ist die Stärke der Kinder, / und sie vertreiben ihn kaum, nachdem er mit Fraß sich gesättigt.“ 3 3. Schlaglicht: Die Jungen wollen dabei sein und zeigen, was sie können. Mit Eifer ziehen sie in die Schlacht. „Schnell wie ein Schwarm von Wespen am Heerweg, strömten sie vorwärts. / Die mutwilligen Knaben erbitterten nach der Gewohnheit“. Sie sind nervös und aufgeregt: „wofern ein wandernder Mann, der etwa vorbeigeht, / Absichtslos sie erregt, schnell tapferen Mutes zur Abwehr / Fliegen sie alle hervor, ihr junges Geschlecht zu beschirmen“. „Graunvoll brüllte der Schlachtruf“ und das Morden ist 1 Hom. Il., VI,402ff. 2 Hom. Il., VII,490ff. 3 Hom. Il., IV,559ff.
DOI
10.1515/9783110469196-001
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schrecklich: „und es drang aus dem Nacken die eherne Lanze durchbohrend / Unter dem Hirn ihm hervor, und zerbrach die Gebeine des Hauptes; / Und ihm entstürzten die Zähn’, und Blut erfüllte die Augen / Beid’, auch atmet’ er Blut aus dem offenen Mund’ und der Nase / Röchelnd empor; und dunkles Gewölk des Todes umhüllt’ ihn.“ 4
I. Kriegskindheiten stellen offenbar – als Phänomen des Alltags wie des interessegeleiteten Redens – eine epochenübergreifende Erscheinung dar. Die gedankliche Linie scheint einfach zu ziehen: Vom Beginn der menschlichen Geschichte mit den leidenden, verlassenen, trauernden, die Erwachsenen ersetzenden, kämpfenden und sterbenden Kriegskindern der Ilias, dem angeblichen Massaker, das die Thraker während des Peloponnesischen Krieges an Schulkindern in Mykalessos verübten 5, über den vermeintlichen Kinderkreuzzug des Jahres 1212, die minderjährige „chef de guerre“ Jeanne d’Arc 6 bis zu den vielen Mutter Courages, die im Dreißigjährigen Krieg ihre Kinder verloren haben beziehungsweise den vielen Kindern, die in diesem frühneuzeitlichen „Krieg der Kriege“ 7 zu Waisen wurden; von Francisco de Goya, der den Zeitgeist am Ausgang der Vormoderne mit dem Gemälde „Kinder Soldaten spielend“ illustrierte 8, über die abgehackten Kinderhände der Gräuelpropaganda, die „boy soldiers“ und die Massentötungen im „Zeitalter der Extreme“ 9, bis ins 21.Jahrhundert mit seinen kriegstraumatisierten Kindern des Gazastreifens 10, den Kindern, die als Selbstmordattentäter für den IS instrumentalisiert werden 11,
4 Hom. Il., IX,260ff., 346ff. 5 Thuk. VII,29,2–4. 6 Gerd Krumeich, Auf dem Weg zum Volkskrieg? Jeanne d’Arc als „chef de guerre“, in: Klaus Latzel/ Franka Maubach/Silke Satjukow (Hrsg.), Soldatinnen. Gewalt und Geschlecht im Krieg vom Mittelalter bis heute. Paderborn 2011, 113–128 . 7 Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg. Frankfurt am Main 1992, 15–20. 8 Francisco de Goya, Kinder Soldaten spielend; Standort: Madrid, Museo del Prado; Datierung: 1778/79. 9 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20.Jahrhunderts. München 1998. 10
http://www.spiegel.de/politik/ausland/gaza-krieg-die-kinder-und-das-trauma-a-986953.html
[10.3.2016]. 11
http://www.welt.de/politik/ausland/article132038569/IS-setzt-Kinder-als-Selbstmordattentaeter-
ein.html [10.3.2016].
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oder den Hunderttausenden von Minderjährigen, die sich unter den syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen befinden und von Kinderarbeit, Zwangsheirat, sexueller Ausbeutung und Menschenhandel bedroht sind 12. So klar die Linie anmutet, so wenig ist Kriegskindheit allerdings bisher als ein raum- und zeitübergreifendes Phänomen erforscht worden. Diese Vernachlässigung ist umso erstaunlicher, als der Boom, den das Thema ‚Kriegskinder‘ seit einigen Jahren erlebt, frappierend erscheint. Er wurde befeuert durch die Jubiläumsjahre 2005 und 2014, befördert durch populärwissenschaftliche Arbeiten 13 und manifestiert sich in größeren wie vor allem lokalgeschichtlich angelegten Ausstellungen 14, Vorlesungsreihen 15 und einer nicht enden 12
http://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/mittagsmagazin/sendung/syrien-kin-
der-fluechtlinge-unicef-unhcr-100.html [10.3.2016]. 13 Hilke Lorenz, Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation. 3.Aufl. München 2003; Anne-Ev Ustorf, Wir Kinder der Kriegskinder. Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs. 6.Aufl. Freiburg 2010; Sabine Bode, Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. 20.Aufl. Stuttgart 2015; dies., Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. 16.Aufl. Stuttgart 2015; dies., Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter. 5.Aufl. Stuttgart 2015. 14 Zum Beispiel: „Die Kriegskinder-Generation in Freiberg“. 8.Mai bis 24.Oktober 2010. Sonderausstellung im Stadt- und Bergbaumuseum Freiberg (siehe http://www.museum-freiberg.de/cms/index.php?option=com_content&view=article&id=38%3Adie-kriegskinder-generation-in-freiberg&Itemid=51 [10.3.2016]); „Erbschaften – Die Kriegskinder“. Ausstellung vom 29.April bis 19.Mai 2012 von Cornelia Enax, Lutherkirche Köln (siehe http://www.lutherkirche-koeln.de/ausstellung-cornelia-enax-kriegskinder.aspx [10.3.2016]); „Kriegskinder. Eine Spurensuche in Oldenburg“, ab 16.Juni 2013 im Kulturzentrum PFL [siehe http://oldenburger-onlinezeitung.de/lokal/kriegskinder-eine-spurensuche-in-oldenburg [10.3.2016]); „Kriegskinder – Begegnungen heute“ („War Children – Encounters today“). Ein Ausstellungsprojekt des Anne Frank Zentrums, seit 2013 (siehe http://www.annefrank.de/?id=224 [10.3.2016]); „Bayerische Kriegskinder (1939–1945)“. 7. Februar bis 2. März 2013 in der Sparkasse Eichstätt (siehe http:// www1.ku.de/ggf/nng/zeitzeuge/ [10.3.2016]); „Staufener Kriegskinder“, Ausstellung im Rathaus, seit 2014 (siehe http://www.staufen.de/rathaus-stadtverwaltung/stadtarchiv/staufener-kriegskinder-ausstellungim-rathaus~165272/ [10.3.2016]); wichtige Ausstellungen zum Ersten Weltkrieg: „Kindheit und Jugend im Ersten Weltkrieg“, 12.Dezember 2014 bis 7. Juni 2015 in der Nationalbibliothek Leipzig (siehe http:// www.mz-web.de/kultur/kindheit-und-jugend-im-ersten-weltkrieg-ausstellung-in-leipzig-zeigt-militarisierung-des-zivilen,20642198,29478728.html [10.3.2016]); „Das Kinderbuch erklärt den Krieg – Der Erste Weltkrieg in Kinder- und Jugendbüchern“, Burg Wissem in Troisdorf, 4.August bis 12.Oktober 2014 (siehe http://www.welt.de/kultur/article131055405/Der-Erste-Weltkrieg-in-Kinderbuechern.html [10.3.2016]); „Bilder-, Kinder- und Jugendbücher aus der Zeit des Ersten Weltkriegs (1914–1918)“. Eine Ausstellung des Instituts für Jugendbuchforschung im Rahmenprogramm von „100 Jahre Goethe-Universität“, 22.April bis 14. November 2014 (siehe http://www1.uni-frankfurt.de/fb/fb10/jubufo / Broschuere_WK_fertig.pdf [10.3.2016]). 15 „Der Erste Weltkrieg – Kindheit, Jugend, literarische Erinnerungskultur“. Eine Vortragsreihe des Instituts für Jugendbuchforschung in Kooperation mit dem Historischen Museum [2014] (siehe http:// www.muk.uni-frankfurt.de/50315127/092? [10.3.2016]).
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wollenden Flut von Publikationen 16. Der Fokus liegt freilich auf dem 20. Jahrhundert, den Fluchtpunkt bildet in Deutschland der Zweite, in Großbritannien und Frankreich der Erste Weltkrieg. Eine wegweisende Monografie lieferte Nicolas Stargardt, der sich am Beispiel des nationalsozialistischen Deutschland multiperspektivisch mit Kriegskindheiten im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzt und dabei sowohl die deutsche Jugend an der ‚Heimatfront‘ als auch behinderte und jüdische Kinder ins Blickfeld nimmt. 17 Für den Ersten Weltkrieg hat zuletzt Rosie Kennedy eine umfassende Darstellung aus britischer Sicht versucht. 18
II. Die Forschung zum Thema ‚Kriegskinder‘ ist durchaus elaboriert und umkreist drei Themenbereiche: 1. Zumal in Deutschland florierte zuletzt die Langzeitperspektive. In dem Maße, in dem die Alterskohorte der zwischen 1930 und 1945 Geborenen mediale Stimme und wissenschaftliche Beachtung erhielt, wurde die Möglichkeit ergriffen, die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft im Licht der erkenntnisleitenden Frage nach psychohistorischen Erbschaften neu zu vermessen. Im Brennpunkt stand „der lange Schatten des Krieges“. 19 Historiografische Zugänge 20 trafen sich hier mit pädago-
16
Vom 12.–14.November 2015 fand in Leipzig eine internationale Tagung statt, die sich mit „Kriegskin-
dern“ beschäftigte: Martin Jost, Tagungsbericht: Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Eine vergleichende Perspektive, 12.11.2015–14.11.2015 Leipzig, in: H-Soz-Kult, 20.2.2016, [10.3.2016]. Vom 13.–15.Juli 2016 verhandelte eine Salzburger Tagung das Thema „Children and War. Past and Present“: http://www.warchildholland.org/evenement/children-andwar-past-and-present [10.3.2016]. 17
Nicholas Stargardt, Witnesses of War. Children’s Lives Under the Nazis. London 2005, deutsch: „Mai-
käfer flieg!“ Hitlers Krieg und die Kinder. München 2006. 18
Rosie Kennedy, The Children’s War. Britain 1914–1918. Basingstoke 2014.
19
Elisabeth Domansky/Jutta de Jong, Der lange Schatten des Krieges. Deutsche Lebensgeschichten nach
1945. Münster 2000. 20
Jürgen Reulecke (Hrsg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20.Jahrhundert. München 2003;
Hans-Heino Ewers/Jana Mikota/Jürgen Reulecke/Jürgen Zinnecker (Hrsg.), Erinnerungen an Kriegskindheiten. Erfahrungsräume, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik unter sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Weinheim/München 2006; Cornelia Staudacher, Vaterlose Töchter. Kriegskinder zwischen Freiheit und Anpassung. Porträts. Zürich 2006; Lu Seegers/Jürgen Reulecke (Hrsg.), Die „Generation der Kriegskinder“. Historische Hintergründe und Deutungen. Gießen 2009; dies., „Vati blieb im Krieg“. Vater-
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gischen, soziologischen und psychotherapeutischen Fragestellungen 21. Auch die Literaturwissenschaft hat die Kooperation mit der Historiografie gesucht. 22 Vielfach stand dabei das Deutungskonzept der ‚Vaterlosigkeit‘ im Mittelpunkt, das es erlaubte, die transgenerationalen Wirkungen von kriegsbedingter Vaterferne bis hin zum Vaterverlust deutlicher als bisher einzugrenzen. 23 Mit einigem Gewinn wurde es in den letzten Jahren auch für erste explorative Vorstöße in die Zwischenkriegszeit und das frühe 20.Jahrhundert nutzbar gemacht, so dass der Erste Weltkrieg ver-
losigkeit als generationelle Erfahrung im 20.Jahrhundert – Deutschland und Polen. Göttingen 2013; Barbara Stambolis, Leben mit und in der Geschichte. Deutsche Historiker Jahrgang 1943. Essen 2010; dies., Töchter ohne Väter. Frauen der Kriegsgeneration und ihre lebenslange Sehnsucht. Stuttgart 2012; Populärwissenschaftlich: Bettina Alberti, Seelische Trümmer. Geboren in den 50er und 60er Jahren. Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas. München 2010. 21 Allgemein: Insa Fooken/Jürgen Zinnecker (Hrsg.), Trauma und Resilienz. Chancen und Risiken lebensgeschichtlicher Bewältigung von belasteten Kindheiten. Weinheim/München 2007; Christa Schmidt, Das entsetzliche Erbe. Transgenerationale Traumata und ihre Heilung. 2.Aufl. Norderstedt 2012; Michaela Huber/Reinhard Plassmann (Hrsg.), Transgenerationale Traumatisierung. 2.Aufl. Paderborn 2012; Marianne Rauwald (Hrsg.), Vererbte Wunden. Transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen. Weinheim 2013; Udo Baer/Gabriele Frick-Baer, Wie Traumata in die nächste Generation wirken. Untersuchungen, Erfahrungen, therapeutische Hilfen. 4.Aufl. Neukirchen-Vluyn 2014; ausdrücklicher Kriegsbezug: Ulrike Jureit/Beate Meyer (Hrsg.), Verletzungen. Lebensgeschichtliche Verarbeitungen von Kriegserfahrungen. Hamburg 1994; Hartmut Radebold, Abwesende Väter und Kriegskindheit. Fortbestehende Folgen in Psychoanalysen. Göttingen 2000; Jürgen Müller-Hohagen, Geschichte in uns. Seelische Auswirkungen bei den Nachkommen von NS-Tätern und Mitläufern. Berlin 2002; Ulla Roberts, Starke Mütter – ferne Väter. Folgen der Kriegskindheit einer Töchtergeneration. Gießen 2005; Hartmut Radebold, Abwesende Väter und Kriegskindheit. Alte Verletzungen bewältigen. Stuttgart 2010; Kornelius Roth (Hrsg.), Deutschland und seine Weltkriege. Schicksale in drei Generationen und ihre Bewältigung. Goch 2012; Jürgen Müller-Hohagen, Verleugnet, verdrängt, verschwiegen. Seelische Nachwirkungen der NS-Zeit und Wege zu ihrer Überwindung. 2.Aufl. München 2014; Hartmut Radebold, Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit. Hilfen für Kriegskinder im Alter. 5.Aufl. Stuttgart 2014; Michael Schneider/Joachim Süss (Hrsg.), Nebelkinder. Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte. Berlin u.a. 2015; explizit interdisziplinär: Hartmut Radebold (Hrsg.), Kindheiten im II. Weltkrieg und ihre Folgen. Erweiterte und überarbeitete Aufl. Gießen 2004; ders./Gereon Heuft/Insa Fooken (Hrsg.), Kindheiten im Zweiten Weltkrieg. Kriegserfahrungen und deren Folgen aus psychohistorischer Perspektive. Weinheim/München 2006; Hermann Schulz/Hartmut Radebold/Jürgen Reulecke (Hrsg.), Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration. 2. bearb. u. erg.Aufl. Berlin 2007; Hartmut Radebold/Werner Bohleber/Jürgen Zinnecker (Hrsg.), Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen (Kinder des Weltkrieges). 2.Aufl. Weinheim 2009. 22 Beispielsweise: Carsten Gansel/Pawel Zimniak (Hrsg.), Kriegskindheiten und Erinnerungsarbeit. Zur historischen und literarischen Verarbeitung von Krieg und Vertreibung. Berlin 2012. 23 Zur kritischen Selbstverortung: Dieter Thomä, Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee. Berlin 2010.
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stärkt Aufmerksamkeit erhielt. 24 Inhärent ist dieser relativ jungen Herangehensweise, dass die deutschen Nachkriegsgesellschaften des 20. Jahrhunderts jeweils als Gemeinschaften von „Überlebenden“ aufgefasst 25, Formen von Kriegskindheiten im Wesentlichen von ihren mentalen und sozialen Folgen her analysiert werden. 2. In der internationalen Forschung ist darüber hinaus der Interessensschwerpunkt Erziehung und Propaganda fest etabliert. Seit Jahrzehnten entstehen gerade in Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder den USA 26 historiographische Arbeiten, die Kinder als Objekte von staatlicher und vorstaatlicher Propaganda, als Adressaten kriegspädagogischer Schulerziehung oder als Rezipienten von patriotischer Kinderliteratur, einschlägigem Liedgut und speziell gestaltetem Spielzeug und Kartenmaterial in Augenschein nehmen. Die Rolle der Jugend für die geistige Mobilmachung stellt im Kontext des Ersten 27 wie des Zweiten Weltkrieges 28 ebenso
24
Arndt Weinrich, Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozia-
lismus. Essen 2013; Barbara Stambolis (Hrsg.), Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten. Beiträge zu einem historischen und gesellschaftlichen Schlüsselthema. Weinheim/Basel 2013; dies., Aufgewachsen in „eiserner Zeit“. Kriegskinder zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise. Gießen 2014. 25
Svenja Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalt-
erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. München 2009. 26
Wenig ausgeprägt ist die Forschung in Russland und (Süd-)Osteuropa. Vgl. dazu die ausführlichen
Hinweise von Matthias Stadelmann in diesem Band. 27
Zum Beispiel: Marieluise Christadler, Kriegserziehung im Jugendbuch. Literarische Mobilmachung in
Deutschland und Frankreich vor 1914. Frankfurt am Main 1978; Heinz Lemmermann, Kriegserziehung im Kaiserreich. Studien zur politischen Funktion von Schule und Schulmusik 1890–1918. 2 Bde. Bremen 1984; Arbeitsgruppe „Lehrer und Krieg“ (Hrsg.), Lehrer helfen siegen. Kriegspädagogik im Kaiserreich mit Beiträgen zur NS-Kriegspädagogik. Berlin 1987; Stéphane Audoin-Rouzeau, Die mobilisierten Kinder. Erziehung zum Krieg an französischen Schulen, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.), „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…“ Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs. Essen 1993, 151–174; Eberhard Demm, German Teachers at War, in: Hugh P. Cecil (Ed.), Facing Armageddon. The First World War Experienced. London 1996, 709–718; Heike Hoffmann, „Schwarzer Peter im Weltkrieg“. Die deutsche Spielwarenindustrie 1914–1918, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Dieter Langewiesche/Hans-Peter Ullmann (Hrsg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs. Essen 1997, 323–335; Eberhard Demm, Deutschlands Kinder im Ersten Weltkrieg. Zwischen Propaganda und Sozialfürsorge, in: MGZ 60, 2001, H.1, 51–98; Olivier Faron, Les enfants du deuil. Orphelins et pupilles de la nation de la première guerre mondiale (1914–1941). Paris 2001; Stéphane Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants 1914–1918. 2.Aufl. Paris 2004; Antonio Gibelli, Il popolo bambino. Infanzia e nazione dalla Grande guerra a Salò. Turin 2005; Werner Auer, Kriegskinder. Schule und Bildung in Tirol im Ersten Weltkrieg. Innsbruck 2008; Stéphane Audoin-Rouzeau, Kinder und Jugendliche, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn 2009, 135–141; Bérénice Zunino-Lecoq, Représentations des femmes et des enfants sur les cartes postales allemandes de la Première guerre mondiale. Paris 2009; Andrew Donson, Youth in the Fatherless Land. War Pedagogy, Nationalism and Authority in Ger-
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ein Standardthema dar wie ihre „Kriegsdienstleistung hinter der Front“ 29. Dass Kinder als (instrumentalisierte) Akteure von Propaganda auftraten, steht mittlerweile außer Frage. Umstritten bleibt jedoch, inwieweit sie als Überzeugungstäter handelten, wie groß die Wirkung der Propaganda auf sie selbst ausfiel und welche zeitlichen, sozialen und geschlechtsspezifischen Differenzierungen dabei vorzunehmen sind. 30 3. Des Weiteren gibt es eine Fülle an Literatur zu kriegsbedingten Alltagserfahrungen von Kindern und ihren Familien. Diese Feststellung gilt für das auch jenseits der Weltkriege von Politikwissenschaft, Ethnologie, Jurisprudenz oder Psychologie intensiv erforschte Phänomen der Kindersoldaten 31, aber aus historiografischer Per-
many 1914–1918. Cambridge Mass./London 2010; Martin Kronenberg, Die Bedeutung der Schule für die „Heimatfront“ im Ersten Weltkrieg. Sammlungen, Hilfsdienste, Feiern und Nagelungen im Deutschen Reich. Göttingen 2010; Susan R. Fisher, Boys and Girls in No Man’s Land. English-Canadian Children in the First World War. Toronto 2011; Laurence Olivier-Messonnier, Guerre et littérature de jeunesse (1913–1919). Analyse des dérives patriotiques dans les périodiques pour enfants. Paris 2012; Silja Geisler/Beatrix Mühlberg-Scholtz (Hrsg.), „Wir spielen Krieg“. Patriotisch-militaristische Früherziehung in Bilderbuch und Spiel 1870–1918. Begleitpublikation zur Ausstellung in der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek Mainz, 9.Mai bis 13. September 2014. Mainz 2014. 28 Zum Beispiel für den Zweiten Weltkrieg: Roy Lowe, Education and the Second World War. Studies in Schooling and Social Change. London 1992; Gerhard Kock, „Der Führer sorgt für unsere Kinder ...“ Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg. Paderborn 1997; Wolfgang Keim, Erziehung unter der NS-Diktatur. Bd. 2: Kriegsvorbereitung, Krieg und Holocaust. Darmstadt 1997; Gerard Giardano, Wartime Schools. How World War II Changed American Education. New York 2004; Michael Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik. 2 Bde. München 2003; Charles Dorn, American Education, Democracy and the Second World War. New York 2007; Andreas Ploeger, „Kanonenfutter“. Die Verführung der Hitler-Jugend in den Tod. Zur Psychologie des „Totalen Krieges“. Lengerich 2011; Julie K. de Graffenried, Sacrificing Childhood. Children and the Soviet State in the Great Patriotic War. Lawrence 2014; beide Weltkriege im Blick hat: Ross. F. Collins, Children, War and Propaganda. New York 2011; eine Ausnahmeerscheinung, weil epochenübergreifend ausgerichtet: Peter Lukasch, Der muß haben ein Gewehr. Krieg, Militarismus und patriotische Erziehung in Kindermedien vom 18.Jahrhundert bis in die Gegenwart. Norderstedt 2012. 29 Zit. nach Christa Hämmerle, An der „Schulfront“. Kindheit – staatlich instrumentalisiert, in: Hannes Stekl/Christa Hämmerle/Ernst Bruckmüller (Hrsg.), Kindheit und Schule im Ersten Weltkrieg. Wien 2014, 112–136, 115. 30 Vgl. den Forschungsbericht von Hannes Stekl/Christa Hämmerle, Kindheit/en im Ersten Weltkrieg. Eine Annäherung, in: Stekl u.a. (Hrsg.), Kindheit (wie Anm.29), 7–44. Ihren differenzierten Betrachtungen steht etwa der Befund von Rosie Kennedy entgegen, die bei britischen Kindern eine umfassend systemkonforme Haltung konstatiert: Kennedy, The Children’s War (wie Anm.18), 159f. 31 Zum Beispiel: Helmut Spitzer, „Kindersoldaten“ – verlorene Kindheit und Trauma. Möglichkeiten der Rehabilitation am Beispiel Norduganda. Wien 1999; Yawa Ossi Essiomle, Psychologische Betreuung ehema-
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spektive besonders für das Thema der ‚Heimatfront‘. Das physische und psychische Erleben direkter und indirekter Kriegseinwirkungen wie Hunger, Kälte und körperlicher Verletzung oder die Erfahrung von Mangel, Verlust und Trauer standen dabei für den Ersten 32 wie den Zweiten Weltkrieg 33 im Mittelpunkt. Auch des Phänomens
liger Kindersoldaten in Westafrika. Berlin 2005; Boia Efraime, Psychotherapie mit Kindersoldaten in Mosambik. Auf der Suche nach den Wirkfaktoren. Köln 2007; Michael Pittwald, Kindersoldaten, neue Kriege und Gewaltmärkte. 2., überarb. und erw.Aufl. Belm-Vehrte 2008; Gregoria Palomo Suárez, Kindersoldaten und Völkerstrafrecht. Die Strafbarkeit der Rekrutierung und Verwendung von Kindersoldaten nach Völkerrecht. Berlin 2009; Sabine von Schorlemer, Kindersoldaten und bewaffneter Konflikt. Nukleus eines umfassenden Schutzregimes der Vereinten Nationen. Frankfurt am Main 2009; Michael Elsässer, Ihr Lachen klingt wie Weinen. Berichte von Kindersoldaten aus Uganda. Aachen 2012; Lucia Verginer, Kriegstraumata und ihre Verarbeitung. Eine ethnopsychoanalytische Untersuchung der Entwicklungsprozesse ehemaliger ‚Kindersoldaten‘ der Lord’s Resistance Army in Norduganda. Stuttgart 2012; Flavia von Meiss, Die Pflichten der Staaten im menschenrechtlichen Schutz von Kindersoldaten. Zürich 2014; Kristof Krahl, Neue Kriege – neue Krieger. Kindersoldaten in Norduganda. Hamburg 2014; für das 19. und 20.Jahrhundert: Manon Pignot (Ed.), L’enfant soldat XIXe–XXIe siècle. Une approche critique. Paris 2012; für die Weltkriege: Karl Heinz Jahncke, Hitlers letztes Aufgebot. Deutsche Jugend im sechsten Kriegsjahr 1944/45. Essen 1993; Richard van Emden, Boy Soldiers of the Great War. Their Own Stories for the First Time. London 2005; Hermann Queck (Hrsg.), Jugend an der Front. Das Kriegsgeschehen im Südwesten. Gerlingen 2008; John Oakes, Kitchener’s Lost Boys. From the Playing Fields to the Killing Fields. The Lost Children of the Great War. Gloucestershire 2009; Olga Kucherenko, Little Soldiers. How Soviet Children Went to War, 1941–1945. Oxford 2011; aus einer Vielzahl an einzelbiografischen Zugängen beispielhaft: Wolfgang von Buch, Wir Kindersoldaten. Berlin 1998; Ivar Siegfried Hahnberg, Der Junge aus Riga. Erlebnisse eines deutschen Kindersoldaten aus Lettland, 1939–1946. Berlin 2005; Günter Lucks/Harald Stutte, Ich war Hitlers letztes Aufgebot. Meine Erlebnisse als SS-Kindersoldat. 2.Aufl. Hamburg 2010; dies., Hitlers vergessene Kinderarmee. Hamburg 2014. 32
Zum Beispiel: Christa Hämmerle (Hrsg.), Kindheit im Ersten Weltkrieg. Wien 1993; Thomas Compère-
Morel (Ed.), Les enfants de la Grande Guerre. Exposition du 20 juin au 26 octobre 2003. Historial de la Grande Guerre. Péronne 2003; Michael Roper, Secret Battle. Emotional Survival in the Great War. Manchester 2009; Manon Pignot, Allons enfants de la patrie. Génération Grande Guerre. Paris 2012; dies., Children, in: Jay Winter (Ed.), The Cambridge History of the First World War. Vol.3: Civil Society. Cambridge 2014, 29–45, 645–648; Yury Winterberg/Sonya Winterberg, Kleine Hände im Großen Krieg. Kinderschicksale im Ersten Weltkrieg. Berlin 2014. 33
Zum Beispiel: Karla Poewe, Childhood in Germany during World War II. New York 1988; Gilles Raga-
che, Les enfants de la guerre. Vivre, survivre, lire et jouer en France 1939–1949. Paris 1997; Christine Lipp (Hrsg.), Kindheit und Krieg. Frankfurt am Main 1992; William M. Tuttle, Daddy’s Gone to War. The Second World War in the Lives of America’s Children. New York 1995; Margarete Dörr, „Der Krieg hat uns geprägt“. Wie Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebten. Frankfurt am Main 2007; Rolf Schoffit, „Viele liebe Grüße an meine Kinderle, sollen recht brav bleiben“. Väter und die Wahrnehmung der Vaterrolle im Spiegel von Feldpostbriefen 1939–1945. Tübingen 2010; Hester Vaizey, Surviving Hitler’s War. Family Life in Germany, 1939–48. Basingstoke 2010.
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der notbedingten Kinderprostitution hat sich die Forschung angenommen. 34 Eine wichtige Sondergruppe bilden Kinder, die Opfer von Rassenideologie und Völkermord wurden. Dies betrifft für den Ersten Weltkrieg armenische Kinder 35, für den Zweiten etwa Kinder von osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen 36. Besondere Aufmerksamkeit haben Sinti und Roma sowie allen voran – auch jenseits von Anne Frank 37 – jüdische Kinder während des Zweiten Weltkrieges erfahren. Das Leben im Untergrund, Fluchtsituationen und Rettungsbemühungen wurden ebenso beleuchtet wie zuletzt verstärkt der Alltag während der Deportationen, bei der Zwangsarbeit, in den Ghettos und den Konzentrationslagern 38; die Menge an einzelbiogra34 Aurore François, From Street Walking to Convent. Child Prostitution Cases Judged by the Juvenile Court of Brussels, in: Heather Jones/Jennifer O’Brien (Eds.), Untold War. New Perspectives in First World War Studies. Leiden/Boston 2008, 151–177. 35 Zum Beispiel: İbrahim Ethem Atnur, Türkiye’de Ermeni kadnlar ve çocuklar meselesi (1915–1923). Ankara 2005, der allerdings nicht von einem „Völkermord“ sprechen mag. Anders z.B.: Keith David Watenpaugh, „Are there any Children for Sale?“ Genocide and the Forced Transfer of Armenian Children (1915– 1922), in: Journal of Human Rights 12, 2013, 283–295. 36 Raimund Reiter, Tötungsstätten für ausländische Kinder im Zweiten Weltkrieg. Zum Spannungsverhältnis von kriegswirtschaftlichem Arbeitseinsatz und nationalsozialistischer Rassenpolitik in Niedersachsen. Hannover 1993; Gisela Schwarze, Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg. Essen 1997. 37 Als Einstieg etwa: Melissa Müller, Das Mädchen Anne Frank. Die Biographie. Um unbekanntes Material erweiterte Neuausgabe. Frankfurt am Main 2013. 38 Deborah Dwork, Children with a Star. Jewish Youth in Nazi Europe. New Haven 1991; George Eisen/ Friedrich Griese, Spielen im Schatten des Todes. Kinder im Holocaust. München 1993; Raphael Delpard, Überleben im Versteck. Jüdische Kinder 1940–1944. Bonn 1994; Richard C. Lukas, Did the Children Cry? Hitler’s War against Jewish and Polish Children, 1939–1945. New York 1994; Edgar Bamberger/Annegret Ehmann (Hrsg.), Kinder und Jugendliche als Opfer des Holocaust. Dokumentation einer internationalen Tagung in der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz, 12. bis 14.Dezember 1994. Heidelberg 1995; Viktoria Hertling (Hrsg.), Mit den Augen eines Kindes. Children in the Holocaust, Children in Exile, Children under Fascism. Amsterdam 1998; Sue Vice, Children Writing the Holocaust. Basingstoke 2004; Gudrun Maierhof/Chana Schütz/Hermann Simon (Hrsg.), Aus Kindern wurden Briefe. Die Rettung jüdischer Kinder aus NaziDeutschland. Catalogue de l’exposition à la fondation „Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“, Berlin, du 29 Septembre 2004 au 31 Janvier 2005. Berlin 2004; Kerstin Muth, Versteckte Kinder. Trauma und Überleben der „hidden children“ im Nationalsozialismus. Gießen 2004; Birgit Schreiber, Versteckt – jüdische Kinder im nationalsozialistischen Deutschland und ihr Leben danach. Interpretationen biographischer Interviews. Frankfurt am Main 2005; Andrea Reiter (Ed.), Children of the Holocaust. London 2006; Claudia Curio, Verfolgung, Flucht, Rettung. Die Kindertransporte 1938/39 nach Großbritannien. Berlin 2006; Diane L. Wolf, Beyond Anne Frank. Hidden Children and Postwar Families in Holland. Berkeley 2007; Krzysztof Ruchniewicz/Jürgen Zinnecker (Hrsg.), Zwischen Zwangsarbeit, Holocaust und Vertreibung. Polnische, jüdische und deutsche Kindheiten im besetzten Polen. Weinheim 2007; Joanna Beata Michlic, Jewish Children in Nazi-Occupied Poland. Survival and Polish-Jewish Relations during the Holocaust as Reflected
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fischer Literatur beeindruckt 39. Zunehmend tritt offenkundig das Forschungsbemühen in den Vordergrund, den Blickwinkel der Untersuchungen über die kindbezogenen Diskurse und Repräsentationen Erwachsener hinaus auf die Analyse kindlicher Erfahrungswelten und Rezeptionsweisen auszudehnen. 40 Kinder werden nicht länger lediglich als Opfer der Geschichte, sondern als ihre aktiven Gestalter begriffen. Diese perspektivische Erweiterung geht in der Praxis einher mit der Erschließung neuer Quellen, insbesondere von Kinderzeichnungen, -briefen oder -tagebüchern, die mittlerweile in nicht geringer Zahl gedruckt vorliegen. 41
in Early Postwar Recollections. Jerusalem 2008; Suzanne Vromen, Hidden Children of the Holocaust. Belgian Nuns and their Daring Rescue of Young Jews from the Nazis. New York 2008; Irith Dublon-Knebel (Hrsg.), Schnittpunkt des Holocaust. Jüdische Frauen und Kinder im Konzentrationslager Ravensbrück. Berlin 2009; Patricia Heberer, Children during the Holocaust. Lanham 2011; Verena Buser, Überleben von Kindern und Jugendlichen in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Auschwitz und Bergen-Belsen. Berlin 2011; André Rosenberg, Les enfants dans la Shoah. La déportation des enfants juifs et tsiganes de France. Paris 2013; Bruno Maida, La Shoah dei bambini. La persecuzione dell’infanzia ebraica in Italia, 1938– 1945. Turin 2013. 39 Beispielhaft: Azriel Eisenberg, The Lost Generation. Children in the Holocaust. New York 1982; Roswitha Matwin-Buschmann, Kinder des Holocaust sprechen. Lebensberichte. Leipzig 1995; Heinrich Demerer, Als Kind in NS-Konzentrationslagern. Aufzeichnungen. Berlin 2009; Lagergemeinschaft Ravensbrück/ Freundeskreis e.V. (Hrsg.), Kinder von KZ-Häftlingen. Eine vergessene Generation. Münster 2011; Estelle Glaser Laughlin, Transcending Darkness. A Girl’s Journey out of the Holocaust. Lubbock 2012; Renata Calverley, Let Me Tell You a Story. A Memoir of a Wartime Childhood. London 2013; Elaine Saphier Fox (Ed.), Out of Chaos. Hidden Children Remember the Holocaust. Evanston 2013; Tina Hüttl/Alexander Meschnig (Hrsg.), Uns kriegt ihr nicht. Als Kinder versteckt – jüdische Überlebende erzählen. München 2013. 40
Siehe grundlegend zum Erfahrungsbegriff und zur Erfahrungsgeschichte von Kriegen: Anton Schind-
ling, Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Erfahrungsgeschichte und Konfessionalisierung, in: Matthias Asche/Anton Schindling. (Hrsg.), Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Münster 2001, 11–51; Horst Carl/Nikolaus Buschmann, Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges. Forschung, Theorie, Fragestellung, in: dies. (Hrsg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg. Paderborn 2001, 11–26; Nikolaus Buschmann/Aribert Reimann, Die Konstruktion historischer Erfahrung. Neue Wege zu einer Erfahrungsgeschichte des Krieges, in: ebd.261–271. Siehe ferner Anton Schindling/Georg Schild, Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Paderborn 2009, und neuerdings Andreas Rutz (Hrsg.), Krieg und Kriegserfahrung im Westen des Reiches. Göttingen 2016, 1568–1714. 41
Ernst Buchner (Eduard Mayer), 1914–1918. Wie es damals daheim war. Das Kriegstagebuch eines Kna-
ben. Leipzig 1930; Alfred et Françoise Brauner, J’ai dessiné la guerre. Le dessin d’enfant dans la guerre. Paris 1991; Gerold Kiendl (Hrsg.), Nessis Kriegstagebuch aus dem Ersten Weltkrieg. Bergen 1993; Anaïs Nin, Das Kindertagebuch 1914–1919. München 1995; Yves Congar, Journal de la Guerre (1914–1918). Paris 1997; Marcelle Lerouge, Journal d’une adolescente dans la guerre (1914–1918). Paris 2004; Manon Pignot, La guerre
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Gleichsam zwischen den drei Dimensionen stehen die wichtigen Themen Sozialfürsorge inklusive der Waisenproblematik 42 sowie Opposition im Allgemeinen 43 und Jugendkriminalität im Besonderen 44. Sie sind in der Literatur sowohl als All-
des crayons. Quand les enfants de Montmartre dessinaient la Grande Guerre. Paris 2004; Noa Barbara Nussbaum, Für uns kein Ausweg. Jüdische Kinder und Jugendliche in ihren Schrift- und Bildzeugnissen aus der Zeit der Shoah. Heidelberg 2004; Rainer Horbelt (Bearb.), Die Kinder von Buchenwald. Texte und Zeichnungen von Überlebenden. Bielefeld 2005; Feliks Tych (Hrsg.), Kinder über den Holocaust. Frühe Zeugnisse. 1944–1948. Berlin 2008; Herta Lange/Benedikt Burkhard (Hrsg.), „Abends wenn wir essen fehlt uns immer einer“. Kinder schreiben an ihre Väter, 1939–1945. Tübingen 2000. 42 Zum Beispiel: Debórah Dwork, War is Good for Babies and other Young Children. A History of the Infant and Child Welfare Movement in England, 1898–1918. London 1987; Ute Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg. Göttingen 1989, 125ff.; Demm, Deutschlands Kinder (wie Anm.27); Birthe Kundrus, Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hamburg 1995; Michael Schneider, In der Kriegsgesellschaft. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1939 bis 1945. Bonn 2014, 378ff.; Bernhard Rodenstein, Orphelins de guerre. Enfin des mots. Colmar 2007; Ursula Bischoff/Carmen Stadelhofer (Hrsg.), Zur Sozialgeschichte [von] Kriegerwitwen und Kriegswaisen. Schicksale und Lebensumstände aus dem Ulmer Raum vor und nach 1945. Ulm 2009; Pierluigi Pironti, Kriegsopfer und Staat. Sozialpolitik für Invaliden, Witwen und Waisen des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Italien (1914–1924). Köln 2015; Uğur Ümit Üngör, Orphans, Converts, and Prostitutes. Social Consequences of War and Persecution in the Ottoman Empire, 1914–1923, in: War in History 19, 2012, 173–192. 43 Für den Ersten Weltkrieg ist der Blick vor allem auf die Arbeiterjugend gerichtet worden: Siegfried Bünger, Die sozialistische Antikriegsbewegung in Großbritannien 1914–1917. Berlin 1967; Heinrich Grossheim, Sozialisten in der Verantwortung. Die französischen Sozialisten und Gewerkschaftler im Ersten Weltkrieg 1914–17. Bonn 1978; Erich Eberts, Arbeiterjugend 1904–1945. Sozialistische Erziehungsgemeinschaft, politische Organisation. 2.Aufl. Frankfurt am Main 1981; Michael J. Childs, Labour’s Apprentices. WorkingClass Lads in Late Victorian and Edwardian England. London 1992. Für den Zweiten Weltkrieg und zumal für NS-Deutschland ist das Thema Jugend und Opposition seit den 1970er-Jahren intensiv beforscht worden. Zum Einstieg immer noch wertvoll: Arno Klönne, Die Hitler-Jugend und ihre Gegner. Köln 2003. Außerdem sei auf zwei Online-Portale verwiesen: http://www.jugend1918–1945.de/[10.3.2016]; http:// www.jugend-protest.com/ [10.3.2016]. 44 Genannt seien lediglich einige neuere Studien, die ausdrücklichen Kriegsbezug besitzen: Sarah Bornhorst, Selbstversorger. Jugendkriminalität während des 1. Weltkriegs im Landgerichtsbezirk Ulm. Konstanz 2010; Frank Kebbedies, Außer Kontrolle. Jugendkriminalpolitik in der NS-Zeit und der frühen Nachkriegszeit. Essen 2000; Sarah Fishman, The Battle for Children. World War II, Youth Crime, and Juvenile Justice in Twentieth-Century France. Cambridge 2002; Christian Amann, Ordentliche Jugendgerichtsbarkeit und Justizalltag im OLG-Bezirk Hamm von 1939 bis 1945. Berlin 2003; Martin Guse, Die Jugendschutzlager Moringen und Uckermark, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 9: Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jugendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeiterlager. München 2009, 100–114; Michael Löffelsender, Strafjustiz an der Heimatfront. Die strafrechtliche Verfolgung von Frauen und Jugendlichen im Oberlandesgerichtsbezirk Köln 1939–1945. Tübingen 2012.
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tagsphänomen wie auch als Aspekt staatlichen Handelns und von Kriegsfolgen untersucht worden. Die Bereiche erscheinen besonders interessant, weil sie in zunehmendem Maße nicht nur als Felder der Sozialgeschichte, sondern ausdrücklich auch der Historischen Kulturforschung in Augenschein genommen werden. 45
III. So eindrucksvoll das bislang von der Forschung zum Thema ‚Kriegskinder‘ Erarbeitete ist, so auffallend sind zwei Fehlstellen: Zum einen mangelt es an transnational angelegten und international vergleichenden Studien. Zum anderen wird die Spezifik des 20.Jahrhunderts vielfach behauptet, aber kaum auf den Prüfstand gestellt. Die zeitübergreifende Evidenz des Phänomens ist nicht zu leugnen. Dennoch wurde sowohl selten als auch wenig gehaltvoll nach historischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden, nach entsprechenden Kontinuitäten und Wandlungsprozessen gefragt. Die wenigen einschlägigen Studien sind entweder auf das 20.Jahrhundert beschränkt 46 oder sie besitzen eher anthologischen Charakter und entbehren eines systematischen Zugriffs 47. Keine einzige wissenschaftliche Publikation wagt den Blick über die Neuzeit hinaus. In der Folge bleibt die Sonderrolle der jüngeren Vergangenheit unhinterfragt. Dies ist ein Desiderat, das auch allgemein gehaltene Studien zu Kindern und Kindheiten, welche die klassischen Epochengrenzen transzendieren 48, 45
Für den Bereich Jugendkriminalität wurde dies beispielhaft reflektiert von: Joachim Eibach, Kriminali-
tätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: HZ 263, 1996, 681–715. 46
Maria Cristina Giuntella/Isabella Nardi (Eds.), La Guerra dei Bambini. Da Sarajevo a Sarajevo. Perugia
1998; Kate Agnew/Geoff Fox (Eds.), Children at War from the First World War to the Gulf. New York/London 2001; Helga Embacher/Grazia Prontera/Albert Lichtblau (Eds.), Children and War. Past and Present. London 2013. 47
James A. Marten (Ed.), Children and War. A Historical Anthology. New York/London 2002; Dittmar
Dahlmann (Hrsg.), Kinder und Jugendliche in Krieg und Revolution. Vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den Kindersoldaten Afrikas. Paderborn 2000. 48
Zum Beispiel: Philippe Ariès, L’enfance et la vie familiale sous l’ancien régime, Paris 1960 (deutsche
Erstausgabe: Die Geschichte der Kindheit. München 1975); Lloyd deMause (Ed.), The History of Childhood. New York 1974 (deutsch: Über die Geschichte der Kindheit. Frankfurt am Main 1979); Barbara K. Greenleaf, Children through the Ages. A History of Childhood. New York 1978; Ingeborg Weber-Kellermann, Die Kindheit. Kleidung und Wohnen, Arbeit und Spiel. Eine Kulturgeschichte. Frankfurt am Main 1979; Jochen Martin/Klaus Arnold, Zur Sozialgeschichte der Kindheit. Freiburg im Breisgau 1986; Linda A. Pollock, Forgotten Children. Parent-Child Relations from 1500 to 1900. Cambridge 1988; Joseph M. Hawes/N. Ray Hiner (Eds.), Children in Historical and Comparative Perspective. An International Handbook and Research Guide. New
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sowie eine umfassende englischsprachige Enzyklopädie 49 nicht einlösen können. Der Zusammenhang Kinder und Krieg wird hier für gewöhnlich allenfalls gestreift. 50 Selbst in der voluminösen, siebenbändigen „Cultural History of Childhood and Family“ kommt der Krieg nicht explizit vor. 51 Wenn die Ausführungen ausnahmsweise breiter angelegt sind, dann dominieren „the dislocations in the twentieth and twenty-first centuries“. 52 Das durchaus beachtliche Potential, das die Vormoderne der Erforschung von Kriegskindheiten bietet, ist bisher kaum erkannt, geschweige denn genutzt worden: Für die Frühe Neuzeit ist ebenso wie für das 19.Jahrhundert nur sporadisch nach Kriegskindheiten gefragt worden. Die deutsche Historiografie hat dabei den Dreißigjährigen Krieg 53 und, ebenso wie die große Anthologie des amerikanischen Historikers James Marten, die Napoleonische Zeit betrachtet 54. Der Band von Marten fokussiert zusätzlich die Amerikanische Revolution 55, die Neuseelandkriege 56 sowie York 1991; Hugh Cunningham, Children and Childhood in Western Society since 1500. London 1995 (deutsch: Die Geschichte des Kindes in der Neuzeit. Düsseldorf 2006); Otto Hansmann. Kindheit und Jugend zwischen Mittelalter und Moderne. Ein Lese-, Arbeits- und Studienbuch. Weinheim 1995; Lloyd deMause (Hrsg.), Hört ihr die Kinder weinen? Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Frankfurt am Main 1997; Colin Heywood, A History of Childhood. Children and Childhood in the West from Medieval to Modern Times. Cambridge 2001; Edmund Hermsen, Faktor Religion. Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Köln 2006; Paula S.Fass (Ed.), The Routledge History of Childhood in the Western World. London 2013. 49 Paula S.Fass (Ed.), Encyclopedia of Children and Childhood in History and Society. 3 Vols. New York 2004. 50 So etwa James Marten, Children and War, in: Fass (Ed.), Routledge History of Childhood (wie Anm.48), 142–157. 51 Elizabeth Foyster/James Marten (Eds.), A Cultural History of Childhood and Family. 7 Vols. Oxford 2010. 52 Peter N. Stearns, Childhood in World History. New York 2006 (deutsch: Kindheit und Kindsein in der Menschheitsgeschichte. Essen 2007), Kapitel 11. 53 Peter-Michael Hahn, Kriegserfahrungen von Kindern und Jugendlichen im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, in: Dahlmann (Hrsg.), Kinder (wie Anm.47), 1–16. 54 Erich Pelzer, Frauen, Kinder und Krieg in revolutionären Umbruchzeiten (1792–1815), in: Dahlmann (Hrsg.), Kinder (wie Anm.47), 17–42; Thomas Cardoza, „These Unfortunate Children“. Sons and Daughters of the Regiment in Revolutionary and Napoleonic France, in: Marten (Ed.), Children and War Anthology (wie Anm.47), 205–215. 55 Elizabeth McKee Williams, Childhood, Memory, and the American Revolution, in: Marten (Ed.), Children and War Anthology (wie Anm.47), 15–25; siehe auch Stephan Huck, Soldaten gegen Nordamerika. Lebenswelten Braunschweiger Subsidientruppen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. München 2011, der mehrfach – u.a. 80–83, 104–111 – auf Kinder eingeht. 56 Jeanine Marie Graham, Children and the New Zealand Wars. An Exploration, in: Marten (Ed.), Children and War Anthology (wie Anm.47), 216–225.
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die Kinder der amerikanischen und australischen Ureinwohner 57. Ein beliebtes Thema bildet der Amerikanische Bürgerkrieg. 58 In einschlägigen Studien zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft werden mitunter am Rande die Schicksale von Soldatenkindern thematisiert. 59 Diese Studien stehen weitgehend isoliert. Selbst sozialund alltagshistorisch sensible Arbeiten zu Gewalt und Krieg in der Vormoderne gehen auffälligerweise für gewöhnlich nicht auf Kinder ein. 60 Wenn es ausdrücklich um kindliche Lebens- und Erfahrungswelten geht, kommt der Krieg bisher nicht vor. 61 Dabei ist deutlich, dass Selbstzeugnisse 62, Kinderliteratur 63 und andere Quel-
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Victoria Haskins/Margaret D. Jacobs, Stolen Generations and Vanishing Indians. The Removal of Indig-
enous Children as a Weapon of War in the United States and Australia, 1870–1940, in: Marten (Ed.), Children and War Anthology (wie Anm.47), 227–241. 58
Jörg Nagler, Kinder im Amerikanischen Bürgerkrieg, in: Dahlmann (Hrsg.), Kinder (wie Anm. 47), 43–
72; James Marten, The Children’s Civil War. Chapel Hill 1998; ders. (Ed.), Children and Youth during the Civil War Era. New York 2012; Molly Mitchell, „After the War I Am Going to Put myself a Sailor“. Geography, Writing, and Race in the Letters of Free Children of Color in Civil War New Orleans, in: Marten (Ed.), Children and War Anthology (wie Anm. 47), 26–37. 59
Jutta Nowosadtko, Die Schulbildung der Soldatenkinder im Fürstbistum Münster. Konfessionelle Un-
terschiede in den Heeren des 17. und 18.Jahrhunderts, in: Michael Kaiser/Stefan Kroll (Hrsg.), Militär und Religiosität in der Frühen Neuzeit. Münster 2004, 293–306; dies., Stehendes Heer im Ständestaat. Das Zusammenleben von Militär- und Zivilbevölkerung im Fürstbistum Münster 1650–1803. Paderborn 2011, 80–84; Beate Engelen, Soldatenfrauen in Preußen. Eine Strukturanalyse der Garnisonsgesellschaft im späten 17. und 18.Jahrhundert. Münster 2005, 170–202; Stefan Kroll, Soldaten im 18.Jahrhundert zwischen Friedensalltag und Kriegserfahrung. Lebenswelten und Kultur in der kursächsischen Armee 1728–1796. Paderborn 2006, 252–269. Etwas ausführlicher hingegen Markus Meumann, Soldatenfamilien und uneheliche Kinder. Ein soziales Problem im Gefolge der stehenden Heere, in: Bernhard R. Kroener/Ralf Pröve (Hrsg.), Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Paderborn 1996, 219–236. 60
Zum Beispiel: Horst Brunner (Hrsg.), Der Krieg im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Gründe, Be-
gründungen, Bilder, Bräuche, Recht. Wiesbaden 1999; Klaus Garber/Jutta Held (Hrsg.), Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion, Geschlechter, Natur und Kultur. München 2001; Kaspar von Greyerz/ Kim Siebenhüner (Hrsg), Religion und Gewalt. Konflikte, Rituale, Deutungen (1500–1800). Göttingen 2006; Claudia Ulbrich/Claudia Jarzebowski/Michaela Hohkamp (Hrsg.), Gewalt in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im VHD. Berlin 2005; Mathias Asche/Michael Herrmann/ Ulrike Ludwig/Anton Schindling (Hrsg.), Krieg, Militär und Migration in der Frühen Neuzeit. Münster 2008; Bernhard R. Kroener, Kriegswesen, Herrschaft und Gesellschaft 1300–1800. München 2013; Maren Lorenz, Tiefe Wunden. Gewalterfahrung in den Kriegen der Frühen Neuzeit, in: Ulrich Bielefeld/ Heinz Bude/ Bernd Greiner (Hrsg.), Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag. Hamburg 2013, 332–354. 61
Zum Beispiel: Klaus Arnold, Familie, Kindheit, Jugend, in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Handbuch der
deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1: 15. bis 17.Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. München 1987, 135–152; Paul Münch, Lebensformen in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1992, 191–272; Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd.
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lengattungen es durchaus ermöglichen, den Konnex von Kindern und Krieg vergleichend zwischen Moderne und Früher Neuzeit einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen. Zudem verzeichnet die Historiografie der frühneuzeitlichen Kindheit in jüngerer Zeit einen erstaunlichen Aufschwung. Es wurden zum einen bisher wenig konturierte Phänomene analysiert – seien es besonders verletzliche Kinder wie zum Beispiel Waisen 64, ‚Kinderhexen‘ 65, die oftmals auf Straßen lebten 66, behinderte Kinder 67, delinquente oder andere (eingesperrte) ‚Problemkinder‘ 68, sei es
1: Das Haus und seine Menschen 16.–18.Jahrhundert. München 1990, 79–132; Frank Meier, Mit Kind und Kegel. Kindheit und Familie im Wandel der Geschichte. Ostfildern 2006. 62 Rudolf Dekker, Childhood, Memory and Autobiography in Holland from the Golden Age to Romanticism. Basingstoke 2002. 63 Theodor Brüggemann/Otto Brunken (Hrsg.), Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1: Vom Beginn des Buchdrucks bis 1570. Stuttgart 1987; Bd. 2: Von 1670 bis 1750, Stuttgart 1991; Bd. 3: Von 1750 bis 1800. Stuttgart 1982–1991. Siehe hierzu jüngst Sebastian Schmiedler, Krieg und Frieden in der geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur des 18.Jahrhunderts, in: Stefanie Stockhorst (Hrsg.), Krieg und Frieden im 18.Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien. Hannover 2015, 565–581. 64 Markus Meumann, Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord. Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. München 1995; Thomas Max Safley, Charity and Economy in the Orphanages of Early Modern Augsburg. Boston 1997 (deutsch: Kinder, Karitas und Kapital. Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des frühmodernen Augsburg. Bd. 1: Die Waisenhäuser. Augsburg 2009; Bd. 2: Die Waisenkinder. Augsburg 2010); Martin Scheutz, Pater Kindergeneral und Janitscharenmusik. Österreichische Waisenhäuser der Frühen Neuzeit im Spannungsfeld von Arbeit, Erziehung und Religion, in: Michaela Ralser/ Reinhard Sieder (Hrsg.), Die Kinder des Staates. Innsbruck 2014, 41–81; Udo Sträter/Josef N. Neumann (Hrsg.), Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2003. 65 Rainer Beck, Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen. Ein Hexenprozess 1715–1723. München 2011; Nicole Janine Bettlé, Wenn Saturn seine Kinder frisst. Kinderhexenprozesse und ihre Bedeutung als Krisenindikator. Bern 2013; Kurt Rau, Augsburger Kinderhexenprozesse. 1625–1730. Wien 2006; Johannes Dillinger, Kinder im Hexenprozess. Magie und Kindheit in der frühen Neuzeit. Stuttgart 2013; Nordian Nifl Heim, Flights of (In)Fancy. The Child-Witches of Salzburg. Saarbrücken 2012; Gustav Henningsen, The Salazar Documents. Alonso de Salazar Frías and Others on the Basque Witch Persecution (1609–1614). Leiden/ Boston 2004; Gerald Mülleder, Zwischen Justiz und Teufel. Die Salzburger Zauberer-Jackl-Prozesse (1675– 1679) und ihre Opfer. Münster/Berlin 2009; Rolf Schulte, Hexenverfolgung in Schleswig-Holstein vom 16.– 18.Jahrhundert. Heide 2001; Hartwig Weber, „Von der verführten Kinder Zauberei“. Hexenprozesse gegen Kinder im alten Württemberg. Sigmaringen 1996; ders., Hexenprozesse gegen Kinder. Frankfurt am Main 2000. 66 Wolfgang Behringer/Claudia Opitz-Belakhal (Hrsg.), Hexenkinder – Kinderbanden – Straßenkinder. Bielefeld 2016. 67 Iris Ritzmann, Sorgenkinder. Kranke und behinderte Mädchen und Jungen im 18.Jahrhundert. Köln 2008. 68 Falk Bretschneider, Kindheit und Jugend im Zuchthaus. Heranwachsende in den frühmodernen Institutionen der Einsperrung, in: Behringer/Opitz-Belakhal (Hrsg.), Hexenkinder (wie Anm.66), 365–395; Hel-
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das Großthema Kindersterben im Allgemeinen 69 oder Kindsmord im Besonderen 70, sei es (sexualisierte) Gewalt (an Kindern) 71. Zum anderen konnten neuere Studien endgültig belegen, dass Kindheit nicht erst an der Wende zum 19.Jahrhundert ‚erfunden‘ wurde und eine emotionale Beziehung zwischen Eltern und Kindern schon in der Vormoderne bestand. 72 Die Weichen für eine systematische Erforschung von vormodernen Kriegskindheiten scheinen somit gestellt. Dies gilt auch vor dem Hin-
mut Bräuer, Kinderbettel und Bettelkinder Mitteleuropas zwischen 1500 und 1800. Beobachtungen – Thesen – Anregungen. Leipzig 2010; Joel F. Harrington, „Keine Besserung zu hoffen“. Akkulturation und Ausbildung von jugendlichen Dieben im frühneuzeitlichen Nürnberg, in: Behringer/Opitz-Belakhal (Hrsg.), Hexenkinder, 147–162, sowie ders., The Unwanted Child. The Fate of Foundlings, Orphans, and Juvenile Criminals in Early Modern Germany. Chicago 2009. Siehe aber auch bereits Meret Zürcher, Die Behandlung jugendlicher Delinquenten im alten Zürich (1400–1798). Zürich 1960. 69
Vgl. zum Beispiel die einschlägigen Beiträge in: Kurt W. Alt/Ariane Kemkes-Grottenthaler (Hrsg.), Kin-
derwelten. Anthropologie, Geschichte, Kulturvergleich. Köln 2002. 70
Richard van Dülmen, Frauen vor Gericht. Kindsmord in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1991;
Meumann, Findelkinder (wie Anm.64); Kerstin Michalik, Kindsmord. Sozial- und Rechtsgeschichte der Kindstötung im 18. und beginnenden 19.Jahrhundert am Beispiel Preußen. Pfaffenweiler 1997; Otto Ulbricht, Kindsmord und Aufklärung in Deutschland. München 1990; Amy J. Catalano, A Global History of Child Death. Mortality, Burial, and Parental Attitudes. New York 2015. 71
Francisca Loetz, Sexualisierte Gewalt 1500–1850. Plädoyer für eine historische Gewaltforschung.
Frankfurt am Main/New York 2012, zu Kindern als Opfer sexualisierter Gewalt 88–100. Die Studie liegt neuerdings auch in englischer Übersetzung vor: dies., A New Approach to the History of Violence. „Sexual Assault“ and „Sexual Abuse“ in Europe, 1500–1850. Leiden 2015. Siehe daneben dies., Probleme mit der Sünde. Sexualdelikte im Europa der Frühen Neuzeit, in: Eric Piltz/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz im konfessionellen Zeitalter. Berlin 2015, 207–235; Andreas Bähr, Furcht und Furchtlosigkeit. Göttliche Gewalt und Selbstkonstitution im 17.Jahrhundert. Göttingen 2013; von Greyerz/ Siebenhüner, Religion und Gewalt (wie Anm.60); Winfried Speitkamp (Hrsg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20.Jahrhundert. Göttingen 2013, sowie bereits Markus Meumann/Dirk Niefanger (Hrsg.), „Ein Schauplatz herber Angst“. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17.Jahrhundert. Göttingen 1997. 72
Claudia Jarzebowski, Art.„Kindheit“, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 6. Stutt-
gart /Weimar 2007, 570–579, 576f.; dies., Gotteskinder. Einige Überlegungen zu Alter, Geschlecht und Emotionen in der europäischen Geschichte der Kindheit 1450–1800, in: Nicole Schwindt (Hrsg.), Rekrutierung musikalischer Eliten. Knabengesang im 15. und 16.Jahrhundert. (Troja. Jahrbuch für Renaissancemusik, Bd. 10.) Kassel 2013, 27–53; dies./Thomas M. Safley (Eds.), Childhood and Emotion across Cultures, 1450– 1800. Oxford 2014; dies., „My Heart belongs to Daddy!“ Emotion and Narration in Early Modern Self-Narration, in: Helena Flam/Jochen Kleres (Eds.), Methods and Emotions. Interdisciplinary Perspectives. London u.a. 2015, 249–259; siehe auch in Bezug auf das Mittelalter den konzisen Überblick von Rüdiger Schnell, Alterität der Neuzeit. Versuch eines Perspektivenwechsels, in: Manuel Braun (Hrsg.), Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität. Göttingen 2013, 41–94, 65f.
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tergrund, dass die frühneuzeitliche Forschung den anscheinend allgegenwärtigen Krieg 73 zunehmend kulturalistisch erforscht. 74 Die Zeit vor 1500 ist – wegen des schwierigen Quellenzugangs mit Abstrichen – ebenso bereit für eine vergleichende Erforschung von Kriegskindheiten. Hier wurde bisher nicht von ungefähr unter dem Rubrum ‚Kriegskinder‘ keine Forschung betrieben. Gleichwohl sind die inhaltlichen Schnittmengen evident. Verhältnismäßig eingehend hat sich die Mediävistik in den letzten Jahren mit kulturwissenschaftlicher Sensibilität des Themenkomplexes Gewalt im Mittelalter 75 und namentlich des Zusammenhangs von Gewalt und Krieg angenommen 76. Konstrukti73 Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: ZHF 24, 1997, 509–574. 74 Asche/Schindling (Hrsg.), Strafgericht Gottes (wie Anm.40); Franz Brendle/Anton Schindling (Hrsg.), Religionskriege im Alten Reich und in Alteuropa. Begriff, Wahrnehmung, Wirkmächtigkeit. Münster 2006; Birgit Emich/Gabriela Signori (Hrsg.), Kriegs/Bilder in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2009; Sven Externbrink (Hrsg.), Der Siebenjährige Krieg (1756–1763). Ein europäischer Weltkrieg im Zeitalter der Aufklärung. Berlin 2011; Marian Füssel, Der Siebenjährige Krieg. Ein Weltkrieg im 18.Jahrhundert. München 2012; Kroener, Kriegswesen (wie Anm.60); ders., Militär in der Gesellschaft. Aspekte einer neuen Militärgeschichte in der Frühen Neuzeit, in: Thomas Kühne/Benjamin Ziemann (Hrsg.), Was ist Militärgeschichte? Paderborn 2000, 283–300; Kroll, Soldaten (wie Anm.59); Lorenz, Tiefe Wunden (wie Anm.60); Nowosadtko, Stehendes Heer (wie Anm.59); Ralf Pröve, Lebenswelten. Militärische Milieus in der Neuzeit. Gesammelte Abhandlungen. Berlin 2010; Stefan Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft. Kriegsknechte um 1500. Paderborn 2015; Stockhorst, Krieg und Frieden (wie Anm.63); Rutz, Kriegserfahrung (wie Anm.40). Letztere Studie ist in der Reihe „Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit“ erschienen. Siehe zu den weiteren Studien dieser Reihe: http://www.amg-fnz.de/schriftenreihe/ [10.3.2016] sowie ferner die Zeitschrift des Arbeitskreises Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit e.V.: http://www.amg-fnz.de/zeitschrift/ [10.3.2016]. 75 Zum Beispiel: Günther Mensching (Hrsg.), Gewalt und ihre Legitimation im Mittelalter. Symposium des Philosophischen Seminars der Universität Hannover vom 26. bis 28.Februar 2002. Würzburg 2003; Valentin Groebner, Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter. München 2003; Manuel Braun/ Cornelia Herberichs (Hrsg.), Gewalt im Mittelalter. Realitäten, Imaginationen. München 2005; Ansgar Köb/ Peter Riedel (Hrsg.), Emotion, Gewalt und Widerstand. Spannungsfelder zwischen geistlichem und weltlichem Leben in Mittelalter und Früher Neuzeit. Paderborn 2007; Jutta Eming/Claudia Jarzebowski (Hrsg.), Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 2008; Hermann Kamp/Martin Kroker (Hrsg.), Schwertmission. Gewalt und Christianisierung im Mittelalter. Paderborn 2013. 76 Zum Beispiel: Norbert Ohler, Krieg und Frieden im Mittelalter. München 1997; Heinz Duchardt (Hrsg.), Krieg und Frieden im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Theorie, Praxis, Bilder. Mainz 2000; Hans-Henning Kortüm (Hrsg.), Krieg im Mittelalter. Berlin 2001; Malte Prietzel, Kriegführung im Mittelalter. Handlungen, Erinnerungen, Bedeutungen. Paderborn 2006; Hans Hecker (Hrsg.), Krieg in Mittelalter und Renaissance. Düsseldorf 2006; Martin Clauss, Ritter und Raufbolde. Vom Krieg im Mittelalter. Darmstadt 2009; Sean McGlynn, By Sword and Fire. Cruelty and Atrocity in Medieval Warfare. London 2009; Emich/Signori (Hrsg.),
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onen und Alltagsstrukturen von Familie und kindlichen Lebenswelten bilden klassischerweise für das Mittelalter einen beliebten Untersuchungsgegenstand. Es existieren zahlreiche Gesamtdarstellungen 77, epochenspezifische Abhandlungen 78 sowie auf religiöse Räume konzentrierte Studien 79. Die Alte Geschichte steht dem kaum nach: Gewaltuntersuchungen florieren. Dies bezieht sich auf Bemühungen multiperspektivischer Darstellungen 80 sowie insbesondere auf den politischen BeKriegs/Bilder (wie Anm.74); Hans-Henning Kortüm, Kriege und Krieger 500–1500. Stuttgart 2010; Martin Clauss, Kriegsniederlagen im Mittelalter. Darstellung, Deutung, Bewältigung. Paderborn 2010; Christoph Kaindel/Andreas Obenaus (Hrsg.), Krieg im mittelalterlichen Abendland. Wien 2010; weniger reflektiert: Helen Nicholson, Medieval Warfare. Theory and Practice of War in Europe, 300–1500. Basingstoke 2004; Guy Halsall, Warfare and Society in the Barbarian West, 450–900. London 2005; Malte Prietzel, Krieg im Mittelalter. Darmstadt 2006. 77 Klaus Arnold, Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance. Beiträge und Texte zur Geschichte der Kindheit. Paderborn 1980; Mathias Winter, Kindheit und Jugend im Mittelalter. Freiburg im Breisgau 1984; Danièle Alexandre-Bidon/Didier Lett, Children in the Middle Ages. Fifth–Fifteenth Centuries. Notre Dame 1999; Ralph Frenken, Kindheit und Mystik im Mittelalter. Frankfurt am Main 2002; Nicholas Orme, Medieval Children. New Haven 2003; Sûlammît Saher, Kindheit im Mittelalter. 4.Aufl. Düsseldorf 2004; P. J. P. Goldberg/Felicity Riddy (Eds.), Youth in the Middle Ages. York 2004; Carol Neel (Ed.), Medieval Families. Perspectives on Marriage, Household, and Children. Toronto 2004; Albrecht Classen (Ed.), Childhood in the Middle Ages and the Renaissance. The Results of a Paradigm Shift in the History of Mentality. Berlin 2005; Joel T.Rosenthal, Essays on Medieval Childhood. Responses to Recent Debates. Lincolnshire 2007; Pierre Riché, Être enfant au Moyen Age. Anthologie de textes consacrés à la vie de l’enfant du Ve au XVe siècle. Paris 2010; Markus Karl von Pföstl, Pueri oblati. Eine historisch-anthropologische Untersuchung des Reifealters. 2 Bde. Kiel 2011; Dawn M. Hadley/K. A. Hemer (Eds.), Medieval Childhood. Archaeological Approaches. Oxford 2014; siehe auch die Bibiliographie „Kindheit im Mittelalter“ von Tatjana Horn (Stand: Mai 2002), online unter: http://bibliographien.mediaevum.de/bibliographien/kindheit.pdf [24.8.2015]. 78
Zum Beispiel: Lise Favre, La condition des enfants légitimes dans les pays romands au moyen âge
(XIIIe–XVIe siècles). Lausanne 1986; Cornelia Löhmer, Die Welt der Kinder im fünfzehnten Jahrhundert. Weinheim 1989; Pierre-Roger Gaussin, Enfant et parenté dans la France médiévale Xe–XIIIe siècles. Genève 1989; Elisabeth Loffl-Haag, Hört ihr die Kinder lachen? Zur Kindheit im Spätmittelalter. Pfaffenweiler 1991; Christoph Dette, Kinder und Jugendliche in der Adelsgesellschaft des frühen Mittelalters. Köln 1994; Didier Lett, L’enfant des miracles. Enfance et société au Moyen Âge (XIIe–XIIIe siècles). Paris 1997; Louis Haas, The Renaissance Man and his Children. Childbirth and Early Childhood in Florence. Basingstoke 1998. 79
Harald Motzki, Das Kind und seine Sozialisation in der islamischen Familie des Mittelalters, in:
Martin/Arnold (Hrsg.), Sozialgeschichte (wie Anm.48), 391–442; Avner Gil’adi, Children of Islam. Concepts of Childhood in Medieval Muslim Society. New York 1992; Elisheva Baumgarten, Mothers and Children. Jewish Family Life in Medieval Europe. Princeton 2004; Despoina Ariantzi, Kindheit in Byzanz. Emotionale, geistige und materielle Entwicklung im familiären Umfeld vom 6. bis zum 11.Jahrhundert. Berlin 2012. 80
Zum Beispiel: Jacqueline de Romilly, La Grèce antique contre la violence. Paris 2001; Jean-Marie Bertrand
(Ed.), La violence dans les mondes grec et romain. Paris 2005; Günter Fischer/Susanne Moraw (Hrsg.), Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. und 4.Jahrhundert v.Chr. Stuttgart 2005; Bernd Seidensticker/Martin Vöhler (Hrsg.), Gewalt und Ästhetik. Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik. Berlin 2006;
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reich 81, die religiöse Sphäre 82 sowie Gewalt gegenüber Frauen 83. Die gesellschaftliche Dimension von Kriegen findet zunehmend Berücksichtigung 84, selbst Tiere in Kriegen sind beforscht worden 85. Kinder und Jugendliche wurden im ZusammenJerzy Styka (Ed.), Violence and Aggression in the Ancient World. Essays. Krakow 2006; Gianpaolo Urso (Ed.), Terror et pavor. Violenza, intimidazione, clandestinità nel mondo antico. Pisa 2006; Giampiera Raina (Ed.), Dissimulazioni della violenza nella Grecia antica. Como 2006; Harold A. Drake (Ed.), Violence in Late Antiquity. Perceptions and Practices. Aldershot 2006; Martin Zimmermann (Hrsg.), Extreme Formen von Gewalt in Bild und Text des Altertums. München 2009; Valeria Andò/Nicola Cusumano (Eds.), Come bestie. Forme e paradossi della violenza tra mondo antico e disagio contemporaneo. Caltanissetta 2010; Horst Carl/ Hans-Jürgen Bömelburg (Hrsg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis zur Neuzeit. Paderborn 2011; Martin Zimmermann, Gewalt. Die dunkle Seite der Antike. München 2013. 81 Zum Beispiel: Asko Timonen, Cruelty and Death. Roman Historians’ Scenes of Imperial Violence from Commodus to Philippus Arabs. Turku 2000; Dirk Rohmann, Gewalt und politischer Wandel im 1. Jahrhundert n.Chr. München 2006. 82 Zum Beispiel: Johannes Hahn, Gewalt und religiöser Konflikt. Studien zu den Auseinandersetzungen zwischen Christen, Heiden und Juden im Osten des Römischen Reiches (von Konstantin bis Theodosius II.). Berlin 2004; Michael Gaddis, There Is No Crime for Those Who Have Christ. Religious Violence in the
Christian Roman Empire. Berkeley 2005. 83 Zum Beispiel: Susan Deacy/Karen F. Pierce (Eds.), Rape in Antiquity. London 1997; Francesco Lucrezi/ Fabio Botta/Giunio Rizzelli (Eds.), Violenza sessuale e società antiche. Lecce 2011; Julia Kaffarnik, Sexuelle Gewalt gegen Frauen im antiken Athen. Hamburg 2013. 84 Zum Beispiel: Paul Erdkamp, Hunger and the Sword. Warfare and Food Supply in Roman Republican Wars (264–30 B. C.). Amsterdam 1988; John Rich/Graham Shipley (Eds.), War and Society in the Roman World. London 1993; dies. (Eds.), War and Society in the Greek World. London 1995; Victor Davis Hanson, The Wars of the Ancient Greeks. London 1999; André Bernand, Guerre et violence dans la Grèce antique. Paris 1999; Jean Andreau, Économie antique. La guerre dans les économies antiques. Saint-Bertrand-de-Comminges 2000; Hans van Wees (Ed.), War and Violence in Ancient Greece. London 2000; Matthias Recke, Gewalt und Leid. Das Bild des Krieges bei den Athenern im 6. und 5.Jh. v.Chr. Istanbul 2002; Nathan Rosenstein, Rome at War. Farms, Families, and Death in the Middle Republic. Chapel Hill 2004; Hans van Wees, Greek Warfare. Myths and Realities. London 2005; Thomas Ganschow, Krieg in der Antike. Darmstadt 2007; Dietrich Beyrau/Michael Hochgeschwender/Dieter Langewiesche (Hrsg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart. Paderborn 2007; Philipp Sabin (Ed.), The Cambridge History of Greek and Roman Warfare. 2 Vols. Oxford 2007; Kurt A. Raaflaub (Ed.), War and Peace in the Ancient World. Malden 2007; Friedrich Burrer/Holger Müller (Hrsg.), Kriegskosten und Kriegsfinanzierung in der Antike. Darmstadt 2008; Jost Dülffer/ Robert Frank (Eds.), Peace, War and Gender from Antiquity to the Present. Cross-Cultural Perspectives. Essen 2009; Wolfgang Dornik/Johannes Gießauf/Walter M. Iber (Hrsg.), Krieg und Wirtschaft. Von der Antike bis ins 21.Jahrhundert. Innsbruck 2010; Stig Förster/Christian Jansen/Günther Kronenbitter (Hrsg.), Rückkehr der Condottieri? Krieg und Militär zwischen staatlichem Monopol und Privatisierung. Von der Antike bis zur Gegenwart. Paderborn 2011; Brian Campbell/Lawrence A. Tritle (Eds.), The Oxford Handbook of Warfare in the Classical World. Oxford 2013; Stephen O'Brian/Daniel Boatright (Eds.), Warfare and Society in the Ancient Eastern Mediterranean. Oxford 2013; Annie Allély (Ed.), Corps au supplice et violences de guerre dans l’Antiquité. Bordeaux 2014. 85 Rainer Pöppinghege (Hrsg.), Tiere im Krieg. Von der Antike bis zur Gegenwart. Paderborn 2009.
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hang mit Gewaltkriminalität 86, als Opfer von häuslicher Gewalt 87, außerdem ausführlich als Objekte der antiken Sklaverei betrachtet 88. Überhaupt haben kindliche Lebenswelten der Antike zumal in jüngerer Zeit intensive Aufmerksamkeit gefunden. 89 Imaginationen und kulturelle Praxis von Mutterschaft 90 und Vaterlosigkeit 91
86
Jens-Uwe Krause, Gewalt und Kriminalität in der Spätantike. München 2014.
87
Winfried Schmitz, Gewalt in Haus und Familie, in: Fischer/Moraw (Hrsg.), Die andere Seite (wie
Anm.80), 103–128; Christina Tuor-Kurth, Kindesaussetzung und Moral in der Antike. Jüdische und christliche Kritik am Nichtaufziehen und Töten neugeborener Kinder. Göttingen 2010. 88
Heinz Heinen (Hrsg.), Kindersklaven – Sklavenkinder. Schicksale zwischen Zuneigung und Ausbeu-
tung in der Antike und im interkulturellen Vergleich. Beiträge zur Tagung des Akademievorhabens Forschungen zur antiken Sklaverei, Mainz 14.Oktober 2008. Stuttgart 2012. 89
Jean-Pierre Néraudau, Être enfant à Rome. Paris 1984; Hilde Rühfel, Kinderleben im klassischen Athen.
Bilder auf klassischen Vasen. Mainz 1984; dies., Das Kind in der griechischen Kunst. Von der minoisch-mykenischen Zeit bis zum Hellenismus. Mainz 1984; vgl. die einschlägigen Beiträge in: Martin/Arnold (Hrsg.), Sozialgeschichte (wie Anm.48), 267–390; Thomas E. J. Wiedemann, Adults and Children in the Roman Empire. London 1989; Mark Golden, Children and Childhood in Classical Athens. Baltimore 1990; Suzanne Dixon, The Roman Family. Baltimore 1992; Janet Huskinson, Roman Children’s Sarcophagi. Oxford 1996; Beryl Rawson (Ed.), The Roman Family in Italy. Status, Sentiment, Space. Oxford 1997; Stephanie Dimas, Untersuchungen zur Themenwahl und Bildgestaltung auf römischen Kindersarkophagen. Münster 1998; Suzanne Dixon (Ed.), Childhood, Class and Kin in the Roman World. London 2001; Mary Harlow/Ray Laurence (Eds.), Growing up and Growing Old in Ancient Rome. A Life Course Approach. New York 2002; Beryl Rawson, Children and Childhood in Roman Italy. Oxford 2003; Véronique Dasen (Ed.), Naissance et petite enfance dans l’Antiquité. Actes du colloque de Fribourg, 28 novembre – 1er décembre 2001. Fribourg 2004; Michele George (Ed.), The Roman Family in the Empire. Rome, Italy, and Beyond. Oxford 2005; Andreas KunzLübcke, (Hrsg.) „Schaffe mir Kinder ...“ Beiträge zur Kindheit im alten Israel und in seinen Nachbarkulturen. Leipzig 2006; ders., Das Kind in den antiken Kulturen des Mittelmeers. Israel – Ägypten – Griechenland. Neukirchen-Vluyn 2007; Ada Cohen/Jeremey B. Rutter (Eds.), Constructions of Childhood in Ancient Greece and Italy. Princeton 2007; Véronique Dasen/Thomas Späth (Hrsg.), Children, Memory and Family Identity in Roman Culture. Oxford 2010; Annika Backe-Dahmen, Die Welt der Kinder in der Antike. Mainz 2008; Mary Harlow/Ray Laurence (Eds.), A Cultural History of Childhood and Family in Antiquity. Oxford 2010; Judith Evans Grubbs/Tim Parkin, The Oxford Handbook of Childhood and Education in the Classical World. Oxford 2011; Martin Seifert, Dazugehören. Kinder in Kulten und Festen von Oikos und Phratrie. Bildanalysen zu attischen Sozialisationsstufen des 6. bis 4.Jahrhunderts v.Chr. Stuttgart 2011; Christian Laes, Children in the Roman Empire. Outsiders within. Cambridge 2011; Daniel Justel Vicente (Ed.), Niños en la antigüedad. Estudios sobre la infancia en el Mediterráneo antiguo. Zaragoza 2012; Lesley A. Beaumont, Childhood in Ancient Athens. Iconography and Social History. London 2012; Chiara Terranova (Ed.), La presenza dei bambini nelle religioni del Mediterraneo antico. La vita e la morte, i rituali e i culti tra archeologia, antropologia e storia delle religioni. Rom 2014; Margaret Y. MacDonald, The Power of Children. The Construction of Christian Families in the Greco-Roman World. Waco 2014. 90
Lauren Hackworth Petersen/Patricia Salzman-Mitchell (Eds.), Mothering and Motherhood in Ancient
Greece and Rome. Austin 2012. 91
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Sabine R. Hübner/David M. Ratzan (Eds.), Growing up Fatherless in Antiquity. Cambridge 2009.
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interessierten ebenso wie die Eltern-Kind-Beziehungen 92, das kindliche Sterben 93 oder Diskurse um den Schutz von Kindern 94. Das Thema Erziehung markiert einen Klassiker. 95 Für die größte Nähe zum Thema Kriegskindheit steht eine wichtige Studie von John K. Evans. 96 Indes verhandelt diese vornehmlich die Rolle der Frau in Kriegszeiten (sinnfällige Kapitelüberschriften lauten „War and the Women of Property“ oder „War and Working Women“); Kinder werden allenfalls in zweiter Linie behandelt, zudem sind die Kriegsbezüge rudimentär. Evans interessiert vor allem das Eltern-Kind-Verhältnis im Allgemeinen und er sucht zu veranschaulichen „that the emergence of the small child as a valued personality during the course of the second and first centuries BC may also, in the end, be numbered among the domestic consequences of what is commonly known as ‚Roman imperialism‘“. 97 Mit Blick auf die Leerstellen und die Potentiale der bisherigen Forschung gilt es anzusetzen. Aufgrund der Vorarbeiten wird sich eine instruktive Untersuchung von Kriegskindheiten die klassischen historischen Epochengrenzen als zu hinterfragenden Ausgangspunkt nehmen, auf den Dialog der historischen Einzeldisziplinen setzen und einen Schwerpunkt auf die Moderne beziehungsweise das 20.Jahrhundert legen müssen. Deren vermeintlicher Eigentümlichkeit durch eine raum- und epo-
92 Judith P. Hallett, Fathers and Daughters in Roman Society. Women and the Elite Family. Princeton 1984; Suzanne Dixon, The Roman Mother. Norman 1988; Beryl Rawson (Ed.), Marriage, Divorce, and Children in Ancient Rome. Canberra 1991. 93 Tuor-Kurth, Kindesaussetzung (wie Anm.87); Anne-Marie Guimier-Sorbets/Yvette Morizot Nouvelles (Eds.), Recherches dans les nécropoles grecques. Le signalement des tombes d’enfants. Paris 2010; MarieDominique Nenna (Ed.), Types de tombes et traitement du corps des enfants dans l'antiquité gréco-romaine. Alexandrie 2012; Antoine Hermary/Céline Dubois (Ed.), Le matériel associé aux tombes d’enfants. Arles 2012. 94 Hubertus Lutterbach, Kinder und Christentum. Kulturgeschichtliche Perspektiven auf Schutz, Bildung und Partizipation von Kindern zwischen Antike und Gegenwart. Stuttgart 2010. 95 Horst-Theodor Johann, Erziehung und Bildung in der heidnischen und christlichen Antike. Darmstadt 1976; Henri Irénée Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum. München 1977; Barbara Hellinge, Kleine Pädagogik der Antike. Frankfurt am Main 1984; Claudia Müller, Kindheit und Jugend in der griechischen Frühzeit. Eine Studie zur pädagogischen Bedeutung von Riten und Kulten. Gießen 1990; Waltraud Reichert, Erziehungskonzeptionen in der griechischen Antike. Theorie und Praxis der Erziehung in ihrer Abhängigkeit vom Wandel der Kultur. 2.Aufl. Rheinfelden 1993; Wolfgang Fischer, Kleine Texte zur Pädagogik in der Antike. Baltmannsweiler 1997; Johannes Christes/Richard Klein/Christoph Lüth (Hrsg.), Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike. Darmstadt 2006; Joachim Marquardt, Die Geschichte der Kindererziehung im Römischen Reich (Imperium Romanum). Zürich 2007; Klaus Zierer/Wolf-Thorsten Saalfrank (Hrsg.), Pädagogik der Antike. Ein pädagogisches Lesebuch von Demokrit bis Boethius. Paderborn 2012. 96 John K. Evans, War, Women and Children in Ancient Rome. London 1991. 97 Ebd.4.
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chenübergreifende Perspektive nachzugehen, erscheint aber als ein legitimes und operationalisierbares Unterfangen, das im Sinne Jörn Rüsens auch ‚Orientierungswissen‘ für Gegenwart und Zukunft bereitstellen kann. 98
IV. Vor diesem Hintergrund versammelt unser Band die Ergebnisse einer Tagung, die vom 22. bis 24.März 2015 in der Katholischen Akademie Erbacher Hof des Bistums Mainz stattgefunden hat. Er nimmt erstmals systematisch ‚Kriegskinder‘ von der Antike bis in die Gegenwart ins Blickfeld, wobei Kontinuitätslinien ebenso interessieren wie Ungleichzeitigkeiten und Brüche. Primäres Ziel ist es, die vermeintliche Spezifik des 20.Jahrhunderts sowohl durch regionale und nationale Tiefenbohrungen als auch transnationale Perspektiven auf den Prüfstand zu stellen, wobei zudem die methodische Metaebene zu reflektieren sein wird: Welche Möglichkeiten gibt es, über ‚Kriegskinder‘ in den verschiedensten Zeiten und Räumen zu forschen? Welche Quellen existieren? Inwieweit reden, inwieweit schweigen sie? Existieren spezifische Konventionen der Tabuisierung, Marginalisierung, Emotionalisierung oder Verstärkung? Welche methodischen Mittel stehen Historikerinnen und Historikern zur Rekonstruktion von Kriegskindheiten zur Verfügung? Wo stoßen sie an ihre Grenzen? Wie gehen sie beispielsweise mit der Herausforderung um, dass Kriegserzählungen als kulturelle Artefakte nur bedingt mit Kriegserfahrungen kongruieren? 99 Die Begriffsdefinitionen fassen wir bewusst weit. Relativierungen und Differenzierungen sind ausdrücklich erwünscht, sollen aber den jeweiligen Epochen- und Raumspezialisten überlassen bleiben. So wird die von der „Enzyklopädie der Neuzeit“ vorgeschlagene Kriegsdefinition in ihren Grundzügen übernommen: Unter Krieg soll ein Konflikt verstanden werden, der von zu diesem Zweck organisierten Gruppen ausgetragen wird. Es gelten für das damit verbundene Töten nicht
98
Jörn Rüsen, Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zu-
rechtzufinden. 2., überarb.Aufl. Schwalbach/Taunus 2008. 99
Ausdrücklich zu diesem Problem fand im März 2015 eine Tagung in Wien statt, veranstaltet vom In-
ternationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften sowie dem Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz: Davina Brückner/Christine Waldschmidt, Tagungsbericht: Kriegserfahrungen erzählen, 12.03.2015–13.03.2015 Wien, in: H-Soz-Kult, 26.5.2015, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5991 [10.3.2016].
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die üblichen Sanktionen. Die Kämpfer sind sich bewusst, töten zu müssen und sterben zu können, und von der Legitimität ihres Handelns subjektiv überzeugt. 100 Kindheit hingegen wird als „kulturell variable soziale Konstruktion“ begriffen. 101 Um einen epochenübergreifenden Zugriff umsetzen zu können, sollen unter ihr alle Formen von Minderjährigkeit subsumiert werden. Der Band sieht sich einer kulturalistisch sensiblen Sozialgeschichte verpflichtet, die Kinder als historische Akteure ernst nimmt, und trägt drei Fragenkomplexe an die bislang verfügbaren Wissensbestände heran. Im ersten Kapitel soll es um Obrigkeits- beziehungsweise staatliches Handeln gehen. Es wird nach der Wirkung gefragt, die der Krieg im Hinblick auf Inhalte und Formen von ‚Erziehung, Fürsorge und Propaganda‘ 102 entfaltete. Der Blick ist konsequenterweise auf Kriegszeiten, aber auch auf Vor- beziehungsweise Nichtkriegszeiten gerichtet: Welche Bedeutung maß die staatliche Sozialpolitik (Kriegs-)Kindern bei, welche Ziele verfolgte sie? Inwieweit wurde zwischen ‚normaler‘ Erziehung und ‚Kriegsausbildung‘ unterschieden? Welche Rolle nahm der Krieg in den Geschlechterkonstruktionen ein? Welche Bedeutung hatten Kinder für die geistige Kriegführung und welche propagandistische Rolle wurde ihnen aus welchen Gründen zugewiesen? Andreas Hartmann betrachtet dazu vornehmlich auf der Basis von normativen Texten und in vergleichender Perspektive das Schicksal von Kriegswaisen in Griechenland, Rom und in der christlichen Spätantike. Die dabei konstatierten beträchtlichen Differenzen konterkarieren alle Meisternarrationen von Modernisierung oder Verfall und schärfen die Sensibilität für Kulturtransfers: Die griechi-
100 Bernhard R. Kroener, Art.„Krieg“, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 7. Stuttgart 2008, 137–162, 138. 101 Jarzebowski, Kindheit (wie Anm.72), 570. 102 „Propaganda“ wird in Anlehnung an den Kommunikationswissenschaftler Thymian Bussemer verstanden „als eine besondere Form der systematisch geplanten Massenkommunikation, die nicht informieren oder argumentieren, sondern überreden oder überzeugen möchte. Dazu bedient sie sich in der Regel einer symbolisch aufgeladenen und ideologiegeprägten (Bild-)Sprache, welche die Wirklichkeit verzerrt, da sie entweder Informationen falsch vermittelt oder ganz unterschlägt. Ziel von Propaganda ist es, bei den Empfängern eine bestimmte Wahrnehmung von Ereignissen oder Meinungen auszulösen, nach der neue Informationen und Sachverhalte in den Kontext einer ideologiegeladenen Weltsicht eingebettet werden (Framing). Der Wahrnehmungsraum, in dem die Empfänger Informationen einordnen oder bewerten können, wird so durch Propaganda langfristig manipuliert“; Thymian Bussemer, Propaganda. Theoretisches Konzept und geschichtliche Bedeutung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 2.8.2013, http://docupedia.de/zg/Propaganda?oldid=106467 [10.3.2016].
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schen Stadtstaaten waren offenkundig darauf angewiesen, durch die soziale Perhorreszierung von Kampfverweigerung sowie institutionalisierte Gefallenenehrung und Einrichtungen der Hinterbliebenenversorgung ihre Bürgersoldaten zu mobilisieren. In starkem Gegensatz dazu gab es in Rom – obwohl dieses in der Zeit der Republik fast durchgängig Krieg führte – weder staatliche Sorge um Kriegergräber oder Überführungen noch eine öffentliche Alimentation der Waisen. Hier wirkten sich das Fehlen eines egalitären Bürgerethos sowie spezifische soziale Gegebenheiten wie zum Beispiel ein relativ hohes Heiratsalter oder die verhältnismäßig geringe Mobilisierungsquote aus. In der kaiserzeitlichen Berufsarmee wurde das Problem der Hinterbliebenenversorgung radikal durch die Einführung des Zölibats gelöst. Wer keine rechtsgültige Ehe eingehen konnte, vermochte formal auch keine gegebenenfalls zu versorgenden Kinder zu hinterlassen. Die Spätantike entwickelte dann institutionalisierte Formen der Waisenfürsorge, knüpfte dabei jedoch nicht an die bürgerliche Tradition der griechischen Polis an, sondern bezog ihre Motivation aus einem im Vorderen Orient verbreiteten Königsideal, das den Herrscher als einen von Gott beauftragten Hüter der Gerechtigkeit gerade gegenüber den Schwächsten der Gesellschaft – Witwen und Waisen – sah und über die jüdisch-christliche Tradition rezipiert wurde. Auch Alexander Berner schärft die transnationale Perspektive. Sein Fokus gilt indes interessengeleiteten Konstruktionen von Kriegskindheit. Er schließt an die jüngere Kreuzzugsforschung an, die sich stark an lebensweltlichen Perspektiven orientiert. 103 Eindrucksvoll führt er am Beispiel eines vermutlich gefälschten Briefes des byzantinischen Kaisers Alexios I. vor Augen, wie wenig typisch die propagandistische Instrumentalisierung von Kindern für das 20.Jahrhundert ist. Anders als die bisherige Kreuzzugsforschung, die vornehmlich auf die Alltagsbelastung der zurückgelassenen Familien abhebt 104, analysiert er die diskursive Funktion von Kindern. Er macht deutlich, dass der vermeintliche Missbrauch christlicher Kinder sowie deren Entführung und religiöse Umerziehung durch den seldschukischen Gegner im Kontext des Ersten Kreuzzugs (1096–1099) geflissentlich als Kriegslegitimation verwendet wurde. Die Kriegselite der lateinischen Christenheit 103 Als Überblick: Nicolaus Jaspert, Die Kreuzzüge. 6.Aufl. Darmstadt 2013. 104 Zum Beispiel: Natasha R. Hodgson, Women, Crusading and the Holy Land in Historical Narrative. Woodbridge 2007, v.a. 154ff.; Alexander Berner, Frauen und Arme auf Kreuzzügen zwischen Normen und sozialer Wirklichkeit, in: Konstantin Lindner/Ulrich Riegel/Andreas Hoffmann (Hrsg.), Alltagsgeschichte im Religionsunterricht. Kirchengeschichtliche Studien und religionsdidaktische Perspektiven. Stuttgart 2013, 83–98.
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sollte sich als Protektorin wehrloser Nicht-Kombattanten empfinden und zum Kampf angestachelt werden. Der Unterschied zur Propaganda der Moderne, die stark mit der Nationalisierung des Kinderkörpers operierte 105, liegt in der Grundierung im christlichen Reinheitsdiskurs. Auffallend ist die geschlechtsspezifische Differenzierung, wonach Jungen durch Zwangsbeschneidung und Mädchen durch sexuellen Missbrauch aus der Heilsgemeinschaft ausgeschlossen wurden. Über die tatsächlichen Nöte von Kindern in Krieg und Nichtkriegszeit verrät der „Alexiosbrief“ nichts. Hier kann Stefan Kroll einen Beitrag leisten, der einen ähnlichen Ansatzpunkt wie Andreas Hartmann wählt. Auch er widmet sich dem Bereich staatlicher Fürsorgepolitik, jedoch mit Bezug auf die Frühe Neuzeit und im Zusammenspiel mit Fragen der (Aus-)Bildung. Auf der Grundlage eines umfangreichen Quellenkorpus, das normative Texte ebenso beinhaltet wie Verwaltungsschriftgut und Ego-Dokumente, illustriert er die prekäre ökonomische Lage von Soldatenkindern im 18. Jahrhundert und die beginnenden staatlichen Versuche, dieser beizukommen. Kroll beschreibt die Gründung progressiver Erziehungsinstitute in Potsdam (Großes Militär-Waisenhaus, 1724) und Dresden beziehungsweise Annaburg (Soldatenknaben-Erziehungsinstitut, 1738), die als erste paramilitärische Erziehungsanstalten im deutschsprachigen Raum, freilich eben auch als Versuch einer staatlichen Fürsorgemaßnahme anzusehen sind. Er gibt dazu tiefgehende Einblicke in Schulorganisation, Schulfächer und Unterrichtsalltag und betrachtet die zum Teil mangelhaften Unterkunftsverhältnisse. Klar streicht er heraus, dass die Anstalten lediglich einen kleinen Teil der Soldatenkinder erreichten – unter anderem weil Mädchen lediglich in Potsdam und Kinder aus unehelichen Verhältnissen gar nicht aufgenommen wurden. Häufig wurden die Zöglinge zum Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft oder in Manufakturen herangezogen. Auf den Kriegsfall war die Ausbildung nur bedingt ausgerichtet. Darüber hinaus bedeutete dieser im Allgemeinen eine deutliche soziale Verschlechterung für Angehörige von Soldaten. So kann Kroll deutlich machen, dass Soldatenkinder der Frühen Neuzeit trotz oder gerade wegen Modernisierungserfolgen eher als Opfer einer wenig fürsorglichen Gesellschaft zu betrachten sind. Die Rolle der Kinder in der Propaganda des 20.Jahrhunderts beleuchten drei Bei-
105 Beispielhaft für den Ersten Weltkrieg: Ines Kaplan, „Die abgehackte Hand“. Ein Beitrag zur Ikonographie der französischen Hetzkarikatur als Teil der antideutschen Propaganda während des Ersten Weltkriegs, in: Raoul Zühlke (Hrsg.), Bildpropaganda im Ersten Weltkrieg. Hamburg 2000, 93–124.
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träge. Eberhard Demm stellt die Idee von nationalen Kriegskulturen 106 in Frage und bearbeitet das ‚klassische‘ Thema Kinder und Propaganda im Ersten Weltkrieg in innovativer Weise: In transnationaler Perspektive zeigt er auf, dass Kinder in allen kriegführenden Staaten in den Prozess der Militarisierung einbezogen waren. Vorschriften und Appelle riefen sie in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Österreich, Russland oder den USA zur Unterstützung auf, in Büchern, Kinderliedern, Gedichten und Spielen, insbesondere aber auch im Schulunterricht und bei Schulfeiern war der Krieg omnipräsent. Kinder waren indes nicht nur staatlich gelenkt, was etliche propagandistische Eigeninitiativen bezeugen. Sie wirkten allerorten in mannigfaltiger Hinsicht sowohl als Adressaten wie als Kommunikatoren der staatlichen Propaganda, ganz konkret etwa bei der Werbung für Kriegsanleihen oder Materialsammlungen. Demm arbeitet in Anlehnung an differenzierende Forschungsmeinungen 107 auch die Grenzen der Propaganda heraus und legt dar, dass viele Kinder – befördert durch ihre soziale Herkunft, ihr Geschlecht oder die Entwicklung des Frontgeschehens – keine besondere Neigung zum Kriegseinsatz offenbar werden ließen. Colin Gilmour ergänzt diese Eindrücke. Auch er beleuchtet Kinder als Zielgruppe und Agenten von Kriegspropaganda, wendet sich jedoch der Zeit des Nationalsozialismus zu. Als wichtiges, bisher kaum beachtetes Phänomen der Jugendkultur des ‚Dritten Reichs‘ nimmt er das Sammeln von Autogrammkarten der ‚Ritterkreuzträger‘ in Augenschein. Gilmour erläutert, wie sich diese im Rahmen der Jungenpropaganda zunächst durchaus beabsichtigte Sammelleidenschaft entgegen aller Erwartungen und Wünsche des NS-Regimes im Krieg verselbstständigte und für den Postverkehr wie die Ritterkreuzträger selbst sogar hinderlich wurde. Der Einsatz der Kinder und Jugendlichen drohte die Effektivität des Kriegsapparates zu behindern. Daran wird noch einmal manifest, wie notwendig es ist, Kinder als Akteure der Geschichte zu begreifen. Denn offenkundig konnten sie sich unabhängig von staatlichem Einfluss zum Multiplikator der an sie gerichteten Propaganda machen, wobei ihr kollektiver Eifer Züge von Ungehorsam annehmen und zum Mühl-
106 Zum Begriff: Audoin-Rouzeau, La guerre (wie Anm.27), 10. 107 Stekl/Hämmerle, Kindheit/en im Ersten Weltkrieg (wie Anm.30). Markanterweise kam schon eine wissenschaftliche Studie aus dem Jahr 1916, die vor allem die Wirkung von kriegsbezogenen Texten, Fotografien und Liedern auf Kinder untersuchte, zu dem Ergebnis: „Die vaterländische Begeisterung bildet beim Kriegserlebnis der Kinder gegenüber der allgemeinen Orientierung an Menschlichkeitsgefühlen nur eine Episode“; Rudolf Schulze, Unsere Kinder und der Krieg. Experimentelle Untersuchungen aus der Zeit des Weltkrieges. Leipzig 1917, 144.
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stein der Regimeinteressen werden konnte. Matthias Stadelmann beschließt das erste Kapitel mit einer im zweifachen Sinn besonderen Schwerpunktsetzung. Er blickt zum einen auf die Jugendpropaganda der Sowjetunion, zum anderen dienen ihm Filme als Quellen. Er nimmt sich der Entstehung des Timur-Mythos an und analysiert im Hinblick auf Entstehung, Story-Telling und Rezeption die zwei Kinofilme, die maßgeblich zu seiner Verbreitung beigetragen haben: Den 1940 entstandenen Film „Timur und seine Truppe“ [Timur i ego komanda] sowie den Folgefilm „Timurs Schwur“ [Kljatva Timura] aus dem Jahre 1942. Anhand beider Filme zeigt Stadelmann das Paradigmatische der bis heute in Russland beliebten Timur-Figur auf: Kinder und Jugendliche sollten (im Krieg) zum einen soziale Arbeit verrichten und sich um Bedürftige kümmern, zum anderen den Kampf der heimatlichen Armee assistierend unterstützen. Sie hatten wachsam und diszipliniert zu sein, bescheiden und altruistisch, Fröhlichkeit wurde vorgeschrieben, Eigeninitiative sollte lediglich im begrenzten Maße entwickelt werden. Stadelmann macht klar, wie perfekt sich diese auf Timur projizierten Erwartungen an die sowjetische Jugend in Grundkonstellationen des Stalinismus einordneten – gerade weil dessen Sozialgeschichte sehr stark vom Gegenbild zu den ‚Timurovcy‘ geprägt war: vom in den Filmen verächtlich gemachten asozialen Hooliganismus. Im zweiten Kapitel steht ausdrücklich das kindliche Erleben des Krieges unter dem Rubrum ‚Alltag und Erfahrung‘ im Fokus, wobei der Wandel sozialökonomischer Kontexte und familiärer Konzepte stets mit reflektiert wird: Wie erlebten Kinder den Krieg? Inwieweit gab es altersbedingte oder geschlechtsbezogene Unterschiede? Welchem Wandel unterlagen die Eltern-Kind-Beziehungen? Inwieweit nahmen Kinder aktiv am Kriegsgeschehen teil? Wie gingen Kinder mit dem Tod um, wie ging die Gesellschaft mit dem Tod von Kindern um? Christoph Schubert wagt trotz des deplorablen Forschungsstandes einen Blick auf die Konstruktion von Kriegskindheiten in narrativen Quellen, die in der Umbruchszeit zwischen römischer Republik und Kaiserzeit von ca. 50 v.Chr. bis 30 n.Chr. entstanden sind (Caesar, Sallust, Livius, Velleius Paterculus). Er verwahrt sich gegen Klischeebilder und erläutert, dass Mädchen und Jungen in der Antike immer wieder Opfer von kriegerischer Gewalt und Versklavung waren. Zugleich beschreibt er die untersuchte Epoche als eine Zeit, in der sich die Bindung zwischen Eltern und Kindern gerade aufgrund der kriegsbedingten Vaterlosigkeit in der Republik emotionalisierte. In den Texten werden Kinder nur am Rande thematisiert. Sie dienen als Kriegslegitimation (Kampf für die Zukunft unserer Kinder), werden gezielt für den Krieg ausgebildet,
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kommen als Mittel der Diplomatie vor (Geiselpolitik) und treten als Zuschauer, aber auch als aktive Teilnehmer von Kriegsereignissen auf. Sehr selten werden Kinder als Opfer unmittelbarer Gewalt geschildert. Handlungsleitend war vielmehr stets der Fortbestand der eigenen Familie als Ganzes. Hans-Henning Kortüm zeichnet für das Hohe und Späte Mittelalter ein anders akzentuiertes Bild. Auch er widerspricht der These von der angeblichen Gleichgültigkeit der Eltern gegenüber ihren Kindern. Zugleich veranschaulicht er die infolge der Familienerziehung frühe spielerische und paramilitärische Sozialisation adeliger wie nichtadeliger Jungen, wobei mit etwa sechzehn Jahren der förmliche Übergang zu einem ‚echten‘ Krieger erfolgen konnte. Kortüm unterstreicht, dass Kinder vornehmlich Opfer von Kriegshandlungen waren, aktive Teilnahmen an Kriegshandlungen oder im Zusammenhang damit stehende Verbrechen aber nicht ausgeblendet werden dürfen. Schließlich betont er, dass die sprachliche Repräsentation von mittelalterlichen Kriegskindheiten nicht dazu führen darf, die Gewalttaten durch und gegen Kinder zu relativieren. Dies trifft auch auf den Dreißigjährigen Krieg zu, den Claudia Jarzebowski untersucht. Sie betrachtet Tagebücher, Chroniken und Kirchenbücher, um den Lebens- und Leidensweg von Kindern nachzuzeichnen, die im Krieg geboren wurden, aktiv am Kriegsgeschehen als Soldaten oder Kriegsjungen im Tross teilnahmen und/oder an Hunger, an Krankheiten sowie mittelbar an den Begleiterscheinungen des Krieges wie Entwurzelung, Angst oder Gewalt starben. Kinder werden als Handelnde begriffen, die auf der Flucht, als Waisenkinder, als verlassene Kinder oder als Militärangehörige ihr Überleben sichern konnten – eine Form des Überlebens, die der kriegsbedingte Verlust gewohnter Schutzgemeinschaften (Familie, Nachbarschaft, Gemeinde) erzwang. Demgegenüber gab es auch Kinder, die von ihren Eltern aus dem Kriegsgeschehen entfernt wurden und damit, ungeachtet der hohen Kindersterblichkeit, die emotionale Eltern-Kind-Bindung unterstrichen. Die Texte geben aber nicht nur Auskunft über das Leben von ‚Kriegskindern‘. Jarzebowski hebt vielmehr hervor, dass es sich um Narrationen von Überlebenden handelt, die gerade mit der Thematisierung von Kindern ihr Überleben legitimierten. Zum Abschluss des zweiten Kapitels unternimmt die Mainzer Forschergruppe „Eltern und Kinder im Krieg“ 108 den von der Kriegskinder-Forschung bislang kaum gewagten Versuch, die beiden Weltkriege einem systematischen erfahrungshistorischen Vergleich zu unterziehen. Sie stellt
108 http://www.geschichte.uni-mainz.de/zeitgeschichte/637.php [10.3.2016].
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dazu erste Ergebnisse ihrer unter anderem auf Feldpostbriefen, Kriegserinnerungen und Zeitzeugenbefragungen fußenden Forschungen zu den Eltern-Kind-Beziehungen in beiden Weltkriegen vor. Dabei werden die großen Gemeinsamkeiten zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg betont, aber es wird auch Wert auf notwendige Nuancierungen gelegt: Für die Zeit zwischen 1939 und 1945 war das Mutterbild stärker durch Selbstdisziplin und Verschlossenheit gekennzeichnet, während sich beim Vater die Fähigkeit zur kritischen Selbstrelativierung verflüchtigte. Auch in Erziehungsfragen lässt sich ein Verhärtungsprozess konstatieren, der zu Differenzierungen im Hinblick auf das vermeintliche „Eiserne Zeitalter“ 109 mahnt. In Bezug auf das (Nicht-)Reden der Kinder konnte die Gruppe soziale und geschlechtsspezifische Unterschiede nur bedingt festmachen. Das dritte Kapitel blickt auf das Nachleben von Kriegen und fragt nach psychologischen, politischen, sozialen und kulturellen ‚Prägungen und Erbschaften‘, die das direkte oder indirekte Erleben kriegerischer Ereignisse hinterließ, sowie nach deren transgenerationaler Weitergabe. Drei Aufsätze loten dazu die deutsche Perspektive aus. Sie setzen bei der „Urkatastrophe des 20.Jahrhunderts“ (George F. Kennan) an und blicken auf die Prägewirkungen des Ersten Weltkrieges. Die longue durée des „Zeitalters der Extreme“ hat Barbara Stambolis im Blick, die eindrucksvoll die Last der Geschichte vor Augen führt: Mit Hilfe mannigfaltiger Quellen (Belletristik, Fachliteratur, Selbstzeugnisse, Postkarten, Plakate, Fotos) illustriert sie zunächst die „janusköpfige Zeitheimat“ der Kinder des Ersten Weltkrieges. Das Kaiserreich war von einem deutlich gestiegenen Interesse an kindlichen Befindlichkeiten, zugleich aber durch das ausgeprägte Bemühen um Abhärtung und Disziplinierung des Nachwuchses gekennzeichnet. Obwohl es in den 1920er-Jahren durchaus intensive Diskurse über das Schicksal der ‚Kriegskinder‘ auf politischem, medialem und nicht zuletzt wissenschaftlichem Feld gab, trat das Ideal der „eisernen Zucht“ seinen im Nationalsozialismus kulminierenden Siegeszug an. Trotz größter physischer wie psychischer Belastungen war das Durchhalten der Kinder vorrangig, persönliche Bedürfnisse sollten unterdrückt, Gefühle nicht thematisiert werden. Als Eltern haben die auf diese Weise Traumatisierten das persönliche Erbe wiederum an ihre Kinder – vielfach die ‚Kriegskinder‘ des Zweiten Weltkriegs – weitergegeben. Beiden Generationen gemein war das lange, oft bis ans Lebensende andauernde Schweigen in
109 Stambolis, Aufgewachsen (wie Anm.24).
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den Familien. Erst die Beschäftigung mit den eigenen Traumatisierungen durch den Zweiten Weltkrieg hat offenbar in der dritten bzw. vierten Generation dazu geführt, nach den seelischen Verletzungen der Eltern und Großeltern zu fragen. Auf eine spezielle Gruppe von ‚Kriegskindern‘ richtet Lu Seegers ihr Augenmerk. Ihr Interesse gilt Kriegerwitwen und Halbwaisen – zum einen mit Blick auf ihre gesellschaftlichen Diskursivierungen, zum anderen hinsichtlich der Ebene subjektiver Erfahrungswelten, die aus dreißig lebensgeschichtlichen Interviews destilliert werden. Die Kriegshinterbliebenen genossen seit dem Ersten Weltkrieg große Aufmerksamkeit, die bis 1945 vornehmlich aus Dankesschuld gegenüber den gefallenen Soldatenvätern, in der Bundesrepublik aus Respekt für die angeblich schicksalshaften Opfer des Nationalsozialismus resultierte. Der staatsoffizielle Antifaschismus der DDR erkannte indes den Kriegswaisen keinen Sonderstatus zu. So war ihr Schicksal in Ostdeutschland weitgehend aus dem öffentlichen Raum verbannt. Aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive wird daher umso deutlicher, dass die vaterlosen Kinder in der frühen Bundesrepublik unter besonderer Beobachtung und hohem sozialen Druck standen. Vor allem von kirchlicher Seite wurde das Aufwachsen von vaterlosen Kindern als defizitär und riskant erachtet. Als besonders gefährdet galten in der Tradition kaiserzeitlicher Verwahrlosungsdiskurse 110 ältere männliche Jugendliche, während sich vaterlose Töchter vor allem den Erwartungen der Mutter verpflichtet sahen und lange eng an sie gebunden blieben. Ausdrücklich die politische Dimension von kindlichen Kriegsprägungen – in der jüngeren Forschung gerne außer Acht gelassen 111 – fokussiert Lara Hensch. Sie untersucht Selbstdarstellungen späterer SA-Mitglieder aus der Zeit des Ersten Weltkrieges sowie den frühen 1920erJahren. Diese entstammen den Sammlungen von Theodore Abel, der während eines Forschungsaufenthaltes in Deutschland im Jahre 1934 in Zusammenarbeit mit der NSDAP einen Wettbewerb zu persönlichen SA-Geschichten ausgeschrieben hatte.
Klar stellt Hensch das Kompensationsbedürfnis der knapp 300 untersuchten Männer heraus: Da sie zu jung für die aktive Teilnahme am Ersten Weltkrieg waren,
110 Konzise dazu: Winfried Speitkamp, Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Göttingen 1998, 118–161. 111 Wenn etwa „Kinder des Krieges als Mittler zwischen Verlierern und Gewinnern in europäischen Nachkriegsgesellschaften“ betrachtet werden, dann spielt das eigentlich naheliegende Feld der Politik keine Rolle: Christine Krüger, Tagungsbericht: HT 2014: Kinder des Krieges als Mittler zwischen Verlierern und Gewinnern in europäischen Nachkriegsgesellschaften, 23.09.2014–26.09.2014 Göttingen, in: H-Soz-Kult, 12.12.2014, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5743[10.3.2016].
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knüpften die SA-Mitglieder in ihren Lebensgeschichten an das Ideal des Frontkämpfers an. Der als männlich imaginierte Krieg perpetuierte sich für sie an der innenpolitischen ‚Front‘ – eine Sichtweise, durch die sie ihren eigenen ‚Kampf‘ sublimierten und eine generationenübergreifende Brücke zu den Weltkriegsteilnehmern schlugen. Beide Generationen vereinten sich dann in der SA, um als politische Soldaten dem vermeintlich unmännlichen Frieden der Weimarer Jahre mit Gewalt ein Ende zu bereiten und die angebliche Schmach von 1918 mit der ‚Machtergreifung‘ des Nationalsozialismus zu revidieren. Zwei Beiträge beschäftigen sich mit dem vielleicht fundamentalsten Gewaltzusammenhang des 20.Jahrhunderts: dem Dreiklang Krieg, Völkermord und Kinder, dem bis in die Gegenwart nachgespürt wird. Der Beitrag von Andreas Frings betrachtet ebenfalls Kriegshinterbliebene. Er untersucht freilich die erinnerungskulturelle Bedeutung jener Kinder, die durch den Völkermord an den Armeniern zu Waisen wurden. Auf der Grundlage breit gefächerten Quellenmaterials, das unter anderem amtliche osmanische Akten, Augenzeugenberichte, Erinnerungen sowie populäre literarische und filmische Narrationen umfasst, vermag er in einem ersten Schritt die massiven Gewalterfahrungen von armenischen Frauen und Kindern, insbesondere Mädchen, während des Krieges zu skizzieren. Zwangsverheiratungen, Zwangsadoptionen und die Unterbringung in speziellen Waisenhäusern dienten als wesentliche Mittel, um die Auslöschung des armenischen Volkes durch Assimilation seiner Kinder zu bewerkstelligen. In einem zweiten Schritt werden die Revisionsbemühungen der armenischen Gemeinschaft und damit ihr Ringen um kollektive Identität nach Kriegsende beschrieben: Es gab große Bemühungen, die Kinder aus Waisenhäusern und muslimischen Familien zurückzuholen und mit Hilfe eines groß angelegten Bildungsprogramms zu re-armenisieren. Sie waren umso schwieriger, indes auch umso einschneidender, als sich die Armenier vor dem Krieg durch eine ausgeprägte sprachlich-regionale Diversität ausgezeichnet hatten, das Leben vieler Frauen und Kinder in der Zwischenzeit irreversibel verändert worden war und die Rückführung wegen der Beteiligung teilweise konkurrierender (inter-)nationaler Institutionen große Spannungen mit sich brachte. Im dritten Schritt werden zentrale Langzeitprägungen angerissen: Es zeigten sich die Grenzen der zurückliegenden Assimilationsversuche, wenn etwa in den ostanatolischen Regionen der Türkei die ethnische Herkunft der Frauen und Heranwachsenden fest im kommunikativen Gedächtnis verankert blieb. Vor allem aber übertrug sich das Postulat der Re-Armenisierung auf die kommenden Generationen, was sich beispielsweise in der
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frappierend hohen Quote endogamer Eheschließungen im Exil lebender Armenierinnen und Armenier manifestierte. Der ohne den Weltkrieg nicht denkbare Völkermord sowie das darauf fußende Narrativ der nationalen Wiedergeburt des armenischen Volkes bilden folglich bis heute ein verpflichtendes Konstituens armenischer Identität. Kristina Dietrich knüpft hier an, indem sie den Blickwinkel zu Überlebenden der Shoah verschiebt. Sie thematisiert zunächst die Erfahrungen im Nationalsozialismus, zeigt die horrend hohe Todesrate jüdischer Kinder auf, verweist auf unzählige Familientrennungen, verzweifelte Eltern, die ihre Kinder aus den Deportationszügen warfen, SS-Jagden auf Kinder sowie das entbehrungsreiche und angstvolle Überleben im Untergrund. Gemäß dem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung nach Erik H.Erikson betrachtet sie dann differenziert die Folgeschäden, welche die jüngsten Shoah-Überlebenden – in Abhängigkeit von ihrer persönlichen Nachkriegssituation – davontragen konnten. Sie benennt ausgeprägte Misstrauenssymptome, die Absenz kindlichen Neugierverhaltens und eine starke Autoritätshörigkeit, kognitive und sozialmoralische Lernschwächen, ein großes Liebes- und Verwöhnbedürfnis, Identitätsstörungen und mangelndes Selbstbewusstsein. Negativ wirkte sich aus, dass die therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten lange Zeit sehr eingeschränkt waren; ein Prozess des Verschweigens setzte ein und übertrug bestimmte Traumata an die nachfolgenden Generationen. Diese konnten sich in Misstrauen gegenüber der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, Depressionen und massiven Familienkonflikten entladen. Im letzten Beitrag erweitert Michael Pittwald die Perspektive auf die jüngere Kriegsrealität. Ausgehend von dem Umstand, dass sich zurzeit etwa 250000 Kinder im direkten Kriegseinsatz befinden, veranschaulicht er das Schicksal von Kindersoldaten. Er steckt den völkerrechtlichen Rahmen ab, illustriert den Charakter der „neuen Kriege“ 112, benennt sozioökonomische Ursachen und führt anhand von Schilderungen früherer Kindersoldaten in Mosambik die dramatischen physischen und psychischen Folgen des Kriegseinsatzes vor Augen. Da der Krieg oftmals schon vor einem Kampfeinsatz einen essentiellen Bestandteil kindlicher Sozialisation darstellt, ist aus Pittwalds Sicht eine grundlegende Änderung der Situation nur mittels globaler Friedensstrategien zu erreichen.
112 Herfried Münkler, Die neuen Kriege. 5.Aufl. Reinbek bei Hamburg 2007.
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V. In der Gesamtschau zeigt sich, wie fruchtbar der Dialog der verschiedenen historischen Einzeldisziplinen in einer akteurszentrierten Perspektive sein kann. Ausgehend von der Erkenntnis, dass Erzählen vom Krieg immer schon gedeutete Kriegserfahrung bedeutet und diese Deutungen bisweilen ausschließlich von Überlebenden geliefert werden, können bei weiten, aber klaren Begriffsbildungen über EgoDokumente wie auch über normative, literarische und szenische Texte tragfähige Brücken zwischen dem Phänomen ‚Kriegskinder‘ in verschiedenen Epochen errichtet werden. So gelingt es dem Band, den phänotypischen Charakter der Ilias vor Augen zu führen, aber auch die Notwendigkeit diesen zu relativieren. Die Beiträge verdeutlichen, dass der Krieg in jeder Epoche für viele Kinder eine alltägliche Lebenserfahrung darstellte. Seine langwierigen Nachwirkungen sind zeitübergreifend evident, wobei sie gerade für die Vormoderne noch intensiver erforscht werden müssen. Zumal in den Bereichen Kindereinsatz in der Propaganda, Emotionalität der Eltern-Kind-Beziehungen und Alltagswelten von Kindersoldaten offenbaren sich eindrucksvolle epochen- und raumübergreifende Kontinuitäten. Auch die Vielgestaltigkeit, die dem Phänomen ‚Kriegskind‘ eigen ist, besitzt zeitlosen Charakter. Für ‚Kriegskinder‘, die mit oder neben Erwachsenen, ohne oder gegen sie ihr Überleben sicherten, konnte sich die Kriegs- und Gewalterfahrung schon deshalb sehr unterschiedlich gestalten, weil Dauer, Art und Intensität von Kriegen stark variierten. Zudem gilt es in Rechnung stellen, dass die Sozialisation mit dem Kriegerischen in Vor- bzw. Nichtkriegszeiten signifikanten Einfluss auf die ‚eigentlichen‘ Kriegserfahrungen besaß. Künftigen Forschungen muss es überlassen bleiben, derartigen Zusammenhängen genauer nachzugehen. Die Art und Weise der Kriegsführung sollte im Hinblick auf das Verhältnis von Kindern und Krieg ebenso stärker berücksichtigt werden wie die Frage, inwiefern Gewalterfahrungen vor einem Krieg das Überleben im und nach dem Krieg, mehr aber noch die in den Quellen greifbare Thematisierung von Kriegskindheiten beeinflussten. Das Reden und Schweigen der ‚Kriegskinder‘ wird sich von daher auch nur substanziell ausleuchten lassen, wenn kontextualisierend der größere Themenkreis ‚Gewalt gegen Kinder‘ endlich auch aus historischer Perspektive systematisch und epochenübergreifend in Augenschein genommen wird. 113 113 Eine Zusammenschau liefert eine Tagung, die – organisiert von der Ludwig-Maximilians-Universität
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Von der Antike bis in die Gegenwart finden wir in jedem Fall – so zeigen es die Beiträge – ein komplexes Spannungsfeld, auf dem Kinder als real Leidende, als imaginierte und instrumentalisierte Opfer sowie als Leidverursacher auftreten. Es kommen in signifikanter Weise soziale und geschlechtsspezifische Differenzierungen und immer wieder ihre (partielle) Aufhebung zum Tragen – ein Wirkungsgeflecht, das sicherlich noch intensiver zu erforschen ist, als es dieser Band aufgrund der Vorarbeiten zu leisten vermochte. Auch die Prägekraft von Glaube und Religion, die einige Beiträge sichtbar gemacht haben, sollte in Zukunft gezielter untersucht werden. Sehr deutlich wurde vor allem auch, mit welcher Vorsicht Fortschrittsdiskurse zu führen sind. Lineare Entwicklungen und Meisternarrative kennt die Geschichte der Kriegskindheit nicht. Es ist zweifelsohne zu früh, um über eine eigene Epocheneinteilung im Hinblick auf ‚Kriegskinder‘ zu reflektieren. Die Eigentümlichkeit des 20.Jahrhunderts ist aber an etlichen Stellen zu hinterfragen und dies unbenommen der Notwendigkeit, in Zukunft die Forschung zur Vormoderne noch stärker zu Wort kommen zu lassen, europäische Sichtweisen zu erweitern und konsequent international vergleichende wie globalhistorische Perspektiven einzunehmen. Wir hoffen, mit unserem Band einen Anfang gemacht zu haben. Zum Schluss bleibt der Dank: Mehrere Institutionen und Personen haben sich um das Zustandekommen dieses Bandes verdient gemacht. Die ihm zugrundeliegende Tagung konnte lediglich dank der finanziellen Unterstützung der Inneruniversitären Forschungsförderung der Universität Mainz, des Vereins der Freunde der Universität Mainz, des Vereins der Freunde der Geschichtswissenschaften an der Universität Mainz sowie der Eichstätter MaximilianBickhoff-Universitätsstiftung und der Universitätsstiftung Eichstätt stattfinden. Außerordentlich hilfreich war ein vielfältiges engagiertes Entgegenkommen vonseiten der katholischen Akademie des Bistums Mainz Erbacher Hof – namentlich durch Dr. Felicitas Janson sowie Prof. Dr. Peter Reifenberg. Große Dankbarkeit empfinden wir gegenüber Univ.-Prof. Dr. Michael Kißener, ohne dessen Unterstützung dieses Projekt nicht hätte verwirklicht werden können. Letzthin gebührt Lisa Lüdke B.Ed. und Verena Schmehl B.A. höchste Anerkennung. Denn ohne ihren großen Einsatz und ihre umsichtige redaktionelle Arbeit wäre dieser Band kaum erschienen.
München und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Kooperation mit der Akademie für Politische Bildung Tutzing – im November 2015 unter dem Titel „Zucht und Ordnung. Gewalt gegen Kinder in historischer Perspektive“ stattgefunden hat: http://www.apb-tutzing.de/news/2015/zucht-ordnung-pm.php [10.3.2016].
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I. Erziehung, Fürsorge und Propaganda
Kriegswaisen und staatliche Fürsorge: Griechenland, Rom, Byzanz von Andreas Hartmann
I. Einleitung Der Krieg stellte in der Antike ein sehr viel verbreiteteres Phänomen dar als in unserer heutigen Welt, wenigstens soweit wir die Länder des sogenannten ‚Westens‘ betrachten. 1 Daraus folgt, dass es in antiken Gesellschaften eine große Zahl an Kriegswaisen gegeben haben muss. Einzelschicksale sind allerdings in dem uns vorliegenden Quellenmaterial praktisch nicht fassbar. Das völlige Fehlen von Ego-Dokumenten macht es uns zudem unmöglich, das individuelle Erleben ihres Schicksals durch diese ‚Kriegskinder‘ zu rekonstruieren. Selbst auf der Ebene der literarischen Fiktion bleiben die Kinder stumm. Wenigstens punktuell greifbar sind allein die Diskurse der Erwachsenen über Waisen sowie der staatliche Umgang mit ihnen. Im Folgenden soll zunächst vorgestellt werden, was wir über den Umgang mit Kriegswaisen vom archaischen Griechenland bis in die christliche Spätantike hinein wissen. Unter Kriegswaisen verstehe ich dabei in einem engen Sinne die Kinder im Kampf gefallener Soldaten. Die Hinterbliebenen ziviler Kriegsopfer sowie der Opfer von Hunger und Seuchen bleiben daher weitgehend außer Betracht. Anschließend werde ich einige Überlegungen zu den Ursachen der festgestellten Diskrepanzen präsentieren.
1 Das zeigt unabhängig von der genauen Interpretation schon Heraklits Diktum vom Krieg als Vater und König aller Dinge: DK 22 B 53. Vgl. auch Plat. leg. 625e–626a zum Krieg als Naturzustand zwischenstaatlicher Beziehungen.
DOI
10.1515/9783110469196-002
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II. Griechenland Das Schicksal von Kriegswaisen wird schon in den ältesten erhaltenen literarischen Texten der griechischen Antike thematisiert, den homerischen Epen. 2 Dies betrifft zum einen die verschiedenen Vorblenden auf den Fall Trojas und das Schicksal seiner Bewohner in der Ilias, zum anderen die Schilderung der Situation auf Ithaka in der Odyssee, in der Frau und Sohn des Odysseus, Penelope und Telemachos, nach zwanzigjähriger Abwesenheit des Helden faktisch als Witwe bzw. Waise dastehen. Die Eroberung einer Stadt führt in der Welt der homerischen Epen regelmäßig zur Tötung aller Männer und zur Versklavung der Frauen und Kinder. 3 Ob die Söhne der Besiegten getötet wurden, hing von der Gnade der Sieger ab. Vor diesem Hintergrund imaginieren Hektor und seine Frau Andromache in der Ilias eine hoffnungslose Zukunft für den Fall, dass Troja fiele. 4 Nach dem Tod Hektors malt Andromache dann das schlimme Schicksal des verwaisten Astyanax weiter aus, der künftig verachtet durch Betteln sein Dasein fristen müsse. 5 Wenig später verdüstert sich der Ausblick vollends: Sicheres Schicksal des Kindes seien Tod oder Sklaverei. 6 Das Publikum wusste natürlich, was in der Ilias selbst gar nicht erzählt wird – dass nämlich
2 Die Problematik des historischen Zeugniswertes und der genauen chronologischen Verortung der in den homerischen Epen beschriebenen Gesellschaft kann hier nicht angemessen gewürdigt werden. Vgl. dazu Kurt A. Raaflaub, A Historian’s Headache. How to Read „Homeric Society“, in: Nick Fisher/Hans van Wees (Eds.), Archaic Greece. New Approaches and New Evidence. London 1998, 169–193. Ich folge der Position, dass die Epen im Wesentlichen die mit märchenhaften Motiven übersteigerte Darstellung der Gesellschaft des frühen 7.Jh.s v.Chr. bieten. 3 Franz Kiechle, Zur Humanität in der Kriegführung der griechischen Staaten, in: Historia 7, 1958, 129– 156, 130–132. 4 Hom. Il. 6,407–465. Zu dieser und den folgenden Stellen vgl. Ingomar Weiler, Witwen und Waisen im griechischen Altertum. Bemerkungen zu antiken Randgruppen, in: Hans Kloft (Hrsg.), Sozialmaßnahmen und Fürsorge. Zur Eigenart antiker Sozialpolitik. (Grazer Beiträge, Supplementbd. 3.) Graz/Horn 1988, 15– 33, 17–21, Georg Wöhrle, Sons (and Daughters) without Fathers. Fatherlessness in the Homeric Epics, in: Sabine R. Hübner/David M. Ratzan (Eds.), Growing up Fatherless in Antiquity. Cambridge 2009, 162–174, 163–167, und ausführlicher Nadine Le Meur-Weissmann, Astyanax. Les enfants et la guerre dans l’Iliade, in: Gaia 12, 2009, 29–43. Vgl. auch die von der Sprechsituation her analoge Mahnung der Tekmessa in Soph. Ai. 485–524. 5 Hom. Il. 22,484–506. 6 Hom. Il. 24,726–739.
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der epischen Tradition zufolge Troja fallen und Astyanax von den Mauern der eroberten Stadt in den Tod gestürzt werden sollte. 7 Mit Blick auf den modernen Sprachgebrauch fällt sofort auf, dass die Antike offenbar nicht zwischen Halb- und Vollwaisen unterschied: Die noch lebende Andromache spricht von ihrem Sohn nach dem Tod des Vaters als Waise (ὀρφανός). Dieser Verzicht auf Differenzierung spiegelt die weitgehende Irrelevanz der Mutter für das weitere Schicksal des Sohnes. Frauen waren in Griechenland in der Regel nicht erbberechtigt und es existierte (von Prostitution abgesehen) kaum ein Arbeitsmarkt für sie. 8 Da sie selbst nicht rechtsfähig waren, konnten sie auch nicht die Vormundschaft für ihre Kinder übernehmen. Die in der Ilias geschilderten negativen Erwartungen hängen jedoch nicht ausschließlich am Dasein als Kriegswaise an sich, sondern vornehmlich an dem aus dem Tod Hektors notwendig folgenden Untergang der Stadt. An anderer Stelle nämlich feuert Hektor seine Kämpfer mit dem Argument an, gerade ihr Heldentod könne Frau, Kinder und Besitz retten. 9 Das ist nun genau die Perspektive, die auch von den Kampfparainesen der archaischen Zeit eingenommen wird. Sowohl Kallinos als auch Tyrtaios feiern den Gefallenen als Retter seiner Familie und sagen ihm unsterblichen Ruhm voraus, der auch seinen Nachkommen eine geachtete Stellung verschaffen würde. 10 Das ist freilich eine genrespezifische Einordnung. Hesiod rechnet die Waisen zusammen mit Schutzflehenden, Fremden und Alten zu jenen Randgruppen der Gesellschaft, die sich nicht wirksam selbst schützen können und deshalb unter dem besonderen Schutz des Zeus stehen. 11 Dieser Eindruck wird durch die Odyssee bestätigt, deren Handlung gerade auf die Schwierigkeiten einer de facto Witwe und eines
7 Lesches fr. 21 Bernabé; Arktinos fr. 5 Bernabé/Stesich. fr. 25 Page. Vgl. Paus. 10,25,9; Schol. A Hom. Il. 24,735. 8 Vgl. Sarah B. Pomeroy, Goddesses, Whores, Wifes, and Slaves. Women in Classical Antiquity. New York 1975, 73, und Marilyn B. Skinner, Sexuality in Greek and Roman Culture. 2.Aufl. Malden 2014, 187. Ich verweise nur auf Hesiods Ablehnung von Mägden mit Kindern: Hes. op. 602–603. Lukian. dial. mer. 6 erzählt – freilich mit satirischer Intention – von der Witwe eines Kupferschmiedes, die ihre Tochter zur Prostitution erzieht, nachdem der Erlös aus dem Verkauf der Werkzeuge ihres verstorbenen Mannes aufgezehrt ist. Als alternative Möglichkeiten eines bescheidenen Broterwerbs für die Witwe werden genannt: Garnspinnen, Weben und Nähen. Freilich trat eine Witwe in diesen Tätigkeiten mit Ehefrauen, kinderlosen Mägden und Sklavinnen in Konkurrenz. 9 Hom. Il. 494–499. 10 Kallinos v. Ephesos fr. 1 West; Tyrt. fr. 10 und 12 West. 11 Hes. op. 326–333.
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de facto Waisen abstellt, ihren sozialen Status zu sichern. 12 Odysseus selbst hatte seine Frau beauftragt, im Falle seines Todes wieder zu heiraten – allerdings erst, sobald Telemachos mit dem ersten Bartwuchs volljährig würde und das väterliche Erbe angetreten hätte. 13 Dem Treiben der Freier, die Penelope im eigenen Haus bedrängten, können weder sie noch Telemachos Einhalt gebieten. 14 Diese schwierige Situation resultiert nicht zuletzt daraus, dass Telemachos nicht auf ein stabiles familiäres Netzwerk zurückgreifen kann 15: Weder besitzt er Brüder noch Onkel väterlicherseits. 16 Brüder als wirksamste potentielle Unterstützer fehlen also. Sein Vater Odysseus hatte offenbar nur eine Schwester Ktimene, die auch nicht auf Ithaka, sondern auf der Nachbarinsel Same verheiratet worden war. 17 Ihr Ehemann war zudem mit Odysseus nach Troja gezogen und zusammen mit den anderen Gefährten des Helden in dem großen Sturm nach dem Frevel an den Rindern des Helios umgekommen. 18 Von den Eltern des Odysseus lebt nur noch Laërtes, der sich jedoch bereits in hohem Alter befindet und sich auf eine ärmliche Hofstelle außerhalb der Stadt zurückgezogen hat. 19 Die Eltern und Brüder der Penelope wurden von der Tradition in Akarnanien oder Sparta angesiedelt. 20 In der Odyssee selbst drängen sie Penelope zur Wiederheirat, um ihren sozialen Status zu sichern. Athene sagt dem Telemachos als Folge einer solchen Heirat Verlust von Besitz und Zurücksetzung durch die eigene Mutter voraus, die nur noch darauf aus sein werde, die Linie ihres neuen Gemahls zu fördern. 21 Telemachos konnte folglich nicht auf wirksame Unterstützung durch väterliche oder mütterliche Verwandtschaft hoffen. Staatliche Versorgungsmaßnahmen für Kriegswaisen sind in der homerischen Gesellschaft, in der die Kriegführung noch weitgehend eine Sache einzelner Großgrundbesitzer und ihrer Gefolgschaft war 22, von vornherein nicht zu erwarten. Erst
12
Zu Telemachos als Waise vgl. Wöhrle, Sons (wie Anm.4), 169–172.
13
Hom. Od. 18,265–270.
14
Hom. Od. 2,46–79, bes. 58–62.
15
Vgl. Egon Flaig, Tödliches Freien. Penelopes Ruhm, Telemachs Status und die sozialen Normen, in: HA
3, 1995, 364–388, 367f.
40
16
Hom. Od. 16,115–121.
17
Hom. Od. 15,363–367.
18
Hom. Od. 12,403–419.
19
Hom. Od. 11,187–196; ebd.15,352–360; ebd.16,142–145.
20
Akarnanien: Alkmaionis fr. 5 Bernabé; Sparta: Apollod. 3,10,5; Paus. 3,12,2.
21
Hom. Od. 15,14–23.
22
Erste Ansätze einer Sanktionierung privater Raubzüge durch die Gemeinschaft bei Hom. Od. 16,424–
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mit der Festigung von Polisstrukturen stellte sich das neue Problem, wie mit den Hinterbliebenen von Soldaten umzugehen sei, die im Kampf für das Gemeinwesen – also nicht unmittelbare Eigen- oder Familieninteressen – gefallen waren. Wie zumeist bezieht sich das aussagekräftige Quellenmaterial ganz überwiegend auf Athen. Hier kam nach den Perserkriegen der Brauch auf, die Kriegsgefallenen in einer öffentlichen Zeremonie in einem Staatsgrab im Kerameikos beizusetzen. 23 Bei dieser Gelegenheit wurde jeweils eine große Leichenrede vorgetragen, welche das Lob der Stadt und ihrer Bürgersoldaten, die Aufforderung, es den Toten nachzutun, und den Trost der Angehörigen miteinander verband. 24 Bereits die archaische Kampfparainese hatte den Gefallenen heroengleiche Ehren in Aussicht gestellt. 25 Simonides hatte die Toten der Perserkriege in seinen Epigrammen und Elegien in die Nähe der mythischen Heroen gerückt und ihre Gräber an Heroenheiligtümer angeglichen. 26 Die athenischen Leichenreden setzten diese Tradition fort. 27 Tatsächlich blieb eine Bezeichnung als Heros selten, vielmehr wurden die Kriegsgefallenen in Athen und anderswo als „edle Männer“ (ἄνδρες ἀγαθοί) überhöht. 28 Das ganze Prozedere des Staatsbegräbnisses und das immer wiederholte Lob der Stadt in der Leichenrede lieferten gewissermaßen eine institutionalisierte Garantie für den versprochenen ewigen Ruhm der Gefallenen.
429. Der archaische Zustand der Billigung von Raub und Piraterie gegen Fremde hielt sich in erheblichen Teilen Griechenlands bis in die klassische Zeit: Thuk. 1,5. 23 Ich verweise nur auf Nathan T.Arrington, Topographic Semantics. The Location of the Athenian Public Cemetery and its Significance for the Nascent Democracy, in: Hesperia 79, 2010, 499–539, und Nathan T.Arrington, Ashes, Images, and Memories. The Presence of the War Dead in Fifth-Century Athens. New York 2015, 19–90, der die ältere Literatur anführt. 24 Dazu vgl. Nicole Loraux, L’invention d’Athènes. Histoire de l’oraison funèbre dans la „cité classique“. (Civilisations et sociétés, Vol.65.) Paris 1981; Karl Prinz, Epitaphios logos. Struktur, Funktion und Bedeutung der Bestattungsreden im Athen des 5. und 4.Jahrhunderts. (Europäische Hochschulschriften, Rh.3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 747.) Frankfurt am Main 1997. 25 Kallinos v. Ephesos fr. 1 West; Tyrt. fr. 12 West. 26 Deborah D. Boedeker, Paths to Heroization at Plataea, in: dies./David Sider (Eds.), The New Simonides. Contexts of Praise and Desire. Oxford 2001, 148–163; Nicolas Wiater, Eine poetologische Deutung des σηκός in Simon. fr. 531 PMG, in: Hermes 133, 2005, 44–55; Jan Nicholas Bremmer, The Rise of the Hero Cult and the New Simonides, in: ZPE 158, 2006, 15–26. Die Frage, ob die Angleichung einen tatsächlichen Kult nach sich zog, ist hier ohne Bedeutung. 27 Perikles nach Stesimbrotos v. Thasos FGrHist/BNJ 107/1002 F 9; Lys. 2,80 (Autorschaft unsicher); Demosth. 60,34; Hyp. 6,27–28, 35 und 43. Zu entsprechenden Forderungen der Theorie s. Men. Rhet. p. 421 Spengel (in Verbindung mit p. 414). 28 Athen: Lys. fr. 3,2 Sansoni; Thasos: LSCGS 64 Z. 8 und 11; Plataiai: SEG 27,65 Z. 22.
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Der Verlust des Sohnes, Ehemannes oder Vaters ist ein Topos der Leichenreden, die diesem für die Hinterbliebenen den Ruhm der Gefallenen tröstend entgegenstellen. 29 Auch materielle Aspekte wurden bisweilen angesprochen: Lysias und Demosthenes thematisieren das Schicksal der Eltern, die nach dem Verlust ihres Sohnes der Pflege im Alter entbehren müssen. 30 In der der Aspasia in den Mund gelegten Leichenrede des platonischen Menexenos wird ihnen eine gewisse Fürsorge der Allgemeinheit versprochen, doch sind die Aussagen so unkonkret, dass man daraus wohl keine festgelegte Leistung ableiten kann. 31 Hingegen gipfelte nach Thukydides die Leichenrede des Perikles von 431/30 v.Chr. in der Erwähnung einer staatlichen Rente für Kriegswaisen, die als ein herausragender Preis für die Tapferkeit (ἆθλον ἀρετῆς μέγιστον) gepriesen wird. 32 Ganz ähnlich führt auch die Rede im Menexenos die Waisenrente am Ende an. 33 Diese Versorgung der Kriegswaisen in Athen wurde in der Antike auf ein Gesetz Solons zurückgeführt. 34 Tatsächlich war auch in der Gesetzgebung Solons von Waisen und den ihnen zustehenden Unterhaltsleistungen die Rede, doch dürften hier nur die Pflichten des Vormundes geregelt gewesen sein. 35 Dass Solon tatsächlich eine allgemeine Regelung für Kriegswaisen erließ, ist auch deshalb unwahrscheinlich, weil die ältere biographische Tradition die inhaltlich analoge Einführung einer Rente für Kriegsinvaliden erst mit Peisistratos verband, der sich an eine Einzelfallentscheidung Solons angelehnt habe. 36 Die bis in hellenistische Zeit noch vorliegenden solonischen Axones enthielten eine solche Bestimmung also offensichtlich
29
Perikles nach Thuk. 2,44–45; Plat. Mx. 248b–249d; Lys. 2,71–76; Demosth. 60,32–37; Hyp. 6,41–43.
30
Lys. 2,73; Demosth. 60,36.
31
Plat. Mx. 248d–249a. Vgl. Demosth. 60,32.
32
Thuk. 2,46,1. Zu den staatlichen Unterstützungsleistungen in Athen vgl. neben der im Folgenden zi-
tierten Literatur auch Hendrik Bolkestein, Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum. Ein Beitrag zum Problem „Moral und Gesellschaft“. Utrecht 1939, 269–282; Marina Elisabeth Pfeffer-Küppers, Einrichtungen der sozialen Sicherung in der griechischen und römischen Antike unter besonderer Berücksichtigung der Sicherung bei Krankheit. (Versicherungsforschung, Bd. 5.) Berlin 1969, 63–67 (mit Vorsicht zu benutzen); Willem den Boer, Private Morality in Greece and Rome. Some Historical Aspects. (Mnemosyne, Suppl., Vol.57.) Leiden 1979, 43–55; Richard V. Cudjoe, The Social and Legal Position of Widows and Orphans in Classical Athens. (Symboles. Contributions to the Research of Ancient Greek and Hellenistic Law, Vol.3.) Athen 2010, 213–218. 33
42
Plat. Mx. 248e–249a.
34
Diog. Laert. 1,55–56.
35
Harpokr./Sud./Phot. s. v. σῖτος ~ Sol. fr. 54 Ruschenbusch mit der Erläuterung in Anm.54.
36
Herakl. Pont. fr. 149 Wehrli.
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nicht, sonst hätte es der mittelbaren Verbindung zu Solon nicht bedurft. 37 Im Übrigen bezeugt Aristoteles, dass Hippodamos von Milet sein Projekt einer Kriegswaisenversorgung noch als eine neue Idee vorstellte. 38 Damit müsste die Einführung der Kriegswaisenrente in Athen in die zweite Hälfte des 5.Jh.s v.Chr. fallen. Erstmals bezeugt ist sie für das Jahr 431/30 v.Chr., jedenfalls sofern dem Thukydides bei der Abfassung der perikleischen Leichenrede kein Anachronismus unterlaufen ist. 39 Am plausibelsten ist es daher, die Waisenrente in den Kontext der Einführung der Richter- und Ratsbesoldung zwischen der Mitte des 5.Jh.s v.Chr. und dem Beginn des Peloponnesischen Krieges zu stellen. Als Invalidenrente wurde zur Zeit des Lysias eine Obole am Tag gezahlt 40, zur Zeit des Aristoteles dann deren zwei. 41 Die Sätze der Waisenrenten werden entsprechend gewesen sein, was für das Ende des 5.Jh.s v.Chr. durch die gleich noch ausführlicher zu besprechende Theozotides-Inschrift ausdrücklich bestätigt wird. 42 Die Höhe dieser Rentenzahlungen lag stets deutlich unterhalb der Diäten für Amtsträger und markierte vielleicht ein absolutes Existenzminimum. 43 Während der ursprünglich ebenfalls eine Obole betragende Sold für den Besuch der Volksversammlung im Laufe des 4.Jh.s v.Chr. stark erhöht wurde 44, blieb es zudem bei der Invaliden- und (vermutlich auch) Waisenrente bei einer Verdoppelung. In nacharistotelischer Zeit kam es durch eine Änderung des Berechnungsmodus sogar zu einer leichten Kürzung. 45 Auch wenn die Kriegswaisenversorgung nicht völlig abgeschafft wurde, verlor sie demnach doch stark an Bedeutung. Bei Kriegswaisen, deren Väter nennenswerten Besitz hinterließen, wird die zu-
37 Demgegenüber besagt die Zuweisung an Solon durch Schol. Aischin. 1,103 nichts. Nicht nachvollziehbar ist mir die Einschätzung von Otto Schulthess, Vormundschaft nach attischem Recht. Freiburg im Breisgau 1886, 20f., der aus der Konstruktion des Herakleides einen Beleg für den solonischen Ursprung der Kriegswaisenversorgung machen will. 38 Aristot. pol. 12,1268a. 39 Thuk. 2,46,1. 40 Lys. 24,13 und 26. 41 Aristot. Ath. pol. 49,4. Vgl. auch Hesych./Sud. s. v. ἀδύνατοι. 42 SEG 38,46 Z. 9–11. 43 Vgl. zu den Diäten- und Transferzahlungen in Athen William T.Loomis, Wages, Welfare Costs and Inflation in Classical Athens. Ann Arbor 1998. 44 Aristot. Ath. pol. 62,2. 45 Philoch. FGrHist 328 F 197 mit dem Kommentar von Jacoby.
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sätzliche Rente kaum ins Gewicht gefallen sein. 46 Für sie war eher relevant, dass Waisen generell ein Jahr über das Erreichen der Volljährigkeit hinaus von staatlichen Abgaben befreit waren. 47 Attraktiv war die Waisenrente vor allem für Besitzlose, d.h. die Angehörigen der Theten-Klasse. Seit Athen im 5.Jh. v.Chr. mit der Flottenrüstung begonnen hatte und die Ruderbänke wesentlich mit den Angehörigen dieser Schicht besetzt waren 48, stellte sich daher drängend die Frage, wie im Ernstfall mit den Hinterbliebenen umzugehen war, die nicht über das väterliche Erbe eine gewisse Absicherung besaßen. Weitere Informationen zur Kriegswaisenversorgung im Athen der klassischen Zeit liefert die bereits erwähnte Theozotides-Inschrift. 49 Diese ist die Aufzeichnung eines auf Antrag des Theozotides verabschiedeten Beschlusses der Volksversammlung, den Söhnen der im Kampf gegen das oligarchische Regime der Jahre 404/03 v.Chr. gefallenen Athenern eine Rente zu zahlen, die derjenigen entsprach, die bisher bereits diejenigen Waisen erhielten, deren Väter in auswärtigen Kriegen gefallen waren. 50 Das Fragment einer gegen den Theozotides gerichteten Rede des Lysias, die auch das Problem der Waisenversorgung streift, ermöglicht uns eine Kontextualisierung des Inschriftentextes. Festzuhalten ist zunächst, dass Rentenzahlungen offenbar nur Söhne athenischer Bürger aus einer vollgültigen Ehe erhalten konnten, also einer rechtmäßig geschlossenen Verbindung mit einer athenischen Bürgerin. 51 Illegitime Söhne und Adoptivsöhne waren hingegen ausgeschlossen, obwohl – wie schon Lysias anmerkt – diese oft viel bedürftiger gewesen sein dürften, weil sie kein Erbe zu erwarten hatten. 52 46
Vgl. etwa den Fall des Diodotos nach Lys. 32,5–6.
47
Lys. 32,24.
48
Ps. Xen. Ath. pol. 1,2.
49
Grundlegend nach wie vor der Kommentar in der editio prima, auf den für alle Detailprobleme verwie-
sen sei: Ronald S.Stroud, Greek Inscriptions. Theozotides and the Athenian Orphans, in: Hesperia 40, 1971, 280–301. 50
Zumindest nach der von Stroud, Theozotides (wie Anm.49), 287f. vorgeschlagenen Textergänzung.
51
Stroud, Theozotides (wie Anm.49), 286f.
52
Lys. fr. 3,1 Sansoni; Ausschluss illegitimer Nachkommen vom Erbe: Sol. fr. 50a-b Ruschenbusch. Daniel
Ogden, Greek Bastardy in the Classical and Hellenistic Periods. Oxford 1996, 79 meint, dass aus dem Text des Theozotides-Dekrets nicht direkt ersichtlich sei, dass die bei Lysias geäußerten Einwände nicht berücksichtigt wurden, doch hat diese Annahme angesichts des sonstigen restriktiven Umgangs der Athener mit dem Bürgerrecht und den damit zusammenhängenden Privilegien in den fraglichen Jahren doch alle Wahrscheinlichkeit für sich, zumal das Dekret von Ἀθηναῖοι spricht und alle Begünstigten mit Patronymikon und Demotikon aufgeführt sind. Dazu Stroud, Theozotides (wie Anm.49), 299–301.
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Dauerhaft ansässige Nichtbürger (μέτοικοι) waren von der Leistung ohnehin ausgeschlossen, obwohl auch sie zum Militärdienst verpflichtet waren. 53 Das Theozotides-Dekret zeigt zudem, dass die Rentenzahlungen auf Kriegswaisen beschränkt gewesen sein müssen. 54 Wenn nämlich ohnehin alle Waisen anspruchsberechtigt gewesen wären 55, welchen Sinn hätte es dann gemacht, ausdrücklich die durch den Bürgerkrieg von 404/03 v.Chr. verwaisten Kinder in die Liste der Empfänger aufzunehmen? 56 Eine Ausweitung der Rentenzahlung auf alle Waisen könnte also bestenfalls im 4.Jh. v.Chr. erfolgt sein. 57 Dann läge eine Analogie zur Invalidenrente vor, die nun nicht mehr ausschließlich an Kriegsinvaliden gezahlt wurde; vielmehr handelte es sich um eine Erwerbsunfähigkeitsrente für Perso-
53 Thuk. 2,13,7; Xen. vect. 2,2. 54 Anders jedoch Stroud, Theozotides (wie Anm.49), 288, bes. Nr.18; ihm folgend Ingomar Weiler, Zum Schicksal der Witwen und Waisen bei den Völkern der Alten Welt. Materialien für eine vergleichende Geschichtswissenschaft, in: Saeculum 31, 1980, 157–193, 179, und Weiler, Witwen (wie Anm.4), 24f. Die von beiden angeführte Passage Aristot. Ath. pol. 56,7 spricht jedoch gerade nicht von Rentenzahlungen, sondern nur von Rechtsschutz. Stroud, Theozotides (wie Anm.49), 289, argumentiert, dass die Kriegswaisenrente von Aristoteles in seinem systematischen Überblick nicht erwähnt werden musste, da sie zu seiner Zeit nicht mehr existiert habe. Dagegen ist auf Aristot. pol. 12,1268a zu verweisen, wo ein entsprechendes Gesetz ausdrücklich für in Athen derzeit gültig erklärt wird. Stroud, Theozotides (wie Anm.49), 289 Nr.23, und Cudjoe, Social and Legal Position (wie Anm.32), 217 nehmen Aischin. 3,153–155 als Kronzeugen für die Abschaffung der Waisenrente, doch dem Redner geht es gar nicht um die Geldzahlung, sondern die Proklamation des Herolds im Theater. So bereits zutreffend Schulthess, Vormundschaft (wie Anm.37), 14–16. Abgeschafft wurden demnach zusammen mit den Tributweisungen nur die Waisenehrungen an den Großen Dionysien. – Man kann auch keinesfalls Harpokr./Sud./Phot. s. v. σῖτος ~ Sol. fr. 54 Ruschenbusch mit Aristot. Ath. pol. 24,3 verbinden, wo von der Waisenversorgung die Rede ist. Die Lexikographen beziehen sich auf den bei Solon und Aristoteles gebrauchten Terminus σῖτος. Dieser Begriff wird jedoch an der Stelle Ath. pol. 24,3 gar nicht gebraucht, sondern nur bei 56,7 – dort ist er freilich nicht mit den Archonten, sondern den Vormündern verbunden. Offenbar liegt ein Irrtum der Lexikographen vor. 55 In Kreta hatten alle Waisen Zugang zu den Speisegemeinschaften (Pyrgion FGrHist/BNJ 467 F 1). Dazu vgl. Anna Strataridaki, Orphans at Cretan syssitia, in: GRBS 49, 2009, 335–342. Dies darf jedoch nur bedingt im Sinne einer spezifischen „Naturalrente“ verstanden werden, da in Kreta die Syssitien – anders als in Sparta – generell aus öffentlichen Mitteln finanziert bzw. subventioniert wurden: Ephoros FGrHist/BNJ 70 F 149,16; Aristot. pol. 2,1272a; vgl. Dosiad. FGrHist/BNJ 458 F 2. 56 So im Prinzip auch Stroud, Theozotides (wie Anm.49), 300f., der jedoch – logisch inkompatibel – gleichzeitig eine Versorgung aller Waisen behauptet. 57 Die rechtliche Fürsorge der Archonten für die Waisen bezog sich ohnehin nicht speziell auf Kriegswaisen: Gesetz ap. Demosth. 43,75; Aristot. Ath. pol. 56,6–7; vgl. Schol. Demosth. 21,607; ebd.24,56. Einen Überblick über die Rechtsstellung von Waisen in Athen gibt Cudjoe, Social and Legal Position (wie Anm.32), 38–54 und 165–281.
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nen mit einem Vermögen unterhalb von drei Minen. 58 Der kaiserzeitliche Redner Aelius Aristeides scheint in seiner Lobrede auf die Stadt Athen allerdings wiederum nur eine staatliche Versorgung von Kriegswaisen zu kennen. 59 Im 5.Jh. v.Chr. wurden die Kriegswaisen jedoch nicht nur materiell unterstützt, sondern auch in besonderer Weise geehrt, und zwar im Rahmen der Großen Dionysien. 60 Der Herold führte die jungen Männer in das Theater und verkündete, „dass die Väter dieser Jünglinge starben, während sie im Krieg für das Vaterland kämpften und sich somit als edle Männer erwiesen, und dass diese die Stadt bis zum Mannesalter aufzog“. 61 Dazu bekamen die Kriegswaisen eine Panoplie, also eine vollständige Hoplitenrüstung, überreicht und durften auf den Ehrenplätzen Platz nehmen. Diese Zeremonie stand in einem dezidiert militaristischen Kontext: Das Trankopfer vor Beginn der Aufführungen wurde von den zehn Strategen, also den Befehlshabern des Bürgerheeres, dargebracht. 62 Zudem war die Ehrung der Kriegswaisen mit einer Vorführung der aus dem Seebund eingegangenen Tribute gekoppelt. 63 Die Botschaft war eine sehr eindeutige: Reichtum und Macht sind ohne militärisches Engagement und die daraus folgenden Opfer nicht zu haben. 64 Wie auch die Ehrungen der sonstigen Wohltäter der Stadt fand die Präsentation der Kriegswaisen im Theater vor dem Beginn der Aufführungen statt, und wie die sonstigen Wohltäter wurden die Kriegswaisen mit dem Privileg ausgezeichnet, auf den Ehrenplätzen Platz nehmen zu dürfen. Die Euergetenehrungen zielten darauf, durch die Sichtbarkeit der Ehrung weitere Wohltäter zu gewinnen. 65 Ähnliches
58
Aristot. Ath. pol. 49,4. Der Bezug der Invalidenrente zog freilich eine Einschränkung der bürgerlichen
Rechte, nämlich einen Verlust des passiven Wahlrechtes, nach sich: Lys. 24,13. Hierbei dürfte vorrangig die Überlegung wirksam gewesen sein, dass der Erwerbsunfähige (ἀδύνατος) auch zur kompetenten Verwaltung eines öffentlichen Amtes nicht imstande sei. 59
Aristeid. Pan. 50. Das Argument ist freilich nicht völlig zwingend, da die Kenntnisse des Aristeides viel-
leicht ausschließlich aus den Leichenreden der klassischen Zeit geschöpft sind. 60
Lys. fr. 3,2 Sansoni; Isokr. 8,82; Aischin. 1,154–155. Dazu Simon Goldhill, The Great Dionysia and Civic
Ideology, in: John J. Winkler/Froma I. Zeitlin (Eds.), Nothing to Do with Dionysos? Athenian Drama in its Social Context. Princeton 1990, 97–129, 105–114.
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61
Der Wortlaut der Proklamation nach Lys. fr. 3,2 Sansoni.
62
Plut. Kim. 8,8. Dazu Goldhill, Civic Ideology (wie Anm.60), 100f.
63
Isokr. 8,82; Schol. Aristoph. Ach. 504. Dazu Goldhill, Civic Ideology (wie Anm.60), 101–104.
64
Vgl. das Lob der expansiven Außenpolitik Athens in der Leichenrede des Perikles nach Thuk. 2,36.
65
Demosth. 18,120. Dazu Goldhill, Civic Ideology (wie Anm.60), 104f.
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wird man daher für die Waisenehrungen sagen dürfen. Ein ganz analoger Appellcharakter war auch den Leichenreden des 5. und frühen 4.Jh.s v.Chr. eigen. 66 Ähnlich wie die kommunalisierte Ehrung der Kriegstoten selbst korreliert auch die Ehrung der Kriegswaisen mit der zunehmend aggressiven Außenpolitik Athens in der Zeit nach den Perserkriegen. Dadurch ergab sich auf den ersten Blick eine gewisse Spannung mit jenen im unmittelbaren Anschluss aufgeführten dramatischen Werken, welche die Schrecken des Krieges in den Vordergrund stellten. Dies gilt etwa für die Trojanerinnen des Euripides. 67 Im rituell definierten antiken Wahrnehmungskontext dürfte der Zuschauer jedoch Stücke wie dieses vor allem als Warnung vor dem Schicksal der Besiegten gesehen haben. Nicht das Schicksal einer Kriegswaise an sich war erbarmungswürdig, sondern das Schicksal der Waisen in einer besiegten Stadt! Die im Theater anwesenden Kriegswaisen dürften sich kaum mit Astyanax identifiziert haben. Der Sieg ihrer Väter hatte ihr Überleben gesichert. Auf diesen Gegensatz spielt Euripides auch direkt an, wenn er den unglücklichen Astyanax mit „diesen anderen“ Waisen vergleicht, die durch die Tapferkeit ihrer Väter gerettet worden seien. 68 Die Redner des 4.Jh.s v.Chr. sprechen von den Waisenehrungen an den Großen Dionysien als einer Sache der Vergangenheit, konkret gemeint ist die Zeit vor der Niederlage im Peloponnesischen Krieg 404 v.Chr. Auch hier wird also wiederum der enge Zusammenhang mit der expansiven Seebundspolitik deutlich. Die Einrichtungen Athens waren dennoch kein Einzelfall. Aristoteles entnahm dem Werk des Hippodamos von Milet einen entsprechenden Gesetzentwurf, stellt aber in diesem Zusammenhang fest, dass ähnliche Regelungen zu seiner Zeit in Athen und darüber hinaus in vielen Städten der griechischen Welt galten. 69 In derselben Tradition stehen dann auch die entsprechenden Entwürfe in den Gesetzen
66 Thuk. 2,41,5 und 43; Plat. Mx. 246b–248e. Vgl. ebd.236e. 67 Dazu Pascale Brillet-Dubois, Astyanax et les orphelins de guerre athéniens. Critique de l’idéologie de la cité dans les Troyennes d’Euripide, in: REG 123, 2010, 29–49, deren Perspektivierung ich nicht teilen kann. Brillet-Dubois beruft sich zwar auf Goldhill, Civic Ideology (wie Anm.60), doch dieser deutet die Spannung zwischen Ritual und Drama keineswegs einfach im Sinne einer künstlerischen Kritik an gesellschaftlichen Normen. Die Vorführung von Transgression kann im Übrigen durchaus affirmative Funktion besitzen. 68 Eur. Troad. 742–743. Dazu Brillet-Dubois, Astyanax (wie Anm.67), 41f. 69 Aristot. pol. 12,1268a. Zu Athen vgl. ebd.Ath. pol. 24,3.
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Platons. 70 Schließlich gewährte auch Alexander den Waisen der auf seinem Indienzug verstorbenen Soldaten eine Rente. 71 Konkretere Informationen liefert uns jedoch nur eine um 350 v.Chr. entstandene Inschrift aus Thasos, die den Text eines Dekretes der Volksversammlung wiedergibt, das Ehrungen für Kriegsgefallene regelte 72: Wie in Athen wurden die Bestattung und die Ehrung der Gefallenen der Familie weitgehend entzogen und in den Verantwortungsbereich der Stadt übertragen. Die Namen der Toten wurden auf einer offiziellen Liste eingetragen, die aber – anders als in Athen – offenbar nicht inschriftlich publiziert wurde. Die Polis besorgte ein jährliches Totenopfer, zu dem auch die Väter und Söhne der Toten geladen wurden. 73 Das war keine bloße Symbolhandlung, denn das Totenopfer war mit einem anschließenden Opfermahl verbunden. Den Vätern und Söhnen der Gefallenen stand bei den in diesem Kontext stattfindenden Spielen ein Ehrenplatz auf einer eigenen Tribüne zu. Bei Erreichen der Volljährigkeit wurde den jungen Männern am Fest der Herakleia öffentlich eine Rüstung auf Staatskosten überreicht, den Töchtern wurde mit dem Erreichen der Heiratsfähigkeit am Abschluss des 14. Lebensjahres eine Mitgift zur Verfügung gestellt. Eine analoge Regelung ist zwar für das Athen des 5.Jh.s v.Chr. nicht explizit bezeugt, aber auch nicht auszuschließen. 74 Im 3.Jh. v.Chr. stellte die Stadt ihren Wohltätern jedenfalls ein solches Einspringen im Notfall in Aussicht. 75 Das thasische Dekret sah zudem vor, dass den bedürftigen Kindern (und Eltern?) der Gefallenen eine Rente von bis zu vier Obolen am Tag zugebilligt werden konn-
70
Plat. leg. 11,922a und 926e–928d.
71
Plut. Alex. 71,9. Zur Verwendung des Begriffs μισθός im Zusammenhang mit derartigen Versorgungs-
zahlungen vgl. Aischin. 1,103–104. Dazu A. Albert/M. Esser, Invaliden- und Hinterbliebenenfürsorge in der Antike, in: Gymnasium 52, 1941, 25–29, 28, die ansonsten wenig mehr als eine knappe Materialsammlung bieten. 72
LSCGS 64. Dazu jetzt grundlegend Julien Fournier/Patrice Hamon, Les orphelins de guerre de Thasos. Un
nouveau fragment de la stèle des Braves (ca 360–350 av. J.-C.), in: BCH 131, 2007, 309–381 mit der Edition eines weiteren Fragmentes. 73
Obwohl das griechische παῖδες grundsätzlich auch die Töchter einschließen könnte, ist im Kontext
doch ein restriktiver Sinn wahrscheinlich: Fournier/Hamon, Orphelins de guerre (wie Anm.72), 321. 74
Dass die auf die Waisenehrung im Theater bezogenen Quellen nur auf die Söhne eingehen, versteht
sich. Insofern kann man aus ihrem Schweigen zu den Töchtern der Gefallenen keine weiteren Schlüsse ziehen. 75
48
IG II3,1135 Z. 17–20.
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te. 76 In Athen wurde den Eltern der Gefallenen wohl keine Rente bezahlt. 77 In den Leichenreden werden nämlich nur die Verpflichtungen gegenüber den männlichen Waisen konkreter benannt, während es ansonsten bei recht unscharfen Ankündigungen und Appellen bleibt. 78 Eine staatliche Versorgung der Eltern gab es jedoch in Rhodos, wo anlässlich der Belagerung durch Demetrios Poliorketes im Jahr 305 v.Chr. Regelungen eingeführt wurden, die in den Details stark an diejenigen in Athen und Thasos erinnern. 79 Wir wissen nicht, wie diese Rentensysteme in der Praxis funktionierten. Welche Rolle die von Xenophon für Athen bezeugten Waisenwächter (ὀρφανοφύλακες) in der Waisenversorgung spielten, lässt sich nicht genauer bestimmen. 80 Für den Unterhalt der Kriegswaisen war wohl der Polemarchos zuständig. 81 Vor allem aber sind die finanziellen Auswirkungen schwierig abzuschätzen: Immer wieder erlitten die Athener im 5.Jh. v.Chr. massive Niederlagen, die zu einem schlagartigen Anstieg der Zahl der Kriegswaisen geführt haben müssen. 82
76 Z. 26–31. Die Passage ist nur fragmentarisch erhalten. Dazu Fournier/Hamon, Orphelins de guerre (wie Anm.72), 324–329. 77 Fournier/Hamon, Orphelins de guerre (wie Anm.72), 327f. 78 Plat. Mx. 248d–249c; Lys. 2,75. Nur den staatlichen Unterhalt der männlichen Waisen erwähnen: Thuk. 2,46,1; Hyp. 6,42; vgl. davon abgeleitet auch Lesbonax Rhet. protr. 1,19. 79 Diod. 20,84,3: Bestattung auf Staatskosten, Versorgung von Eltern und Kindern, Ausstattung der Töchter mit einer Mitgift, öffentliche Ehrung der Knaben mit einer Panoplie im Theater an den Dionysien. 80 Xen. vect. 2,7. Sud. s. v. ὀρφανιστῶν erwähnt zudem ὀρφανισταί als eine mit Waisen befasste Magistratur. Derartige Amtsträger sind inschriftlich auch in anderen griechischen Poleis bezeugt. Dazu vgl. Weiler, Schicksal (wie Anm.54), 177f. Bei Soph. Ai. 512 erscheinen die ὀρφανισταί als dem Kind wenig wohlgesonnen. 81 Schol. Demosth. 24,56. Dazu passt, dass der Polemarchos auch die Epitaphia für die gefallenen Soldaten leitete: Poll. 8,91. Dagegen jedoch Stroud, Theozotides (wie Anm.49), 289, dessen Argument jedoch primär auf der irrigen Annahme beruht, die Kriegswaisenversorgung sei zur Zeit des Aristoteles nicht mehr in Geltung gewesen. Schulthess, Vormundschaft (wie Anm.37), 23–25, entscheidet sich ebenfalls für den Archon, da er die Waisenversorgung als familienrechtliche Angelegenheit begreift. Das wäre bei einer allgemeinen Waisenrente einsichtig, muss aber auf eine Maßnahme speziell für Kriegswaisen nicht zutreffen. 82 Versuch der Quantifizierung bei Cudjoe, Social and Legal Position (wie Anm.32), 17–23. Die neueste monographische Behandlung der athenischen Staatsfinanzen erwähnt die Kriegswaisenrente nur ganz beiläufig: David M. Pritchard, Public Spending and Democracy in Classical Athens. Austin 2015, 109.
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III. Rom Rom führte in der Zeit der Republik fast ununterbrochen Krieg. 83 Man möchte daher annehmen, dass die Versorgung von Kriegswaisen ein massives Problem darstellte. Dies gilt umso mehr, als der Aufstieg Roms zur Weltmacht durchaus immer wieder von empfindlichen Rückschlägen begleitet war – der Hinweis auf die extrem verlustreichen Niederlagen gegen Hannibal mag genügen. In den diesbezüglichen Quellen werden die Kriegswaisen jedoch tatsächlich kaum problematisiert. Im Bericht des Livius über die Schlacht von Cannae und ihre Folgen werden beispielsweise pupillares und viduae genannt, jedoch nicht als Kriegsopfer, sondern wegen der von ihnen gestellten Kriegsanleihen für den Staatsschatz. 84 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die einzige monographische Studie über die Auswirkungen des Krieges auf Frauen und Kinder im antiken Rom kaum etwas zu Kriegswaisen zu sagen hat. 85 Das gleiche gilt für Jens-Uwe Krauses eingehende Behandlung der rechtlichen und sozialen Stellung von Waisen im Römischen Reich. 86 Anders als etwa in Athen war der Tod von Soldaten in Rom überhaupt keine öffentliche Angelegenheit. Für die einfachen Soldaten scheinen Verbrennung und Massenbestattung vor Ort die Regel gewesen zu sein, eine staatliche Ehrung in Rom fand nicht statt. 87 Allein die überlebenden Sieger wurden bei Triumphen und Ovationen rituell inszeniert. Entsprechend gab es auch eine staatliche Waisenversorgung in Rom nicht. Witwen und Waisen waren zwar vom census ausgeschlossen und damit auch von der Leistung des tributum befreit 88, mussten aber dafür eine Ersatzabgabe aufbringen, das aes equestre et hordiarium 89. Nach der Abschaffung des tribu-
83
Vgl. William V. Harris, War and Imperialism in Republican Rome 327–70 B. C. Oxford 1979, 9f. und
256f. In den Zeitraum von 327 bis 241 v.Chr. fielen beispielsweise nur fünf Friedensjahre. 84
Liv. 24,18,13–14. Analog möchte Xen. hipp. 9,5 die ὀρφανοὶ οἱ δυνατοὺς οἴκους ἔχοντες zur Finan-
zierung der Kavallerie heranziehen. 85
John K. Evans, War, Women and Children in Ancient Rome. London/New York 1991, erwähnt Waisen
nur auf den Seiten 3, 52, 75 und 113f. 86
Jens-Uwe Krause, Witwen und Waisen im Römischen Reich III. Rechtliche und soziale Stellung von
Waisen. (Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien, Bd. 18.) Stuttgart 1995. 87
Caes. Gall. 1,26,5; Dion. Hal. ant. 5,47,1; Liv. 27,2,9; Sil. 10,524–543. Eine Überführung der Gebeine von
Kriegsgefallenen war durch das Zwölftafelgesetz jedoch ausdrücklich zugelassen: Cic. leg. 2,60. Dazu Jörg Rüpke, Domi militiae. Die religiöse Konstruktion des Krieges in Rom. Stuttgart 1990, 203f.
50
88
Liv. 3,3,9; ebd., per. 59; Plut. Publ. 12,4.
89
Cic. rep. 2,36; Liv. 1,43,9; Plut. Cam. 2,4–5. Dieselbe Steueridee auch bei Xen. hipp. 9,5.
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tum 168 v.Chr. könnte sich sogar eine Schlechterstellung der Witwen und Waisen ergeben haben. 90 Ohnehin – und das ist ja auch ein Problem moderner Sozialpolitik – profitieren von Steuerermäßigungen nur diejenigen, die Steuern zahlen können – mithin gerade die Bedürftigsten nicht. 91 In der Kaiserzeit wurde das Problem formaljuristisch durch die Einführung des Zölibats in der Armee gelöst. 92 Unverheiratete Soldaten konnten rein rechtlich weder Witwen noch Waisen hinterlassen. Daraus erklärt sich auch die vermeintliche Inkonsequenz des römischen Staates, der nichts unternahm, um die Begründung faktischer Lebenspartnerschaften durch die Soldaten zu verhindern, die Partnerschaften nach dem Ausscheiden der Soldaten aus dem Dienst großzügig legitimierte und bis 140 n.Chr. den bereits geborenen Kindern zusammen mit dem Vater das Bürgerrecht verlieh. Da Soldaten das Privileg besaßen, ein Testament zu machen, auch wenn sie noch nicht durch den Tod des Vaters die volle eigene Rechtsfähigkeit erlangt hatten, konnten sie ihren illegitimen Nachkommen wenigstens gegebenenfalls vorhandenen Besitz überschreiben. 93 Hadrian erlaubte die Erbfolge illegitimer Soldatenkinder dann auch ohne Testament, wodurch die gravierendste Folge der illegitimen Geburt beseitigt war. 94 Offensichtlich ging es dem römischen Staat keineswegs darum, eheähnliche Lebensgemeinschaften seiner Soldaten zu verhindern, sondern ausschließlich darum, diese nicht als legitime Ehen anerkennen zu müssen. Dies ist am besten erklärbar aus dem Willen, etwaige Erbansprüche auf ausstehende Soldzahlungen oder Donative auszuschließen. 95 Das Problem der Waisenversorgung war somit ebenfalls ‚gelöst‘. 96 90 Eine Abschaffung zumindest des aes hordiarium lässt sich aber wohl aus Pol. 6,39,12–15 erschließen. 91 Vgl. die Beobachtung von Arthur Robinson Hands, Charities and Social Aid in Greece and Rome. London 1968, 73f., dass sich die meisten antiken Maßnahmen zum Schutz von Waisen tatsächlich auf den Schutz von deren Besitzansprüchen beschränkten. Für Waisen aus mittellosen Familien waren diese Maßnahmen irrelevant. 92 Cass. Dio 60,24,3; vgl. TM 9923/BGU 1,114/MChr 372,5 Z. 4–6. Zum Folgenden jetzt grundlegend Sara Elise Phang, The Marriage of Roman Soldiers (13 B. C.–A. D. 235). Law and Family in the Imperial Army. (Columbia Studies in the Classical Tradition, Vol.24.) Leiden 2001. 93 Dig. 29,1. Vgl. für einen konkreten Fall TM 9923/BGU 1,114/MChr 372,4. Da rechtlich keine Verwandtschaftsbeziehung zwischen Vater und Sohn bestand, musste dieser allerdings die fünfprozentige Erbschaftssteuer entrichten. 94 TM 20197/BGU 1,140/MChr 373. 95 Vgl. die zentrale Bedeutung finanzieller Fragen bei den analogen Ehebeschränkungen für Soldaten in den stehenden Heeren der Neuzeit: für Bayern ausführlich Joachim Wirthmann, Handbuch über die Heiraths-Cautionen und Ehen der Militär-Personen im Königreiche Bayern. Mit einem Anhange über Siegel-
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Die seit Nerva eingerichteten Alimentarstiftungen zur Versorgung bedürftiger Kinder waren weitgehend auf Italien beschränkt, wirkten also gerade nicht in den bedeutenden Rekrutierungsregionen der Kaiserzeit. 97 Davon abgesehen waren diese Programme keineswegs ausschließlich an Waisen adressiert. Insofern können sie hier außer Betracht bleiben.
IV. Spätantike und Byzanz Gerade weil es im Römischen Reich keine allgemeine staatliche Versorgung bedürftiger Waisenkinder gab, tat sich hier in den frühchristlichen Gemeinden ein Feld für karitative Tätigkeit auf. 98 Eusebius hebt in seiner Biographie Konstantins unter anderem dessen Fürsorge für Witwen und Waisen besonders hervor. 99 Dieser Topos ist der lateinischen Panegyrik an sich fremd 100, passt aber zu einem alttestamentliche Quellen aufnehmenden Herrscherideal. 101 Allen Hochkulturen des Vor mäßigkeit, Stempel, Taxen, Advokaten-Gebühren, Postporto-Bestimmungen etc. nebst Formularien. München 1859. 96
Vgl. dazu auch die knappen Bemerkungen von Peter Herz, Finances and Costs of the Roman Army, in:
Paul Erdkamp (Ed.), A Companion to the Roman Army. Malden 2007, 306–322, 317. 97
Nerva: Aur. Vict. 12,4; Trajan: Plin. pan. 26; Cass. Dio. 68,5,4. Die Münze RIC II.12 Vesp. 282 mit der Re-
verslegende TVTELA AVGVSTI könnte jedoch darauf hindeuten, dass die Einrichtung tatsächlich bereits in flavischer Zeit begann. 98
Tert. apol. 39,5–6; Constitutiones Apostolorum 4,1–2.
99
Eus. v. Const. 1,43,2; ebd.4,28,1.
100 Siehe jedoch die Anrede des Statthalters in der Petition der Witwe Aurelia Artemis um 280 n.Chr.: TM 13054/P. Sakaon 36 Z. 4–5. Hier dürfte aber der ägyptische Hintergrund der Bittstellerin eine Rolle spie-
len. Zu diesem Text vgl. Chrysi Kotsifou, A Glimpse into the World of Petitions. The Case of Aurelia Artemis and her Orphaned Children, in: Angelos Chaniotis (Ed.), Unveiling Emotions. Sources and Methods for the Study of Emotions in the Greek World. (Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien, Bd. 52.) Stuttgart 2012, 317–328. 101 Hans Kloft, Liberalitas principis. Herkunft und Bedeutung. Studien zur Prinzipatsideologie. (Kölner historische Abhandlungen, Bd. 18.) Köln/Wien 1970, 174–176. Zum alttestamentlichen Ideal des Herrschers als Beschützers der Armen: Ps 72, bes. 2–4 und 12–14; ebd.82,2–4; Jes 1,17; ebd.9,6; ebd.11,3–5 (rezipiert in 1QSb 5,21–22); ebd.32,1; Jer 21,12; ebd.22,3; ebd.23,5–6; Ez 45,9; Spr 20,8; ebd.20,26; ebd.20,28; ebd.29,4; ebd.29,14; ebd.31,4–5 und 8–9. Vgl. auch Psalmen Salomos 17,19–43, wo die gerechte Herrschaft des erwarteten davidischen Erlöserkönigs den aktuellen Zuständen entgegengesetzt wird. Dazu im Kontext der altorientalischen Königsideologie Wolfgang Röllig, Der den Schwachen vom Starken nicht entrechten läßt, der der Waise Recht schafft… Gleich und ungleich im religiösen Denken des Alten Orients, in: Günter Kehrer (Hrsg.), „Vor Gott sind alle gleich“. Soziale Gleichheit, soziale Ungleichheit und die Religionen. Düsseldorf 1983, 42–52, 42–47.
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deren Orients ist die Auffassung gemein, dass Götter wie die Könige als deren irdische Repräsentanten Fürsorge für die Schwächsten der Gesellschaft zu leisten haben – und in diesem Kontext werden häufig genug Witwen und Waisen genannt. 102 Es mag hier der Verweis auf den Epilog des Codex Ḫammurapi genügen, der als Ziel der königlichen Gesetzgebung nennt, dass der Witwe und der Waise ihr Recht verschafft werden solle. 103 Wir verfügen nicht über Nachrichten, wie die geschilderte Fürsorge des ersten christlichen Kaisers konkret aussah. Da Konstantin und Licinius jedoch 315 n.Chr. ein Gesetz erließen, das die staatliche Versorgung von Kindern anordnete, die von ihren Eltern ansonsten aus Armut hätten ausgesetzt werden müssen, sind entsprechende Regelungen für Waisen nicht undenkbar. 104 Wohl seit der Zeit Constantius’ II. existierte in Konstantinopel ein Waisenhaus, das 471 n.Chr. von Kaiser Leo I. mit denselben Steuerimmunitäten ausgestattet wurde wie die Hagia Sophia. 105 Wir wissen über das praktische Funktionieren dieser Einrichtung sehr wenig. Der Knabenchor des Waisenhauses spielte jedoch eine wichtige Rolle in der Kirchenmusik Konstantinopels. 106 Das Prestige des Hauses als Bildungseinrichtung muss so hoch gewesen sein, dass auch Waisen mit erheblichem Besitz in seine Obhut gegeben wurden. 107 Das Waisenhaus von Konstantinopel blieb zwar in dieser Form einzigartig, doch nahmen sich auch Kirchen, Klösterund Xenodochien der Waisen an. 108 102 F. Charles Fensham, Widow, Orphan, and the Poor in Ancient Near Eastern Legal and Wisdom Literature, in: JNES 21, 1962, 129–139; Weiler, Schicksal (wie Anm.54), 168–173. 103 Codex Ḫammurapi col. XLIVb Z. 59–75. Dazu vgl. Gabriele Elsen-Novák/Mirko Novák, Der „König der Gerechtigkeit“. Zur Ikonologie und Teleologie des ‚Codex‘ Ḫammurapi, in: Baghdader Mitteilungen 37, 2006, 131–155, 142–149. 104 CTh 11,27,1. 105 CJ 1,3,34–35. Dazu Timothy S.Miller, The Orphanotropheion of Constantinople, in: Emily Albu Hanawalt/Carter Lindberg (Eds.), Through the Eye of a Needle. Judeo-Christian Roots of Social Welfare. Kirksville 1994, 83–104; Timothy S.Miller, The Orphans of Byzantium. Child Welfare in the Christian Empire. Washington 2003, 49–61 und 176–246. Zu den Lokalisierungsversuchen vgl. Ken R. Dark/Anthea L. Harris, The Orphanage of Byzantine Constantinople. An Archaeological Identification, in: Byzantinoslavica 66, 2008, 189–201. 106 Die päpstliche schola cantorum entstand bezeichnenderweise als orphanothropheum, also offenbar in Nachahmung der Gegebenheiten in Konstantinopel: LP 104,24; vgl. ebd.104,1–2. 107 CJ 1,3,31; Nov. 131,15. Man sollte daher nicht von einem „poorhouse“ sprechen, wie es den Boer, Private Morality (wie Anm.32), 38, tut. 108 Allgemein zu Waisen in der Spätantike und in byzantinischer Zeit vgl. Miller, Orphans (wie Anm.105).
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All dies betrifft freilich das Problem der Kriegswaisen nur indirekt. Ausschließlich späte Quellen beleuchten die Frage, woher die Waisen im Orphanotropheion kamen. Sie berichten, Kaiser Alexios I. Komnenos habe zahlreiche Kriegsgefangene und Flüchtlinge in die Einrichtung aufgenommen. 109 Speziell die Versorgung der von gefallenen Soldaten hinterlassenen Waisen problematisiert eine Schrift aus der Zeit Justinians, die im Grunde eine Kriegswaisenrente nach dem Vorbild Athens in klassischer Zeit fordert. 110 Von konkreten Maßnahmen erfahren wir aber nur insofern, als Kaiser Alexios I. Komnenos die Söhne gefallener Soldaten habe erziehen und an den Waffen ausbilden lassen, wobei er aus den Söhnen der Offiziere eine neue Eliteeinheit formte. 111 Dies setzt wohl auch eine Sicherung des Lebensunterhalts voraus.
V. Auswertung Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Waisenkinder aufgrund hoher Mortalitätsraten einerseits, der verbreiteten Praxis der männlichen Spätheirat andererseits generell ein viel verbreiteteres Phänomen gewesen sein müssen als in modernen Gesellschaften. 112 Dies gilt jedenfalls, sofern man den antiken Waisenbegriff zugrunde legt, der im Grunde ausschließlich auf den Verlust des Vaters zielt. Ungefähr ein Drittel der Kinder dürfte ihre Volljährigkeit als Waisen in diesem Sinne erreicht haben. Noch seltener waren aufgrund der hohen Kindbettsterblichkeit Kinder mit zwei lebenden Eltern. Sie galten als von den Göttern besonders begünstigt und hatten in manchen religiösen Zeremonien eine herausgehobene Rolle. 113 Das Schicksal von Kriegswaisen wurde daher wohl schon deshalb weithin nicht als besonderes
109 Anna Komnena, 15,7,3 und 9; Theodoros Skutariotes, Synopsis chronike, 177–178 Sathas. Dazu Miller, Orphans (wie Anm.105), 2f. 110 De scientia politica dialogus, 71–72 p. 13 Mazzucchi. 111 Anna Komnena 7,7,1. 112 Dazu zusammenfassend Walter Scheidel, The Demographic Background, in: Hübner/Ratzan (Eds.), Growing up Fatherless (wie Anm.4), 31–40. Da sich aus unserem Quellenmaterial nur wenige belastbare Daten erschließen lassen, sind derartige demographische Projektionen freilich stets mit einem erheblichen Unsicherheitsfaktor belastet. 113 Paul Stengel, Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft I (1894), 1958–1959 s. v. ἀμφιθαλεῖς; Carl Koch, Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft XXXVI.3 (1949), 225–2252 s. v. patrimi et matrimi.
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Problem wahrgenommen, weil eine frühe Verwaisung auch ohne Krieg ein ständiger Teil der Lebenswelt war. Ferner ist die demographische Bedeutung von Kriegswaisen deutlich zu relativieren: In Griechenland und Rom wurde von Männern die Spätheirat praktiziert, d.h. die Eheschließung erfolgte meist erst mit ca. 30 Jahren oder noch später. Geht man ferner davon aus, dass die Hauptlast des Kriegsdienstes von absoluten Notsituationen abgesehen den 20- bis 30-Jährigen zufiel, senkte dies die Wahrscheinlichkeit, dass ein Soldat bei seinem Tod bereits (legitime) Kinder hinterließ, deutlich ab. 114 Hinzu kommt, dass die Eheschließung oft unter Verwandten erfolgte, so dass Witwen und Waisen im Notfall auf verwandtschaftliche Unterstützung rekurrieren konnten. 115 Dennoch fällt der Kontrast zwischen den für Griechenland belegten Versorgungssystemen und dem völligen Fehlen solcher Einrichtungen in Rom ins Auge, selbst wenn man das Phänomen in den größeren Zusammenhang der sozialfürsorgerischen Tätigkeit des Staates im Allgemeinen stellt. Auf den ersten Blick passt die beobachtete Diskrepanz zu der einflussreichen These Hendrik Bolkesteins, der zufolge Armenfürsorge und Wohltätigkeit im vorchristlichen Griechenland kaum, in Rom praktisch überhaupt nicht verbreitet gewesen seien; erst die christliche Spätantike habe hier durch die Aufnahme altorientalischer Traditionen einen Wandel erlebt. 116 Für die Einrichtung des Waisenhauses in Konstantinopel und anderer Einrichtungen der Armenfürsorge in der Spätantike dürfte dies eine hinreichende Erklärung sein. Für die unterschiedliche Behandlung von Kriegswaisen in Griechenland und Rom scheint mir jedoch eine komplexere Begründung notwendig zu sein. Ein erster wichtiger Unterschied zwischen Griechenland und Rom betrifft die Rekrutierung der Soldaten. In Rom gehörten die Soldaten lange Zeit zumindest der Idee nach den besitzenden Schichten an. In diesen Fällen war das Waisenkind stets auch Erbe und verfügte insofern über eine gewisse materielle Absicherung. Keineswegs führte der Tod eines Kleinbauern – ebenso wenig wie seine Abwesenheit im
114 Zu den demographischen Aspekten bezogen auf die römische Armee vgl. Walter Scheidel, Marriage, Families, and Survival in the Roman Imperial Army. Demographic Aspects, in: Erdkamp (Ed.), Companion to the Roman Army (wie Anm.96), 417–434, 419–423. 115 So im Falle des Spurius Ligustinus, der seine Cousine heiratete: Liv. 42,34,3. Dazu Evans, War (wie Anm.85), 113–114. 116 Bolkestein, Wohltätigkeit (wie Anm.32), bes. 379 zum Fehlen von Einrichtungen der Waisenversorgung in Rom.
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Krieg – notwendig zum wirtschaftlichen Ruin seines Hofes. 117 Wie in vielen vormodernen Gesellschaften dürfte die Agrarwirtschaft des römischen Italien durch eine latente Arbeitslosigkeit charakterisiert gewesen sein, d.h. der Hofbetrieb konnte auch ohne ‚abkömmliche‘ Soldaten aufrechterhalten werden. Der Tod des Vaters bedeutete dann nicht den Ausfall des Ernährers, sondern das Eintreten des Erbes. Hierin liegt ein fundamentaler Unterschied zu den modernen Industriegesellschaften. Anders verhielt es sich aber auch in Athen seit dem Beginn der Flottenrüstung. Hier mussten Besitzlose zum Militärdienst animiert werden, die ihre Familie nur durch ihre Arbeitskraft versorgen konnten. Die Regelungen in Thasos und Rhodos wurden im Kontext schwerer militärischer Krisen erlassen, in denen vermutlich ebenfalls eine Ausweitung des Rekrutierungspotentials geboten war. 118 Nicht nur war die Zahlung einer niedrigen Rente nur für die Waisen aus der Unterschicht attraktiv, auch die Überreichung der Panoplie bedeutete eine soziale Auszeichnung insbesondere für die Söhne von Theten, die zumindest theoretisch nicht als Hopliten Dienst taten. 119 Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass die inschriftliche Aufzeichnung der Gefallenenlisten, die rein bürokratisch die unabdingbare Voraussetzung für die Zahlung einer Waisenrente waren, das einzige Monument in Athen darstellte, das der Bedeutung der Theten für die athenische Großmachtstellung Ausdruck verlieh. 120 Die griechische Kriegswaisenversorgung ist somit Ausdruck eines egalitären Bürgerethos, das so in Rom nicht existierte. Vor diesem Hintergrund hätte die Einführung einer Waisenversorgung in Rom am ehesten mit der Öffnung der Rekrutierung für capite censi im 1.Jh. v.Chr. auf der Agenda gestanden. Gleichzeitig war die römische Armee jedoch Professionalisierungstendenzen unterworfen, die sie trotz theoretisch bestehender Wehrpflicht faktisch immer mehr zu einer Freiwilligenarmee machten. Der Militärdienst erschien
117 Vgl. wiederum den Fall des Spurius Ligustinus, der auf seinem Hof bereits vier volljährige Söhne und zwei minderjährige hinterließ: Liv. 42,34,4. Auch die Rekrutierung eines der Söhne hätte den Hof nicht vor unlösbare Schwierigkeiten gestellt. 118 Fournier/Hamon, Orphelins de guerre (wie Anm.72), 369–380. 119 Vgl. die Überlegungen von den Boer, Private Morality (wie Anm.32), 43, wenngleich aus der Verleihung nicht unbedingt eine nachhaltige „social mobility“ resultierte. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass die solonische Klasseneinteilung durch Inflation der Geldäquivalente im Laufe der Zeit immer mehr an Bedeutung einbüßte. Nach Aristot. Ath. pol. 47,1 konnten jedenfalls im 4.Jh. v.Chr. selbst Angehörige der höchsten Steuerklasse arm sein. 120 Barry S.Strauss, Perspectives of the Death of the Fifth-Century Athenian Seamen, in: Hans van Wees (Ed.), War and Violence in Ancient Greece. London 2000, 261–283.
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durchaus als lukrative Karriereoption für ‚überschüssige‘ Söhne, die von der väterlichen Hofstelle nicht dauerhaft ernährt werden konnten. Diese Rekruten werden aber zumeist auch noch keine eigene Familie gegründet haben. Wenn diese Soldaten nach ihrem Dienstende eine Landanweisung dringend erwarteten, dann wohl auch deshalb, weil sich damit die Option auf eine Familiengründung verband. Zugleich mit der Professionalisierung verlängerten sich zunehmend die Dienstzeiten, bis auf 20–25 Jahre in der Frühen Kaiserzeit. Das traditionelle Modell einer Eheschließung nach dem Militärdienst wurde damit immer mehr zu einer unrealistischen Option. Es erstaunt daher nicht, dass die Soldaten der Kaiserzeit bereits während ihres Dienstes mit der Familiengründung begannen. Der römische Staat erhielt jedoch den bewährten Zustand einer weitgehend aus Junggesellen bestehenden Armee formal aufrecht, indem er diese Partnerschaften nicht als rechtmäßige Ehen anerkannte. Die Umwandlung in eine Berufsarmee bedeutete freilich auch, dass die Soldaten nun einen regelmäßigen Sold erhielten. Diese Zahlungen bedeuteten zusammen mit den Versorgungszahlungen beim ehrenhaften Ausscheiden aus dem Dienst eine enorme Belastung für den römischen Staatshaushalt. 121 Ein System der Hinterbliebenenversorgung wäre bei gleichzeitiger Beibehaltung der Truppenstärke gar nicht finanzierbar gewesen. Die Absicherung möglicher Hinterbliebener war damit gewissermaßen privatisiert und dem einzelnen Soldaten überlassen, der aus seinem Sold Ersparnisse bilden konnte, die er zunächst testamentarisch, seit Hadrian auch in Intestatfolge seinen illegitimen Kindern hinterlassen konnte. Dieser Ansatz scheint insofern gut funktioniert zu haben, als die kaiserzeitliche Armee kaum Rekrutierungsschwierigkeiten gehabt zu haben scheint. Auch nach der Aufhebung des Soldatenzölibats durch Septimius Severus wurden keine Forderungen nach einer Waisenversorgung laut. 122 Viel attraktiver als die Einrichtung solcher Absicherungssysteme war offenbar die unmittelbare starke Erhöhung des Soldatensoldes unter den Severern, die allerdings den Staatshaushalt völlig ruinierte. 123
121 Augustus musste gegen großen Widerstand spezielle Steuern für römische Bürger durchsetzen, um die Abfindungszahlungen an die Legionsveteranen dauerhaft finanzieren zu können: Cass. Dio 55,24,9– 25,6 und 56,28,4–6 (mit Verwechslung der Abfindungen und der laufenden Soldzahlungen). 122 Cass. Dio 60,24,3. 123 Siehe nur die Überlegungen des Macrinus in einem Schreiben an den Senat: Cass. Dio 78,36,1–4.
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Die Erinnerung an die staatlichen Kriegswaisenrenten im Griechenland der klassischen Zeit blieb bis in die Spätantike hinein bestehen, vermittelt durch die Schriften des Aristoteles und der attischen Redner. Mehr als eine theoretische Handlungsoption erwuchs daraus jedoch nicht mehr. Das Problem der Waisenversorgung wurde nun in einer christlichen Gesellschaft nicht mehr vorrangig als ein bürgerlichpolitisches, sondern als ein allgemein karitatives verstanden. Die verwendeten Abkürzungen folgen den Verzeichnissen des Kleinen Pauly für antike Autoren sowie der Année Philologique für altertumswissenschaftliche Zeitschriften. Fragmente werden mit Ausnahme der Fragmente der griechischen Historiker (FGrHist) bzw. deren Nachfolger Brill’s New Jacoby (BNJ) unter Angabe des jeweiligen Herausgebers zitiert: Bernabé = Antonio Bernabé, Poetae epici Graeci, testimonia et fragmenta, pars I editio correctior. Stuttgart/Leipzig 1996; Page = Denys L. Page, Poetae melici Graeci. Alcmanis, Stesichori, Ibyci, Anacreontis, Simonidis, Corinnae, poetarum minorum reliquias, carmina popularia et convivialia quaeque adespota feruntur. Oxford 1962; Ruschenbusch = Eberhard Ruschenbusch, Solon: Das Gesetzeswerk – Fragmente. Übersetzung und Kommentar. (Historia – Einzelschriften, H.215.) Stuttgart 2010; Wehrli = Fritz Wehrli, Die Schule des Aristoteles. Texte und Kommentar. 10 Hefte. 2.Aufl. Basel/Stuttgart 1967–1969; West = Martin L. West, Iambi et elegi Graeci ante Alexandrum cantati. 2 Vols. Oxford 1971/72. Papyrologische Quellen werden nach Trismegistos-Nummern (http://www.trismegistos.org) sowie den Abkürzungen der Checklist of Greek, Latin, Demotic and Coptic Papyri, Ostraca and Tablets (http://library.duke.edu/rubenstein/scriptorium/papyrus/texts/clist.html) zitiert.
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Verstümmelte Knaben, vergewaltigte Mädchen Zur Konstruktion von Kreuzzugspropaganda im „Alexiosbrief“ von Alexander Berner
I. Einleitung Die Sozialgeschichte des Ersten Kreuzzugs (1096–1099) hat in den letzten Jahren einen erheblichen Aufschwung erfahren. Neben der gesellschaftlichen Zusammensetzung des gesamten Kreuzzugs, einzelner Kreuzzugsheere oder Kontingente wurden auch separate soziale Gruppen untersucht, beispielsweise der Adel, die Armen oder – besonders in jüngster Zeit – die Frauen. 1 ‚Alter‘ als eine mit ‚Geschlecht‘ verwandte, mehr oder weniger natürliche Kategorie ist hingegen für eine Untersuchung der Kreuzzüge bislang eher selten herangezogen worden. 2 Wenn man sich mit Kindern in Kreuzzugszusammenhängen auseinandersetzte, dann geschah dies
1 Allgemein Conor Kostick, The Social Structure of the First Crusade. (The Medieval Mediterranean, Vol.76.) Leiden 2008; beispielhaft für die Untersuchung eines Kreuzfahrerkontingents Alan V. Murray, The Army of Godfrey of Bouillon, 1096–1099. Structure and Dynamics of a Contingent on the First Crusade, in: RBPH 70, 1992, 301–329; die pauperes untersuchte Conor Kostick, God’s Bounty, Pauperes and the Crusades
of 1096 and 1147, in: Peter D. Clarke (Ed.), God’s Bounty? The Churches of the Natural World. Papers Read at the 2008 Summer Meeting and the 2009 Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society. (Studies in Church History, Vol.46.) Woodbridge 2010, 66–77; siehe zudem Christoph Auffahrt, „Ritter“ und „Arme“ auf dem Ersten Kreuzzug. Zum Problem Herrschaft und Religion ausgehend von Raymond von Aguilers, in: Saeculum 40, 1989, 39–55; die Frauen des Ersten Kreuzzugs untersucht unter anderem ebenfalls Conor Kostick, Women and the First Crusade. Prostitutes or Pilgrims?, in: Christine E. Meek (Ed.), Victims or Viragos? (Studies on Medieval and Early Modern Women, Vol.4.) Dublin 2005, 57–68; siehe auch die Synopse von Christoph T.Maier, The Roles of Women in the Crusade Movement. A Survey, in: JMedH 30, 2004, 61– 82; sowohl Frauen als auch „Arme“ reißt an Alexander Berner, Frauen und Arme auf Kreuzzügen zwischen Normen und sozialer Wirklichkeit, in: Konstantin Lindner/Ulrich Riegel/Andreas Hoffmann (Hrsg.), Alltagsgeschichte im Religionsunterricht. Kirchengeschichtliche Studien und religionsdidaktische Perspektiven. Stuttgart 2013, 83–98. Für einen breiteren Gender-Zugriff siehe die Aufsätze in Susan B. Edgington/Sarah Lambert (Eds.), Gendering the Crusades. Cardiff 2001. 2 Conor Kostick, Iuvenes and the First Crusade (1096–99). Knights in Search of Glory?, in: Journal of Military History 73, 2009, 369–392; ders., Social Structure (wie Anm.1), 187–212. Kostick arbeitet heraus, dass die in den historiographischen Quellen des Ersten Kreuzzugs häufig verwendeten Bezeichnungen iuvenis
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10.1515/9783110469196-003
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vornehmlich mit Blick auf den sogenannten Kinderkreuzzug, eine Bewegung des 13.Jahrhunderts, die sich nach neueren Forschungsarbeiten weder hauptsächlich aus Kindern zusammensetzte noch die Bedingungen erfüllte, die einen Kreuzzug ausmachten. 3 Der hier betrachtete Erste Kreuzzug, der am Ende des 11.Jahrhunderts als heiliger Krieg der lateinischen Christenheit zur Rückeroberung der heiligen Stätten gegen die Muslime geführt wurde, ist bislang kaum auf die unbestritten teilnehmenden Kinder hin untersucht worden, jedenfalls nicht über die Feststellung ihrer Teilnahme hinaus. 4 Susan B. Edgington bezeichnete den Forschungsbereich der Geschichte der Kindheit jüngst als „an area more neglected than women’s history so far as the crusades are concerned“. 5 Dies entspricht dem generell dürftigen Befund der Literaturlage zu dem Komplex ‚Kinder und Krieg im Mittelalter‘, wobei ich hierzu auf den Beitrag von Hans-Henning Kortüm in diesem Band verweisen möchte. Die zunächst generelle Suche nach Kindern in frühen Chroniken des Ersten Kreuzzugs zeitigt interessante Ergebnisse, die sich in verschiedene Kategorien einordnen lassen. Man stößt etwa auf die ambivalent konnotierte Nennung der in der Heimat zurückgelassenen Kinder als Beleg für die hohe emotionale Hürde, die die kreuzfahrenden Väter zu überwinden hatten, bevor sie sich dem Kreuzzug anschlossen. So berichtet in der Darstellung des provenzalischen Geistlichen Raimund von Aguilers ein Priester Ebrard von einem Gebet, das er während der Belagerung von Antiochia an die Jungfrau Maria gerichtet habe. Er habe die Jungfrau ersucht, sich der Pilger zu erbarmen, die schließlich Kinder, Frauen und weltliche Besitztümer
/ iuventus eher soziale Zuschreibungen in Bezug auf Rang, Würde und Verhalten ausdrückten als tatsächlich auf das Alter bezogene Kategorien. 3
Gary Dickson, The Children’s Crusade. Medieval History, Modern Mythistory. Basingstoke 2008; Raffael
Scheck, Did the Children’s Crusade of 1212 really Consist of Children? Problems of Writing Childhood History, in: Journal of Psychohistory 16, 1989, 176–182; Peter G. Raedts, The Children’s Crusade of 1212, in: JMedH 3, 1977, 279–323. 4 Wichtige Ausnahmen sind John B. Gillingham, Crusading Warfare, Chivalry, and the Enslavement of Women and Children, in: Gregory I. Halfond (Ed.), The Medieval Way of War. Studies in Medieval Military History in Honor of Bernard S.Bachrach. Farnham 2015, 133–152, und Sini Kangas, Growing up to Become a Crusader. The Next Generation, in: Susan B. Edgington/Luis García-Guijarro (Eds.), Jerusalem the Golden. The Origins and Impact of the First Crusade. (Outremer, Vol.3.) Turnhout 2014, 255–272, 260–263. Siehe auch Elizabeth Siberry, Fact and Fiction. Children and the Crusades, in: Diana S.Wood (Ed.), The Church and Childhood. Papers Read at the 1993 Summer Meeting and the 1994 Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society. (Studies in Church History, Vol.31.) Oxford 1994, 417–426. 5 Susan B. Edgington, Introduction. The First Crusade: Expanding the Historiography, in: Edgington/ García-Guijarro (Eds.), Jerusalem the Golden (wie Anm.4), 1–7, 7.
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hinter sich gelassen hatten, um ihrem Sohn und ihr selbst zu dienen. 6 Auch Fulcher von Chartres berichtet von dem Wehklagen der Kreuzfahrer über die vielgeliebte Frau, die Kinder, die Besitzungen, Eltern und Brüder, die sie zurücklassen mussten, sobald sie sich gen Jerusalem aufmachten. 7 Diesen Darstellungen ging es um die Betonung der Liebe zu Christus, der die Kreuzfahrer gegenüber anderen engen persönlichen Beziehungen in dem Moment den Vorzug gaben, in dem sie nach Jerusalem aufbrachen. Die eigenen, weltlichen Familienbande wurden pro Christo überwunden. Die Ambivalenz in diesen Beispielen besteht in der grundsätzlich bestehenden Möglichkeit, seinen weltlichen Bindungen gegenüber dem Kreuzzug den Vorzug zu geben. Kinder bargen das Risiko, den Ritter vom Kreuzzug abzuhalten, sei es aus emotionalen Gründen oder dynastischen Überlegungen. 8 Weil der Aufruf zum Kreuzzug aber nicht nur im Ritterstand auf positive Resonanz stieß, sondern die christlichen Gesellschaften über Standes- und Geschlechtergrenzen hinweg erfasste, verwundert es nicht, unter den Teilnehmern auch Kinder vorzufinden. So erzählen die Chroniken von den Mühen der Kreuzfahrer unterwegs, unter denen insbesondere die mitreisenden Kleinkinder zu leiden hatten. Robert der Mönch berichtet beispielsweise vom Hunger der Kreuzfahrer im gerade eroberten Antiochia, der so groß war, dass Mütter ihre Kinder nicht einmal mehr stillen konnten, weshalb die Kleinen nur noch mit geschlossenen Augen zuckten. 9
6 Le „Liber“ de Raymond d’Aguilers. Ed. John Hugh/Laurita Hill. (Documents relatifs à l’histoire des croisades, Vol.9.) Paris 1969, cap. XVIII, 117. 7 Fulcheri Carnotensis Historia Hierosolymitana (1059–1127). Mit Erläuterungen und einem Anhange. Ed. Heinrich Hagenmeyer. Heidelberg 1913, lib. I, cap. VI, 162f. 8 Auch andernorts und zu anderen Zeiten hören wir von Kindern, die allein durch ihr Dasein die Väter daran hinderten, am Kreuzzug teilzunehmen. So hat Sabine Geldsetzer den Fall der Ehefrau des südwalisischen Lords Rhys ap Gruffyd aufgearbeitet, die im Zusammenhang mit dem Dritten Kreuzzug ihren Gatten daran hindern wollte, das Kreuz zu nehmen. Gott habe ihr daraufhin einen Engel gesandt, der sie warnte, sie werde das Liebste verlieren, was sie auf Erden habe, wenn sie von ihrem Vorhaben nicht abließe. Als sie sich davon unbeeindruckt zeigte, ließ Gott es geschehen, dass sie sich in der Nacht auf ihr Kind drehte und es erstickte. Nach dieser Tragödie erklärte sie sich bereit, dem Kreuzzugswunsch ihres Ehemannes zuzustimmen. Sabine Geldsetzer, Zwischen Enthusiasmus und Ablehnung. Reaktionen von Frauen auf Kreuzzugspläne (männlicher) Verwandter, in: Andreas Gestrich/Marita Krauss (Hrsg.), Zurückbleiben. Der vernachlässigte Teil der Migrationsgeschichte. (Stuttgarter Beiträge zur historischen Migrationsforschung, Bd. 6.) Stuttgart 2006, 79–88. 9 The Historia Hierosolimitana by Robert the Monk. Ed. Damien Kempf/Marcus G. Bull. Woodbridge 2013, lib. VI, 64: „Matres filios suos fame pereuntes ad ubera suspendebant, sed pueri in mammis nil prosus inveniebant, et pre inopia lactis clausis oculis palpitabant.“
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Andererseits finden sich bisweilen humorvolle Erwähnungen von Kindern im Kreuzfahreralltag: So berichtet Guibert von Nogent, wie zahlreiche Arme ihre wenigen Habseligkeiten und ihre kleinen Kinder in zweirädrigen Wagen transportierten. Die Kinder fragten bei jeder Burg oder Stadt, die das Heer passierte, ob dies denn jenes Jerusalem sei, auf das sie hinzögen. 10 Entsprechend der Sektion ‚Erziehung und Propaganda‘ behandelt der Beitrag eine weitere Kategorie der Erwähnung von Kindern im Kreuzzugszusammenhang, nämlich die propagandistische Inszenierung von Kindern als Opfer paganer Gewalt am Beispiel des „Alexiosbriefs“. 11 In diesem aller Wahrscheinlichkeit nach gefälschten Brief des byzantinischen Kaisers Alexios I. Komnenos an Robert, Graf von Flandern, spielt muslimische Gewalt an Kindern eine prominente Rolle. Auf den folgenden Seiten sollen vor allem die verschiedenen Ebenen identifiziert und analysiert werden, die durch die Verwendung des Motivs der gequälten Kinder angesprochen werden. Zugespitzt gefragt: Welches propagandistische Potential barg das Motiv der gequälten Kinder in diesem Beispiel für Kreuzzugspropaganda um 1100?
II. Der Erste Kreuzzug – Zusammensetzung, Motive, Verlauf Da sich der Tagungsband nicht nur an ein mediävistisches Publikum richtet, sei zunächst der Verlauf des Ersten Kreuzzugs in aller gebotenen Kürze zusammengefasst 12: Auf ein vom byzantinischen Kaiser Alexios I. Komnenos an Papst Urban II.
10
Dei Gesta per Francos, in: Robert B. C. Huygens (Ed.), Dei Gesta per Francos et cinq autres textes. (Corpus
Christianorum. Continuatio mediaevalis, 127A.) Turnhout 1996, 77–352, lib. II, cap. 6, 120: „Videres mirum quam plane ioco aptissimum, pauperes videlicet quosdam, bobus biroto applicitis eisdemque in modum equorum ferratis, substantiolas cum parvulis in carruca convehere et ipsos infantulos, dum obviam habent quaelibet castella vel urbes, si haec esset Iherusalem, ad quam tenderent, rogitare.“ 11
Zu Kreuzzugspropaganda generell Nicholas L. Paul, A Warlord’s Wisdom. Literacy and Propaganda at
the Time of the First Crusade, in: Speculum 85, 2010, 534–566; Beverly M. Kienzle, Preaching the Cross. Liturgy and Crusade Propaganda, in: Medieval Sermon Studies 53, 2009, 11–32; Christoph T.Maier, Crusade Propaganda and Ideology. Model Sermons for the Preaching of the Cross. Cambridge 2000; Norman Daniel, Crusade Propaganda, in: Kenneth M. Setton (Ed.), A History of the Crusades. Vol.6: The Impact of the Crusades on Europe. London 1989, 39–97. 12
Die zahlreichen Darstellungen des Verlaufs des Ersten Kreuzzugs sind sich über den Gang der Ereig-
nisse weitgehend einig. Für Details vgl. die unlängst erschienenen Arbeiten von Jay C. Rubenstein, Armies of Heaven. The First Crusade and the Quest for Apocalypse. New York 2011, und Thomas S.Asbridge, The
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gerichtetes Ersuchen um militärische Hilfe gegen die Seldschuken hin berief der Papst eine Synode nach Clermont. Am 27.November 1095 forderte Urban dort dazu auf, den bedrängten Ostchristen zu Hilfe zu eilen, und die Resonanz war überwältigend. In vielen Ländern der lateinischen Christenheit nähten zahlreiche Menschen Kreuze auf ihre Kleidung, um ihre Teilnahme an dem Unternehmen auch symbolhaft zu dokumentieren. Danach ließen sie ihre Heimat hinter sich und machten sich auf gen Jerusalem. Wenngleich aus verschiedenen Gründen kein gekröntes Haupt unter den Kreuzfahrern zu finden war, fanden sich viele Grafen, Vizegrafen und Ritter bereit, das Kreuz zu nehmen. Sie bildeten den militärischen Kern des Unternehmens, doch reisten sie nicht allein. Der erste Kreuzzug erfasste die mittelalterlichen Gesellschaften in ihrer gesamten sozialen Stratifikation: Reiche, Arme, Adelige, Unfreie, Kleriker, Städter, Bauern, Handwerker, Kaufleute, Männer und Frauen, Alte und Kinder, ganze Familien machten sich auf nach Jerusalem, wobei die Motive ganz unterschiedlich waren. Mochten die einen von der Hoffnung auf ein besseres Leben getrieben worden sein in dem Land, „darin Milch und Honig fließt“ (2. Mose 33,3), folgten andere ihrer Abenteuerlust. Gemeinsam war der Mehrheit allerdings eine den Quellen zu entnehmende spezifische Frömmigkeit, bei der Jerusalem als Nabel der Welt und Ort des Jüngsten Gerichts, vor allem aber als real erfahrbarer Raum der Heilsgeschichte eine zentrale Rolle spielte. Die Menschen zogen nach Jerusalem, um dort zu wandeln, wo dereinst Christi Füße standen, ubi steterunt pedes eius. 13 Die verFirst Crusade. A New History. London 2004. Die Bearbeitung von Einzelaspekten ist sehr weit aufgefächert, weshalb der Forschungsstand hier nicht referiert werden kann. 13 Zu den Motiven der frühen Kreuzfahrer siehe Nikolas Jaspert, Das Heilige Grab, das Wahre Kreuz, Jerusalem und das Heilige Land. Wirkung, Wandel und Vermittler hochmittelalterlicher Attraktoren, in: Thomas Pratsch (Hrsg.), Konflikt und Bewältigung. Die Zerstörung der Grabeskirche zu Jerusalem im Jahre 1009. (Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n.Chr., Bd. 32.) Berlin 2011, 67–96; Jean Flori, Ideology and Motivations in the First Crusade, in: Helen J. Nicholson (Ed.), Palgrave Advances in the Crusades. Basingstoke 2005, 15–36; Nikolas Jaspert, „Wo seine Füße standen“ (Ubi steterunt pedes eius). Jerusalemsehnsucht und andere Motivationen mittelalterlicher Kreuzfahrer, in: Hans-Jürgen Kotzur (Hrsg.), Die Kreuzzüge. Kein Krieg ist heilig. (Katalog-Handbuch zur Ausstellung im Diözesanmuseum Mainz, 2.4.–30.7.2004). Mainz 2004, 172–185; Jean Flori, Chevalerie et guerre sainte. Les motivations des chevaliers de la première croisade, in: Danielle Buschinger (Ed.), La guerre au Moyen Âge. Réalité et fiction. Actes du colloque du Centre d’études médiévales de l’Université de Picardie-Jules Verne, Hêraklion, 17–24 mai 1999. (Médiévales, Vol.7.) Amiens 2000, 55–68; Jonathan S.Riley-Smith, The Motives of the Earliest Crusaders and the Settlement of Latin Palestine, 1093–1100, in: EHR 98, 1983, 721–736. Zur Nabel-Metapher Beat Wolf, Jerusalem und Rom: Mitte, Nabel – Zentrum, Haupt. Die Metaphern „Umbilicus mundi“ und „Caput mundi“ in den Weltbildern der Antike und des Abendlands bis in die Zeit der Ebstorfer Weltkarte. Bern 2010, 208–219.
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schiedenen regional gegliederten Kontingente – Provenzalen, Normannen, Lothringer, Franzosen, Flamen – versammelten sich bis April 1097 vor Konstantinopel. Von dort aus überquerte das vereinigte Heer den Bosporus und drang nach Zentralanatolien vor, das von den Rūm-Seldschuken beherrscht wurde. Nach der Eroberung Ikoniums und der siegreichen Schlacht von Doryläum konnten die Kreuzfahrer Kleinasien weitgehend unbehelligt passieren. Nachdem sie die kleinarmenischen Fürstentümer in Kilikien durch- und das Taurusgebirge überquert hatten, machten sie sich an die Belagerung Antiochias, der wichtigsten Siedlung in Nordsyrien. Fast ein halbes Jahr lang rannten sie vergeblich gegen die Stadtmauern an, erst am 2.Juni des Jahres 1098 gelang die Eroberung. Unmittelbar danach traf ein großes seldschukisches Entsatzheer ein, das wider alle Erwartungen besiegt werden konnte. Als auch das Umland Antiochias weitgehend erobert worden war, machte sich das Kreuzzugsheer nach Jerusalem auf. Die Heilige Stadt wurde am 15.Juli des Jahres 1099 erobert. Der einen Monat später bei Askalon erfochtene Sieg über ein fatimidisches Heer sicherte die Eroberungen, aus denen letztlich vier Kreuzfahrerherrschaften erwachsen sollten (in der Reihenfolge ihrer Entstehung die Grafschaft Edessa, das Fürstentum Antiochia, das Königreich Jerusalem und die Grafschaft Tripolis). Der Kreuzzug hatte sein Ziel erreicht. Die Mehrzahl der überlebenden Kreuzfahrer machte sich anschließend auf den Heimweg, während sich eine Minderheit in der Levante niederließ und den Kern der dortigen ‚fränkischen‘ Bevölkerung bildete.
III. Der sogenannte „Alexiosbrief“ – Kreuzzugspropaganda um 1100 Im Folgenden steht ein Brief im Zentrum der Untersuchung, den der byzantinische Kaiser Alexios I. Komnenos an Graf Robert von Flandern geschickt haben soll. 14
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Epistula Alexii I Komneni imperatoris ad Robertum I comitem Flandrensem, in: Heinrich Hagenmeyer
(Ed.), Epistulae et chartae ad historiam primi belli sacri spectantes, quae supersunt aevo aequales ac genuinae = Die Kreuzzugsbriefe aus den Jahren 1088–1100. Eine Quellensammlung zur Geschichte des ersten Kreuzzuges. Innsbruck 1901, 127–136. Zu Verbreitung, Sprache, Inhalt und Echtheit Peter Frankopan, The First Crusade. The Call from the East. London 2012, 60f.; Carol Sweetenham, Robert the Monk’s History of the First Crusade. Historia Iherosolimitana. (Crusade Texts in Translation, Vol.11.) Farnham 2005, 215– 222; Ružena Dostálová, Eine alttschechische Übersetzung des „Briefes des Alexios I. Komnenos an Robert I. von Flandern“ aus dem 16.Jahrhundert, in: Byzantinoslavica 60, 1999, 469–484; Peter Schreiner, Der Brief des
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In ihm bittet der Basileus um Hilfe für sein bedrängtes Reich, indem er reiche Belohnungen in Form von in Konstantinopel vorhandenen Reliquien in Aussicht stellt, aber auch profane Reichtümer verspricht. Zuvörderst schildert er allerdings die Leiden der von den Seldschuken unterdrückten Ostchristen in finstersten Farben. Konkret berichtet er unter anderem Folgendes: „Die Türken beschneiden christliche Knaben und Jugendliche über den Taufbecken, lassen das Blut zur Verhöhnung Christi in die Taufbecken rinnen, zwingen sie, auf jene zu urinieren, ziehen sie danach um die Kirche und nötigen sie, den Namen und den Glauben an die Heilige Trinität zu schmähen. Jenen aber, die sich weigern, erlegen sie verschiedene Strafen auf und schließlich töten sie sie. Die Edelfrauen und ihre Töchter plündern sie aus und verspotten sie, indem sie sich ihnen abwechselnd nähern, um sie zu schänden wie Tiere. Um sie schimpflich zu vergewaltigen, platzieren Andere Jungfrauen vor das Angesicht ihrer Mütter, und jene werden gezwungen, dabei ruchlose und lüsterne Lieder zu singen, bis der schauerliche Akt vollzogen ist.“ 15
Danach werden die Rollen vertauscht: Die Mütter werden vergewaltigt und die Töchter müssen singen.
Alexios I. Komnenos an den Grafen Robert von Flandern und das Problem gefälschter byzantinischer Kaiserschreiben in den westlichen Quellen, in: Giuseppe de Gregorio/Otto Kresten (Eds.), Documenti medievali greci e latini. Studi comparativi. Atti del Seminario di Erice (23–29 ott. 1995). (Incontri di studio, Vol.1.) Spoleto 1998, 111–140; Christian Gastgeber, Das Schreiben Alexios’ I. Komnenos an Robert I. von Flandern. Sprachliche Untersuchung, in: Gregorio/Kresten (Eds.), Documenti medievali greci e latini, 141–185; Peter Wirth, Regesten der Kaiserurkunden des oströmischen Reichs. Bearb. v. Franz Dölger. T.2: Regesten von 1025–1204. 2., erw. u. verb.Aufl. mit Nachträgen zu Regesten Faszikel 3. München 1995, Nr.1151; Michel de Waha, La lettre d’Alexis I Comnène à Robert I le Frison, in: Byzantion 47, 1977, 113–125; Claude Cahen, La politique orientale des comtes de Flandre et la lettre d’Alexis Comnène, in: Pierre Salmon (Ed.), Mélanges d’islamologie dédiés à la mémoire de Armand Abel par ses collègues, ses élèves, et ses amis. 3 Vols. Leiden 1974, Vol.1, 84–90; François L. Ganshof, Robert le Frison et Alexis Comnène, in: Byzantion 31, 1961, 57–74; Einar Joranson, The Problem of the Spurious Letter of Emperor Alexius to the Count of Flanders, in: AHR 55, 1949/50, 811–832. 15 Epistula Alexii I Komneni imperatoris ad Robertum I comitem Flandrensem (wie Anm.14), 131: „Nam pueros et iuuenes Christianorum circumcidunt super baptisteria Christianorum et circumcisionis sanguinem in despectum Christi fundunt in eisdem baptisteriis desuper eos mingere compellunt et deinceps in circuitu ecclesiae eos uiolenter deducunt et nomen et fidem sanctae Trinitatis blasphemare compellunt. Illos uero nolentes ea diuersis poenis adfligunt et ad ultimum eos interficiunt. Nobiles uero matronas ac earum filias depraedatas inuicem succedendo ut animaliter adulterando deludunt. Alii uero corrumpendo turpiter uirgines statuunt ante facies earum matres, compellentes eas nefarias et luxuriosas decantare cantilenas, donec compleant ipsa sua nefaria.“
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Über die Echtheit dieses Briefs ist trefflich gestritten worden. Während ihn einige Forscher für grundsätzlich gefälscht hielten, weil Stil und Inhalt einfach nicht zu einem offiziellen Schreiben eines griechischen Kaisers passten, setzten sich andere für eine gewisse Authentizität ein. Auch die Datierung der epistula ist immer noch ungeklärt. Heinrich Hagenmeyer ging beispielsweise davon aus, dass der Brief um das Jahr 1088 in Flandern als Erinnerungsschreiben entstanden ist, das auf ein authentisches griechisches Original Bezug nahm. 16 Einar Joranson hingegen sprach sich für eine Datierung um 1105/06 in Süditalien aus und ordnete den Brief dem propagandistischen Vorspiel der ein Jahr später begonnenen Kampagne Bohemunds von Antiochien gegen den byzantinischen Kaiser Alexios I. zu, die ebenfalls als Kreuzzug geführt wurde. 17 Michel de Waha befürwortete eine Entstehung um das Jahr 1095, also unmittelbar vor dem Beginn des Ersten Kreuzzugs. 18 Christian Gastgeber schließlich kam nach einer eingehenden philologischen Untersuchung zu dem überzeugenden Schluss, dass es sich um eine komplette Fälschung handelt, die wahrscheinlich nach der Fertigstellung der Kreuzzugsgeschichte Roberts von Reims verfasst worden ist, also kurz nach 1106/07. 19 Dem entgegen hat der Byzantinist Peter Frankopan kürzlich die grundsätzliche Authentizität des Briefs aufgrund inhaltlicher Überlegungen wieder in Erwägung gezogen. 20 Obwohl der Brief möglicherweise nicht unmittelbar mit dem Ersten Kreuzzug zusammenhing, stellten bereits die Zeitgenossen einen Bezug her: Guibert von Nogent inserierte Teile des Briefs wörtlich in seine Kreuzzugsgeschichte Dei Gesta per Francos. 21 Auch in mindestens 36 Handschriften der Historia Iherosolimitana des Robert von Reims, also rund einem Drittel der Gesamtüberlieferung, findet sich entweder vorangestellt oder als Appendix eine Variante des Briefs. 22 Beide Kreuzzugsgeschichten gehören in den Kontext der Werbung Bohemunds von Antiochien für seinen Zug gegen Alexios, doch scheiterte dieses Unternehmen kläglich und wurde kaum memoriert. Festzuhalten bleibt, dass sowohl für die zeitnahe Kreuzzugschro-
16
Hagenmeyer, Epistulae et Chartae (wie Anm.14), 37f.
17
Joranson, The Spurious Letter (wie Anm.14), 831f. Zu dieser Kampagne Jean Flori, Bohémond d’An-
tioche. Chevalier d’aventure. Paris 2007, 275–284. 18
66
de Waha, La lettre (wie Anm.14), 124.
19
Gastgeber, Das Schreiben Alexios’ I. (wie Anm.14), 184f.
20
Frankopan, First Crusade (wie Anm.14), 60f.
21
Dei Gesta per Francos (wie Anm.10), lib. I, 102–106.
22
Sweetenham, Robert the Monk’s History (wie Anm.14), 8.
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nistik als auch für spätere Generationen Brief und Kreuzzug unmittelbar zusammengehörten, unabhängig vom Ziel der Kombination. Die weite Verbreitung der Kombination von Chronik und Brief spricht zudem für die hohe Wirkmächtigkeit der dort dargestellten Zusammenhänge. Der ‚Wahrheitsgehalt‘ des Geschilderten ist in keinem Fall überprüfbar, wenngleich Kriegsgräueln grundsätzlich eine überzeitliche Relevanz attestiert werden muss.
IV. Die Inszenierung von Kindern als Opfer paganer Gewalt – Emotion und Gerechtigkeit Bei allen Debatten um den Grad der ‚Echtheit‘ und die Datierung des Briefes ist ein wenig außer Acht gelassen worden, was in ihm eigentlich auf welche Weise erzählt wird. Es handelt sich eindeutig um ein Propagandaschreiben, das geeignete Kandidaten zur Beteiligung an einem Kreuzzug motivieren soll. Das gesamte Narrativ konnte grundsätzlich auf dem verbreiteten Islambild der Zeit aufbauen. Nach Hannes Möhring war jenes am Vorabend der Kreuzzüge von der Ansicht bestimmt, „dass rücksichtslose Gewalt, gepaart mit äußerster Grausamkeit, den Grundzug der islamischen Religion bilde und diese somit in völligem Gegensatz zur christlichen Religion der Liebe stehe“. 23 Transportiert wurde dieses Stereotyp durch Pilgerberichte und Wundererzählungen, bis es Ende des 11.Jahrhunderts in Form des Kreuzzugs eine weit verbreitete Wirkmächtigkeit entfalten konnte. 24 Es ist also davon auszugehen, dass der zu besprechende Ausschnitt des Briefs auf fruchtbaren und bereiteten Boden fiel. Die oben zitierte Textpassage ist interessant, weil sich der Verfasser dort direkt mit Kindern befasst, deren Misshandlung durch die Türken den Empfänger dazu bewegen soll, den Ostchristen zu Hilfe zu eilen. Eine wichtige Beobachtung besteht in der Identifikation der verschiedenen Ebenen, auf denen der Verfasser die Empfänger
23 Hannes Möhring, Die Kreuzfahrer, ihre muslimischen Untertanen und die heiligen Stätten des Islam, in: Alexander Patschovsky/Harald Zimmermann (Hrsg.), Toleranz im Mittelalter. (Vorträge und Forschungen, Bd. 45.) Sigmaringen 1998, 129–157, 129. 24 Martin Völkl, Muslime – Märtyrer – Militia Christi. Identität, Feindbild und Fremderfahrung während der ersten Kreuzzüge. Stuttgart 2011, 183; Marcus G. Bull, Views of Muslims and of Jerusalem in Miracle Stories, c. 1000 – c. 1200. Reflections on the Study of First Crusaders’ Motivations, in: Marcus G. Bull/Norman J. Housley (Eds.), The Experience of Crusading. Vol.1: Western Approaches. Cambridge 2003, 13–38, 26–36.
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seiner Botschaft anspricht. Zunächst appelliert er auf der Ebene des emotionalen Affekts, denn die Opfer der Misshandlungen sind christliche Kinder. Entgegen der von Philippe Ariès und seinen Epigonen verfochtenen Behauptung, Kinder seien im Mittelalter nicht viel mehr als ‚kleine Erwachsene‘ gewesen, ist die heutige Forschung mehrheitlich der Meinung, dass das Kind in dieser Epoche ein Wesen sui generis war, dem seine Eltern nicht nur Tadel und Strafe, sondern auch Liebe und Hochschätzung zuteilwerden ließen. 25 Bereits im Frühmittelalter wurde insbesondere in den Bußbüchern eine Rechtsprechung sichtbar, die den Schutz des Kindes klar im Blick hat. 26 Dies weist möglicherweise darauf hin, dass die Schutzbedürftigkeit der Kinder auch im Hochmittelalter eine große Rolle spielte, zumal sich um diese Zeit die Verehrung Mariens als liebende Gottesmutter zu diversifizieren und zu intensivieren begann. 27 Der Gewalt wohnt also in dieser Darstellung eine besondere Qualität inne: Die Türken verüben sie nicht nur gegen Wehrlose, sondern gegen diejenigen, deren Schutz eigentlich zu den Pflichten der Erwachsenen gehören sollte. Im Gegenlicht der speziellen historischen Entwicklungen jener Zeit, die von kirchenreformerischen Gedanken und einer sittlich-religiösen Reglementierung des Rittertums im Sinne der militia christiana/Christi geprägt war, wird die primäre Zielgruppe des
25
Stellvertretend dazu Klaus Arnold, Art.„Kind, I. Westliches Europa“, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 5.
München/Zürich 1991, 1142–1145, und ders., Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance. Beiträge und Texte zur Geschichte der Kindheit. (Sammlung Zebra, Bd. B 2.) Paderborn 1980, 86. Für gründliche Überblicke zur Erforschung der Kindheit im Mittelalter sei verwiesen auf Margaret L. King, Concepts of Childhood. What We Know and Where We Might Go, in: Renaissance Quarterly 60, 2007, 371–407; Edmund Hermsen, Faktor Religion. Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Köln 2006, 30–63, und besonders Albrecht Classen, Philippe Ariès and the Consequences. History of Childhood, Family Relations, and Personal Emotions. Where Do We Stand today?, in: ders. (Ed.), Childhood in the Middle Ages and the Renaissance. The Results of a Paradigm Shift in the History of Mentality. Berlin 2005, 1–65. Hier findet sich auch eine gründliche Diskussion der Ariès-These. 26
Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, 290–294; Heinz W.
Schwarz, Der Schutz des Kindes im Recht des frühen Mittelalters. Eine Untersuchung über Tötung, Mißbrauch, Körperverletzung, Freiheitsbeeinträchtigung, Gefährdung und Eigentumsverletzung anhand von Rechtsquellen des 5. bis 9.Jahrhunderts. (Bonner historische Forschungen, Bd. 56.) Bonn 1993, 197. 27
Leo Scheffczyk, Art.„Maria, hl., A. Mariologie. II. Mariologie im lateinischen Mittelalter“, in: Lexikon des
Mittelalters. Bd. 6. München/Zürich 1993, 245–249; Heiner Grote, Art.„Maria/Marienfrömmigkeit, II.: Kirchengeschichtlich“, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 22. Berlin 1992, 119–137; Hedwig Röckelein, Zwischen Mutter und Maria. Die Rolle der Frau in Guibert de Nogents Autobiographie, in: dies./Claudia Opitz/Dieter R. Bauer u.a. (Hrsg.), Maria, Abbild oder Vorbild? Zur Sozialgeschichte mittelalterlicher Marienverehrung. Tübingen 1990, 91–109.
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Schreibens bereits erkennbar, nämlich ebenjenes Rittertum, dessen Aufgabe auch darin bestand, sich für die Wehrlosen der Gesellschaft einzusetzen, also Kleriker, Frauen und Kinder. 28 Der Rekurs auf Kinder als Opfer paganer Gewalt dient nicht nur der emotionalen Ansprache, sondern tangiert gleichzeitig die Ebene des Rechtsempfindens und der gesellschaftlichen Funktionalität einzelner sozialer Gruppen. Kinder als „archetypical non-combatants“ 29 wurden in diesem Fall nicht zufällig als Opfer von Gewalt gewählt, sondern dienten offenbar dazu, ihre ‚natürlichen‘ Verteidiger zu sensibilisieren und zu aktivieren, die im weiteren Verlauf des Briefs auch unmittelbar als Zielgruppe formuliert werden. 30 Der Zweck des Appells beschränkt sich aber nicht auf die Ansprache der vorrangigen Adressaten durch eine überlegte Auswahl der Objekte von Gewalt. Durch die Erzählung von an Kindern verübter paganer Gewalt sollen offenbar zusätzlich zwei bestimmte Emotionen inszeniert werden, nämlich Entsetzen und Entrüstung 31: Das Entsetzen scheint als primäre affektive Reaktion auf die besondere Grausamkeit der Gewalt angelegt zu sein. Die Schilderung von Gräueltaten dient dem Zweck, einerseits den Feind zu delegitimieren und zu entmenschlichen sowie andererseits Mitleid und Solidarität mit den Opfern
28 Völkl, Muslime – Märtyrer – Militia Christi (wie Anm.24), 49; Jean Flori, La préparation spirituelle de la croisade. L’arrière-plan éthique de la notion de miles Christi, in: Il concilio di Piacenza e le Crociate. Piacenza 1996, 179–192; „Militia Christi“ e Crociata nei secoli XI–XIII. Atti della undecima Settimana internazionale di studio, Mendola, 28 agosto – 1 settembre 1989. (Miscellanea del Centro di studi medievali, Vol.13; Pubblicazioni della Università Cattolica del Sacro Cuore. Scienze storiche, Vol.48.) Milano 1992; Gerd Althoff, Nunc fiant Christi milites, qui dudum extiterunt raptores. Zur Entstehung von Rittertum und Ritterethos, in: Saeculum 32, 1981, 317–333. 29 Gillingham, Crusading Warfare (wie Anm.4), 133. 30 Epistula Alexii I Komneni imperatoris ad Robertum I comitem Flandrensem (wie Anm.14), 133: „[…] rogamus, ut fideles Christi bellatores, tam maiores quam minores cum mediocibus in terra tua adquirere poteris, […] deducas.“ 31 Zur noch jungen historischen Emotionsforschung aus mediävistischer Perspektive zuletzt Barbara H.Rosenwein, Thinking Historically about Medieval Emotions, in: History Compass 8, 2010, 828–842; dies., Emotional Communities in the Early Middle Ages. Ithaca 2006; Gerd Althoff, Tränen und Freude. Was interessiert Mittelalter-Historiker an Emotionen?, in: FMSt 40, 2006, 1–11; Rüdiger Schnell, Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung, in: FMSt 38, 2004, 173–276; Mary Garrison, The Study of Emotions in Early Medieval History. Some Starting Points, in: Early Medieval Europe 10, 2001, 243–250. Zur Verbindung von Kreuzzugs- und historischer Emotionsforschung siehe Anna Aurast, Emotionen und ihre Funktionen vor dem Hintergrund des Ersten Kreuzzuges. Christliche und jüdische Texte im Vergleich, in: Przemysław Wiszewski (Ed.), Meetings with Emotions. Human Past between Anthropology and History. Historiography and Society from the 10th to the 20th Century. (Disputationes, Vol.2.) Wrocław 2008, 21–40.
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herzustellen, die ja als Christen ein maßgebliches Identitätskriterium mit den Adressaten des Briefs teilen. 32 Das Entsetzen, der Horror, ebnet den Weg für die sekundäre Reaktion der Entrüstung, da die Leser- bzw. Hörerschaft diese Gewalt als massiven sittlich-rechtlichen Verstoß im Verhalten gegenüber im besonderen Maße schutzbefohlenen Christenkindern werten soll. Da der Entrüstung nun nicht ohne weiteres die Qualität einer christlichen Tugend zugeschrieben werden kann, ist es wichtig festzuhalten, dass es sich bei der Entrüstung im zeitgenössischen Verständnis um ‚gerechten‘ Zorn handelt, der aus dem den Kindern zugefügten Unrecht erwächst. 33 Dabei ist es besonders für den Kreuzzugszusammenhang interessant, dass der ‚gerechte‘ Zorn der Menschen im Dienst an den Mitchristen – und damit an Gott selbst – sein heilsgeschichtliches Vorbild in den Makkabäern findet, die von den Chronisten des Ersten Kreuzzugs gerne als ‚Blaupause‘ der Kreuzfahrer angeführt wurden. Der bewaffnete und erfolgreiche Aufstand der jüdischen Makkabäer gegen die als Unrecht empfundene Seleukidenherrschaft, in deren Zuge Gräueltaten verübt, der jüdische Kult verboten und sogar der Tempel in Jerusalem entweiht worden war, eignete sich hervorragend, um als Präfiguration der Kreuzfahrer ausgelegt zu werden. 34 Jene Entrüstung soll schließlich zu einer Aktivierung der Hörerschaft im Sin-
32
Völkl, Muslime – Märtyrer – Militia Christi (wie Anm.24), 179; Daniel Baraz, Medieval Cruelty. Chan-
ging Perceptions, Late Antiquity to the Early Modern Period. Ithaca 2003, 76. 33
Zu Zorn als ambivalenter Emotion siehe Bele Freudenberg, Furor, zorn, irance. Interdisziplinäre Sicht-
weisen auf mittelalterliche Emotionen. Einführung, in: ders. (Hrsg.), Furor, zorn, irance. Interdisziplinäre Sichtweisen auf mittelalterliche Emotionen. (Das Mittelalter, Bd. 14/1.) Berlin 2009, 3–11, dort findet sich auch eine hilfreiche Auswahlbibliographie. 34
Luigi Russo, Maccabei e crociati. Spunti per una riflessione sull’utilizzo della tipologia biblica nelle fon-
ti della „prima crociata“, in: Edoardo D’Angelo/Jan M. Ziolkowski (Eds.), Auctor et Auctoritas in Latinis Medii Aevi litteris / Author and Authorship in Medieval Latin Literature. Proceedings of the VIth Congress of the International Medieval Latin Committee, Benevento-Naples, November 9–13, 2010. (MediEVI, Vol.4; Congresso dell’Internationales Mittellateinerkomitee, Vol.6.) Florenz 2014, 979–994; Elizabeth Lapina, The Maccabees and the Battle of Antioch, in: Gabriela Signori/Jan Assmann (Eds.), Dying for the Faith, Killing for the Faith. Old-Testament Faith-Warriors (1 and 2 Maccabees) in Historical Perspective. (Brill’s Studies in Intellectual History, Vol.206.) Leiden 2012, 147–160; Sylvain Gouguenheim, Les Maccabées, modèles des guerriers chrétiens des origines au XIIe siècle, in: Cahiers de Civilisation Médiévale 54, 2011, 3–20; Völkl, Muslime – Märtyrer – Militia Christi (wie Anm.24), 76–80; Bele Freudenberg, Darstellungsmuster und Typen von Zorn in der Historiographie. Die ,Antapodosis‘ Liudprands von Cremona, in: ders. (Hrsg.), Furor, zorn, irance (wie Anm.33), 80–97, 85–91; René Richtscheid, Die Kreuzfahrer als „novi Machabei“. Zur Verwendungsweise der Makkabäermetaphorik in chronikalischen Quellen der Rhein- und Maaslande zur Zeit der Kreuzzüge, in: Frank G. Hirschmann/Gerd Mentgen (Hrsg.), „Campana pulsante convocati“. Festschrift
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ne einer Wiederherstellung der letztlich göttlichen Ordnung und einer Sanktion der Übeltäter führen. Sie transportiert also den eigentlichen Handlungsappell. Dem emotional inszenierten, aber auch sittlich-rechtlich begründeten Appell liegt zudem die Verpflichtung zur christlichen Tugend der caritas zugrunde, derzufolge das Leiden der Mitchristen nach Kräften gelindert werden muss. Jonathan Riley-Smith subsumierte diesen Zusammenhang unter der eingängigen Schlagzeile „Crusading as an Act of Love“. 35 Die caritas selbst steht als Charakteristikum der christlichen Religion der Barbarei des Islam gegenüber. Auch berührt sie verschiedene Aspekte der augustinischen Kriegstheorie, die in erheblichem Maße auf die Kreuzzüge einwirkte. 36 Nach Augustin dient der gerechte Krieg (bellum iustum) der Wiederherstellung des Friedens und der Ordnung. Zudem ist er Reaktion auf vom Gegner begangenes Unrecht. 37 Beide Aspekte – Unfriede und ungerechte Gewalt an Hilflosen – sind in dem Briefausschnitt klar zu erkennen.
anläßlich der Emeritierung von Prof. Dr. Alfred Haverkamp. Trier 2005, 473–486; Klaus Schreiner, Märtyrer, Schlachtenhelfer, Friedenstifter. Krieg und Frieden im Spiegel mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Heiligenverehrung. (Otto-von-Freising-Vorlesungen der Katholischen Universität Eichstätt, Bd. 18.) Opladen 2000, 1–54; Christoph Auffarth, Die Makkabäer als Modell für die Kreuzfahrer. Usurpationen und Brüche in der Tradition eines jüdischen Heiligenideals, in: Christoph Elsas (Hrsg.), Tradition und Translation. Zum Problem der interkulturellen Übersetzbarkeit religiöser Phänomene. Festschrift für Carsten Colpe zum 65. Geburtstag. Berlin 1994, 362–390; Hagen Keller, Machabaeorum pugnae. Zum Stellenwert eines biblischen Vorbilds in Widukinds Deutung der ottonischen Königsherrschaft, in: ders. (Hrsg.), Iconologia sacra. Mythos, Bildkunst und Dichtung in der Religions- und Sozialgeschichte Alteuropas. Festschrift für Karl Hauck zum 75. Geburtstag. (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung, Bd. 23.) Berlin 1994, 417–437. 35 Jonathan S.Riley-Smith, Crusading as an Act of Love, in: History. The Journal of the Historical Association 65, 1980, H.214, 177–192. 36 Arnold Angenendt, Die Kreuzzüge. Aufruf zum „gerechten“ oder zum „heiligen“ Krieg?, in: Andreas Holzem (Hrsg.), Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorie in der Kriegserfahrung des Westens. (Krieg in der Geschichte, Bd. 50.) Paderborn 2009, 341–367; Brian V. Johnstone, Holy War, Crusade and Just War, in: Studia moralia 45, 2007, 113–133; Christoph A. Stumpf, Vom heiligen Krieg zum gerechten Krieg. Ein Beitrag zur alttestamentlichen und augustinischen Tradition des kanonistischen Kriegsvölkerrechts bei Gratian, in: ZRG KA 87, 2001, 1–30. 37 Questionum in Heptateuchum libri VII, in: Johannes Fraipont/Donatien de Bruyne (Eds.), Quaestionum in Heptateuchum libri VII. Locutionum in Heptateuchum libri VII. De octo quaestionibus ex veteri testamento. (Corpus Christianorum Series Latina, Vol.33.) Turnhout 1958, 1–377, lib. 6, 10.
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V. Die Inszenierung von Kindern als Opfer paganer Gewalt – Reinheit und Ritual Ein genauerer Blick auf die geschilderte Gewalt der Türken eröffnet weitere Einsichten in die Konstruktion dieser Kreuzzugspropaganda. Was wir in diesen wenigen Zeilen mitgeteilt bekommen, verweist auf erzwungene Blasphemie und Apostasie sowie die Profanierung bzw. Besudelung von Kirchen und Menschen, die sich als Kinder in einem besonderen Zustand der Reinheit befinden. Ohnehin schwebt über allem ein christlicher Reinheitsdiskurs. 38 Spätestens seit Isidor von Sevilla war den mittelalterlichen Gelehrten bekannt, dass sich das Wort puer (Knabe) von purus, ‚rein‘ ableitet. Die noch nicht 15-Jährigen würden pueri genannt, weil sie puri seien. Ihre körperliche Entwicklung gestatte ihnen keine sexuellen Aktivitäten, was ihre Reinheit ausmache. 39 Daher wurden sie auch vielfach für besonders geeignet befunden, gottesdienstliche Handlungen durchzuführen. 40 Die in diesem Sinne reinen Knaben werden von den Türken gefoltert, zu schändlichen Dingen gezwungen und schließlich ermordet, falls sie sich weigern, den An38
Dazu jüngst Nikolas Jaspert, An Introduction to Discourses of Purity in Transcultural Perspective, in:
Matthias Bley/Nikolas Jaspert/Stefan Kock (Eds.), Discourses of Purity in Transcultural Perspective (300– 1600). (Dynamics in the History of Religions, Vol.7.) Leiden 2015, 1–20; Hans-Werner Goetz, Discourses on Purity in Western Christianity in the Early and High Middle Ages, in: Bley/Jaspert/Kock (Eds.), Discourses of Purity, 116–149; Arnold Angenendt, Pollutio. Die „kultische Reinheit“ in Religion und Liturgie, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 52, 2010, 52–93; Gert Hartmann, Art.„Reinheit V. In Kirche und christlicher Kultur“, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 28. Berlin 1997, 493–497. Einen etwas eigenen Gebrauch von ‚Reinheit‘ macht Steven A. Epstein, Purity Lost. Transgressing Boundaries in the Eastern Mediterranean, 1000–1400. (Johns Hopkins University Studies in Historical and Political Science, Vol.124/3.) Baltimore 2007, dazu die Rezension von David Jacoby in: AHR 113, 2008, 1212–1213. Speziell zu Reinheitsdiskursen in Kreuzzugszusammenhängen Christopher MacEvitt, Sons of Damnation. Franciscans, Muslims, and Christian Purity, in: Bley/Jaspert/Kock (Eds.), Discourses of Purity, 299–319; Penny J. Cole, „O God, the Heathen Have Come into your Inheritance“ (Ps. 78.1). The Theme of Religious Pollution in Crusade Documents, 1095–1188, in: Maya Shatzmiller (Ed.), Crusaders and Muslims in Twelfth-Century Syria. (The Medieval Mediterranean, Vol.1.) Leiden 1993, 84–111; James A. Brundage, Prostitution, Miscegenation and Sexual Purity in the First Crusade, in: Peter W. Edbury (Ed.), Crusade and Settlement. Papers Read at the First Conference of the Society for the Study of the Crusades and the Latin East and Presented to R. C. Smail. Cardiff 1985, 57–65. Die historische Reinheitsforschung wurde maßgeblich angestoßen von Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of the Concepts of Pollution and Taboo. London 1966. 39
Isidori Hispalensis episcopi etymologiarum sive originum libri XX. Ed. Wallace Martin Lindsay. Oxford
1911, lib XI, II, 9: „Puer a puritate vocatus, quia purus est, et necdum lanuginem floremque genarum habens.“ 40
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Angenendt, Geschichte der Religiosität (wie Anm.26), 292f.
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weisungen ihrer Zwingherren Folge zu leisten. Zu den Gräueln, die ihnen angetan werden, gehört mit der Zwangsbeschneidung ein schmerzhafter und blutiger Akt. Die Gewalt beschränkt sich aber nicht auf die körperliche Ebene, sondern sie berührt auch die Ebene der religiösen Identität. Die körperliche Beschneidung stellt die Zugehörigkeit zur christlichen Kultgemeinschaft infrage, war sie doch den Juden und Heiden eigen, während den Christen nach Paulus eine ‚Beschneidung‘ im Lebenswandel genüge. 41 Werden die Knaben auf diese Weise irreversibel aus der reinen christlichen Kultgemeinschaft herausgerissen und körperlich den Juden und Heiden gleichgemacht, zwingen die Türken sie nun zusätzlich, ein zentrales Element des heiligen Kirchengebäudes zu profanieren, nämlich den Taufstein. Das geschieht durch eine Benetzung mit der unreinen Körperflüssigkeit Urin, die die Kinder über den Taufstein gießen sollen. 42 Zusätzlich wird so die Verunreinigung des im Taufbecken befindlichen Taufwassers angedeutet, wodurch die Taufe zukünftiger Christen unmöglich gemacht wird. 43 Auch der dargestellte Zusammenhang von Beschneidung und Schändung des Baptisteriums scheint wohlüberlegt, bestand doch in der Theologie jener Zeit die Vorstellung von der Ablösung der Beschneidung durch den Taufritus, parallel zur Ablösung des Alten Bundes durch den Neuen Bund. 44 Die Verunreinigung des Taufsteins und -wassers gewinnt weitere Brisanz, wenn man bedenkt, dass es sich bei der 41 Röm 2,25–29, Kol 2,11. 42 Zur Verunreinigung des Kirchenraumes oder seiner Elemente Miriam Czock, Gottes Haus. Untersuchungen zur Kirche als heiligem Raum von der Spätantike bis ins Frühmittelalter. (Millennium-Studien, Bd. 38.) Berlin 2012, 174–244; Béatrice Chevallier-Caseau, Polemein Lithois. La désacralisation des espaces et des objets religieux païens durant l’Antiquité tardive, in: Michel Kaplan (Ed.), Le sacré et son inscription dans l’espace à Byzance et en Occident. Études comparées. (Publications de la Sorbonne, Série Byzantina Sorbonensia, Vol.18.) Paris 2001, 61–123; Dyan Elliott, Fallen Bodies. Pollution, Sexuality, and Demonology in the Middle Ages. Philadelphia 1999, 61–80; Zur pollutio generell Hubertus Lutterbach, Das Mittelalter – ein „Pollutio-Ridden System“? Zur Prägekraft des kultischen (Un-)Reinheitsparadigmas, in: Peter Burschel/ Christoph Marx (Hrsg.), Reinheit. (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie e.V., Bd. 12.) Wien 2011, 157–176. 43 Zur Bedeutung des Taufsteins z.B. Hugonis de Sancto Victore De sacramentis Christiane fidei. Ed. Rainer Berndt. (Corpus Victorinum. Textus historici, Vol.1.) Münster 2008, lib. II, cap. 5, 1. In der mittelalterlichen Taufpraxis wurde das Taufwasser gesegnet und als fons vivus, aqua regenerans, unda purificans, ut omnes hoc lavacro salutifero diluendi bezeichnet. Der Täufling gilt als creatura aquae. CVII. Ordo ad baptizantum infantium, in: Cyrille Vogel/Reinhard Elze (Eds.), Le Pontifical romano-germanique du 10e siècle. Pontificale Romano-Germanicum saeculi decimi. Vol.2. (Studi e testi, Vol.227.) Città del Vaticano 1963, 155–164, 161f. Die Segnung des Wassers ebd.163. 44 De sacramentis Christiane fidei (wie Anm.43), lib. II, cap. 6, 3.
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Taufe nicht nur um einen Initiations-, sondern auch um einen Reinigungsritus handelt. 45 Hugo von St. Viktor z.B. legte Wert darauf, dass in der Taufe die Sünden realiter abgewaschen werden. 46 Diese Beobachtung erhält Gewicht, wenn man die erzwungene Schmähung der Trinität hinzuzieht, denn das Bekenntnis des Glaubens an den dreieinigen Gott galt (und gilt) als zentraler Bestandteil des Taufaktes, und zwar an prominenten Stellen: Gleich auf die zu Beginn des Taufrituals vorgenommene Absage an den Satan folgte das Bekenntnis der Täuflinge zu Gottvater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. 47 Die eigentliche Taufe vollzog der Priester in nomine patris et filii et spiritus sanctis. 48 Die Beschneidung über dem Taufstein und das Hineingießen des Blutes weckt zudem Assoziationen mit alttestamentlichen Opferriten und zeigt an, dass die körperlichen Torturen der jungen Christen ihres Glaubens wegen durchgeführt werden, denn das Leben als Christ beginnt faktisch mit der Taufe, die auch als Wiedergeburt (im Sinne des erneut Geboren-werdens) bezeichnet wird. 49 Damit werden die Knaben in die Nähe der Märtyrer gerückt, deren Martyrium im Mittelalter wie auch heute gerne als Bluttaufe bezeichnet wurde bzw. wird. 50 Die eigentlichen Märtyrer der 45
Zur augustinischen Tauftheologie, die das Mittelalter sehr geprägt hat, siehe J. Patout Burns, The Effi-
cacy of Baptism in Augustine’s Theology, in: Christer Hellholm/David Hellholm/Øyvind Norderval u.a. (Eds.), Ablution, Initiation, and Baptism / Waschungen, Initiation und Taufe. Late Antiquity, Early Judaism, and Early Christianity / Spätantike, frühes Judentum und frühes Christentum. Vol.2. (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, Vol.176.) Berlin 2011, 1283–1304; einen Überblick liefern Bryan D. Spinks, Early and Medieval Rituals and Theologies of Baptism. From the New Testament to the Council of Trent. Aldershot 2006, 109–156; Martin Wallraff, Art.„Taufe. III. Kirchengeschichtlich. 1. Antike und Mittelalter“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 8. Tübingen 2005, 59–63; Jörg Ulrich, Art.„Taufe, IV. Mittelalter“, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 32. Berlin 2001, 967–701; Leo Scheffczyk, Art.„Taufe, I. Christl. u. heterodoxe Lehre“, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8. München/Zürich 1997, 495–498; Stefan K. Langenbahn, Art.„Taufe, II. Taufritus“, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8. München/Zürich 1997, 498–501; Arnold Angenendt, Der Taufritus im frühen Mittelalter, in: Segni e riti nella chiesa altomedievale occidentale. (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo, Vol.33.) Spoleto 1986, 275–321. 46
De sacramentis Christiane fidei (wie Anm.43), lib. II, cap. 6, 2: „Sic ergo quaeritur quid sit baptismus,
dicimus quod baptismus est aqua diluendis criminibus sanctificata per verbum Dei.“ 47
Ordo ad baptizantum infantium (wie Anm.43), 155.
48
Ebd.163.
49
Ebd.163.
50
De sacramentis Christiane fidei (wie Anm.43), lib. II, cap. 6, 7: „Ergo in sanguine baptizatur qui pro
christo moritur […].“ Zu diesen Zusammenhängen bei Raimund von Aguilers siehe Kristin Skottki, Vom „Schrecken Gottes“ zur Bluttaufe. Gewalt und Visionen auf dem Ersten Kreuzzug nach dem Zeugnis des Raimund d’Aguilers, in: Peter Burschel/Christoph Marx (Hrsg.), Gewalterfahrung und Prophetie. (Veröf-
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Erzählung sind zwar diejenigen Knaben, die infolge ihrer Weigerung, die Trinität zu leugnen, umgebracht werden, doch stehen sie nicht im Zentrum der Darstellung: ihre Seelen sind gerettet, während die anderen Knaben an Leib und Seele verloren sind (s.u.), was das größere Übel darstellt. Überdies entsprechen sich im Taufritual wie in der ritualisierten Gewalt der Türken die Objekte: Es sind Kinder, die durch die Taufe entweder das ewige Leben erlangen oder, getrieben durch die Misshandlungen der Türken, der ewigen Verdammnis anheimfallen. Das Handeln der Türken verdreht also zentrale Elemente der Taufe auf ritueller und funktionaler Ebene in ihr Gegenteil, erzählt wird eine erzwungene, quasirituelle ‚Un-Taufe‘. 51 Die besondere Schwere dieses zwangsweisen Austritts aus der christlichen Heilsgemeinschaft legt der Verfasser des Briefs selbst dar, indem er darauf verweist, dass selbst Rahel, die den Tod ihrer Kinder beweinte 52, in dem Gedanken Trost fand, dass die Seelen ihre Kinder gerettet seien. Die Opfer der Türken hingegen seien an Körper und Seele verloren 53, denn in der Auffassung der Zeit war die Vergebung der Erbsünde durch den Tod Christi nur dann gültig, wenn eine Taufe im Glauben an den (sündenvergebenden) Tod Christi stattgefunden 54 und, so möchte man hinzufügen, Bestand hatte. Auf sich hier in der Konsequenz anschließende theologische Streitfra-
fentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie e. V., Bd. 13.) Wien 2013, 445–492. Allgemein Herbert E. Cowdrey, Martyrdom and the First Crusade, in: Edbury (Ed.), Crusade and Settlement (wie Anm.38), 46–56. 51 Ein interessantes weiteres Beispiel einer ‚umgekehrten Taufe‘ im Kreuzzugszusammenhang findet sich – unter völlig anderen Vorzeichen – in den hebräischen Kreuzzugsberichten Solomo bar Simsons und Elieser ben Nathans, die von dem Freitod des zwangsgetauften Isaak haLevi im Rhein berichten. Nach seiner quasi-kultischen Reinigung durch das fließende Gewässer teilt er seine letzte Ruhestätte mit einem Juden, der im Zuge der Pogrome getötet worden war. Auf diese Weise zeigen die Verfasser die Gleichwertigkeit beider Verstorbener, Märtyrer und bußfertiger Sünder, vor Gott an. Eva Haverkamp (Hrsg.), Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzuges. (Monumenta Germaniae Historica. Hebräische Texte aus dem mittelalterlichen Deutschland, Bd. 1.) Hannover 2005, 408–411. 52 Jer 31,15. 53 Epistula Alexii I Komneni imperatoris ad Robertum I comitem Flandrensem (wie Anm.14), 132: „Sed licet matres innocentium, quae per Rachel figurantur, non ualuerit consolari pro morte filiorum, ualuerunt tamen consolari pro salute animarum, iste tamen nullatenus, quod peius est, consolari ualent, quia et in corporibus et animabus pereunt.“ 54 So expressis verbis Honorius Augustodunensis. Elucidarium, in: Yves Lefèvre (Ed.), L’Elucidarium et les Lucidaires: Contribution, par l’histoire d’un texte, à l’histoire des croyances religieuses en France au moyen âge. (Bibliothèque des Ecoles Françaises d’Athènes et de Rome, Vol.180.) Paris 1954, 359–477, lib. II, cap. 67: „D.: Si in morte Christi peccata sunt remissa, cur baptizamur? M.: Peccata per mortem Christi relaxantur, si in fide mortis Christi baptizamur.“
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gen wie jene nach der ewigen Gültigkeit der Taufe zielt der Verfasser des Briefes nicht ab. Ihm geht es um die auch und gerade für Laien nachvollziehbare Darstellung des denkbar Schlimmsten, nämlich des Ausschlusses aus der Heilsgemeinschaft und den damit einhergehenden Verlust des Seelenheils. Der Rekurs auf die Taufe als von den Türken pervertiertes Ritual gewährleistet dabei ein hohes Maß an Nachvollziehbarkeit auf Seiten der Hörerschaft, denn die Taufe war als in der Gemeinde regelmäßiges gespendetes, jeden Christen betreffendes Sakrament zumindest auf der Ritualebene wohlvertraut. Die Beschränkung auf wesentliche Elemente mag aber auch die Entwicklung der liturgischen Praxis jener Zeit widerspiegeln, denn im Verlauf des 12.Jahrhunderts verschwand die ‚nationale‘ Prägung des Taufrituals und wurde zunehmend durch hybride Formen des Pontificale Romano-Germanicum ersetzt, die lokal deutlich variierten. 55 Die Erzählung von der Grausamkeit der Türken differenziert außerdem nach Geschlecht: Während die Knaben eine lästerliche, blutige ‚Taufe‘ erfahren, werden die Mädchen Opfer von ritualisierten Vergewaltigungen. Gastgeber hat sicher Recht, wenn er diese Stelle als „topische Einlage (vor realem Hintergrund?) zum Standard bei der Beschreibung von Kriegsverbrechen“ 56 wertet. Dennoch beschränkt sich die Bedeutung der Vergewaltigungen nicht auf den körperlichen Akt. Auffällig ist, dass beide Rituale stark genital geprägt sind, was der Zeichnung des muslimischen Gegners als sexuell enthemmt entspricht. 57 Die jungfräulichen Mädchen erfahren in dem Akt der Vergewaltigung eine in ihrer Unumkehrbarkeit der Beschneidung ähnliche, permanente Veränderung ihres Körpers; zudem geht mit der Notzucht eine massive sexuelle Verunreinigung (pollutio/immunditia) einher. 58 Diese führt zum endgültigen Verlust eines mit der Virginität verbundenen, geschlechtsunspezifischen und quasimonastischen Charismas. 59 Jungfräulichkeit als Zeichen sexueller
55
Spinks, Early and Medieval Rituals (wie Anm.45), 134.
56
Gastgeber, Das Schreiben Alexios’ I. (wie Anm.14), 161.
57
Dazu grundsätzlich Sabine Geldsetzer, Frauen auf Kreuzzügen. Darmstadt 2003, 88f.; Brundage, Prosti-
tution (wie Anm.38), 60f. 58
Zur sexuellen Befleckung Hubertus Lutterbach, Sexualität im Mittelalter. Eine Kulturstudie anhand
von Bußbüchern des 6. bis 12.Jahrhunderts. (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 43.) Köln 1999, 70–76. Zur Vergewaltigung bzw. Notzucht aus rechtshistorischer Sicht Stefan C. Saar, Art.„Notzucht“, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 6. München/Zürich 1993, 1298–1299; Ekkehard Kaufmann, Art.„Notzucht“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3. Berlin 1984, 1101f. 59
Lutterbach, Sexualität im Mittelalter (wie Anm.58), 106–108; Ludwig Hödl, Art.„Jungfräulichkeit“, in:
Lexikon des Mittelalters. Bd. 5. München/Zürich 1991, 809f.
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Enthaltsamkeit war im Frühmittelalter zudem eine Eigenschaft der Heiligen gewesen, deren Körper gerade wegen ihrer Unberührtheit auch über ihren Tod hinaus – mirabile dictu – intakt blieben. 60 Obwohl Jungfräulichkeit im Hochmittelalter keine conditio sine qua non für die Verehrung einer Heiligen war (das prominenteste Beispiel ist hier sicher Elisabeth von Thüringen), wurde durch die corruptio ihrer Virginität den jungen Mädchen die Möglichkeit genommen, an der Gemeinschaft dieser unversehrten Heiligen teilzuhaben. Die Mädchen, die als Jungfrauen sponsae, also Bräute Christi waren, sind nach der Schändung durch die Türken dieses privilegierten Standes beraubt. 61 Die Schilderung der paganen Vergewaltigungen von Jungfrauen vermittelt also einen symbolischen Gehalt, der demjenigen der Knabenfolter ähnlich ist. 62 Zusätzlich spielen biblische Motive in diesem kleinen Briefausschnitt eine wesentliche Rolle: Die absurd wirkende Erwähnung von zotigen Liedern, die während der Vergewaltigungen gesungen werden müssen, sind ein Verweis auf Psalm 137,3: „Denn dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserm Heulen fröhlich sein: ‚Singet uns ein Lied von Zion!‘“ Dieser Psalm schildert die Situation der Juden in der babylonischen Gefangenschaft, in der sie gezwungen wurden, fröhliche Lieder zu singen, obwohl ihnen mit Jerusalem das Wichtigste, nämlich ihr Kultzentrum, genommen worden war. Das generelle Motiv der getöteten Kinder speist sich aus Jeremia 31,15, wo Rahel um ihre Kinder weint: „So spricht der HERR: Man hört eine klägliche Stimme und bitteres Weinen auf der Höhe; Rahel weint um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen, denn es ist aus mit ihnen.“ 63 Diese alttestamentliche Szene hat ihre neutestamentliche Entsprechung im Kindermord von Bethlehem, der bei Matthäus mit Verweis auf Jeremia überliefert ist. 64 Auf diese Weise wird die Schilderung der Gräuel an den christlichen Kindern geschickt mit
60 Arnold Angenendt, Corpus incorruptum. Eine Leitidee der mittelalterlichen Reliquienverehrung, in: Saeculum 42, 1991, 320–346, 336f. 61 Lutterbach, Sexualität im Mittelalter (wie Anm.58), 111–114. 62 Die Betonung quasimonastischer Reinheit der Gewaltopfer bzw. deren Besudelung mag im Übrigen auch als Argument für Gastgebers philologisch begründete These dienen, in dem Verfasser einen Mönch aus dem Umfeld des Benediktiners Robert von Reims – oder gar ihn selbst – zu vermuten. Vgl. Gastgeber, Das Schreiben Alexios’ I. (wie Anm.14), 176–185. 63 Zu diesem Psalm generell Christine Ritter, Rachels Klage im antiken Judentum und frühen Christentum. Eine auslegungsgeschichtliche Studie. (Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums, Bd. 52.) Leiden 2003. 64 Mt 2,16–18.
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Teilen der Heilsgeschichte verknüpft, die den Rezipienten des Briefs wohl vertraut gewesen sein dürften. 65
VI. Resümee Als propagandistisches Mittel zur Beförderung eines Kreuzzugs zielte der sogenannte „Alexiosbrief“ darauf ab, möglichst wirkungsvoll insbesondere die Kriegerelite der lateinischen christianitas zur Teilnahme zu bewegen. Die in der Quelle an prominenter Stelle verwendete Inszenierung der von den Heiden gepeinigten Kinder birgt hohes propagandistisches Potential, spricht sie doch ihre Adressaten auf verschiedenen Ebenen an: Zunächst und unmittelbar tangiert sie emotionale Affekte, denn die Kinder erscheinen als wehrlose Opfer maßloser Gewalt. Dieses Leiden der Wehrlosen mündet in den Bereich des Rechtsempfindens, weil es nicht nur als grausam, sondern auch als unrecht empfunden werden soll. Über die Emotionen Entsetzen und Entrüstung – hier der gerechte Zorn über ungerechte Gewalt – erfolgt ein erster zielgerichteter Handlungsappell an die lateinische Ritterschaft, die als Protektorin der Nichtkombattanten im militärischen Eingreifen ihrer ‚natürlichen‘ sozialen Funktion nachkommen kann. Neben Anklängen an die augustinische Kriegstheorie des bellum iustum begleitet das Motiv der caritas, ein früher Leitgedanke der Kreuzzugslegitimation, den Appell. Zudem differenziert die Erzählung nach Geschlecht: Die in einem besonderen Zustand der körperlichen und kultischen Reinheit befindlichen Knaben werden durch die Zwangsbeschneidung symbolisch aus der christlichen Kult- und Heilsgemeinschaft herausgerissen und gezwungen, Gott zu lästern sowie zentrale Elemente des Kirchengebäudes zu profanieren. Dabei wird der für das Christentum so zentrale Taufritus erzählerisch umgekehrt, die Knaben werden Opfer einer Art ‚Untaufe‘. Die jungfräulichen Mädchen werden durch erzwungenen Geschlechtsverkehr ebenfalls irreversibel ihrer Virginität und damit ihrer Reinheit beraubt. Der „Alexiosbrief“ bedient also die emotionale Ebene, die 65
Zur Verbreitung der Verehrung der Unschuldigen Kinder Patricia H.Wasyliw, Martyrdom, Murder,
and Magic. Child Saints and their Cults in Medieval Europe. (Studies in Church History, Vol.2.) New York 2008, 29–38; Zu ihrem Platz in der Liturgie Paul A. Hayward, Suffering and Innocence in Latin Sermons for the Feast of the Holy Innocents, c. 400–800 A.D., in: Studies in Church History 31, 1994, 67–80; Martin R. Dudley, Natalis Innocentium. The Holy Innocents in Liturgy and Drama, in: Studies in Church History 31, 1994, 233–242.
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Ebene des Rechtsempfindens, der Frömmigkeit und der christlichen Ritualpraxis, ohne sich dabei in zu komplexen Zusammenhängen zu verlieren, wodurch seine Zugänglichkeit für breitere Empfängerkreise gewährleistet wird. Als Quelle erlaubt er einen vertieften Blick in die Konstruktion von früher Kreuzzugspropaganda, insbesondere in die Inszenierung von Kindern als Opfer paganer Gewalt in diesem Zusammenhang. Dabei kommt es in keiner Weise darauf an, ob das Erzählte der Wahrheit entspricht; wichtig ist, dass die Inhalte des Berichts für die Zeitgenossen vorstellbar sind, womit sie die Vorstellungswelten des Propagandisten und der Propaganda-Zielgruppe spiegeln – insbesondere die Wahrnehmung der Muslime als sexuell enthemmte Unmenschen bildet sich in der Erzählung ab. Diese Vorstellungswelten waren maßgeblich geprägt durch die Heilsgeschichte und ein festgefügtes Islambild, das die geschilderten Grausamkeiten der Muslime absolut plausibel erscheinen ließ.
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Erziehung, Bildung und Ausbildung von Soldatenkindern im 18.Jahrhundert von Stefan Kroll
I. Einleitung Wie in der gesamten Epoche der Frühen Neuzeit gab es auch im 18.Jahrhundert in ganz Europa zahlreiche Kriege, von denen Kinder und Jugendliche in vielfältiger Weise betroffen waren. Während jedoch der Alltag der Soldaten und vor allem auch ihre Kriegserfahrungen in den letzten Jahrzehnten zunehmend besser erforscht worden sind 1, ist der Kenntnisstand zu und das Interesse an ‚Kriegskindern‘ weiterhin eher rudimentär 2. Am ehesten hat sich die Forschung noch mit dem Leben im Tross und der besonders schwierigen Situation der zahlreichen unehelichen Soldatenkinder beschäftigt. 3 Ein wesentlicher Grund für diese unbefriedigende Situation ist der Mangel an aussagefähigen Quellen. So sind insbesondere kaum Selbstzeug-
1 Vgl. dazu nur die zahlreichen Publikationen des Sonderforschungsbereichs „Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“: Alkmar von Alvesleben, Gesamtbibliographie SFB 437, in: Georg Schild/Anton Schindling (Hrsg.), Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue Horizonte der Forschung. (Krieg in der Geschichte, Bd. 55.) Paderborn 2009, 303–342, oder aber die vielfältigen Veröffentlichungen des Arbeitskreises „Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit“: www.amg-fnz.de/ literatur (24.2.2016). 2 Bezeichnend dafür ist etwa die inhaltliche Zusammenstellung eines thematisch einschlägigen aktuellen Sammelbandes, bei dem sich unter 29 Beiträgen ein einziger im Titel auf die Kriegsperspektive von Kindern und Jugendlichen bezieht: Sebastian Schmideler, Krieg und Frieden in der geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur des 18.Jahrhunderts, in: Stefanie Stockhorst (Hrsg.), Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien. Hannover 2015, 565–581. 3 Markus Meumann, Soldatenfamilien und uneheliche Kinder. Ein soziales Problem im Gefolge der stehenden Heere, in: Bernhard R. Kroener/Ralf Pröve (Hrsg.), Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Paderborn 1996, 219–236; Peter-Michael Hahn, Kriegserfahrungen von Kindern und Jugendlichen im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, in: Dittmar Dahlmann (Hrsg.), Kinder und Jugendliche in Krieg und Revolution. Vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den Kindersoldaten Afrikas. (Krieg in der Geschichte, Bd. 7.) Paderborn 2000, 1–15; Erich Pelzer, Frauen, Kinder und Krieg in revolutionären Umbruchzeiten (1792–1815), in: Dahlmann (Hrsg.), Kinder und Jugendliche in Krieg und Revolution, 17–41; Beate Engelen, Soldatenfrauen in Preußen. Eine Strukturanalyse der Garnisonsgesellschaft im späten 17. und im 18.Jahrhundert. (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, Bd. 7.) Münster 2005.
DOI
10.1515/9783110469196-004
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nisse von Kindern überliefert. Etwas günstiger ist die Quellen- und Forschungslage für die Erziehung, Bildung und Ausbildung von Soldatenkindern, die im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen. Im 18.Jahrhundert lebten Kinder von einfachen Soldaten zum Großteil in Familien, deren materielle Grundlage prekär war, denn in den Regimentern der stehenden Heere dienten vor allem Angehörige der Unterschichten. Dementsprechend mussten viele der Kinder durch Lohnarbeit zum Familienunterhalt beitragen, sobald es ihnen aufgrund ihres Alters möglich war. 4 An einen regelmäßigen Schulbesuch war unter diesen Bedingungen kaum zu denken. Am ehesten waren für die Soldatenkinder noch die sogenannten Winkelschulen zugänglich, die es in vielen kleineren und größeren Städten gab. Militärspezifische Bildungsangebote entwickelten sich dagegen nur sehr zögerlich und längst nicht in allen Territorien des Alten Reichs. 5 Aufklärerisches Gedankengut war hier eine treibende Kraft. Dabei ging es nicht nur um die schulische Bildung, sondern allgemeiner um Erziehung und auch um die Vorbereitung auf den späteren Beruf, in die vereinzelt auch paramilitärische Elemente einflossen. Der Forschungsstand ist für den deutschsprachigen Raum insgesamt noch unbefriedigend, doch dürfte inzwischen unstrittig sein, dass Brandenburg-Preußen und Kursachsen, die jeweils über sehr große Heere verfügten, eine Vorreiterrolle bei der organisierten Bemühung um die Erziehung und Bildung von Soldatenkindern eingenommen haben. Im Fokus stehen daher in diesem Beitrag die Gründungen des Großen Militär-Waisenhauses in Potsdam (1724) und des Soldatenknaben-Erziehungsinstituts in Dresden (1738). 6 Demgegenüber dauerte es z.B. in Bayern bis fast zum Ende des 18.Jahrhunderts, bevor dort im Zusammenhang mit den Militärreformen des Grafen von Rumford ein regelmäßiger und einheitlicher Schulunterricht
4 Vgl. als ersten Überblick zum Thema Jutta Nowosadtko, Weniger „Kriegs=Pflantz=Schule“ denn „christliche Kinderlehr“. Die Schulbildung der Soldatenkinder im 18.Jahrhundert, in: Alwin Hanschmidt/HansUlrich Musolff (Hrsg.), Elementarbildung und Berufsausbildung 1450–1750. (Beiträge zur Historischen Bildungsforschung, Bd. 31.) Köln 2005, 315–337, hier 315–317. 5 Eine Ausnahme bildete Brandenburg-Preußen, wo es bereits im frühen 18.Jahrhundert zur Gründung zahlreicher Regimentsschulen kam. Vgl. dazu Wolfgang Neugebauer, Truppenchef und Schule im Alten Preußen. Das preußische Garnison- und Regimentsschulwesen vor 1806, besonders in der Mark Brandenburg, in: Eckart Henning/Werner Vogel (Hrsg.), Festschrift der Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg zu ihrem hundertjährigen Bestehen 1884–1984. Berlin 1984, 227–263. 6 Siehe dazu ausführlich die folgenden Abschnitte II und III.
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für Soldatenkinder eingeführt wurde. 7 1789 kam es bei jedem Infanterieregiment zur Einrichtung je einer ‚Militär-Schule‘ für Mädchen und Jungen, die Lesen, Schreiben, Rechnen, Zeichnen und christliche Religion vermitteln sollten und mit einer ‚Arbeitsschule‘ verbunden wurden. 8 Ähnlich verhielt es sich auch im Kurfürstentum Hannover, wo es vor dem Siebenjährigen Krieg kaum zielgerichtete Maßnahmen zur Unterstützung von Soldatenfamilien und -kindern gab. 9 Allenfalls sind kleinere Stiftungen und Kassen erwähnenswert, die allerdings der materiellen Versorgung von Soldatenwaisen dienten. Erst im Jahre 1800 kam es in Hannover zur Gründung einer Garnisonsschule, in der Soldatenkinder freien Unterricht erhielten. Auch im Fürstbistum Münster konnte Jutta Nowosadtko keine eigenständigen Garnisonsschulen feststellen, mit Ausnahme der Stadt Münster, wo ein Küster zwischen 1708 und 1761 gezielt Soldatenkinder unterrichtete. 10 Ansonsten existierte auch hier wie an vielen anderen Orten keine separate Betreuung von Militärwaisen und Invalidenkindern. Sie gehörten fast immer zur Kernklientel kommunaler Armenfürsorge und waren besonders in Armen- und Waisenhäusern zahlreich vertreten. Für das weitere Verständnis des Themas ist wichtig zu klären, wer im 18. Jahrhundert überhaupt als Soldatenkind galt. Es war im 18.Jahrhundert in fast allen Armeen üblich, dass nur eine Minderheit der Soldaten heiraten durfte. Dabei gab es allerdings Unterschiede. So war etwa in der kursächsischen Armee die Zustimmung des Regimentskommandeurs zwingend vorgeschrieben. Als Hauptgründe für die Begrenzung wurde angesehen, dass zum einen die Last der Einquartierung für die Bürger durch die vielen Soldatenfrauen zu schwer werde und zum anderen sehr häufig Soldaten jungen Mädchen die Ehe versprächen, um sie zur ‚Unzucht‘ zu überreden. Außerdem galten unverheiratete Soldaten als unerschrockener und diensteifriger,
7 Helmut Rankl, Landesdefension und Agrargesellschaft in Kurbayern. Neuformation der Landfahnen, Dienstverpflichtung und Zwangsrekrutierung in ihren Auswirkungen auf Armee und Bevölkerung im 18.Jahrhundert, in: ZBLG 72, 2009, 707–805, hier 767f. 8 Felix Joseph Lipowsky, Karl Theodor, Churfürst von Pfalz-Bayern ... wie Er war, und wie es wahr ist, oder dessen Leben und Thaten. Aus öffentl. Verhandl. u. histor. Quellen getreu dargest. Sulzbach 1828, 197–200. 9 Markus Meumann, Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord. Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, Bd. 29.) München 1995, 241–246. Vgl. auch Meumann, Soldatenfamilien (wie Anm.3). 10 Jutta Nowosadtko, Stehendes Heer im Ständestaat. Das Zusammenleben von Militär- und Zivilbevölkerung im Fürstbistum Münster 1650–1803. (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 59.) Paderborn 2011, 80–83.
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Verheiratete dagegen eher als nachlässig und mutlos. Gleichfalls wurde behauptet, der Sold des Soldaten reiche nicht für die Ernährung einer Familie aus. Zudem würden während eines Feldzuges zu viele mitmarschierende Frauen die Ordnung und Disziplin durcheinanderbringen. Diese Gründe führten dazu, dass wie in anderen auch in der kursächsischen Armee über einen langen Zeitraum feste Quoten in Form von Obergrenzen bestanden. Bei der Kavallerie durfte pro Regiment maximal jeder sechste Mann verheiratet sein, bei der Infanterie jeder fünfte. Auch nach einer zwischenzeitlichen Reform im Anschluss an den Siebenjährigen Krieg blieb es dabei, dass nur rund ein Viertel aller Soldaten verheiratet war. Die bestehenden Heiratsbeschränkungen führten allerdings zu zahlreichen nichtehelichen Lebensgemeinschaften, die von den Obrigkeiten und auch den Offizieren trotz anderslautender Bestimmungen in den meisten Fällen toleriert wurden. 11 Aus vielen der partnerschaftlichen Verbindungen, die die Soldaten zu Frauen unterhielten, gingen Kinder hervor. Vier Gruppen können hinsichtlich ihres rechtlichen Status unterschieden werden. Offiziell zur Militärbevölkerung gerechnet wurden in Kursachsen (1.) nur die ehelichen Kinder aktiver Soldaten, nicht aber (2.) Soldatenkinder, deren Eltern eine nichteheliche Beziehung führten. Außerdem gab es (3.) eheliche Waisen- und Halbwaisenkinder – hier waren ein oder beide Elternteile verstorben. War dies die Mutter, so änderte sich am Rechtsstatus des Kindes nichts. War der Vater gestorben, so zählten die hinterbliebenen Kinder wie die Witwe nur noch bedingt zur Militärbevölkerung. Ebenfalls einen Sonderfall stellten (4.) Kinder ehemaliger Soldaten dar, sofern diese nach ihrem Ausscheiden aus dem Dienst im zivilen Leben nicht Fuß gefasst hatten und im Status des ‚Invaliden‘ verblieben waren. Die aus Konkubinaten hervorgegangenen unehelichen Soldatenkinder waren in besonderer Weise benachteiligt: Rechtlich nicht zur Militärbevölkerung zählend und aufgrund ihrer Herkunft von Erwerbsmöglichkeiten im zünftigen Handwerk weitgehend ausgeschlossen, blieb ihnen besonders in Krisensituationen zum Überleben oftmals nur der Weg der Bettelei und des Kleindiebstahls. Ähnlich prekär waren auch die Lebensumstände vieler Kinder von verstorbenen oder ehemaligen Soldaten. 12
11
Stefan Kroll, Soldaten im 18.Jahrhundert zwischen Friedensalltag und Kriegserfahrung. Lebenswelten
und Kultur in der kursächsischen Armee 1728–1796. (Krieg in der Geschichte, Bd. 26.) Paderborn 2006, 220–232. Zu den Verhältnissen in Preußen vgl. Engelen, Soldatenfrauen (wie Anm.3), 170–178. 12
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Kroll, Soldaten (wie Anm.11), 252.
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Genauere Angaben zu ihrer Anzahl haben wir praktisch nur für die ehelichen Soldatenkinder. Sie stieg in Kursachsen von gut 4000 im Jahre 1755 auf über 10 000 zu Beginn der 1790er-Jahre. 13 In der preußischen Armee zählte man 1793 offiziell 39655 eheliche Kinder, die in einer Soldatenfamilie geboren waren. 14 Wie viele Kinder aus illegitimen Verbindungen von Soldaten in einem bestimmten Jahr bei ihren Eltern lebten, lässt sich quellenbedingt im 18.Jahrhundert weder für die preußische noch für die kursächsische Armee ermitteln. Es kann nur vermutet werden, dass die zu erwartenden Nachteile und Restriktionen dazu führten, dass aus unehelichen Verbindungen im Durchschnitt weniger Kinder hervorgingen als aus ehelichen. Jutta Nowosadtko hat in ihrem Überblicksbeitrag zur Schulbildung von Soldatenkindern im 18.Jahrhundert verschiedene Bildungskonzepte für den ‚Soldatenstand‘ vorgestellt. 15 Innerhalb der aufgeklärten Publizistik, die sich mit der ‚Verbesserung‘ des Soldatenstandes beschäftigte, gab es auch geburtsständische Konzepte, die davon ausgingen, dass Söhne von Soldaten in besonderer Weise für den Militärdienst geeignet wären. Als Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration galten danach Erziehungsmaßnahmen, die möglichst früh im Leben des zukünftigen Soldaten einsetzten. Mit der Utopie eines sich selbst reproduzierenden Soldatenstandes strebten die Autoren verschiedener Denkschriften zugleich eine Lösung des allgegenwärtigen Disziplinar- und Rekrutierungsproblems an. Der Einfluss dieser Debatten auf die Praxis darf nicht überbewertet werden, doch hat es den Anschein, als ob sich die Bestrebungen der einzelnen Staaten, die Söhne von Soldaten bereits in jungen Jahren durch Erziehung gezielt auf den Militärdienst vorzubereiten, nach der Mitte des 18.Jahrhunderts deutlich verstärkt hätten. 16 So veröffentlichte etwa der vielseitig interessierte Nationalökonom und Kameralist Paul Jacob Marperger bereits 1724 seine Schrift „Das Wohl=eingerichtete Seminarium Militare. Oder Pflanz=Schul, künfftig geschickter und tapfferer Kriegs=Leute und Soldaten“, in der er vorschlug, Soldatenkinder und ‚schlecht erzogene‘ Nachkommen an-
13 Dies ist zum einen auf eine Lockerung der Heiratsbestimmungen im Heer ab 1767 sowie zum anderen auf die beschleunigte Einführung des Kartoffelanbaus nach der Hungerkrise 1771/72 und einen darauf folgenden Anstieg der Geburtenrate in ganz Kursachsen zurückzuführen; Kroll, Soldaten (wie Anm.11), 252– 254. 14 Engelen, Soldatenfrauen (wie Anm.3), 170. 15 Nowosadtko, Schulbildung (wie Anm.4), 318–321. 16 Ebd.318f.
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derer armer Leute auf den Waffendienst für das Vaterland vorzubereiten. 17 Dabei sollte die Erziehung kampferprobten Veteranen überlassen bleiben – so wie es dann später im kursächsischen Soldatenknaben-Erziehungsinstitut auch lange Zeit praktiziert wurde. Sowohl das Große Militär-Waisenhaus in Potsdam als auch das SoldatenknabenErziehungsinstitut in Dresden (später Annaburg) waren Einrichtungen, in denen im Verlauf des 18.Jahrhunderts wechselnde Vorstellungen von der Erziehung, Bildung und Ausbildung von Soldatenkindern in die Praxis umgesetzt wurden. Zugleich gibt es für beide Institutionen auch eine vergleichsweise günstige Forschungslage. Während die Geschichte des Potsdamer Militär-Waisenhauses besonders in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erfahren hat 18, liegen für die sächsische Erziehungseinrichtung vor allem mehrere umfangreiche Gesamtdarstellungen aus dem 18. und 19.Jahrhundert vor. Sie sind von ehemaligen Lehrern des Instituts verfasst worden und können als durchaus geeigneter Ersatz für die seit dem Zweiten Weltkrieg zum
17
Ebd.319f.
18
Bernhard A. Kroener, Bellona und Caritas. Das Königlich-Potsdamsche Große Militär-Waisenhaus. Le-
bensbedingungen der Militärbevölkerung in Preußen im 18.Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Potsdam. Staat, Armee, Residenz in der preußisch-deutschen Militärgeschichte. Frankfurt am Main 1993, 231–252; Friedrich-Franz Mentzel, „Collegii Praeceptorum Hallensii stehen im Potsdam auf einem so gefährlichen aber auch guten Posten“. Die Auswirkungen des Franckeschen Pietismus auf das Große Militärwaisenhaus in Potsdam, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 52, 2001, 111–138; René Schreiter, Von Reckahn nach Potsdam. Die philanthropische Reform des Potsdamer Militärwaisenhauses 1779–1796, in: Hanno Schmitt (Hrsg.), Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow 1734–1805 im Aufbruch Preußens. Berlin 2001, 206–213; Engelen, Soldatenfrauen (wie Anm.3); René Schreiter, „Mich verlanget nach einem erwecklichen Brief aus Halle wie ein gejagter Hirsch nach eim külen Trunk Wassers“. Das Große Militärwaisenhaus zu Potsdam 1724–1740. Halle und Potsdam, in: Juliane Jacobi (Hrsg.), Zwischen christlicher Tradition und Aufbruch in die Moderne. Das Hallesche Waisenhaus im bildungsgeschichtlichen Kontext. (Hallesche Forschungen, Bd. 22.) Tübingen 2007, 183–195; ders., Die „nährende Amme“ der Waisenkinder. Bornstedts Verhältnis zum Potsdamer Militärwaisenhaus im 18.Jahrhundert, in: Bernd Maether (Hrsg.), Krongut Bornstedt. Eine Bau- und Nutzungsgeschichte. (Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission, Bd. 16.) Berlin 2010, 31–46; ders., Erziehung in Gleichschritt und Uniform? Alltag und Leben im Großen Militärwaisenhaus zu Potsdam zwischen 1724 und 1806, in: Gideon Botsch (Hrsg.), „... und handle mit Vernunft“. Beiträge zur europäisch-jüdischen Beziehungsgeschichte. Festschrift zum 20jährigen Bestehen des Moses Mendelssohn Zentrums. (Haskala, Bd. 50.) Hildesheim 2012, 166–181; ders., Vom „Großen Militär-Waisenhaus zu Potsdam“ zur Stiftung „Großes Waisenhaus zu Potsdam“, in: Kristina Hübener (Hrsg.), Soziale Stiftungen und Vereine in Brandenburg. Vom Deutschen Kaiserreich bis zur Wiederbegründung des Landes Brandenburg in der Bundesrepublik. (Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte des Landes Brandenburg, Bd. 22.) Berlin 2012, 95–120.
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Großteil verlorengegangene archivalische Überlieferung angesehen werden. 19 Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht die Frage, nach welchen – sich wandelnden – Prinzipien die in die Erziehungseinrichtungen aufgenommenen (ehelichen und verwaisten) Soldatenkinder erzogen und unterrichtet und für welche späteren Tätigkeiten sie vorbereitet wurden. Auch der Alltag in den beiden Einrichtungen soll dabei beleuchtet werden. In einem weiteren Teil wird schließlich noch ein kurzer Blick auf die Situation von Soldatenkindern im Krieg geworfen.
II. Brandenburg-Preußen: Das Potsdamsche Große MilitärWaisenhaus Mit der Übernahme der Regierung durch Friedrich Wilhelm I. 1713 setzte eine starke Aufwertung der neben Berlin zweiten brandenburgisch-preußischen Residenzstadt Potsdam ein. Der König veranlasste ein umfangreiches Städtebauprogramm, das vor allem den Zweck verfolgte, genügend Wohnraum für zusätzliche Regimenter seiner Armee zu schaffen. Die Einwohnerzahl verdoppelte sich binnen kurzem auf fast 3000 Einwohner und stieg danach noch weiter an. Mit den Soldaten kamen auch viele Soldatenfrauen und -kinder. Die meisten von ihnen waren wirtschaftlich schlecht gestellt. Ein Großteil der Kinder blieb schulisch unversorgt, denn der geringe Sold der einfachen Soldaten reichte für Schulgeldzahlungen nicht aus. Zudem besaß Potsdam zu dieser Zeit nur eine einzige öffentliche Stadtschule. Es dauerte daher nicht lange, bis bettelnde Soldatenkinder das Bild auf den Straßen bestimmten. Der König als oberster Armeebefehlshaber empfand es als seine Pflicht, soziale Fürsorge für seine Soldaten und deren Angehörige zu übernehmen. Mehrere Besuche in Halle hatten ihn bereits zuvor das dortige, 1695 von August Hermann Francke begründete Waisenhaus kennenlernen lassen. So entstand nicht zuletzt aus
19 Johann Gottfried Rüger, Geschichte und Beschreibung des kurfürstlich-sächsischen Soldatenknaben=Instituts zu Annaburg evangelischer und katholischer Religion. Leipzig 1787; Wilhelm Christian Gottlob Weise, Geschichte des Churfürstlich-Sächsischen Erziehungs-Instituts für Soldaten-Knaben evangelischer und katholischer Religion zu Annaburg, ein Versuch. Wittenberg 1802; Gustav A. Erdmann, Geschichte des Königlich Preußischen Militär-Knaben-Erziehungs-Instituts zu Schloß Annaburg von der Gründung des Instituts bis zur Gegenwart. Wittenberg 1883; Ernst Gründler, Schloß Annaburg. Festschrift zur Einhundertundfünfzigjährigen Jubelfeier des Militär-Knaben-Erziehungs-Instituts zu Annaburg. Berlin 1888; vgl. außerdem Kroll, Soldaten (wie Anm.11), 260–265.
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religiös-pädagogischen Motiven die Idee, in Potsdam ein eigenes Waisenhaus für Soldatenkinder errichten zu lassen. 1722 eröffnete zunächst eine Garnisonsschule, zwei Jahre später dann das Potsdamsche Militär-Waisenhaus. 20 Die Waisenhausstiftung verfolgte das Ziel, als Versorgungs- und Verpflegungsanstalt Kinder aufzunehmen, deren Väter in der preußischen Armee gedient hatten und gefallen waren oder aber finanziell nicht die Möglichkeit besaßen, ihre Familien zu ernähren. Die Kinder und Jugendlichen sollten vor Verwahrlosung geschützt, in „Christenthum, Schreiben und Rechnen“ unterrichtet und für die Zeit nach der Konfirmation auf eine berufliche Ausbildung vorbereitet werden. 21 Damit war die Einrichtung weniger ein reines Waisenhaus als vielmehr eine halböffentliche Soldatenkinderschule, bei der die Kinder wie in einem Internat untergebracht wurden. Zusätzlich zum Motiv der Fürsorge verfolgte die Stiftung somit auch wirtschaftliche und militärisch-praktische Ziele. Aufgenommen wurden nur eheliche Kinder von einfachen Soldaten und Unteroffizieren im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren. 22 Im Einklang mit den Ansichten des Königs wurde eine weitreichende religiöse Toleranz praktiziert, die sich auf die drei wichtigsten christlichen Konfessionen bezog. Angenommen wurden dementsprechend Kinder lutherischen, reformierten und katholischen Glaubens. Zunächst fanden nur Jungen Aufnahme in das Waisenhaus. Sie erhielten Uniformen und trugen die Abzeichenfarbe des väterlichen Regiments. Bereits 1725 folgte der Bau eines Waisenhauses für Soldatentöchter. Anfangs räumlich weit getrennt, wurden Knaben- und Mädchenhaus 1755 zusammengeführt. Der Bau passte in eine Zeit, in der europaweit Staaten und Territorien auf die Zunahme der Bevölkerungszahlen insgesamt, vor allem aber auf das Anwachsen der Unterschichten reagierten, indem sie restriktive Armenordnungen und damit zusammenhängend Armen-, Spinn-, Arbeits- und eben auch Waisenhäuser errichteten. 23 Berücksichtigt man die besondere architektonische Ausgestaltung und den 20
Schreiter, Militär-Waisenhaus (wie Anm.18), 96–98; ders., Brief aus Halle (wie Anm.18), 183–186; ders.,
Erziehung (wie Anm.18), 167–169. 21
Ders., Militär-Waisenhaus (wie Anm.18), 98.
22
Ders., Brief aus Halle (wie Anm.18), 185f.
23
Vgl. dazu u.a.: Meumann, Findelkinder (wie Anm.9); Udo Sträter/Josef N. Neumann/Renate Wilson
(Hrsg.), Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit. (Hallesche Forschungen, Bd. 10.) Tübingen 2003, Gerhard Ammerer (Hrsg.), Orte der Verwahrung. Die innere Organisation von Gefängnissen, Hospitälern und Klöstern seit dem Spätmittelalter. (Geschlossene Häuser, Bd. 1.) Leipzig 2010, sowie speziell für Kursachsen Falk Bretschneider, Gefangene Gesellschaft. Eine Geschichte der Einsperrung in Sachsen im 18. und 19.Jahrhundert. (Konflikte und Kultur – historische Perspektiven, Bd. 15.) Konstanz 2008.
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prominenten Platz im Stadtbild, den das Potsdamer Militär-Waisenhaus erhielt, liegt die Nähe zur politischen Programmatik der großen europäischen Militär-Invalidenhäuser auf der Hand. Innerhalb weniger Jahre stiegen die Belegungszahlen von anfangs 179 Knaben auf über 1000 Soldatenkinder. Während des Siebenjährigen Krieges dürfte zeitweise sogar die Grenze von 2000 Zöglingen überschritten worden sein. Dabei war die Anzahl der aufgenommenen Jungen in den meisten Jahren mindestens zehnmal so hoch wie die der Mädchen. 24 Die inhaltliche Ausgestaltung des Schul- und Erziehungswesens wurde maßgeblich durch die Halle’sche Pietismusbewegung beeinflusst. Ihr Begründer August Hermann Francke war führend an der Ausarbeitung der inneren Verfassung des Soldatenwaisenhauses beteiligt. Geregelt wurden unter anderem der Tagesablauf der Kinder sowie die Aufgaben und Pflichten der Erzieher, der Prediger und der Offizianten. Bis etwa 1740 entstammten die meisten der Präzeptoren der Schule Franckes. Er selbst hatte die Anweisung des Königs erhalten, unter den besten Lehrern seines Waisenhauses diejenigen Theologieabsolventen auszuwählen, die nach Potsdam entsandt werden konnten. Aus den erhaltenen Briefen der Potsdamer Lehrer an Francke ist zu entnehmen, dass sie ihre in Halle erlernten pädagogischen Fähigkeiten nicht nur anzuwenden verstanden, sondern darüber hinaus für eine kreative Weiterentwicklung der Unterrichtskonzeptionen sorgten. Besonders bei der Vermittlung des Lesens wurden neuartige Lehrmethoden angewendet. Es ist auch dem maßgeblichen Einfluss der Hallenser Pietisten zuzuschreiben, dass die Erziehung der Potsdamer Waisenkinder trotz einer militärisch geprägten Anstaltsleitung lange Zeit ohne paramilitärische Ausbildungselemente erfolgte. Exerzierübungen wurden zu dieser Zeit selbst vom preußischen König als störend empfunden und per Anordnung verboten. 25 Nach dem Tod Friedrich Wilhelms I. 1740 nahm der Einfluss des Halle’schen Pietismus auf den königlichen Hof und damit auch auf das Potsdamer Militär-Waisenhaus rapide ab. Sein Sohn und Nachfolger, Friedrich II., nahm Abstand von den pädagogischen Idealen seines Vaters und sorgte aus einer utilitaristischen Staatsauffassung heraus dafür, dass die Soldatenkinder vorrangig Potsdamer und Berliner Manufakturen als billige Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt wurden. Die öffentli-
24 Kroener, Bellona (wie Anm.18), 238f. 25 Schreiter, Erziehung (wie Anm.18), 170–172; Mentzel, Collegii Praeceptorum Hallensii (wie Anm.18); Schreiter, Brief aus Halle (wie Anm.18), 186–190.
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chen Ausgaben für das Waisenhaus sollten durch die Arbeit der Kinder zumindest teilweise kompensiert werden. Faktisch wurde innerhalb weniger Jahre aus dem Waisenhaus eine Arbeitsanstalt. Während Schule und Erziehung zur Nebensache wurden, bestimmte die Arbeit in den Manufakturen immer mehr den Lebensalltag der Jungen und Mädchen. Bis zu 35 Stunden verbrachten sie pro Woche in den Manufakturen oder Fabriken, für den Unterricht blieben nur wenige Stunden. Eine Folge der starken Überbeanspruchung waren gesundheitliche Probleme, die zusammen mit einer permanenten Überbelegung des Waisenhauses zu hohen Sterblichkeitsraten unter den Kindern führten. Aufgrund unzureichender sanitärer Bedingungen kam es auch immer wieder zum Ausbruch von folgenschweren Epidemien. 26 Diese waren auch ein wesentlicher Grund dafür, dass man nach dem Siebenjährigen Krieg dazu überging, regelmäßig Zöglinge zu Bauern der Kur- und Neumark zu verschicken. Die Soldatenkinder sollten Gelegenheit zum Besuch der jeweiligen Dorfschule erhalten und eine Einführung in die landwirtschaftliche Arbeit bekommen. Im Gegenzug war den Bauern für die Unterbringung ein Pflegegeld zugesprochen worden. In der Praxis wurden die Kinder jedoch häufig als billige Arbeitskräfte missbraucht und dadurch auch gesundheitlich geschädigt, was zu zahlreichen Beschwerden führte. 27 Erst in den beiden letzten Jahrzehnten des 18.Jahrhunderts kam es am Potsdamer Großen Waisenhaus unter dem Einfluss der philanthropischen Bewegung zu neuen, grundlegenden Reformen des Schulwesens. Die Vorgaben für den Unterricht wurden in einem rund fünfzehn Jahre anhaltenden Prozess neu gestaltet. Maßgeblichen Einfluss besaßen dabei die Schulversuche, die Friedrich Eberhard von Rochow in dem nicht weit von Potsdam entfernten Gutsdorf Reckahn durchführen ließ. 1779 wurde eine Schulkommission eingesetzt, die sich zunächst um eine bessere Ausbildung der Lehrer bemühte und darüber hinaus eine praxisnähere und anschaulichere Gestaltung des Unterrichts einforderte. Zu den althergebrachten Unterrichtsfächern Rechnen, Schreiben und Lesen kamen jetzt ‚Sitten- und Historien‘-Kunde sowie ein kombinierter Geschichts- und Geografieunterricht. Für die Einstufung in eine bestimmte Klasse war von da an nicht mehr das Alter, sondern der konkrete
26
Schreiter, Erziehung (wie Anm.18), 173f.; Kroener, Bellona (wie Anm.18), 242–244, sieht die Phase der
wirtschaftlichen Ausbeutung der Waisenkinder erst 1750 beginnen. 27
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Schreiter, Erziehung (wie Anm.18), 174; ausführlich Engelen, Soldatenfrauen (wie Anm.3), 520–529.
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Kenntnisstand des Schülers maßgeblich. Hinsichtlich der pädagogischen Unterrichtspraxis fehlen allerdings Quellen. 1795 endeten die letzten Verträge mit Unternehmern, so dass die Zeit der Manufakturarbeit für die Potsdamer Soldatenkinder vorbei war. Ein Jahr später war der Umgestaltungsprozess abgeschlossen. Dass die neue Schulordnung eine Obergrenze von maximal 600 aufzunehmenden Jungen und Mädchen vorsah, war dabei eine wesentliche Verbesserung. 28 Unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege veränderte sich die vorrangige Zweckbestimmung der Garnisonsschulen wie auch des Potsdamer Waisenhauses erneut. 1799 wurde in einer ‚Circularverordnung‘ klargestellt, dass dort in erster Linie die zukünftigen Soldaten heranzuziehen seien. 29 Es dauerte jedoch weitere zwanzig Jahre, bevor die paramilitärische Ausbildung der Jungen Einzug in den schulischen Alltag fand. 30 Für die Knaben wurden verschiedene Dienstgrade und für die Klassen eine Kompaniestruktur eingeführt. Ein neues Verständnis einer allgemeinen Wehrpflicht aller Staatsbürger führte dazu, dass neben dem Exerzieren jetzt auch der Umgang mit Waffen eingeübt wurde. Dennoch verließen das Große Militär-Waisenhaus in Potsdam auch danach nur sehr wenige Jugendliche mit dem Ziel, unmittelbar Soldat in der preußischen Armee zu werden. Die meisten entschieden sich auch weiterhin für einen zivilen Ausbildungs- und Berufsweg. 31 Dies war auch die ursprüngliche Intention Friedrich Wilhelms I. gewesen. Allerdings hatte sein Sohn, Friedrich II., 1776 verfügt, Zöglinge des Waisenhauses, die eine bestimmte Körpergröße überschritten, als Soldaten in die Armee einzureihen. Auch für die übrigen, aus dem Militärwaisenhaus abgehenden Jungen galt in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges die Vorgabe, zunächst ein möglichst billiges Meisterstück zu machen, um dann als angehende Meister dort angesiedelt zu werden, wo es kriegsbedingt einen Mangel an Handwerksmeistern gab. Bei entsprechendem Bedarf stellte Friedrich II. ehemalige Zöglinge auch interessierten Manufakturbesitzern zur Verfügung. 32
28 Schreiter, Erziehung (wie Anm.18), 174–177; vgl. dazu auch ausführlich Schreiter, Reckahn (wie Anm.18). 29 Kroener, Bellona (wie Anm.18), 245. 30 Schreiter, Erziehung (wie Anm.18), 181. 31 Ebd.181. 32 Engelen, Soldatenfrauen (wie Anm.3), 513f.
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III. Kursachsen und sein Soldatenknaben-Erziehungsinstitut Im Anschluss an eine längere Phase ohne Kriegseinsätze war die ab 1728 im Zuge einer großangelegten Heeresreform unter Kurfürst Friedrich August I. neu aufgestellte und stark erweiterte sächsische Armee Mitte der 1730er-Jahre an verlustreichen Feldzügen in Polen, am Rhein sowie in Ungarn und Serbien beteiligt. Spätestens ab 1736/37 musste der Staatsführung klargeworden sein, dass nicht nur das oftmals traurige Schicksal ‚abgedankter‘ Soldaten, sondern auch die in aller Regel ungenügende Versorgungslage ihrer Frauen, Witwen und Kinder zu einem ernsten gesellschaftlichen Problem geworden war. 33 Die Anzahl der teilweise versehrt ‚abgedankten‘ Soldaten, der Soldatenwitwen und der ohne Vater und/oder Mutter aufwachsenden Soldatenkinder war sprunghaft angestiegen. Insbesondere in der Residenzstadt Dresden wurden auf Almosen angewiesene alte Frauen und Kinder eine allgegenwärtige Erscheinung. Vor diesem Problem konnten der Kurfürst und seine Regierung nicht länger die Augen verschließen. Allem Anschein nach hatte noch Friedrich August I. als Abschluss der Heeresreform eine Revision des Versorgungswesens angestrebt. Dabei war das 1724 fertiggestellte Militär-Waisenhaus in Potsdam auf jeden Fall ein Vorbild für den Umgang mit bedürftigen Soldatenkindern gewesen. Es war jedoch erst sein Sohn und Nachfolger, Kurfürst Friedrich August II., der konkrete Maßnahmen ergriff. Am 26.Juni 1737 ordnete dieser die Einsetzung einer sechsköpfigen Regierungskommission an, die sich nicht zuletzt mit der Unterstützung unversorgter Soldatenkinder befassen sollte. Den Landständen erschien besonders die Situation in Dresden problematisch. Ihrer Meinung nach trugen die Kinder verstorbener Soldaten maßgeblich zum Überhandnehmen des Bettelns in der Residenzstadt bei. Ihre Mütter würden häufig nach dem Tod des Mannes in der Stadt bleiben, weil für sie hier die vergleichsweise günstigsten Erwerbsmöglichkeiten vorlägen bzw. am ehesten Almosen zu erlangen seien. Zwischen dem Dresdener Rat und der Landesregierung entstand eine Kontroverse über den Umgang mit den Soldatenwitwen und -waisenkindern. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung legte der Dresdener Rat die Ergebnisse einer Umfrage vom Januar 1737 vor. Danach ergab sich für die Stadt Dresden einschließlich ihrer Vor-
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Abschnitt III folgt, soweit nicht anders angegeben: Kroll, Soldaten (wie Anm.11), 255–267. Dort auch
weiterführende Verweise.
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städte zu Beginn des Jahres 1737 ein Bestand von 430 ehemaligen Soldaten, bei denen 384 Frauen und 474 Kinder lebten. Hinzu kamen noch 171 Soldatenwitwen mit 153 Kindern. Damit gab es zusammen 627 eheliche Kinder ‚abgedankter‘ oder verstorbener Soldaten. Besonders lästig waren dem Dresdener Rat die 265 Kinder und 254 Frauen ‚abgedankter‘ oder verstorbener Soldaten, die angaben, ihren Lebensunterhalt ausschließlich durch „empfangene Pension oder Almosen“ zu bestreiten. 34 Die Einkommensverhältnisse dürften durchweg prekär gewesen sein – bei den ‚abgedankten‘ Soldaten waren Tagelohn- und Handlangerarbeit sowie Flickschusterei und Flickschneiderei, bei den Soldatenfrauen und -witwen ebenfalls Tagelohnarbeit, gefolgt von Stricken, Waschen, Spinnen und Nähen die am häufigsten genannten ‚Hantierungen‘. Die meisten der Soldatenkinder wurden dazu angehalten, mit eigenen Einkünften zum Unterhalt der Familie beizutragen. Dazu gab es in Dresden neben dem von der Obrigkeit beklagten Betteln verschiedene Gelegenheiten, wie das Beispiel des Soldatenkindes Carl Nieritz veranschaulicht. Dieser lebte in den 1760er-Jahren als Halbwaise in Dresden. Der Sohn Karl Gustav Nieritz hat den Lebensalltag seines Vaters anschaulich in seiner Selbstbiographie geschildert. 35 Danach wusch und scheuerte die Mutter, während die ältere Schwester „zu den Leuten auf die Stube ging“, um dort zu nähen. 36 Der kleine Carl selbst fing für Laubfroschbesitzer Fliegen, für die er pro gefülltem Arzneifläschchen drei Pfennige erhielt. Darüber hinaus sammelte er Pflaumen- und Pfirsichkerne, die er zerklopfte, um sie Bürgern als Kaffeebeimischung zu verkaufen. Für den Besuch einer Schule blieb in einem solchen sozialen Umfeld grundsätzlich nur wenig Zeit. Anders als in Preußen hat es vor dem Siebenjährigen Krieg in Kursachsen ganz offensichtlich nur an sehr wenigen Orten eigene Regiments- oder Garnisonsschulen gegeben. Wenn überhaupt, besuchten sächsische Soldatenkinder vereinzelt Winkel- oder Armenschulen – unter der Voraussetzung, dass es die Zeit erlaubte und die Familie das Schulgeld aufbringen konnte. 37 In den Dresdener ‚Winkelschulen‘ wurden die Kinder laut Nieritz von ‚abgedankten‘ Unteroffizieren, ehe-
34 Ebd.258. 35 Gustav Nieritz, Selbstbiographie. Mit einem Nachwort hrsg. v. Günter Jäckel. Dresden 1997. 36 Ebd.8. 37 Zum städtischen Schulwesen in Kursachsen vgl. umfassend Thomas Töpfer, Die ‚Freyheit‘ der Kinder. Territoriale Politik, Schule und Bildungsvermittlung in der vormodernen Stadtgesellschaft. Das Kurfürstentum und Königreich Sachsen 1600–1815. (Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 78.) Stuttgart 2012.
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maligen Theologiestudenten und Söhnen früherer Schulinhaber unterrichtet. Carl Nieritz hatte später das Glück, in die vom Kantor der Garnisonskirche verwaltete Garnisonsschule aufgenommen zu werden. Sie besaß in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts über Dresden hinaus einen sehr guten Ruf. Für die meisten der Dresdener Soldatenkinder blieb sie angesichts einer maximalen Schülerzahl von 300 allerdings unerreichbar. Ab 1770 kam es für die (legitimen) Kinder aktiver Soldaten zu einer Verbesserung der Schulversorgung. Die erhobenen Gebühren für die Heiratskonsense wurden von da an in jedem Regiment zweckgebunden zur Förderung des Schulbesuchs verwendet. Die Dresdener Leibgrenadiergarde finanzierte aus den bei ihr anfallenden ‚Trauschein‘-Gebühren sowie Einmalzahlungen neu angenommener Offiziere ab 1780 eine eigene Regimentsschule, die von ihrem Kommandeur, Oberst de Gondé, gestiftet worden war. Ein Jahr später wurde für die Angehörigen der Garde du Corps eine weitere Garnisonsschule eingerichtet. Als Stifter fungierte auch hier ihr Kommandeur, Graf von Bellegarde. Dieses Engagement aufgeklärter Offiziere steht im Gegensatz zum Verhalten des kursächsischen Staates, der es offenbar auch weiterhin nicht als seine grundsätzliche Aufgabe ansah, sich ernsthaft um die Schulbildung der Soldatenkinder zu kümmern. Als wichtigstes Ergebnis der 1737 in Kursachsen eingeleiteten Reformen bei der Versorgung von ‚Invaliden‘ und Soldatenkindern kann ohne Zweifel die Einrichtung eines Soldatenknaben-Erziehungsinstituts angesehen werden. Es wurde am 21.November 1738 in Dresden eröffnet. Man nutzte dafür die Kasernen der Neustadt, die 1731/32 für die Gardetruppen gebaut, aber von ihnen nicht belegt worden waren. Im Jahr 1762 folgte der Umzug nach Annaburg (nördlich von Torgau), wo das Institut ein umgebautes Schloss bezog. Die Möglichkeit zur Aufnahme war in der Regel beschränkt auf Söhne von Soldaten, die zum Zeitpunkt der Zeugung in der kursächsischen Armee gedient hatten und deren männliche Nachkommen zwischen sechs und zwölf Jahre alt waren. Anträge konnten sowohl noch aktive als auch bereits verabschiedete Soldaten stellen. Die Entscheidung für oder gegen die Aufnahme traf das Geheime Kriegsratskollegium. Es wurden sowohl evangelische als auch katholische Kinder aufgenommen, die bereits in jungen Jahren Toleranz im Umgang miteinander lernen sollten. Bereits kurz nach seiner Gründung erlebte das Institut einen starken Zulauf: Von 32 Knaben am Ende des Jahres 1738 stieg ihre Anzahl über 435 zwei Jahre später auf 608 im Jahre 1741 an. Die stärkste Belegung erreichte das Institut 1749 mit 786 Kna-
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ben. Danach folgte bis zum Umzug nach Annaburg 1762 ein schrittweiser Rückgang auf nur noch 303 Soldatenknaben, ehe ein langsamer, aber kontinuierlicher Wiederanstieg einsetzte. Seit 1754 bestand mit 300 evangelischen und 100 katholischen Zöglingen eine feste Obergrenze, die jedoch in den folgenden Jahrzehnten wieder leicht überschritten wurde. Die Gründer des Soldatenknaben-Erziehungsinstituts verfolgten zwei wesentliche Ziele, von denen sich das erste und vorrangige durchaus mit den Motiven bei der Einrichtung des Potsdamer Militär-Waisenhauses deckte – unversorgte Soldatenkinder sollten von der Straße geholt und durch umfassende Erziehung zu einer eigenständigen, nicht auf fremde Hilfe angewiesenen Lebensführung ertüchtigt werden. An zweiter Stelle stand, anders als bei der preußischen Einrichtung, der Gedanke, Nachwuchs für die eigene Armee auszubilden. Der während der Regierungszeit Friedrichs II. praktizierte Einsatz der Soldatenkinder als billige Arbeitskräfte in Manufakturen stand in Kursachsen nie ernsthaft zur Debatte. Nach dem Direktor trugen der evangelische und der katholische Geistliche die größte Verantwortung für das Erreichen der Ziele. Ihr eigentliches Arbeitsfeld war der Schulunterricht, der nach Konfessionen getrennt abgehalten wurde und auch die christliche Erziehung umfasste, die einen hohen Stellenwert einnahm. Beide gemeinsam besaßen seit 1758 auch die Aufsicht über den Unterricht, dessen eigentliche Durchführung Sache der ‚Informatoren‘ war. Bei ihnen handelte es sich im Unterschied zum Potsdamer Militär-Waisenhaus fast immer um ‚abgedankte‘ Unteroffiziere, die täglich etwa drei Stunden unterrichteten. Darüber hinaus hatten sie die ‚Betstunden‘ abzuhalten, die Krankenstuben zu beaufsichtigen, das Anziehen, Kämmen und Waschen der Knaben zu kontrollieren sowie allgemein auf deren Reinlichkeit zu achten. Bewerber mussten sich zwar einer Aufnahmeprüfung unterziehen, hier waren jedoch unter anderem lediglich einfache Kenntnisse im Rechnen nachzuweisen. Das Institut beschäftigte je nach Belegung bis zu 17 ‚Informatoren‘, die sich auf diese Weise ihren Lebensunterhalt verdienten. Dass die ‚Informatoren‘ in der Regel lange Jahre in der Armee gedient hatten, war für die Erziehung der Kinder, legt man die genannten Ziele zugrunde, keine ideale Voraussetzung – immer wieder gab es Beschwerden über ihre mangelnden Fähigkeiten als Lehrer und die Härte ihrer Bestrafungen. Quasi als Gegenpole fungierten die ‚Warteweiber‘, bei denen es sich zum Großteil um Soldatenwitwen handelte. Sie stellten insbesondere für die jüngeren Knaben wichtige Bezugspersonen dar, kümmerten sich unter anderem um Wäsche, Anzug und Betten ihrer Schützlinge und
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betreuten sie im Krankheitsfall. 1746 dienten in Dresden 28 von ihnen, hinzu kamen noch sechs Küchenfrauen. Der Tagesablauf begann in der Dresdener Zeit des Instituts damit, dass die Knaben um 5 bzw. 6 Uhr geweckt wurden, anschließend die Waschräume aufsuchten und sich anzogen. Es schlossen sich ‚Betstunde‘ mit Gesang, Schriftverlesung und Gebet an. Erst danach gab es das Frühstück. Dann begann der Schulunterricht, zu dem die Knaben, getrennt nach Konfessionen, in vier verschiedene Altersstufen aufgeteilt wurden. Die einzelnen Klassen besaßen vor dem Siebenjährigen Krieg in der Regel eine Größe zwischen 35 und 50 Knaben. Ähnlich wie in Potsdam wurde den Schülern neben der Religionserziehung anfangs nur Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht. Lateinunterricht erhielten nur einige wenige. Später kamen weitere Fächer hinzu: Musikerziehung, Geografie, sächsische Geschichte sowie Zeichenunterricht für begabte und interessierte Knaben. Um die Mittagszeit war der Schulunterricht im Allgemeinen beendet. Der Sonntag stand ganz im Zeichen des Gottesdienstes, der zusammen mit der Überprüfung des Gelernten an diesem Wochentag bis zu sieben Stunden in Anspruch nahm. An mehreren Nachmittagen in der Woche wurden die Knaben im Strumpfstricken angeleitet. Damit sollten sie nach ihrer Entlassung aus dem Institut im Notfall über eine alternative Erwerbsmöglichkeit verfügen. Weitere Verdienstmöglichkeiten bestanden durch das Aufführen von Theaterstücken sowie die Anfertigung von Holzschnitzereien und Zeichnungen. Das Institut verfügte über große Schlafkammern, in denen Platz für jeweils 28 bis 34 Soldatenknaben war. Hierhin wurden die Jungen nach der Abendmahlzeit und der Abendandacht gebracht. Normalerweise schliefen zwei von ihnen in einem Bett. Besonders vor dem Umzug nach Annaburg ließen die hygienischen Verhältnisse sehr zu wünschen übrig. Krätze, Infektionskrankheiten und Seuchenausbrüche waren die Folge. Vor allem Letztere forderten regelmäßig Todesopfer. Für die hohen Sterblichkeitsraten – allein 1742 starben 58 und 1746 82 Knaben – wurde die Einquartierung verwundeter Soldaten in den Dresdener Kasernen verantwortlich gemacht. Erst nach dem Umzug des Instituts nach Annaburg besserten sich die Verhältnisse. Zuvor kam es wiederholt zu einer mehrwöchigen Räumung des Instituts, um die Wohn- und Schlafräume gründlich zu reinigen und neu anzustreichen. Bei dieser Gelegenheit bezogen die Soldatenknaben jeweils ein Lager außerhalb der Stadt, in das sie mit ‚klingendem Spiel‘ einrückten. Die Kinder und Jugendlichen erhielten – ganz dem Vorbild der Armee folgend – unter anderem Zelte, Grenadierund Füsiliermützen, ‚Lederwerk‘, Flaschen sowie Tornister. Das Lager wurde für mi-
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litärische Übungen, Feuerwerk und Spiele genutzt und sollte nebenbei auch die Öffentlichkeit auf das Soldatenknaben-Erziehungsinstitut aufmerksam machen. Ohnehin war die Erziehung im Institut in erheblichem Maße militärisch geprägt. Das Exerzieren gehörte an ein bis zwei Nachmittagen in der Woche zum festen Bestandteil des Tagesablaufs. Es orientierte sich an den Vorgaben der Feldregimenter und stand ebenfalls unter der Leitung der ‚Informatoren‘. Dazu wurden die Jungen in vier Musketierkompanien eingeteilt und ihnen nach Leistung und Disziplin Chargen zugeteilt. Auf diese Weise gab es 14-jährige ‚Offiziere‘, die das Recht besaßen, ungehorsame Kameraden in Arrest setzen zu lassen. Der ‚Informator‘ Rüger verstand das Exerzieren auch als einen Beitrag zur körperlichen Ertüchtigung. In seiner Institutsgeschichte formulierte er: „Durch das Exerciren werden bey jungen Leuten die Glieder geschmeidig und gestärkt und sie lernen frühzeitig aufgerichtet und gerade zu gehen.“ 38 Ganz nach dem Vorbild der Armee wurden auch Paraden abgehalten, ebenso war ein Wachdienst organisiert. Es trug zur militärischen Prägung des SoldatenknabenErziehungsinstituts ganz sicher auch bei, dass die Knaben bei diesen Gelegenheiten, ebenso generell sonn- und feiertags, Uniformen trugen und mit hölzernen Gewehren und versilberten Bajonetten ausgestattet waren. Selbst Begräbnisse fanden nach soldatischer Gepflogenheit statt. Weglaufen bzw. Desertion, Diebstahl, offene Widersetzlichkeit und andere Verstöße gegen die Anstaltsbestimmungen wurden militärisch geahndet. Der ‚Informator‘ Johann Gottfried Rüger beschrieb es 1787 in seiner Gesamtdarstellung wie folgt: „Nach Beschaffenheit des Excesses bleiben die Verbrecher einige oder mehrere Tage bei Wasser und Brod im Arrest, doch so, daß sie die Schul- und Arbeitsstunden mit besuchen müssen, auch Abends auf die Schlafsäle gehen dürfen. Andere knieen beim Essen, oder bekommen, wenn es kleinere, mit der Ruthe und wenn es größere sind, mit dem Zuchtriemen oder dünnen Stöckchen Schläge, wobey aber allemal die mögliche Vorsicht und Schonung beachtet wird […]. Außer vorerwähnten Strafen wurden sie in den Pohlnischen Bock gespannt: mußten auf dem Esel reiten und auf Spießruthen laufen, welches aber schon seit vielen Jahren abgeschafft worden ist. Ferner wurden in Dresden verschiedene Knaben wegen ihrer üblen Aufführung, bis zur erfolgten Besserung auf Befehl des Kriegskollegii in das Rathszuchthaus gebracht und
38 Rüger, Geschichte (wie Anm.19), 174.
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wöchentlich 9 Gr. Kostgeld gegeben. Weil sichs aber zeigte, daß sie in dem Zuchthause nicht besser, sondern vielmehr schlimmer wurden, und sich an neue Boßheiten gewöhnten, so ist dieses in der Folge auch unterblieben.“ 39
In der Regel nach der Konfirmation, spätestens aber im Alter von 17 Jahren, verließen die Soldatenknaben das Institut. Die meisten von ihnen begannen dann eine handwerkliche Lehre, an die sich recht häufig die Verpflichtung zum Dienst in der kursächsischen Armee anschloss. Eine weitere große Gruppe unter den Ausscheidenden, darunter die wenigen Söhne von Offizieren, wechselte sofort dorthin. Dabei wurden die Soldatenknaben gezielt von den einzelnen Regimentern ausgewählt, eine direkte, freiwillige Verpflichtung zum Militärdienst war für sie nicht möglich. Grob geschätzt wurden in den fast fünfzig Jahren zwischen 1738 und 1786 etwa 1000 bis 1200 der Institutszöglinge Soldaten, wobei vor allem die Anzahl derjenigen Knaben nicht sicher bestimmt werden kann, die erst noch eine Lehre absolvierten. Für die Frage der Heeresergänzung spielte dies alles allerdings nur eine untergeordnete Rolle – dafür war der Bedarf an Soldaten einfach viel zu groß. Diese Einschätzung gilt in noch eindeutigerer Weise auch für das preußische Militär-Waisenhaus. 40 Ungeachtet aller Mängel zählte das Soldatenknaben-Erziehungsinstitut unter den damaligen Voraussetzungen zweifelsohne zu den fortschrittlichsten Einrichtungen des kursächsischen Staates. Vor allem in den Anfangsjahren war dabei sicher von Vorteil, dass es auf die Unterstützung und Förderung von höchster Stelle bauen konnte, angefangen beim Kurfürsten und beim Premierminister Graf Heinrich von Brühl. Gegenüber dem Potsdamer Militär-Waisenhaus, das anfangs in vielem als Vorbild gedient hatte, nahm das kursächsische Soldatenknaben-Erziehungsinstitut schon bald nach seiner Gründung eine eigenständige Entwicklung. Während in Potsdam nach 1740 die Herausbildung eines gewinnorientierten Manufakturbetriebes prägend wurde und damit die wirtschaftliche Nutzbarmachung der kindlichen bzw. jugendlichen Arbeitskraft in den Vordergrund rückte, orientierte sich die Einrichtung in Dresden und Annaburg während des gesamten 18.Jahrhunderts am pietistischen Arbeits- und Frömmigkeitsgebot. Wie schon zuvor erhielt das Institut auch nach dem Umzug nach Annaburg immer wieder hohen Besuch. Insbesondere interessierten sich preußische Könige, Prinzen und Offiziere für die Art und Weise, in der die Soldatenknaben erzogen wurden. Besonders seit Johann Gottfried Elsasser
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39
Ebd.182f.
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So auch Nowosadtko, Schulbildung (wie Anm.4), 325f.
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1754 Direktor geworden war, gelangte in zunehmendem Maße aufklärerisches Gedankengut in das Institut, ohne dass dadurch der militärische Charakter verlorengegangen wäre. Augenscheinlich wurde dies vor allem durch die Erweiterung der angebotenen Unterrichtsfächer. Die Lebensbedingungen waren für die Soldatenkinder sowohl in Dresden als auch in Annaburg besser als in Potsdam, legt man die Mortalitätsrate in einzelnen Jahren zugrunde. Entscheidend dürfte hierfür gewesen sein, dass die sächsischen Knaben zu keiner Zeit vorrangig als billige Arbeitskräfte angesehen wurden und auch keine dauerhafte Überbelegung erfolgte, wie das in Potsdam in den Jahren nach 1740 der Fall war. Gegen Ende des Untersuchungszeitraums nahmen die Parallelen zwischen den beiden Einrichtungen wieder zu. Dies betraf vor allem die Auswahl und die Bildung der Lehrer. Zunächst wurde in Annaburg davon abgegangen, überwiegend alte, langjährig diensterfahrene Unteroffiziere anzustellen. An ihre Stelle rückten jüngere Unteroffiziere, die dann von den Instituts-Geistlichen ‚didaktisch‘ fortgebildet wurden. Seit etwa 1790 wurde dann gezielt darauf geachtet, fachlich qualifizierte Lehrer zu gewinnen. Dies bedeutete, dass von da an vorrangig Schulamtskandidaten, Schullehrer, Seminarlehrer und Theologen angestellt wurden. In pädagogischer Hinsicht wuchs auch am Soldatenknaben-Institut der Einfluss der Philanthropie. 41 Erwähnt werden muss allerdings noch ein genereller Unterschied zum Potsdamer Militär-Waisenhaus: In das Soldatenknaben-Erziehungsinstitut wurden keine Mädchen aufgenommen. Ursprünglich hatte die vom Kurfürsten eingesetzte Kommission 1738 vorgeschlagen, neben 50 Soldatensöhnen auch eine gleich große Anzahl von Soldatentöchtern in das Waisenhaus Torgau aufzunehmen und ihnen Kleider- und Verpflegungsgeld zu zahlen. Diese Idee war jedoch verworfen worden. Stattdessen entschied sich die Regierung für eine andere Form der Unterstützung bedürftiger Soldatentöchter. Vom 1.Oktober 1738 an erhielten 100 Mädchen eine jährliche Zuwendung von 6 Reichstalern, die bis zum 15. Lebensjahr gewährt wurde. Um diese Zahlung fortlaufend zu erhalten, musste viermal im Jahr der Nachweis erbracht werden, dass die Mädchen zur Schule gingen und ‚sittsam‘ erzogen wurden. Während in den folgenden Jahrzehnten die Förderung des Soldatenknaben-Instituts deutlich verstärkt wurde, kam es erst 1775 zur Aufstockung der jährlichen Aus-
41 Gründler, Annaburg (wie Anm.19), 317–334.
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gaben für die Soldatentöchter auf 900 Reichstaler. Von da an konnten 150 statt 100 Mädchen als sogenannte ‚Ziehgeldempfängerinnen‘ unterstützt werden. 1791 wurde ihre Zahl auf 200 und 1799 auf 300 erhöht. Die Entscheidung, wer für eine finanzielle Unterstützung in Frage kam, fiel anlässlich der Musterungen. 42 Betrachtet man das Gesamtproblem der unversorgten Soldatenkinder, so reichten die finanzielle Förderung ausgewählter Soldatentöchter und die Einrichtung des Soldatenknaben-Erziehungsinstituts bei weitem nicht aus. In besonderer Weise galt dies für die unehelichen Soldatenkinder, die von diesen Fördermaßnahmen des Staates weitgehend ausgeschlossen blieben. Soldatenkinder zählten auch in Kursachsen im gesamten 18.Jahrhundert zum Kernbestand der Vagierenden und Bettelnden. 43 Auf den Listen der Obrigkeiten, die immer wieder versuchten, gegen diese Bevölkerungsgruppe vorzugehen, findet man sie regelmäßig. Exemplarisch seien hier die Aussagen des Soldatenjungen Johann Friedrich Richter wiedergegeben, der am 23.Mai 1772 in Leipzig von den städtischen Armenvögten verhaftet und verhört wurde. Er sagte aus, er „sey 11 Jahr alt, hier gebürtig, habe keine gewiße Wohnung, sondern sey bishero von einem Dorfe zum andern gegangen und sein Brot gebettelt, welches er itzt nicht mehr thun dürfe, weil es verboten sey und weil ihm gesagt worden, er solle hingehen, wo er her sey und sich da ernähren laßen. Sein Vater Christoph Richter, ein Soldat in Churfürst[lich] Sächß[ischen] Diensten, sey vor 5 Jahren in Merseburg, die Mutter aber vor 6 Jahren allhier auf der Sandgaße verstorben, das Hauß wiße er nicht anzugeben. Seit dieser Zeit sey er beständig auf dem Lande herum geschweifet, habe auch vorigen Winter die Füße erfroren, so daß ihm am rechten Fuße die Zehen abgefallen und er an Krücken gehen müße. Auf ferners Befragen, ob er zur Schule angehalten worden, bejahet er solches, doch nur von der Zeit, da seine Mutter gelebet, seitdem diese todt sey, sey er in keine Schule gekommen, könne auch weder schreiben noch lesen [...].“ 44
Vor allem Kinder ‚abgedankter‘ oder verstorbener Soldaten, daneben auch solche aus illegitimen Beziehungen, zählten im 18.Jahrhundert in Kursachsen zur festen
42
Kroll, Soldaten (wie Anm.11), 265f.
43
Helmut Bräuer, Arbeitende Bettler? Bemerkungen zum frühneuzeitlichen Bettler-Begriff, in: Compara-
tiv 3, 1993, 79–91. 44
Zitiert nach Helmut Bräuer, Der Leipziger Rat und die Bettler. Quellen und Analysen zu Bettlern und
Bettelwesen in der Messestadt bis ins 18.Jahrhundert. Leipzig 1997, 96.
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Klientel der öffentlichen Armenpflege. Dies gilt sowohl für die Unterstützung durch die offene Armenfürsorge wie für die Versorgung in geschlossenen Anstalten. Besonders in den unter staatlicher Aufsicht stehenden Einrichtungen lassen sich zahlreiche Soldatenkinder nachweisen. Vergleicht man die Erziehungskonzeptionen zeitgenössischer ziviler Fürsorgeinstitute mit denen der beiden militärbezogenen Einrichtungen in Preußen und Sachsen, so überwiegen letztlich die Übereinstimmungen. 45 Sowohl das Große Militär-Waisenhaus in Potsdam als auch das Soldatenknaben-Erziehungsinstitut in Dresden/Annaburg waren exklusive Einrichtungen, die nur für einen geringen Teil der Soldatenkinder zugänglich waren und eher als staatliche Prestigeobjekte anzusehen sind. Andererseits sollte der langfristige Vorbildcharakter beider Institutionen nicht verkannt werden.
IV. Soldatenkinder im Krieg Abschließend soll noch ein kurzer, kursorischer Blick auf die Situation von Soldatenkindern in den Kriegen des 18.Jahrhunderts geworfen werden. Wenn der Ausbruch eines Krieges zur Mobilisierung des gesamten Heeres oder einzelner Regimenter führte, hatte das auch für den Lebensalltag der Soldatenfrauen und -kinder einschneidende Konsequenzen. Während des gesamten 18.Jahrhunderts bestanden grundsätzlich zwei Möglichkeiten für den Umgang mit dieser Situation. Entweder blieben Frau und Kinder in der Heimat zurück oder aber sie folgten ihrem Mann zunächst in die Sammellager und dann anschließend ins Feld. In den meisten Fällen führte der Krieg zu erheblichen Problemen bei der Subsistenzsicherung, denn der ins Feld ziehende Soldat hatte nur noch sehr eingeschränkt die Möglichkeit zum sonst üblichen und auch notwendigen Zuverdienst. Und die Aussicht auf Beute war keineswegs sicher. Mit zunehmender Distanz zur Heimat wurde es für ihn zudem schwieriger, den Kontakt zur Heimat zu halten und dorthin unter Umständen Geld zu senden. Da die Mütter kaum in der Lage waren, sich ohne weitere Hilfe selbst zu ernähren, gerieten auch Soldatenkinder oftmals in eine prekäre Lage. In der preußischen Armee sind Fälle bekannt, in denen Mütter, die mit auf den Feldzug gingen, ihre Kinder zu Pflegeeltern oder aber ins Militär-Waisenhaus brachten. 46 45 Nowosadtko, Schulbildung (wie Anm.4), 322–325. 46 Engelen, Garnisonsgesellschaft (wie Anm.3), 355f.
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In Kursachsen bemühten sich die Militärbehörden etwa von der Mitte des 18.Jahrhunderts an verstärkt um die Unterstützung der unversorgt zurückgebliebenen Familienangehörigen von Soldaten. 47 Der Erfolg war jedoch nur mäßig. Manch eine Frau reagierte auf die schwierige wirtschaftliche Situation, indem sie eine Beziehung zu einem anderen Mann einging, was nicht selten zur Geburt unehelicher Kinder führte. Umgekehrt bot der Krieg für den allein ins Feld gezogenen Soldaten genügend Anlässe, um sich fernab der Heimat eine Geliebte zuzulegen. Die Zeugung unehelicher Kinder durch fremde Soldaten war in den Kriegen des 18.Jahrhunderts allgemein verbreitet. Diese ‚Kriegskinder‘ hatten in aller Regel einen gesellschaftlich und ökonomisch besonders schwierigen Start in ihr Leben zu befürchten. 48 Gleichzeitig war es aber auch ein Kennzeichen aller west- und mitteleuropäischen Armeen des 18.Jahrhunderts, dass Soldatenfrauen – und mit ihnen oft auch Soldatenkinder – ihren Männern bzw. Vätern ins Feld folgten. 49 Die Übernahme von Aufgaben im Tross durch Frauen besaß eine lange Tradition. Dazu zählten vor allem die Kranken- und Verwundetenfürsorge sowie Kochen, Nähen, Waschen und Reinigungsarbeiten. Allerdings führte die wachsende Professionalisierung der Armeeorganisation im 18.Jahrhundert dazu, dass immer mehr Aufgaben durch die Kompanien selbst übernommen wurden. 50 Für die kursächsische Armee gibt es aus dem Ersten Schlesischen Krieg konkrete Zahlenangaben. 51 Zum Jahreswechsel 1742/43 standen je zehn Infanterie- und Kavallerieregimenter als mobiles Korps in Böhmen, um bei Bedarf für militärische Operationen eingesetzt zu werden. Abweichend von der sonstigen Praxis wurde bei der Musterung auch die Anzahl der verheirateten Soldatenfrauen und der ehelichen Kinder festgestellt. Dabei wurde zwischen ‚Praesenten‘, also Mitgekommenen, und ‚Absenten‘, Zurückgebliebenen, unterschieden. Danach befanden sich bei dem 19 222 Mann starken Korps 1405 Soldatenfrauen und 1219 Soldatenkinder. 996 Ehefrauen und 1669 Kinder waren zu Hause geblieben. Das heißt also, dass 42 Prozent der Soldatenkinder mit den Regimentern über die Grenze gegangen waren. 1757 zo-
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47
Kroll, Soldaten (wie Anm.11), 423–426.
48
Ebd.426f.
49
Vgl. dazu ausführlich Engelen, Garnisonsgesellschaft (wie Anm.3), 344–379.
50
Ebd.349.
51
Kroll, Soldaten (wie Anm.11), 431.
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gen etwa 600 Frauen und 300 Kinder mit einem 10000 Mann starken Korps unter französischem Oberbefehl nach Südwestdeutschland. 52 Vor diesem Hintergrund überrascht es dann auch nicht, dass während der Feldzüge nicht nur Ehen geschlossen, sondern auch Kinder geboren und anschließend getauft wurden. 53 So findet sich in einem Kirchenbuchauszug vom 28.Oktober 1794 der Eintrag, dass der Sohn eines Kürassiers in der kursächsischen Wagenburg zu Kirdorf im Mainzischen zur Welt kam. 54 Leider gibt es nur sehr wenige Quellen, die den Kriegsalltag aus der Sicht der mitgezogenen Frauen und Kinder beleuchten könnten. Am aussagefähigsten sind noch normative Bestimmungen in Marsch- oder Lagerordnungen sowie Gerichtsprotokolle, die Aussagen über Konfliktfälle enthalten. Daraus geht hervor, dass sich offenbar immer wieder auch Frauen und Kinder an der Ausplünderung und Bestehlung der zivilen Bevölkerung auf den Straßen und in den Dörfern beteiligt haben. Eine weitere, ebenfalls nur sehr spärlich überlieferte Quellengruppe sind Augenzeugenberichte und Lebenserinnerungen.
V. Fazit Eine systematische Erziehung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen für den Krieg gab es im 18.Jahrhundert in den Territorien des Alten Reiches in der Regel noch nicht. Erste Ansätze sind fast nur in den beiden militärisch bedeutenden Staaten Preußen und Kursachsen erkennbar. Besonders im kursächsischen Soldatenknaben-Erziehungsinstitut spielten paramilitärische Erziehungsformen eine erhebliche Rolle. Die Zöglinge auf einen späteren Dienst in der eigenen Armee vorzubereiten, war ein Ziel der beiden großen Erziehungseinrichtungen für Soldatenkinder in Potsdam und mehr noch in Dresden bzw. Annaburg. Dieses war jedoch mit anderen, nicht vorrangig militärischen Motiven, wie Fürsorge für unversorgte Soldatenkinder oder wirtschaftliche Nutzbarmachung kindlicher Arbeitskraft verbunden. Angesichts der zahlenmäßigen Stärke der preußischen und der kursächsischen Armee erreichten beide Einrichtungen allerdings nur einen kleinen Teil aller Soldatenkinder. Gänzlich außen vor blieben Kinder von Soldaten, die unehelich geboren
52 Ebd. 431f. 53 Engelen, Garnisonsgesellschaft (wie Anm.3), 358f. 54 Kroll, Soldaten (wie Anm.11), 432.
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worden waren. Mädchen wurden nur in Potsdam aufgenommen, eine besondere Vorbereitung auf den Krieg ist hier nicht erkennbar. Ein Kriegsausbruch verschlimmerte in aller Regel die Lebensbedingungen von Soldatenkindern. Erziehung und schulische Ausbildung verloren unter diesen Voraussetzungen noch weiter an Bedeutung.
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Kinder und Propaganda im Ersten Weltkrieg Eine transnationale Perspektive von Eberhard Demm
I. Einführung Die historische Forschung über Kinder 1 im Ersten Weltkrieg setzte zu Anfang der 1990er-Jahre gleichzeitig in Österreich, Italien und Frankreich ein 2, und auch in den folgenden Jahren blieben die romanischen Länder in zeitlicher Hinsicht in Führung 3. Etwas später folgten angelsächsische Kollegen und erst vor zwei Jahren auch die erste deutsche Autorin, die sich allerdings mehr für das Schicksal von Kriegskindern in der Weimarer Republik interessierte. 4 Mit Ausnahme von Bérénice Zuninos Spezialarbeit über die illustrierten Kinderbücher konzentrierten sich alle diese Stu-
1 Ich definiere Kinder nach zeitgenössischem Usus als Personen bis zum Alter von 14 Jahren, gehe aber im Artikel auch manchmal auf Jugendliche ein; vgl. auch Andrew Donson, Children and Youth, in: 1914– 1918 Online. International Encyclopedia of the First World War, http://dx.doi.org/10.15463/ie1418.10265, Introduction (16.3.2016). 2 Christa Hämmerle (Hrsg.), Kindheit im Ersten Weltkrieg. Wien 1993; Andrea Fava, All’origine di nuove immagini del’infanzia. Gli anni della Grande Guerra, in: Maria C. Giuntela/Isabella Nardi (Eds.), Il Bambino nella Storia. Neapel 1993, 145–200; Stéphane Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants 1914–1918. Essai d’histoire culturelle. Paris 1993; Eberhard Demm, Deutschlands Kinder im Ersten Weltkrieg. Zwischen Propaganda und Sozialfürsorge, Vortrag 1993 in englischer Sprache auf einem von John Horne organisierten Weltkriegskolloquium in Dublin, leider erst verspätet übersetzt und veröffentlicht in: MGM 60, 2001, 51– 98, Nachdruck in: ders., Ostpolitik und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Frankfurt am Main 2002, 71–132. 3 Andrea Fava, War, ‚National Education‘ and the Italian Primary School 1915–1918, in: John Horne (Ed.), State, Society and Mobilization in Europe during the 1st WW. Cambridge 1997, 53–69; Antonio Gibelli, Il popolo bambino. Infanzia e nazione dalla Grande Guerre a Salò. Turin 2005; Fabiana Loparco, I bambini e la Guerra. Florenz 2011; Manon Pignot, Allons enfants de la patrie. Génération Grande Guerre. Paris 2012; Bérénice Zunino, La littérature illustrée pour enfants à l’époque de la Première Guerre mondiale. Origine et évolution de la culture de guerre enfantine allemande. Unveröff. Diss. Paris 2014, erscheint 2016 auf Deutsch bei Peter Lang. 4 Andrew Donson, Youth in the Fatherless Land. War Pedagogy, Nationalism, and Authority in Germany, 1914–1918. Cambridge, Mass./London 2010; Susan Fisher, Boys and Girls in No Man’s Land. English-Canadian Children and the First World War. Toronto 2011; Rosie Kennedy, The Children’s War. Britain, 1914– 1918. New York 2014; Barbara Stambolis, Aufgewachsen in „eiserner Zeit“. Kriegskinder zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise. Gießen 2014.
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dien auf ein einziges Land. Ich möchte nun hier die Situation der Kinder in den kriegführenden Staaten unter besonderer Berücksichtigung der verwendeten Propagandamethoden vergleichen. Dabei soll untersucht werden, ob und wieweit sie übereinstimmten, wie erfolgreich sie waren und ob die Persönlichkeit des Kriegskindes durch sie entscheidend geprägt wurde. Folgende Aspekte werden dazu analysiert: Die Indoktrinierung in der Schule, die Propaganda in Kinderbüchern und -zeitschriften, die Kriegsspiele, die ökonomische Ausbeutung der Kinder, die Propagierung kriegsorientierter Wertvorstellungen wie Konsumverzicht, Opferbereitschaft und nationales Pflichtgefühl, der Einsatz der Kinder als Multiplikatoren der Propaganda, kindliche Helden und Märtyrer als propagandistische Kultfiguren. Eine so weitgespannte Untersuchung auf beschränktem Raum muss sich vor allem auf Sekundärliteratur stützen und kann Quellen nur ausnahmsweise heranziehen.
II. Kinder als Objekte von Propaganda 1. Indoktrination in der Schule Am 16.März 1916 warf der deutsche Sozialistenführer Karl Liebknecht im Preußischen Abgeordnetenhaus den Schulen vor, dass sie sich zu Zentren der Indoktrinierung und zu „Zuchtanstalten für den Krieg“ entwickelt hätten. 5 Dies scheint allerdings nicht von Anfang an der Fall gewesen zu sein. Vermutlich weil die Erziehungsministerien der kriegführenden Nationen keinen langen Krieg erwarteten, forderten sie zunächst in der Regel lediglich, die aktuellen Ereignisse im Unterricht durchzunehmen und die Schüler zu Patriotismus, Respekt vor der Armee und in den entsprechenden Fällen zur Zuneigung für die Königsfamilie zu erziehen. 6 Später entwickelten sich die Bemühungen staatlicher Stellen je nach Land unterschiedlich. In Frankreich wurden die Schulen mit ministeriellen Rundschreiben überschüttet, die sich freilich ab 1917/18 dramatisch verringerten. In Italien begann die staatliche
5 Karl Liebknecht, Gesammelte Werke und Schriften. Bd. 8. Berlin 1966, 16.3.1916, 531ff., 535 (Zitat). 6 Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 24f.; Stefan Goebel, Schools, in: Jay Winter/Jean Louis Robert (Eds.), Capital Cities at War. Paris, London, Berlin 1914–1919. Vol.2: A Cultural History. Cambridge 2007, 188–234, 201; Hermann J. W. Kuprian/Brigitte Mazohl-Wallnig, Bambini e guerra – bambini alla frontiera. Un esempio dalla monarchia austro-ungarica durante la prima guerra mondiale, in: Maria C. Giuntella/Isabella Nardi (Eds.) Le Guerre dei bambini. Da Sarajevo a Sarajevo. Neapel 1998, 101–124, 105, 107, 122; Donson, Youth (wie Anm.4), 63.
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Unterstützung von Schulpropaganda erst nach der Niederlage von Caporetto im Oktober 1917, als die Militärführung den Propagandadienst Servizio P organisierte. Dieser benutzte Lehrer sehr häufig als Propagandaagenten. In Österreich wurde Propaganda im eigenen Land weitgehend vernachlässigt, so dass Schulen wenig Aufmerksamkeit erhielten. In Großbritannien empfahl das National Board of Education zwar Kurse und Lehrbücher, überließ die wesentliche Initiative aber den Kommunen. 7 Die deutschen Behörden wiederum verstärkten bald ihre Propagandabemühungen wegen der zunehmenden Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung. 8 Ab März 1915 organisierte das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht Ausstellungen und Kurse wie „Die militärische Ausbildung unserer Schuljugend“ oder „Kriegsaufsätze in Oberschulen“ und verteilte Arbeitsmaterialien, darunter Soldatenbriefe, Alben und Postkarten. 9 Von Juli 1916 an mobilisierte das von General Erich Ludendorff initiierte Programm des „Vaterländischen Unterrichts“ die „geistigen Führer des Volkes“, Schulräte, Geistliche und Lehrer, die teilweise sogar dazu verpflichtet waren, Propagandakurse zu besuchen – eine Initiative, die von der im Juli 1917 gegründeten Vaterlandspartei unterstützt wurde. 10 Auch einige Länderministerien reagierten. Das Ministerium für Kultus und Unterricht in Baden beispielsweise forderte am 10.Juni 1916 die Lehrer dazu auf, Unzufriedenheit und Verzagtheit zu bekämpfen, damit das Volk „in glühender vaterländischer Begeisterung an dem Siegeswillen festhält und jeden Gedanken an einen demütigenden Frieden zurückweist“. 11 Die USA mit ihrem dezentralisiert organisierten Bildungssystem waren ein besonderer Fall. Eine Abteilung der zentralen Propagandaorganisation Committee on Public Information (CPI) veröffentlichte eine zweimonatlich erscheinende Schulzeitung mit dem Namen „National School Service“ und zahlreiche Mitteilungs- und Flugblätter, die über deutsche Gewalttaten berichteten und Lehrmaterial über The-
7 Kuprian/Mazohl-Wallnig, Bambini (wie Anm.6), 107, 123; Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 24ff.; Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 131; Paul Corner/Giovana Procacci, The Italian Experience of ‚Total‘ Mobilization, 1915–1920, in: Horne (ed.), State (wie Anm.3), 223–240, 227ff.; Fava, Education (wie Anm.3), 54; Fava, Infanzia (wie Anm.2), 147; Beatrice Pisa, Propaganda at Home (Italy), in: 1914–1918 Online (wie Anm.1), http://dx.doi.org/10.15463/ie1418.10568 (16.3.2016). 8 Donson, Youth (wie Anm.4), 181ff. 9 Ebd.66; Demm, Kinder (wie Anm.2), 75; Goebel, Schools (wie Anm.6), 203. 10 David Welch, Germany, Propaganda and Total War, 1914–1918. The Sins of Omission. New Brunswick 2000, 201ff., 229; Donson, Youth (wie Anm.4), 184. 11 Großherzogtum Baden. Ministerium für Kultus und Unterricht, 10.6.1916, Generallandesarchiv Karlsruhe 235/16167/A 5213.
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men wie „Why the US entered the war“ oder „How children can help“ zur Verfügung stellten. 12 Intensiver aber kümmerten sich lokale Instanzen um die Mobilisierung der Bevölkerung: in Frankreich, Großbritannien und den USA die Schulinspektoren bzw. Schulämter, in Deutschland die Schulräte und manchmal auch die Bezirksjugendpfleger, in Italien die Lehrergewerkschaft und private Organisationen, die alle praktische Hinweise gaben und Lehrmaterial verteilten. 13 In Frankreich zum Beispiel ordnete ein Schulinspektor folgende kriegspädagogische Maßnahmen an: „Die Lektion wird die Gründe für den Krieg und den unprovozierten Angriff, mit dem er begann, erklären. Sie wird weiterhin aufzeigen, dass Frankreich, der ewige Kämpfer für Recht und Fortschritt, sich wieder erheben und zusammen mit seinen tapferen Alliierten den Angriff der Barbaren zurückschlagen wird.“ 14
In Italien verteilte die Unione Generale dell’Insegnanti Italiani per la Guerra nazionale (UGII) ab 1917 vorbereitete Texte und organisierte spezielle Kurse für Lehrer sowie wöchentliche Schulvorträge unter der Bezeichnung „Die Patriotische Stunde“. 15 Es waren allerdings die Lehrer selbst, die besonders auf dem Lande und in den kleinen Städten die Hauptlast der Propagandaarbeit trugen. 16 Unter ihrer Aufsicht schrieben Schüler kriegsthematische Aufsätze, Lieder und Gedichte, fertigten Zeichnungen an, interpretierten aufregende Geschichten, Bilder und Plakate von heroischen Schlachten, nahmen an Gesängen und Rollenspielen auf dem Schulhof oder sogar in der Öffentlichkeit teil. Aus Italien ist ein Beispiel dokumentiert, wo Schüler die Einnahme einer österreichischen Festung aufführten. 17 Obwohl zumindest sowohl in Deutschland durch die einflussreichen Schulrefor-
12
Ross F. Collins, Children, War and Propaganda. New York 2011, 82f.
13
Donson, Youth (wie Anm.4), 9; Pisa, Propaganda (wie Anm.7); Corner/Procacci, Italian Experience (wie
Anm.7), 227f.; Fava, War (wie Anm.3), 54. 14
Stéphane Audoin-Rouzeau, Children and the Primary School of France 1914–1918, in: Horne (Ed.), State
(wie Anm.3), 39–52, 41. 15
Fava, War (wie Anm.3), 56ff.
16
Eberhard Demm, Agents of Propaganda. German Teachers at War, in: ders., Propaganda (wie Anm.2),
61–70; Christian Peureux, La propagande à l’école 1914–1918. Unveröff. Abschlussarbeit der Universität Paris I, 1972/1973, 79ff. 17
Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 133ff.; Demm, Kinder (wie Anm.2), 76; ders., Agents of Propa-
ganda (wie Anm.16), 62ff.; Fava, Infanzia (wie Anm.2), 182; Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 176f.
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mer Gustav Wyneken, Hermann Lietz und Georg Kerschensteiner 18 als auch in Großbritannien bereits vor dem Krieg Methoden eingeführt worden waren, die auf die autonome Entfaltung und die Eigeninitiative von Schülern Wert legten, spiegelten solche Aufsätze und Bilder die Lehrinhalte und Propagandatiraden von Lehrern wider. 19 So notierte ein deutscher Junge im Alter von sechs Jahren in seinem Schreibheft: „Die Engländer sind unsere Feinde“ oder „Der Deutsche und Türke ist unser Bundesbruder [sic].“ 20 In einem Schulaufsatz über „Die Frau im Weltkrieg“ schrieb eine Vierzehnjährige: „So wie die Männer auf dem Schlachtfelde für Haus und Herd kämpfen, so kämpft auch die deutsche Frau“; und der Lehrer gab ihr daraufhin die Bestnote. 21 Ein zwölfjähriges Mädchen erklärte am 22.September 1914: „Die Leute lernen jetzt im Krieg wieder sparen und beten. Der liebe Gott hat die Deutschen am liebsten und hilft immer zum Siege. Ich bin froh, daß Deutschland mein Vaterland ist. Und ich liebe mein Vaterland.“ 22 17 Prozent der deutschen Schulaufsätze beschäftigten sich mit Siegesfeiern und dem neuen Nationalgefühl der Bevölkerung, 29 Prozent beschrieben den Krieg als einen aufregenden, abenteuerlichen Bewegungskrieg, in dessen Verlauf die heroische Infanterie Gräben stürmte und Zehntausende von Gefangenen machte. 23 Mädchen wiederum zeichneten Schützengräben als gemütliche Aufenthaltsorte. 24 In Großbritannien schrieben Kinder Aufsätze über ziemlich komplizierte Themen wie Kriegssteuern oder Kriegsanleihen und trainierten wie in den USA ihre Fähigkeiten, indem sie zahlreiche Briefe an Soldaten oder Kinderzeitschriften schrieben. 25 In Frankreich sollten Diktate und Aufsätze vielfach Hass- und Rachegefühle schüren. 26
18 Thomas Nipperdey, Wie modern war das Kaiserreich? Das Beispiel der Schule. Opladen 1986, 16f.; Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 130; Donson, Youth (wie Anm.4), 8. 19 Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 176; Zunino, La littérature illustrée (wie Anm.3), 321; ich danke Frau Zunino für ihre Erlaubnis, ihre Arbeit zu konsultieren. 20 Walter Witzenmann, Der Krieg. Geographische, politische und zoologische Gedanken eines Sechsjährigen am Anfang des Ersten Weltkrieges. 2.Aufl. Konstanz 1998, 19, 34. 21 Eberhard Demm, „Maikäfer flieg’, dein Vater ist im Krieg“. Wie Berliner Familien den Ersten Weltkrieg erlebten, in: Berliner Zeitung, 15./16.Januar 2005, Nr.12, Magazin, 1f. 22 Ernst Buchner (Hrsg.), 1914–1918. Wie es damals daheim war. Das Kriegstagebuch eines Knaben. Leipzig 1930, 35. 23 Donson, Youth (wie Anm.4), 81. 24 Zunino, La littérature illustrée (wie Anm.3), 322. 25 Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 136; Collins, Children (wie Anm.12), 227f. 26 Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 176.
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Über Wilhelm II. wurde unter anderem diktiert, dass er „unter seiner Maske als Mensch nur ein Ungeheuer, ein scheußlicher Menschenfresser ist“. Weiter hieß es: „Sein Gegenstück, der Kaiser von Österreich, ißt mit Vorliebe kleine Kinder, und da er sieht, wie reich und schön Frankreich ist, möchte er es den Franzosen wegnehmen.“ Ähnlich waren die Aufsatzthemen, z.B. das folgende vom 4.Februar 1916: „Zitiert einige von den Deutschen in diesem Krieg begangene Greueltaten! Angenommen ihr wäret Soldaten und dränget mit euren Truppen in Deutschland ein, was würdet ihr tun? Und warum?“ 27 In manchen Ländern begannen die Schulstunden mit nationalistischen Zeremonien: in den USA mit einem Fahnengruß, dem Singen der Nationalhymne und an einigen Orten mit einem Loyalitätsversprechen, in Deutschland mit der speziellen Grußformel „Gott strafe England“, in Frankreich mit einer Gedenkminute an die Väter und Brüder an der Front. 28 Außerdem pflegten Lehrer aus den Kriegskommuniqués vorzulesen und sie zu erklären. 29 Im Fach Geschichte diskutierten Schüler aktuelle und vergangene Siege, bewunderten die mutigen Taten nationaler Kriegshelden und wurden über die furchtbaren Gräueltaten des Feindes belehrt. 30 In Mathematik berechneten sie Haushaltseinsparungen und Zinssätze von Kriegsanleihen oder hatten herauszufinden, zu welchem Zeitpunkt ein Kreuzer, der ein Passagierschiff verfolgte, die erste Granate abfeuern könnte. 31 Sehr beeindruckend war die folgende Aufgabe aus einer zeitgenössischen deutschen Beispielsammlung zum Rechenunterricht: In der Schlacht von Neuve Chapelle waren die Briten vorgedrungen und hatten einen kleinen Landstreifen von drei Kilometern Länge und 950 Metern Tiefe erobert. Dieser ‚Erfolg‘ hatte sie 25000 Tote gekostet. Wie viele Soldaten müssten sie opfern, um das gesamte französische Territorium (22 300 Quadratkilometer) von der deutschen Besetzung zu befreien? Als die Schüler nachrechneten, kamen sie auf eine Zahl von 195600000 Soldaten. „Das ist unmöglich“, sagte ein Kind. 27
Paul Rühlmann, Die französische Schule und der Weltkrieg. Leipzig 1918, 103f.; das französische Ori-
ginal des Aufsatzthemas unabhängig davon zitiert in: Peureux, Propagande (wie Anm.16), 57. 28
Ebd.92; Buchner (Hrsg.), Kriegstagebuch (wie Anm.22), 36 (24.9.1914); Collins, Children (wie Anm.12),
87. 29
Josefine Kluger, Jeden Tag wurde vor dem Unterricht die Kriegslage besprochen, in: Hämmerle (Hrsg.),
Kindheit (wie Anm.2), 105–118, 110; Fava, War (wie Anm.3), 60; Demm, Agents of Propaganda (wie Anm.16), 65; Peureux, Propagande (wie Anm.16), 92. 30
Demm, Agents of Propaganda (wie Anm.16), 65; Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2),
83ff.; Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 131. 31
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Audoin-Rouzeau, Primary Schools (wie Anm.14), 47; ders., La guerre des enfants (wie Anm.2), 4.
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„Ja“, bestätigte der Lehrer, „deshalb können sie den Krieg nicht gewinnen – vergesst nicht, das Euren Eltern zu erzählen.“ 32 Im Fach Religion lernten deutsche Schüler, dass sie durch die britische Blockade nicht ausgehungert werden könnten, da schon Jesus Tausende von Menschen mit wenigen Fischen und Brotlaiben ernährt hatte. 33 Feste und Ausstellungen waren eine weitere Methode zur Mobilisierung von Kindern. In vielen Klassenräumen schrieben die Schüler Namen von Gefallenen an die Wände, bauten Kriegerdenkmäler oder -altäre für gefallene Helden und stellten Kriegstrophäen und Fotos von Generälen aus, die in Deutschland sogar in offiziellen Kriegsschulmuseen gezeigt wurden. Außerdem zelebrierten sie ‚patriotische Tage‘ wie in Frankreich den „Serbischen Tag“ oder den „Tag der Kriegsanleihe“ und feierten wie in Deutschland die häufigen Siege mit patriotischen Liedern, erbaulichen Gedichten, heroischen Erzählungen und enthusiastischen Reden. 34 Eine deutsche Schülerin schrieb in ihr Tagebuch: „Jeden Tag eine Schlacht, und wir brauchen nicht mehr in die Penne.“ 35 Paramilitärische Übungen in den Sportstunden oder in Sommercamps für Jugendliche, die in Deutschland von professionellen Jugendpflegern, in Großbritannien von den Pfadfindern oder den Jugendkompanien, in Frankreich seit September 1916 von den Lehrern organisiert wurden, hatten zwar wenig militärischen Wert, sollten aber den Kriegsenthusiasmus steigern. 36
32 Demm, Agents of Propaganda (wie Anm.16), 65. 33 Ebd.64f. 34 Ebd.65f., 68; Goebel, Schools (wie Anm.6), 228ff.; Donson, Youth (wie Anm.4), 69; Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 136; Audoin-Rouzeau, Primary Schools (wie Anm.14), 42; Fava, War (wie Anm.3), 56; Marcelle Lerouge, Journal d’une adolescente dans la guerre 1914–1918. Paris 2004, 99f., 185, 321; Antonio Gibelli, Children and War (Italy), in: 1914–1918 Online (wie Anm.1), http://dx.doi.org/10.15463/ie1418.10181 (16.3.2016). 35 Jo Mihaly, ...da gibt’s ein Wiedersehn. Kriegstagebuch eines Mädchens. Freiburg im Breisgau/ Heidelberg 1982, 59. 36 Donson, Youth (wie Anm.4), 116ff., 120, 198; Michael Paris, Over the Top. The Great War and Juvenile Literature in Britain. Westport, Conn. 2004, 27; Buchner (Hrsg.), Kriegstagebuch (wie Anm.22), 47, 90; Collins, Children (wie Anm.12), 101; Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 104ff.; Colin Walker, The Scouts Defence Corps and „The Red Feather“, http://www.scoutguidehistoricalsociety.com/redfeather.htm (15.10.2015); Peureux, Propagande (wie Anm.16), 115.
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2. Der Missbrauch kindlicher Freizeit 2.1 Von Schlachten und Spielen zu Liedern und Gebeten Wie zeitgenössische Autoren berichten, waren viele Kinder zumindest in den Jahren 1914/15 vom Krieg fasziniert und genossen es, Schlachten nachzuspielen, Kriegsbücher zu lesen oder Ruinen und Kampfszenen zu malen. 37 Ein deutsches Mädchen gab dafür in ihren Erinnerungen eine überzeugende Erklärung: „Wir konnten nichts anderes als Krieg spielen, denn es gab keinen Frieden.“ 38 Die Raufereien auf den Straßen begannen mit Spielzeugpistolen und hölzernen Gewehren, arteten aber bald in blutige Kämpfe zwischen Jungengruppen aus, die mit Messern, Katapulten, Luftpistolen und explodierenden Spielzeughandgranaten aufeinander losgingen. Dies konnte zu schweren Verletzungen oder sogar zum Tod führen, wenn Kinder etwa von einstürzenden Gräben getötet wurden. 39 Obwohl solche Kriegsspiele den Kindern militärisches Verhalten beibrachten 40, muss betont werden, dass staatliche Stellen dadurch eher verschreckt wurden, so dass sie nicht auf Kriegsspielzeug und -bücher drängten. Es waren eher die Geschäftsleute, die auf Grund der allgemeinen Nachfrage solche Waren verkauften. 41 Dennoch waren zumindest in Großbritannien einige Jugendbuchautoren mit dem
37
Heike Hoffmann, „Schwarzer Peter im Weltkrieg“. Die deutsche Spielwarenindustrie 1914–1918, in:
Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Dieter Langewiesche/Hans-Peter Ullmann (Hrsg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs. Essen 1997, 323–335, 331; Aaron J. Cohen, Flowers of Evil. Mass Media, Child Psychology, and the Struggle for Russia’s Future during the First World War, in: James A. Marten (Ed.), Children at War. A Historical Anthology. New York/London 2002, 38–49, 39f.; Stéphane Audoin-Rouzeau, Die mobilisierten Kinder. Die Erziehung zum Krieg in französischen Schulen, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.), „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch...“ Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs. Essen 1993, 151–174, 160; Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 51. 38
Mihaly, ...da gibt’s ein Wiedersehn (wie Anm.35), 349.
39
Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 51; Demm, Kinder (wie Anm.2), 109; Fotos und Abbildung in
Magnus Hirschfeld/Andreas Gaspar, Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges. Hanau 1982 (erstmalig 1929), 480 Mitte und unterhalb; Buchner (Hrsg.), Kriegstagebuch (wie Anm.22), 29 (28.9.1914), 39 (19.6.15), 76; Donson, Youth (wie Anm.4), 171f.; Cohen, Flowers of Evil (wie Anm.37), 44; Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 158. 40
Donson, Youth (wie Anm.4), 170.
41
Hoffmann, „Schwarzer Peter“ (wie Anm.37), 334; Sonja Müller, Toys, Games, and Juvenile Literature in
Germany and Britain during the First World War. A Comparison, in: Heather Jones/Jennifer O’Brien/ Christoph Schmidt-Supprian (Eds.), Untold War. New Perspectives in First World War Studies. Leiden/ Boston 2008, 233–257, 253.
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Abb. 1: Child soldiers in a redeemed country, 1916. Aus: Istituto Centrale Per Il Catalogo Unico, The British Library, http://www.bl.uk/collection-items/child-soldiers-in-a-redeemed-country, Abb. gemeinfrei (22.3.2016).
Kriegspropagandabüro in Wellington House liiert, und im österreichischen Innenministerium erfand eine spezielle Abteilung Würfelspiele wie „Wer wird gewinnen“ und „Wir müssen gewinnen“. 42 Während militaristische Spiele in Deutschland und Großbritannien vor dem Krieg ziemlich selten waren – der deutsche Spielzeughersteller Otto Mayer produzierte zwischen 1900 und 1914 bei insgesamt 176 Spielen nur sieben davon, sein britischer Kollege Chad Valley zwischen 1910 und 1914 kein einziges, – herrschte ab Herbst 1914 eine rege Nachfrage. 43 In Großbritannien spielten Kinder Brettspiele wie „Trench football“, „Dash to Berlin“ oder „Can Great Britain be invaded?“, in Deutschland und Frankreich ‚strategische Spiele‘, etwa das „Victoria Kriegsspiel“ oder ein Spiel über die Fahrt durch die Dardanellen. 44 Andere Spiele wie die deut42 Ebd.253; Paris, Over the Top (wie Anm.36), 8ff.; Manfred Zollinger, Krieg der Spiele, in: Alfred Pfoser/ Andreas Weigl (Hrsg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg. Wien 2013, 430– 439, 430f. 43 Ebd.330. 44 Müller, Toys (wie Anm.41), 237ff.; Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 62ff.; Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 43ff.
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sche „Umzingelung und Niederlage der russischen Armeen“ oder das britische „New game of Jutland [Skagerrak]“ waren von bekannten Siegen inspiriert. 45 Manche dieser Spiele waren äußerst grausam und konnten zur Verrohung der Kinder beitragen: Wenn in der britischen Konstruktion eines Schützengrabens ein erfolgreicher Schuss die Flagge traf, explodierte der Graben und warf die Spielzeugsoldaten in die Luft. In einem österreichischen Spiel mit dem Namen „Tod den Russen“ sollten österreichische und deutsche Soldaten eine russische Festung erobern und die russischen Soldaten in einen Sumpf treiben. Gruppengesang war ein wichtiges Instrument der Mobilisierung. Er war dazu gedacht, das „Aufgehen des einzelnen im großen Ganzen“ zu erzielen und Hass, Disziplin und Opferbereitschaft unter dem Slogan „Wer singt, wird auch siegen“ zu verstärken. Brutale Kriegslieder wurden komponiert und traditionelle Lieder militaristisch umgeschrieben. 46 In England marschierten Kinder wie Soldaten und sangen: „This is the house that Jack built. This is the bomb that fell on the house that Jack built. This is the Hun that dropped the bomb that fell on the house that Jack built. This is the gun that killed the Hun that dropped the bomb that fell on the house that Jack built.“ 47
In Deutschland sangen Kinder „Heil dir, o Hindenburg“, gingen im Kreis herum und begleiteten das Lied mit gewalttätigen Gesten. Bei den Worten „hau ihn fest“, „schieß ihn tot“ versetzten sie einander einen Schlag; der Refrain lautete „Heil dir, o Hindenburg, schieß alle Russen tot.“ 48 In den USA sangen Kinder beim Seilhüpfen: „One, two, three. How many strokes do you need in order to kill the Kaiser? Four, five, six. And in order to bury him in China?“ 49
45
Müller, Toys (wie Anm.41), 237, 240.
46
Heinz Lemmermann, Kriegserziehung im Kaiserreich. Studien zur politischen Funktion von Schule
und Schulmusik 1890–1918. Lilienthal/Bremen 1984, 295ff., Zitate 295, 844. 47
114
Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 79 (Zitat), 134.
48
Lemmermann, Kriegserziehung (wie Anm.46), 333, 916.
49
Rückübersetzt nach Anaïs Nin, Das Kindertagebuch 1914–1919. Frankfurt am Main 1982, 279f.
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In Frankreich genossen es zahllose Erwachsene und Kinder, Lieder über deutsche Gewalttaten und französische ‚Kinderhelden‘ zu singen. 50 Kinder wurden auch dazu gebracht, für den Erfolg ihrer Soldaten zu beten und Hasstiraden gegen den Feind zu artikulieren. 51 Ein Beispiel aus Deutschland: „Hilf uns Deutschen, lieber Gott, gib uns Milch und Butterbrot. Doch der Feind im Schützengraben soll von alledem nichts haben. Mach, daß unsre Truppen siegen, daß wir wieder schulfrei kriegen.“ 52
1915 organisierten katholische Priester in Frankreich, Deutschland und Österreich ‚Kinderkreuzzüge‘, deren Teilnehmer sich in permanenten Gebeten für den Sieg ihrer jeweiligen Länder ergingen. 53 Beten wurde so, wie Berenice Zunino es ausdrückt, „zu einer patriotischen Pflicht der Kinder“. 54 2.2 Zeitschriften und Bücher Während die traditionellen Kinderzeitschriften wie „Herzblättchens Zeitvertreib“ oder „Auerbachs Kinderkalender“ in Deutschland und „Child’s Companion“ oder „Child’s Own Magazine“ in Großbritannien zögerten, die Kinder mit allzu vielen Kriegsthemen zu konfrontieren, stellten Zeitschriften in Frankreich diese sofort in den Mittelpunkt. 55 In den USA vermittelten sie bis Februar 1917 pazifistische Botschaften, doch nach der amerikanischen Kriegserklärung änderten sie abrupt die Richtung und überfluteten ihre Leser mit Kriegspropaganda, die ihnen in der Regel das CPI vorgab. 56 „Saint Nicholas“ und „The Rally“, ein Pfadfindermagazin für Mädchen, betonten die Pflichten und Opfer der Kinder, darunter das Stricken von Pul-
50 Eberhard Demm, La chanson française de la Première Guerre mondiale, in: François Genton (Ed.), La guerre en chansons. (Chroniques allemandes, Vol.10.) Grenoble 2004, 109–124, 111, 117. 51 Buchner (Hrsg.), Kriegstagebuch (wie Anm.22), 19, 31, 45; Klaus Mann, Kind dieser Zeit. Reinbek 2000 (erstmalig 1967), 68f.; Maureen Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I. Cambridge 2004, 223; Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 38ff. 52 Lemmermann, Kriegserziehung (wie Anm.46), 838 (Zitat). 53 Stéphane Audoin-Rouzeau, L’enfant héroïque en 1914–1918, in: Jean-Jacques Becker (Ed.), Guerre et Cultures 1914–1918. Paris 1994, 173–182, 175; Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 40ff.; Theodosius Briemle, Kinderkreuzzug in Deutschland und Österreich zur Erlangung von Sieg und Frieden. Paderborn 1915. 54 Zunino, La littérature illustrée (wie Anm.3), 339. 55 Demm, Kinder (wie Anm.2), 76f.; Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 52ff., 57f. 56 Ross F. Collins, This Is Your Propaganda, Kids. Building a War Myth for World War I Children, in: Journalism History 38, 2012, 13–22; Celia Kingsbury, For Home and Country. World War I Propaganda on the Home Front. Lincoln 2010, 169–217.
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lovern für die Soldaten und das Spenden von Lieblingsspielzeug an das Rote Kreuz; Theodore Roosevelt erklärte im „Child Welfare Magazine“: „Only those are fit to live who do not fear to die.“ 57 In Italien brachte der Corriere della Sera jeden Sonntag die illustrierte Kriegsbeilage „Corriere dei Piccoli“ heraus, um die ‚Kindheit‘ zu mobilisieren. Verschiedene Helden wurden den Kindern als Vorbilder präsentiert. Einer von ihnen, Tofoletto, war der Held der Heimatfront, ein armer Junge, bereit, alles für sein Vaterland zu opfern, sogar sein Leben. Die grausame Realität des Krieges wurde den Kindern erspart, aber Patriotismus und Vertrauen in den italienischen Sieg und die Festigkeit der Heimatfront sollten gestärkt werden. 58 In Russland richtete sich populäre Unterhaltung nicht nur an die Kinder, sondern auch an Millionen von Analphabeten. Zahlreiche kriegsthematische „lubki“ (Volksbilderbögen) wurden verkauft oder in einer „rayok“, einem Guckkasten mit Vergrößerungsglas und Kommentar, gezeigt. In Puppentheatern wurde Kaiser Wilhelm von Petruschka, dem russischen Kasper, zu Tode geprügelt. In Zirkusvorführungen fuhren Wilhelm, Franz Joseph und Sultan Mehmet in Schubkarren herum und wurden von tanzenden Teufeln gequält. Der Stil der „lubki“ beeinflusste auch Filme, die in einigen Fällen satirische Episoden über den deutschen Kaiser oder den türkischen Sultan präsentierten. 59 In Deutschland und Großbritannien verharmlosten Publikationen für jüngere Kinder wie Bilderbücher, Malbände und ABC-Bücher den Krieg als eine Art Prügelei oder zogen den Feind mit Techniken der Karikatur ins Lächerliche. 60 Im Vergleich dazu konfrontierten derartige Medien in Frankreich die Kinder vielfach schonungslos sowohl mit grausamen Details über vermeintliche deutsche Gewalttaten als auch mit Formen schrecklicher Rache der französischen Truppen, um fanatischen Hass bei den Kindern zu schüren – eines der Hauptziele französischer Kriegspädagogik. 61 Bilder vom Krieg zeigten selten die Monotonie der Grabenkämpfe, zogen zu
57
Collins, Children (wie Anm.12), 229ff., 237f., 267 (Zitat).
58
Loparco, I Bambini (wie Anm.3), 145, 193ff.
59
Hubertus F. Jahn, Patriotic Culture in Russia during WW I. Ithaka/London 1995, 12ff., 29ff., 143ff.,
158ff. 60
Demm, Kinder (wie Anm.2), 80ff.; Zunino, La littérature illustrée (wie Anm.3), 207ff.
61
Demm, Kinder (wie Anm.2), 79ff.; Müller, Toys (wie Anm.41), 244; Audoin-Rouzeau, La guerre des en-
fants (wie Anm.2), 80ff., 85ff.
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Beginn die Darstellung von anachronistischen Kavallerieattacken vor und präsentierten später heroische Luft- und Seeschlachten. 62 Kinderbücher wurden in der Regel von den Eltern gekauft, die sie den Kindern vorlasen und so ihrer Botschaft ebenfalls ausgesetzt waren. 63 Ein bezeichnendes Beispiel einer solchen Propaganda, die sowohl auf Kinder als auch ihre Eltern abzielte, waren die Kriegsversionen des berühmten deutschen Kinderbuchs „Struwwelpeter“. Dieser verwandelte sich in Deutschland in den „Bombenpeter“, König Peter I. von Serbien, einen Verschwörer und blutrünstigen Mörder. Alle Autoritätspersonen des Buches repräsentierten Deutschland und Österreich, während die unartigen Kinder für die bösen und minderwertigen Feindnationen standen, die natürlich den Krieg verlieren würden. 64 In Großbritannien wurde „Struwwelpeter“ zu Kaiser Wilhelm: „Look at William. Here he stands with the blood upon his hands.“ Aufschlussreich sind die Varianten der Bildergeschichten: Im Original spielt ein Mädchen mit einer Streichholzschachtel, fängt dabei Feuer und verbrennt, während zwei freundliche Katzen sie zu warnen versuchen. Im „Bombenpeter“ wird das Mädchen Marianne genannt und symbolisiert Frankreich. Die Streichholzschachtel heißt „Revanche-Ideen“, während die beiden Katzen deutsche und österreichische Helme tragen. In der britischen Version hingegen ist es der Kaiser, der mit einer Streichholzschachtel namens „Weltpolitik“ spielt, während die beiden Katzen Bismarck und Wilhelms Großvater Wilhelm I. darstellen. 65 Solange der Krieg noch populär war, ließen sich Kriegsbücher für ältere Kinder und Jugendliche recht erfolgreich verkaufen. 66 Sie priesen die Freuden des Krieges und die Leistungen der jungen Freiwilligen und bläuten den Kindern ein, es sei „etwas Schönes, auf dem Schlachtfeld gefallen zu sein“. 67 Indem sie den Krieg als großes Abenteuer darstellten, grenzten manche Geschichten ans Absurde: Ein deutscher Junge nimmt 126 Gefangene und erhält einen Orden direkt vom Kaiser. 68 Ein britischer Jugendlicher bewältigt meh-
62 Demm, Kinder (wie Anm.2), 81f.; Paris, Over the Top (wie Anm.36), 65ff.; Zunino, La littérature illustrée (wie Anm.3), 164ff. 63 Loparco, I bambini (wie Anm.3), 197. 64 Demm, Kinder (wie Anm.2), 77f. 65 Karl E. Olszewski, Der Kriegs-Struwwelpeter. München 1915; Edward V. Lucas, Swollen Headed William. London 1914. 66 Demm, Kinder (wie Anm.2), 77; Zunino, La littérature illustrée (wie Anm.3), 152ff. 67 Demm, Kinder (wie Anm.2), 82. 68 Ebd.83; siehe zudem Donson, Youth (wie Anm.4), 100.
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rere gefährliche Flüge, kämpft zusammen mit der belgischen Infanterie, nimmt an einem Kavallerieangriff und einem Seemanöver teil, wird gefangengenommen und entkommt, spürt einen Meisterspion auf und tötet ihn – all das in wenigen Monaten. 69 Zumindest einige britische und deutsche Bücher informierten über den Krieg, während französische Bücher weitgehend auf Dokumentation verzichteten. 70 Während des ganzen Krieges berichteten englische Geschichten über deutsche Spione und Saboteure, die von mutigen Jungen und Mädchen gejagt und gefangen wurden. 71 Es war typisch, alle feindlichen Ausländer als Spione oder Schlimmeres anzusehen. In der 1914 veröffentlichten Ausgabe von „The Boy’s Own Paper“ findet ein englischer Schuljunge im Urlaub in Belgien heraus, dass der Deutschlehrer an seiner Oberschule ein deutscher Spion war und Giftgas erfunden hatte. Der Junge fragt sich daher, ob „the seemingly innocent and industrious Germans scattered throughout England, were for the most part, secret service agents“. 72 In der Zeitschrift „The Girl’s Own Annual“, die sich an Frauen und Mädchen richtete, waren in den ersten Jahren Verweise auf den Krieg selten und blieben auf Appelle des Rüstungsministeriums zur Hilfe bei der Kriegsarbeit oder ähnliche Kommentare des Herausgebers begrenzt. 73 Mädchen wurden in Großbritannien ebenso wie in Deutschland und Frankreich gerne als Kriegskrankenschwestern gezeigt. In manchen englischen Büchern und französischen Liedern übernahmen sie auch eine aktivere Rolle beim Jagen von Spionen, als Fahrzeugführerinnen bei der Armee oder als Fabrikarbeiterinnen wie zum Beispiel in der berühmten Novelle „Munition Mary“ von Brenda Grivin. 74 Wie in der sonstigen alliierten Propaganda spielten ideologisch gefärbte Themen, darunter der Kampf gegen deutschen ‚Militarismus‘, ‚Kaiserismus‘ und die ‚Hunnen‘ eine gewisse Rolle, während in der deutschen Ju-
69
Paris, Over the Top (wie Anm.36), 39.
70
Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 96f.; Donson, Children (wie Anm.1).
71
Müller, Toys (wie Anm.41), 248; Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 74f.; Paris, Over the Top (wie
Anm.36), 129ff.; zwei späte Beispiele: Yaseen the Spy, in: The Boy’s Own Annual 40, 1917/18, 605–609; The Flying Claws, in: ebd.41, 1918/19, 361–364. 72
A. L. Haydon, For England and the Right. A Tale of War in Belgium, in: ebd.37, 1914/15, 258 (Zitat).
73
Zum Beispiel: Editor’s Page, in: The Girl’s Own Annual 36, 1914/15, 686; New Appeal of the Ministry
of Munitions, in: ebd.37, 1916, 703f. 74
Paris, Over the Top (wie Anm.36), 129; Müller, Toys (wie Anm.41), 247; Kennedy, Children’s War (wie
Anm.4), 76f.; Demm, Chanson française (wie Anm.50), 117; Bérénice Zunino, Children’s Literature, in: 1914– 1918 Online (wie Anm.1), http://dx.doi.org/10.15463/ie1418.10201; Zunino, La littérature illustrée (wie Anm.3), 343.
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gendliteratur Elemente der deutschen Gegenpropaganda wie etwa die ‚Ideen von 1914‘ fast völlig fehlten. 75 In der zweiten Hälfte des Krieges wurden Geschichten über die Heimatfront immer wichtiger. 76 In Deutschland war das größte Problem die unzureichende Lebensmittelversorgung, die durch die alliierte Blockade bedingt und durch die Unfähigkeit der Verwaltung, für eine gerechte Verteilung zu sorgen, verstärkt wurde. Das Sparen von Lebensmitteln und der Verzicht auf Luxusgüter wie Kekse oder andere Süßigkeiten wurden daher ausdrücklich in deutschen Jugendbüchern gelobt. 77 Als Großbritannien 1917 ebenfalls unter der deutschen Gegenblockade litt, häuften sich in den Zeitschriften Ratschläge zur Haltung kleiner Tiere oder zur Nutzung von Kartoffeln statt Mehl; sie gipfelten in der Ermahnung „How women can speed up Victory“. 78 Obwohl die Lebensmittelversorgung in Frankreich besser war, sollten die Kinder auch dort unnötige Luxusgüter meiden und mussten Plakate malen mit Aufschriften wie „Vergeude kein Brot“, „Spare Gas“ und „Spare Wein für unsere Soldaten“. 79 2.3 Pflichten, Opfer und Arbeit für das Vaterland Die Kinder waren vom Krieg tief betroffen. Da Ressourcen begrenzt waren, wurden den Kindern bestimmte Werte wie Pflichtgefühl, Verzicht und Entsagung eingeimpft. Sie sollten auf alle Annehmlichkeiten des Lebens verzichten, Geld sparen und Opfer bringen; sie wurden als Kämpfer der Heimatfront angesehen, die derselben Disziplin unterworfen waren wie die Soldaten. 80 Ein amerikanischer Slogan lautete: „Our army is at the front. We must be its soldiers behind the lines.“ 81 Eine
75 Über den ideologischen Kampf im Allgemeinen siehe Eberhard Demm, Les thèmes de la propagande allemande en 1914, in: ders., Ostpolitik und Propaganda (wie Anm.2), 11–25; in Bezug auf Kinder: AudoinRouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 70ff.; Paris, Over the Top (wie Anm.36), 27; Donson, Children (wie Anm.1); ders., Youth (wie Anm.4), 90. 76 Paris, Over the Top (wie Anm.36), 127; Zunino, La littérature illustrée (wie Anm.3), 332ff. 77 Demm, Kinder (wie Anm. 2), 84; Zunino, La littérature illustrée (wie Anm.3), 347ff. 78 The Girl’s Own Annual 38, 1917, passim, 389 (Zitat). 79 Audoin-Rouzeau, Die mobilisierten Kinder (wie Anm.37), 160; ders., La guerre des enfants (wie Anm.2), 176. 80 Ebd.18ff., 176; Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 144; Demm, Kinder (wie Anm.2), 85; Pignot, Allons enfants de la patrie (wie Anm.3), 83f.; Lemmermann, Kriegserziehung (wie Anm.46), 273ff.; Collins, Children (wie Anm.12), 175f.; Gibelli, Children and War (wie Anm.34). 81 Collins, Children (wie Anm.12), 230.
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Zeitung für französische Lehrer drückte es so aus: „An die Arbeit, Jugendliche! Oder vielmehr, zu den Waffen, denn auch Ihr seid im Kampf.“ 82 In Deutschland wurde Kindern erzählt: „Wir sind nicht auf der Welt um glücklich zu sein, sondern um unsere Pflicht zu tun.“ 83 Solch massive Indoktrinierung zugunsten von „heimischem Heroismus“, wie es Bérénice Zunino ausdrückt, bereitete sie auf zumeist unbezahlte Arbeit im Dienste des Vaterlandes vor. 84 Kinder bauten Gemüse in Parks und Schulgärten an oder züchteten dort kleine Tiere – in Großbritannien gab es 1915 genau 3129 Schulgärten mit 56 037 Kindern, die sie bewirtschafteten. 85 Sie zupften Scharpie – in Frankreich und Österreich taten dies sogar Kinder im Alter zwischen zwei und fünf Jahren –, strickten Wollwaren für Soldaten, schickten Pakete an die Front, arbeiteten auf Bauernhöfen und in Fabriken, sammelten Altpapier oder Metallschrott und passten auf Geschwister auf. 86 1917 wurde durch den Einsatz der Kinder der Ernteertrag in Frankreich um 4,7 Millionen Francs gesteigert. 87 In Großbritannien und teilweise auch in Italien bewachten sie Brücken, Küstenstriche und Telegrafenmasten, arbeiteten als Kuriere und Sanitäter in Krankenhäusern und bei Verwundetentransporten. Oft wurden sie auch dazu ermutigt, die Schule nur halbtags zu besuchen, vollständige Freistellung zu fordern oder die Schule frühzeitig im Alter von elf oder zwölf Jahren zu verlassen, um auf Bauernhöfen und in Munitionsfabriken zu arbeiten. 88 Im hungernden Deutschland und Österreich gab es weitere Aufgaben für sie: Sie mussten Lebensmittel heranschaffen, indem sie die ganze Nacht vor den Geschäften anstanden, auf Bauernhöfen bettelten oder Essen einfach irgendwo stahlen. Unter der Aufsicht ihrer Lehrer mussten Kinder Schrott, Abfall und
82
Goebel, Schools (wie Anm.6), 201 (Zitat), siehe auch Audoin-Rouzeau, Primary Schools (wie Anm.14),
390. 83
Zum Beispiel: Johanna Mostert, An den Gestaden des Friedens, in: Töchter-Album. Bd. 64. Glogau/
Berlin 1918, 93–134, 132. 84
Demm, Kinder (wie Anm.2), 85; Zunino, La littérature illustrée (wie Anm.3), 335.
85
Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 126.
86
Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 163ff.; Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 83,
113, 120f.; Demm, Kinder (wie Anm.2), 85ff.; Fava, Infanzia (wie Anm.2), 181, 192; Collins, Children (wie Anm.12), 120ff.; Goebel, Schools (wie Anm.6), 218ff.; Margarete Domonkos, Wir strickten fleißig Schals und Socken…, in: Hämmerle (Hrsg.), Kindheit (wie Anm.2), 78–84, 83; Georg Bernard, Zu Weihnachten gab es Kanonen als Kriegsspielzeug, in: ebd.242–247, 144; Kluger, Kriegslage (wie Anm.29), 110; Healy, Vienna (wie Anm.51), 75, 241ff.; Kuprian/Mazohl-Wallnig, Bambini (wie Anm.6), 105.
120
87
Peureux, Propagande (wie Anm.16), 121.
88
Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 83ff., 116, 123ff.; Gibelli, Children and War (wie Anm.34).
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Wildfrüchte sammeln: Dazu zählten Knochen, Eicheln und Bucheckern, Obstkerne zur Herstellung von Öl, schließlich sogar Brennnesseln, die als Ersatzbaumwolle für die Herstellung von Pullovern verwendet wurden. 89 Die Resultate waren recht beeindruckend: Im Jahr 1917 sammelten die Schulen der preußischen Provinz Schleswig-Holstein 37546 kg Wildfrüchte, 41380 kg Vogelbeeren, 46486 Kilogramm Hagedornfrüchte, 13658 kg Fruchtkerne, 62201 kg Eicheln und Bucheckern, 211425 kg Maronen, 30692 kg Brennnesseln, 804505 kg Blumenstängel und Stecklinge sowie 64950 kg Schrott. 90 In Frankreich hatten Kinder noch eine spezielle Aufgabe: Sie übernahmen alleine oder in Gruppen ‚Patenschaften‘ für Soldaten, verschickten Briefe und Pakete oder kümmerten sich um Heimaturlauber. 91 Die mannigfaltigste und ausgedehnteste Mobilisierung von Kindern fand allerdings in den USA statt, entsprechend dem erpresserischen Slogan „If you are willing to work and sacrifice to bring victory to her [US] in this just cause, then you are an American. If you are not, you are a traitor.“ Neben dem üblichen Sammeln, Pflanzen und Obstpflücken mussten die Kinder dort Geld verdienen, indem sie Fenster putzten, Kuchen oder andere Waren auf Basaren verkauften und nicht nur jeglichen Verdienst, sondern auch ihre geliebten Hunde und Tauben der Armee spendeten. 92
III. Kinder als Propagandisten 1. Multiplikatoren Kinder waren nicht nur Objekte, sondern auch Subjekte der Propaganda mit der Aufgabe, die patriotische Gesinnung der Öffentlichkeit im Allgemeinen und speziell die ihrer Eltern zu stärken – „didactica di guerra“ (Kriegsdidaktik), wie es die Italiener nannten. 93 Zunächst einmal dienten Kinder als Werbefiguren auf Plakaten für Sparbriefe, Kriegsanleihen oder Waisenunterstützung, in Italien sogar für Gra-
89 Donson, Youth (wie Anm.4), 95, 109ff., 123, 130ff.; Demm, Kinder (wie Anm.2), 85ff.; Healy, Vienna (wie Anm.51), 75, 241ff. 90 Klaus Saul, Jugend im Schatten des Krieges, in: MGM 34, 1983, 91–185, Nr.32, 157. 91 Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 160f. 92 Collins, Children (wie Anm.12), 47f. (Zitat), 175, 178ff., 237f. 93 Fava, Infanzia (wie Anm.2), 146, 191, 194f.; Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 125; Demm, Kinder (wie Anm.2), 88.
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naten, in Großbritannien bis zur Einführung der Wehrpflicht auch für die Rekrutierung von Soldaten. 94 So fragen auf einem berühmt-berüchtigten Plakat zwei Kinder ihren ziemlich peinlich berührten Vater: „Daddy, what did you do in the Great War?“ – Propaganda, die freilich ihre Wirkung verfehlte, da sie als Erpressung verstanden wurde. In den USA wurden Schulkinder als offizielle Vier-Minuten-Redner des CPI engagiert, um die Zuschauer in den Pausen zwischen den Filmvorstellungen zu indoktrinieren. 95 Sie marschierten außerdem mit Plakaten wie „Wake up America“ und „Dad’s at the front“ herum. 96 Bei der Mobilisierung von Kindern spielten Lehrer eine ausschlaggebende Rolle. Oftmals instruierten sie die Kinder explizit, ihre Eltern zu beeinflussen. Harmlos waren noch Hinweise, kein Essen zu vergeuden, sparsamer zu wirtschaften und Obst einzuwecken oder zu trocknen. 97 Quälender waren Kinder, die ihre Eltern wegen verschwenderischer Ausgaben tadelten und auf Sparsamkeit und Opferbereitschaft bestanden. Als eine gutsituierte deutsche Mutter in München einen teuren Hut für 25 Mark kaufen wollte, protestierte ihr Sohn heftig und machte ein solches Geschrei, dass sie es nicht wagte, das Geschäft zu betreten. 98 2. Finanzielle Propaganda Kinder wurden ermahnt, ihr Taschengeld für den Krieg zu spenden, entweder um wie in den USA Sparmarken zu kaufen, wie in Frankreich zu einer ‚Pfennigsammlung‘ beizutragen oder wie in Österreich sogar kleine Kriegsanleihen mit Bankdarlehen zu finanzieren. 99 Bedürftige Kinder, die nichts spenden oder kaufen konnten, wurden verhöhnt, von ihrem Lehrer gemaßregelt oder von Schulausflügen ausge-
94
Maurice Rickards, Posters of the First World War. London 1968, Nr.44, 47, 49, 56, 57, 60, 137–141, 143,
175, 220, 226, 227, 229; Troy R. E. Paddock, Introduction, in: ders. (Ed.), World War One and Propaganda. Leiden/Boston 2014, 1–17, 10; Gibelli, Children and War (wie Anm.34). 95
Krieg und Propaganda 14/18. Hrsg. v. Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. München 2014,
Nr.167. 96
Collins, Children (wie Anm.12), 57.
97
Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 125, 127; Peureux, Propagande (wie Anm.16), 97f.
98
Eberhard Demm, Else Jaffé-von Richthofen. Erfülltes Leben zwischen Max und Alfred Weber. (Schrif-
ten des Bundesarchivs, Bd. 74.) Düsseldorf 2014, 147f. 99
Müller, Toys (wie Anm.41), 246; Collins, Children (wie Anm.12), 236; Buchner (Hrsg.), Kriegstagebuch
(wie Anm.22), 96 (25.10.1915); Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 161ff.; Healy, Vienna (wie Anm.51), 244.
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schlossen. 100 Darüber hinaus sollten Kinder ihre Eltern, Verwandten, Nachbarn und sogar Fremde davon überzeugen, ihre Ausgaben einzuschränken und dafür Kriegssparbriefe zu kaufen, Kriegsanleihen zu zeichnen oder der Zentralbank Gold zu spenden. Bei Erfolg wurden sie mit Medaillen, besonderen Ehrenurkunden oder einem freien Schultag belohnt. 101 In einem dokumentierten Fall bedrängten deutsche Kinder ihren Vater, seine goldene Uhrkette gegen eine eiserne umzutauschen, indem sie ihren Lehrer zitierten: „Und wer eine goldene Uhrkette noch trägt, ist auch ein Vaterlandsverräter, sagt unser Herr Professor.“ In den USA gingen Kinder sogar in den Hungerstreik, um ihre weniger patriotischen, eingewanderten Eltern dazu zu zwingen, Kriegsanleihen zu kaufen. 102 In allen kriegführenden Ländern streiften Kinder mit Sammelboxen durch die Straßen, verkauften Plaketten und kleine Bilder von wohltätigen Organisationen oder trugen Plakate mit der Botschaft „Wer Kriegsanleihen zeichnet, verkürzt den Krieg“. 103 In den USA und in Deutschland wurden Kinder von ihren Lehrern mit Propagandataktiken vertraut gemacht und dann in Mietshäuser geschickt, wo sie die Bewohner dazu drängten, Kriegsanleihen zu zeichnen. Der Erfolg solcher Aktionen hing freilich von der Gegend ab. Die Kampagne einer Oberschule in einem gutbürgerlichen Viertel im Berlin des Jahres 1916 erbrachte eine Summe von 186 600 Mark, während Berufsschulen in Arbeitervierteln geringere oder gar keine Einnahmen erzielten. In den USA verkauften Kinder nicht nur Kriegsanleihen, sondern fragten widerspenstige oder kritische Menschen gezielt aus und denunzierten sie dann bei den Behörden. Bedürftige Immigranten – besonders solche deutscher und österreichischer Herkunft – liefen Gefahr, wegen Illoyalität inhaftiert zu werden. In Großbritannien waren die Lehrer zunächst nicht wirklich kooperativ und betrachteten die Kampagnen des National War Savings Committee (NWSC) als „intolerable interfe-
100 Buchner (Hrsg.), Kriegstagebuch (wie Anm.22), 121 (11.3.1916). 101 Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 125, 144; Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 160ff.; Oskar Achs, Von der Feder zum Säbel. Das Wiener Schulwesen im Ersten Weltkrieg, in: Pfoser/Weigl (Hrsg.), Epizentrum (wie Anm.42), 420–429, 424f.; Demm, Kinder (wie Anm.2), 88f.; Hämmerle (Hrsg.), Kindheit (wie Anm.2), 195; Fava, War (wie Anm.3), 62; ders., Infanzia (wie Anm.2), 187, 195; War Savings Associations in Schools, in: The London Teacher and London Schools Review 35, 1918, 242; Goebel, Schools (wie Anm.6), 215ff.; Healy, Vienna (wie Anm.51), 244; Collins, Children (wie Anm.12), 167f. 102 Buchner (Hrsg.), Kriegstagebuch (wie Anm.22), 96 (25.10.15), 162 (19.2.1917, Zitat), 171 (30.4.1917); Collins, Children (wie Anm.12), 78ff. 103 Buchner (Hrsg.), Kriegstagebuch (wie Anm.22), 133f. (10.7.1916); Franz Führen, Lehrer im Krieg. Ein Ehrenbuch deutscher Volksschullehrer. Leipzig 1936, Tafel 13; Donson, Youth (wie Anm.4), 110.
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rence in school affairs“. Ab Herbst 1917 jedoch begann die London Teachers’ Association damit, das NWSC zu unterstützen, so dass innerhalb von wenigen Monaten 400 lokale Dienststellen entstanden und die Grund- und Oberschulen Londons schließlich insgesamt 500000 Pfund aufbrachten. 104 3. Märtyrer und Helden Kinder wurden vielfach als glänzende Beispiele des Leidens und des Mutes vorgeführt. Zu Märtyrern stilisiert, erschienen sie in Geschichten und Zeichnungen als Opfer deutscher, österreichischer oder russischer Grausamkeiten 105 oder traten als Helden in Romanen, Erzählungen oder Spielfilmen auf. In der deutschen Produktion „Der zwölfjährige Kriegsheld“ (1914/15) rissen mehrere Jungen von zuhause aus, meldeten sich freiwillig oder fuhren direkt an die Front. 106 Unter dem Einfluss solcher Propaganda versuchten einige wenige Jungen, in Russland und Italien sogar Mädchen in Jungenkleidung, an die Front zu kommen. Dort störten die Ausreißer indes eher, so dass sie normalerweise, außer in Russland, zu ihren Eltern zurückgeschickt wurden. In Deutschland ließ man das Thema in der Kinderliteratur schon bald fallen, der erwähnte Film wurde von der Zensur für die Jugend verboten; vergleichbare Geschichten blieben jedoch in Großbritannien und Frankreich weiterhin präsent. 107 Häufig waren die Rekrutierungsbehörden auch großzügig und akzeptierten Kinder und Jugendliche zwischen zwölf und siebzehn Jahren. Rob Ruggenberg hat überzeugend nachgewiesen, dass im Großen Krieg alle Armeen Kindersoldaten einsetzten. 108 Einige von ihnen bekamen Orden und wurden zu Propa-
104 Goebel, Schools (wie Anm.6), 217, 215 (Zitat), 216. 105 Gibelli, Children and War (wie Anm.34); Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 85ff. 106 Demm, Kinder (wie Anm.2), 82f.; Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 111ff.; Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 72; Zunino, La littérature illustrée (wie Anm.3), 322ff.; Film: http://www.earlycinema.uni-koeln.de/films/view/25754 (16.3.2016); weiterer Titel: „Im Schützengraben“. 107 Ebd.; Dietrich Beyrau/Pawel P. Shcherbinin, Alles für die Front. Russland im Krieg 1914–1922, in: Arnd Bauerkämper/Elise Julien (Hrsg.), Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918. Göttingen 2010, 151–177, 161; Demm, Kinder (wie Anm.2), 82f., 110f.; Zunino, La littérature illustrée (wie Anm.3), 332f.; Audoin-Rouzeau, L’enfant héroïque (wie Anm.53), 173–182; ders., La guerre des enfants (wie Anm.2), 129ff., 133; Margareth R. Higonnet, At the Front, in: Jay Winter (Ed.), The Cambridge History of the First World War. Vol.3. Cambridge 2014, 121–152, 124; Stephen Graham, Russia and the World. A Study of the War and a Statement of the World-Problems that now Confront Russia and Great Britain. London 1917, 85; Gibelli, Children and War (wie Anm.34). 108 Rob Ruggenberg, They Died Young. Kid Soldiers of the Great War, http://www.greatwar.nl/frames/de-
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gandaidolen, andere starben ruhmlos. Manche brachen nervlich zusammen, rannten verzweifelt aus den Gräben und wurden dann ohne Skrupel als Deserteure erschossen. Serbien war in dieser Hinsicht ein besonderer Fall: Propagandafotos zeigen bewaffnete Kinder in improvisierten Schützengräben, und 30000 Jungen, die man als künftiges Kanonenfutter ansah, wurden gezwungen, der zurückweichenden serbischen Armee auf ihrem Weg nach Griechenland zu folgen; lediglich 7000 davon überlebten die anstrengende Reise. 109 Als im Jahr 1917 die militärischen Reserven fast erschöpft waren, stieg die Nachfrage nach jüngeren Rekruten wieder; vor allem in Großbritannien wurden Propagandageschichten über enthusiastische Freiwillige von vierzehn Jahren und ihren heroischen Tod an der Front wieder aufgewärmt. 110 Spektakulärer aber war der Kult um angeblich mehr als hundert „junge Helden“ in Frankreich. Der berühmteste Fall war der angeblich dreizehnjährige Émile Desprès, der während der deutschen Invasion einem verwundeten französischen Feldwebel Wasser gab. Dieser hatte zuvor einen deutschen Soldaten getötet, um eine Vergewaltigung zu verhindern. Als ein preußischer Offizier dem Jungen befahl, den Feldwebel zu erschießen, um sein eigenes Leben zu retten, erschoss er den Preußen und wurde schließlich seinerseits exekutiert. Die Propaganda übertrieb die Geschichte: In Wirklichkeit war Desprès, der eigentlich Victor Dujardin hieß, wie die meisten anderen „jungen Helden“ älter, in diesem Fall achtzehn Jahre. 111 Eine ähnliche Kultfigur gab es in Großbritannien. Der siebzehnjährige Jack Cornwell hatte als letztes Mitglied der Geschützmannschaft eines Kreuzers überlebt und war trotz ernsthafter Verletzungen, wenn auch passiv, auf seinem Posten geblieben. Diese ‚heroische‘ Tat wurde massiv ausgeschlachtet. Kinder sammelten im ganzen
fault-children.html (9.10.2015), Zitat. Für Beispiele aus England vgl. Sylvia Pankhurst, The Home Front. A Mirror to Life in England during the World War. London 1932, 300. 109 Ebd. Detaillierte Dokumente dazu fehlen, Hinweis von Dr. Stanislav Sretenovic am 5.2.2016 auf dem Kolloquium „L’ordre dans la guerre. Gendarmeries et polices européennes face à la Première Guerre mondiale“, Melun, Ecole des Officiers de la Gendarmerie nationale; Photo eines serbischen Jungen mit Gewehr in Hirschfeld/Gaspar, Sittengeschichte (wie Anm.39), 479 unten rechts. 110 Mikey’s Drum. A Story of the Great War, in: The Boy’s Own Annual 40, 1917/18, 540ff., 660ff. 111 Es gibt allerdings verschiedene Versionen der Geschichte, die auf eine wahre Begebenheit zurückgeht; vgl. Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 129ff., 146ff.; ders., L’enfant héroïque (wie Anm.53), 139, 173f.; John Horne/Alan Kramer, Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit. Hamburg 2004 (zuerst in Englisch 2001), 458.
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britischen Empire 18000 Pfund für den Jungen, der posthum das Victoria-Kreuz erhielt und mit Porträts, Gedenktafeln und Denkmälern geehrt wurde. 112 In Russland kämpfte der größte Schuljungenheld namens Orlov in elf Schlachten und wurde schließlich vom Zaren mit dem Orden des Heiligen Georg ausgezeichnet. 113 In Österreich wurde der Kult des „kaiserlichen Kindes“ bereits vor dem Krieg propagiert, um nationalistische Agitation zu bekämpfen. Nach der Ermordung des Thronfolgers und seiner Frau wurden ihre drei Waisenkinder die ersten offiziellen Propagandafiguren, aber bald durch den spektakulären Fall des polnischen Mädchens Rosa Zenoch ersetzt. Während einer Schlacht gegen russische Truppen hatte sie verwundeten Soldaten Wasser gegeben und war dabei selbst verletzt worden. Als ihr Bein in einem Wiener Krankenhaus amputiert werden musste, besuchten Kaiser Franz Joseph und andere Mitglieder der habsburgischen Familie das Mädchen, bezahlten ihr eine Prothese und überschütteten sie mit Geschenken. In der Propaganda wurde sie als ein Musterbeispiel für dynastischen Patriotismus präsentiert. 114 In Deutschland und Italien spielten Kinder in dieser Hinsicht eine bescheidenere Rolle. In Italien standen Kriegswaisen Spalier bei Soldatenbegräbnissen. 115 In Deutschland zirkulierten authentische Geschichten über Kinder, die Soldaten an der Front unterstützten und gelegentlich Heldentaten vollbrachten; eigenartigerweise waren all diese Kinder Ausländer und zumeist slawischer Herkunft. 116
IV. Wie erfolgreich war Propaganda bei Kindern? Alle Marketingexperten stimmen darin überein, dass Werbung nur erfolgreich sein kann, wenn die Menschen empfänglich dafür sind. Ein überzeugter Nichtraucher wird sich nicht durch Zigarettenanzeigen verführen lassen. Genauso konnte auch die Kriegspropaganda nur solche Menschen beeinflussen, die bereit waren, sie zu akzeptieren. In Großbritannien klagte ein Schulinspektor: „It is always the same
112 Goebel, Schools (wie Anm.6), 227f. 113 Graham, Russia (wie Anm.107), 85. 114 Healy, Vienna (wie Anm.51), 218ff. 115 Fava, Infanzia (wie Anm.2), 187ff.; ders., War (wie Anm.3), 62. 116 Demm, Kinder (wie Anm.2), 110f.
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people […] already won over, who form the audience.“ 117 Auch das Alter und die gesellschaftliche Klasse spielten eine Rolle. Jüngere Kinder fielen der Indoktrinierung leichter zum Opfer, weil ihre Fähigkeiten zur Kritik noch recht unterentwickelt waren. Kinder aus bürgerlichen und kleinbürgerlichen Familien folgten chauvinistischen Parolen bereitwilliger als solche, die aus Arbeiterfamilien stammten oder bäuerlicher Herkunft waren. Letztere waren der Propaganda schon deshalb weniger ausgesetzt, weil ihre Eltern in der Regel nicht das Geld hatten, um Zeitungen, Kinderbücher oder andere Artikel mit propagandistischen Botschaften zu kaufen. 118 Mit der wachsenden Verarmung der Mittelschichten ging jedoch auch deren Nachfrage zurück. 119 Selbst der Schultyp – und die politischen Ansichten der Lehrer – waren von Bedeutung. Kinder auf Oberschulen waren stärker durch Annexionspropaganda geprägt, während Volksschulkinder eher einen Verhandlungsfrieden akzeptierten. Die kleine Tochter eines Grundschuldirektors erklärte ihrem Vater im September 1917, „am Kriege sei der Kaiser schuld, er gehöre zuerst geköpft“. 120 Zudem spielte das Geschlecht eine wichtige Rolle. Mädchen waren weniger empfänglich für Propaganda als Jungen, und Lehrer klagten, wie schwer es war, sie für den Krieg zu interessieren. 121 Der wichtigste Grund für die begrenzte Wirkung von Propaganda war allerdings der Faktor der Zermürbung. In den ersten zwei Jahren des Krieges waren viele Kinder voller Enthusiasmus und daher sehr empfänglich für die propagandistische Mobilisierung. Ab 1915 ging dieses Verhalten zuerst in Gleichgültigkeit und passives Leiden und schließlich in Defätismus und Hass gegen den Krieg über. 122 Zwei Bei-
117 John Horne, Re-Mobilizing for ‚Total War‘. France and Britain, 1917–1918, in: ders. (Ed.), State (wie Anm.3), 195–211, 208. 118 Florian Altenhöner, Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlichkeit in Berlin und London 1914/1918. München 2008, 85; Adrian Gregory, A Clash of Cultures. The British Press and the Opening of the Great War, in: Troy R. E. Paddock (Ed.), A Call to Arms. Propaganda, Public Opinion and Newspapers in the Great War. Westport, Conn. 2004, 15–49, 15; Müller, Toys (wie Anm.41), 241; AudoinRouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 64. 119 Zunino, La littérature illustrée (wie Anm.3), 369. 120 Felix Höffler, Kriegserfahrungen in der Heimat. Kriegsverlauf, Kriegsschuld und Kriegsende in württembergischen Stimmungsbildern des Ersten Weltkriegs, in: Hirschfeld u.a. (Hrsg.), Kriegserfahrungen (wie Anm.37), 68–82, 74. 121 Demm, Kinder (wie Anm.2), 117f.; Donson, Youth (wie Anm.4), 191; Audoin-Rouzeau, Die mobilisierten Kinder (wie Anm.37), 169. 122 Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 177ff.; Demm, Kinder (wie Anm.2), 118ff.
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spiele aus Deutschland können dies illustrieren. Das erste stammt aus dem Tagebuch eines Mädchens, das 1914 zwölf Jahre alt war. Am 3.August 1914 notierte sie, dass ihre Schulkameraden glücklich waren wegen des Krieges gegen den Erbfeind Frankreich. Ein Jahr später schrieb sie nach einem Schulfest: „Ich war mal wieder traurig, daß ich mich nicht als Kriegsfreiwilliger melden konnte.“ Am 1.Februar 1918 aber war sie völlig desillusioniert: „Wir dürfen nicht mehr auf den Schwindel reinfallen, den uns die Alten vorgezaubert haben. Wir waren ja noch Kinder, Schüler, und alle in der Schule, der Direktor und die Lehrer voran, haben hurra geschrieen.“ 123 In dem autobiographischen Kriegsroman „Jahrgang 1902“ von Ernst Glaeser kommen die Kinder am Ende zu dem Schluss: „Der Krieg gehörte den Erwachsenen, wir liefen sehr einsam dazwischen herum. Wir glaubten an nichts, wir taten alles.“ 124 Die Behörden versuchten den Lauf der Dinge aufzuhalten, waren aber nur in einigen Ländern erfolgreich, so etwa ab Juli 1917 in Großbritannien durch die Propaganda des National War Aims Committee (NWAC) 125 und ab Januar 1918 in Italien mit der Propagandaabteilung Servicio P. 126 Das amerikanische CPI unter Georges Creel, unbestreitbar die effizienteste Propagandaorganisation des gesamten Krieges, hatte keine Probleme, das patriotische Engagement am Leben zu erhalten. 127 In Deutschland ging die Verherrlichung des Krieges als aufregendes Abenteuer in die Propagierung eines „feierlichen Ritus von Opfer und Pflicht“ über. 128 Doch selbst Ludendorffs „Vaterländischer Unterricht“ konnte die sinkende Stimmung in den Schulen nicht wieder stärken; in Frankreich schien die Verwaltung sogar aufgegeben zu haben, da die Zahl der Rundschreiben mit patriotischem Inhalt dramatisch zurückging. 129 Im Jahr 1917 kam eine französische Untersuchung über das Thema „Unsere Kinder und der Krieg“ zu dem Schluss, dass es der Erziehung langfristig nicht gelun-
123 Mihaly, ...da gibt’s ein Wiedersehn (wie Anm.35), 17, 187, 341. 124 Ernst Glaeser, Jahrgang 1902. Potsdam 1929, 294f. 125 David Monger, Patriotism and Propaganda in First World War Britain. The National War Aims Committee and Civilian Morale. Liverpool 2012, 234f. 126 Corner/Procacci, Italian Experience (wie Anm. 7), 228f.; Fava, War (wie Anm.3), 54; Pisa, Propaganda (wie Anm.7). 127 Alan Axelrod, Selling the Great War. The Making of American Propaganda. New York 2009. 128 Donson, Youth (wie Anm.4), 192 (Zitat); Demm, Kinder (wie Anm.2), 75ff., 82. 129 Donson, Youth (wie Anm.4), 177; Demm, Agents of Propaganda (wie Anm.16), 61ff.; Fava, War (wie Anm.3), 67; ders., Infanzia (wie Anm.2), 147; Audoin-Rouzeau, Die mobilisierten Kinder (wie Anm.37), 166.
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gen war, die Kinder für den Krieg zu mobilisieren. 130 In der Tat wurden in den Kinderzeitschriften Kriegsgeschichten durch klassische Abenteuererzählungen ersetzt, Kriegsaufsätze wurden in der Schule mehr und mehr zur Ausnahme, und trotz der unaufhörlichen Propagandaberichte über deutsche Grausamkeiten waren nur zwei von 1500 Kindern bereit, Gräuelbilder zu malen. 131 In Großbritannien wurden Schulstunden als „mere reproductions of newspapers headings“ 132 charakterisiert, in Deutschland warfen Pädagogen die Frage auf, „ob diese Aussprüche nicht vielleicht bloßes Nachgeplapper sind“, ja aus einigen ehrlichen Berichten von Lehrern geht hervor, daß ihre Schüler Kriegspropaganda glattweg ablehnten. 133 Als 55 Deutsche und Österreicher rückblickend über ihre Kindheit im Ersten Weltkrieg berichteten, erinnerte sich kaum einer von ihnen an Kriegsbücher oder politische Indoktrinierung. 134 Mit der „Übersättigung an allem Militärischem“ kam eine Art „pazifistischer Wende“, die die Nachfrage nach militaristischem Spielzeug und Kriegskinderbüchern stark reduzierte. 135 Am Ende des Krieges desertierte auch die Schulfront. 136 Die vorliegende Untersuchung hat ergeben, dass die Propaganda in den verschiedenen kriegführenden Staaten zwar manchmal spezielle Methoden entwickelte, aber im Großen und Ganzen recht ähnlich vorging und das gleiche Ziel hatte: das Kind zu einem willenlosen Werkzeug der Kriegsmaschine zu machen. Ein solches Kind kann idealtypisch wie folgt charakterisiert werden: Es wird durch staatliche und private Propagandisten für eine vorbehaltlose Identifizierung mit Nation und Krieg gewonnen und muss zahlreiche Aufgaben übernehmen, die für die Heimatfront von Nutzen sind. Es lässt sich bereitwillig zu Hass gegen den Feind aufstacheln und zu Konsumverzicht, unbegrenzten Opfern und unerschütterlichem Durchhalten nötigen. Von einschlägigen Büchern und Zeitschriften übernimmt es heldenhafte Vorbilder und wird durch militaristisches Spielzeug, an Gefechten orientierte 130 Siehe die Zusammenfassung in: Audoin-Rouzeau, La guerre des enfants (wie Anm.2), 61, und für eine ähnliche Untersuchung des Jahres 1916 ebd.178f. 131 Ebd.58ff., 182; ders., Die mobilisierten Kinder (wie Anm.37), 164; siehe zu Kindergemälden Manon Pignot, La guerre des crayons. Quand les petits Parisiens dessinaient la Grande Guerre. Paris 2004. 132 Kennedy, Children’s War (wie Anm.4), 136. 133 Demm, Kinder (wie Anm.2), 116ff., 118 (Zitat). 134 Hämmerle (Hrsg.), Kindheit (wie Anm.2), 211, 243, 298. 135 Müller, Toys (wie Anm.41), 241; Hoffmann, Spielwarenindustrie (wie Anm.37), 334 (Zitate); Zunino, La littérature illustrée (wie Anm.3), 364ff. 136 Hämmerle (Hrsg.), Kindheit (wie Anm.2), 299.
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Prügeleien und paramilitärische Übungen auf seine künftige Verwendung als Kanonenfutter vorbereitet. Zugunsten der ökonomischen Erfordernisse der Kriegführung übernimmt es freiwillig unbezahlte Arbeiten aller Art.Außerdem lässt es sich selbst zu propagandistischen Aktionen missbrauchen und spielt insbesondere bei der Finanzierung des Krieges durch Werbung für Goldabgaben, Geldspenden und Kauf von Kriegsanleihen eine große Rolle. Ein solches Kind hat es natürlich in der Realität nicht gegeben, es muss vielmehr als Idealtypus, als Modell des indoktrinierten Weltkriegskindes angesehen werden und stellt damit eine Parallele zu dem von mir konstruierten Idealtyp des patriotischen deutschen Schullehrers dar. 137 Wie das letzte Kapitel gezeigt hat, haben sich aber zahlreiche Kinder auf Grund ihres gesellschaftlichen Milieus, ihres Geschlechts und auch wegen der zunehmenden Zermürbung der Heimatfront seit 1917 einer solchen Prägung entziehen können.
137 Demm, Agents of Propaganda (wie Anm.16), 61–70 mit methodologischem Hinweis in Anm.2.
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„Autogramm bitte!“ Heldenverehrung unter deutschen Jugendlichen während des Zweiten Weltkrieges von Colin Gilmour
I. Einleitung Am 25.Juni 1943 schrieb Heinz Walter, ein Junge aus Würzburg einen Brief an Generaloberst Franz Halder. 1 Der Brief, der in einer krakeligen jugendlichen Handschrift verfasst und von einer Postkarte mit dem Bild des Generals begleitet wurde, war einfach mit „Berlin, W 35 Oberkommando der Wehrmacht [OKW]“ adressiert. In diesem Brief spricht Heinz dem General „herzlichste Glückwünsche“ zur Verleihung des begehrten Ritterkreuzes, der höchsten militärischen Auszeichnung des Landes, aus. Sehr schnell jedoch kommt er zum eigentlichen Zweck seines Briefes, denn er war nicht nur ein Bewunderer, sondern auch ein Bittsteller. Heinz bat den General, ihm in seiner Funktion als Ritterkreuzträger ein Bild „mit eigenhändiger Unterschrift“ zuzusenden. 2 Zwar wissen wir nicht, ob die Bitte des jungen Heinz erfüllt wurde, jedoch bewahrte Halder den Brief zusammen mit einigen ähnlichen Schriftstücken auf, und er befindet sich noch heute in seinem persönlichen Nachlass. Während des Zweiten Weltkriegs haben deutsche Jugendliche Tausende von Briefen dieser Art an prominente Wehrmachtssoldaten geschickt, vor allem an solche, die hohe Kriegsauszeichnungen wie das Ritterkreuz trugen. Es überrascht daher nicht, dass in der einschlägigen Erinnerungs- ebenso wie in der Forschungsliteratur oft auf diesen Aspekt als Folge und Begleiterscheinung militärischen Ruhms
1 Franz Halder war während des Zweiten Weltkrieges ein bereits altgedienter Offizier im deutschen Heer. Nachdem er im Jahr 1941 durch Hitler zum Generaloberst befördert worden war, spielte Halder eine Schlüsselrolle bei der Planung mehrerer wichtiger Feldzüge, darunter die Invasion der Sowjetunion im Juni desselben Jahres. Halder hatte außerdem bereits im Jahr 1939 das Ritterkreuz für seine Rolle bei der Planung des deutschen Einmarsches in Polen erhalten. 2 Bundesarchiv, Abteilung Militärarchiv (künftig: BA-MA), N 220/216. Heinz Walter an Generaloberst Franz Halder, 25.6.1943.
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10.1515/9783110469196-006
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hingewiesen wird. Gelegentlich wird erwähnt, dass Autogrammbitten an Ritterkreuzträger aus ganz Deutschland in großer Zahl eintrafen. 3 Heute sind derartige signierte Porträts nicht nur im Internet in großer Zahl verfügbar, sondern auch zu Dutzenden in den Sammlungen des Bundesarchivs zugänglich. 4 Obwohl die genannten Verweise und zahlreiche Quellenbelege darauf hindeuten, dass ‚Autogrammjägerei‘ während des Zweiten Weltkriegs eine weitverbreitete und bedenkenswerte Form der Interaktion zwischen deutschen Jugendlichen und den bekanntesten Soldaten des Landes darstellte, existieren bisher keine einschlägigen Forschungsarbeiten. Abgesehen von kleineren Hinweisen in Studien zur Geschichte des Starkults im „Dritten Reich“ hat das populäre und weitverbreitete Phänomen der Autogrammkultur keinen größeren Niederschlag in der Historiographie zur Alltagsgeschichte Deutschlands im Zweiten Weltkrieg gefunden. 5 Sofern man ‚Autogrammjägerei‘ als Teil der Erfahrungswelt von Jugendlichen begreift, könnte ein Grund hierfür darin liegen, dass sich entsprechende Erwähnungen zwar in den Erinnerungen derer, die Autogramme ausstellten, häufig finden, in Quellen aus der Hand von Jugendlichen indes nur relativ selten erscheinen. Eine in diesem Sinne wichtige Quellensammlung wurde 2013 mit den Kriegstagebüchern des jungen Münchner BDM-Mädchens Wolfhilde von König publiziert. In ihren Tagebüchern, die sie während der gesamten Kriegszeit führte, beschreibt Wolfhilde oft ihre große Bewunderung für deutsche Kriegshelden; ab 1942 bezieht sie sich immer häufiger auf ihre Aktivitäten als ‚Autogrammjägerin‘, vor allem auf ihre Briefwechsel mit prominenten Soldaten der Wehrmacht wie Erwin Rommel oder Eduard
3 Siehe z.B. Kurt Braatz, Werner Mölders. Die Biographie. Moosburg 2008, 266; Michael Hadley, Count not the Dead. The Popular Image of the German Submarine. Annapolis 1995, 80–82; Gilberto Villahermosa, Hitler’s Paratrooper. The Life and Battles of Rudolf Witzig. London 2014, 155, 159; Hans-Joachim Röll, Kapitän zur See Werner Hartmann. Würzburg 2010, 150–153; Teddy Suhren/Fritz Brustat-Naval, Ace of Aces. Memoirs of a U-Boat Rebel. Havertown 2011, 99; Colin Heaton/Anne-Marie Lewis, The Star of Africa. The Story of Hans Marseille, the Rogue Luftwaffe Ace Who Dominated the WW II Skies. London 2014, 267, 271, 289. 4 Im Bundesarchiv sind mehrere Sammlungen von signierten Autogrammpostkarten überliefert. Siehe beispielsweise BA-MA, MSG 2/7759–7764, 14273, 17077, 17192, 17194, 17195 und 17196. Eine Kurzrecherche auf Ebay zeigt, dass größere Mengen weiterer Postkarten und anderer Erinnerungsstücke an Ritterkreuzträger im Umlauf sind. Obwohl manche offenkundig erst nach dem Krieg unterschrieben wurden, werden damit durchschnittliche Preise von 10–50 US-Dollar erzielt. 5 Siehe z.B. Franz Bokel, „Great Days“ in Germany. Third Reich Celebrities as Mediators between Government and People. Diss. Phil. Austin 1995, 247.
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Dietl. 6 Wo auch immer die Ursachen für die unzureichende Forschungslage zu suchen sein mögen – es gibt gute Gründe, die Analyse der Autogrammkultur des Zweiten Weltkriegs als lohnendes historiographisches Forschungsfeld in Angriff zu nehmen. Einerseits haben Historiker seit 1945 umfangreiche Dokumentationen und Studien vorgelegt, die zeigen, in welcher Weise das nationalsozialistische Regime mit Blick auf die deutsche Jugend danach strebte, Formen des Heldenkults zu kreieren, um damit Herz und Verstand einer als stark beeinflussbar erachteten Bevölkerungsgruppe zu gewinnen. Diese Forschungsliteratur hat ihr Augenmerk in erster Linie auf die Entstehung und Verbreitung von ‚Heldenpropaganda‘ seitens des Regimes gerichtet. Obwohl bis heute keine Gesamtdarstellung hierzu vorliegt, werden Teilaspekte in Arbeiten zur Mediengeschichte oder zur Erziehung im NS-Staat wie auch in Studien zur Geschichte der Hitlerjugend behandelt. 7 In ihrer Gesamtheit haben diese Forschungen unter anderem gezeigt, wie die Verantwortlichen der NS-Propaganda und Erzieher in den 1930er-Jahren auf Bilder des ‚Heroischen‘ zu-
rückgriffen, um unter den Jugendlichen des Landes kriegerischen Geist zu erzeugen; dabei wurde sowohl auf den Kult um Heldenfiguren der Vergangenheit als auch auf die Bedeutung des Heroischen in der NS-Ideologie generell hingewiesen. 8 In ähnlicher Weise wurde dokumentiert, wie derartige Ansätze im Laufe des Zweiten Weltkriegs durch die Konzentration auf lebende Helden der Wehrmacht und auf damit verknüpfte Anstrengungen zur Rekrutierung von militärischem Nach-
6 Wolfhilde von König, Wolfhilde’s Hitler Youth Diary 1939–1946. Bloomington 2013, 110, 115, 145, 214, 230. 7 Siehe z.B. Christa Kamenetsky, Children’s Literature in Hitler’s Germany. The Cultural Policy of National Socialism. London 1984, 196–200; Hansjoachim W. Koch, The Hitler Youth. Origins and Development 1922–1945. New York 1975, 143, 150; Susan Campbell Bartoletti, Hitler Youth. Growing up in Hitler’s Shadow. New York 2005, Kap. 1 u. 2; Michael L. Kater, Hitler Youth. Cambridge, Mass. 2004, 2, 50; George L. Mosse, Nazi Culture. Intellectual, Cultural and Social Life in the Third Reich. New York 1968, 266, 287; Lisa Pine, Education in Nazi Germany. Oxford 2010, 54; Guido Knopp, Hitler’s Children. Phoenix 2002, 17, 49, dt. Ausgabe: Hitlers Kinder. München 2000. 8 Kamenetsky, Children’s Literature (wie Anm.7), 196–200, 255–258; Mosse, Nazi Culture (wie Anm.7), 266; John E. Kuykendall, „The Unknown War“. Popular War Fiction for Juveniles and the Anglo-German Conflict, 1939–1945. Diss. phil. Columbia 2002, 187–188; Rolf Seubert, „Junge Adler“. Technikfaszination und Wehrhaftmachung im nationalsozialistischen Jugendfilm, in: Bernhard Chiari/Matthias Rogg/ Wolfgang Schmid (Hrsg.), Krieg und Militär im Film des 20.Jahrhunderts. (Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 59.) München 2003, 371–400.
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wuchs vor allem in der letzten Kriegsphase ihre Fortsetzung und Erweiterung fanden. 9 Andererseits hat sich die historische Forschung sehr viel weniger damit beschäftigt, wie Jugendliche die endlosen Ströme von Propaganda aufnahmen oder wie sie sich im alltäglichen Leben mit Formen der Heldenkultur auseinandersetzten. Die Antworten, die die bisherige Forschung auf diese Fragen gibt, zielen im Großen und Ganzen auf das erhebliche Ausmaß, in dem Jugendliche die Erwartungen des Regimes erfüllten, insbesondere im Hinblick auf ihre Bereitschaft, als immer jüngere Kindersoldaten am Krieg teilzunehmen. Da dies ein erklärtes Ziel von Staatsführung und Wehrmacht war, diente der Enthusiasmus deutscher Jugendlicher gegenüber Kriegshelden als probate Ausgangsbasis für zunehmend populäre Debatten über die Erfahrungen der deutschen Jugend im Kampfeinsatz. 10 Diese allzu enge Sichtweise einer vorhersehbaren und gewissermaßen mechanisch-martialischen Reaktion auf Propaganda in den Reihen der deutschen Jugend hat Guido Knopp vielleicht am deutlichsten zusammengefasst. Er schreibt: „Solche Kindersoldaten waren ganz nach dem Geschmack der braunen Propaganda“ – Jungen und Mädchen, deren Idole „die Helden der Kriege“ waren und die „die Furcht, den Krieg zu verpassen [...] kaum zur Ruhe kommen“ ließ. 11 Kurz gesagt, haben Historiker das Sich-Einlassen deutscher Jugendlicher mit der im NS-Regime praktizierten Kultur des kriegerischen Heldentums bislang als einen eher geradlinigen und effektiven Prozess dargestellt. Während das Regime und die Wehrmacht junge Gemüter mit glamourösen Kriegshelden verführten, reagierte die Jugend des Landes in exakt der gewünschten Weise und marschierte eifrig „off to war with a sense of adventure and daring“. 12 Dieser Beitrag möchte demgegenüber zeigen, dass der Eintritt in die Wehrmacht nur ein mögliches Ventil für den durch Propaganda angeregten Drang in Richtung Heldenverehrung und kämpferischer Wettstreit war. Es existierten daneben auch 9 Kuykendall, Unknown War (wie Anm.8), 192f., 202–204; Koch, Hitler Youth (wie Anm.7), 138, 151; Petra Josting, Faschismus, in: Reiner Wild (Hrsg.), Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart 2008, 283f.; Knopp, Hitler’s Children (wie Anm.7), 165–167, 198; Michael Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik. Bd.1. München 2003, 84, 175, 204–218. 10
Siehe z.B. Hans Josef Horchem, Kinder im Krieg. Kindheit und Jugend im Dritten Reich. Berlin 2014;
Koch, Hitler Youth (wie Anm.7), Kap. 11; Gerhard Rempel, Hitler’s Children. The Hitler Youth and the SS. Chapel Hill 1989, Kap. 8 u. 9; Bartoletti, Hitler Youth (wie Anm.7), Kap. 10.
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Knopp, Hitlers Kinder (wie Anm.7), 348, 219.
12
Kater, Hitler Youth (wie Anm.7), 2.
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andere, unkriegerische Wege. Aufbauend auf der grundlegenden Studie von Eva Giloi über historische Autogrammkultur in Deutschland, geht dieser Beitrag davon aus, dass ‚Autogrammjägerei‘ ein solches Ventil darstellte – eines zudem, dessen Untersuchung neue Perspektiven auf die Art und Weise erlaubt, wie sich Jugendliche in die Heldenkultur des Zweiten Weltkriegs einfügten. Indem Jugendliche Autogramme erbaten und sammelten, kreierten sie das Bild einer lebendigen Beziehung mit Kriegshelden und demonstrierten gleichzeitig den eigenen Patriotismus. Auf der Grundlage von bislang ungenutzten archivalischen Quellenbeständen werden die folgenden Ausführungen das Anwachsen und die Folgen eines bislang kaum beachteten Phänomens verfolgen, und zwar von seinen Wurzeln in der Vorkriegszeit über den massiven Zuwachs an Popularität während der entscheidenden Jahre 1942/43 bis zum Ende der offiziellen Förderung durch das NS-Regime im Jahr 1944.
II. ‚Autogrammjägerei‘ im Kontext Um erklären zu können, wie ein individuelles Hobby eine von offizieller Seite ermunterte Tätigkeit und ein propagandistisch aufgeheiztes Medium der Heldenverehrung werden konnte, müssen wir an die Anfänge des modernen Starkults im späten 19. und frühen 20.Jahrhundert zurückgehen. In ihrer Pionierarbeit zu diesem Thema hat Eva Giloi darauf aufmerksam gemacht, dass ‚Autogrammjägerei‘ in Deutschland erstmals während der Regierungszeit Wilhelms II. zu einer beliebten Freizeitbeschäftigung wurde, als die fortschreitende Entwicklung der Massenmedien eine völlig neue und einzigartige politische Kultur entstehen ließ. Unterschriften von Mitgliedern des Hofstaates zu besitzen schuf, so gesehen, den Eindruck von „manufactured intimacy“ (konstruierter Vertrautheit) mit dem Kaiser und seinem Hof, wodurch soziale Grenzen symbolisch überwunden werden konnten. 13 Schon bald
13 Eva Giloi, So Writes the Hand that Swings the Sword. Autograph Hunting and Royal Charisma in the German Empire, 1861–1888, in: dies./Edward Berenson (Eds.), Constructing Charisma. Celebrity, Fame, and Power in Nineteenth-Century Europe. New York 2010, 51, 55; Giloi erweiterte ihre Überlegungen bis 2011 zu ihrer Studie: Monarchy, Myth and Material Culture in Germany, 1750–1950. Cambridge 2011; Martin Kohlrausch hat in seiner Arbeit in ähnlicher Weise die Bedeutung und Herausforderung durch Medien und Berühmtheit beschrieben, denen sich Wilhelm II. und die kaiserliche Familie ausgesetzt sahen: Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie. Berlin 2005, Kap. 2.
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allerdings fanden Autogrammjäger neue Ziele für ihre Anfragen, und zwar in dem Maße, in dem sich neue Typen von Berühmtheiten herauskristallisierten. So demokratisierte und militarisierte der Erste Weltkrieg das Phänomen, indem etwa die Flieger Oswald Boelcke, Max Immelmann und Manfred von Richthofen in den Status von Helden hineinwuchsen und zahlreiche Autogrammanfragen von jungen Bewunderern erhielten. 14 Alle diese Männer wurden später, nach ihrem Tod, virtuell unsterblich und waren Teil des Fundaments, auf dem die Nationalsozialisten ihren Heldenkult aufbauten. Da die Präsenz lebendiger Helden und Berühmtheiten dem Fortbestehen der Autogrammkultur förderlich war, kam es in den 1920er-Jahren zu einer Demilitarisierung des Phänomens in Deutschland. Die Aufmerksamkeit der Massenmedien und der Autogrammjäger wandte sich verstärkt Berühmtheiten aus Kunst, Technik und Sport zu. So traten etwa deutsche Flugpioniere wie Elly Beinhorn oder Rennfahrer wie ihr Ehemann Bernd Rosemeyer eine Zeitlang in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. 15 Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus, in dessen Verlauf Berühmtheit untrennbar mit dem Regime und seiner politischen Agenda verknüpft wurde, erhob die Patronage durch offizielle Stellen manche Persönlichkeiten wie die Filmdiva Kristina Söderbaum oder den Boxer Max Schmeling auf noch höhere Ebenen des Ruhms. 16 Hinzu kamen die Bestrebungen der Nationalsozialisten, Formen von
14
Richard Townshend Bickers, The First Great Air War. Toronto 1988, 109; William E. Burrows, Richthofen,
The True History of the Red Baron. New York 1969, 120f., 154; Stephanie Schüler-Springorum, Flying and Killing. Military Masculinity in German Pilot Literature, 1914–1939, in: Karen Hagemann/Stefanie SchülerSpringorum (Eds.), Home/Front. The Military, War and Gender in Twentieth-Century Germany. Oxford 2002, 208f.; Peter Fritzsche, Nation of Flyers. German Aviation and the Popular Imagination. Cambridge, Mass. 1992, 64–67. 15
Bernhard Rieger, „Fast Couples“. Technology, Gender and Modernity in Britain and Germany during
the 1930s, in: Historical Research 76, 2003, Nr.193, 364–388; Elly Beinhorn, „Mein Mann, der Rennfahrer“. Der Lebensweg Bernd Rosemeyers. Berlin 1938; Hans Joachim Schaefer, Du hast noch nicht alles versucht. Erinnerungen. Kassel 2007, 27; Bokel, Great Days (wie Anm.5), 112–118, 143, 195–198, 247. Des Weiteren gab es natürlich auch ausländische Berühmtheiten insbesondere aus den Vereinigten Staaten wie z.B. Charlie Chaplin und später Charles Lindbergh, deren Besuche in Deutschland wichtige Etappen in der Entwicklung einer deutschen Berühmtheiten-Kultur darstellten. Siehe zum Beispiel Corey Ross, Media and the Making of Modern Germany. Mass Communications, Society, and Politics from the Empire to the Third Reich. Oxford 2008, Introduction. 16
Siehe Antje Asheid, Hitler’s Heroines. Stardom & Womanhood in New Nazi Cinema. Temple Univer-
sity 2010, 42–97; Bokel, Great Days (wie Anm.5), 106–112; Michael Munn, Hitler and the Nazi Cult of Celebrity. London 2012.
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Personenkult rund um Hitler und das politische Führungspersonal des Regimes zu etablieren. Auf diese Art tauchten bald auch diese auf den Adressenlisten der jungen Autogrammjäger auf. 17 Als im Jahr 1939 der Zweite Weltkrieg begann, hatte er eine fördernde Wirkung im Hinblick auf die Remilitarisierung von Berühmtheit und die damit verbundene Autogrammkultur. Hitler selbst, verschiedene NS-Parteigrößen und prominente Künstler oder Sportler waren weiterhin beliebte Adressaten für Autogrammanfragen, jedoch gesellten sich zu diesen noch sogenannte „führende Persönlichkeiten“, wie sie in der Sprache der Nationalsozialisten genannt wurden, und Militärs, deren Namen und Gesichter in dem Maße vermehrt die Titelseiten der Zeitungen und Zeitschriften zierten oder in den Wochenschauen auftauchten, wie die Erfolge der Wehrmacht zunahmen. 18 Diese neuen militärischen Berühmtheiten waren zunächst die älteren und höheren Ränge, also Generäle und Admiräle, die Schlachten und Siege symbolisierten und verkörperten. 19 Innerhalb eines Jahres jedoch wurde klar, dass jüngere, dynamischere und tatkräftigere Männer im Begriff standen, vermehrt die Aufmerksamkeit der Nation auf sich zu ziehen; insbesondere waren es die Träger des neu eingeführten Ritterkreuzes, der höchsten Stufe des legendären Eisernen Kreuzes. 20 Bereits gegen Ende des Jahres 1940 wurde diese neue Gruppe von Kriegshelden durch das Regime aktiv in Zeitschriften, Zeitungen, Wochenschauen und mithilfe von Kunstwerken populär gemacht. Diese Aufgabe lag in den Händen des Propagan-
17 Siehe Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (künftig: BAB), R 43/4006, Autogramm-Anforderungen an Lammers, Februar 1938–Oktober 1943; BAB, R 1501/5123 und 1524, Dr. Wilhelm Frick. Autogramm- und Bildwünsche (alphabetisch nach Einsendern) 2 Bde. (1933–1942); BAB, R 43-II/908a, Anton Magloth, Kraftwagenlenker, Baden bei Wien. Autogramm von Hitler, 1939; Bokel, Great Days (wie Anm.5), 247; Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung. Stuttgart 1999. 18 Autogrammanfragen, die während der 1930er-Jahre an „führende Persönlichkeiten“ gesandt wurden, finden sich zum Beispiel in BAB, R 8077/19, Organisationskommittee der XI. Olympischen Sommerspiele. Informations- und Autogrammwünsche, 1936; BAB, R 43-II/974b, 976, 978, Bitten um Autogramme, Bilder, Geleitworte, 1933–1938; BAB, R 53/148, Stellvertreter des Reichskanzlers (Franz von Papen), Gewährung von Autogrammen, 1934; Bokel, Great Days (wie Anm.5), 116. 19 Zu Beginn des Jahres 1940 waren Wehrmachtpropaganda (WPr) und Propagandaministerium (RMVP) darum bemüht, höhere militärische Ränge über eine Kampagne anhand von Zeitungsartikeln, Wochenschauberichten und Radiobeiträgen bekannter zu machen. Siehe BA-MA RW 4 242 B F4 236, Armeegruppe A an Wehrmachtpropaganda-Abteilung, Oberst von Wedel, 29.1.1940. 20 Nr.120, 2.9.1940, in: Heinz Boberach (Hrsg.), Meldungen aus dem Reich. Bd. 5. Herrsching 1984, 1530; BA-MA RW 4/240f.3 205 OKW 1 r WFSt/WPr IId 9500/40, 17.9.1940.
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daministeriums unter Joseph Goebbels, wo man dazu mit der Wehrmachtpropaganda-Abteilung (WPr) und den neu eingerichteten Propagandakompanien zusammenarbeitete, welche geeignetes Material lieferten. 21 Die unternommenen Anstrengungen führten dazu, dass prominente Ritterkreuzträger wie z.B. der U-BootKommandant Günther Prien, der General der Gebirgstruppe Eduard Dietl oder Jagdflieger wie Werner Mölders zunehmend begeisterte Briefe von deutschen Jungen und Mädchen erhielten, die um Autogramme oder signierte Erinnerungsstücke baten. 22 Die Partei erleichterte ihrerseits aktiv solche Anfragen, indem Orts- und Kreisleitungen den jungen Autogrammjägern beim Auffinden von Postadressen der Ritterkreuzträger behilflich waren und entsprechende Bitten an Wehrmachtsstellen übermittelten. Diese Unterstützung führte allerdings schon bald zu Auseinandersetzungen mit dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW). Dort beklagte man sich im Juni 1941 gegenüber der NSDAP-Parteikanzlei, dass das mühevolle Auffinden jedes einzelnen Ritterkreuzträgers der Effektivität der Kriegführung abträglich sei, und forderte ein Ende der bisherigen Praxis. 23 Es ist kaum überraschend, dass deutsche Jugendliche sich ausgerechnet die neuesten Kriegshelden des Reiches als Zielgruppe ihrer Autogrammwünsche aussuchten. Obwohl es tatsächlich für die Zeit vor dem Krieg nur wenige Quellenhinweise gibt, die belegen würden, dass Jugendliche stärker an diesem Hobby interessiert gewesen wären als Erwachsene, muss die Verehrung der Ritterkreuzträger als Kulmination der jahrelangen intensiven Indoktrination von Jugendlichen durch das Regime verstanden werden. Seit der ‚Machtergreifung‘ von 1933 waren die Partei und ihre Propaganda darum bemüht gewesen, den jungen Leuten eine kriegerische Einstellung und Begeisterung für militärische Angelegenheiten nahezubringen. Dieses Programm der „inneren Mobilisierung“, wie es von Jutta Sywottek genannt wurde, erinnerte junge Mädchen und insbesondere Jungen an die Kriegstaten von Helden
21
Vgl. zu diesen beiden Institutionen und deren Zusammenarbeit Daniel Uziel, The Propaganda Warri-
ors. The Wehrmacht and the Consolidation of the German Home Front. New York 2008. 22
Beispiele hierfür finden sich in Braatz, Mölders (wie Anm.3), 266; Michael Hadley, Count not the Dead.
The Popular Image of the German Submarine. Annapolis 1995, 80–82; Villahermosa, Hitler’s Paratrooper (wie Anm.3), 155, 159; Röll, Werner Hartmann (wie Anm.3), 150–153; Suhren/Brustat-Naval, Ace of Aces (wie Anm.3), 99; dazu auch Ausschnitte aus dem Völkischen Beobachter (München), 11.3.1941; Der Mittag, 11.3.1941; Niedersächsische Tageszeitung (Hannover), 10.3.1941, in: BA-MA, RH 53/18 179, Nr.124–125. 23
Vertrauliche Information (V.I.) 28/247 vom 26.6.1941. „Auskunfterteilung über Ritterkreuzträger“
Verfügungen/Anordnung, Bekanntgaben. Bd. 3. Berlin 1943.
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des Ersten Weltkriegs wie Otto Weddigen oder Manfred von Richthofen. Dazu dienten unter anderem spezielle Lesehallen, die vom Reichserziehungsministerium (REM) eingerichtet wurden und Jugendlichen die Möglichkeit boten, einschlägige Bücher wie Otto Buschs „Helden der See“ (1934) oder Neuauflagen von Richthofens „Der rote Kampfflieger“ (1936) zu lesen. 24 Im Juni 1939 fügte das Regime diesem Kanon seine eigenen Kriegshelden hinzu, als die Legion Condor von ihrem Einsatz im Spanischen Bürgerkrieg nach Deutschland zurückkehrte. Neben Beschreibungen jubelnder Mengen zeigte die Presse an prominenter Stelle Bilder von braungebrannten jungen Spanienkämpfern, die Gruppen von begeisterten Jugendlichen Autogramme gaben. 25 Als sich Deutschland drei Monate später wieder im Krieg befand, griff die Propaganda auf diese Grundlagen zurück. So erzählte etwa die weitverbreitete Kinderbuchserie „Kriegsbücherei der deutschen Jugend“ Geschichten von fiktiven jungen Männern, die das Eiserne Kreuz für ihren Mut und ihren tapferen Einsatz im Kampf erhielten. 26 Für viele Jugendliche kam somit die im Jahr 1940 auftretende Heldenfigur des Ritterkreuzträgers der Personifikation von jahrelang propagandistisch verbreiteten Werten gleich – nunmehr getragen von lebenden, dynamischen Helden mit Namen und Gesichtern, dem perfekten Hybrid von Helden- und Starkult.
III. Eskalation 1942/43 Zwar hatten die frühen Irritationen zwischen OKW und Partei mögliche Nachteile jugendlicher Sammelwut aufgezeigt, doch stellten beide Seiten diesen Umstand sehr schnell zurück, als die Kriegsumstände sich gegen Deutschland wendeten. Im Frühjahr 1942 nahmen die Verluste der Wehrmacht an der Ostfront ein derartiges 24 Jutta Sywottek, Mobilmachung für den totalen Krieg. Die propagandistische Vorbereitung der deutschen Bevölkerung auf den Zweiten Weltkrieg. Opladen 1976; Koch, Hitler Youth (wie Anm.7), 142–151; Kamenetsky, Children’s Literature (wie Anm.7), 275; Josting, Faschismus (wie Anm.9), 283; Lisa Pine, Education in Nazi Germany. Oxford 2010, 54. 25 Siehe z.B. die Titelseite der Berliner Illustrirten Zeitung Nr.22 (1.Juni 1939). Zur Konstruktion des Mythos vom Spanienkämpfer: Colin Gilmour, Unmasking the Legion Condor. The Creation of Nazi Germany’s First War Heroes, in: Maria Fernanda Rollo/Ana Paula Pires/Noémia Malva (Eds.), War and Propaganda in the XXth Century. Lissabon 2013, 153–160 (eBook). 26 Kuykendall, „The Unknown War“ (wie Anm.8), 187–189; Josting, Faschismus (wie Anm.9), 276–279, 282–284; Guntram Schulze-Wegener, Das Eiserne Kreuz in der deutschen Geschichte. Graz 2012, 153.
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Ausmaß an, dass sowohl die militärische als auch die zivile Propaganda ihre Bemühungen intensivierte, um in der nächsten Generation von Rekruten neuen Enthusiasmus für den Militärdienst und den Krieg zu erzeugen. Die bereits vorhandene Begeisterung für Ritterkreuzträger bildete die Grundlage mehrerer Propagandainitiativen, die darauf angelegt waren, eine weitere Runde innerer Mobilisierung auszulösen. Die erste dieser Initiativen wurde von Hitler selbst angestoßen, der im Herbst 1941 anordnete, dass „die Taten der Träger des Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes in geeignet erscheinender Weise im Schulunterricht behandelt werden“. 27 Autoren und Verlagen wurde aufgetragen, eine Serie von Lesematerialien für die Jugend zu produzieren, welche die Namen und Taten der Wehrmachtselite thematisierte, Lehrern wurde empfohlen, sie „bei jeder sich bietenden Gelegenheit“ einzusetzen. 28 Bereits zum Ende des Jahres fanden sich die Werke in Schulbibliotheken und Klassenzimmern: Sammlungen von Kurzgeschichten wandten sich an die Zehn- bis Zwölfjährigen, ausführlichere Biographien und Autobiographien waren für die Älteren bestimmt. 29 Annähernd zur gleichen Zeit bereitete man im Propagandaministerium den Einsatz von Ritterkreuzträgern als Vortragende bei politischen Veranstaltungen vor. Bereits seit 1940 waren diese gelegentlich als ‚Frontredner‘ eingesetzt worden, ab dem Jahr 1942 organisierten OKW und Propagandaministerium gemeinsam großangelegte Tourneen, bei denen die Ritterkreuzträger entweder in Gruppen oder als Einzelreferenten in Schulen und im Rahmen von Treffen der Hitlerjugend auftraten. 30 Im Oktober und November des Jahres trugen Redner im Rahmen der Kampa27
BAB, R 4901/4375 Nr.4 Lammers an Rust, Rk.13959 A., 26.9.1941; ebenso kurz erwähnt bei Koch, Hitler
Youth (wie Anm.7), 151. 28
BAB, R 4901/4375 Nr.8. Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (RMWEV)
an das OKW, „Behandlung der Taten der Ritterkreuzträger des Eisernen Kreuzes im Unterricht“, 21.10.1941; BAB, R 4901/4375, Nr.22–23, OKH an OKW, Abt.Inland, 5.6.1942.
29
Beispiele hierfür sind Fritz von Forrell, Mölders und seine Männer. Berlin 1941; Günter Prien, Mein Weg
nach Scapa Flow. Berlin 1940, oder kürzere Geschichten, die von der RMWEV zusammengestellt wurden, wie Kurt Gloger, Ritterkreuzträger Oberst Lohmeyer, oder ders., Wir starben für Deutschland (vgl. BAB, R 4901/4375, Dok. 26.) 30
BA-MA, RH53–9/28, Militärisches Vortragswesen, 12.9.1942, und BAB, NS 18/83, 1048, 1050–1051, Red-
nereinsatz von Ritterkreuzträgern, 25.6.1943; vgl. auch Schulze-Wegener, Das Eiserne Kreuz (wie Anm.26), 153; Knopp, Hitler’s Children (wie Anm.7), 165–167, 198. Über solche Treffen wurde darüber hinaus breit in den Medien berichtet. Vgl. Völkischer Beobachter, 11.6.1942, 3 („Ritterkreuzträger lernen Hitlerjugendarbeit kennen“); ebd.8.8.1942, 2 („Ritterkreuzträger bei der Hitlerjugend!“); ebd.16.11.1942, 5 („Ritterkreuzträger spricht vor der Jugend!“).
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gne „Ritterkreuzträger des Heeres spricht zur Heimat“ in über 800 deutschen Städten vor. 31 Weitere Ritterkreuzträger wurden mit der Aufgabe betraut, in den neu eingerichteten Wehrertüchtigungslagern – also in militärischen Erziehungslagern, die die Jugendlichen auf ihren kommenden Einsatz in der Wehrmacht und der WaffenSS vorbereiten sollten – Vorträge zu halten. 32 Diese Treffen waren nicht bloß einzel-
ne Propagandaepisoden, sie repräsentierten vielmehr eine wichtige Entwicklung in der Interaktion zwischen Jugendlichen und ihren idealisierten Kriegshelden. Hier stellten sich Ritterkreuzträger nicht länger lediglich in Gestalt von Zeitschriftenporträts dar, denen man Briefe mit der Bitte um Autogrammzuschriften schicken konnte, sondern sie wurden zu Helden aus Fleisch und Blut. Damit wuchs die Bereitschaft vieler Jugendlicher, die „manufactured intimacy“ dieser imaginierten Beziehung noch intensiver auszuleben. Ein Ventil dafür bot die dritte, ebenfalls im Jahr 1942 begonnene Propagandainitiative, die nicht nur neue Möglichkeiten für persönliche Kontakte schuf, sondern das Phänomen der ‚Autogrammjägerei‘ geradezu den Charakter einer nationalen Obsession annehmen ließ: Gemeint ist die massenhafte Produktion von Propagandapostkarten mit Abbildungen der Ritterkreuzträger. Derartige Porträtpostkarten waren vom Regime schon seit Jahren als Propagandamedium eingesetzt worden. In der Regel zeigten sie Hitler selbst, doch im Jahr 1940 hatte die Wehrmacht damit begonnen, eigene Postkarten herauszugeben. 33 Die anfänglich gebotenen Abbildungen von altgedienten Generälen und Admiralen traten freilich in den Hintergrund, als sich Ritterkreuzträger in den vorderen Rängen der bewunderten Heldenfiguren etablieren konnten. Viele dieser Porträts wurden von Hitlers persönlichem Fotografen Heinrich Hoffmann aufgenommen oder von dem Maler Wolfgang Willrich gestaltet, dessen heroisch inszenierte Porträts die Grundlage für mehrere Bücher bildeten. 34 Laut Roger Moorhouse wurden die neugekürten Ritterkreuzträger jeweils
31 BA-MA, NS 18/250f.3, WPr. Lagebericht 510/42 „Innere Front“ 23.10.1942; BA-MA, RW 4/257, Auszug aus der 1. Besprechung im RMVP betr. „Rüstungspropaganda“, 5.11.1942. 32 BAB, NS 18/83, 1080–1098, Versammlungsgroßaktion „Die Front spricht zur Heimat“, 15.2.1943; BAB NS 19/283, Himmler an Jüttner und Berger, 18.11.1942, zit. nach Buddrus, Totale Erziehung (wie Anm.9), 218, dort auch Diskussion. 33 Roger Moorhouse, Berlin at War. New York 2010, 66; James Wilson, Propaganda Postcards of the Luftwaffe. Barnsley 2007, 66. 34 Wolfgang Willrich, Die Männer unserer U-Boot-Waffe. Berlin 1939; ders., Die Männer unserer Luftwaffe. Berlin 1941; ders., Des Reiches Soldaten. Berlin 1943.
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direkt im Anschluss an die Ordensübergabe aus der Hand Hitlers entweder von Hoffmann oder Willrich in deren Berliner Studios porträtiert. 35 Aufgrund des sich einstellenden Erfolgs beschloss das Oberkommando des Heeres noch 1942, die Herstellung derartiger Erinnerungsstücke erheblich zu intensivieren; wiederum sollten Ritterkreuzträger als ‚Gesichter‘ der Kampagne fungieren. Da Hoffmann und Willrich mit Hochdruck arbeiteten, um die Anforderungen zu erfüllen, konnten die fertigen Produkte bald massenhaft an Jugendorganisationen verteilt oder zum Preis von 20 Pfennig pro Stück verkauft werden. 36 Durch Schulen und örtliche Veranstaltungen weiter dazu ermuntert, die Kriegshelden des Landes zu feiern, reagierten deutsche Jugendliche denn auch in den Jahren 1942 und 1943 mit einer Flutwelle von Autogrammwünschen auf die gegebenen Anreize. 37
IV. Zuviel des Guten Die zweifellos zu konstatierende Zufriedenheit der Propagandaexperten angesichts dieser positiven Reaktionen wurde von den Empfängern der Anfragen nicht geteilt. Obwohl einige der prominenteren Ritterkreuzträger derartige Post bereits seit Jahren erhielten, entwickelte sich bei einer zunehmenden Zahl von ihnen eine immer stärker werdende Irritation über die Begleitumstände ihres Ruhmes. Sie verbrachten mehr und mehr Zeit damit, die Anfragen von begeisterten Autogrammjägern zu beantworten. Der junge Jagdflieger Hans-Joachim Marseille erhielt offenkundig regelmäßig mehrere 20-kg-Säcke voller Post von Anhängern, genauso viel wie der Rest seiner Staffel zusammen. 38 Die schiere Zahl von Briefen veranlasste einige der Adressaten, große Mengen von Porträtpostkarten zu bestellen, um einen ausreichenden Vorrat bereitzuhalten, während andere ihre Untergebenen als inoffizielle Presseoffiziere beschäftigten. 39 Zu unterschiedlichen Zeiten erfüllten beispiels-
35
Moorhouse, Berlin at War (wie Anm.33), 66f.; Wilson, Propaganda Postcards (wie Anm.33), 168; Klaus
J. Peters, Wolfgang Willrich. War Artist. Kriegszeichner. San Jose 1990, 57f. 36
Notiz, Heerespersonalamt, Annahmestelle III, Abt.B, 12.12.1942, zitiert in Peters, Wolfgang Willrich
(wie Anm.35), 56. 37
Moorhouse, Berlin at War (wie Anm.33), 66; Terence Robertson, The Golden Horseshoe. London 1955, 66.
38
Heaton/Lewis, Star of Africa (wie Anm.3), 267, 271, 289.
39
Braatz, Mölders (wie Anm.3), 270; Robertson, Horseshoe (wie Anm.37), 128; Trevor J. Constable/
Raymond F. Toliver, Fighter General. The Life of Adolf Galland. Zephyr Cove, Nev. 1990, 133; Heinz Werner
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weise zwei junge Offiziere namens Albrecht Schraepler und Heinz-Werner Schmidt diese Aufgaben für Feldmarschall Erwin Rommel in Nordafrika. Beide berichten über die ungeheure Menge an Anhängerpost – Schmidt nennt bis zu 40 Anfragen pro Tag –, die sie und ihre Helfer sortieren und bearbeiten mussten. 40 Trotz dieser zusätzlichen Hilfe empfand Rommel die ‚Autogrammjägerei‘ offensichtlich als große Unannehmlichkeit, wie aus einem Brief an seine Frau hervorgeht, in dem er über ein „Paar hundert Briefe“ berichtet, die „seit Wochen“ 41 in seinem Koffer lägen. Während prominente Generäle wie Rommel oder Eduard Dietl Untergebene als Arbeitskräfte einteilen konnten, um die Belastung zu bewältigen, verfügten die meisten Ritterkreuzträger nicht über diese Möglichkeit und hatten den Empfang und die Bearbeitung der zunehmenden Anfragenflut alleine zu bewerkstelligen. Es war ja auch nicht einfach möglich, die Briefe zu ignorieren. Obwohl nur eine relativ geringe Anzahl von Autogrammanfragen erhalten ist, erlauben die im Nachlass von Halder überlieferten Anschreiben sowohl interessante Perspektiven auf deren Inhalt und Charakter als auch auf die Wahrnehmung der Beziehung zum Empfänger durch die Verfasser. Auffällig ist, dass die jugendlichen Deutschen in diesen Briefen, die doch eigentlich Bittschreiben waren, kein Blatt vor den Mund nahmen. Von den überlieferten acht Exemplaren in Halders Unterlagen enthielt lediglich ein einziger, nämlich der von Heinz Walter, mehr als ein oder zwei beiläufige Worte des Lobes oder der Bewunderung für den General. 42 In starkem Kontrast hierzu steht die Mehrzahl der Briefe, die sich nicht mit solcherlei Schmeichelei beschäftigten, sondern kaum mehr enthielten als die Forderung nach Zusendung einer Unterschrift. Die Briefe von Heinz Voll (ebenso aus Würzburg) und Gerhard Pfondo (Freiburg) umfassten beispielsweise jeweils lediglich zwei Zeilen und baten um eine Unterschrift Halders als „Kriegsandenken“. 43 Siegmund Golunski (Gotenhafen) und Werner Hommel (Stuttgart) machten sich nicht einmal diese Mühe. Hommel schrieb Schmidt, With Rommel in the Desert. Toronto 1951, 72–74. Hinweise auf diese Praxis reichen bis in den Ersten Weltkrieg zurück, als Oswald Boelcke offenkundig einen seiner Untergebenen für vergleichbare Aufgaben einsetzte; vgl. Bickers, Air War (wie Anm.14), 109. 40 Schmidt, With Rommel (wie Anm.39), 72–74; Hans Albrecht Schraepler, At Rommel’s Side. London 2009, 104. 41 U.S. National Archives and Records Administration, T-84 T3/R74/A-M T 315 R.275, ‚Rommel Letters‘, No.16, Brief Rommels an seine Frau, 23.4.1942. 42 BA-MA, N 220/216, Heinz Walter an Generaloberst Franz Halder, 25.6.1943. 43 Ebd., Heinz Voll an Generaloberst Franz Halder, undatiert; ebd., Gerhard Pfondo an Generaloberst Franz Halder, 27.6.1943.
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beispielsweise: „Da ich schon viel von Ihnen hörte, bitte ich Sie, ein Bild mit Unterschrift mir zusenden zu lassen“, und Golunski recht ähnlich: „Habe viel von Ihren Heldentaten gehört, und bitte Sie [...] um ihre eigenhändige Unterschrift“. 44 Der Brief eines Willi Balling, der sich selbst als eifriger Sammler der Unterschriften von Ritterkreuzträgern bezeichnete, grenzt in seiner mangelnden Höflichkeit schon an eine Beleidigung. Einerseits bestand sein Brief aus einem getippten Formbrief mit Leerstellen, in die Namen und Titel der Empfänger einfach eingefügt werden konnten, während die anderen Briefe zumindest handgeschriebene Anfragen waren. Zudem bestand das Anschreiben lediglich aus folgendem Text: „Ich sammle Unterschriften von Ritterkreuzträgern und habe schon 114 davon. Da ich nun auch gerne Ihre eigene Unterschrift besässe, möchte ich Sie höflichst darum bitten, mir beiliegende Karte mit ihrer eigenhändigen Unterschrift zusenden zu wollen.“ 45 Es darf angenommen werden, dass Halder sich nicht geschmeichelt fühlte, lediglich Platz 115 auf Ballings Liste angestrebter Unterschriften einzunehmen. Allerdings hatte Balling als versierter Autogrammjäger, anders als viele andere Interessenten, dem Formbrief wenigstens ein vom General zu unterschreibendes Papier beigelegt. Die meisten Briefe gingen davon aus, dass der General das ersehnte Andenken bereitstellen solle, zusätzlich zu der Zeit, die er benötigte, um das Schreiben zu bearbeiten. Außerdem scheint den Jugendlichen bekannt gewesen zu sein, dass manche Ritterkreuzträger mittlerweile Öffentlichkeitsoffiziere einsetzten. So betonen mehrere der Anfragen ausdrücklich, dass die Unterschrift von Halder eigenhändig zu leisten sei. 46 Solche Erwartungen hatten offenkundig mit der unter Jugendlichen verbreiteten Ansicht zu tun, dass ihre Ersuchen als Teil gemeinsamer patriotischer Pflichterfüllung anzusehen seien. Einige Bittsteller, darunter Heinz Walter, Günter Lützgendorf (Naumburg) und Horst Orthmann (Herkunft unleserlich) stilisierten ihre Anfragen zum ergebenen Werk eines „deutschen Jungen“ oder „deutschen Hitlerjungen“. 47 Es erstaunt daher nicht, dass einige der Briefschreiber subtil-aggressiv darauf hinwiesen, dass Halder als Generaloberst und Kriegsheld ver-
44
Ebd., Siegmund Golunski an Generaloberst Franz Halder, 16.6.1943; ebd., Werner Hommel an Gene-
raloberst Franz Halder, 1.4.1943. 45
Ebd., Willi Balling an Generaloberst Franz Halder, undatiert.
46
Ebd., Heinz Walter an Generaloberst Franz Halder, 25.6.1943; ebd., Siegmund Golunski an General-
oberst Franz Halder, 16.6.1943. 47
Ebd., Heinz Walter an Generaloberst Franz Halder, 25.6.1943; ebd., Günter Lützgendorff an General d.
Art. Franz Halder, undatiert; ebd., Horst Orthmann an Generaloberst Franz Halder, 2.6.1943.
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pflichtet sei zu reagieren, da sie selbst sich ja viel Mühe hätten machen müssen, um ihn ausfindig zu machen. Heinz Voll etwa begann seine Anfrage mit der Aussage, dass es ihm „nach langem Suchen“ endlich gelungen sei, Halders „werte Adresse zu erhalten“. 48 In ähnlicher Weise wies Willi Balling den General darauf hin, dass er Halders Anschrift „durch eine Dienststelle“ erhalten habe – wo man offenkundig trotz der Kritik seitens des OKW im Jahr 1941 den Autogrammjägern weiterhin hilfreich beistand. Konsequenterweise nahmen denn auch Einige Anstoß daran, dass Halder auf die patriotischen Bitten gelegentlich nicht antwortete. So eröffnete Erwin Podeyn (Neustadt-Glewe), der ebenso wie E. Huntsch (Cottbus) Halder bereits zum zweiten Mal anschrieb, seine Bitte mit einer eindringlichen Mahnung: „Mit vieler Mühe gelang es mir ihre Adresse zu bekommen, aber ich bekam kein Bild von ihnen [sic].“ Aus diesem Grunde, so Erwin, erwarte er jetzt eine Antwort, zusammen mit einem vom General selbst bereitzustellenden und zu unterschreibenden Porträt. 49 Zwar stellen diese acht von Halder aufbewahrten Autogrammanfragen nur eine kleine Auswahl solcher Schriftstücke dar, doch zeigen sie in verschiedener Hinsicht, inwieweit die ‚Autogrammjägerei‘ den Charakter eines simplen Hobbies bereits überschritten hatte. Die äußere Form und der wenig formell gehaltene Duktus der meisten Briefe deuten darauf hin, dass die Autoren sich in einer engen Beziehung mit ihren Helden wähnten und diesen wiederum die moralische Verpflichtung zur raschen Erfüllung des Autogrammwunsches zuwiesen. Angesichts dieser Kombination aus Arbeitsaufwand und moralischem Druck, der auf den Ritterkreuzträgern lastete, und nach einigen Beschwerden, entschloss sich das OKW 1943 zum Eingreifen. In einer Aufforderung an die Reichsjugendführung forderte man – vergeblich – ein Verbot der gegebenen Praxis und disziplinarische Konsequenzen für jene Jugendlichen, die dagegen verstießen. 50 Schon in den folgenden Monaten war freilich zu erkennen, dass die Autogrammjäger keinesfalls die Zahl ihrer Anfragen herunterschraubten. Tatsächlich wuchs das Problem noch weiter an. Im Mai 1944 richtete daher Ritterkreuzträger Oberst Torsten Christ im Namen 48 Ebd., Heinz Voll an Generaloberst Franz Halder, undatiert. 49 Ebd., Erwin Podeyn an Generaloberst Franz Halder, 24.6.1943; ebd., E. Huntsch an Generaloberst Franz Halder, 21.6.1943. 50 Die Einzelheiten des Meinungsaustausches zwischen OKW und RJF sind in einem Memorandum an Goebbels aus dem Jahre 1944 zusammengefasst. Vgl. BAB, R 55/621 43, Leiter Dr. Schäffer an Joseph Goebbels, 24.5.1944.
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des OKW ein Memorandum an Propagandaminister Joseph Goebbels. 51 Entgegen einer ausdrücklichen Anordnung seitens der Reichsjugendführung, so Christ, sei das Autogrammproblem in einem so unglaublichen Maße angewachsen, dass manche der bekannteren Ritterkreuzträger monatlich „bis zu 10000 Autogrammwünsche“ erhielten. Solche enormen Zahlen stellten nicht nur eine unzumutbare Belastung für die Reichspost dar, sondern dokumentierten darüber hinaus, dass die Eindämmungsbemühungen des Reichsjugendführers offenkundig wenig Effekt zeigten. Christ schlug daher die Einrichtung einer Zentralstelle für Autogramme vor, der alle Ritterkreuzträger bereits signierte Fotografien (inklusive der Negative) zur Verfügung stellen und die Beantwortung von Anfragen überlassen sollten. Ungeachtet seines Vorschlags bedauerte der Oberst, dass eine solche Regelung den Nachteil „der fehlenden persönlichen Verbindung zwischen Pimpfen und Ritterkreuzträgern“ mit sich brächte. Doch, so Christ, „soll den Pimpfen damit aber auch nicht die Freude am Sammeln und an ihren Briefen genommen werden“. 52 Das Problem war klar: ‚Autogrammjägerei‘ war Teil einer Propagandastrategie geworden, die, gerade indem sie beachtliche Resultate geliefert hatte, bei weitem zu erfolgreich geworden war. Im Propagandaministerium stand man den Vorschlägen des OKW kritisch gegenüber. Ein enger Mitarbeiter Goebbels’, Dr. Immanuel Schäffer, riet dem Minister von der Einrichtung einer Zentralstelle für Autogramme ab: Zusätzlicher Verwaltungsaufwand sei durch die bereits an ihrem Limit arbeitende Reichspost nicht zu leisten und außerdem im Hinblick auf Goebbels’ baldige Ernennung zum „Generalbevollmächtigen für den Totalen Kriegseinsatz“ auch gar nicht zu vertreten. 53 Abgesehen davon würde die Einrichtung einer bequem zu erreichenden Autogrammstelle vermutlich eher zu einer weiteren Zunahme der Anfragen führen 54, zumal die Jugendlichen weiterhin einen Teil ihrer Anfragen direkt an die Ritterkreuzträger schicken
51
BAB, R 55/621, 41, Chef des Generalstabs Luftflotte 2 an Reichsminister Goebbels, 14.5.1944; ebd.42,
Notiz für Reichsbefehl „Autogrammjägerei“, undatiert. 52
Ebd.
53
Goebbels wurde im Juli 1944 zum „Generalbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz“ ernannt,
nachdem er seit seiner Rede im Berliner Sportpalast am 18.Februar 1943 für die Einrichtung einer solchen Stelle plädiert hatte. Goebbels’ Hauptanliegen war es, mehr Kräfte für den Dienst in der Wehrmacht und den Arbeitseinsatz zu mobilisieren. 54
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BAB, R 55/621, 46, Leiter Propaganda Dr. Schäffer an Oberst i. G. Christ, 30.5.1944.
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würden: Man würde eben auf Dauer nichts anderes akzeptieren als „Originalunterschriften“. 55 Goebbels folgte dem Rat aus seinem Ministerium und stimmte am 27.Mai 1944 der Umsetzung strengerer Maßnahmen zu. Die Reichsjugendführung hatte ihre zurückliegende Anweisung zu erneuern, wonach „für alle Angehörigen der HJ [...] während des Krieges das Sammeln von Autogrammen verboten“ sei, denn durch diese Praxis würden „militärische Dienststellen unnötig belastet“ und bedeutende Mengen an Papier verschwendet. 56 Zugleich wurde das OKW gebeten, Ritterkreuzträgern das Versenden von Autogrammen an Zivilpersonen zu untersagen. 57 Die Presseabteilung des Propagandaministeriums schließlich wurde in Goebbels’ Auftrag angewiesen, dafür zu sorgen, dass in der Presse keine weiteren Berichte oder Bilder über das Sammeln von Autogrammen publiziert würden. 58 Schäffer selbst zeigte sich gegenüber Oberst Christ interessiert daran, dass diese Maßnahmen wenigstens eine gewisse Wirkung zeigten, machte aber zugleich deutlich, dass es ihm ebenso wie Christ missfiel, jugendliche Verhaltensweisen zu stoppen, die er eigentlich für außerordentlich lobenswert hielt. Jedenfalls, so schloss er, werde „eine restlose Unterbindung [...] auch durch diese Maßnahmen nicht zu erreichen sein, weil immer wieder Volksgenossen, insbesondere Jungen und Mädels, sich in ihrer Begeisterung für die Helden dieses Krieges mit Wünschen an die Soldaten wenden werden, die eine hohe, sichtbare Auszeichnung des Führers tragen.“ 59
Die zu dieser ‚Autogramm-Krise‘ von 1943/44 überlieferten Quellen geben keine Auskunft darüber, in welchem Umfang die von Schäffer veranlassten Maßnahmen erfolgreich waren. In klarem Gegensatz zu den Kommentaren und Anordnungen aus dem Ministerium ließ jedoch die Jugendpropaganda in Bezug auf die Ritterkreuzträger, die diese Krise ja erst verursacht hatte, keinesfalls nach. Tatsächlich erhielten Wehrmachtstellen im ganzen Land weniger als einen Monat nach Schäffers Korrespondenz mit Christ eine Anordnung seitens des Oberkommandos des Heeres (OKH), die festlegte, dass alle Ritterkreuzträger des Landes zu fotografieren oder auf andere
55 Ebd.43, Leiter Dr. Schäffer an Joseph Goebbels, 24.5.1944. 56 Ebd.42, Notiz für Reichsbefehl „Autogrammjägerei“, undatiert. 57 Ebd.43, Leiter Dr. Schäffer an Joseph Goebbels, 24.5.1944; ebd.55, Notiz Oberstleutnant Ellenbeck, 7.9.1944. Diese Instruktionen wurden im Spätsommer in den „Mitteilungen für die Truppe“ publiziert. 58 Ebd.Dok. 43; siehe ebenso Nr.55 und 54. Entwurf an Referat Propaganda J. Herrn Dietrich. 59 BAB, R 55/621, 46, Leiter Propaganda Dr. Schäffer an Oberst i. G. Christ, 30.5.1944.
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künstlerische Weise – vorzugsweise in Farbe – abzubilden seien. Die Porträts sollten dann als Postkarten in einer Auflage von zwanzigtausend Exemplaren je Wehrkreis verteilt oder als sogenannte „Ehrenbilder“ in Schulen, Heimen der Hitlerjugend oder Parteistellen präsentiert werden. 60 Darüber hinaus erschienen weiterhin Bilder von und Geschichten über Ritterkreuzträger in jenen Druckerzeugnissen, die unter deutschen Jugendlichen beliebt und verbreitet waren, darunter die Berliner Illustrierte Zeitung sowie die OKW-Magazine „Die Wehrmacht“ oder „Der Adler“. 61 Vor dem Hintergrund dieser fortlaufenden Propagandatätigkeit und angesichts der Tatsache, dass das OKW bereits mehrmals versucht hatte, die Gewohnheit des Autogrammsammelns zu beenden oder wenigstens einzudämmen, erscheint es höchst unwahrscheinlich, dass die deutschen Jugendlichen irgendwie davon zu überzeugen gewesen wären, ihre Praxis einzustellen. Immerhin hatten sie bereits unter Beweis gestellt, dass ihre Heldenverehrung stärker war als die Furcht vor möglichen Konsequenzen. Zugleich muss fraglich bleiben, ob angesichts der gegen Kriegsende zunehmenden logistischen Probleme im Reich überhaupt noch eine nennenswerte Anzahl von Autogrammanfragen ihr Ziel erreichten.
V. Schlussfolgerungen und Leitfragen für die weitere Forschung Alles in allem eröffnet das Phänomen der ‚Autogrammjägerei‘, betrachtet von seinen Anfängen in der Vorkriegszeit bis hin zu seinem Anwachsen zu einer veritablen Verwaltungskrise, neue Perspektiven auf die Jugendkultur des Zweiten Weltkriegs und deren Zusammenspiel mit dem unter dem NS-Regime propagierten Heldenkult. Mehr als ein bloßes Hobby, symbolisierte die damit verbundene Praxis für viele deutsche Jugendliche die Chance, Heldenkultur über die Bilder von Wochenschauen und Zeitschriftenberichten hinaus mit Leben zu erfüllen und Formen der „konstruierten Vertrautheit“ mit Kriegshelden zu leben. Wie die Briefe an Halder zeigen – und über die formelhaften Beschreibungen in der historischen Forschung hinaus 60
BA-MA, RH 53–13/104, OKH/Chef H Rust u. BdE GIF/Abt Heeresnachwuchs I/44 Nr.2233/44, Heraus-
stellung der Inhaber des Ritterkreuzes in ihren Heimatgauen, 26.6.1944. 61
Berliner Illustrierte Zeitung Nr.31 v. 3.8.1944, Nr.43 v. 26.10.1944, Nr.50 v. 14.12.1944; Der Adler Nr.16
v. 1.8.1944. In ähnlicher Weise veröffentlichte die Wehrmachtpropaganda weiterhin entsprechende Geschichten. Vgl. z.B. BA-MA, N460/18, So erhielt Obergefreiter Kunert sein Ritterkreuz, 22.5.1944.
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deutlich machen –, bot ‚Autogrammjägerei‘ ein zugleich attraktives wie unkriegerisches Mittel, um Patriotismus zu bekunden und jenen Enthusiasmus auszuleben, der durch Jahre der konsequenten Heldenpropaganda seitens des NS-Regimes erzeugt worden war. Des Weiteren konnte gezeigt werden, inwieweit diese Praxis deutscher Jugendlicher eine insgesamt allzu positive Resonanz auf die propagandistischen Anstrengungen des Regimes darstellte und so deren Effektivität in Frage stellte. Aufgrund des eigenen Eifers entwickelte sich die Heimarmee der Autogrammjäger und -jägerinnen zu einer ungewollten fünften Kolonne, deren Aktivitäten die Kriegsanstrengungen des Reichs in Frage zu stellen drohten. Das Ausmaß des entstehenden Problems veranlasste Goebbels schließlich dazu, die Errichtung einer Zentralstelle für Autogramme ins Auge zu fassen. Etablierte Sichtweisen der Forschung werden hierdurch einmal mehr in Frage gestellt. Denn anders als es das Bild vom passiven Rezipiententum suggeriert, verfügten deutsche Jugendliche, die sich in die vom NSRegime gepflegte Kultur des Heroischen einbringen wollten, über mehr Möglichkeiten als das bloße Überstreifen der feldgrauen Wehrmachtsuniform. Mit der ‚Autogrammjägerei‘ besaßen sie Handlungsmöglichkeiten in Gestalt von kollektivem Eifer oder offenkundigem Ungehorsam, die höchste Führungskreise zum Eingreifen veranlassen konnten. Schließlich bleibt festzuhalten, dass die Erkundung dieses bemerkenswerten und noch kaum erforschten Aspekts jugendlicher Erfahrungswelten im Zweiten Weltkrieg weitere Forschungsarbeiten nahelegt. Zum einen waren Ritterkreuzträger nicht die einzigen Adressaten von Autogrammbitten seitens deutscher Jugendlicher während der NS-Zeit. Wie verhielt es sich also mit der virtuellen Verknüpfung von Autogrammjägern mit anderen gesellschaftlichen und politischen Gruppen im Reich wie Repräsentanten der NS-Führung, Sportlern oder Künstlern, und welche Einsichten sind daraus abzuleiten? Zum anderen war Deutschland nicht das einzige Land, wo Formen von ‚Autogrammkultur‘ einen Teil der kollektiven Kriegserfahrung ausmachten. Leider existieren hierzu kaum fundierte Arbeiten, so dass sich nach wie vor genügend Entfaltungsraum für Studien zu den transnationalen Zusammenhängen zwischen Helden- und Autogrammkultur bietet.
Die Herausgeber haben den Text vom Englischen ins Deutsche übertragen.
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Timur Sowjetische Kinder und der Krieg um das Gute von Matthias Stadelmann
I. Einleitung Im Jahre 2005 erschien im Moskauer Verlag „Respublika“ ein Buch eines gewissen Aleksandr Stepanovič Stepanov, seines Zeichens Professor an der „Internationalen Akademie für Informatisierung“ in Moskau, mit dem Titel „Triumph und Tragödie. Über die Jugend 1917–1991“. 1 Ziel des Buches sei es, „an die heroischen Heldentaten unserer Jugend zu erinnern, die in der komplizierten, schwierigen und ruhmreichen historischen Periode […] von 1917 bis 1991 vollendet wurden“. Auf über 300 Seiten wird, nicht zuletzt auf der Basis persönlichen Miterlebens, die Geschichte einer „großartigen und heroischen Generation“ gepriesen, „auf deren unsterbliche Heldentaten“ das russische Volk zu Recht stolz sei. 2 Da ist ausführlich die Rede von der „im Revolutionssturm geborenen Jugend“ 3, von der Gründung des Kommunistischen Jugendverbandes der Partei (Komsomol), vom segensreichen Wirken der jungen Kommunisten beim Aufbau des Sowjetstaates und im Kampf gegen innere und äußere Feinde, von „jungen Enthusiasten auf der Baustelle“ 4, womit nicht nur die konkrete Mitwirkung an tatsächlichen Bauprojekten, sondern viel umfassender der Aufbau des Sozialismus unter Stalins Ägide gemeint ist, sowie von der „legendären Heldentat der Jugend“ 5 im Krieg (1941–1945). Der zweite Teil des Buches setzt mit den Leistungen der sowjetischen Jugend beim Wiederaufbau nach dem Krieg ein und führt das Heldennarrativ bis in die 1980er Jahre hinein fort, bevor dann die Zeit der „Perestrojka“, unnötigerweise herbeigeredet vom nicht nur unfähigen, sondern am Ende auch verräterischen Partei-
1 Aleksandr S.Stepanov, Triumf i tragedija. O molodeži 1917–1991. Moskau 2005. Sämtliche Übersetzungen aus dem Russischen stammen vom Verfasser. 2 Ebd.15. 3 Ebd.17. 4 Ebd.87. 5 Ebd.147.
DOI
10.1515/9783110469196-007
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chef Gorbačev, die Katastrophe für Partei, Komsomol und Sowjetunion – und damit auch die sowjetische Jugend – brachte. „Die sowjetische Jugend“, so fasst der Autor die Quintessenz seines Buches zusammen, „war großartig, heldenhaft und romantisch – sie ist Blüte und Stolz unseres Volkes. Sie hat von der älteren Generation die revolutionäre Leidenschaft geerbt, die ideelle Überzeugung, die schöpferische Leidenschaft, die grenzenlose Liebe zur Heimat, den heiligen Hass gegenüber den Feinden und sie hat auf dieser Grundlage kriegerische und werktätige Heldentaten vollbracht, von einer Art, wie sie die Geschichte nicht kannte.“ Gerade in den schwierigsten Zeiten habe sie „vor der ganzen Welt eine hohe geistige Reife und eine unerschütterliche Beständigkeit im Kampf für den rechten Weg“ an den Tag gelegt. 6 Von Defiziten und Dysfunktionen, von Armut und Hunger, von grauem Alltag und Langeweile, von Hooliganismus und Kriminalität, von Alkoholismus und Drogenkonsum, von Unrecht und Willkür, von Terror und Mord – Erscheinungen, die es in unterschiedlicher Intensität in den jeweiligen Phasen der sowjetischen Geschichte unter der Jugend ebenfalls gab – ist nicht die Rede, sieht man von den bekannten Floskeln ab, dass die Zeiten auch mal schwierig gewesen seien und Fehler gelegentlich passierten. Stepanovs 2005, also vierzehn Jahre nach dem Scheitern des sowjetischen Konzepts getätigte Ausführungen, die gleichsam eine Reinkarnation einstmals verbindlich vorgegebener Sowjetnarrative über die eigene Geschichte und Gesellschaft darstellen, demonstrieren die langanhaltende Wirkungsmächtigkeit – und Attraktivität – solcher verklärenden Erzählungen voller positiver Identifikationskraft.
II. Timurovcy Stepanov redet in seinem Buch von der Jugend, nicht von den Kindern. Dies dürfte der Grund dafür sein, dass er eine ganz bestimmte Gruppe von Heranwachsenden nicht erwähnt, obwohl gerade diese sowjetischen Idealkonstruktionen junger Menschen in etlichen Aspekten entsprochen haben – die „Timurovcy“, zu Deutsch etwa „Timuristen“. Timurovcy waren – ungefähr seit Beginn des „Großen Vaterländischen Krieges“, wie der Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland (1941–
6 Ebd.364.
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1945) in Russland bis heute heißt – besonders vorbildliche Kinder in der Sowjetunion, als Schüler in der Regel Mitglieder der kommunistischen Kinderorganisation der Pioniere. Timurovcy waren nicht nur fleißig, klug und ordentlich, sondern sie zeichneten sich durch besonderes Verantwortungsgefühl und Engagement für die sowjetische Gesellschaft aus. Timurovcy waren im persönlichen Verhalten stets vorbildlich, sie bemühten sich aktiv, im Alltag der sowjetischen Gesellschaft gute Taten zu tun, die über die grundsätzlich erhobenen Forderungen, von frühester Jugend an ein einwandfreies Staatsbürgerleben zum Nutzen der sowjetischen Gemeinschaft zu führen, noch hinausgingen. Timurovcy halfen Alten, Schwachen und Invaliden, sie klaubten Müll aus der Natur, sammelten Geld für gute Zwecke, wirkten aktiv an der Einrichtung von Museen und Gedenkstätten mit oder übernahmen Aufgaben der Grabpflege, wenn es keine Angehörigen gab. In der Zeit des Krieges halfen mehr als 2 Millionen Timurovcy bei der Betreuung in Kindergärten, bei der Pflege in Krankenhäusern, beim Sockenstricken, bei der Ernte oder bei leichten Hilfsdiensten für die Armee. Timurovcy taten ihr Werk prinzipiell freiwillig, wobei in einer dauermobilisierten Gesellschaft wie der sowjetischen die Kategorie ‚Freiwilligkeit‘ auch stets in Zusammenhang mit gruppendynamischen Inklusionszwängen zu sehen ist. Selbstredend liegt die Vermutung nahe, dass staatlich-parteiliche Funktionsträger, wohl auch Lehrer, die Gründung lokaler bzw. regionaler Gruppen kindlich-freiwilliger Wohltäter nicht nur begünstigten, sondern auch mit mehr oder weniger ‚sanftem Druck‘ initiierten. Dennoch waren die Timurovcy als Organisation zunächst eher halboffiziell, sie fanden sich etwa in Schulen und Waisenhäusern zusammen. Von einer flächendeckenden, verordneten Durchdringung wie bei den Parteiorganisationen für Kinder und Jugendliche konnte lange nicht die Rede sein, erst 1973 wurde im Rahmen des Kommunistischen Jugendverbandes (Kommunističeskij sojuz molodeži, Komsomol) eine zentrale Organisationsstelle der TimurBewegung gegründet. 7
7 Eine wissenschaftliche, kritische Abhandlung zu den Timurovcy liegt bislang nicht vor, auch die wohlwollenden Beschreibungen aus sowjetischer Produktion sind spärlich: S.A. Furin/L. S. Simonova, Junym Timurovcam. Moskau 1975; S.P. Uch‘‘jankin, Pionery-timurovcy. Moskau 1961. Siehe auch die knappen Einträge bei S.A.Furin, Timurovskoe dviženie, in: Aleksandr M. Prochorov u.a. (Eds.), Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedij a. Vol.25. Moskau 1976, 558, bzw. Edward D. Sokol, Timur Movement among the Soviet Youth, in: Joseph L. Wieczynski (Ed.), The Modern Encyclopedia of Russian and Soviet History. Vol.54. Gulf Breeze 1990, 53. Im Übrigen ist auch die Literatur zur sowjetischen Jugend deutlich dünner gesät als man glauben möchte. Zwar gibt es einige sehr lesenswerte Studien gerade zu den 1920er-Jahren sowie Catriona Kellys
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Namensgeber für die Timurovcy war nicht etwa der zentralasiatische islamische Heerführer des 14.Jahrhunderts, auch nicht der chinesische Kaiser Timur Khan, der noch ein Jahrhundert zuvor lebte, sondern ein dreizehnjähriger sowjetischer Junge namens Timur Garaev, anscheinend tatarischer Herkunft, der in seinem Heimatland berühmt geworden war. Dieser Timur war ein sympathischer, meist freundlicher, wenngleich mitunter sehr entschiedener, durchaus eigenwilliger, von seinem sozialen Umfeld bisweilen verkannter Junge aus der Umgebung von Moskau. Er war der Typ, den man als Schüler einer siebten oder achten Klasse gerne zum Kameraden gehabt hätte. Was ihn wohl von den meisten russischen Knaben der beginnenden 1940er-Jahre unterschied, war zweierlei. Erstens: Er war aus eigenem Antrieb immens engagiert für diejenigen Menschen seiner überschaubaren Lebenswelt, die der Hilfe bedurften. Zweitens: Es gab ihn gar nicht, zumindest nicht in der sowjetischen Realität des Jahres 1940. Timur war der Held einer Erzählung des Schriftstellers und Publizisten Arkadij Gajdar. Obwohl diese zum ersten Mal 1940 in der Zeitung der kommunistischen Kinderorganisation der Pioniere (Pionerskaja pravda) 8 veröffent-
beeindruckende Gesamtdarstellung, doch bei umfassenden Analysen zur Jugend in der Stalinzeit oder zu den organisierten Jugendverbänden ist die Forschungslage weniger ergiebig. Catriona Kelly, Childrens’s World. Growing up in Russia, 1890–1991. New Haven 2007; Matthias Neumann, The Communist Youth League and the Transformation of the Soviet Union, 1917–1932. London 2011; Corinna Kuhr-Korolev, „Gezähmte Helden“. Die Formierung der Sowjetjugend 1917–1932. Essen 2005; dies./Stefan Plaggenborg/Monica Wellmann (Hrsg.), Sowjetjugend 1917–1941. Generation zwischen Revolution und Resignation. Essen 2001; Seth Bernstein, Class Dismissed? New Elites and Old Enemies among the „Best“ Socialist Youth in the Komsomol, 1934–41, in: Russian Review 74, 2015, 97–116; Isabel A. Tirado, Young Guard! The Communist Youth League, Petrograd 1917–1920. New York 1988; Ralph Talcott Fisher, Pattern for Soviet Youth. A Study of the Congresses of the Komsomol, 1918–1954. New York 1959; László Révész, Organisierte Jugend. Die Jugendbewegung in der Sowjetunion. Bern 1972; Merle Fainsod, Zur Geschichte des Komsomol, in: Ost-Probleme 3, 1951, 2–16 (ursprünglich in: APSR 45, 1951, Nr.1, 18–40); für den spektakulären, von der Sowjetpropaganda fiktional stilisierten, dabei vielfältig nachwirkenden Sonderfall des Pioniers Pavel Morozov, der nach offizieller Version 1932 seinen eigenen Vater den Behörden als Volksfeind gemeldet hatte und daraufhin von der Verwandtschaft ermordet worden war: Catriona Kelly, Comrade Pavlik. The Rise and Fall of a Soviet Boy Hero. London 2005; für die Nachkriegszeit: Juliane Fürst, Stalins’s Last Generation. Soviet Post-War Youth and the Emergence of Mature Socialism. Oxford 2010. 8 Die „Jungen Pioniere“ stellten die 1922, ideell grundsätzlich anknüpfend an die Pfadfinderbewegung, ins Leben gerufene Kinderorganisation der Kommunistischen Partei dar. Das Äquivalent zum Jugendverband Komsomol richtete sich an jüngere Kinder, in der Regel zwischen 10 und 14 Jahren. Die Organisation sollte die sowjetischen Kinder frühzeitig politisch bilden. Dazu dienten zunächst Kongresse und andere Veranstaltungen, auf denen vor allem den Proletarierkindern neben der verbindlichen politischen Haltung auch gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein sowie eine kultivierte, gesittete Lebensweise nähergebracht werden sollte. Daneben wurden Sport- oder Spielveranstaltungen, gemeinsame Ausflüge oder
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lichte Geschichte auch als Buch populär wurde, verdankte Timur seinen unionsweiten Ruhm jedoch noch mehr jenem Medium, welches seit etwa einem Jahrzehnt die sowjetischen Massen begeisterte – dem Kinofilm. Noch vor der Erstveröffentlichung der Erzählung hatte man im Frühling 1940 begonnen, einen Film über das Sujet zu drehen, der am 31.Dezember 1940 in die Kinos kam. 9
III. Arkadij Gajdar Es kann in diesem Rahmen nicht näher auf den Schöpfer Timurs, Arkadij Petrovič Gajdar, eingegangen werden, dessen abenteuerliche, widersprüchliche Biographie und ambivalenter Charakter reichhaltiges Material für Geschichte(n) und Analysen
andere Zerstreuungsmaßnahmen geboten. Zunehmend wandelten sich die Pioniere von einer revolutionären jugendlichen ‚Stoßtruppe‘ zu einer Massenorganisation, in welcher die Mitgliedschaft für sowjetische Schüler zur Regel wurde. Bei einer feierlichen, von einem Eid auf die Arbeiterklasse und Lenin, später auch Stalin (bis 1954) und die Kommunistische Partei beschworenen Aufnahmezeremonie in einem „Pionierpalast“ (entweder neu erbaut oder in einem repräsentativen Gebäude der Stadt untergebracht) wurden die Kinder mit den unerlässlichen symbolischen Attributen eines Pioniers ausgestattet – dem roten Halstuch und der Pionieruniform. Seit dem bewussten Ausbau der Freizeitkultur für die sowjetische Bevölkerung von den 1930er-Jahren an wurde die Pionierorganisation auch auf diesem Gebiet immer aktiver, von gemeinsamen Theaterbesuchen bis zum gemeinsam begangenen Neujahrsfest. Pionierlager wurden im Laufe der Jahrzehnte zu wichtigsten Orten schülerischer Sommerferien, in denen Sport, Freizeit und wohldosierte politische Bildung sich zu disziplinierten, doch für sowjetische Lebenswelten attraktiven Programmen vereinigten, wobei es ganz unterschiedliche Lagertypen gab, von Sportlagern über Sanatoriumslager bis hin zu Kolchozenlagern und reinen Urlaubslagern an Seen oder Meeren. Flaggschiff der Pionierpresse war die wöchentlich erscheinende, in ihren Inhalten auf die sowjetische Jugend abgestimmte, dabei stark polit-pädagogisch geprägte Zeitung „Pionerskaja pravda“. Für die Pioniere ist die Forschungssituation noch schlechter als die zur sowjetischen Jugend im Allgemeinen. Eine grundlegende Studie fehlt, in den genannten Darstellungen zur Jugend in der Sowjetunion spielen die Pioniere bestenfalls eine marginale Rolle. Am weitesten führt auch hier Kelly, Children’s World (wie Anm.7), 547ff. sowie passim; zu den 1920er-Jahren auch: Peter Kenez, The Birth of the Propaganda State. Soviet Methods of Mass Mobilization, 1917–1929. Cambridge 1985, 190ff.; Kuhr-Korolev, „Gezähmte Helden“ (wie Anm.7), 56ff. 9 Die Inhalte von Film und Erzählung liegen nahe beieinander, wobei die Verfilmung, wie in diesem Genre üblich und notwendig, zu etlichen Verknappungen gezwungen ist und einige Details abändert, die jedoch der inhaltlichen Substanz keine andere Richtung geben. Im Folgenden nimmt dieser Beitrag stets auf den Film Bezug. Zu Aspekten des Vergleichs beider Versionen siehe Stephen Hutchings, Ada/opting the Son. War and the Authentication of Power in Soviet Screen Versions of Children’s Literature, in: ders. (Ed.), Russian and Soviet Film Adaptations of Literature, 1900–2001. London 2005, 59–72.
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böten. 10 Gesagt sei an dieser Stelle nur, dass der 1904 in Zentralrussland geborene Gajdar als Teenager zum Anhänger der Bol’ševiki wurde, 1918 der Partei beitrat und sich im folgenden Jahr für die Rote Armee meldete, wobei er wohl sein wahres, viel zu jugendliches Alter verschwieg. Während des Bürgerkrieges kämpfte Gajdar an verschiedenen Fronten, dazwischen erhielt er in Moskau militärische Ausbildungen, seit 1920 auch zur Vorbereitung auf einen Kommandeursposten. Ab 1921 war Gajdar als Bataillonskommandeur an der Niederschlagung von antibolschewistischen Aufständen im Süden Russlands und in Sibirien beteiligt, wo er nicht nur durch Skrupellosigkeit auffiel, sondern sich auch bei der Initiierung ‚kurzer Prozesse‘ dem Vorwurf der Willkür und des Amtsmissbrauchs aussetzte, weshalb man ihn 1922 aus dem (Front-)Verkehr zog und bald darauf wegen „traumatischer Neurosen“ aus dem Militärdienst entließ. Von 1925 an arbeitete Gajdar als Journalist und Publizist, seit dieser Zeit begann er auch im literarischen Sinne schriftstellerisch tätig zu werden. Dabei wurde Gajdar vor allem durch Literatur für Kinder und Jugendliche bekannt. Den Werken des überzeugten Parteimitglieds und Bürgerkriegskämpfers eignete eine aktiv bejahende Haltung gegenüber dem sowjetischen System und seinen propagierten Werten. Doch auch wenn die Werke stets ideologische Inhalte transportieren sollten, handelte es sich nicht um dröge parteiliche Erziehungsliteratur, sondern um ansprechende Storys, deren Spannung es keinen Abbruch tat, dass Handlungen und Protagonisten leicht in politisches Fahrwasser einzuordnen waren. 11
IV. Die Geschichte von Timur Nicht anders verhält es sich bei „Timur und seine Truppe“, Gajdars mit Abstand populärstem Werk. 12 Die Geschichte spielt im Krieg. Freilich ist dieser Krieg ebenso 10
Der eigentliche Familienname war Golikov, „Gajdar“ ist ein Pseudonym, dessen Ursprünge wohl auf
die frühen 1920er-Jahre zurückgehen, in denen Golikov in Chakassien, einer mehrheitlich vom Turkvolk der Chakassen bewohnten Region in Südsibirien, als Militärkommandeur tätig war. „Chajdar“ heißt in der chakassischen Sprache „wohin?“, eine Frage, die der junge Golikov den Einheimischen oft gestellt haben soll. Andere Erklärungsmöglichkeiten liegen ebenfalls vor, vom ukrainischen Wort für einen Schafhirten bis hin zu einem Akronym. 11
Zu Gajdars Leben und Werk siehe etwa Boris N. Kamov, Obyknovennaja biografija. Arkadij Gajdar.
Moskau 1971; Vera V. Smirnova, Arkadij Gajdar. Očerk žizni i tvorčestva. Moskau 1972; Nina N. Orlova, Arkadij Gajdar. Očerk tvorčestva. Moskau 1974. 12
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Ursprünglich trug der Held in Gajdars Erzählung den Namen „Dunkan“. Den sowjetischen Behörden
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erfunden wie Timur. Die Kinobesucher erfuhren nicht, um welchen fiktiven Krieg es sich handelte, die Rede war nicht einmal von „Krieg“, sondern nur von der „Front“, an der sich Oberst Aleksandrov, der Vater zweier Protagonistinnen des Films, aufhielt. Die Handlung findet, daran besteht kein Zweifel, in der Entstehungszeit der Geschichte, also um 1939/40 statt. 13 Ein Krieg war für die sowjetische Bevölkerung grundsätzlich keine allzu fern liegende Vorstellung: Zum einen herrschte zu dieser Zeit in Europa bereits Krieg, in den die Sowjetunion dank des 1939 abgeschlossenen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes freilich nur peripher involviert war, etwa indem man sich im Verbund mit dem nationalsozialistischen Deutschland an der Zerschlagung des polnischen Staates beteiligte und die „ostpolnischen“ Gebiete der Sowjetunion bzw. den ukrainischen und weißrussischen Unionsrepubliken angliederte. 14 Zum anderen hatte man bereits das schmerzhafte Intermezzo des „Winterkrieges“ mit Finnland hinter sich, dessen Ausgang zwar die sowjetischen Gebietsforderungen in Karelien realisierte, freilich um den Preis überraschend hoher Verluste auf beiden Seiten. Zum dritten war die sowjetische Bevölkerung bereits seit dem knapp zwanzig Jahre zurückliegenden Bürgerkrieg mit einer fast permanenten Mi-
kam dies jedoch schottisch vor, insbesondere bei einem sowjetischen patriotischen Pionier, weshalb man dem Autor empfahl, einen anderen Namen zu wählen. Siehe Kamov, Obyknovennaja biografija (wie Anm.11), 325. Ob, wie von Vladimir A. Razumnyj behauptet, die Konstellation des Bündnisses mit dem nationalsozialistischen Deutschland 1940 einen britischen Namen unmöglich machte, sei hier dahingestellt. Gajdar wählte jedenfalls „Timur“, wobei wir keine belastbare Kenntnis haben, ob er selbst sich für den Namen seines eigenen Sohnes (Timur A. Gajdar) entschied oder ob ihm die offiziellen Stellen den Namen zu Ehren von Timur Michajlovič Frunze nahelegten, des Sohnes von Michail V. Frunze, des im Jahr 1925 früh verstorbenen „Vorsitzenden des Revolutionären Kriegsrates der UdSSR“, d.h. des Oberbefehlshabers der Roten Armee. Timur Frunze war nach dem Tod seines Vaters von dessen Nachfolger im Amt, Kliment E. Vorošilov, adoptiert worden. Vorošilov war in der Zeit vor Ausbruch des Krieges eine der neben Stalin präsentesten Figuren der sowjetischen Politik. Vgl. zur Namensfrage Kelly, Comrade Pavlik (wie Anm.7), 179; Mariėtta Čudakova, Doč‘ komandira i kapitanskaja doč‘. K 100-letiju so dnja roždenija Arkadija Gajdara, in: Russkij žurnal, http://old.russ.ru/culture/literature/20040122_mch.html, publiziert 22.Januar 2004 (31.10.2015); Vladimir Razumnyj, Arkadij Gajdar, auf: http://www.razumny.ru/gaidar (31.10.2015). 13 Es macht wenig Sinn, den finnisch-sowjetischen Krieg als konkreten Handlungsrahmen für Timurs Geschichte zu veranschlagen, da dieser Krieg von November 1939 bis März 1940 dauerte und somit keinen realistischen Hintergrund für die im Sommer angesetzte Handlung bietet. 14 Jan T.Gross, Revolution from Abroad. The Soviet Conquest of Poland’s Western Ukraine and Western Belorussia. Princeton 2001; Keith Sword (Ed.), The Soviet Takeover of the Polish Eastern Provinces, 1939–41. New York 1991; O. V. Petrovskaja, Zapadnaja Belorussija i Zapadnaja Ukraina v 1939–1941 gg. Ljudi, sobytija, dokumenty. St. Petersburg 2011; Vladimir Makarčuk, Gosudarstvenno-territorialnyj status zapadnoukrainskich zemel’ v period Vtoroj mirovoj vojny: istoriko-pravovoe issledovanie. Moskau 2010.
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litarisierung der öffentlichen Sphäre konfrontiert. Dies hatte nicht nur damit zu tun, dass man in der Parteiführung glaubte, die Herausforderungen des sozialistischen Aufbaus mit militärischer Disziplin besser bewältigen zu können. 15 Angesichts der „kapitalistischen Einkreisung“ erschienen der sowjetischen Führung auch erhöhte Wachsamkeit und ständige militärische Einsatzbereitschaft zum Schutz der „Heimat der Werktätigen“ gegen jederzeit mögliche Angriffe angezeigt. So war der fiktionale Krieg in Gajdars „Timur“ für die sowjetische Bevölkerung im Jahr 1940 keineswegs eine weit entfernt liegende, sondern eine durchaus realitätsnahe, von Politik und Presse zudem immer wieder beschworene Vorstellung. Oberst Aleksandrov ist also an der Front, seine beiden in Moskau lebenden Töchter Ol’ga (18 Jahre) und Ženja (13 Jahre) verlassen zu Beginn des Films die Stadtwohnung in Richtung der Familiendatscha auf dem Land. Der Sommer hat bereits seinen Zenit überschritten, die reiche Apfelernte in den Gärten der alten Holzhäuschen kündet vom nahenden September, doch es ist noch warm, das Leben ist leicht, viel leichter als im schon Ende Oktober beginnenden russischen Winter, und es sind noch Ferien, weshalb nicht nur die beiden Kommandeurstöchter aufs Land reisen können, sondern sich dort auch ganze Scharen von Kindern aufhalten. Es herrscht eine heitere, gelassen-sanfte Stimmung in der Sommerhaussiedlung – die Front scheint weit weg zu sein. Doch auch in die ländliche Idylle spielt der Krieg hinein, etwa dadurch, dass in etlichen Häusern ‚der Mann‘ fehlt. Dieser Umstand hat zur Folge, dass verschiedene Arbeiten in Haus und Garten nur unzulänglich erfüllt werden können und, schlimmer noch, dass stattdessen Ganoven und Taugenichtse sich berufen fühlen können, Hand anzulegen, freilich in ihrem ganz eigenen Sinn. Hier schlägt nun die Stunde von „Timur und seine[r] Truppe“, so der vollständige Titel von Film und Erzählung. 16 Timur, der unumstrittene Anführer seiner aus
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Eine grundlegende Analyse der gesellschaftlichen Militarisierung der sowjetischen Gesellschaft zwi-
schen Bürgerkrieg und Zweitem Weltkrieg liegt noch nicht vor. Vgl. einstweilen Martin Malia, Vollstreckter Wahn. Rußland 1917–1991. Stuttgart 1994, 224ff., sowie als Fallstudie: Viktor I. Isaev, Die Militarisierung der Jugend und jugendlicher Radikalismus in Sibirien (1920er- – Anfang der 1930er-Jahre), in: KuhrKorolev u.a. (Hrsg.), Sowjetjugend 1917–1941 (wie Anm.7), 149–167. 16
Die Erzählung „Timur i ego komanda“ wurde erstmals im September 1940 veröffentlicht und seitdem
in zahllosen Ausgaben wiederaufgelegt, etwa im sowjetischen „Kinderliteraturverlag“: Arkadij Gajdar, Timur i ego komanda. Moskau 1965. Auf Deutsch zuletzt erschienen als Arkadi Gaidar, Timur und sein Trupp. 2.Aufl. Leipzig 2010. Zu einer knappen Einordnung der Erzählung in den Kontext der Diskurse um den Pionier-‚Märtyrer‘ Pavlik Morozov: Kelly, Comrade Pavlik (wie Anm.7), 177ff. Der Film: Timur i ego komanda, Sojuzdetfil’m 1940, Premiere 31.12.1940; Regie: Aleksandr E. Razumnyj, Szenario: Arkadij P. Gajdar,
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gleichaltrigen und etwas jüngeren Buben bestehenden Truppe, sorgt nämlich mit seinen Kameraden dafür, dass die Ordnung im Dorf, das nichts gemein hat mit einer landwirtschaftlichen Kolchose, sondern eher als Sommerhaussiedlung daherkommt, gewahrt bleibt und dass diejenigen, die im Alltag der Hilfe bedürfen, sie auch dezent und taktvoll bekommen. So packt man in einem unbeobachteten Moment heinzelmännchenartig mit an, als ein betagter Mann Schwierigkeiten hat, sein Winterholz zu machen, und als einem alten Mütterchen die Ziege davongelaufen ist, macht man sich auf die Suche und fängt sie wieder ein. Auf Häuser, in denen der Mann aufgrund des Krieges fehlt, werfen die Timurovcy ein besonderes Auge, wobei es keine Rolle spielt, ob der jeweilige Mann mit Gewissheit nicht mehr kommen wird oder ob Hoffnung besteht, dass er einst aus dem Krieg zurückkehrt. Ja, Häuser von Angehörigen der Roten Armee stehen unter dem besonderen Schutz von Timurs Truppe, und damit dies auch allen potentiellen Übeltätern klar ist, wird an den dazugehörigen Gartentürchen ein sowjetischer Armeestern ins Holz geritzt. 17 Der Feind ist nämlich nahe, und zwar in Gestalt eines etwas älteren, schlaksigen, auf den ersten Blick gleich unsympathisch wirkenden Jungen namens Miška Kvakin, dem „Schrecken der Gärten und Gemüsebeete“. Zusammen mit seiner genauso unsympathischen, dazu grob-dümmlichen Entourage terrorisiert Kvakin die Siedlungsbewohner durch die nächtliche Zerstörung der kleinen Gartenernte, durch Apfeldiebstahl oder andere hooliganistische Aktionen. Timur und seine Truppe versuchen dies zu verhindern, erst mit Mahnungen und Drohungen, danach mit juvenilen Handgreiflichkeiten, schließlich mit einer Falle, in die Kvakin und seine Meute auch tappen. Am Ende ergießen sich Wut, Spott und Verachtung der Bewohner über die vorgeführten Hooligans, die selbstredend nicht ewiger Verdammnis anheimfallen, sondern die Perspektive erhalten, sich wieder in die ordentliche sowjetische Bevölkerung einzugliedern. Während dieser Geschehnisse hat sich die eingangs erwähnte Ženja mit Timur
Musik: Lev Švarc; Hauptrollen: Livij Ščipačev (Timur), Katja Derevščikova (Ženja), Marina Kovaleva (Ol’ga), Nikolaj Anenkov (Oberst Aleksandrov), Petr Savin (Ingenieur Garaev), Boris Jasen‘ (Kvakin). 17 Hier greift Gajdars Erzählung auf eine Praxis zurück, die bereits Ende der 1930er-Jahre von sowjetischen Kindern gepflegt worden war, als es darum ging, die Familien von Soldaten zu unterstützen, die in Zusammenhang mit Grenzscharmützeln in den Fernen Osten abkommandiert worden waren oder am Winterkrieg gegen Finnland teilnahmen. Erst Gajdars Timur freilich gab dieser Praxis jugendlicher Fürsorge für – temporär oder dauerhaft – vaterlose Familien ihren Namen. Vgl. den Artikel: Timur Movement among Soviet Youth in: Furin, Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija (wie Anm.7).
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angefreundet und – als erstes Mädchen – in die Truppe integriert, sehr zum Ärgernis ihrer älteren Schwester, die als zeitweilig aus der Stadt Zugereiste zunächst die Verhältnisse nicht recht überblickte und Timur mit seinen Leuten für ebensolche freche, ungehobelte Störenfriede hielt wie Kvakin und seine Gang. Doch am Ende gelingt es Timur, sein niedriges Ansehen bei Ol’ga deutlich zu verbessern, wenngleich mit einer gewagten Aktion: Ohne eigenes Verschulden hat Ženja den letzten Zug verpasst, der sie nach Moskau hätte bringen sollen, um den Vater zu treffen. Dieser hatte kurzfristig für wenige Stunden Familienurlaub bekommen. Ženja, die sehr an ihrem Vater hängt, ist untröstlich – und auch in der Stadtwohnung, beim Vater, herrscht traurige Stimmung. Mit dem Zug am nächsten Morgen würde Ženja den Vater bereits nicht mehr erreichen. Erneut beweist Timur sein Verantwortungsgefühl für andere: Kurzerhand schnappt er sich das Motorrad seines Onkels, eines – im Übrigen gutaussehenden, an Ol’ga interessierten – Ingenieurs, setzt das Mädchen hinter sich auf den Sitz und rast mit ihr durch den Abend nach Moskau. Timurs Entscheidung war umso mutiger, als die Fahrt eines Minderjährigen mit dem Motorrad selbstredend illegal war und er wusste, welche Töne er von seinem Onkel zu hören bekommen würde. Doch Ženjas Wiedersehen mit dem Vater ist gerettet, sogar Ol’ga ist ein wenig beeindruckt von Timur – und Onkel Georgij erkennt, dass Timur nicht anders handeln konnte. Am Ende trifft auch der Onkel eine mutige Entscheidung – er meldet sich für die Front. Seinen Neffen Timur lässt er in der Obhut der Gesellschaft, die ihm nun seinen Einsatz für das Gute zurückgeben wird.
V. Timur und die Leitkategorien für die sowjetische Jugend im Krieg um das Gute Der Film „Timur und seine Truppe“ war, nach allem was wir wissen, ein großer Erfolg. Zwar liegen dem Verfasser keine Aufführungs- oder gar Besucherzahlen vor, doch die rasch einsetzende, nachhaltige Wirkung lässt sich allein an der Entstehung der Timur-Bewegung ablesen, wobei hier wohl die Popularität von Film und Buch kaum zu trennen ist. 18 Auch die Tatsache, dass der Film 1965 in technisch leicht auf-
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Kelly, Comrade Pavlik (wie Anm.7), 180f., führt, mit Verweis auf sowjetische statistische Quellen, be-
achtliche, jährlich in die Hunderttausende gehende Auflagezahlen für Gajdars Erzählung an. Demnach war Timur die mit Abstand beliebteste Erzählung aus dem Themenfeld der sowjetischen Jugend. Zum Film
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gefrischter Form wiederaufgelegt wurde (wobei man auch ein in der Originalfassung kurz zu sehendes Stalindenkmal herausschnitt), spricht für eine ungebrochene Popularität des Streifens. 19 Diese Beobachtungen gelten umso mehr, wenn man den generellen Kontext des Ausbaus der sowjetischen Kinokultur berücksichtigt. Bereits in den 1920er-Jahren war die ‚Kinematisierung‘ des Landes ein wichtiges, laut vorgetragenes Anliegen der sowjetischen Politik, in den 1930er-Jahren folgten den Worten auch Taten: Zwischen 1928 und 1940 verdreifachte sich die Zahl der verkauften Kinokarten, die Zahl der Kinos selbst vervierfachte sich sogar. Selbst auf dem traditionell minderentwickelten flachen Land sorgten mobile Projektoren für die kinematografische Infrastruktur, viele Kolchosen investierten gerade hier, um den Mitgliedern eine einfach zu organisierende Unterhaltung zu bieten. Doch nicht nur in ruralen Gegenden, sondern auch in den Städten zählte der Kinobesuch, insbesondere bei jüngeren Generationen, zu den beliebtesten Optionen der Freizeitgestaltung. 20 „Timur und seine Truppe“ ist ein unterhaltsamer Film, mit sympathischen, nicht ganz fehlerfreien Helden und erträglichen ‚Bösewichten‘, mit heiter-melodramatischem Spiel vor in der Ferne angedeutetem ernsten Hintergrund. Politische Themen werden nicht besonders dick aufgetragen, es kommen weder die Genossen Lenin noch Stalin vor, weder die Revolution noch der Aufbau des Sozialismus, es ist weder die Rede von Fünfjahrplänen noch von Volksfeinden – und dennoch, oder gerade hat Kelly eine Zeitzeugin gefunden, die bestätigte, dass Timur „wie ein Licht in der Dunkelheit“ für seine damaligen Altersgenoss(inn)en war. Kamov, Obyknovennaja biografija (wie Anm.11), 330, erzählt – wie im gesamten Buch ohne Beleg –, dass etwa Jugendliche aus einem kleinen Ort nach Beginn der Veröffentlichung in der Pionierzeitung eigens nach Moskau in den Zeitungsverlag fuhren, weil sie nicht die Geduld aufbrachten, auf die Fortsetzungsfolgen in den nächsten Zeitungsausgaben zu warten. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive bestätigt Evgeny Dobrenko, renommierter Experte für den Sozialistischen Realismus, knapp die Popularität Timurs in Film und Erzählung: Evgeny Dobrenko, The School Tale in Children’s Literature of Socialist Realism, in: Marina Balina Larissa Rudova (Ed.), Russian Children’s Literature and Culture. New York 2008, 43–66, 50. 19 Eine der Hauptdarstellerinnen des Films, Ekaterina Derevščikova, gab später zu Protokoll, dass sie durch die Mitwirkung am Film quasi ihren eigenen Vornamen verlor, da die ganze Welt sie nur noch Ženja nannte: „Mich hat tatsächlich immer die Miliz begleitet, wenn ich irgendwo auftrat, und ich trat häufig in Kinotheatern auf; da musste mich einfach die Miliz nach Hause begleiten, sonst wäre mir kein einziger Knopf am Mantel verblieben.“ Auch diese Popularität der jugendlichen Schauspielerin spricht für eine enthusiastische Aufnahme des Films. Vgl. Programma „Kumyr“. Ekaterina Derevščikova, auf: http://cinematology.narod.ru/timur_derevsch _kumiry.html (20.11. 2015). 20 Peter Kenez, Cinema and Soviet Society. From the Revolution to the Death of Stalin. London 2001, 119– 121.
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deswegen, ist es ein durch und durch politischer Film, der für die sowjetische Bevölkerung der 1940er-Jahre wichtige Botschaften transportierte. Durch seine scheinbar unpolitische Machart, durch den Verzicht auf vordergründige sowjetsozialistische Agitation und lehrmeisterliche Indoktrination war die Chance, dass breite Zuschauerkreise diesen Botschaften in gut gestimmter Disposition zuhörten und sie verinnerlichten, wohl deutlich größer, als es bei einem Propagandastreifen voller ‚Zaunpfähle‘ in den Augen der Betrachter gewesen wäre. Vor diesem Hintergrund kann der Film für uns dazu dienen, grundsätzliche Einstellungen, Erwartungen und Anforderungen des Stalinismus in Bezug auf Kinder und Jugend nicht nur, aber auch im Ausnahmezustand des Krieges zu erkennen. 21 In diesem Sinne ist die Darstellung einer idealen sowjetischen Jugend im Film, erstens, geprägt durch Elemente der Militarisierung, durch Diszipliniertheit und eine durchaus hierarchische Strukturierung der Sozialbeziehungen. Schon zu Beginn wird ein militärischer Duktus vorgegeben: Trommelrhythmen und Marschmusik stimmen noch während des Vorspanns auf diese Grunddisposition ein. In Verbindung mit dem in großem Format eingeblendeten sowjetischen Militärstern, dem Erkennungszeichen von Timurs Leuten, wird damit gleich am Anfang deutlich, dass jene Truppe einen wie auch immer gearteten militärischen Konnex hat, das russische Wort „komanda“ (Truppe) unterstreicht die geweckten Assoziationen noch. Doch auch im zweiten Handlungsraum, den der Familie Aleksandrov mit den beiden Töchtern Ol’ga und Ženja, ist das Militärische nachhaltig präsent: Schließlich ist der Vater der beiden Schwestern Offizier, noch dazu gerade im aktiven Dienst an der Front. Zwar tritt der Oberst selbst vorerst nicht auf, doch gerade seine Abwesenheit
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Über die Produktionsbedingungen ist nicht viel Verlässliches bekannt. Offensichtlich hatten jedoch
weder Zensur noch der Komsomol (der bei Filmen für die Jugend eine Stellungnahme zum Drehbuch abgeben musste) Nennenswertes einzuwenden. Gajdars Prominenz bot für einen reibungslosen Ablauf gute Voraussetzungen. Die erforderlichen Erörterungen des Drehbuchs mit der sowjetischen Öffentlichkeit, die in diesem Falle eines Kinder- und Jugendfilmes u.a. von ausgewählten jungen Menschen repräsentiert wurde, verliefen zwar insgesamt wohl in grundsätzlich zustimmendem Geist, dennoch musste Gajdar nach jeder dieser Diskussionsveranstaltungen geringfügige Veränderungen am Skript vornehmen, was den Schriftsteller wohl durchaus aufregte: Kamov, Obyknovennaja biografija (wie Anm.11), 327ff. Vgl. dazu auch, freilich bereits bezogen auf den Folgefilm „Kljatva Timura“, Lev V. Kulešev/Aleksandra S.Chochlova, 50 let v Kino. Moskau 1975, 181–197, 184; Seth Bernstein, Wartime Filmmaking on the Margins, in: Studies in Russian and Soviet Cinema, 9, 2015, 24–39, 28. Zur Filmzensur in der Stalinzeit vgl. allgemein Natacha Laurent, L’Œil du Kremlin. Cinéma et censure en URSS sous Staline. Toulouse 2000.
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sorgt in Verbindung mit seinem Porträtfoto für eine klare Präsenz der militärischen Sphäre. Auf dem Land, in der Datschensiedlung, ist dann das Hauptquartier von Timurs Leuten im Sinne einer geheimen, selbstgebauten Kommandozentrale auf dem Dachboden eines unbewohnten Hauses eingerichtet, mit telegraphischen Kommunikationsmöglichkeiten, Spähposten und einer Alarmsirene (ehemals eine Fahrradhupe). Auch hier herrscht also, wenngleich in der sympathisch-komischen Couleur schülerischen Eigenbaus, eine geradezu militärische Organisiertheit vor. Dass die Jungen durch das Tragen ihrer Pionierhemdchen und -halstücher angedeutet uniformiert wirken, passt in diese Bildfolge. Auf militärisch-disziplinierte Weise findet sodann die „Lagebesprechung“ im Hauptquartier statt. Timur fordert die Mitglieder seiner Truppe in strengem Befehlston zum Rapport auf, zu welchem jeweils aufgestanden und Haltung angenommen wird. Rapportiert ein Junge zu lange und abschweifend, erfolgt sofort die Anweisung „kürzer!“ – es geht nicht um irgendwelche Geschichtchen, die erzählt werden, sondern um das Wesentliche: Wem wurde wann wie geholfen, wo gibt es akut ein Problem, wer wird auf welche Weise helfen? In dieser Kommunikation ist Timur, auch dies fügt sich in die militarisierende Ausgestaltung der Truppe ein, der unbestrittene Anführer bzw. Kommandeur: Er bestimmt nicht nur den Ablauf der Besprechung, sondern auch die Aufgabenverteilung bei den kleinen wohltätigen Aktionen. Sein Ton ist scharf und bestimmt, sein Gesichtsausdruck ernst und sachlich, seine Anweisungen sind klar und sicher und von den ‚gemeinen‘ Mitgliedern der Truppe wird seine Autorität sichtbar akzeptiert. Timur bildet damit eine Art Komplementärstück zu dem richtigen, ‚großen‘ Kommandeur, Ol’gas und Ženjas Vater. Dass der Oberst eben nicht nur Offizier, sondern auch in seiner konkreten Funktion Kommandeur einer Panzereinheit ist, macht ihn zu einem Menschen besonderer Gattung, dessen Besonderheit sogar bei den Familienangehörigen weiterwirken soll: Als es so aussieht, als ob die jüngere Tochter es nicht rechtzeitig in die Stadtwohnung zum kurzen Treffen mit dem Vater schaffen würde, sagt der Oberst, um Ženjas Enttäuschung wissend, zur Älteren unter anderem: „[…] und sag ihr, dass sie nicht weinen darf, denn sie ist die Tochter eines Kommandeurs“. 22 Ein Offizier der Roten Armee, so die Botschaft, ist eine Art Übermensch, der sich nicht durch Gefühle und Stimmungen von seiner Pflicht ablenken 22 Alle direkten Filmzitate stammen aus den in den Anmerkungen 16 (Timur i ego komanda) bzw. 30 (Kljatva Timura) angegebenen Produktionen.
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lässt. Ein Offizier der Roten Armee steht im Zweifelsfall auch höher im Ansehen als ein Ingenieur, zumal im Krieg. Nachdem ein Missverständnis über Timurs Aktionen das sich anbahnende freundschaftliche Verhältnis zwischen Ol’ga und Timurs Onkel belastet hatte, ist es die Entscheidung des Ingenieurs, in die Rote Armee einzutreten, die die beiden jungen Menschen wieder zueinander bringt. Timurs Onkel, den Ol’ga bei aller Sympathie ein wenig als Luftikus betrachtet hatte, beweist mit seinem Gang ins Militär nicht nur Heimatliebe und Verantwortungsgefühl, sondern auch seinen ernsthaften und wertvollen Charakter. Dass er damit auch für die große Kinderschar der kleinen Siedlung zum Vorbild wird, dem es dereinst nachzueifern gilt, wird in der Schlussszene deutlich, als er in seiner stolzen Uniform von Groß und Klein zum Bahnhof begleitet wird. Mit Begeisterung schmettern die Kinder einen militärischen Marsch, der von Waffen, Fahnen und Schlachtfeldern jubiliert. Auch potentielle Tätigkeiten der Kinder im Krieg werden besungen: Als Sanitäter wolle man für die Verwundeten da sein, sollte die Heimat rufen. Der fröhlich-martialische Kinderzug zum Bahnhof übt eine so große Anziehungskraft aus, dass nicht nur alle Menschen aus ihren Häusern kommen, um dem Schauspiel beizuwohnen, sondern auch der Hooligan Kvakin erst mit sehnsuchtsvoll-bedauerndem Blick zusieht und sich am Ende in die marschierende Schar einreiht. Das Militär, das die Heimat verteidigt, wird für den Rowdy zum Leitbild der eigenen Läuterung. Als ihn sein Kumpan mit dem bezeichnenden Namen „Figura“ mit zynischen Worten aufhalten will, schnauzt Kvakin ihn an: „Du Depp, sie verabschieden einen Kommandeur der Roten Armee!“ Mehr muss Kvakin nicht sagen – der militärisch-patriotische Einsatz für die Heimat setzt alle jugendlichen Zerwürfnisse außer Kraft. Es geht um das große Ganze, welches am Ende auch jene Kinder in den Schoß der stalinistischen Gemeinschaft zurückholt, die sich vorher auf verantwortungslosen Abwegen befunden hatten. Das sowjetische Militär ist kein Selbstzweck, sondern es steht mit seinem Kampf im Dienste der sowjetischen Gesellschaft. Diese altruistische Haltung stellt das zweite große Leitkonzept für die sowjetischen Kinder dar. Eigentlich, so ließe sich argumentieren, haben die Buben und Mädchen ja längst ihr Soll erfüllt. Das Schuljahr ist vorbei, es sind Sommerferien, Zeit, um zu faulenzen und das schöne Leben zu genießen. Kvakin und seine Gruppe folgen diesem Prinzip – und wenn sie aktiv werden, dann nur, um sich die eigenen Taschen vollzustopfen und sich am Ärger der Gefoppten zu ergötzen. Timur und seine Truppe haben eine andere Auffassung einer schönen Sommerzeit fernab von der Schule. Sie nutzen die freien Tage, um Menschen, die ihrer Unterstützung bedürfen, zu hel-
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fen. Beispiele für die Wohltaten wurden oben bereits genannt. Bemerkenswert an den karitativen Einsätzen im weitesten Sinne ist, dass die Kinder sie aus Eigeninitiative leisten. Sie werden nicht von Eltern, Lehrern oder gar Funktionsträgern in Staat oder Partei dazu angeleitet, sondern sie sehen selbst, wo Not am Mann bzw. an der Frau ist, und sie entwickeln selbständig Möglichkeiten, um diese Not zu lindern. Dabei gehen sie nicht prahlerisch mit ihrem Einsatz für andere um, sondern bemühen sich im Gegenteil um Geheimhaltung. Sie leisten ihre Dienste unauffällig, diszipliniert und effektiv – und knüpfen mit diesen Eigenschaften wiederum an die Anforderungen an, welche man auch an die Rote Armee stellt. Freilich, es sind Kinder, und auch sowjetische Kinder haben ein Anrecht auf Vergnügen und Freude. Der selbstlose Einsatz für die anderen ist im Film kein ermüdendes Dienen, sondern geht einher mit echter Begeisterung für die Aufgaben und Herausforderungen. Andern zu helfen kann auch ein Abenteuer sein, das Spaß macht – für einen sowjetischen Pionier freilich in den Grenzen von disziplinierter Ernsthaftigkeit. Militärische Disziplin und unauffällige Effektivität bereiten den Boden für den dritten Wertekomplex, den dieser Film an die sowjetische Jugend vermittelt. Die Mitglieder von Timurs Truppe sind gleichermaßen mutig und selbstbewusst wie bescheiden. Mit ihren Aktionen zu prahlen liegt ihnen fern. Ihre Leistungen für die Gesellschaft betrachten sie als selbstverständliche Pflicht, für die es keinerlei ‚public relations‘ bedarf, im Gegenteil: Bevorzugt werden die guten Taten des Abends oder gar des Nachts (es sind ja Ferien) vollbracht, wenn keiner zusieht. Die Wohltäter bleiben in der Regel anonym und nehmen sogar in Kauf, von den Siedlungsbewohnern auch als nichtsnutzige Rowdys verdächtigt zu werden. Freilich sind die Timurovcy selbstbewusst genug, um derlei falsche Verdächtigungen mit souveränem Wissen um die Wahrheit wegzustecken. Im Kampf für das Gute ist die Truppe unerschütterlich. Dabei gesellt sich zum Selbstbewusstsein auch Mut, etwa wenn es darum geht, endlich die Hooligan-Gruppe um Miška Kvakin in die Schranken zu weisen. Timurovcy fürchten keine zahlenmäßige Übermacht und keine älteren, damit auch körperlich größeren Kerle. Als zwei Unterhändler Timurs von der feindlichen Truppe entgegen aller Gepflogenheiten der Diplomatie überwältigt werden, während sie sich die Antwort auf ein von Timur gestelltes Ultimatum abholen wollen 23, ertragen sie ihre Ge-
23 Mit dem „Ultimatum“ ruft Timur seinen Gegenspieler Kvakin letztmalig zur Anständigkeit auf, bevor andere Formen der Kommunikation gewählt werden können. Timur bremst damit seine Mannschaft, die gerne gleich die Fäuste hätte sprechen lassen. Der Anführer jedoch weiß, dass vor dem „Krieg“ die „Diplo-
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fangenschaft in einer verrammelten Scheune mit entschlossener Standhaftigkeit, darauf vertrauend, dass ihre Kameraden ihnen ohnehin zu Hilfe kommen werden. Die mutigste Tat freilich vollbringt der Anführer selbst, als er, um Ženja das kurze Wiedersehen mit ihrem Vater zu ermöglichen, sogar das Gesetz bricht und mit dem Motorrad des Onkels in die Stadt braust. Die Botschaft ist durchaus riskant, schließlich soll der Film nicht die sowjetische Jugend zur Gesetzesübertretung animieren. Bei einem so aufrechten Charakter wie Timur aber gestattet der Kampf für das Gute offensichtlich im Ausnahmefall die Überschreitung legaler Grenzen; die Abwägung zwischen der Einhaltung der Verkehrsordnung und dem Einsatz für einen Kommandeur und seine Tochter fällt eindeutig aus. Altruismus und Vorrang des Militärischen zeigen sich also auch hier als Leitkategorien. Im Übrigen ist Timur keineswegs stolz auf seine Tat, im Gegenteil harrt er demütig und schuldbewusst der zu erwartenden strengen Worte. Aber genau hierin erfüllt Timur die stalinistische Anforderung an das Individuum: im Zweifelsfall das eigene Wohlergehen zurückzustellen und sich für einen höheren sozialen oder politischen Zweck zu opfern. Nach diesem Prinzip handelt Timur – selbstbewusst, mutig, bescheiden. Und da er für einen wertvollen Zweck gehandelt hat, vergibt ihm die sowjetische Gesellschaft, hier repräsentiert durch den Obersten, seine ältere Tochter Ol’ga und Timurs Onkel, dessen Motorrad der Junge entwendet hatte, seine Transgression. Die Inhalte, die der Film an ein (nicht nur) junges Massenpublikum transportierte, ordneten sich in grundsätzliche Gesellschaftsentwürfe und Wertkonzeptionen der Stalinzeit ein, die auf unterhaltsame Weise umgelegt wurden auf die Ebene von Kindern und Jugendlichen. Timur und seine Anhänger machten vor, wie Kinder der Stalinzeit im Krieg gegen innere und äußere Feinde sein sollten: mutig und entschlossen, selbstbewusst und bescheiden, Erfüllung nicht in individualistischem Wohlergehen findend (so wie man es den kapitalistischen Gesellschaften unterstellte), sondern im selbstlosen wie selbstverständlichen Einsatz für andere, für das große, gute Ganze einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Dabei waren nicht nur „gut“ und „schlecht“ klar definiert, sondern auch Hierarchien und Kommandostrukturen eindeutig vorgegeben. Seit den dreißiger Jahren hatte sich die sowjetische Gesellschaft von egalisierenden Konzeptionen zunehmend entfernt, ob im Betrieb, in matie“ kommt, im Jargon der Kinder ausgedrückt: Erst reden, dann schlagen. Als jedoch seine Unterredung mit Kvakin im Tête-à-Tête ergebnislos bleibt, bringt er seine feste Entschlossenheit zum Ausdruck, gegebenenfalls auch mit anderen Mitteln gegen das Rowdytum vorzugehen.
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der Politik oder, erst recht, in der Armee. Die Autorität der Leitungspersonen stieg auf maximale Dimensionen an, fast alle Bereiche des sowjetischen Lebens wurden aufs Äußerste hierarchisiert. Dem Vorgesetzten, der Leitung war Folge zu leisten, im Großen wie im Kleinen, im Erwachsenendasein wie unter Kindern. So wie die Soldaten der Panzerdivision Oberst Aleksandrov unhinterfragten Gehorsam schulden, so ordnen sich auch die sechs- bis dreizehnjährigen Kinder der Autorität Timurs unter. Spätestens seit der Durchsetzung Iosif Stalins in der Führungsspitze der sowjetischen Politik waren sozialistische Demokratie und das Prinzip straffer Einmannleitung keine Gegensätze mehr. 24 Der Vorrang des Militärischen, ja eine generelle Ausrichtung der Gesellschaft auf militärische Disziplin und Leistungsbereitschaft sowie eine permanente Wachsamkeit und Verteidigungsbereitschaft ziehen sich – mit unterschiedlichen Akzentsetzungen und Schattierungen – als Grundkonstanten durch die junge Geschichte des Sowjetstaates, von Revolution und Bürgerkrieg über die Revisionsängste der zwanziger bis hin zu den bisweilen paranoid übersteigerten Wachsamkeits- und Verratsdiskursen der dreißiger Jahre. Mit einer zunehmenden Kriegsgefahr bzw. -erwartung in Europa in den Folgejahren der nationalsozialistischen ‚Machtergreifung‘ im Deutschen Reich wurde das Thema steter Verteidigungsfähigkeit für die sowjetischen öffentlichen Diskurse noch zentraler. 25 Dies umso mehr, als man sich im Fernen Osten mit den Japanern heftige Grenzscharmützel lieferte und 1939/40 im sogenannten Winterkrieg selbst bereits in schweren militärischen Auseinandersetzungen mit Finnland involviert war. 26 Auch Kinder und Jugendliche wurden auf 24 Geschichten von Militarisierung und Hierarchisierung der sowjetischen Gesellschaft wären als systematische Analysen noch zu schreiben. David R. Stone, Hammer and Rifle. The Militarization of the Soviet Union 1926–1933. Lawrence 2000, fokussiert das Militär im genannten Zeitraum, nicht aber Militarisierung als verordneten Habitus der Bevölkerung. Zu grundsätzlichen Werten und Leitkategorien der StalinZeit vgl. Sarah Davis/James Harris, Stalin’s World. Dictating the Soviet Order. New Haven 2014; Serhy Yekelchyk, Stalin’s Citizens. Everyday Politics in the Wake of Total War. Oxford 2014; J. Arch Getty, Practicing Stalinism. Bolsheviks, Boyars, and the Persistence of Tradition. New Haven 2013; David L. Hoffmann, Stalinist Values. The Cultural Norms of Soviet Modernity, 1917–1941. Ithaca 2003; Vera S.Dunham, In Stalins’s Time. Middleclass Values in Soviet Fiction. Cambridge 1976; Sheila Fitzpatrick, Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times. Soviet Russia in the 1930s. Oxford 1999. 25 Vgl. in diesem Zusammenhang Silvio Pons, Stalin and the Inevitable War, 1936–1941. London 2014; Ludmila Thomas/Viktor Knoll (Hrsg.), Zwischen Tradition und Revolution. Determinanten und Strukturen sowjetischer Außenpolitik 1917–1941. Stuttgart 2000; Gabriel Gorodetsky (Ed.), Soviet Foreign Policy, 1917– 1991. A Retrospective. London 1994. 26 Louis Clerc, La guerre finno-soviétique (novembre 1939 – mars 1940). Paris 2015; Gordon F. Sander, The
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vielfältige Weise in die Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens einbezogen, einige sprechende und wirksame Konstellationen traten bei der Analyse des Films sehr anschaulich zutage. Die Kinder wurden in der idealen stalinistischen Konzeption zu kleinen Soldaten im Krieg um das Gute, selbständig aktiv in überschaubaren Sphären wie dem Alltagsleben, unterstützend bei großen Themen wie der Vaterlandsverteidigung. Dass die Kinderschar ihre Aufgaben nicht nur mit Pflichtbewusstsein, sondern auch mit Enthusiasmus, Freude und, sofern es die Lage erlaubte, mit Vergnügen wahrnahm, gehörte ebenfalls zu stalinistischen Prädispositionen. Die Stalinzeit forderte von den Menschen nicht nur, dass sie mit maximalem Einsatz unter Anleitung der Partei dem Land dienten, sondern auch, dass sie ihr Leben als gut und glücklich empfanden. 27
VI. Der reale Krieg und Timurs Schwur Schon bald sollte sich der Vergnügungsfaktor beim Kampf um das Gute drastisch reduzieren. Nicht einmal ein halbes Jahr, nachdem der Streifen in die Kinos gelangt war, machte Hitlers Überfall auf die Sowjetunion jene filmische Situation, die Oberst Aleksandrov mit einer Panzerkolonne an die Front führte und die Kinder zu Hütern der Häuser von Angehörigen der Roten Armee werden ließ, wahr. 28 Wenige Wochen nach dem Kriegsbeginn für die Sowjetunion setzte sich Arkadij Gajdar an die Fortsetzung von Timurs Geschichte, nun angepasst an die aktuellen, tatsächlich kriegerischen Umstände. Gajdar begann mit der Ausarbeitung eines Filmszenarios, es ist anzunehmen, dass eine spätere Romanfassung ebenfalls geplant war. Zu deren Ausarbeitung kam der Schriftsteller freilich nicht mehr, im Oktober 1941 kam er bei
Hundred Day Winter War. Finland’s Gallant Stand against the Soviet Army. Lawrence 2013; Robert Edwards, White Death. Russia’s War on Finland 1939–1940. London 2007; Andrej N. Sacharov (Ed.), Zimnjaja vojna 1939–1940 gg. V rassekrečennych dokumentach Central’nogo Archiva FSB Rossii i archivov Finljandii. Issledovanija, dokumenty, kommentarii. Moskau 2009; Aleksej V. Šišov, Rossija i Japonija. Istorija voennych konfliktov. Moskau 2001, 424–520; S.N. Šiškin, Chalchin-Gol. 2.Aufl. Moskau 1954; Marian V. Novikov, Pobeda na Chalchin-Gole. Moskau 1971; Alvin D. Coox, Nomonhan. Japan against Russia, 1939. 2 Vols. Stanford 1985; Hiroaki Kuromiya, The Mystery of Nomonhan, 1939, in: Journal of Slavic Military Studies 24, 2011, 659–677. 27 Kelly, Children’s World (wie Anm.7), 93–129. 28
Richard Overy, Russlands Krieg 1914–1945. 2.Aufl. Hamburg 2003; Christian Hartmann, Unternehmen
Barbarossa. Der deutsche Krieg im Osten 1941–1945. München 2011.
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Kämpfen in der Nähe des ukrainischen Städtchens Kaniv/Kanev am Dnjepr ums Leben. Der Krieg des nationalsozialistischen Deutschland gegen die Sowjetunion schien die zentralen Aussagen und Postulate von „Timur und seine Truppe“ zu bestätigen. Militärische Disziplin, Wachsamkeit, Einsatz, Mut und Entschlossenheit waren für die sowjetische Jugend nun erforderlicher denn je – und der zweite TimurFilm bringt hierfür noch deutlich gesteigerte Exemplifikationen. „Kljatva Timura“ (Timurs Schwur) wurde bereits nach Gajdars Tod – fern der Front in der Evakuierung im sowjetischen Hinterland 29 – gedreht und kam im Oktober 1942 in die Kinos. 30 Die Tatsache, dass die Timur-Story unter den neuen, alles verändernden Umständen des Krieges sogleich eine Fortsetzung erhielt, spricht aus dem Nachhinein nochmals ein gewichtiges Wort für die Popularität von Gajdars Helden. In der Handlung knüpft „Timurs Schwur“ direkt an den Vorgängerfilm an, worüber ein knapper, an die „Genossen Zuschauer“ gerichteter Text im Vorspann auch informiert. Darin erfährt man, dass der ehemalige Rowdyboss Kvakin tatsächlich Mitglied in Timurs Truppe geworden war und nun sein früherer Adlatus Figura das „Hooliganieren“ betreibe. Die Handlung setzt ein im Frühling 1941, noch vor dem Angriff der Deutschen. Timurs Schar ist nicht nur deutlich größer geworden,
29 Vgl. Bernstein, Wartime Filmmaking on the Margins (wie Anm.21), 27f.; das Kinderfilmstudio (Sojuzdetfil’m) wurde nach Kriegsbeginn zur Evakuation nach Stalinabad (heute Dužanbe) in Tadžikistan beordert. „Timurs Schwur“ wurde jedoch partiell auch in russischen Landesteilen gedreht, wohl um bei den Außenaufnahmen eine glaubwürdige Szenerie der Landschaft des europäischen Russland zur Verfügung zu haben, was in Tadžikistan schwer möglich gewesen wäre. Auch sonst schien Mittelasien für die Kinoschaffenden aus Moskau wenig attraktive Möglichkeiten geboten zu haben, die Reevakuierung nach Moskau erfolgte bereits 1943; vgl. dazu Bernstein, passim. Zu den Produktionsbedingungen vgl. – mit nostalgisch verklärender Tendenz – die Erinnerungen des Regie führenden Paares Kulešev/Chochlova, 50 let v Kino (wie Anm.21), 181–197. 30 Kljatva Timura, Sojuzdetfil’m/Stalinabadskaja kinostudija 1942, Premiere Oktober1942; Regie: Lev Kulešov, Aleksandra Chochlova, Szenario: Arkadij Gajdar, Musik: Zinovij Fel’dman; Hauptrollen: Livij Ščipačev (Timur), Katja Derevščikova (Ženja), Marina Kovaleva (Ol’ga), Nikolaj Anenkov (Oberst Aleksandrov), Boris Jasen‘ (Kvakin), Saša Pupko (Gejka), Volodja Pimenov (Figura). Auch für Timurs Schwur liegen dem Autor keine Aufführungszahlen vor, grundsätzlich jedoch war die sowjetische Kulturpolitik sehr bestrebt, die Filmproduktion während des Krieges intensiv im Interesse gesellschaftlicher Mobilisierung zu nutzen, was bedingte, die gedrehten Filme auch aufzuführen. So sei es das Ziel der zuständigen Behörden gewesen, während des Krieges in jedem Dorf zumindest zweimal pro Monat eine Filmvorführung (mit mobilen Projektoren) zu veranstalten. Die Grundlagen hierfür hatte man schon im vorangehenden Jahrzehnt gelegt: Siehe Peter Kenez, Films of the Second World War, in: Anna Lawton (Ed.), The Red Screen. Politics, Society, Art in Soviet Cinema. London 1992, 148–171, 156, sowie Kenez, Cinema and Soviet Society (wie Anm.20), 114ff.
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sondern auch unionsweit populär, wovon eine stattliche Menge an Fanpost zeugt. Nach wie vor ist Timur der Anführer der Truppe, doch schon bald kommt es zum Streit. Ausgangspunkt ist dabei weniger der Vorwurf abgehobenen Verhaltens an den angeblich nur noch bürokratisch agierenden Chef als vielmehr die Frage, ob die Timurovcy auf der Kolchose Hand anlegen sollen. Timur hatte dies der Kolchosenleitung zugesagt, ohne sich mit seinem Kollektiv zu besprechen, nun regt sich Widerstand: Ženja hat Angst um ihre zarten Finger, mit denen sie doch Akkordeon spielen möchte, der besonders martialisch auftretende Gejka hält Landwirtschaft im Gegenzug für „Mädchenarbeit“ und will nur militärisches Training für sich und seine Freunde. Schnell zerbricht die Truppe, Timur bleibt zurück als ein Häuptling (fast) ohne Indianer und macht sich freilich, ein wenig traurig zwar, aber entschlossen, mit den wenigen Verbliebenen auf, um den Kolchosniki zu helfen, während Gejka mit acht Getreuen mechanisch durch das Dorf marschiert und einem alten Mann auf dessen Bitte hin wichtigtuerisch verkündet, dass es ab sofort keine Alltagshilfe mehr geben würde, da man anderes zu tun habe. Welche Seite die richtige ist, wird dem Zuschauer unmissverständlich klargemacht, als Oberst Aleksandrov seine Tochter Ženja fragt, warum sie nicht auch auf der Kolchose sei, und diese sich nur mit einer plumpen Lüge zu helfen weiß, was einem sowjetischen Kommandeur natürlich nicht entgeht. Da platzt in den Sommersonntag, es ist der 22.Juni 1941, die Nachricht vom deutschen Überfall, und wieder, wie schon im Vorgängerfilm, verschwinden Eitelkeiten und Streitereien, wenn es um das große Ganze geht. Alle Kinder des Ortes laufen zur ehemaligen Kommandozentrale, wo Timur eine elementare Rede hält: „Wir haben gespielt, jetzt haben wir Krieg. Das Spiel ist beendet!“ Nun gelte es, noch härter als zuvor zu arbeiten, den Erwachsenen zu helfen, den Soldaten, den Parteimitgliedern, es gelte, alles zu tun, um den Faschismus zu zerschlagen. Selbst der letzte übriggebliebene Rowdy Figura, der am Vortag noch Timur verprügeln wollte, hat sich eingefunden, um beim Kampf gegen den Feind mitzumachen. Strukturell folgt der Film damit dem bereits geschilderten Muster: Das patriotische Anliegen hebt alle Streitereien und Egoismen auf, alle wirken mit vollem Einsatz an der Verteidigung der Heimat mit. Doch die Dimensionen sind zu schrecklicher Größe angewachsen: War es im ersten Film noch die Verabschiedung eines Offiziers, die die Kinder zur Einheit zusammenschmolz, so ist es nun ganz unmittelbar der Krieg, der auch den kleinen Ort Timurs erreicht, wie die bald einsetzenden Bombenangriffe drastisch vorführen. Dementsprechend steigen auch die Anforderun-
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gen an die Kinder unter den verschärften Bedingungen blutigen Ernstes. Die Leitkategorien sind die gleichen wie im Vorkriegsfilm – militärische Ausrichtung und Disziplin, selbstloser Einsatz für die Gesellschaft, mutige, uneitle Entschlossenheit –, doch der Kriegsausbruch verleiht all dem eine völlig neue Qualität in der filmischen Handlung wie in den Botschaften für die Wirklichkeit. Nun werden nicht mehr entlaufene Ziegen eingefangen und Holzscheite geschichtet, sondern Tiere aus brennenden Ställen gerettet, Schützengräben ausgehoben, Plakate geklebt, Wege bewacht; und es wird gar mit dem eigenen Körper als Schutzschild geholfen, beim Bombenalarm die Fenster einer Wohnung zu verdunkeln, nachdem eine Katze versehentlich den Vorhang heruntergerissen hat. Bei Timurs Truppe geht (vorläufig) alles gut, doch der Krieg fordert erbarmungslos seine Opfer, so etwa Ženjas Vater, Oberst Aleksandrov. 31 Sein Vermächtnis an die Tochter, bemerkenswerterweise auf Schallplatte aufgenommen und von Timur im engen Kreis der tief bewegten alten Kameraden Ženja vorgespielt, endet mit der Aufforderung, einen Schwur für ein ehrliches, bescheidenes, rechtschaffenes, fleißiges Leben zu leisten. Ženja möchte gerne schwören, weiß aber nicht wie, und so übernimmt noch einmal Timur die Führung, indem er mit fester Stimme in das zu seinen Füßen liegende Land ruft: „Ich, ein junger Lenin-Pionier, schwöre, meine Heimat zu lieben, zu stärken und zu verteidigen, mit ganzem Herzen, mit all meinen Gedanken und all meinen Handlungen. Ich schwöre, ehrlich zu leben, gut zu lernen, viel und ausdauernd zu arbeiten. Ich verspreche, den Älteren zu helfen, bei der Arbeit, zu Hause, im Betrieb und in der Kolchose. Ich schwöre, der Roten Armee zu helfen und aufmerksam mein Heim, meine Stadt und mein Dorf zu bewachen. Ich schwöre, alle meine Kräfte und mein ganzes Leben dem Sieg über den Feind und dem Glück der großartigen Heimat hinzugeben.“ 32 31 Letzteres erfahren die Zuschauer nur indirekt. Weder die Armee noch ihre Handlungen werden im Film gezeigt. Damit ordnet sich „Kljatva Timura“ ein in eine generelle Charakteristik der in den – für die Sowjetunion – ersten Jahren des Krieges 1941/42 gedrehten Streifen, die allesamt die Rote Armee nicht zeigten. Denise Youngblood macht dafür die katastrophale militärische Situation mit den Niederlagen der sowjetischen Truppen und dem nahezu ungehinderten Vordringen der Deutschen verantwortlich. Ihrer These zufolge hatte die sowjetische Führung Angst, dass eine explizite filmisch-heroische Darstellung der anscheinend versagenden Roten Armee zu leicht als verlogene Propaganda hätte aufgefasst werden können. Stattdessen band man in den Filmen bevorzugt die Gesellschaft in das Mobilisierungsanliegen ein, so auch bei Timur. Zum allgemeinen Kontext vgl. Denise J. Youngblood, Russian War Films. On the Cinema Front, 1914–2005. Kansas 2007, 55ff. 32 Vgl. die geradezu nüchterne, noch aus den 1920er-Jahren stammende Eidesformel bei der Aufnahme
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Timurs Schwur war eine Aufforderung an die sowjetische Jugend, doch sie richtete sich auch an die Erwachsenen. Wie schon in manchen Konstellationen in den 1930er-Jahren wurden in der offiziell sanktionierten künstlerischen Stilisierung sowjetische Kinder und Jugendliche durch Eifer, Begeisterung, Ernsthaftigkeit und unzerstörbaren Glauben an das Gute zu Vorbildern für die Erwachsenen. 33 Schwer nur kann man sich des Eindrucks erwehren, dass enthusiastische Beschreibungen der sowjetischen Jugend, so wie sie der eingangs zitierte Aleksandr Stepanov vorgelegt hat und wie sie im heutigen Russland gerne gepflegt werden, nicht zuletzt idealtypische, erfundene Truppen wie diejenigen von Timur zum Ausgangspunkt haben. Auch die älteren und späteren Kinogänger konnten nämlich von Timur und seiner Truppe in puncto Einsatz und unerschütterlicher Zuversicht etwas lernen, und gerade für die Zeit des Krieges lautete dabei Arkadij Gajdars auch in der Retrospektive einsetzbare Botschaft für die Sowjetbevölkerung: Von Kindern lernen heißt siegen lernen. Ordnet man freilich die Timur-Filme in den größeren Zusammenhang der sowjetischen Kriegs- bzw. Verteidigungspropaganda ein, wobei es angesichts der latenten militarisierenden, stete Verteidigungsbereitschaft proklamierenden öffentlichen Sphäre der Stalinzeit letztlich nur einen graduellen Unterschied macht, ob diese Propaganda vor oder nach Beginn der eigentlichen Kriegshandlung realisiert wurde, so hatten selbstredend auch die Kinder einiges zu lernen. Timur und seine Freunde waren nicht nur Agenten der Propaganda, sondern auch deren Adressaten. Beide Filme lassen sich als eine Handlungsanleitung verstehen, was Kinder im Kriegsfall zu tun hatten. Dabei gibt es zwei sich ergänzende, ja miteinander verflochtene Ebenen: Die erste wurde noch vor dem Krieg für den Krieg entworfen und wird bei „Timur und seine Truppe“ in Szene gesetzt. Ihr Leitmotiv besteht in der mittelbaren Hilfe im Hinterland, also etwa Übernahme von Verantwortung für Schwache, Hilfsbedürftige oder auch die zurückgebliebenen Angehörigen von Soldaten und Offizieren der Roten Armee. Die zweite Ebene führt „Timurs Schwur“ vor dem realen Hintergrund des bereits in die Organisation der Pioniere: „Ich, ein junger Pionier der UdSSR, verspreche vor dem Angesicht meiner Genossen feierlich, 1) fest für die Sache der Arbeiterklasse einzustehen in ihrem Kampf für die Befreiung der Werktätigen auf der ganzen Welt; 2) ehrlich und beständig das Vermächtnis des Il’ič [Vladimir Il’ič Lenin] zu erfüllen: die Gesetze der Jungen Pioniere.“ Leninskij Komsomol. Kirovskoe oblastnoe otdelenie. Pionerskaja organizacija imeni V. I. Lenin, http://lksm43.ru/page/54 (19.11.2015). 33
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Vgl. hierzu auch Kelly, Children’s World (wie Anm.7), 110f.
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ausgebrochenen Krieges vor. Ihr Leitmotiv ist die unmittelbare Hilfe in Reaktion auf den Überfall durch feindliche Truppen. Nun gilt es für die Kinder, konkrete kriegswichtige Hilfstätigkeiten gefährlicher und weniger gefährlicher Art zu übernehmen. Nach wie vor handeln Kinder mithelfend, sehr ernsthaft zwar, doch in einem assistierenden Sinne. Dennoch scheint im Film auch die alternative Option eines todesmutigen Heroismus auf (etwa wenn der eigene Körper als Schutzschild benutzt wird, um das aus dem Fenster scheinende Licht bei Luftangriffen abzudunkeln), der bald darauf zu einer eigenen Nische der sowjetischen Kriegspropaganda im Bereich von Kinder und Jugendlichen werden sollte. 34 In jedem Fall waren Disziplin, Entschiedenheit und Wachsamkeit wichtige Wertekonstanten, die von den Kindern in der Situation des Krieges gelebt werden sollten. Diese Motive konnten auf fruchtbaren Boden fallen, zumal sie schon lange Jahre vor dem Krieg der sowjetischen Gesellschaft – und zwar nicht nur ihren Kindern – als Ideale pflichtbewusster Sowjetbürger eingeimpft worden waren, ob in Form einer rigiden Betriebs- oder Schuldisziplin, in Anreizen für Höchstleistungen in Arbeit oder Ausbildung oder im ausufernden Terror gegen vermeintliche Spione, Schädlinge und andere bedrohliche innere Feinde. Nachdem man die inneren Herausforderungen gemeistert hatte, sei es durch den postulierten Sieg im Klassenkampf und in den Erfolgen des sozialistischen Aufbaus oder sei es durch das Aufspüren aller inneren Feinde der Sowjetmacht, kam nun die Bedrohung von außen. Auch wenn diese mit ungeahnter Gewalt über die sowjetische Bevölkerung hereinbrach – die Arten, ihr zu begegnen, hatte man in der sowjetischen Sichtweise schon in den letzten Jahren trainiert. 35 Allerdings war im Kampf mit den inneren Herausforderungen auch stets vermittelt worden, dass Staat und Partei, im sozialistischen Anliegen sowie in ihren herausragenden Vertretern vereint, das Monopol auf soziopolitische Initiative hatten. Der Eigeninitiative der Timurovcy eignete insofern ein zweischneidiges Element, als dieser Zusammenschluss von Jugendlichen nicht von der Partei in Auftrag gegeben oder sanktioniert worden war – ein Umstand, der während der Erstveröffentlichung der Erzählung in Fortsetzungsfolgen in der Pioners-
34 Vgl. zu heroischen Ausnahmefällen knapp zusammenfassend ebd.115–119. 35 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. München 2012; ders./Robert Kindler (Hrsg.), Macht ohne Grenzen. Herrschaft und Terror im Stalinismus. Frankfurt am Main 2014; David Priestland, Stalinism and the Politics of Mobilization. Ideas, Power, and Terror in Inter-War Russia. Oxford 2013; Noah Berlatsky (Ed.), Stalin’s Great Purge. Detroit 2013.
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kaja pravda unangenehm aufgefallen war und zum zeitweiligen, wenn auch kurzfristigen Publikationsstopp geführt hatte. 36 Dass Timur, trotz seiner sozioorganisatorischen Eigenmächtigkeit und trotz (oder gerade wegen?) seiner selbstlosen Bescheidenheit, eine positiv stilisierte, ideal konstruierte Propagandafigur war, merkten übrigens auch sowjetische Kinder: Solche Helden wie Timur habe man noch nie angetroffen, hieß es auf einer der sowjettypischen Produktionserörterungen des Regieteams (unter Einschluss des Drehbuchautors Gajdar) mit der anvisierten Klientel. 37 Ein wohlbekanntes, weitverbreitetes Verhaltensmuster entdeckten die jugendlichen Kommentatoren dagegen beim egoistischen Hooligan Miša Kvakin. Mochte eine solche Feststellung von Seiten der jugendlichen Filmkritiker auch sowjetischen Funktionären missfallen, so entspricht sie doch recht gut dem Befund der jüngeren Sozialhistorie, die die Geschichte der Jugend in Sowjetrussland nicht zuletzt als „Geschichte der sozialen und psychischen Verwahrlosung, der Frustration […], der Verzweiflung“ etc. geschrieben hat. Stefan Plaggenborg stellte die (rhetorisch intendierte) Frage, „welcher Staat im damaligen Europa […] ein solch hohes Maß an Jugendverwahrlosung, -kriminalität und -bandentum“ aufwies wie Sowjetrussland. Gerade diverse Spielarten von Hooliganismus seien ein typisches Charakteristikum der sowjetischen Jugend gewesen, so Plaggenborg in seiner vielleicht etwas stark auf Devianz konzentrierten, doch durch eine Reihe innovativer Studien gut abgestützten Zusammenfassung des Themas. Zu Recht betont er freilich auch, „dass Jugend in einem äußerst hohen Maße Objekt war“, etwa „als Empfängerin von Disziplinierungs und Verhaltenssteuerungsprozessen“. 38 Zu Letzteren gehörten aber ebenfalls die Lebensfreude, der Enthusiasmus, das Glücklichsein, die Stalin seit der ersten Hälfte der 1930er-Jahre der sowjetischen Bevölkerung, und insbesondere der Jugend, nicht nur gönnte, sondern auch verordnete. 39 In der Propaganda gehörten dementsprechend, so Catriona Kelly sinn36
Wie so oft in Russland und der Sowjetunion wurde das Problem auf der persönlichen Ebene gelöst. Ein
der Erzählung positiv gegenüberstehender Redakteur der Zeitung schaffte es, kurzfristig einen Termin beim CK-Mitglied Emel’jan M. Jaroslavskij zu bekommen. Der Parteigrande las den Text, hatte keine Einwände und sorgte für die Fortsetzung der Publikation; Kamov, Obyknovennaja biografija (wie Anm.11), 330f. 37
Zu den Produktionserörterungen vgl. Anmerkung 21.
38
Stefan Plaggenborg, Jugend in Sowjetrußland zwischen den Weltkriegen, in: Kuhr-Korolev u.a. (Hrsg.),
Sowjetjugend 1917–1941 (wie Anm.7), 287–304, 292, 302. 39
Der präskriptive Charakter dieser Lebensfreude bedeutet freilich nicht, dass die sowjetische Gesell-
schaft nicht die mit der Erlaubnis sich zu amüsieren einhergehende Angebote gerne genutzt hätte. Vgl.
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gemäß, beide Facetten dazu: das Dringen auf Disziplin und die Zelebration von Fröhlichkeit. 40 Für Letztere gab es ja bei „Timur und seine[r] Truppe“ durchaus Raum – ein überzeugter, linientreuer Sowjetschriftsteller wie Gajdar stellte sich zwar, ebenso wie die sowjetischen Politiker, diszipliniert organisierte Nächstenliebe unter den Kindern vor, nicht aber emotionslose, entkindlichte Roboter. Dass sich bei „Timurs Schwur“ dagegen alles geändert hat, die Fröhlichkeit sistiert wurde und für kindliches Glück bestenfalls in Form der Reminiszenz noch Raum war, lag an den unmittelbaren, bedrückenden Zeitumständen. Dennoch vermochten Timur und seine Leute gerade auch in der Zeit des Krieges sowjetischen Kindern und Jugendlichen Sinn zu stiften, wie man etwa an den sich rasch in russischen Städten bildenden Timur-Organisationen ablesen kann. Ob dabei das propagandistische Narrativ des bösen, eigentlich aber nur ‚verirrten‘ oder mit Blindheit geschlagenen Buben, der „durch Nacht zum Licht“ schreitet, auch in der schwierigen sozialen Realität der Stalinzeit eine Sogwirkung ausgeübt hat, ob also der Entschluss der Hooligans, im Angesicht der Bedrohung der Heimat ihren verantwortungslosen Unsinn aufzugeben und stattdessen in die Reihen der Verteidiger des Vaterlands einzutreten, Nachahmer gefunden hat, müsste noch untersucht werden. 41 Für Timur und seine Schar jedenfalls war die Reintegration der asozialen Störenfriede in die Gemeinschaftlichkeit der sowjetischen Gesellschaft schon ein kleiner, aber wichtiger Sieg im Krieg um das Gute.
dazu u.a. Matthias Stadelmann, Isaak Dunaevskij. Sänger des Volkes. Köln 2003; Katharina Kucher, Der Gorki-Park. Freizeitkultur im Stalinismus. Köln 2007. 40 „The ideal was now a boy or girl who got top marks at school, but who, having safely completed his or her homework, and perhaps attended a Pioneer meeting too, then dashed off to the ice rink, spent some time playing on the swings in the local Park of Culture, or indeed helped him- or herself to a few ‚Tales of Pushkin‘ chocolates.“ Kelly, Children’s World (wie Anm.7), 94. 41 Das „Durch Nacht zum Licht“- Narrativ ist charakteristisch für die Personendarstellung in der Literatur des Sozialistischen Realismus, etwa in Bezug auf Konstellationen der (politisch korrekten) Entwicklung der Persönlichkeit im Kontext von Klassenkampf und Revolution. Vgl. etwa Katerina Clark, Socialist Realism with Shores. The Conventions for the Positive Hero, in: Thomas Lahusen/Evgeny Dobrenko (Eds.), Socialist Realism without Shores. Durham 1997, 27–50, 28. Die Figur des Timur hatte den Vorteil, dass der Klassenkampf im stalinistischen Verständnis bereits siegreich beendet war, Timur also schon ‚im Licht‘ heranwachsen konnte und keinen Läuterungsprozess mehr durchmachen musste. Pointiert formuliert: Timur musste kein ‚Kommunist‘ mehr werden, er hatte die Chance genutzt, es von Anfang an zu sein. Im Gegensatz zur Hauptfigur der Handlung gab es jedoch bei Kvakin und Figura noch Spielraum für die Entwicklung der Persönlichkeit, der Weg aus der Dunkelheit egoistischer Vergnügung auf Kosten anderer hin zur Selbsteinschreibung in den sozialistischen Zukunftsentwurf stand den Rowdies noch offen.
M . STADELMANN
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II. Alltag und Erfahrung
Kinder im Krieg als Thema der römischen Geschichtsschreibung der späten Republik und frühen Kaiserzeit von Christoph Schubert
I. Einleitung „Als Quintus Metellus in Spanien im Zuge des Krieges gegen die Keltiberer die Stadt Centobriga belagerte und, nachdem er die Belagerungsmaschine schon an den Teil der Mauer herangebracht hatte, der allein eingerissen werden konnte, bereits auf bestem Wege schien, die Mauer zu sprengen, zog er die Menschlichkeit dem in greifbare Nähe gerückten Sieg vor. Denn als die Bewohner der Stadt die Söhne des Rhoetogenes, der zu ihm übergelaufen war, den Stößen der Maschine entgegenhielten, entschied sich Metellus dazu, von der Belagerung abzustehen, damit nicht die Kinder im Angesicht des Vaters auf grausame Weise den Tod fänden, obwohl Rhoetogenes selbst ausdrücklich sagte, dies dürfe kein Hindernis sein, die Eroberung fortzuführen, und sei es auf Kosten des Unterganges seines eigenen Blutes.“ 1
In dieser Episode aus dem Jahr 142 v.Chr., die der frühkaiserzeitliche Autor Valerius Maximus berichtet, zeigen sich häufig wiederkehrende Züge des historiographischen Materials, das im Folgenden vorzustellen ist: Kinder sind auch in der römischen Antike Opfer kriegerischer Gewalt und werden teils sogar als taktisches Mittel eingesetzt. Sie stellen eine sowohl emotionale als auch rationale Größe dar – der Vater weist neben der empörenden Grausamkeit des Vorgangs darauf hin, dass seine Linie mit ihnen enden würde. Vor allem aber haben Kinder eine Funktion für die ethische Bewertung der Handlungen von Erwachsenen: Die Bewohner von Centobriga werden als Barbaren gebrandmarkt, indem sie Kinder als menschliche Schutzschilde verwenden; der Überläufer Rhoetogenes beweist – durchaus ambivalent –
1 Valerius Maximus 5,1,5. Die Stadt Centobriga wird nur in dieser Anekdote erwähnt und ist wohl im Tal des Jalón zu lokalisieren. Die folgenden Übersetzungen stammen vom Verfasser. Als Grundlage sind die maßgebenden kritischen Ausgaben verwendet.
DOI
10.1515/9783110469196-008
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seine Treue zu Rom und zugleich seine barbarische Unmenschlichkeit, indem er die eigenen Kinder zermalmen lassen würde; der Römer Metellus hingegen stellt die Humanität über den raschen militärischen Erfolg. Eine systematische Aufarbeitung dieser und ähnlicher Zeugnisse durch die Geschichtswissenschaft hat bislang nicht stattgefunden. Weder spielen Kinder in den zahlreichen militärhistorischen Arbeiten zur römischen Republik und Kaiserzeit noch umgekehrt der Krieg in den Studien zu Kindern und Kindheit in Rom eine nennenswerte Rolle. 2 Die folgenden Zeilen können diesem Desiderat nicht abhelfen, sondern wollen aus philologischer Perspektive lediglich eine erste Sondierung auf einem weitgehend unerschlossenen Terrain durchführen. Verwunderlich ist die bisherige Abstinenz der Forschung im Übrigen nicht. Das Interesse an einer Geschichte der Kindheit ist als solches vergleichsweise jung. Noch jünger ist das Interesse an einer Geschichte der Opfer, das sich natürlicherweise zuerst auf die Opfer der selbst noch erlebten Zeit erstreckt. 3
2 Aus der umfangreichen Literatur zur Kindheit in Rom vgl. Jean-Pierre Néraudau, Être enfant à Rome. Paris 1984; Beryl Rawson, Children and Childhood in Roman Italy. Oxford 2003; Marc Kleijwegt/Rita Amedick, Kind, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 20. Stuttgart 2004, 865–947; Judith Evans Grubbs/Tim Parkin (Eds.), The Oxford Handbook of Childhood and Education in the Classical World. Oxford 2013, sowie Andreas Lindemann, Kinder in der Welt der Antike als Thema gegenwärtiger Forschung, in: Theologische Rundschau 76, 2011, 82–111. Für den Vergleich mit Griechenland hilfreich ist Mark Golden, Children and Childhood in Classical Athens. 2.Aufl. Baltimore 2015. Aus der ebenfalls umfänglichen Literatur zum römischen Heerwesen seien nur Angelos Chaniotis/Pierre Ducrey (Eds.), Army and Power in the Ancient World. Stuttgart 2002; The Cambridge History of Greek and Roman Warfare. Vol.2: Rome. From the Late Republic to the Late Empire. Cambridge 2007 und Paul Erdkamp (Ed.), A Companion to the Roman Army. Oxford 2007 genannt. Einen kompakten Überblick gibt Leonhard Burckhard, Militärgeschichte der Antike. München 2008. Auch in den zahlreichen sozialgeschichtlich orientierten Arbeiten zum römischen Heer spielen Kinder kaum eine Rolle, vgl. hier John Patterson, Military Organization and Social Change in the Later Roman Republic, in: John Rich/Graham Shipley (Eds.), War and Society in the Roman World. London/New York 1993, 92–112; Lawrence Keppie, Army and Society in the Late Republic and Early Empire, in: Tønnes Bekker-Nielsen/Lise Hannestad (Eds.), War as a Cultural and Social Force. Essays on Warfare in Antiquity. Kopenhagen 2001, 130–136; Brian Campbell, War and Society in Imperial Rome, 31 BC–AD 284. London/New York 2002; Nathan Rosenstein, Rome at War. Farms, Families, and Death in the Middle Republic. Chapel Hill/London 2004. Die einzige Ausnahme stellt das Werk von John K. Evans, War, Women and Children in Ancient Rome. London/New York 1991 dar; hilfreich sind daneben die Artikel „Kind“, „Krieg“ und „Kriegsgefangenschaft“ in Heinz Heinen (Hrsg.), Handwörterbuch der Antiken Sklaverei (HAS). Stuttgart 2012 (5 CD-ROM). 3 Erste Impulse für eine Opfergeschichte der Antike, überwiegend für den griechischen Bereich, liefert die Gender-Forschung, vgl. Rosemarie Günther, Krieg: Sache der Männer?, in: Elke Hartmann/Udo Hartmann/Katrin Pietzner (Hrsg.), Geschlechterdefinitionen und Geschlechtergrenzen in der Antike. Stuttgart
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Hinzu kommt gewiss der Verdacht, die antiken, insbesondere historiographischen Quellen böten schlicht zu wenig Material, um qualifizierte oder gar quantifizierte Befunde erheben zu können; Letzteres ist zweifellos richtig. Auch die Komplexität des Feldes, innerhalb dessen neben den literarischen Texten die sich im Laufe der römischen Antike verändernde juristische Stellung des Kindes, die weit verstreuten epigraphischen Zeugnisse und die oft nur punktuellen archäologischen Erkenntnisse zu berücksichtigen und zueinander in Beziehung zu setzen wären, ist der Aufarbeitung nicht förderlich. 4 Die folgende Sondierung geht von einer knappen Darstellung der römischen Haltung zum Kind aus, da sich aus ihr die Beurteilung des Schicksals von Kindern im Krieg innerhalb der historiographischen Quellen erklärt. Diese römische Einstellung deckt sich mit der modernen Sicht nicht in allem, teils aufgrund religiöser und kultureller Grundhaltungen, teils aufgrund natürlicher Gegebenheiten.
II. Kinder in der römischen Antike Das durch Schulbücher und populäre Darstellungen verbreitete Bild des Alltags eines römischen Kindes, der vor allem aus Spiel und Schule bestand und sich innerhalb behüteter Familien bewegte, trifft die antike Realität nur sehr bedingt. Dieses Bild stützt sich meist auf Quellen, die überwiegend der Kaiserzeit entstammen, von Angehörigen der Oberschicht für ihresgleichen verfasst wurden und in denen – wie bei Seneca, Quintilian oder dem Jüngeren Plinius – ein philanthropisch-philosophischer Hintergrund die (idealisierte) Darstellung maßgeblich bestimmt. 5 Tatsächlich 2007, 87–98; Ignacio Borja Antela-Bernárdez, Vencidas, violadas, vendidas. Mujeres griegas y violencia sexual en asedios romanos, in: Klio 90, 2008, 307–322; Anne Bielman Sánchez, Des victimes entre silences et allusions. Les captives en Grèce ancienne, in: Francesca Prescendi/Agnes Anna Nagy (Eds.), Victimes au féminin. Genève 2011, 67–82. 4 Zu rechtlichen Aspekten Thomas A. J. McGinn, Roman Children and the Law, in: Evans Grubbs/Parkin (Eds.), Oxford Handbook of Childhood (wie Anm.2), 341–362; zur Sepulkralkunst Lena Larsson Lovén, Children and Childhood in Roman Commemorative Art, in: Evans Grubbs/Parkin (Eds., Oxford Handbook of Childhood (wie Anm.2), 302–321. 5 Diese traditionelle Richtung schlagen etwa Emiel Eyben, Sozialgeschichte des Kindes im römischen Altertum, in: Jochen Martin/August Nitschke (Hrsg.), Zur Sozialgeschichte der Kindheit. Freiburg/München 1986, 317–363, und noch Karl-Heinz Niemann, Plinius d. J. Ein Freund der Jugend?, in: AU 50, 2007, H.1, 14– 23, sowie Anja Wieber, „liberi sunt – immo servi sunt“. Vom Leben der Sklavenkinder, in: AU 50, 2007, H.1, 67–70, und partiell Annika Backe-Dahmen, Die Welt der Kinder in der Antike. Mainz 2008 ein.
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wurde auch in Rom gespielt und gelernt, aber gleichzeitig mussten die vielen Sklavenkinder sehr früh und hart arbeiten 6, die Zuwendung der Lehrer bestand nicht selten aus Stock- und Rutenhieben und die Familienverhältnisse waren oft durchaus ungeregelt. 7 Mehrere Parameter sprechen gegen ein zu romantisches Bild und zugleich für eine markante Entwicklung von der Republik zur Kaiserzeit hin, was die emotionale Haltung der Eltern und der Gesellschaft zum Kind betrifft. 8 So war die Kindersterblichkeit in Rom durchgehend hoch. Nicht nur Fehlgeburten, der Tod im Kindbett und der Säuglingstod bis zum 1. Geburtstag stellten ein verbreitetes Phänomen dar, sondern Krankheiten und Unfälle gefährdeten gerade die kleinen Kinder. Erst mit dem 5. Geburtstag galt die kritische Phase als überstanden. Die Schätzungen gehen von einer Kindersterblichkeit von etwa 30 Prozent aus, wie sie für vorindustrielle Gesellschaften typisch ist. 9 Der Tod von Kindern, gerade auch von Kleinkindern, war für Eltern, Geschwister und sonstige Angehörige also etwas Alltägliches. Damit harmoniert der Befund, dass literarische Zeugnisse für die Trauer über den Tod eines Kindes, die überhaupt erst in der spätesten Republik einsetzen, desto emotionaler ausfallen, je älter das Kind war und je sicherer mit seinem Überleben und künftigen Nutzen für die Familie zu rechnen war. 10 Dieselbe Haltung
6 Hanne Sigismund-Nielsen, Slave and Lower-Class Roman Children, in: Evans Grubbs/Parkin (Eds.), Oxford Handbook of Childhood (wie Anm.2), 286–301; Werner Petermandl, Kinderarbeit im Italien der Prinzipatszeit. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte des Kindes, in: Laverna 8, 1997, 113–136. Hinzu kam der sexuelle Missbrauch: Samuel X. Radbill, Children in a World of Violence. A History of Child Abuse, in: Ray E. Helfer/ Ruth S.Kempe (Eds.), The Battered Child. 4.Aufl. Chicago/London 1987, 3–22. 7 Beryl L. Rawson (Ed.), Marriage, Divorce, and Children in Ancient Rome. Oxford 1991; dies. (Ed.), The Roman Family in Italy. Status, Sentiment, Space. Oxford 1997. 8 Die Charakterisierung von Haltungen, Handlungen und Verbaläußerungen als ‚emotional‘ kann im Folgenden nicht ganz vermieden werden. Bezeichnet wird damit in der Regel eine entsprechend antiker Wahrnehmung erkennbar artikulierte Emotion. Allerdings ist eine Emotionsgeschichte der Antike – trotz des beherzten Vorstoßes von Ramsay MacMullen, Feelings in History, Ancient and Modern. Claremont, Cal. 2003 – gerade für die Eltern-Kind-Beziehung noch zu schreiben. Die Darstellung legt daher bewusst keine am antiken Material noch zu erprobende Theorie an, sondern bewegt sich nur im Vorfeld der Emotionsgeschichte. Zur Einführung in das komplexe Forschungsfeld vgl. Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte. München 2012. 9 Dennoch war Rom eine junge Gesellschaft, rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung dürfte jünger als 15 Jahre gewesen sein. Über die demographische Forschung informiert Tim Parkin, The Demography of Infancy and Early Childhood in the Ancient World, in: Evans Grubbs/Parkin (Eds.), Oxford Handbook of Childhood (wie Anm.2), 40–61. 10
Evans, War (wie Anm.2), 173–175. Eine interessante Bestätigung liefern die Bestattungssitten. So gab
es vor den ersten Milchzähnen keine Grabbeigaben und keine reguläre Bestattung, vgl. Egon Schallmayer,
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zeigt sich in der verbreiteten Praxis der Aussetzung von neugeborenen Kindern, die das Zwölftafelrecht für behinderte Kinder sogar ausdrücklich vorschrieb, und im gesamten Verfahren der Anerkennung eines Kindes als legitim und gesund durch den Vater, der dazu das Neugeborene vom Boden aufheben musste, aber eben auch nicht aufheben konnte. 11 Eine interessante Bestätigung der eher relativen Gefühlsbindung zwischen Eltern und Kindern liefern anthropologische Studien zu Gesellschaften mit einem aktiven Ahnenkult, wie ihn Rom bis in die Kaiserzeit hinein besaß. Es zeigt sich, dass das Verhältnis zu den Ahnen, die als strafend oder helfend oder willkürlich schadend wahrgenommen werden können, in direkter Korrelation zum Verhältnis zwischen Kindern und Eltern steht. Der römische Ahnenkult rangiert dabei in etwa in der Mitte zwischen den Extremwerten der Skala, die von einer das ganze Leben bestimmenden Angst vor den Ahnen bis zum angstfreien Umgang mit ihnen als stets wohlgesonnenen Mächten reicht. Entsprechend lässt sich auch für das Kind-ElternVerhältnis eine Gefühlsbindung postulieren, bei der sich vertrauensvolle Zuneigung und Angst vor Strafe die Waage hielten. 12 In die gleiche Richtung weist der sprachliche Befund. Das Lateinische ist an Wörtern für das Kind in der Zeit der Republik eher arm. Wo Kinder nicht relational als Tochter („filia“) und Sohn („filius“), differenziert nach dem Geschlecht als Junge („puer“) und seltener als Mädchen („puella“) oder standesbewusst als Freie („liberi“) benannt sind, werden sie gerne ohne weitere Differenzierung der Altersstufen innerhalb der Kindheit als die Kleinen („parvi“) bezeichnet. Dies ändert sich erst in der Kaiserzeit, in der Worte für das ein-, zwei-, drei- und vierjährige Kind aufkommen („anulus, bimulus, trimulus, quadrimulus“), wo neben das Kind, das noch nicht vernünftig sprechen kann („infans“), ein Wort für das Baby tritt („infantulus“) und weitere Diminutivbildungen auftauchen. 13 Die stärkere Emotionalisierung der Kindheit in der Kaiserzeit lässt sich darüber
Gräber von Kindern und Jugendlichen in römischer Zeit, in: Gabriele Seitz (Hrsg.), Im Dienste Roms. Festschrift für H.U. Nuber. Remshalden 2006, 55–69. 11 Judith Evans Grubbs, Infant Exposure and Infanticide, in: dies./Parkin (Eds.), Oxford Handbook of Childhood (wie Anm.2), 83–107. 12 Evans, War (wie Anm.2), 181–186. 13 Michael J. G. Gray-Fow, The Nomenclature and Stages of Roman Childhood. Ann Arbor, Mich. 1985; Evans, War (wie Anm.2), 175f.; Jana Kepartová, Kinder in Pompeji. Eine epigraphische Untersuchung, in: Klio 66, 1984, 192–209 (zur inschriftlichen Nomenklatur des Kindes).
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hinaus daran ablesen, dass erst jetzt von Kindern auf Inschriften als ‚süß‘ gesprochen wird und in der Literatur Schilderungen des ‚süßen‘ Aussehens und Verhaltens aufkommen, die für die Republik ganz fehlen. 14 Parallel zur Literatur zeigt die Porträtkunst und am breitesten die Sepulkralkunst das neue Bewusstsein, indem anders als zur Zeit der Republik das Kind nicht mehr als Miniaturausgabe eines Erwachsenen dargestellt wird, sondern seine eigenen kindlichen Proportionen und Attribute erhält und zunehmend bei spezifisch kindlichen Beschäftigungen gezeigt wird. 15 Auf gesellschaftlich-staatlicher Ebene weist das Aufkommen einer privaten und ab Nerva und Trajan auch einer staatlichen Kinderfürsorge, die es in der Republik nicht gab, gleichfalls auf eine verstärkte Zuwendung zum Kind. 16 Die sukzessive gesetzliche Beschränkung der „patria potestas“ kann vor diesem Hintergrund als juristische Anerkennung gewandelter gesellschaftlicher Verhältnisse gedeutet werden. Als Hauptursache für den Umschwung wird man mit Evans die großen Kriege, die Rom im 3.Jahrhundert v.Chr. gegen Karthago und im 2.Jahrhundert v.Chr. an weit entfernten Fronten in Spanien und im Osten führte, als Hauptursache anzuerkennen haben. 17 Reduziert man die komplexen Vorgänge auf die Grundlinien, ergibt sich folgendes Tableau: Aufgrund ihrer langen, nicht mehr nur saisonalen Abwesenheit als Soldaten können die Väter ihre „patria potestas“ faktisch nur noch eingeschränkt ausüben. Die Mütter rücken in eine ökonomisch und rechtlich wichtige Position auf. Der Tod vieler Väter im Feld führt dazu, dass es zu Hause innerhalb ein und derselben Altersgruppe von Jugendlichen rechtlich selbständige und rechtlich völlig unselbständige Söhne, nämlich solche mit lebenden Vätern, gibt. Der dadurch in Gang gesetzte Ausgleichsprozess führt ebenfalls zu einer Schwächung der „patria potestas“. Andererseits spülen die Kriege Geld und Sklaven in gewaltigem Ausmaß nach Rom. Für die Erziehung werden, da die Väter abwesend sind und ein staatliches Schulwesen nicht existiert, gerne griechische Ammen und Hauslehrer herangezogen. Diese bringen aus ihrer Kultur ein Verhältnis zum Kind mit, das Emotionen offener zeigt bzw. inszeniert, und haben zugleich ein handfestes Interesse, eine möglichst enge Beziehung zu den Kindern, ihren künftigen Herren, aufzubauen. Der von
14
Evans, War (wie Anm.2), 176.
15
Ebd.
16
Stanislaw Mrożek, Zu der kaiserlichen und der privaten Kinderfürsorge in Italien im 2. und 3.Jh., in:
Klio 55, 1973, 281–284. 17
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Vgl. zum Folgenden Evans, War (wie Anm.2), 166–209 passim.
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der hellenisierten römischen Führungsschicht initiierte Prozess erfasst am Ende die ganze Gesellschaft und lässt allmählich aus dem Kind eine rechtlich wie gefühlsmäßig eigene Größe werden. Die großen Kriege wirken sich auf die römischen Kinder also kurzfristig durch die Erfahrung der Vaterlosigkeit, langfristig durch soziale und wirtschaftliche Umwälzungen und kulturelle Neuerungen aus. Auch wenn man den Krieg so als wichtigen Motor der Veränderung betrachten darf, das Lebensgefühl römischer Kinder vielfach durch ihn geprägt war und ihn die drohende Mobilisierung und Abwesenheit der Väter, das Warten auf Nachrichten, das Bangen um das Leben, die Freude bei der Rückkehr oder Trauer bei der Gefallenenmeldung generationenübergreifend als Normalität erleben ließen, war er doch in aller Regel weit weg. Das römische Kerngebiet und insbesondere die Stadt Rom hatten abgesehen von den wenigen Ausnahmen des Galliereinfalls im frühen 4.Jahrhundert v.Chr., dem Krieg gegen Pyrrhus im frühen und dem gegen Hannibal im späten 3.Jahrhundert v.Chr. nicht mehr unter Eroberungen zu leiden gehabt. Auch in der Kaiserzeit waren die römischen Kinder, je weiter sich das Imperium ausdehnte, desto stärker der unmittelbaren Erfahrung des Krieges und seiner Folgen, etwa durch den Anblick von Schlachten und Kriegstoten oder durch Flucht und Vertreibung, entzogen. Dass sich römische Kinder bei der Truppe aufhielten oder im Laufe von Kampagnen geboren wurden, kam vor, ist aber ein Phänomen, das sich erst spät mit der Stationierung entlang fester Grenzen ausweitete. 18 Wenn die römischen Historiker daher über Kinder im Krieg berichten, sind es in aller Regel die Kinder der anderen, die der Gallier, der Germanen oder der Daker. Die große, als traumatisch erlebte Ausnahme stellen die vier großen Bürgerkriege des 1.Jahrhunderts v.Chr. zwischen Marius und Sulla, Pompeius und Caesar, den Caesarmördern und den Caesarerben sowie zwischen Octavian und Marc Anton dar. In diesen Kriegen war auch Italien Schauplatz der Ereignisse und so gut wie jede Familie unmittelbar oder mittelbar involviert. Aus diesem Grund erscheint die historiographische Literatur der Umbruchszeit zwischen Republik und Kaiserzeit, die diese Ereignisse verarbeitet, besonders interessant. Sie fällt außerdem gerade in die Zeit, in der sich die römische Haltung zum Kind am stärksten veränderte.
18 Michael Alexander Speidel, Frauen und Kinder beim römischen Heer, in: Pro Vindonissa (Jahresbericht) 1997, 53f.; Barbara Hölschen/Thomas Becker, „Grenzkinder“. Zu den Nachweismöglichkeiten von Kindern am Obergermanisch-Raetischen Limes, in: Seitz (Hrsg.), Festschrift Nuber (wie Anm.10), 35–44.
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III. Kinder im Krieg in historiographischen Narrativen Anhand vier ausgewählter Autoren, Caesar, Sallust, Livius und Velleius Paterculus, soll der Befund, der sich aus der spätrepublikanisch-frühkaiserzeitlichen Literatur erheben lässt, im Folgenden umrissen werden. Die vier Autoren decken mit ihrer Lebenszeit rund 130 Jahre ab. Ihre Werke sind innerhalb von rund achtzig Jahren zwischen ca. 50 v.Chr. bis 30 n.Chr. entstanden. Zu ihnen gehört mit Caesar ein Politiker und Militär, der in den 7 Büchern des Gallischen Kriegs und in den 3 Büchern des Bürgerkriegs für ein gemischt militärisch-ziviles Publikum schrieb. Auch Sallust, der über den kleinen Bürgerkrieg mit Catilina und den weiter zurückliegenden Krieg gegen den nordafrikanischen Potentaten Jugurtha jeweils in monographischer Form berichtet, war Offizier und Politiker. Livius, ein Zivilist ohne politische Ambitionen, zielt mit seiner großen römischen Geschichte auf ein gebildetes Publikum. Dasselbe tut Velleius mit seinem Abriss der Weltgeschichte in 2 Büchern, wobei er eine lange militärische Laufbahn hinter sich hat. Die soziale Herkunft der vier Autoren reicht von altem stadtrömischen Adel über Offiziersfamilien bis zur oberitalienischen Provinzelite. So versprechen die Zeugen, die innen- und außenpolitischen Themen ihrer Werke, auch deren unterschiedliche Genres einen einigermaßen breiten Zugang zum Thema. Dass besonders das livianische Material angesichts des Umfangs des Werkes nur selektiv herangezogen werden kann, sei vorausgeschickt. Als Kind wird, römischer Auffassung entsprechend, ein Mädchen vor der Heiratsfähigkeit, ein Knabe vor dem Anlegen der Toga virilis, also unter 12 bis 13 bzw. 14 bis 16 Jahren betrachtet. 19 Insgesamt ist von Kindern bei allen vier Autoren verhältnismäßig selten und nahezu ausschließlich als Opfer, die von Kriegshandlungen betroffen werden, die Rede. Betrachtet man zunächst den sprachlichen Befund, fällt das weitgehende Fehlen des Wortes „parvus“ (Kleiner) auf, das nie selbständig, sondern nur zur näheren Bestimmung gebraucht wird: „parvi liberi“ sind kleine Kinder im Vorschulalter. „Puer“ (Junge) und „pueri“ (Jungen, Kinder) dominieren gegenüber „puella“ (Mädchen), das bei Caesar, Sallust und Velleius überhaupt nicht vorkommt. „Filius“ und „filia“ werden weitaus häufiger zur Angabe des Verwandtschaftsverhältnisses von Erwachse19
Im Detail Gray-Fow, Nomenclature (wie Anm.13). Archäologische Zeugnisse ergänzt Hans Gabel-
mann, Römische Kinder in toga praetexta, in: JbDAI 100, 1985, 497–541.
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nen gegenüber Erwachsenen als für Kinder gebraucht, in Caesars Bellum Civile auffallenderweise fast ausschließlich für junge Erwachsene („adulescentes“). „Infans“ (Kleinkind) kennen Sallust und Velleius überhaupt nicht, Livius und Caesar nur vereinzelt. Das substantivierte Partizip „natus“ (Geborener, Entstammender), das im Epos gerne für den Sohn steht, taucht bei den Historikern in dieser Bedeutung nicht auf. Nur vereinzelt begegnet „impuber“ (noch nicht geschlechtsreif). Als normale Bezeichnung für Kinder konkurrieren aufs Ganze gesehen etwa gleichrangig „pueri“ und „liberi“. 20 Eine nähere Altersangabe wie „parvi liberi“ ist dabei die Ausnahme. Caesar, Sallust, Livius und Velleius bestätigen so die Ansicht, dass das ältere Latein an Bezeichnungen für das Kind arm ist und sich durch eine globale Sicht auf das Kind als Noch-nicht-Erwachsenen auszeichnet. Versuchsweise sollen die Belege, in denen von Kindern im Zusammenhang mit Kriegen die Rede ist, im Folgenden neun Kategorien zugewiesen werden, die sich aus der Durchsicht des Materials ergaben. Hierbei dienen nicht die verschiedenen historischen Funktionen des Kindes etwa als Geisel, militärisches Handicap oder Opfer von Gewalt und Vertreibung, auch nicht die Formen der Erwähnung – als Einzelperson, Kindergruppe oder in der stehenden Verbindung mit Frauen und wehrunfähigen Alten – und auch nicht die Unterscheidung nach Klassen von Kindern, römischen und nicht-römischen, adligen, gemeinen oder versklavten, als primäres Orientierungsprinzip, auch wenn sie teils hervortreten und vor allem die kategorial verschiedene Behandlung römischer und barbarischer Kinder in allen Zeugnissen evident ist, sondern als Ausgangspunkt der Einteilung dienen die Kinder-Narrative, also innerhalb des gewählten Corpus wiederkehrende Erzählmuster, die an identifizierbaren Orten der Narration zu stehen kommen und in denen die Erwähnung von Kindern im Kern die jeweils gleiche Funktion erfüllt. Die ersten drei Kategorien, die in der Folge vorgestellt werden, umfassen dabei grundlegende Narrative, die auch in
20 „Puer“ (samt „pueritia“, nirgends aber „puerulus“) haben Caesar 11 Mal, Sallust 10 Mal, Livius 87 Mal, Velleius 4 Mal; „puella“ nur Livius 21 Mal (nicht nur von Kindern); „liberi“ Caesar 21 Mal, Sallust 35 Mal, Livius 250 Mal, Velleius 9 Mal; „filius / filia“ Caesar 29 Mal, Sallust 26 Mal, Livius 390 Mal, Velleius 65 Mal (alle überwiegend zur Bezeichnung des Verwandtschaftsverhältnisses und häufiger von Erwachsenen als von Kindern); „impuber“ nur Caesar 2 Mal, Livius 3 Mal; „infans“ nur Caesar 2 Mal, Livius 12 Mal; „parvus“ mit Bezug auf Kinder Caesar 1 Mal, Sallust 3 Mal, Velleius 1 Mal, Livius 10 Mal; „natus / nata“ für den Sohn oder die Tochter nirgends, auch sonst das Wort mit Bezug auf Kinder nur vereinzelt. Alle Zahlen sind als Näherungswerte zu betrachten. „Virgo“ meint in der Regel eine bereits geschlechtsreife junge Frau und fällt insofern nicht unter den antiken Begriff des Kindes.
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Friedenszeiten wirksam sind, die weiteren sechs für den Kriegsfall spezifische. Jedes Narrativ wird knapp mit einigen Beispielen veranschaulicht. Selbstverständlich überschneiden sich die Erzählsituationen häufig. Insofern hat die folgende Systematik nur heuristischen Wert. 21 1. Auch im Kriegskontext und an diesen angepasst wird der in den antiken Gesellschaften unumstrittene und gewissermaßen objektive Wert leiblicher Nachkommen – Kinder als persönliches Humankapital – erzählerisch ausgestaltet. Wie in der eingangs zitierten Passage aus Valerius Maximus kommt dem Motiv vom Wert eigener Kinder bei den römischen Historikern gerne die Funktion eines offenen oder latenten Arguments zu. So beschreibt Velleius Paterculus, ein Parteigänger Kaiser Tiberius’, im Rückblick die Hoffnungen, die in der Bevölkerung durch dessen Adoption und Aufrücken zum Nachfolger des Augustus ausgelöst wurden. Die Schilderung, die sich des Stereotyps vom Anbruch einer neuen goldenen Zeit bedient, spielt vor dem düsteren Hintergrund des Todes der Augustusenkel Lucius und Gaius und der schwelenden Bedrohung des Reichs durch die Parther. Darin heißt es: „tum refulsit certa spes liberorum parentibus, viris matrimoniorum, dominis patrimonii“ (da erstrahlte die sichere Hoffnung auf Kinder den Eltern, den Männern auf Ehen, den Herrn auf Vermögen) (2,103,5). Die Wortwahl ist signifikant: Nicht rascher Besitzerwerb, sondern „patrimonium“, ein dauerhaftes und vererbbares Vermögen, und nicht irgendwelche Frauen, sondern „matrimonia“, rechtmäßige und mit vollem Zeremoniell geschlossene, d.h. politisch und finanziell stabile Ehen verheißt Tiberius’ Adoption. Dazu gehören auch „liberi“: keine Bastarde, sondern bürgerliche Kinder, die den Eltern dauerhaft erhalten bleiben, also nicht durch Seuchen, Not oder Bürgerkrieg und Krieg vor der Zeit geraubt werden. Derselbe Historiker exemplifiziert an zwei korrespondierenden Stellen das priva21
Für die zahlreichen Einzelprobleme der im Folgenden summarisch erörterten Passagen kann nur auf
die grundlegenden Kommentare verwiesen werden, zu Sallust insbesondere von Erich Koestermann (Hrsg.), C. Sallustius Crispus, Bellum Iugurthinum. Heidelberg 1971, und Karl Vretska (Hrsg.), C. Sallustius Crispus, De Catilinae coniuratione. Heidelberg 1976, zu Livius von Robert Maxwell Ogilvie, A Commentary on Livy. Books 1–5. Oxford 1965, Stephen P. Oakley, A Commentary on Livy. Books 6–10. 4 Vols. Oxford 1997–2005, und John Briscoe, A Commentary on Livy. Books 31–33. Oxford 1973 / Books 34–37. Oxford 1981 / Books 38– 40. Oxford 2008 / Books 41–45. Oxford 2012, und zu Velleius von Anthony John Woodman (Ed.), Velleius Paterculus, The Tiberian Narrative. Cambridge 1977 / The Caesarian and Augustan Narrative. Cambridge 1983. Livius’ Aussageabsicht vollzieht Karl-Heinz Niemann, Kinder und Jugendliche als Opfer und als Vorbilder. Beispiele aus der Livius-Lektüre, in: AU 50, 2007, H.1, 24–34 nach.
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te Glück und private Unglück zweier bedeutender und militärisch erfolgreicher Heerführer mithilfe des gleichen Topos (1,10,5 und 1,11,6). Aemilius Paullus, der Sieger von Pydna, hatte zwei seiner vier Söhne zur Adoption freigegeben. Die beiden anderen starben unmittelbar vor bzw. nach seinem Triumph mit erst 12 und 14 Jahren (1,10,3–5). Caecilius Metellus, der Makedonien zur römischen Provinz machte, hatte ebenfalls vier Söhne, die aber alle den Vater überlebten und zum Konsulat aufstiegen (1,11,6–7). In der als Diptychon gestalteten Erzählung repräsentiert der Besitz leiblicher Nachkommen ausdrücklich das denkbar größte private Glück, der Verlust der eigenen Kinder das denkbar schlimmste Unglück. Bezeichnend für die Bedeutung, die Velleius auch sonst dem Überleben der Kinder zumisst, und für den geringen Stellenwert, den er umgekehrt kleinen Kindern zumisst, ist die Tatsache, dass er die Kindheit des Augustus erst ab dem Anlegen der Männertoga erzählt (2,59). Die Sorge um die leiblichen Kinder führt im Kriegskontext gelegentlich zu Schutzmaßnahmen, die den Stellenwert der Kinder ihrerseits verdeutlichen. Livius erzählt, wie Frauen und Kinder im Jahr 390 v.Chr. aus Rom nach Caere verbracht wurden, um sie der Kriegsgefahr zu entziehen. In diesem Zusammenhang berichtet er die Anekdote von L. Albinus, der seine Frau und seine Kinder aus dem Fluchtfahrzeug holte, um einen Priester mit dem Wagen fahren zu lassen, seine Familie also durch den langsameren Weg zu Fuß bewusst einer größeren Gefahr aussetzte (5,40,9–10). Die Anekdote soll die altrömische Frömmigkeit des Albinus belegen. Sie funktioniert nur dann, wenn der Fürsorge für Frau und Kinder an sich ein hoher positiver Wert zukommt, der das Opfer, das Albinus bringt, umso bedeutender macht. Die Methode, Frauen und Kinder im Kriegsfall aus der Gefahrenzone zu schaffen, sofern dies möglich ist, verbindet im übrigen Römer und Barbaren. Unter den zahlreichen Beispielen seien nur die Sueben genannt, die bei Caesar Frauen und Kinder in den Wäldern verstecken. 22 2. Etwas häufiger als innerhalb der historischen Handlung spiegelt sich der den leiblichen Kindern zugemessene objektive Wert in Gedankengängen, wonach es sich lohne, für die Kinder zu kämpfen, ja zu sterben. Das objektive Argument vom Wert der Kinder geht hierbei eine unlösbare Verbindung mit einem zweiten Topos ein, nämlich der natürlichen emotionalen Bindung der Eltern an die leiblichen Kinder, der erzählerisch meist als Beschwörungsgestus umgesetzt wird. Dies gilt für die Beteu-
22 Cae., Gall. 4,19,2.
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erungsformel „per liberos“ (sinngemäß „beim Leben meiner/deiner Kinder“) 23 ebenso wie für Feldherrnreden, die im Kriegskontext das Emotionalisierungspotenzial dieses Topos ausschöpfen. Mehr oder weniger explizit wird stets an das Konzept der „pietas“ zwischen Eltern und Kindern appelliert, in dem sich objektive und subjektive Aspekte der wechselseitigen Fürsorgepflicht für die Blutsverwandten und der liebenden Zuneigung miteinander verbinden. So kann etwa im Bürgerkrieg gegen Catilina M. Petreius vor Beginn der Entscheidungsschlacht knapp dazu aufrufen „pro liberis certare“ (für die Kinder zu kämpfen). 24 Auf Seiten der Barbaren gewissermaßen szenisch umgesetzt findet sich derselbe Gestus, wenn die gallischen Frauen die Kinder hervorholen und ihren Männern zeigen, um diese zum Kampf anzuspornen. 25 Auch die Gruppe der Kämpfer kann eine entsprechende Selbstbeschwörung vornehmen, so die gallischen Reiter, die sich eidlich dazu verpflichten, Eltern, Kinder und Frauen erst nach doppeltem Ritt durch die Reihen der Römer wiederzusehen. 26 Doch kann die emotionale Bindung an die Kinder ausnahmsweise auch als Argument gegen einen Kampf instrumentalisiert werden, wenn die gallischen Frauen ihre Männer – letztlich erfolgreich – in einer aufwühlenden Szene vom bereits beschlossenen Ausbruch aus Avaricum abhalten. 27 Einen ganz anderen Blick auf die Gefühlslage jenseits dieser rhetorischen Topik eröffnet Velleius Paterculus, wenn er anlässlich der Proskriptionen des Zweiten Triumvirats schreibt: „Allerdings ist es bemerkenswert, dass die Treue gegenüber den Proskribierten bei ihren Frauen sehr groß war, bei ihren Freigelassenen mittelmäßig, bei ihren Sklaven noch vorhanden, bei ihren Söhnen gar nicht: So schwierig ist es für Menschen, den Aufschub einer irgendwie gefassten Hoffnung zu ertragen.“ 28
Gemeint ist, dass die Söhne der Proskribierten die Hoffnung auf Selbstbestimmung und auf die Verfügungsgewalt über das Familienvermögen dazu veranlasste,
23
Z.B. Sall., Catil. 35,6 „per liberos tuos“ in einem Brief des Catilina; Sall., Iug. 14,25 „per liberos“ in der
Rede des Sohnes des Micipsa vor dem Senat. 24
190
Sall., Catil. 59,5.
25
So z.B. Cae., Gall. 7,48,3.
26
Cae., Gall. 7,66,7.
27
Cae., Gall. 7,26,3.
28
Velleius, 2,67,2.
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nichts gegen die Ächtung ihrer Väter zu unternehmen. Schlaglichtartig wird hier das problematische Verhältnis zwischen den dank ihrer „patria potestas“ normalerweise übermächtigen Vätern und den erwachsenen Söhnen sichtbar, das offensichtlich einer stärkeren Bindung der Söhne an die Väter entgegenwirkte. 3. Dass die Generationen dennoch als zusammengehörig wahrgenommen wurden, zeigen Erzählungen, die die Interdependenz von Eltern und Kindern als Schicksalsgemeinschaft thematisieren. Insbesondere im Bürgerkrieg tritt diese bei kollektiven Strafmaßnahmen hervor. Väter und Söhne erleiden gemeinsam Exilierung oder Ermordung, die Kinder der Proskribierten werden von den Staatsämtern ausgeschlossen und verlieren das Anrecht auf ihr Erbe. So wird in den gracchischen Wirren Fulvius Flaccus zusammen mit seinem ältesten Sohn ermordet 29; der Sohn des Marius wird mit dem Vater vertrieben, erleidet mit ihm das Schicksal eines Verbannten und wird mit ihm schließlich nach Rom zurückgeholt 30. Während Velleius die übliche Empörung über diese Form der Sippenhaft äußert 31, um Sullas Grausamkeit im Rückblick herauszustreichen, nutzt Caesar die Unbilligkeit der Sippenhaft propagandistisch gegen seine aktuellen Gegner aus: Der Pompeianer Attius Varus, hinter dem schon Niederlage und Flucht liegen und der sich der Provinz Africa ohne Rechtsgrundlage bemächtigt hat, zeigt seinen eklatanten Mangel an Humanität, indem er in Utica Tubero daran hindert, seinen kranken Sohn vom Schiff an Land zu bringen. 32 Der Grund für die Sippenhaft, der die Kinder ausgesetzt sind, ist nicht in der römischen Rechtsauffassung zu suchen, sondern im althergebrachten gentilizischen Denken, das den Söhnen im Rahmen des Konzepts kindlicher „pietas“ die Pflicht zur Rächung der Eltern auferlegt. In den Quellen ist diese teils stärker als moralische, teils auch als rechtliche Verpflichtung beschrieben. Mit der kollektiven Bestrafung werden daher potenzielle „ultores“ beseitigt. 33 Aus Sicht der römischen Historiker ist die Interdependenz von Eltern und Kindern ein universelles Prinzip, das auch bei Barbaren Gültigkeit besitzt. So hat Sallust den Konflikt zwischen den noch jungen leiblichen Kindern des Micipsa und dem älteren
29 Velleius, 2,6,6. 30 Velleius, 2,19,1; 2,19,4; 2,20,5. 31 Velleius, 2,28,4. 32 Cae., civ. 1,31,3. 33 Vgl. u.a. Velleius, 2,6,6; 2,18; 2,28,4; 2,43,3.
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Adoptivsohn Jugurtha als wichtigen Motor des Krieges in Africa gestaltet, der von den politischen Erwägungen des greisen Micipsa bis zur Klagerede des Sohnes vor dem römischen Senat und dem Tod aller Konkurrenten Jugurthas präsent bleibt. 34 4. Während der Wert leiblicher Kinder, die emotionale Bindung an sie und die feste Zusammengehörigkeit von Eltern und Kindern auch in zivilen Kontexten thematisiert werden, begegnen Kinder als politisch wichtige Größe, als Instrument der Diplomatie vor allem im Vorfeld und im Nachgang kriegerischer Ereignisse, gelegentlich aber auch während eines längeren Feldzugs. Caesar und Livius erwähnen geradezu massenhaft die Stellung von Geiseln zur Absicherung beinahe beliebiger vertraglicher Regelungen und Absprachen in äußeren und seltener auch in inneren Kriegen. 35 Unter den Geiseln befinden sich nicht selten Söhne bedeutender Persönlichkeiten, deren Alter in der Regel nicht präzisiert wird; um kleinere Kinder dürfte es sich wohl nur in Einzelfällen gehandelt haben, schon weil diese weniger wertvoll scheinen mussten. An den meisten Stellen wird die Tatsache der Stellung der meist nicht-römischen Kinder als Geiseln lediglich knapp notiert. 36 Selten ist eine ausführlichere Erzählung, wie die Anekdote über eine Schülergruppe aus Falerii bei Livius, die von ihrem treulosen Lehrer während des Krieges der Römer gegen Falerii 395 v.Chr. heimlich aus der Stadt zum römischen Feldherrn Camillus geführt und diesem als Geiseln angeboten wird. Camillus lehnt ab, lässt die Kinder zurückbringen und den Lehrer unter Peitschenhieben zurücktreiben. Das edle Verhalten löst in Falerii einen Meinungsumschwung aus, der Frieden und Versöhnung herbeiführt (5,27). Im Fokus der Erzählung stehen römische „fides“ und „iustitia“, die Camillus exemplarisch verkörpert; die Kinder der Feinde dienen als Objekt, an dem sich die Tugend bewährt. Daneben spielt das an sich zivile Mittel, durch Heiratsverbindungen politische Freundschaften zu garantieren, vereinzelt auch in den Bereich des Krieges hinein: Der Tod des kleinen Sohnes, den Pompeius und Caesars Tochter Julia hatten und der bald nach seiner Mutter noch im Kindbett starb, löste die letzte Bindung zwischen den Kontrahenten und führte unmittelbar zur Eröffnung der Feindseligkeiten. 37 34
Sall., Iug. 6,2–3; 10,8; 22,2. Auch Jugurtha denkt und argumentiert für seine Kinder ganz gentilizisch,
vgl. Sall., Iug. 47,3 und 76,1. 35
Z.B. setzt Marc Anton bei Velleius, 2,58,3 seine Kinder als freiwillige Geiseln für den freien Abzug der
Caesarmörder ein.
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36
Z.B. Cae., Gall. 2,13,1. Dasselbe unter den Galliern 6,12,3.
37
Velleius, 2,47,2.
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5. Dass Kindern über ihre politischen Funktionen hinaus eine aktive militärische Rolle zufällt, kommt in den Texten nur ganz vereinzelt und stets an besondere Umstände gebunden vor. Tatsächlich dürften Kindersoldaten in der Antike schon deswegen kaum eingesetzt worden sein, weil im Gegensatz zur Neuzeit die Handhabung aller Arten von Waffen, besonders auch der Fernwaffen, erhebliche Körperkraft verlangte. Wo dennoch kämpfende Kinder erwähnt werden, dient dies geradezu als Signum einer absoluten Ausnahmesituation. Im Jahr 402 v.Chr. hat Rom einen Vierfrontenkrieg gegen die Städte Veiji, Capena, Falerii und gegen die Volsker zu bestehen. In äußerster Not wird eine Art ‚Volkssturm‘ aufgeboten, der dem Leser eben den verzweifelten Ernst der Lage verdeutlichen soll. 38 Dasselbe gilt für die Kinder in der Schilderung eines Straßenkampfes in der nordafrikanischen Stadt Vaga, in den die römischen Soldaten durch die Unvorsichtigkeit ihres Kommandanten Turpilius gerieten und bei dem sie durch die einheimischen Frauen und Kinder aufgerieben wurden: „Vom Rand der Hausdächer herab warfen Frauen und Kinder um die Wette große Steine und andere Gegenstände, die gerade zur Hand waren.“ 39 Die Episode zeigt nicht nur, dass Frauen und Kinder gelegentlich doch eine militärisch relevante Größe sein konnten, sondern wird von Sallust vor allem deshalb erzählt, weil die völlig unübliche Beteiligung von schwachen Frauen und noch schwächeren Kindern am Kampfgeschehen die Schande des Turpilius, der seine Truppe an diesen Gegner verliert, noch drastischer erscheinen lässt. Lediglich zur Ausführung einer Finte werden Frauen und Kinder im Bürgerkrieg von den römischen Bewohnern der Stadt Salonae eingesetzt, die auf Seiten Caesars stand und von dem Pompeianer M. Octavius eingeschlossen worden war. Nachdem man bereits verschiedene verzweifelte Maßnahmen ergriffen hatte, so die waffenfähigen Sklaven freizulassen und den Frauen die Haare abzuschneiden, um daraus Seile zu verfertigen, verkleideten die Saloner Frauen und Kinder als Soldaten, postierten diese zum Schein auf der Mauer und unternahmen selbst einen Ausfall, der sie aus der Umklammerung befreite. 40 Wie die ganze Erzählung ist auch das Detail, sich von Kindern und Frauen getäuscht haben zu lassen, vom Erzähler auf die Desavouierung des gegnerischen Feldherrn hin berechnet.
38 Liv., 5,10,7. 39 Sall., Iug. 67,2. 40 Cae., civ. 3,9,6.
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6. Ebenso selten wie militärisch aktive Kinder wird die Ausbildung zum Kriegshandwerk im kindlichen Alter erwähnt. Sie erscheint als etwas typisch Altrömisches, das in der jüngeren Vergangenheit bereits außer Gebrauch gekommen ist und daher im Einzelfall Erwähnung verdient. So ist Marius bei Sallust, der dies entsprechend seiner demonstrativ wertkonservativen Haltung mit Sympathie berichtet, stolz darauf, nach alter Väter Sitte eine harte Kindheit gehabt zu haben und früh militärisch ausgebildet worden zu sein. 41 Dasselbe gilt für den makedonischen König Perseus, den sein Vater von Kindesbeinen an auf Feldzüge mitnahm und das Kriegshandwerk von der Pike auf lehrte. Gegenüber seinen Soldaten, die dieselbe harte Schule durchlaufen haben, kann er damit für die eigenen Siegeschancen gegenüber den Römern argumentieren. 42 Ähnlich rühmen sich die Numider bei Livius, den Krieg zu Pferd traditionsgemäß von frühester Kindheit an zu üben. 43 Bei beiden handelt es sich um valable militärische Gegner. A fortiori gilt dies für Hannibal, dessen frühe militärische Ausbildung das bekannteste Beispiel für dieses Phänomen ist. 44 Das Erzählmotiv ‚militärische Schulung (und Indoktrinierung) im Kindesalter‘ fungiert offensichtlich als möglicher Indikator für die Gefährlichkeit eines Feindes. 7. Viel öfter tauchen Kinder freilich als passive Zuschauer bei Kampfhandlungen auf. Im Gallischen Krieg feuern einheimische Frauen und Kinder von den Mauern der Städte oder von der Wagenburg 45 aus regelmäßig ihre kämpfenden Männer und Väter an und werden ebenso regelmäßig zu Zeugen von deren Niederlage. Als geradezu topischer Aufenthaltsort dient die Mauer auch, wenn – nach den Männern im Feld – die Frauen und Kinder in der Stadt diese kampflos übergeben. 46 Nicht anders verhält es sich in Afrika. Nur nebenher und als ganz selbstverständlich schildert Sallust, dass Frauen und Kinder als Zuschauer einen Kampf beobachten. Die scheinbar sichere Distanz erweist sich hier als trügerisch, da Marius und Sulla das Kastell der Numider unbemerkt durch ein Einsatzkommando einnehmen und sich die Zuschauer plötzlich von hinten feindlichen Soldaten ausgesetzt sehen: „Da ertönten
41
Sall., Iug. 63,3; 85,7; 100,5.
42
Liv., ius 42,11,7; 42,52,10.
43
Liv., 24,48,5–6.
44
Liv., 21,1,4; 30,35,10; 35,19,2–3.
45
Herbert Grassl, Wagenburgen, in: Grazer Beiträge 28, 2011, 39–43.
46
So die Bellovaker bei Cae., Gal. 2,13,3. Auf der Mauer halten sich Frauen und Kinder auch im belager-
ten Marseille im Bürgerkrieg auf, vgl. Cae., civ. 2,5,3.
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plötzlich vom Rücken her Signale. Zuerst flohen die Frauen und Kinder, die um zuzusehen herausgekommen waren, dann jeder, der sich in der Nähe der Mauer befand, und schließlich alle, Bewaffnete wie Unbewaffnete.“ 47 Mit der Normalität der Anwesenheit von Frauen und Kindern als Zuschauern, die als weicher militärischer Faktor für einen gesteigerten Einsatz jener Kriegspartei sorgen, die unter Beobachtung der eigenen Leute steht, können die Historiker besondere militärische Leistungen erklären 48 oder durch ihre Figuren in Aussicht stellen lassen. 49 8. Als Opfer unmittelbarer Gewalt im Krieg rücken Kinder nur vereinzelt in den Fokus der Erzähler. In der Regel dient die Erwähnung der besonderen emotionalen Aufladung einer Szene. So erzählt Livius über die von den Römern 206 v.Chr. belagerte und ausgehungerte spanische Stadt Astapa, dass sich ihre Bewohner zum kollektiven Selbstmord entschlossen: „Fürchterlicher war das andere Metzeln innerhalb der Stadt, wo die eigenen Mitbürger die unkriegerische und wehrlose Schar der Frauen und Kinder niedermachten, die überwiegend nur halbentseelten Körper auf den angezündeten Scheiterhaufen warfen und Bäche von Blut die aufkommende Flamme löschten. Zuletzt stürzten sie sich selbst, vom erbarmungswürdigen Hinschlachten der eigenen Leute erschöpft, mit ihren Waffen mitten ins Feuer.“ 50
Die Häduer beschweren sich bei Caesar darüber, dass ihre Kinder von den ins Land eingedrungenen Helvetiern in die Sklaverei verschleppt würden. Dies wird als einer der Gründe für das militärische Eingreifen des Prokonsuls hingestellt, muss also dem römischen Publikum besonders einsichtig gewesen sein. 51 Wie groß Caesar die Freude seiner Leser am Untergang besonders gefährlicher, tückischer und barbarischer Feinde einschließlich deren Kinder eingeschätzt haben muss – zu solchen hat er die Germanen zuvor sorgfältig stilisiert –, zeigt die Schilderung der Entscheidungsschlacht im vierten Buch des Gallischen Krieges: Nachdem die Römer ins feindliche Lager eingedrungen sind, fliehen Frauen und Kinder. Caesar hetzt ihnen
47 Sall., Iug. 94,5. 48 So Liv., 7,11,6. 49 So bei Liv., 28,42,11 die Warnung, die Karthager würden zu Hause anders kämpfen als in der Fremde; analog 30,33,11; vgl. auch 5,49,3. 50 Liv., 28,23,2. Die Angst der Spanier vor der „direptio“ ihrer Stadt, die der römischen Soldateska keinerlei Schranken auferlegte, ist verständlich, vgl. zur Sache Adam Ziolkowski, Urbs direpta, or how the Romans Sacked Cities, in: Rich/Shipley (Eds.), War and Society (wie Anm.2), 69–91. 51 Cae., Gall. 1,11,2–3.
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seine Reiterei auf den Hals. Die Schreie der Sterbenden und der Anblick des Gemetzels demoralisieren die germanischen Kämpfer, die sich ebenfalls zur Flucht wenden und entweder niedergemacht werden oder im Rhein bei Koblenz ertrinken. 52 So wie Caesar hier im Anschluss die Zahl 430000 nennt, die die Höhe der Verluste einzuschätzen hilft, tut er dies strukturell vergleichbar nach dem Sieg über einen ähnlich erbittert bekämpften Feind, die in Avaricum verschanzten Gallier. Auch dort wird von den römischen Legionären nach der Einnahme der Stadt Greisen, Frauen und Kindern kein Pardon gewährt („non aetate confectis, non mulieribus, non infantibus pepercerunt“). 53 An der einzigen weiteren Stelle, an der Caesar das Wort „infans“ benutzt, rekurriert er unmittelbar auf diesen Vorgang: Die im belagerten Gergovia um ihr Leben bangenden gallischen Frauen bitten darum, Frauen und Kinder möchten nicht dasselbe Schicksal wie in Avaricum erleiden. 54 Die Passage dient dem rhetorischen Effekt, den Umschwung des Kampfes durch den im nächsten Kapitel erfolgenden Gegenangriff der Gallier besonders überraschend erscheinen zu lassen. Eine weitere der seltenen Opferstatistiken gibt Caesar am Ende des Krieges gegen die Helvetier, einen ebenfalls zum Angstgegner stilisierten Feind. Die Zahlen stammen angeblich aus Listen der Helvetier, in denen der Anteil der waffenfähigen Männer und derjenige der Frauen, Kinder und Greise ausgewiesen war. 55 Demnach betrug der Anteil der Kämpfer 92000 Mann bei einer Gesamtstärke des Völkerverbandes von 368000 Köpfen, also gerade ein Viertel. Auch wenn die Zahlen sichtlich gerundet und überhaupt mit Vorsicht zu betrachten sind, außerdem die Verluste unter den Kombattanten besonders hoch anzusetzen sein werden, entfällt bei insgesamt 258000 Toten, von denen Caesar spricht, immer noch ein massiver Anteil auf wehrunfähige Personen. Dass sich die Tötung von Kindern im Krieg nicht nur nüchtern bilanzieren, sondern auch zur Emotionalisierung verwenden lässt, wenn es sich um römische Kinder handelt, zeigt Caesar selbst, wenn er die Grausamkeit des feindlichen Generals Calpurnius Bibulus im Bürgerkrieg damit demonstriert, dass dieser die Mannschaft eines abgetriebenen und aufgebrachten caesarianischen Schiffes einschließlich der
196
52
Cae., Gall. 4,14,5–15,3.
53
Cae., Gall. 7,28,4–5.
54
Cae., Gall. 7,47,5.
55
Cae., Gall. 1,29.
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an Bord befindlichen Kinder liquidiert. 56 Noch gesteigert erscheint demgegenüber ein Exempel des Livius für die Grausamkeit des Hannibal, der die Frau und Kinder des Altinius in sein Lager lockt, nach dessen Verbleib aushorcht und danach bei lebendigem Leibe verbrennen lässt. 57 Man wird trotz der geringen Zahl der Beispiele hier einen kategorialen Unterschied zwischen römischen und fremden Kindern in der Wahrnehmung der Historiker konstatieren, der in den anderen Erzählsituationen nicht in dieser Deutlichkeit zum Tragen kam. 9. Viel öfter als durch unmittelbare Gewalt kommen Kinder nach Ausweis der vier Historiker aber als Opfer mittelbarer Gewalt durch Versklavung, Vertreibung und Flucht zu Schaden. Einen Einblick in die innerrömischen Verhältnisse bietet Sallust, der – auch wenn er seine Analyse in ein Dekadenzmodell des rapiden Verfalls des römischen Staates nach der Niederwerfung Karthagos einbettet und daher tendenziell in negativer Richtung überzeichnet – folgendes Tableau entwirft: „Im Übrigen hatte der Adel durch seine Parteistruktur mehr Durchschlagskraft, die in seiner Masse völlig zersplitterte Macht des Volkes konnte weniger ausrichten. Nach der Willkür weniger Leute wurde in Krieg und Frieden verfahren; in ihrer Verfügungsgewalt lagen auch der Staatsschatz, die Provinzen, die Beamtenstellen, die Ehren und die Triumphe; das Volk wurde von Kriegsdienst und Not bedrückt; die Kriegsbeute rissen die Feldherrn mit wenigen anderen an sich; inzwischen wurden die Eltern oder kleinen Kinder der Soldaten von Haus und Hof vertrieben, wenn sie Nachbarn eines Mächtigeren waren.“ 58
Dieser scharfsichtigen Analyse der intensiven Kriegsführung und ihrer Folgen für die römische Gesellschaft lassen sich wenige Passagen an die Seite stellen. Von Einzelschicksalen hört man nur ausnahmsweise, wenn sie prominent genug sind. Velleius Paterculus erzählt, wie Livia im Bürgerkrieg aus der Stadt Rom mit ihrem noch nicht zweijährigen Sohn Tiberius auf dem Arm auf abgelegenen Pfaden durch die Reihen der Soldaten zum Meer floh und sich dort nach Sizilien einschiffte. 59 Ähnliche Fluchten wird es tausendfach gegeben haben; nur die des späteren Kaisers schaffte den Sprung in die Geschichtsschreibung.
56 Cae., civ. 3,14. 57 Liv., 24,45,13–14. 58 Sall., Iug. 41,6–8. 59 Velleius, 2,75,3.
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Fallen so nur vereinzelte Schlaglichter auf das Alltagsschicksal römischer Kinder im Bürgerkrieg, ist namentlich bei Caesar im Gallischen Krieg von der Versklavung der nicht waffenfähigen Bevölkerung, also auch der Kinder, häufig die Rede als dem Regelfall, der nach der Besiegung eines widerspenstigen Stammes, der nicht begnadigt wird, eintritt. Über die Tatsache der Gefangennahme und des Verkaufs hinaus interessiert das Schicksal der Sklaven aber nicht. Stets genügen dem Eroberer kurze Notizen, um das Faktum festzustellen. 60 Anders verhält es sich im Falle der Begnadigung. Nachdem der Stamm der Nervier nahezu vollständig vernichtet ist und nur noch Greise, Frauen und Kinder übrig sind, die in Sümpfen und Buchten in Sicherheit gebracht worden waren, bitten diese um Gnade, die gewährt und ausführlich samt aller besonderen Schutzmaßnahmen referiert wird. 61
IV. Eigenart und Grenzen der historiographischen Narrative Die skizzierte Häufigkeit, Spannweite und Vielschichtigkeit des narrativen Rekurses auf Kinder im Kontext des Krieges könnte zu der Vermutung Anlass bieten, es liege ein hinreichend großes Reservoir an Texten für eine qualifizierte Analyse vor. Übermäßige Zuversicht scheint allerdings aufgrund der Eigenart der behandelten antiken Quellen, die ihre Aussagekraft erheblich einschränkt, dennoch nicht geboten. Dies sei an einem letzten Beispiel vor Augen geführt. Sallust schildert etwa in der Mitte seiner Monographie die Kriegsangst, die sich in Rom aufgrund der Umtriebe der Catilinarier, vor allem aber aufgrund der von Cicero gegen sie ergriffenen Notstandsmaßnahmen verbreitete: „Außerdem schlugen sich die Frauen, die eine aufgrund der Macht des Staates bislang ungewohnte Angst vor einem Krieg ergriffen hatte, an die Brust, streckten flehend die Hände zum Himmel, klagten um ihre kleinen Kinder, fragten dauernd nach allem, erschraken bei jedem Gerücht, rissen alles an
60
Cae., Gall. 7,78,1–4 wird die scheinbare Kälte Caesars, der die um Gnade flehenden und von Vercinge-
torix verjagten Mandubier, bei denen sich Frauen und Kinder aufhalten, abweist und dadurch dem Hungertod preisgibt, dadurch, dass unmittelbar zuvor der Entschluss der Gallier, alle nicht waffenfähigen Personen als unnütze Esser abzustoßen, erzählerisch eingefangen und erscheint als vernünftige strategische Entscheidung, sich nicht den Ballast der Feinde aufzwingen zu lassen. 61
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Cae., Gall. 2,28,1–3.
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sich, ließen Hoffahrt und Lustbarkeiten und gaben nichts mehr auf sich und die Heimat.“ 62
Der Historiker bedient sich sichtlich des geläufigen Stereotyps (irrationalen) weiblichen Verhaltens, zu dem die (übertriebene) Sorge um die Kinder gehört, die freilich auf dem Wissen fußt, dass diese im Krieg bedroht sind. Mit dieser Panikbeschreibung korrespondiert eine zweite, die Sallust in der großen Senatsdebatte zwischen Cato und Caesar, der für eine milde Bestrafung der Catilinarier plädiert, diesem in den Mund legt: „Die meisten meiner Vorredner haben in wohlgesetzten und beeindruckenden Worten die Misere des Staates beklagt und im Einzelnen dargelegt, wie die Greuel des Krieges aussehen und was mit den Besiegten geschieht; da würden Jungfrauen und Knaben vergewaltigt, Kinder würden aus den Armen der Eltern gerissen, verheiratete Frauen müssten erdulden, was den Siegern beliebt; Tempel und Häuser würden geplündert; es gäbe Mord und Brandschatzung; schließlich würde sich alles mit Waffen, Leichen, Blut und Jammer füllen.“ 63
Wohlgemerkt, ein Krieg hat noch nicht stattgefunden. Caesar referiert deutlich ironisch die Panik, die sich nun auch des Senats bemächtigt hat und zu der das Kriegsstereotyp der missbrauchten und verschleppten Kinder wie das der Brandschatzung gehört. Um Kinder oder auch nur den Krieg geht es hier allerdings eigentlich nicht. Das Ziel des Historikers ist es, die Deutung der catilinarischen Verschwörung als eines Großereignisses der römischen Geschichte, wie sie Cicero zu etablieren versucht hatte, zu demontieren. Ohne in eigener Person Kritik üben zu müssen, demonstriert Sallust, indem er römischen Frauen und römischen Senatoren gleiche Worte und Befürchtungen zuweist, dass das Verhalten der Senatoren weibisch und voll irrationaler Ängste ist, mithin a fortiori das Verhalten des Konsuls, der die Panik aus vergleichsweise nichtigem Anlass ausgelöst hat. Sallust war ein Parteigänger Caesars. Nichts konnte dessen zwielichtige Rolle in der Catilinarischen Verschwörung besser kaschieren, als wenn es gar keine so gefährliche Verschwörung gegeben hatte. Die Rede von den Kindern, die den Mutterarmen entrissen werden, wird von Sallust dezidiert als Stereotyp aufgerufen, um sie als rhetorischen Topos durchschaubar werden zu lassen und die Fragwürdigkeit eben solcher rhetorischer Topoi,
62 Sall., Cat. 31,3. 63 Sall., Cat. 51,9.
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deren sich Cicero als Konsul bedient hatte, herauszustellen. Die Rede vom Kriegsschicksal der Kinder ist hier nur ein Vehikel im politischen Kampf um die Deutungshoheit. Dasselbe ließ sich mehr oder weniger deutlich an vielen der oben vorgestellten Beispiele beobachten. Auch dort waren rhetorische Darstellungsabsichten und die Funktionalisierung des Motivs der Kinder im Dienste einer moralischen oder politischen Wertung immer wieder unschwer zu erkennen. Der Verdacht liegt nahe, dass die hohe Stabilität der Narrative nicht die Konstanz einer außerliterarischen Wirklichkeit spiegelt und sich nicht der historischen Wahrheitssuche verdankt, sondern dass diese mehr oder weniger abgelöst von faktischen Gegebenheiten innerhalb des literarischen bzw. politisch-moralischen Diskurses anzusiedeln sind. Wie ist es zu erklären, dass keiner der vier Geschichtsschreiber einen intensiveren Blick und ein entwickelteres Interesse für die vielen Kinder in den vielen von Rom geführten Kriegen zeigt? Eine Antwort wird mehrere Ursachen einbeziehen: den demographischen Aspekt, also die Normalität des Sterbens gerade kleiner Kinder mitten im Frieden, die insgesamt nüchterne Haltung der Römer gegenüber dem Kind, jedenfalls was die für uns erkennbare Artikulation von Emotionen betrifft, die kaum je hinterfragte Normalität der Sklaverei und damit der Existenz von Sklavenkindern, die allgemeine römische Unempfindlichkeit gegenüber Grausamkeit und gewaltsamem Tod, wie sie sich im Gladiatorenwesen zeigt, die Kälte der Imperialisten gegenüber den Kindern der anderen, das Schweigen der Betroffenen, die, wenn sie überlebten, als Sklaven keine Gelegenheit hatten, einen Gegendiskurs zu entwickeln, auf den man hätte antworten müssen. Hinzu kommt, dass ein zu empathisches Eingehen auf die Nöte der Kinder wohl mit dem männlichen Selbstkonzept der vier Autoren kollidiert wäre, zu dem zweifellos die Kontrolle der eigenen Emotionen gehörte. Vielleicht schätzten sie auch die Gefahr, die in der Emotionalisierung der Kinder der Feinde für die Destabilisierung der eigenen moralischen Position liegen musste, zu Recht als groß ein und verschwiegen daher lieber, was auch ihre Leser lieber verschwiegen sehen wollten. So bleibt – obwohl der griechische Mythos, die bereits literarisierte hellenistische Sensibilität für das Kind und die zunehmende Wertschätzung des Kindes in der eigenen Gegenwart entwicklungsfähige Ansatzpunkte geboten hätten – das Leiden der Kinder im Krieg in der römischen Historiographie der klassischen Zeit ein randständiges Thema.
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Krieg im Mittelalter Der Blick auf die Kinder von Hans-Henning Kortüm
I. Einleitung Das Thema soll in vier aufeinander folgenden Schritten entfaltet werden: Zu Beginn gilt es, sich mit den drei zentralen Begriffen Krieg, Mittelalter und Kind auseinanderzusetzen. In einem weiteren Schritt sollen in einigen allgemein gehaltenen Überlegungen die biologischen und sozialen Faktoren erläutert werden, die einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung und das Verhalten des Kindes ausüben. Daran anschließend werden die Rollen in den Blick genommen, die Kinder im mittelalterlichen Krieg eingenommen haben. Das bedeutet, dass über Kinder als Täter und über Kinder als Opfer zu handeln ist, was anhand einiger ausgewählter historischer Beispiele verdeutlicht werden soll.
II. Klärung zentraler Begriffe Drei grundsätzliche Begriffe bedürfen der Erläuterung und Problematisierung. Ausgehend vom Titel des Aufsatzes gilt es zu klären: Was ist das Mittelalter? – Was ist der Krieg? – Was ist ein Kind? Sehen sich Mediävisten gezwungen, Definitionen ihrer zentralen heuristischen Begrifflichkeiten zu geben, geraten sie häufig in Verlegenheit. Sie ziehen sich deshalb auch gerne auf ein bekanntes Bonmot des heiligen Augustinus zurück. Dieser erklärte, er wisse genau, was man unter der Zeit zu verstehen habe, vorausgesetzt, er würde nicht danach gefragt; immer dann, wenn er aber danach gefragt würde, vermöge er keine Antwort zu geben. 1 – Ganz ähnlich verhält es sich im Fall der drei vorliegenden Begriffe Krieg, Mittelalter, Kind. Es soll deshalb auch im Folgenden ganz
1 Augustinus, Confessiones XI, 14.
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bewusst keine Definition dieser drei Termini gegeben, sondern stattdessen auf einige grundlegende Schwierigkeiten aufmerksam gemacht werden. Noch am einfachsten erscheint der Terminus Mittelalter. Nach wie vor ist er institutionell fest verankert und grenzt sich fachdisziplinär scharf ab gegenüber der Alten und der Neueren Geschichte. Nun ist aber bekannt, mit welchen Verlusten eine scharfe Grenzziehung zwischen verschiedenen Epochen verbunden ist. Ist es angebracht, von einem konventionellen Mittelalter auszugehen, das gemäß fachüblicher Verabredung ziemlich genau ein Jahrtausend gedauert haben soll, von 500 bis 1500 nach Christi Geburt? Oder wäre es nicht sinnvoller, von einem ‚langen Mittelalter‘ auszugehen, das schon sehr früh im vierten Jahrhundert begonnen und sich dann weit bis in das ausgehende 18.Jahrhundert erstreckt habe? 2 Größere Schwierigkeiten bereiteten auch mögliche Definitionen von Krieg. Der vor einigen Jahren (2009) festzustellende ‚Eiertanz‘ des damaligen Bundesverteidigungsministers Franz Josef Jung vermag uns einen ersten Hinweis zu geben. Sein krampfhafter Versuch, das Wort Krieg zu vermeiden, obwohl sich die Bundesrepublik durch ihren Afghanistaneinsatz in einen Krieg hineinziehen ließ 3, verweist darauf, dass, zumal vor dem Hintergrund der deutschen Gewaltgeschichte, der Terminus Krieg starke Emotionen in der Gesellschaft auslöst. Denn es geht im Fall des Krieges immer auch um zutiefst Existentielles: Wer vom Krieg spricht, sollte immer auch vom Töten und Sterben sprechen. 4 Anders formuliert: Der Krieg als Gegenstand des gesellschaftlichen Diskurses unterliegt allen Zwängen, die mit solchen tabuisierten Themen verbunden sind. Das bedeutet: Die Antwort auf die Frage, ob und welche Art von Krieg wir gegebenenfalls führen, ist abhängig von den Spielregeln, nach denen sich die jeweiligen gesellschaftlichen Diskurse richten. 5
2 Die Literatur zur möglichen Periodisierung des Mittelalters ist längst unüberschaubar geworden. Einige grundlegende Bemerkungen finden sich in einschlägigen Einführungen zur mittelalterlichen Geschichte. Vgl. z.B. Hans-Werner Goetz, Proseminar Geschichte. Mittelalter. 3.Aufl. Stuttgart 2006, 29f.; Martina Hartmann, Mittelalterliche Geschichte studieren. 3.Aufl. Konstanz 2007, 46–49. 3 Vergleiche dazu stellvertretend den Artikel von Katharina Schuler, Gefallene ohne Krieg, in: Zeit online 5.Juli 2009. Die Bundesregierung weigert sich, den Afghanistan-Einsatz als Krieg zu bezeichnen. Stattdessen spricht sie von „Gefallenen“ – ein schlechter Ersatz. http://www.zeit.de/online/2009/26/afghanistankrieg-gefallene-2 [12.08.2015]. 4 Grundlegend zur Neufokussierung der sogenannten New Military History: Thomas Kühne/Benjamin Ziemann, Militärgeschichte in der Erweiterung. Konjunkturen, Interpretationen, Konzepte, in: dies. (Hrsg.), Was ist Militärgeschichte? (Krieg in der Geschichte, Bd. 6.) Paderborn 2000, 9–46, insbes. 27ff. 5 Zur Bedeutung der zeitgenössischen Diskurskultur für die Definition und Deutung von Kriegen vgl.
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Wenn wir in einem weiteren Schritt danach fragen, was nun das Spezifikum des mittelalterlichen Krieges ausmache, wird man häufig auf das sogenannte Alteritätskonzept stoßen. 6 Der mittelalterliche Krieg muss nach dieser Auffassung in eine strikte Opposition zu antiken und modernen Kriegen gestellt werden. 7 Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auch gerne behauptet, dass der mittelalterliche Krieg um ein Vielfaches harmloser gewesen sei, da er regelgeleitet und damit prinzipiell auch begrenzt und einhegbar gewesen sei. Daraus folgt, dass der mittelalterliche Krieg im Vergleich zu Antike und Neuzeit als der bessere, weil anständigere Krieg erscheint: So sei er auch vor allem aus lauteren Motiven, sprich aus Gründen verletzter Ehre, geführt worden. Und ferner war der mittelalterliche Krieg auch der gewaltärmere, weil er angeblich mit geringeren Opferzahlen verbunden gewesen sei. 8 Solch eine Auffassung teilt meiner Meinung nach aber die grundlegende Schwäche des Alteritätskonzeptes, welches das Mittelalter als eine grundsätzlich andersartige Epoche von Antike und Neuzeit abgrenzen will. In seiner Unterkomplexität vermag diese mittlerweile doch beträchtlich ins Wanken geratene Theorie den mittelalterlichen Realitäten in keiner Weise gerecht zu werden. 9 Ich habe an anderer Stelle zu zeigen versucht, dass auch aus typologischer Perspektive mittelalterliche Kriege sich nicht von antiken oder modernen Kriegen unterscheiden, sieht man von einigen wenigen Ausnahmen einmal ab. 10
Michael Schwab-Trapp, Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991–1998. Opladen 2002. 6 Die Etablierung des Alteritätskonzeptes geht zurück auf den überaus einflussreichen Konstanzer Romanisten und Mitbegründer der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik Hans Robert Jauß (gest. 1997). Dieses Konzept ist in der jüngsten Vergangenheit stark in Zweifel gezogen worden. Vgl. dazu Manuel Braun, Alterität als germanistisch-mediävistische Kategorie. Kritik und Korrektiv, in: ders. (Hrsg.), Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität. (Aventiuren, Bd. 9.) Göttingen 2013, 7–38. 7 Als typische Beispiele dieser speziell in Deutschland vertretenen Auffassung dürfen gelten: Norbert Ohler, Krieg und Frieden im Mittelalter. München 1997, und Malte Prietzel, Krieg im Mittelalter. Darmstadt 2006. 8 Vgl. dazu die in der vorherigen Anmerkung genannte Literatur sowie Malte Prietzel, Kriegführung im Mittelalter. Handlungen, Erinnerungen, Bedeutungen. (Krieg in der Geschichte, Bd. 32.) Paderborn 2006. 9 Vgl. dazu Hans-Henning Kortüm, Kriege und Krieger 500–1500. Stuttgart 2010. 10 Hans-Henning Kortüm, Kriegstypus und Kriegstypologie. Über Möglichkeiten und Grenzen einer Typusbildung von „Krieg“ im Allgemeinen und von „mittelalterlichem Krieg“ im Besonderen, in: Dietrich Beyrau u.a. (Hrsg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart. (Krieg in der Geschichte, Bd. 37.) Paderborn 2007, 71–98.
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Auch der dritte und letzte Begriff, das Kind, entzieht sich, streng genommen, einer eindeutigen definitorischen Festlegung. Bereits antike und ihr folgend mittelalterliche Autoren haben immer wieder versucht, eine eindeutige Antwort zu geben, in welcher Altersspanne man angemessenerweise von Kind und Kindheit sprechen dürfe. Haben wir zu differenzieren zwischen den ganz kleinen Kindern bis etwa zum siebten Lebensjahr, deren Lebensphase als infantia bezeichnet wird, und den schon etwas Älteren, die ab dem siebten Lebensjahr den Zahnwechsel bereits hinter sich haben und in die Phase der pueritia eintreten? 11 Insbesondere die Abgrenzung zum Jugendlichen, der als adulescens mit vierzehn oder fünfzehn Jahren nicht mehr Kind, aber eben auch noch kein Erwachsener ist, fällt da schwer. Es kommt, wie immer, auf die Perspektive an: Der Jurist 12, für den der Begriff der Geschäftsfähigkeit eine zentrale Rolle spielt, wird unter Umständen eine andere Grenze zwischen Kind- und Nicht-mehr-Kind-Sein ziehen als der Entwicklungspsychologe, der Moralpädagoge oder der Mediziner. Und wie lautet da eigentlich die Antwort des Historikers? Lange Zeit bestimmte die von Philippe Ariès (gest. 1984) erstmals 1960 vertretene Interpretation die Sicht der Forschung. 13 Auch sie war wiederum, wie schon im Fall des mittelalterlichen Krieges, entscheidend von der Alteritätsthese beherrscht: Das Mittelalter habe im Kind ausschließlich den kleinen Erwachsenen gesehen. Man sei demgemäß außerstande gewesen, sich angemessen, oder – wie wir heute sagen würden – kindgerecht zu verhalten. 14 Die jüngere For-
11
Über „Alterszäsuren“ vgl. den knappen Überblick bei Klaus Arnold, Kindheit im europäischen Mittel-
alter, in: Jochen Martin/August Nitschke (Hrsg.), Zur Sozialgeschichte der Kindheit. (Veröffentlichungen des Instituts für historische Anthropologie, Bd. 4.) Freiburg/München 1998, 443–467, 446–448, und zusammenfassend in jüngerer Zeit Gerrit Deutschländer, Dienen lernen, um zu herrschen. Höfische Erziehung im ausgehenden Mittelalter (1450–1550). (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Bd. 6.) Berlin 2012, 68, sowie ferner Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit. 16.Aufl. München 2007, 69–91, und Shulamit Shahar, Kindheit im Mittelalter. 3.Aufl. Düsseldorf 2003, 28–40. 12
Einige Anmerkungen zu unterschiedlichen Festlegungen von Alterszäsuren in juristischen Quellen,
insbesondere in den sogenannten Volksrechten, bei Pierre Riché, Éducation et culture dans l’Occident barbare VIe – VIIIe siècles. Paris 1962, 274–284. 13
Vgl. Ariès, Geschichte der Kindheit (wie Anm.11).
14
Skizzierung und Versuch einer historischen Einordnung Ariès’scher Thesen finden sich bei Hartmut
von Hentig, Vorwort zur deutschen Ausgabe, in: Ariès, Geschichte der Kindheit (wie Anm.11), 7–44. Vgl. ferner Jochen Martin/August Nitschke, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Zur Sozialgeschichte der Kindheit (wie Anm.11), 11–32, 12–15.
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schung – ich erinnere nur an Pierre Riché 15, Klaus Arnold 16 und Shulamit Shahar 17 – hat Ariès mittlerweile ebenso entschieden wie überzeugend widersprochen. Dennoch wirken seine Thesen über das mittelalterliche Kind teilweise bis heute weiter. Die ganze Komplexität des Begriffes ‚Kind‘ verdeutlicht auch der für uns wichtige Terminus ‚Kindersoldaten‘. Seine für uns so evidente Anstößigkeit bezieht ihre ganze Wucht aus der Verbindung zweier miteinander unvereinbar erscheinender Assoziationskomplexe. Eine jahrtausendalte ikonographische Tradition hat sie jeweils tief in unserem Bildgedächtnis verankert: Der weiche, unschuldige, noch nicht voll entwickelte und daher auch schutz- und liebesbedürftige Körper des Kindes steht in stärkstem Kontrast zum harten, voll entwickelten männlich-soldatischen Körper des Erwachsenen, dessen primäre Funktionsbestimmung das Töten des Feindes ist und der sich damit auch notwendigerweise schuldig macht. Philologisch betrachtet, handelt es sich beim Begriff des ‚Kindersoldaten‘ um ein Oxymoron, das zwei auch entwicklungsmäßig voneinander geschiedene Lebensphasen eines Menschen, die mit den soeben dargelegten antithetischen Konnotationen in unser kulturelles Gedächtnis eingeschrieben sind, in einer Junktur zusammenzwingt.
III. Biologische und soziale Faktoren für die Entwicklung und das Verhalten von Kindern und Jugendlichen Folgt man beispielsweise einem auch im Mittelalter viel gelesenen Autor, dem Kirchenvater Laktanz, so sind Knaben (pueri) und männliche Heranwachsende (adulescentes) bzw. Jugendliche (iuvenes) auf Grund ihres Alters zwangsläufig unbekümmerter und unvorsichtiger als andere Altersgruppen. Vor allem den Erwachsenen (maturi et senes) wird dagegen bescheinigt, in sich gefestigt zu sein. 18 Zahllos sind die Aussagen mittelalterlicher Quellen, die vor allem den Jungen, den adulescentes bzw. iuvenes, immer wieder ihre wilde Unbekümmertheit und Unvorsichtigkeit zum Vor-
15 Danièle Alexandre-Bidon/Pierre Riché, Das Leben der Kinder im Mittelalter. München 2007 (Originaltitel: La vie des enfants au Moyen Âge. Paris 2005). 16 Klaus Arnold, Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance. Beiträge und Texte zur Geschichte der Kindheit. (Sammlung Zebra, Rh.B, Bd. 2.) Paderborn 1980. 17 Shahar, Kindheit (wie Anm.11), 7, 90, 111–112, 173. 18 Laktanz, Institutiones divinae V, 13: Si pueri, si adulescentes improvidi sunt per aetatem, maturi certe ac senes habent stabile iudicium.
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wurf machen. 19 Um sich dieses Verhalten zu erklären, griff das Mittelalter auf die Lehre der Humoralpathologie zurück. Selbige sah bei den Knaben und männlichen Heranwachsenden einen starken Überschuss der Säfte Blut und gelbe Galle, der mit einem entsprechenden Überschuss der Elemente Luft und Feuer einhergegangen sei. Dies habe dann auch zu einem sanguinischen bzw. cholerischen Charakter dieser Altersgruppe geführt. 20 Dieser Vorstellung, die der Natur des Menschen einen entscheidenden Einfluss für aggressives Verhalten zubilligt und die auch heute noch – nur evolutionsbiologisch verfeinert – unter Naturwissenschaftlern gängige Münze ist, steht ein anderes Modell antithetisch gegenüber: In diesem vornehmlich von den Sozial- und Geisteswissenschaften bis heute forcierten Modell kommt nicht der Natur, sondern der Kultur die entscheidende Bedeutung dafür zu, wie sich der einzelne Mensch entwickeln wird. Bekannt geworden sind diese unterschiedlichen Interpretationen als nature-culture-Dichotomie bzw. nature-culture-divide, eine Debatte, die seit den 1970erJahren geführt wird 21 und bis heute nicht abgeschlossen ist. Gerade für die Gewaltgeschichte hat die nature-culture-Debatte einen zentralen Stellenwert gewonnen. Sind die Gründe für die Ausübung von Gewalt eher im Bereich einer nicht zuletzt genetisch bedingten Täterpsyche zu suchen oder liegen sie doch vielmehr im Bereich sozialer, sprich gesellschaftlicher Strukturen, in denen Täter aufwachsen und denen sie ihre Prägung verdanken? 22 Schon das kleine Kind und auch noch der heranwachsende Jugendliche erscheinen der letztgenannten Interpretation gemäß als äußerst formbare Wesen. Fragt man nach einschlägigen mittelalterlichen Vorstellungen, so wird deutlich,
19
Vgl. dazu den klassischen Aufsatz von Georges Duby, Les „jeunes“ dans la société aristocratique dans la
France du Nord-Ouest au douzième siècle, in: Annales 19, 1964, 835–846; vgl. auch Kortüm, Kriege und Krieger (wie Anm.9), 91f. 20
Dazu zusammenfassend: Ortrun Riha, Emotionen in mittelalterlicher Anthropologie, Naturkunde
und Medizin, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 14, 2009, 2–27, 12–15. 21
Vgl. Jürgen Heinze, Aggression in Humans and Other Animals. A Biological Prelude, in: Hans-Henning
Kortüm/Jürgen Heinze (Eds.), Aggression in Humans and Other Primates. Biology, Psychology, Sociology. Berlin 2013, 1–7, sowie Hans-Henning Kortüm, Aggression/Violence in Humans and Other Primates. A Historian’s Prelude, in: ebd.9–21. 22
Vgl. dazu z.B. die einschlägigen, durchaus unterschiedlichen Antworten von Jan Philipp Reemtsma,
Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet, Michael Wildt, Ist Gewalt historisierbar?, Wolfgang Knöbel, Ist Gewalt erklärbar?, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 24, 2015, H.4, 4–24.
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für wie entscheidend gerade auch diese Epoche den Einfluss kulturell-sozialer Faktoren für die Entwicklung des Kindes und des Heranwachsenden hielt: „Befragt man mittelalterliche Quellen, so erweist sich bald, daß nicht nur moderne Sozialisationstheorien davon ausgehen, daß der Mensch nicht von Geburt an ‚ist‘, sondern erst durch Erziehung zum Menschen ‚wird‘ […]. Ausgangspunkt für den Erziehungsprozeß ist die Vorstellung der Tabula rasa“. 23
Es liegt demgemäß auf der Hand, dass auch nach mittelalterlicher Auffassung die Erziehung möglichst früh zu beginnen hatte. Für unser Thema bedeutet dies, dass zumindest Kinder des Adels bereits in jungen Jahren mit der Welt des Krieges in Berührung kamen. Es ist naheliegenderweise eine spielerische Annäherung – eine Annäherung über ‚Kriegs-Spielzeug‘, über das hölzerne Schwert oder auch das sprichwörtliche ‚Stecken-Pferd‘, auf dem der kleine Ritter ritt, seine ‚Windrädchenlanze‘ fest unter den Arm geklemmt –, oder eine Annäherung über Geländespiele, wo Kinder ihre Spielzeugburgen gegen andere Kinder verteidigten. 24 Die Meinung, dass man schon die Kinder möglichst frühzeitig mit dem Thema Krieg vertraut machen müsse, war seit dem hohen und späten Mittelalter zum Gemeingut der Gebildeten geworden. Denn der nicht zuletzt auch dank volkssprachlicher Übersetzungen einem breiteren Publikum bekannte antike Autor Vegetius, der wohl Ende des vierten Jahrhunderts ein Handbuch über das römische Militärwesen verfasst hatte, hatte den überragenden Wert paramilitärischer Erziehung schon für Knaben betont: Körperliche Agilität, Laufen und Springen gelte es möglichst früh einzuüben. Somit verfüge bereits der Jugendliche (adulescens) mit vierzehn oder fünfzehn Jahren über eine militärische Grundausbildung und es stünde ihm noch genügend Zeit zur Verfügung, das Waffenhandwerk gründlich zu erlernen, ehe sein Körper träge würde. Einem schon in einer frühen Lebensphase paramilitärisch Vorgebildeten, der dann während der Pubertät weiter im Waffenhandwerk unterwiesen worden sei, werde es dann, so zumindest die ausgesprochen optimistische Meinung von Vegetius, auch eine wahre Lust sein, in der Schlacht gegen den Feind ‚seinen Mann‘ zu stehen. 25 Angesichts der hohen Frequenz von Turnieren gerade im städtischen Milieu des 23 Arnold, Kindheit (wie Anm.11), 11, 449, sowie Deutschländer, Dienen lernen (wie Anm.11), 11, 68. 24 Vgl. dazu mit vielen Abbildungen Pierre Riché/Danièle Alexandre-Bidon, L’enfance au Moyen Âge. Paris 1994, 67–71, sowie Lucas Wüthrich, Windrädchenlanze und Steckenpferd. Kinderturnier und Kampfspielzeug um 1500, in: ZAK 38, 1981, H.4, 279–289. 25 Publii Flavii Vegetii Renati, Epitoma rei militaris I, 4, 1–5 – Publius Flavius Vegetius Renatus, Abriß des Mi-
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hoch- und spätmittelalterlichen Europas 26 wird man davon ausgehen können, dass nicht nur Kinder und Heranwachsende aus dem adligen Milieu, sondern durchaus auch bürgerliche Schichten mit Krieg in einer spielerisch-verharmlosenden Form sozialisiert worden sind. Aber in Sonderheit ist es dann doch vor allem der Adel gewesen, der seinen männlichen Nachwuchs bereits sehr früh mit kriegerischen Lebensformen vertraut gemacht hat. Die frühe kriegerische Sozialisation von sehr jungen, noch nicht erwachsenen Männern hat auch onomasiologisch ihren Niederschlag gefunden. So bezeichnet das mittelalterliche Latein den Knappen 27 als einen puer (Knaben). Es ist der junge Bursche oder Kadett, der den erwachsenen Kämpfer im Krieg unterstützt, ihm in die Rüstung und aufs Pferd hilft, ihm die Rüstung wienert und das Essen serviert. Das semantische Feld von puer schließt aber nicht nur den Knappen ein. Mit dem Terminus pueri können auch ganz allgemein bewaffnete Gefolgsleute bezeichnet werden. Das verweist zunächst einmal auf den Umstand, dass erfolgreiches Kämpfen zwar noch keine Sache der Kinder ist, wohl aber eine spezifische Aufgabe der jungen Leute. Denn diese sind auf Grund ihrer Physis am allerbesten in der Lage, die kräftezehrenden Anforderungen des Kampfes zu bewältigen. Der Umstand, dass aber auch schon erwachsene, ja ältere Männer jenseits der Dreißig noch immer als pueri oder iuvenes bezeichnet wurden, macht auf ein spezifisches Problem aufmerksam. Es tut sich im Mittelalter unübersehbar eine Diskrepanz auf zwischen einem biologischen und einem sozialen Alter: Nur vergleichsweise wenige ehemalige Knaben (pueri, ecuyers oder squires) können in den für sie so kostspieligen Ritterstand eintreten und verharren deshalb auch dann noch sozial auf der Stufe der ‚Jungen‘, obwohl sie, gemessen an ihrem Lebensalter, manchmal
litärwesens. Lateinisch und deutsch mit Einleitung, Erläuterungen u. Indices v. Friedhelm L. Müller. Stuttgart 1997, 34–36. 26
Siehe dazu Thomas Zotz, Adel, Bürgertum und Turniere in deutschen Städten vom 13. bis 15. Jahrhun-
dert, in: Josef Fleckenstein (Hrsg.), Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 80.) Göttingen 1985, 450–499. 27
Grundlegend: Lutz Fenske, Der Knappe. Erziehung und Funktion, in: Josef Fleckenstein (Hrsg.), Curia-
litas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 100.) Göttingen 1990, 55–127.
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schon vergleichsweise alt sind. Der adlige Vierzigjährige ist noch immer ein iuvenis, weil er noch keinen eigenen Hausstand gründen konnte. 28
IV. Kinder/Jugendliche als Täter und Opfer Die frühe Sozialisation mit dem Kriegerischen führte vielfach dazu, dass bereits im kindlichen Alter Erfahrungen mit realem Krieg gemacht wurden. Das gilt vor allem für die soziale Elite. Deren Nachwuchs besetzte sehr früh die Täterrolle. Bereits ausgesprochen junge Leute, die wir heutzutage als Kinder oder Jugendliche bezeichnen würden, konnten in kriegerische Unternehmungen verstrickt sein. So will der Dichter Oswald von Wolkenstein (gest. 1445) nach eigener, vielleicht ein wenig übertreibender Aussage gerade einmal zehn Jahre alt gewesen sein, als er 1387 die väterliche Burg in Südtirol verließ, um als junger Bursche an einem Kriegszug österreichischer Adliger teilzunehmen, der diese nach Ostpreußen führte. 29 Das war ein übliches Karrieremuster gerade für die nachgeborenen Söhne kleinerer Adliger: Der väterliche Besitz erwies sich als zu klein, vor allem wenn mehrere männliche Nachkommen da waren. So war der Adel froh, wenn er seine minderjährigen, nachgeborenen Söhne mit acht oder zehn Jahren zu einem Ziehvater, d.h. an die großen Höfe der Grafen und Barone schicken konnte. Dort erfolgte dann ihre weitere Sozialisation zu Kriegern. 30 Ganz unwahrscheinlich klingen die Anekdoten, die man sich über einen der berühmtesten französischen Kriegshelden aus dem ausgehenden 14.Jahrhundert zu erzählen wusste, den späteren Marschall von Frankreich, Jean le Maingre, genannt Boucicaut: Als er als zwölfjähriger Kindersoldat 1378 bei Kämpfen gegen die Engländer gefangen genommen und zurück nach Hause geschickt wurde, soll man ihn mit den Worten verspottet haben „Seht mal, Herr, da kommt ein tüchtiger Recke! Los, zurück in die Schule!“ 31 – Nur vier Jahre später, als Sechzehnjähriger, mithin nach
28 Deutschländer, Dienen lernen (wie Anm.11), 11, 67ff. 29 Vgl. das 18. Lied Oswalds, nachzulesen in: Wolkensteins Lebenszeugnisse und seine gesamteuropäische Bedeutung, http://:www.wolkenstein-gesellschaft.com/leben.php [12.08.2015]. 30 Dazu zusammenfassend mit weiterer Literatur: Deutschländer, Dienen lernen (wie Anm.11), 11, 14 mit Anm.23. 31 Zitiert nach Michael Prestwich, Ritter. Der ultimative Karriereführer. Darmstadt 2011, 25 (engl. Original: Knight. The Medieval Warrior’s [Unofficial] Manual. London 2010).
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unseren Vorstellungen immer noch als ein Kindersoldat, nahm er 1382 auf französischer Seite an der berühmten Schlacht von Roosebeke in Flandern teil. Seine Kriegsaxt wurde ihm von seinem Kontrahenten, einem großgewachsenen Flamen, aus der Hand geschlagen – kein Wunder: Der große Boucicaut war körperlich eher klein geraten. Zu allem Überfluss begann ihn sein Gegner auch noch zu verspotten: „Geh an die Mutterbrust, geh, Kind. Jetzt kann ich sehen, dass die Franzosen keine Männer haben, wenn schon ihre Kinder in Schlachten kämpfen.“ Der dadurch aufs Höchste gereizte Boucicaut soll mit einem Dolchstoß in die Achselhöhlen seinen Gegner getötet haben. 32 Indem es ihm gelang, seinen Feind wie ein Stück Vieh abzustechen, hatte er nicht nur seinen Gegner Lügen gestraft: Mit seiner Tat erlangte er vielmehr seinen Eintritt in die Welt der adligen Krieger. Sie besiegelte seinen endgültigen Abschied von der Gruppe der Kinder, zu denen traditionell eben auch jene gehörten, die, wie im Mittelalter üblich, in ihren ersten drei Lebensjahren noch von ihren Müttern bzw. Ammen gesäugt wurden. Boucicaut hatte bewiesen, dass seine Ausbildung zum Ritter erfolgreich gewesen war. Ganz offensichtlich war also mit dem sechzehnten Lebensjahr ein kritisches Alter für die ‚Teenies‘ aus dem Adel erreicht. Jetzt stand das förmliche Übergangsritual an, der sogenannte rite de passage: 33 Es galt, sich als ein echter Krieger zu beweisen und die Kindheit hinter sich zu lassen. Und welcher rite de passage konnte eindeutiger und öffentlicher sein, als an einer richtigen, d.h. an einer besonders blutigen Schlacht teilzunehmen? So wie es der englische Thronfolger und spätere König Heinrich V. tat, der, sogar noch jünger als Boucicaut, als Fünfzehnjähriger an einer Schlacht nahe Shrewsbury (1403) in vorderster Linie teilnahm, schwer verwundet wurde und deshalb auch beinahe gestorben wäre. 34 Unvergleichlich häufiger und damit historisch auch wesentlich bedeutender als die Täterrolle fiel den Kindern im Mittelalter die Opferrolle zu. Grundsätzlich war im kulturellen Gedächtnis der Zeit ein Gedanke tief verankert: Kinder, zumal kleine
32
Prestwich, Ritter (wie Anm.31), 192.
33
Zum Begriff vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklich-
keit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main 1980, 168–174. 34
Zu Heinrichs Verwundung während der Schlacht von Shrewsbury, als sich ihm ein Pfeil mitten ins
Gesicht bohrte, sowie zu der komplizierten und schmerzhaften Operation, mit der ihm ein Chirurg später die Pfeilspitze aus dem Wangenknochen entfernte, siehe Juliet Barker, Agincourt. Henry V and the Battle that Made England. New York/Boston 2006, 31f., und Matthew Strickland/Robert Hardy, The Great Warbow. From Hastings to the Mary Rose. Stroud 2005, 263–265 u. 284f.
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Kinder, können besonders leicht zu Opfern von Gewalt werden. Dafür sorgte schon das biblische Narrativ vom bethlehemitischen Kindermord. 35 Der christliche Festkalender hielt die Memoria an ihn aufrecht: Am 28.Dezember eines jeden Jahres erinnerte die Kirche an die auf Befehl von König Herodes unschuldig ermordeten Säuglinge und Kleinkinder. Eine dem Kirchenvater Augustinus zugeschriebene Predigt schildert in drastischen Worten das ganze Leid, das mit diesem Morden verbunden war: Herodes schärft sein Schlachtmesser; Mütter versuchen vergeblich, ihre Kinder zu verstecken, sie kämpfen mit den Schlächtern; sie bieten sich selbst als Opfer an; sie zeigen auf ihre Brüste, die voller Milch sind, mit denen sie ihre Kinder aber nicht mehr werden stillen können; sie raufen sich die Haare; sie schreien und wehklagen. 36 Zwar hängt die Ermordung der unschuldigen Kinder nicht unmittelbar mit dem Thema Krieg zusammen. Trotzdem wurde der Predigttext ausführlich paraphrasiert, und zwar deshalb, weil hiervon ausgehend auf einen Aspekt hinzuweisen ist, der eine ganz zentrale Bedeutung für die historische Rekonstruktion von Gewalt gegenüber Kindern besitzt. Gemeint ist die Rolle der Sprache. Nun sind auch wir Historiker dank Hayden White und den durch ihn mit ausgelösten linguistic turn ausgesprochen sensibilisiert worden für die Bedeutung von Sprache und der durch sie konstituierten Wirklichkeit. 37 Ich möchte aber nicht so weit gehen, einen extremen konstruktivistischen Ansatz zu vertreten und, um die ebenso berühmte wie vielzitierte Formulierung von Jacques Derrida aufzugreifen, behaupten, „ein Text-Äußeres gibt es nicht“ („il n’y a pas de hors-texte“). 38 Die Gefährlichkeit eines solchen extrem konstruktivistischen Ansatzes für die historische Gewalt- und Kriegsforschung liegt auf der Hand: Der Fokus muss sich entscheidend verändern, wenn vor allem die sprachlichen Repräsentationen von Krieg und Gewalt interessieren und
35 Mt 2, 16. 36 Augustinus, Sermo 219, in: Jacques-Paul Migne (Ed.), Patrologia Latina, Vol.39, 2151. 37 Dazu grundlegend Peter Schöttler, Wer hat Angst vor dem ‚linguistic turn‘?, in: GG 23, 1997, 134–151. Zur wissenschaftshistorischen Herausforderung des lingustic turn und seiner problematischen möglichen Einhegung in die bundesrepublikanischen geschichtswissenschaftlichen Theoriedebatten der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts vgl. ebenso knapp wie treffend Philipp Sarasin, Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft, in: Reiner Keller u.a. (Hrsg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 1: Theorien und Methoden. Opladen 2001, 53–79, 53–58. 38 Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung: Jacques Derrida, Grammatologie. Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger/Hanns Zischler. Frankfurt am Main 1974, T. II, Kap. 2, 274. Französisch: Jacques Derrida, De la Grammatologie. Paris 1967, 227.
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nicht mehr die ‚Ereignisse‘ als solche, wenn also, theoretisch gesprochen, die Signifikanten und nicht mehr die Signifikate das Zentrum der historischen Analyse bilden. Das heißt für die mittelalterliche Gewalt- und Kriegsgeschichte: Wir Historiker haben Gewalttaten auch dann noch und vor allem dann ernst zu nehmen, wenn sie uns in hochrhetorischer Sprache von den mittelalterlichen Quellen geschildert werden. Sie können nichtsdestoweniger historisch ‚wahr‘ sein, auch wenn eine subtile Quellenanalyse beispielsweise die häufig topischen Züge von Gewaltschilderungen nachweisen kann. Ich erwähne diesen Umstand deshalb so ausdrücklich, weil manche Mediävisten ihn dazu benutzen, diese Gewalttaten zu relativieren oder gar zu leugnen. 39 So hat man beispielsweise darauf hingewiesen, dass die Schilderung von Gewalttaten gegenüber Wehrlosen, gerade also gegenüber Kindern, besonders geeignet sei, um die Schrecken des Krieges zu illustrieren, den Feind zu delegitimieren und den eigenen Kampf zu rechtfertigen. 40 Dieser Einschätzung wird man auch gerne folgen wollen. Ich kann ihr aber nicht mehr folgen, wenn daraus die Schlussfolgerung gezogen wurde, der Gebrauch von ‚Pathosformeln‘ bedeute, dass die durch sie beschriebenen Ereignisse niemals stattgefunden hätten, also im buchstäblichen Sinne nur auf dem Papier bzw. auf dem Pergament passiert seien. 41 Topische Wendungen und Pathosformeln werden aber gerade deshalb von mittelalterlichen Quellen verwendet, weil sie in sprichwörtlich mustergültiger Weise das Ungeheuerliche, das Exzessive, das Unvorstellbare des Krieges wiedergeben. Und dazu gehört eben auch und gerade, wie man mit Kindern umgegangen ist und bis heute umgeht. Dass solche Gewalttaten in propagandistischer Weise missbraucht oder manchmal gar erfunden werden können, um den Gegner als Unmenschen zu schmähen und zu de-
39
Solch ein Versuch steckt unübersehbar hinter der sprachlichen Analyse von zeitgenössischen Kreuz-
zugshistorikern, die durch den Nachweis rhetorischer Mittel, also zum Beispiel durch das Offenlegen biblischer Sprachanklänge, die Brutalität und Grausamkeit der Kreuzfahrer anlässlich der Eroberung Jerusalems 1099 relativieren wollen. Vgl. dazu Gerd Althoff, „Selig sind, die Verfolgung ausüben“. Päpste und Gewalt im Hochmittelalter. Darmstadt 2013, 126 u. 128. 40
Vgl. die folgende Anmerkung.
41
So dezidiert Gabriela Signori, Frauen, Kinder, Greise und Tyrannen. Geschlecht und Krieg in der Bilder-
welt des späten Mittelalters, in: Klaus Schreiner/Gabriela Signori (Hrsg.), Bilder, Texte, Rituale. Wirklichkeitsbezug und Wirklichkeitskonstruktion politisch-rechtlicher Kommunikationsmedien in Stadt- und Adelsgesellschaften des späten Mittelalters. (ZHF, Beih. 24.) Berlin 2000, 139–164; ihre Thesen wiederholt hat dieselbe zusammen mit Birgit Emich, Kriegs/Bilder in Mittelalter und Früher Neuzeit. Eine Einleitung, in: dies./Gabriela Signori (Hrsg.), Kriegs/Bilder in Mittelalter und Früher Neuzeit. (ZHF, Beih. 42.) Berlin 2009, 7–29.
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legitimieren – das ist zweifellos richtig! Aber sie haben häufig, viel zu häufig, in der Wirklichkeit stattgefunden. Mir vermag sich eine Logik nicht zu erschließen, der zufolge Gewalttaten historisch bloß deshalb ins Reich der Phantasie verwiesen werden müssen, weil ihre sprachlichen Repräsentationen in den zeitgenössischen Quellen den tradierten Mustern literarischer Vorbildlichkeit verpflichtet sind: „For instance, the fact that the image of infants’ heads hurled against stones appears in Psalms 137:9 does not render unrealistic the very many accounts about Germans killing Jewish infants in this way during World War II.“ 42 Es wäre anachronistisch, wollte man den Wahrheitsgehalt mittelalterlicher Quellen am Maßstab einer von ihnen nie angestrebten Originalität ihres Sprachduktus messen. Nach meinem Eindruck liegt solchen Relativierungs- oder gar Leugnungsversuchen seitens vieler Mediävisten vielmehr eine Tendenz zugrunde, die ich eingangs schon erwähnt habe: Dem Mittelalter als einer angeblich alteritären Epoche 43 möchten sie solche Gewalttaten, wie sie zumal für die Moderne in erdrückender Fülle belegt sind, schlichtweg gar nicht zutrauen.
V. Kinder und Krieg in der „Histoire de Guillaume le Maréchal“ Es soll an dieser Stelle darauf verzichtet werden, ein mittelalterliches Panoptikum kriegerischer Gewalttaten, die an Kindern und Jugendlichen verübt worden sind, zu bieten. Stattdessen soll ein einziges Beispiel vorgestellt werden, das gleich unter mehreren Aspekten aussagekräftig erscheint: Erstens darf es einen gewissen Anspruch auf Repräsentativität für den hoch- und spätmittelalterlichen Krieg in Zentraleuropa erheben. Zweitens kann die herangezogene Quellenstelle die Gefährdungen aufzeigen, die mit einer für den mittelalterlichen Krieg typischen Gewaltsituation für die Schwachen, also auch und gerade für die Kinder, verbunden sind. Drittens zeigt sie das empathische Vermögen von Erwachsenen gegenüber Kindern, die in kriegerischen Situationen als Kinder behandelt und verschont werden. Sie widerlegt damit gleichzeitig das Vorurteil von der fehlenden Sensibilität Erwachsener
42 Benjamin Z. Kedar, The Jerusalem Massacre of July 1099 in the Western Historiography of the Crusades, in: Crusades 3, 2004, 15–75, 72. 43 Dazu Braun, Alterität (wie Anm.6).
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gegenüber Kindern. Und viertens kann unsere Quelle definitiv nicht der von manchen Mediävisten erhobene Vorwurf treffen, es handle sich hier nur um die usuell verwendeten und bereits von der antiken Rhetorik empfohlenen ‚Pathosformeln‘. 44 Denn unsere Quelle, die rund neunzehntausend Verse umfassende „Histoire de Guillaume le Maréchal“ 45, ist – ungewöhnlich genug – von einem Laien in der ersten Hälfte des 13.Jahrhunderts in normannisch-altfranzösischem Dialekt verfasst worden und gewährt uns, um Georges Duby zu zitieren, einen Blick auf „das ritterliche Gedächtnis, über das wir ohne dieses Zeugnis kaum etwas wüßten, fast im Reinzustand“. 46 Sie beschreibt das Leben von Wilhelm, dem Grafen von Pembroke, der als erfolgreicher Turnierkämpfer und Militär, unterstützt durch die Heirat mit einer reichen Frau, im Königsdienst bis in höchste Adelskreise aufgestiegen war und schließlich am Ende seiner Karriere von 1215 bis 1218 für den jungen englischen König Heinrich III. als Regent die Geschicke Englands leitete. 47 Unsere Quelle schildert eingangs die Zeit des englischen Bürgerkriegs, der zwischen Mathilde, der Tochter des verstorbenen englischen Königs Heinrich I., und ihrem Cousin, König Stephan, in der ersten Hälfte des 12.Jahrhunderts (1136–1154) in England tobte. Genau in diese Zeit fällt auch die Kindheit unseres Helden Wilhelm Marschall. Um 1145 geboren, endete seine Kindheit im engeren Sinne sehr früh, als er, gemäß üblicher Praxis, mit ca. acht Jahren von seinem Vater an den Hof eines mächtigen Barons verfrachtet wurde, der für seine weitere Ausbildung sorgen sollte. Unsere Episode spielt aber noch kurz vorher: Im Jahr 1152 verteidigte sein Vater als Anhänger der Mathilde die Stadt Newbury (Berkshire) gegen König Stephan, der mit einem zahlenmäßig stark überlegenen Heer überraschend aufmarschiert war. 48 Um wenigstens einen befristeten Waffenstillstand mit König Stephan zu erreichen, dessen erster Angriff auf die Stadt am Kampfesmut der Belagerten geschei-
44
Vgl. Signori, Frauen, Kinder, Greise und Tyrannen (wie Anm.41), 41, 160.
45
Paul Meyer (Ed.), L’Histoire de Guillaume le Maréchal, Comte de Striguil et de Pembroke, Régent
d’Angleterre de 1216 à 1219. Poème français. 3 Vols. (Société de l’Histoire de France, Publications, Vol.255, 268 u. 304.) Paris 1891–1901. 46
Georges Duby, Guillaume le Maréchal oder der beste aller Ritter. Frankfurt am Main 1986, 43 (franz.
Originalausgabe: Guillaume le Maréchal ou le meilleur chevalier du monde. Paris 1984). 47
Zum paradigmatischen Charakter von Guillaumes Biographie für den heranwachsenden männlichen
Adligen vgl. auch Michael Parmentier, Höfische Jugend um 1200. Die Karriere eines subkulturellen Stils im vormodernen Europa, in: Rudolf W. Keck/Erhard Wiersing (Hrsg.), Vormoderne Lebensläufe erziehungshistorisch betrachtet. (Beiträge zur historischen Kulturforschung, Bd. 12.) Köln u.a. 1994, 187–202. 48
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Vgl. Meyer, Guillaume le Maréchal (wie Anm.45), vv. 399–678.
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tert war, musste sich der Vater verpflichten, als Geisel seinen jüngeren Sohn aus seiner zweiten Ehe an Stephan auszuliefern. Und diese Geisel ist niemand anderes als unser Wilhelm Marschall. Wilhelm ist jetzt circa sieben Jahre alt, mithin ein Kind, als er in die Hände von Stephan fällt. Der Waffenstillstand geht zu Ende, ohne dass die Kriegsparteien sich angenähert hätten. Die Verteidiger haben die Waffenpause aber dazu genutzt, sich personell mit boens cheval[i]ers e boens serjanz & bons archiers zu verstärken. 49 Der König fühlt sich düpiert, will dem Vater aber noch die Chance einräumen, seinen kleinen Sohn zu retten. Er verlangt die Übergabe der Stadt, andernfalls würde er den kleinen Wilhelm hängen lassen. Wilhelms Vater lehnt die Forderung natürlich ab und erklärt, er besitze noch „den Amboß und den Hammer, um einen schöneren zu schmieden“. 50 Alle drei Versuche, den kleinen Wilhelm daraufhin zu töten, scheitern: Weder wird er an den Galgen geknüpft, noch als menschliches Projektil missbraucht oder gar in Sichtweite des Vaters an einem Fensterbalken aufgehängt. – Warum scheitern die Versuche? Sie scheitern, folgt man unserer Quelle, an der kindlichen Unschuld und Reinheit des kleinen Wilhelm. Der hält Galgen, Steinschleuder und Fensterbalken nur für Spielzeuge (gieux). Er kommentiert diese Mordinstrumente, die er als solche in seiner kindlichen Naivität nicht erkennen kann, mit allen Ausdrücken kindlichen Entzückens; er klettert und balanciert voller Begeisterung auf ihnen herum. Der König ist gerührt durch die kindliche Unbefangenheit und Fröhlichkeit des jungen Wilhelm, durch seinen Kindermund, seine beles enfances dires, die in so starkem Kontrast zur rauen Kriegerwelt stehen. 51 All das geht ihm besonders nahe. Deshalb untersagt er schließlich ein für alle Mal die Tötung des jungen Wilhelm. Kurz danach wird der König zusammen mit dem jungen Wilhelm in den Garten gehen, um dort – auf dem blumenübersäten Rasen – mit ihm herumzutollen und zu spielen. 52 Was zeigt uns diese Episode, die, wenn nicht wahr, so doch gut erfunden ist? Der Krieg in Mitteleuropa verläuft im Mittelalter typischerweise vor allem auch als ein Belagerungskrieg. 53 Und damit sind diejenigen, die in den festen Plätzen, den Städ-
49 Ebd.vv. 497f. 50 Ebd.vv. 513–516. – Die Übersetzung („quer encore aveit/Les enclumes e les marteals/Dunt forgereit [il] de plus beals) nach Duby, Guillaume le Maréchal (wie Anm.46), 82. 51 Vgl. Meyer, Guillaume le Maréchal (wie Anm.45), vv. 560. 52 Ebd.vv. 525–629. 53 Dazu und zum Folgenden vgl. zusammenfassend mit weiterer Literatur Kortüm, Kriege und Krieger (wie Anm.9), 179–189 u. 257f.
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ten und Burgen, belagert werden, in einer besonders schwierigen Lage. Gleiches gilt aber auch für die Belagerer. Sie wissen nicht, ob und wann sie den Widerstand der Belagerten brechen können. Daher verständigten sich die Kriegsparteien häufig auf eine stark formalisierte Übergabe (deditio), die in ritueller Form ablief und zwei Vorteile bot: Sie rettete den Belagerten das Leben, während die Belagerer Stadt oder Burg einnehmen, zerstören oder für sich selbst nutzen konnten. Schwierig war es hingegen, wenn, wie im vorliegenden Fall, sich die beiden Parteien nicht auf eine deditio einigen konnten. Um die Moral der Belagerten zu brechen und eine deditio zu erzwingen, scheuten die Belagerer deshalb auch nicht vor Kriegsverbrechen zurück. Wie wir aus den Italienkriegen Friedrich Barbarossas wissen, konnten Kriegsgefangene als menschliche Schutzschilde missbraucht oder sogar im Angesicht des Gegners hingerichtet werden, um dessen Widerstandswillen zu brechen. Insofern bewegt sich der Plan, den Körper von Klein-Wilhelm durch eine Steinschleuder in die belagerte Stadt schießen zu lassen, im üblichen Rahmen mittelalterlicher Kriegsgräuel. So wurden beispielsweise im Hundertjährigen Krieg im Jahr 1418 neben alten Männern und Frauen auch Kinder als unnütze Esser aus dem belagerten Rouen verwiesen und gerieten buchstäblich zwischen die Fronten: Da König Heinrich V. von England den Vertriebenen einen Durchzug durch den englischen Belagerungsring verweigerte, ihnen aber auch eine Rückkehr nach Rouen versagt blieb, waren sie gezwungen, im Spätherbst und Winter im Graben vor der Stadt auszuharren. Dass Kälte und Hunger Todesopfer auch unter den Kleinkindern forderten, wurde offenbar billigend in Kauf genommen. 54 In den interkulturellen Kriegen des 10. und beginnenden 11.Jahrhunderts, die östlich der Elbe stattfanden, wurden slawische Kinder zur Kriegsbeute des sächsischen Adels, der sie in die Gefangenschaft führte. 55 Litauische Kinder wurden von einem enthusiasmierten europäischen Hochadel auf Einladung und mit ausdrücklicher Billigung des Deutschen Ordens in den sumpfigen Weiten des Baltikums im 14.Jahrhundert verschleppt, verkauft oder getötet. 56 Um noch ein letztes Mal auf unsere Quelle, die Biographie von Guillaume le
54
Vgl. Joanna Bellis (Ed.), John Page’s The Siege of Rouen. Ed. from London, British Library MS Egerton
1995. (Middle English Texts, Vol.51.) Heidelberg 2015, 15f. (v. 535–560) u. 26 (v. 989–1010). 55
Vgl. etwa Paul Hirsch (Hrsg.), Die Sachsengeschichte des Widukind von Korvei. (Monumenta Germa-
niae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum, Bd. 60.) 5.Aufl. Hannover 1935, 50 (I, 35) u. 54 (I, 36). 56
Siehe dazu Werner Paravicini, Die Preußenreisen des europäischen Adels. T.2. (Beihefte der Francia, Bd.
17/2.) Sigmaringen 1995, 56 u. 98–107.
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Maréchal, zurückzukommen: Selbst wenn man die Pläne, den jungen Wilhelm umzubringen, nur, wie Georges Duby, für „ein konventionelles Libretto der großen Oper“ halten möchte und die Meinung vertritt, „daß auf beiden Seiten niemand annahm, es könnte zum Letzten, zur Hinrichtung kommen“ 57, so kann ein solches „Libretto“ ja nur dann funktionieren, wenn es einen Realitätsbezug aufweist, wenn also wirklich auch zum Mittel extremer Gewalt gegenüber Kindern im mittelalterlichen Krieg gegriffen wurde. Es kann deshalb bezweifelt werden, ob es wirklich nur Theaterdonner war, als man die Tötung des jungen Wilhelm erwog. Aber zumindest von einem Punkt ist auch der große französische Mediävist überzeugt: von der Möglichkeit der tiefen Zuneigung eines Erwachsenen zu einem unschuldigen Kind, denn „[d]ürfen wir diese Liebe“, so fragt sich Duby, „nicht zu jenen Empfindungen zählen, die diesen Kriegern naturgemäß waren?“ 58
VI. Zusammenfassung Vier Thesen erlauben es, die dargelegten Befunde zusammenzufassen: These 1: Auch in der Zeit zwischen 500 und 1500 waren Kinder immer wieder Opfer von kriegerischer Gewalt. Mit heute durchaus vergleichbar, waren die Schwachen, und damit auch und gerade die Kinder, besonders stark gefährdet in den subund interkulturellen Kriegen des Mittelalters. These 2: Nature und culture wurden schon im Mittelalter als die entscheidenden Faktoren angesehen, die kindliches und jugendliches Verhalten steuerten: Die Humoralpathologie bot ein geeignetes naturwissenschaftliches Erklärungsmodell an, mit dem sich das Mittelalter aggressives Verhalten Heranwachsender erklären konnte. Und die kriegerisch geprägte Kultur des mittelalterlichen Adels förderte eine sehr frühe Sozialisation des männlichen Nachwuchses. Bereits Kinder und Jugendliche wurden deshalb schon in jungen Jahren mit der Welt des Krieges in spielerischer und paramilitärischer Weise konfrontiert. These 3: Bereits in vergleichsweise jungen Jahren, etwa im Alter von sechzehn Jahren, nahm der Jugendliche erstmalig aktiv, also in der Täterrolle, am Krieg teil.
57 Duby, Guillaume le Maréchal (wie Anm.46), 82f. 58 Ebd.84.
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Durch diesen rite de passage konnte er endgültig in die Welt der vollwertigen Krieger eintreten. These 4: Ein vorwiegend konstruktivistischer Ansatz, der glaubt, den Realitätsgehalt zeitgenössischer Quellenberichte dadurch erschüttern zu können, dass er diese als bloße sprachlich-fiktive Äußerungen im Sinne topisch geprägter Pathosformeln bewertet und unterschätzt, verkennt eindeutig das Gewaltpotenzial mittelalterlicher Kriege und seine Gefährlichkeit gerade für Kinder und Jugendliche. Er missdeutet mit anderen Worten die Realität mittelalterlicher Kriege. Gerade auf dem Feld der Gewaltgeschichte, in welcher Epoche auch immer man sich befindet, stößt der konstruktivistische Ansatz unübersehbar an seine Grenzen. Die Tatsache, dass Gewalterfahrungen, auch und gerade in der Vormoderne, vor allem sprachlich repräsentiert werden, kann die Historikerinnen und Historiker keinesfalls von ihrer Verpflichtung entbinden, sich der historischen ‚Wahrheit‘ wenigstens anzunähern. Bei den in unzähligen Kriegen verletzten, geschändeten, vergewaltigten, verstümmelten, massakrierten oder ganz einfach ‚nur‘ getöteten Opfern, darunter vielen Kindern, handelt es sich um sprach- und beschreibungsunabhängige facta bruta, um ‚absolute Tatsachen‘, die einem ‚relativistischen Konstruktivismus‘ und dem mit ihm verbundenen ‚epistemischen Relativismus‘ nicht erneut zum Opfer fallen dürfen. 59
59
Dazu grundlegend Paul Boghossian, Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und
Konstruktivismus. Berlin 2013 (amerikan. Originalausgabe: Fear of Knowledge. Against Relativism and Constructivism. Oxford 2006.), 86–134.
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„mit weib und kinderlein wider von der statt nach hauß getzogen“ Kinder im Dreißigjährigen Krieg von Claudia Jarzebowski
I. Einleitung Der Dreißigjährige Krieg gehört zu einem der am gründlichsten untersuchten Themenkomplexe der Frühen Neuzeit. 1 Dabei lässt sich seit den 1990er-Jahren ein Paradigmenwechsel in der Erforschung beobachten, der politikgeschichtliche und konfessionspolitische Ansätze um alltagshistorische und mikrohistorische Perspektiven erweitert. Mit diesem Paradigmenwechsel verbindet sich auch eine erweiterte Quellenbasis. Insbesondere Selbstzeugnisse sind in die Forschung eingegangen. 2 Das heißt unter anderem, dass mehr Quellen zugänglich gemacht worden sind, anhand derer sich Lebenswelten im Krieg nachvollziehen lassen. Dies gilt auch für Kinder, gleichwohl ist dieser Zusammenhang bisher eher vernachlässigt geblieben. 3 Ganz allgemein lässt sich festhalten, dass Kinder in diesen Quellen sehr präsent sind und die Beschäftigung mit ihnen neue Einsichten sowohl in die Sozialgeschichte des frühneuzeitlichen Krieges, genauer des Dreißigjährigen Krieges, verspricht als auch einen genuinen Beitrag zur Geschichte der Kindheit leisten kann. Der Dreißigjährige Krieg ist mit modernen Kriegen nicht zu vergleichen. Über dreißig Jahre lang waren weite Teile Europas, insbesondere deutschsprachige Territorien (aber nicht nur diese 4) von Kriegshandlungen, von Einquartierungen, von
1 Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg. Frankfurt am Main 1992, sowie Christoph Kampmann, Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts. Stuttgart 2008; vgl. auch Johannes Arndt, Der Dreißigjährige Krieg, 1618–1648. Stuttgart 2009. 2 Benigna von Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Selbstzeugnissen aus dem 17.Jahrhundert, in: HA 2, 1994, H.3, 462–471. 3 Peter-Michael Hahn, Kriegserfahrungen von Kindern und Jugendlichen im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, in: Dittmar Dahlmann (Hrsg.), Kinder und Jugendliche in Krieg und Revolution. Vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den Kindersoldaten Afrikas. (Krieg in der Geschichte, Bd. 7.) Paderborn 2000, 1–15. 4 Vgl. Kampmann, Europa und das Reich (wie Anm.1).
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durchziehenden Söldnern, von Feuersbrünsten, von Folgeerscheinungen wie Ernteausfällen, Hunger und Krankheiten, von Flucht und dem Aussetzen des gewohnten Alltags betroffen. Dieses konnte Monate, aber auch Jahre dauern – die Bevölkerungsverluste betrugen bis zu 70 %. 5 Die Dynamik des anrollenden Krieges wird in den hier untersuchten Quellen greifbar. So erwähnen fränkische Pfarrer in ihren Kirchenbüchern wiederholt den ‚Lärm‘, der die Soldaten ankündigte und der dafür sorgte, dass die Dorfbewohner und Dorfbewohnerinnen samt ihren Kindern und Mägden und Knechten in die Wälder oder in die nächstgelegene Stadt flüchteten. Dieses konnte tagsüber oder auch nachts passieren. Die Kirchenbücher erwähnen den Tod aus Angst („hart erschröckt“) und „Leid und Kummernis“ 6. Häufig werden auch Selbstmord sowie Krankheiten erwähnt, die als „mente motus“ oder auch „morbo lunatico“ bezeichnet wurden. 7 Der Krieg, so ließe sich einführend festhalten, wird als „unsichere Zeit“ beschrieben und wahrgenommen. 8 Was nun bedeutet diese umfassende Verunsicherung insbesondere für Kinder? Inwiefern sind sie den Zumutungen des Krieges und seinen Folgeerscheinungen auf spezifische Weise ausgesetzt? Wie reagieren Kinder auf die Herausforderungen, die Flucht und Angst und der massenhafte Tod mit sich brachten? Dabei soll der Versuch unternommen werden, Kinder auch als Akteure zu verstehen und sie so aus der ihnen häufig zugeschriebenen Opferrolle herauszuholen. Insbesondere das Ausleuchten dieser Perspektive ist wichtig für die Sozialgeschichte eines Krieges, der bis zu zwei Generationen von Menschen im 17.Jahrhundert nachhaltig prägte. So soll es möglich werden, aktuellere Forschungsdiskussionen, wie sie etwa Bernd Roeck mit der Frage nach der „psychischen Ökonomie“ oder Maren Lorenz mit der Frage nach der den Krieg überdauernden Gewaltbereitschaft („Traumatisierung“) angestoßen haben, aufzugreifen. 9 Im ersten Teil des Aufsatzes stehen vor allem junge Kinder im Mittelpunkt, die-
5 Derzeit untersucht Mary Lindemann an der University of Florida/Miami die mentalen Folgen des Dreißigjährigen Krieges in Brandenburg-Preußen infolge von Verwüstung und Zerstörung. 6 Rudolf Großner/Berthold Freiherr von Haller, „Zu kurzem Bericht umb der Nachkommen willen.“ Zeitgenössische Aufzeichnungen aus dem Dreißigjährigen Krieg in Kirchenbüchern des Erlanger Raumes, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung 40, 1992, 9–107, 18 (Eltersdorf, 28.Dezember 1631). 7 Ebd.25 (Vach, 8.September 1632). 8 So der wiederkehrende Begriff in den erwähnten Kirchenbüchern. 9 Bernd Roeck, Der Dreißigjährige Krieg und die Menschen im Reich. Überlegungen zu Formen psychischer Krisenbewältigung in der ersten Hälfte des 17.Jahrhunderts, in: Peter C. Hartmann/Florian Schuller (Hrsg.), Der Dreißigjährige Krieg. Facetten einer folgenreichen Epoche. Regensburg 2012, 146–157; Maren Lorenz, Tiefe Wunden. Gewalterfahrung in den Kriegen der Frühen Neuzeit, in: Ulrich Bielefeld/Heinz
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jenigen, die im Krieg geboren wurden (und oft bald wieder starben). Dabei geht es auch darum, die Bedingungen nachzuzeichnen, unter denen Schwangerschaft und Geburt stattfanden, um zugleich die Frage anzustoßen, was diese Bedingungen für das Leben der Kinder bedeuten konnten. Im zweiten Teil richtet sich der Blick dann stärker auf die Kinder, die ihr Leben im Krieg verbrachten. Hier kommen sowohl Soldatenjungen zur Sprache als auch die Kinder, die in den Dörfern ihr Überleben sichern mussten. In diesem Abschnitt wird zudem die These diskutiert, dass der Dreißigjährige Krieg für Kinder eine Chance zur sozialen Integration war. 10 Schließlich spielt der Krieg eine enorme Rolle in den Erinnerungen derjenigen, die den Krieg überlebt haben. Dieses Überleben ist gelegentlich erklärungsbedürftig und Kinder erhalten in der Narration dieser Texte eine herausragende Funktion. Vereinzelt werden diese Passagen, etwa aus Leichenpredigten, von der Forschung als soziale Realität verstanden. Auf Reales können etwa Leichenpredigten ohne Zweifel verweisen, doch kommt ihnen, wie zu zeigen ist, keine Realität abbildende Bedeutung zu. 11 Diese Erinnerungen an den Krieg und die Bedeutung, die der eigenen Kindheit darin zukommt, stehen im Mittelpunkt des dritten Teils. So liegt der methodische Mehrwert des vorliegenden Beitrags auch darin, die sozialgeschichtliche Dimension von der narrativen zu unterscheiden und beide für die Frage nach dem Zusammenhang von Kindheit und Krieg zu verwenden. Der Dreißigjährige Krieg, soviel ist bisher deutlich geworden, muss in diesem Beitrag vor allem als konkretes Geschehen vor Ort verstanden werden, denn es geht darum, Lebenswelten zu erkunden, die an Orte und Landschaften, an Erfahrungshorizonte und Gewohnheiten gebunden waren. Eine solche Perspektive wurde insbesondere angeregt von den Forschungen Hans Medicks und Benigna von Krusenstjerns, die sie wie folgt zusammenfassen: „Durch eine genaue Fokussierung des Blicks auf das begrenzte Beobachtungsfeld einer lokalen oder regionalen Gesellschaft, einer Lebensgeschichte oder eines Ereignisses wird es möglich, den Krieg als einen von Menschen gemach-
Bude/Bernd Greiner u.a. (Hrsg.), Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag. Hamburg 2012, 332–354. 10 So referiert es etwa Hahn, Kriegserfahrungen (wie Anm.3), 1 u. 9. 11 Vgl. grundlegend Cornelia Niekus-Moore, Patterned Lives. The Lutheran Funeral Biography in Early Modern Germany. Wiesbaden 2006. In Bezug auf die Trauer um Kinder: Claudia Jarzebowski, Loss and Emotion in Funeral Works on Children in Seventeenth-Century Germany, in: Lynne Tatlock (Ed.), Enduring Loss in Early Modern Germany. Leiden 2010, 187–213.
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ten, erfahrenen und erlittenen gewaltgeprägten Zusammenhang von Handlungen, Ereignissen und Strukturen zu erforschen und darzustellen, die vor Ort und in der Region in mehr oder weniger verheerender Weise wirksam waren [...]. Durch die Notwendigkeit, den Krieg als einen umfassenden, strukturierenden und strukturellen Gewalt-, Ereignis- und Erfahrungszusammenhang zu berücksichtigen, wird auch in der Untersuchung des Dreißigjährigen Krieges ‚aus der Nähe‘ eine [...] Verschränkung mikro- und makrohistorischer Perspektiven unverzichtbar.“ 12
In diesem Beitrag richtet sich der Blick vor allem auf Kinder aus der Perspektive von Pfarrern, Eltern, Söldnern, Untertanen und Kindern selbst. 13 Die Quellen, die für ein solches Erkenntnisinteresse zur Verfügung stehen, sind Kirchenbücher, Chroniken, Memoiren, Tagebücher, Leichenpredigten. 14 Diese werden in drei Hinsichten gelesen: (1) als Steinbruch für Informationen über Lebenswege von Kindern, (2) als Zeugnis eines Kriegserlebens, das mit Kriegserfahrung und der Kriegswahrnehmung in enger Verbindung steht, und schließlich (3) als Narrationen eines Krieges und deswegen auch als Teil der Bewältigung. 15
12
Hans Medick/Benigna von Krusenstjern, Einleitung: Die Nähe und Ferne des Dreißigjährigen Krieges, in:
dies. (Hrsg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 148.) 2.Aufl. Göttingen 2001, 13–39, 27. 13
Benigna von Krusenstjern verzeichnet auch einige Verfasserinnen, häufig Nonnen: dies., Selbstzeug-
nisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Beschreibendes Verzeichnis. (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 6.) Berlin 1997. 14
Quellen, die zudem in Frage gekommen wären, sind Gerichtsakten, doch bleibt dieser Quellenbestand
für die hier behandelte Frage künftigen Forschungen vorbehalten. Verwiesen werden kann an dieser Stelle auf Wolfgang Behringer/Claudia Opitz-Belakhal (Hrsg.), Hexenkinder – Kinderbanden – Straßenkinder. (Hexenforschung, Bd. 15.) Bielefeld 2016, insbes. dies., Hexenkinder – Kinderbanden – Straßenkinder. Eine Einführung in das Thema, 1–47. 15
Die methodischen Herausforderungen, die mit der Quellengattung der Selbstzeugnisse (auch ego do-
cuments oder self-narratives) einhergehen, sind eingehend diskutiert worden in Beiträgen unter anderem von: Claudia Ulbrich/Hans Medick/Angelika Schaser, Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, in: dies. (Hrsg.), Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven. (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 20.) Köln u.a. 2012, 1–21; Fabian Brändle/Kaspar von Greyerz/Lorenz Heiligensetzer u.a., Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. Probleme der Selbstzeugnisforschung, in: Kaspar von Greyerz (Hrsg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850). (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 9.) Köln u.a. 2001, 3–31.
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II. Übergänge: Kindersterben und Kindertaufen In allen untersuchten Quellen stellen der Tod von Kindern und ihr Leid ein zentrales Thema dar, ohne dass dieses ein Auswahlkriterium für die Quellen des vorliegenden Beitrags gewesen ist. Kinder starben an Hunger, an Krankheiten und den Begleiterscheinungen des Krieges wie Flucht, Angst oder Gewalt. Kirchenbücher aus dem Raum Schmalkalden und Meiningen verzeichnen den Tod von Kindern, die „Hungers gestorben“, wie etwa der achtjährige Blasius aus Herrenbreitungen. 16 Für den April 1638 notierte derselbe Pfarrer, sei der neunjährige Hans Wolf „verschmachtet“. 17 Ein drastisches Beispiel für den krankheitsbedingten Tod führt der Andechser Abt Maurus Friesenegger an, der mit der Situation konfrontiert war, dass die Menschen an der Pest starben und es keine Totengräber mehr gab: „Das Traurigste war, daß solch Verstorbene niemand begraben wollte.“ 18 Meist wurden ‚Vaganten‘ angeheuert, die, so Friesenegger, bald darauf selbst starben. Schließlich berichtet Friesenegger von einer Familie, deren ältester Sohn mit 18 Jahren an der Pest starb, und nur eine Woche folgten die Mutter „in der Frühe“ und der Vater am Abend desselben Tages: „Im Hause war niemand mehr als die 2 Söhne, noch Kinder mit 13 und 14 Jahren. Die schienen zu gering [zur Totengräberei, C. J.]. Allein die kindliche Liebe gab ihnen Mut, und Stärke, und sie erboten sich, die Eltern zu begraben, wenn man ihnen ein Grab für beide machen würde. Und das geschah alles nächtlicher Weile.“ 19
Kurze Zeit später starben die beiden Söhne und „um großen Lohn“ wurde ein Totengräber angeworben. Die Entvölkerung der Dörfer wird greifbar, denn „es war keine Nacht, wo nicht ein, zwei, oder drei Tote ohne alle Ceremonie, oft in einer Grube eingescharrt wurden“. 20 Der Blaufärber Hans Krafft aus Erfurt musste 1626 den Pesttod von zehn Kindern, seiner schwangeren Ehefrau sowie weiteren Verwandten verkraften. Vier seiner Kinder, seine Ehefrau und das ungeborene Kind beerdigte er an
16 Zit. nach: Kai Lehmann, Leben und Sterben im Dreißigjährigen Krieg. Zwei authentische Familienschicksale aus dem 17.Jahrhundert. Untermaßfeld 2014, 11 (Januar 1638). 17 Ebd.11 (April 1638). Weitere Beispiele finden sich auf den Seiten 17ff. 18 Maurus Friesenegger, Tagebuch aus dem Dreißigjährigen Krieg. Hrsg. v. P. Willibald Mathäser. München 1974, 16. 19 Ebd.86. 20 Ebd.
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einem Tag, dem 5.September 1626: „Der liebe Gott tue es mit mir, wie es ihm gefällt. Amen.“ 21 Der Tod des eigenen Kindes wurde auf unterschiedliche Weise betrauert. Hans Krafft, so hat es den Anschein, resignierte in Anbetracht der schicksalhaften Todesserie. 22 Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, auch den Tod seines elften Kindes und seiner dritten Ehefrau in derselben eindringlichen Weise zu verzeichnen. 23 Die Zumutung des Krieges lag auch darin, den Tod des eigenen Kindes als Gottes Wille zu akzeptieren. Und doch fiel das nicht leicht. Für den Vacher Pfarrer Andreas Spiegel war es insbesondere erinnerungswürdig, dass er seine 13-jährige Tochter Anna Maria nicht beerdigen konnte. Diese war am 19.Juli 1634 gestorben: „Hab’s den Montag drauf, als den 21., nacher Vach führen und begraben lassen. Sind ich, meine liebe Hausfrawen mit meinen 2en Kindern mit ihr bis vor die Brücken gekommen, aber wegen des kratzischen durchziehenden Volks (so vor Forchheim gelegen) nicht hinein gedurft oder überfahren dürfen, sondern alle entlaufen müssen. Ist also in unsern Abwesen von Michael Fennen, domals Mesner, und Michael Mayren, sartore [Schneider; C. J.], begraben worden.“ 24
Auch aus Bruck, Eltersdorf und Großgründlach werden Beerdigungen von Kindern vermerkt, deren Ablauf empfindlich durch die Allgegenwärtigkeit des Krieges gestört wurde: „Ist Kunegunda, Barbara Lettenmairin selig hinterlassenes Töchterlein, ihres Alters im achten Jahr in Nürnberg [Fluchtort, C. J.] gestorben und darnach von den Brüdern auf einem Schubkarrn hieher geführt und begraben worden. Hat nicht besungen werden können, weil eben das hatzfeldisch Volk im Land gelegen.“ 25
Das Alter der Brüder bleibt unerwähnt, aber das Bild tritt plastisch vor Augen: Kriegsgeplagte Waisenkinder, die ihre achtjährige Schwester zur stillen Beerdigung 21
Krafft, Erfurtter Chronik, 5v. 1626 sterben in Erfurt über 3700 Menschen, bei einer geschätzten Ein-
wohnerzahl von 19000 Einwohnern. Für 1631 wurden knapp über 13000 Einwohner/innen gezählt. Inwiefern Kinder in dieser Berechnung bzw. Schätzung berücksichtigt wurden, ist nicht klar. Doch als Richtwert kann gelten, dass Erfurt fast ein Fünftel seiner Einwohner im sogenannten Pestjahr 1626 verlor. Die Chronik ist als kritische Online-Edition zugänglich: http://www.mdsz.thulb.uni-jena.de/krafft/quelle.php, [16.03.2016]. 22
Vgl. zu den Normen und Formen der Verarbeitung des Todes des eigenen Kindes Jarzebowski, Loss and
Emotion (wie Anm.11).
224
23
Krafft, Erfurtter Chronik (wie Anm.21), fol. 11v.
24
Großner/von Haller, Kurzer Bericht (wie Anm.6), 35 (21.Juli 1634 in Vach).
25
Ebd.67 (29.April 1639 in Großgründlach).
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durch das besetzte Gebiet schoben. Etwas anders verhielt es sich bei dem Töchterlein von Georg Holzner. Dieses starb ebenfalls auf der Flucht in Nürnberg, wurde dann aber in ihrem Heimatdorf Bruck „mit Gesang begraben in Unsicherheit“. 26 Der Brucker Pfarrer notierte 1647: „Dominica IV. Adventi ist Sebastian Pfisters, Fischers kindlein, so tot auf die Welt kommen, von Nürnberg [dem Fluchtort, C. J.] nach Bruck gebracht und begraben. Die gewöhnlich Lektion hab ich hinter der Schanze verricht, dieweil wegen der Soldaten niemand mit hinausgangen.“ 27
Der Friedhof lag offenbar hinter der Schanze und niemand hatte sich getraut, den Leichnam bis zum Grab zu begleiten, mit Ausnahme des Pfarrers. Dabei liegt die eigentliche Auffälligkeit in der Tatsache begründet, dass dieser pfarrherrliche Eintrag sich der Beisetzung eines totgeborenen Kindes verdankt, das so bestattet und in das Heimatdorf überführt worden war, als sei es lebendig geboren und getauft worden. Totgeborene Kinder sind keine Seltenheit in Textzeugnissen des Dreißigjährigen Krieges. Hans Heberle verzeichnet für das Jahr 1642, dass sein achtes Kind „nicht lebendtig an das liecht dieser welt ist komen aber un zweiffel ein kindt der ewige selligkeit ist“. 28 Der Söldner Peter Hagendorf musste gleich sein erstes Kind aufgeben, das 1627 „[...] noch nicht geburtsreif gewesen, sondern alsbald gestorben. Ist ein junger Sohn gewesen.“ 29 Und auch die Kirchenbucheinträge verzeichnen weitere Totund Frühgeburten, die in einen direkten Zusammenhang mit dem Dreißigjährigen Krieg gestellt wurden: „[10.September]: Wurd begraben Hansen Schrotens, Mühlknechts, ungetauftes Kindlein. Ist die Mutter acht Wochen nach ihrer alsbald Hochzeit darnieder gekommen, hat nach ihrer Aussage wegen vielfältiger Schrecken, so sie von den Soldaten eingenommen, des Kinds nicht genesen können.“ 30
26 Ebd.71 (24.Mai 1644 in Bruck). 27 Ebd.76 (19.Dezember 1647 in Bruck). Im Fall von Dorothea, Hansen Bammes Tochter aus Eltersdorf, wurde die Lektion ebenfalls hinter der Schanze gelesen und der Leichnam „dann von den Eltern und wenigen andern gar heraus begleitet und zu Eltersdorf begraben“ (29.Februar 1648 in Eltersdorf). 28 Gerd Zillhardt (Hrsg.), Der Dreißigjährige Krieg in zeitgenössischer Darstellung. Hans Heberles „Zeytregister“ (1618–1672). Aufzeichnungen aus dem Ulmer Territorium. Ein Beitrag zu Geschichtsschreibung und Geschichtsverständnis der Unterschichten. (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm, Bd. 13.) Ulm 1975,f. 94v. 29 Jan Peters (Hrsg.), Ein Söldnerleben im Dreißigjährigen Krieg. Eine Quelle zur Sozialgeschichte. (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 1.) Berlin 1993 (2. Aufl. Göttingen 2012), 136 (17). 30 Großner/von Haller, Kurzer Bericht (wie Anm.6), 41 (24.August 1634 in Großgründlach).
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Diese Soldaten hatten bereits die Eheschließung beeinträchtigt: Hans Schroten und Anna Hansen, die Mutter, waren „aus Unsicherheit in meiner Pfarrersbehausung kopuliert worden [...] haben vor den Soldaten den Kirchgang nicht wagen dörfen“ 31, notierte der Pfarrer, um die etwas knappe Hochzeit zu erklären. Interessant an dem Eintrag ist der Hinweis darauf, dass Anna selbst den frühzeitigen Tod ihres Kindes auf die Soldaten und den Schrecken, den diese verbreiteten, zurückführte. Es ist bereits deutlich geworden, dass die Umstände, unter denen Kinder beerdigt wurden, als bestürzend wahrgenommen wurden, so sehr, dass reguläre Zeremonien in den Kirchenbüchern eigens vermerkt wurden. 32 Die physische Entwurzelung korrelierte mit einer spirituellen Verunsicherung, die das Mitteilungsbedürfnis der Pfarrer auch in erklärender Absicht wachsen ließ. Und es hat den Anschein, als habe das häufige Sterben von Kindern zu dieser Verunsicherung beigetragen. Vielleicht widmen die Kirchenbucheinträge sich aus diesem Grund in vergleichsweise ausführlicher Form den Taufen der neugeborenen Kinder. Dabei tritt ein Kontext der Beschreibung deutlich hervor: die Strapazen, die die zahlreichen Fluchten für hochschwangere Frauen und kleine Kinder bedeuteten. Die fränkischen Pfarrer aus Bruck, Eltersdorf, Großgründlach und Vach wurden nicht müde, die oft verheerenden Umstände, unter denen Kinder geboren und getauft wurden, zu verzeichnen. Im Juli 1639 etwa brachte Anna, „als sie wegen der Soldaten geflohen, auf freiem Feld in der Bucher Gaß“ ihr Kind zur Welt: „Ist denselben Abend noch in die Stadt gebracht, und das Kind den andern Tag hernach von Herrn Peter Limpurger, Pfarrherrn zu Kraftshof, in meinem Abwesen (hab zu Bruck ein leich gehabt) getauft [...] worden.“ 33 Bereits 1626 vermerkt der Großgründlacher Pfarrherr: „Hansen Pfannen des Nachts zwischen 12 und 1 Uhr eine Tochter getauft [...] die Kindbetterin mußt flugs frühmorgens des Kriegsvolcks halber nach Nürnberg sich führen lassen.“ 34 Die Eile in der Taufe und die Bekundung der nächtlichen Taufe verweisen auf die angespannte Situation, in der Geburt und Taufe stattfanden, an die sich unmittelbar eine Flucht anschließt. Diese Umstände von Geburt, Flucht und Taufe waren aus der Per31
Ebd.39 (16.Juli 1634 in Großgründlach).
32
„Ist Albertus Lebender, des ehrsamen Hans Lebenders allhie ehlich hinterlassener Sohn, von Nürn-
berg hinausgeführt und mit Gesang und Klang begraben worden, seines Alters 12 Jahr, 6 Monat, 18 Tage.“ In: Großner/von Haller, Kurzer Bericht (wie Anm.6), 49 (19.August 1635 in Bruck).
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33
Ebd.67 (31.Juli 1639 in Eltersdorf).
34
Ebd.14 (23.August 1626 in Großgründlach).
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spektive des Pfarrers bemerkenswert, der sich so gut es ging um das geistliche Wohl des Kindes bemüht hatte. Knapp zwei Jahre später wird in demselben Kirchenbuch vermerkt: „Hansen Knotten [...] einen Sohn getauft. Habs Kindt vorm Tiergärtner Thor getauft uff Herrn Rieters Gartten, dahin die Mutter der Soldaten halber geflohen.“ 35 Und aus Bruck lässt sich für 1631 lesen: „Konrad Kellerman und Katharinae, seiner Ehewirtin, ein Töchterlein (welches den 20.August zu Büchenbach, dahin die Mutter mit schwangerm Leib wegen der Kriegsleut geflohen, geboren und von dann wieder herüber geführet worden) mit Namen Margaretha getauft.“ 36 Diesen Einträgen, die sich fortsetzen ließen, ist der Verweis auf die Umstände der Geburt, denen zufolge die Mütter hochschwanger fliehen und unterwegs ihre Kinder zur Welt bringen mussten, gemeinsam. Gleichzeitig wird deutlich, wie sehr alle Beteiligten darum bemüht waren, diese Kinder taufen zu lassen, wobei diese Taufen häufig unter ungewöhnlichen Umständen stattfanden – „ohne Klang und Gesang“, in anderer Leute Häuser oder Gärten, nachts. Dabei war nicht immer die Konstitution des Kindes für die Eile ausschlaggebend, sondern das „Geschrei“, mit dem sich die Soldaten ankündigten. 37 Zusammenfassend lässt sich festhalten: Der Krieg ist in den Kirchenbucheinträgen allgegenwärtig als der Kontext, der über Leben und Tod entschied. Dabei gehen die Einträge über das bloße Verzeichnen von Tod und Taufe hinaus – die Verfasser (allem Anschein nach die Pfarrer selbst) bemühten sich zu fassen, was vermutlich oft unverstanden bleiben musste. Dafür sprechen die zahlreichen Verweise auf Wunderzeichen (Wetter, Himmelserscheinungen), auf wilde Tiere, wie etwa Wölfe, die eine Bedrohung darstellten 38, auch Vögel, die die wenig genutzten Kirchen und Kirchtürme in Besitz und „schröckhlich gejuchzet und gefrohlockt“ haben 39. Den häufigen Verweisen auf die stillen Taufen und Beerdigungen stehen die lauten Soldaten („Geschrei“) gegenüber, die das gemeindliche und nachbarschaftliche Leben zum Erliegen brachten. Es lässt sich schließen, dass Kinder, die während des Dreißigjährigen Krieges geboren wurden, kaum Aussicht hatten, in verlässlichen gemeindlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen heranzuwachsen. Diese Unsicherheit
35 Ebd.16 (8.September 1628 in Großgründlach). 36 Ebd.16 (21.August 1631 in Bruck). 37 Ebd.16 (3.August 1634 in Bruck). 38 Ebd.75 (20.September 1646 in Vach). 39 Ebd.33 (Januar 1634 in Bruck).
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schwächte traditionelle Zugehörigkeiten. So lässt sich etwa in den vielfach zitierten Kirchenbucheinträgen auch ablesen, dass gegen Ende des Krieges Pfarrer häufig abwesend waren und ihre Aufgaben vom Nachbarpfarrer übernommen wurden. 40 Zusammen mit den eingangs zitierten Textzeugnissen von Friesenegger und Hans Krafft lässt sich feststellen, dass Kinder und ihr Schicksal fast durchgängig thematisiert werden. So werden sie zum einen von Gott abberufen, zum anderen werden sie von ihm in die Welt geschickt. Dass insbesondere Pfarrer diesen beiden Lebensmomenten eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteil werden ließen, ist nicht überraschend. Bemerkenswerter ist hingegen, dass sie den Kontext des Krieges sehr klar hervorhoben. Dies kann als ein Hinweis auf die sozialhistorische Relevanz des Kriegserlebens verstanden werden. Denn selbstverständlich gab es viele Kinder, die im Krieg ihr Überleben sichern mussten, sei es auf der Flucht, sei es als Waisenkinder, sei es als verlassene Kinder. Als solche werden sie auch in Kirchenbüchern greifbar, vor allem aber in Berichten und Tagebüchern aus dem Krieg.
III. Leben im Krieg Der Dreißigjährige Krieg bedeutete für Kinder zweifelsohne Elend, Hunger und ‚Schmacht‘. Gleichzeitig generierte der Kriegsalltag Handlungsoptionen, die Kindern das Überleben ermöglichten und die von ihnen genutzt wurden. 41 Ein weiterer Blick in Kirchenbücher zeigt, dass Kinder häufig als Versprengte durch die Gegend zogen und als „fremdes Mätgen“ oder „fremder Junge“ Eingang in das Verwaltungsschriftgut fanden. 42 Um sich durchzubringen, bettelten Kinder häufig. Doch war das keine Garantie für das eigene Überleben. So erfroren im Januar 1635 ein „Knabe und ein Mägdchen im Bettel elend an der Isar“. 43 Kinder konnten aber auch ihr Auskommen finden in den Wirren des Krieges, indem sie sich anderen Familien anschlossen
40
Ebd.75 (20.September 1646 in Großgründlach).
41
Vgl. dazu auch Hahn, Kriegserfahrungen (wie Anm.3).
42
Lehmann, Leben und Sterben im Dreißigjährigen Krieg (wie Anm.16), 171. Das Schicksal von ver-
sprengten Mädchen wird meist nur dann aktenkundig, wenn sie nicht an ihrem Heimatort starben. Gerichtsquellen versprechen weiteren Aufschluss über die Lebenswege von Mädchen, etwa in dem Beitrag von Markus Meumann, Kinderbettel und Hexenglauben um 1700, in: Behringer/Opitz (Hrsg.), Hexenkinder (wie Anm.14), 111–143. 43
228
Friesenegger, Tagebuch (wie Anm.18), 92.
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und Dienste übernahmen. Das gilt insbesondere für Mädchen. So berichtet Caspar Preiß, katholischer Bauer aus dem kurmainzischen Stausebach, wie er sich zur Kirchweih in dem Ort versteckt hielt: „Da war ich etliche Nacht allein in diesem Dorf, das ich auch in funf Nachten nicht einen eintzigen Menschen wuste noch sahe, dan die Leuth und das Vieh war in den Städen. So war mein Weib und Gesind und Vieh, was ich noch hatte, uff der Omeneburg in einem Haus, das war so voll Leuth, wan ich einmal hinkam, so kunt einer sich nicht regen noch wegen, darumb bleib ich mehrentheils in dem Dorf und verbarg mich.“ 44
Seine Frau sorgte sich um sein leibliches Wohlergehen und schickte ihm „mit einem kleinen Mätgen einen Gerstenbrey. Der ward doch gantz kalt, biß er zu mir kam, so kont ich in nicht wärmen, dan es war kein Feuer im Dorf, und must in also kalt essen uff dem Hoff vor der Hausthur.“ 45 Doch war es mit diesem äußerst gefährlichen Botengang nicht getan. Preis stellte das kleine Mägtgen „uff der Kirche“ um Wache zu halten, denn „wan ja eine Parthey Reutter käme, das ich mich verstäcket“. 46 Die Beschreibung legt nahe, dass es sich hier um eine alltägliche, keine besondere Situation für das Kind gehandelt hat. Dabei ging es um einen Handlungsbereich, der eher für Mädchen in Frage kam. Denn Jungen fanden häufiger Möglichkeiten, sich im Heer oder im Tross zu verdingen. Diesbezügliche Belegstellen beleuchten deren Lebensrealität zuweilen recht eindrücklich. So findet sich im Vacher Kirchenbuch für das Jahr 1632 der Eintrag: „Ein Soldatenjung aus Holland, hat vom Pfarrhof nicht gewollt. Wird ohne Zweiffel im Pfarrhof sein Quartier mit seinem Herrn gehabt haben, hab ihm Brot und frisch Wasser gereicht, denn er sonsten nichts trinken wollen, auch nichts zu bekommen gewesen; stirbt auf der Miststatt.“ 47
Hier handelt es sich offenbar um einen Jungen, der seinen Herrn bereits aus Holland begleitet hatte und der nun in Vach erkrankt war. Warum er sich in Holland
44 Wilhelm A. Eckhardt/Helmut Klingelhöfer (Hrsg.), Bauernleben im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Die Stausebacher Chronik des Caspar Preis (1636–1667). (Beiträge zur hessischen Geschichte, Bd. 13.) Marburg an der Lahn 1998, 44. 45 Ebd.45. 46 Ebd. 47 Großner/von Haller, Kurzer Bericht (wie Anm.6), 27 (20.Oktober 1632).
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den Soldaten angeschlossen hat, lässt sich nicht erschließen. 48 Aber wir wissen, dass niederländische Soldaten ihre Jungen häufig auch aus ganz anderen Weltgegenden mitbrachten, zum Beispiel Asien – wenn sie dort im Dienste der Vereenigde Ostindische Companie (VOC) unterwegs gewesen waren. 49 Gleichzeitig deutet dieser beiläufige Kirchenbucheintrag eine gewisse Fürsorge des Pfarrers gegenüber dem kranken Jungen sowie eine langwährende Beziehung zwischen dem Jungen und seinem Herrn an, die in Vach ein unverhofftes Ende fand. Der Umstand, dass der Herr sich im Pfarrhof einquartiert hatte (und sein Junge offenbar bei den Pferden schlief), kann gegebenenfalls als Hinweis auf einen höheren Rang des Einquartierten gelesen werden. Dass Beziehungen zu einem Jungen länger dauern konnten und auch soziale Funktionen erfüllten, geht aus den Einträgen des Söldners Hagendorf hervor. Bei Peter Hagendorf handelt es sich um einen schreibkundigen Söldner aus dem Dreißigjährigen Krieg, dessen Tagebuch mittlerweile in einer zweiten kritischen Edition vorliegt. 50 Hagendorf, der zwischenzeitlich auch Stabhalter und Wachtmeister war, bekam in dieser Funktion einen Jungen zugeteilt, den jungen Bartelt. Bereits nach kurzer Zeit nennt Hagendorf ihn nur noch meinen Jungen. Nach etwa anderthalb Jahren verschwindet dieser Bartelt aus den Aufzeichnungen 51 – vermutlich musste Hagendorf ihn wieder abgeben oder Hagendorf hatte das Regiment gewechselt. Der junge Bartelt – dessen genaues Alter unklar bleibt – war unter anderem für die beiden schönen Pferde zuständig, die er selbst entwendet oder erbeutet hatte. Einen dramatischen Höhepunkt erreichte die Beziehung der beiden Ende 1633, als Hagendorf eines Abends das eine Pferd mit seinem Vetter vertrank, „da hatt der Jung geweint um das Pferd“. 52 Mit diesem Hinweis unterstrich Hagendorf die Kindhaftigkeit des Jungen. Zudem war Bartelt wichtig für Logistik und Transport der Beute, vor allem, wenn Hagendorf selber in die Schlacht musste:
48
Vgl. aktuell zu Söldnern aus den Niederlanden im Dreißigjährigen Krieg: Michael Kaiser, Generalstaa-
tische Söldner und der Dreißigjährige Krieg. Eine übersehene Kriegspartei im Licht rheinischer Befunde, in: Andreas Rutz (Hrsg.), Krieg und Kriegserfahrung im Westen des Reiches, 1568–1714. Göttingen 2016, 65–101. 49
Kinder sind verzeichnet in den Listen der VOC-Schiffe: www.gahetna.nl/collectie/index, [16.03.2016].
50
Jan Peters, Vorwort zum Vorwort, Vorwort und Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Peter Hagendorf – Tage-
buch eines Söldners aus dem Dreißigjährigen Krieg. Göttingen 2012, 7–31; vgl. zum Tagebuch Peter Burschel, Himmelreich und Hölle. Ein Söldner, sein Tagebuch und die Ordnungen des Krieges, in: Medick/von Krusenstjern (Hrsg.), Zwischen Alltag und Katastrophe (wie Anm.12), 181–194.
230
51
In diesem Zeitraum war Hagendorf unverheiratet.
52
Peters (Hrsg.), Peter Hagendorf – Tagebuch eines Söldners (wie Anm.50), 144.
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„Unterwegs ist mir mein Junge krank in Aalen zurückgeblieben. Wie er wieder gesund ist und will zu mir, hat man ihm alles genommen. Denn er hat all mein Weißzeug, welches ich zu Landshut bekommen habe, bei sich gehabt. Es ist in der Nacht, wie wir haben schlagen wollen, weil wir alle in Bereitschaft stehen mußten, gestohlen worden, samt dem Paßport und alles, was ich hatte. Also war alle meine Beute wieder hin, samt mein Paßport, der mir am allerliebsten wäre gewesen. Aber es war hin.“ 53
Es wird deutlich, dass Hagendorf dem jungen Bartelt vertraute. Er hatte offenbar keine Sorge, dass dieser sich mit der Beute absetzen würde. Das wiederum kann als ein Hinweis darauf gedeutet werden, dass diese Söldner- und Heeresgemeinschaften in der um die Jungen erweiterten Form als relativ stabile soziale Gruppe verstanden werden können. Diese in einem bestimmten Rahmen auch Protektion und Nahrung bietenden Verhältnisse konnten für Kinder offensichtlich einen hohen Grad an Attraktivität erlangen. Gegebenenfalls wurde auch Eltern eine Sorge genommen, wenn sie ihre jungen Söhne im Heer unterbringen konnten. Denn die Jungen nahmen nicht direkt am Kriegsgeschehen teil, sondern übernahmen eher die Pflege der Ausrüstung. So schnitt Michael Niblings Ehefrau, eine Nachbarin des Chronisten Michael Heberle aus der Gegend von Ulm, gerade das Brot in die Suppe, als „ihres reiters jung, den sie im quatier gehabt, seines herren oder reiters pistol butzet und ohn gefehr nach der gute, frische und starckhe frawen den pistol hebt, und zu ir sagt, ich will dich verschießen, aber unbewust, das er geladen war, ging der pistol ab und ging ir durchs hertz, das sie mit grossen schmertzen starb, den 16 tag Jenner zu mittag.“ 54
Neben der Dramatik, der sich dieser Eintrag verdankt, gewährt dieser Ausschnitt einen Einblick in das Leben der Jungen, die als Kinder Soldaten- und Reiterknechte werden konnten und gelegentlich mit ihren Aufgaben auch überfordert waren. 55 Gleichzeitig zeugen die Häuslichkeit der Situation sowie der Umstand, dass Niblings Ehefrau sich unmittelbar vor ihrem Verscheiden für den Jungen verwendete, davon, dass diese Jungen auch als Kinder wahrgenommen und in die häusliche Gemeinschaft (soweit vorhanden) eingebunden wurden. Gegebenenfalls blieben die
53 Ebd.145f. 54 Zillhardt (Hrsg.), Heberles „Zeytregister“ (wie Anm.28),f. 34 (1629). Aus der Anmerkung des Herausgebers Gerd Zillhardt geht hervor, dass die Frau sich vor ihrem Tod nachweislich für den Jungen verwandt hat, so dass der Junge mit einem Landesverweis davonkam; ebd.125 Anm.135. 55 Siehe dazu auch den Eintrag bei Krafft, Erfurtter Chronik (wie Anm.21), 43r (1648).
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Abb.1: Soldatenjunge auf einem Einblattdruck (Ausschnitt); Staatsbibliothek zu Berlin, HandschriftenAbteilung, Signatur YA 7295m. Jungen wie diese begleiteten Militärangehörige als persönliche Bediente, auch – wie hier – ins Wirtshaus. Sie sorgten für die Pflege der Waffen und Pferde, brachten Plünderungsgut in Sicherheit und bewahrten den Hausstand des Söldners während dieser im Feld war. [Dieser Druck ist ohne Angabe der Signatur auch abgebildet in den beiden Ausgaben des Tagebuchs, die Jan Peters zuerst 1993 und dann 2012 besorgt hat (siehe Anm. 29 und Anm. 50).]
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Jungen auch längere Zeit ohne ihre Herren im Quartier. 56 Einige Hinweise gibt es darauf, dass Jungen auch gezwungen worden sind, in ein Regiment einzutreten. So beschreibt Michael Heberle in seinem „Zeytregister“ für das Jahr 1629, dass „die junge geselen im Ulmer land under das schwedisch volckh gestoßen worden, damit dem feindt ein widerstand gethaun werde.“ 57 Diese Form der Zwangsrekrutierung konnte auch Kinder einschließen, die als Kanonenjungen und Pferdepfleger sowie Boten eingesetzt wurden. 58 Bekannt ist außerdem von zeitgenössischen Abbildungen, dass Kinder etwa ab dem fünften Lebensjahr Aufgaben im Heerestross übernahmen, z.B. Kanonenkugeln rollten und Botschaften überbrachten. Doch auch als Soldaten wurden Jungen früh eingesetzt. Ausgrabungen zur Schlacht von Lützen (1632) lassen vermuten, dass die jüngsten in der Schlacht getöteten Soldaten 13 Jahre alt waren. 59 Das frühneuzeitliche Heer ist nicht denkbar ohne Tross, in dem Frauen und Kinder, Gewerbetreibende und Tagelöhner mitzogen, darunter auch die oft gescholtenen Trossbuben oder Trosskinder. So beschwert sich der thüringische Pfarrer Martin Bötzinger in seinen Aufzeichnungen, „die Troßbuben und die mitgebrachten Frauensmenschen haben die Ställe geplündert, das Geflügel in Butter übers Feuer gesetzt und Schweine und Ochsen an Spießen braten lassen.“ 60 Auch Hagendorfs Junge hatte sich an den Plünderungen und Diebstählen beteiligt. Gerade weil ihm das Heeres- und Trossleben so vertraut war, sucht er für seinen einzigen überlebenden Sohn Wege heraus. 61 Melchior wurde am 8.August 1643 bei Pforzheim „im Feld“ geboren. 62 Bereits zwei Tage später ziehen Tross und Heer weiter. Im September 1647, Melchior war gerade vier Jahre alt, lassen die Eltern das einzige lebende Kind bei dem Schulmeister von St. Laurenz in Altheim zurück: „Muss geben im Jahr
56 Das deutet sich auch im oben erwähnten Kirchenbucheintrag zu dem holländischen Soldatenjungen an. 57 Zillhardt (Hrsg.), Heberles „Zeytregister“ (wie Anm.28),f. 49. 58 Hahn, Kriegserfahrungen (wie Anm.3), 2 u. 13f. 59 http://www.archaeologie-online.de/magazin/nachrichten/massengrab-aus-der-schlacht-von-luetzenwird-untersucht-20777/?sword_list[]=lützen&no_cache=1 [16.03.2016]. 60 Harald Rockstuhl (Hrsg.), Leben und Leiden während des Dreißigjährigen Krieges in Thüringen und Franken. Ein Augenzeugenbericht von Pfarrer Martin Bötzinger. Bad Langensalza 1994 (Reprint von 1925), 18. 61 Insgesamt verlieren Hagendorf und seine erste Ehefrau alle fünf gemeinsamen Kinder. Aus der zweiten Ehe überleben zwei von vier Kindern den Krieg, Melchior und seine bei Kriegsende zweijährige Schwester. 62 Peters (Hrsg.), Peter Hagendorf – Tagebuch eines Söldners (wie Anm.50), 177 (f. 144).
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zehn Gulden und Kleider“ 63 lautet der knappe Kommentar. Anderthalb Jahre später kann er ihn abholen: „Die Zeit, die er dort gewesen ist, samt dem Zehrgeld, was ich verzehrt habe, hat 27 Gulden gekostet. Also habe ich meinen Sohn aus Ägypten geholt. [...] Bis München habe ich ihn tragen lassen, von München habe ich ihn fahren lassen. Den 17.Mai bin ich wieder nach Memmingen gekommen. Den 26.Mai hab ich ihn zum ersten Mal [in Memmingen, C. J.] in die Schule geschickt. Muß geben die Woche 2 Kreuzer. Er ist als gewesen 5 Jahre 9 Monate als ich ihn aus Ägypten geholt habe.“ 64
Ägypten kann hier als Synonym für Fremde gelesen werden, was auf eine gewisse Wahrnehmung der Distanz und gegebenenfalls auf eine gewisse Freude der Zusammenführung schließen lässt. Hagendorf machte in seinem Tagebuch sehr deutlich, dass er weder Kosten noch Mühen scheute, seinem Sohn das weitere Aufwachsen im Heerestross zu ersparen. Die Entscheidung, dafür eine fast zweijährige Trennung auf sich zu nehmen bzw. nicht zu wissen, wie lange diese Trennung dauern würde, kann vor diesem Hintergrund als Maßnahme begriffen werden, mit der Melchiors Überleben sowie seine Erziehung gesichert werden sollten. Anders als man vermuten könnte, zieht Melchiors Mutter weiter im Tross mit. Kinder traten im Laufe des Dreißigjährigen Krieges in unterschiedlicher Weise in Erscheinung. Zum einen folgte ihr Handeln der Logik des Überlebens, wenn sie bettelten, sich für Hilfsdienste verdingten, auch wenn sie in das Heer eintraten oder sich einem Tross anschlossen. Gleichzeitig wurde deutlich, dass Eltern wie Peter Hagendorf und seine Frau darauf bedacht waren, ihre Kinder dauerhaft in Sicherheit zu bringen. Die Trennung vom jungen Sohn ist somit nicht Ausdruck von Gleichgültigkeit, sondern sie ist Ausdruck von Fürsorge. Vor diesem Hintergrund werden zwei Dimensionen greifbar: Viele Kinder endeten als Versprengte in den Wirren des Krieges und schlugen sich durch. Von diesen Kindern erfahren wir aus den Todeseinträgen der Kirchenbücher, aus Chroniken und gelegentlich auch aus anderen Aufzeichnungen. Andere Kinder werden mit Sorge und Fürsorge bedacht und ihre Eltern oder Verwandten unternehmen Anstrengungen, sie in Sicherheit zu bringen. Von diesen Kindern lesen wir weitaus weniger in den Quellen, doch die wenigen Hinweise eröffnen spannende Perspektiven für künftige Forschungen zur Sozialge-
234
63
Ebd.185 (f. 166).
64
Ebd.187 (f. 173f.).
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schichte des Krieges und zur Geschichte der Kindheit. Damit soll nicht behauptet werden, dass die vielen versprengten Kinder Opfer mangelnder Fürsorge gewesen waren. Dagegen sprechen die Hinweise, in denen diesen fremden Kindern Hilfe zuteil wurde. Fürsorge und ihr Versagen schlossen sich also nicht aus. Auch der bestgemeinte Einsatz für das Überleben von Kindern konnte versagen. Insbesondere das überstürzte Aufbrechen, die vielen Fluchten sind hier als ein Kontext zu verstehen, in denen Kinder verloren gehen konnten oder aber ihr Leben riskierten. Für diese Ambivalenz gibt Heberles „Zeytregister“ ein beredtes Zeugnis ab. Heberle verzeichnet insgesamt 30 Fluchten, nach denen er jedes Mal „[...] mit weib und kinderlein wider von der statt nach hauß getzogen.“ 65 Er resümiert: „Wie ich bayde zeiten woll erfahren hab, krig und friden, und hab allerley gesehen und erlebt. Die drey landstraffen hab ich woll erfahren und ausgestanden, krieg, theurung und pestelentz, hunger und elendt, mit weib und kindter offt in groß geferligkeitten gewessen, mehr dan 30 fluchten nach Ulm gethaun, zum theil bey finster nacht, offt beym großen regen, schne, kelte, offt in großer geferligkeit under dem kriegsvolckh, offt uff dem weg geblündert worden, offt mit weib und kinder kein bißen brot gehabt, offt zu Ulm mit weib und kindter kranckh gelegen, zwey kinder zu Ulm gestorben, mein sohn Hanß drinnen geboren worden. Ich kann den jammer nit ales beschreiben.“ 66
Deutlich wird die häufig ausweglose Situation der Familie. Die Fluchten nach Ulm oder in welder und helzer waren jedes Mal enorm aufreibend und fanden oft unter dem Gejohle der anmarschierenden Soldaten statt. Der Schutzraum für Kinder schrumpfte auf ein absolutes Minimum zusammen, denkt man an die oben von Bötzinger erwähnten überfüllten Unterkünfte. Vor diesem Hintergrund lässt sich Hagendorfs Entscheidung, seinen Sohn Melchior aus dem Kriegsgeschehen zu entfernen, als Ausdruck seiner Sorge und auch der elterlichen Möglichkeiten verstehen.
65 Zillhardt (Hrsg.), Heberles „Zeytregister“ (wie Anm.28), 155 (f. 60). Heberle hatte insgesamt fünf Kinder, von denen eines den Krieg überlebt hat. 66 Zillhardt (Hrsg.), Heberles „Zeytregister“ (wie Anm.28), 237 (f. 142).
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IV. Narrationen – Der erinnerte Krieg Der Dreißigjährige Krieg spielt in den Lebenserinnerungen derjenigen, die den Krieg überlebt haben und in der Lage waren, Erinnerungen aufzuschreiben, meist eine wichtige Rolle. 67 Dabei ist festzuhalten, dass diese Erinnerungen retrospektiv verfasst wurden und nicht bereits während des Krieges. So nutzte etwa Johann Daniel Friese die Gelegenheit, als Unterhändler der Stadt Magdeburg in den Friedensverhandlungen seine Version des Krieges aufzuschreiben. Als 12-jähriger Junge hatte er die Eroberung der Stadt im Mai 1631 miterlebt, in der sein Vater, Daniel Friese, Oberstadtschreiber war. Für Friese sind die Rollen klar verteilt. Die Magdeburger und Magdeburgerinnen werden durchweg als Opfer greifbar, die Eroberer werden als Vergewaltiger, Plünderer, Kindermörder und desgleichen verurteilt. Umso erstaunlicher, dass sich mitten in seinem „Historischen Extract“, der sich explizit an eine breitere Öffentlichkeit („Untergebene und Leser“) richtet 68, eine Episode findet, derzufolge Friese und seine gesamte Familie im letzten Moment von einem dieser feindlichen Soldaten verschont und gerettet wurden. Interessanterweise funktionierte diese Rettung nur aufgrund der Kinder, wie Friese nicht müde wird herauszustellen. Die ersten Soldaten, die in ihr Haus drangen, bekamen Geld, Kleider und Gerätschaften. Der Vater und die Mutter trugen Lumpen, um ihren Wohlstand zu verbergen. Einen festlichen Tisch hatten sie als Ablenkung für die folgenden Eindringlinge gedeckt. Kurz darauf kamen Friese zufolge bereits vier Musketiere, die es auf die Mutter abgesehen hatten. Die Kinder traten nun zum ersten Mal in Erscheinung, denn „[...] wir Kinder hingen uns wie Kletten an die Soldaten und weinten und heuleten, sie sollten uns nur die Eltern leben lassen. Fern davon, über unsere Zudringlichkeit böse zu werden und uns zurückzustoßen, ließen sie sich viel mehr durch unser Flehn erweichen.“ 69
67
Vgl. für methodische Fragen: Ralph Frenken, Kindheit und Autobiographie vom 14. bis 17.Jahrhundert.
2 Bde. Kiel 1999. 68
Die ursprünglich handschriftlich verfassten Erinnerungen wurden zu Beginn des 18.Jahrhunderts
den – so die Angabe des Titels – „Untergebenen zur Vergnügung / wie auch dem unparteyischen Leser zu dienstlicher Nachricht“ abgedruckt; [Johann Daniel Friese,] Historischer Extract aus einem Manuscripto, welches Herr Daniel Frisius [...] von seinen Fatis hinter sich gelassen, in: Friedrich Friese, Leichte historische Fragen. Leipzig 1703, 279–327 u. 381–425. 69
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Ebd.306.
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Frieses Schrift zufolge ließen die Musketiere daraufhin von der Mutter ab und zogen mit Geschmeide, Wertsachen und Tuch davon. Die nächsten sieben Soldaten erbeuteten ebenfalls Geld und Wertsachen sowie Kleidung, und sie räumten den Tisch ab. Daraufhin versteckte sich die ganze Familie samt Praeceptor und Magd unter dem Dach, da sie nichts mehr zu geben hatten bzw. nichts mehr geben wollten. Dort machte sie schließlich ein einzelner Soldat ausfindig und verlangte ebenfalls Beute, indem er den Vater mit dem Spitzhammer traktierte: „[...] Wir Kinder liefen alle um den Soldaten herum, bitten und ruffen: Er solle doch nur den Vater leben lassen. Christian, mein vierdter Bruder, so damahls ein kleines Kind, das nährlich ein wenig lauffen und lallen kunte, spricht in der großen Angst zu dem Soldaten: ‚Ach, laßt doch nur den Vater leben, ich will Euch auch gern meinen Dreyer geben, den ich Sonntags bekomme.‘ Denn der Vater pflegte einem jedem Kinde des Sonntags etwas zu geben, wenn es einen Spruch gelernet. Welches von diesem unerzogenen, damahls einfältigen Kinde dem Soldaten vielleicht durch Gottes gnädige Schickung sein Hertz bewegte, daß er alsobald sich änderte, und aus einem grausamen ein freundliches Gemüthe sich zu uns wendete. Er sahe uns Kindern an, wie wir da um ihn stunden und sagte: Ey, das seynd ja feine Bübel, denn er war Nürnberger, und sagte hernach zu dem Vater: ‚Willst Du mit denen Kindern zur Stadt heraus kommen, so gehe alsobald fort; denn die Croaten werden über eine Stunde herein kommen, so wirst du mit deinen Kindern schwerlich leben bleiben.‘ “ 70
Nach kurzen Verhandlungen, in denen die Magd der Familie angehalten wurde, den letzten Rest an Geld und Wertsachen zu holen, ließ der Soldat sich darauf ein, von weiteren Beutezügen abzusehen und die Familie direkt aus der Stadt zu führen. Die jüngste Schwester wurde dabei von der Magd in ihrem Bett getragen. Unterwegs erbeutete der Soldat Essen für die Familie und die Mutter verteilte die Brote, die sie aus ihrem Haus retten konnte, an bettelnde Kinder. 71 Friese beschreibt in der Rolle des Zwölfjährigen anschaulich die toten Körper, über die sie steigen mussten, und die Menschen, die vor Schmerz schrien. Als sie die Stadt endlich verließen, begegneten ihnen am Tor die Kroaten, was die Dramatik der Situation unterstreicht. 72 Der
70 Ebd.311. 71 Ebd.317. 72 Bei den Kroaten (Krabaten) handelt es sich um Einheiten meistens des Wallenstein’schen Regiments – vor allem Söldner aus Ungarn und Slowenien.
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Nürnberger Soldat brachte die Familie bei sich im Feldlager unter, wo seine Ehefrau, die über die zusätzlichen Esser nicht erfreut war, für die Offiziere kochte. Johann Daniel Friese erinnert sich daran, wie Magdeburg in Flammen aufging und es so hell wurde, „daß man einen Brieff darbey lesen kunte“. 73 Der Vater hatte sie, „damit wir die Zeit unsres Lebens darvon sagen könnten“, aus der Stadt geführt, um das Flammenmeer vom Hügel aus zu sehen. 74 Interessanterweise findet sich in einer Leichenpredigt für Johann Conrad Hedenus ein ähnlicher Hinweis. Demzufolge war Johann als achtjähriger Junge mit vielen anderen Kindern „selbigen Orts [Sonderhausen, C. J.] auf einen Berg gestellet, damit sie den Jammer sehen und künfftig davon sagen können“. 75 Hier deutet sich eine Wahrnehmung des Dreißigjährigen Krieges als einschneidende Ereigniskette an, die bereits andernorts thematisiert worden ist. 76 Nach einigen Tagen verließen die Frieses das Feldlager, überließen der Frau des Nürnbergers der Schilderung zufolge die beiden letzten silbernen Löffel und durften sich nach Wolmirstedt begeben, wo die Odyssee für die fünf Kinder endete. 77 Es wird deutlich, dass die Kinder der Familie in der Erzählung ihrer Rettung eine zentrale Funktion einnehmen. Ohne den vierjährigen Christian, so hat es den Anschein, wären die Frieses dem sicheren Tod geweiht gewesen. Gleichzeitig entwirft der am Westfälischen Frieden beteiligte Unterhändler Johann Daniel Friese ein Bild vom ‚Feind‘, dem jetzigen Verhandlungspartner, in dem dieser ein menschliches Antlitz trägt. Die Kinder, er selbst eingeschlossen, sind das Medium der Menschlichkeit, die sich dadurch auszeichnet, dass der Nürnberger sich von Gott selbst das Herz bewegen ließ. So wurden, um es kurz zu fassen, die Frieses nicht von dem namenlos gebliebenen Nürnberger gerettet, sondern von Gott selbst. Die Frage, warum die Frieses gerettet wurden, und andere nicht, beantwortet Johann Daniel Friese an mehreren Stellen gleich mit: Eltern und Kinder hätten sich vorbildlich verhalten – vor allem gottesfürchtig.
73
Friese, Historischer Extract (wie Anm.68), 319.
74
Ebd.
75
Vgl. Leichenpredigt für Johann Conrad Hedenus verfasst von Conrad Feuerlein aus Nürnberg (über
die Personalschriftenstelle Marburg). Ich danke sehr herzlich Birthe zur Nieden für diesen Hinweis und die unkomplizierte Zusendung der Predigt. 76
Ralf-Peter Fuchs, „In continuirlichem Alarm und Schrecken.“ Erinnerungszeugnisse von 1726/28 an
den Dreißigjährigen Krieg und das kriegerische 17.Jahrhundert, in: Medick/von Krusenstjern (Hrsg.), Zwischen Alltag und Katastrophe (wie Anm.12), 531–543. 77
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Daniel Friese starb 1636.
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Diese Deutung des eigenen Überlebens ist für das 17.Jahrhundert nicht besonders überraschend. 78 Insofern ist es wichtig, auf Zeugnisse einzugehen, in denen die Eltern weniger heldenhaft agierten. Martin Bötzinger, Pfarrer aus Heldburg, war alleine aus dem Ort geflohen, der von einem Teilregiment besetzt worden war und hatte seine Frau, seine beiden Kinder sowie seine Schwiegereltern zurückgelassen: „Das hat mir schier das Herz im Leibe umgewendet, war aber nichts zu ändern dran [...]. Gott ist mein Zeuge, daß ich in jenen Schreckenstagen des Leibes und der Seele mit mir allein genug zu tun hatte“. 79 Seiner Darstellung zufolge wurde er auf seiner Flucht seiner Kleider beraubt und stand nackt vor „Weibern und Kindern“. 80 Ein noch anwesender Mann, dessen Frau im Kindbett lag, stattete ihn darauf neu aus und Bötzinger schlich sich weiter davon. Drei Wochen war er unterwegs, bevor er sich zurück nach Heldburg begab. In der Zwischenzeit war sein Schwiegervater ermordet und seine Frau mit den beiden Kindern gefangengenommen worden. Die Unsicherheit, so Bötzinger, war so groß, dass „sich niemand fand, der sich meiner Not erbarmte und mein Weib sowie die Annegret und den Michael suchen gegangen wäre“. 81 Als er sich schließlich entschlossen hatte, selber zu gehen, „traf die Nachricht ein, daß mein Weib angekommen wäre. Ich ließ sofort alles liegen und ging ihr entgegen. Sie sah fahl und grau aus im Gesicht und zitterte am ganzen Leibe. Der Michael und die Annegret schmiegten sich an sie und wollten nichts von mir wissen.“ 82 Auf die nächste Flucht nahm er, der sich selber „Pechvogel“ nannte, Frau und Kinder mit. 83 Als er sich in die Stadt schlich, um Nahrung zu holen, wurde er von mehreren Soldatengruppen erwischt und übel misshandelt. Unter anderem musste er den sogenannten ‚Schwedentrunk‘ aushalten, bei dem ihm der Mund mit einem Sperrholz aufgedrückt wurde, um literweise Jauche und Abwasser hineinzugießen. 84 Danach
78 Vgl. zur Gottesfurcht in Selbstzeugnissen des 17.Jahrhunderts: Andreas Bähr, Furcht und Furchtlosigkeit. Göttliche Gewalt und Selbstkonstitution im 17.Jahrhundert. (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung, Bd. 14.) Göttingen 2013, insbes. bei Friese: 437–439. 79 Rockstuhl (Hrsg.), Leben und Leiden (wie Anm.60), 14 u. 21. 80 Andere, so Bötzinger, die sich geweigert hatten, die Kleider abzulegen, kamen nicht mit dem Leben davon: Rockstuhl (Hrsg.), Leben und Leiden (wie Anm.60), 20. 81 Ebd. 82 Ebd.21. Bötzinger bezieht diese Abneigung explizit auf seine Abwesenheit und das Schreckliche, was die Kinder währenddessen erlebt hatten. 83 Ebd.29. 84 Andreas Bähr verweist auf die Omnipräsenz des Topos in Selbstzeugnissen des Dreißigjährigen Krieges: Bähr, Furcht und Furchtlosigkeit (wie Anm.78), 340f.
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hatten andere Soldaten versucht, ihn zu ersäufen und erst von ihm abgelassen, als sie sich sicher waren, dass er tot war. So gleicht das Überleben des arg malträtierten Pfarrers einem Wunder, denn er hatte ein unmenschliches Maß an Schmerzen und Folter ausgehalten. Und so verweist er auch mehrfach auf Gott, der beschlossen hatte, ihn überleben zu lassen: So „erhielt Gott mein Leben – auch wenn ich damals noch nicht wusste, ob ich ihm dafür danken sollte“. 85 Nun, in der Retrospektive des Schreibens, wusste er sehr genau, dass er Gott danken wollte und begriff seine Schrift als Teil des Dankes. Auch mit seinen Kindern hatte er sich ausgesöhnt. Bötzinger war sogar bereit zu konzedieren, dass sein Sohn, der nicht Pfarrer wurde, ihn enttäuscht hat, doch er respektierte seine Entscheidung. 86 Als die Stadt Zellerfeld 1626 von den Tilly’schen Regimentern eingenommen wurde, flohen der Zellerfelder Pfarrer Albert Cuppius und seine Frau. Dabei ließen sie ihre sechs Kinder in dem von Soldaten besetzten Pfarrhaus zurück. Drei dieser Kinder waren unter fünf Jahre, der älteste Sohn war 14 Jahre alt: „Da wir nun unsere Gelegenheit sahen, gingen wir hinauß, ich und meine Haußfrau. Aber der Sohn blieb auff dem obersten Boden, unten aber die Magd mit dem kleinen Knäblein, dem die Mutter ein Stück Semmel in die Handt gegeben [...].“ 87
Cuppius und seine Frau flohen in die nahen Wälder und beschreiben ihre Angst vor dem Tod und davor, dass ihre Kinder nichts zu essen bekommen würden: „Gott allein wunderlicher Weise wie hernach offenbahr geworden, nahm mich bei der Handt und führete mich eine guthe Weile.“ 88 So erklärt Cuppius, dass sie nach Andreasberg kamen, wo sie beim Pfarrer untergekommen waren. Dorthin folgte ihnen der älteste Sohn mit den beiden anderen älteren Kindern. Die jüngeren Kinder, so Cuppius, hatten sie im Wald verloren und „obwoll [...] wir eigene Bothen sampt der Magt ausschickten, mit großem Unkosten, so künten wir gleichwoll von solchen unsern Kindern in etlichen Tagen nichts erfahren“. 89 Darüber war Cuppius’ Frau schwermütig geworden, ihr waren „seltsahme schwere undt gefehrliche Ge-
85
Rockstuhl (Hrsg.), Leben und Leiden (wie Anm.60), 31.
86
Ebd.38.
87
Albert Cuppius, Die Zellerfelder Chronik des Magisters Albert Cuppius, in: Zeitschrift des Harzvereins
für Geschichte und Altertumskunde 28, 1895, 253–360, 312.
240
88
Ebd.314.
89
Ebd.317.
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dancken“ eingefallen. 90 Schließlich trafen auch die kleinen Kinder ein, die kaum sprechen konnten. Sie waren „elendt bekleidet“ und beschuht. So waren sie Cuppius zufolge zwar „geplundert und außgetzogen“ worden, als sie im Wald herumirrten. Gleichzeitig aber haben sie, so der Vater, überlebt, weil sich zahlreiche „gute Leuthe“ ihrer angenommen hatten: „Gott sey Danck, der uns wieder zusammengeholffen hat.“ 91 Auch in Cuppius’ Chronik wird das eigene Überleben als Ausdruck des göttlichen Willens gedeutet, wenngleich die Überlebensgeschichte, die Cuppius geschrieben hat, deutlich weniger in sich geschlossen ist als die von Johann Daniel Friese. Aus heutiger Perspektive erscheint es merkwürdig, dass die Eltern Cuppius ihre Kinder in der besetzten Stadt zurückgelassen haben. Ebenso merkwürdig erscheint es, dass der Pfarrer Martin Bötzinger seine Frau und Kinder zurückgelassen hatte, um sich alleine durchzuschlagen. Doch in den Zeugnissen der beiden Pfarrer und Väter ist es genau diese Entscheidung, die schließlich dazu beiträgt, dass die gesamte Familie überleben kann. Denn, so erfahren wir aus den Texten, insbesondere Pfarrhaushalte waren der soldatischen Gewalt ausgesetzt. Dieser Befund wird von Anmerkungen in anderen Quellen unterstützt. So dankt der Vacher Pfarrer seinem Gott für die Fristung seines Lebens, denn „[...] sind domals viel markgräfische Pfarrer erschossen und niedergehaut worden“. 92 Gleichzeitig deuten die streckenweise dramatischen Ausschmückungen der jeweiligen Berichte auf einen erhöhten Legitimationsdruck hin. Offenbar wurde das eigene Überleben erklärungsbedürftig. Doch es wird deutlich, dass die hier angeführten Zeugnisse unterschiedliche Handlungslogiken präsentieren, die über eine rein legitimatorische Absicht hinausweisen. Deswegen sind sie auch in sozialhistorischer Hinsicht relevant, denn ihr Entstehen siedelt an der Schnittstelle vom Dreißigjährigen Krieg als „Gewalt, Ereignis und Struktur“. Für viele Kinder stellte der Krieg eine primäre Form der Sozialisation dar. Er wurde greifbar und erfahrbar als gewaltsames Ereignis, als Drohung, als Gefahr und als Tod. Physische Gewalt (etwa Plünderungen) ist von anderen Gewaltformen nicht sinnvoll zu unterscheiden, wie an den Einträgen in den Kirchenbüchern im ersten Abschnitt deutlich geworden ist. Insofern ist jede Narration, die sich auf die eigene
90 Ebd.318. 91 Ebd.320. 92 Großner/von Haller, Kurzer Bericht (wie Anm.6), 21 (21.Juli 1632).
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Lebenszeit bezieht, auch an Erfahrung gebunden und diese Erfahrung wiederum ist an den Dreißigjährigen Krieg gebunden. 93
V. Perspektiven Die Befunde des vorliegenden Beitrags weisen in unterschiedliche Richtungen. Zum einen wurden Kinder als Opfer des Krieges greifbar. So starben sie an den Folgen des Krieges, wie etwa an den Lebensbedingungen auf der Flucht, an Krankheiten, an erlittener Gewalt in der Folge von Plünderungen und Eroberungen. Die Kirchenbücher quellen über vor Einträgen, die über totgeborene, früh verstorbene oder auf der Flucht umgekommene Kinder berichten. Insbesondere die Härten für schwangere und hochschwangere Frauen auf der Flucht und im Krieg werden in Kirchenbüchern betont und geraten zu Chiffren des Krieges. Ihr Tod und der ihrer Kinder werden ganz explizit auf den Krieg zurückgeführt. Zudem zwangen die kriegsbedingten Lebensbedingungen die Kinder oft in sehr jungen Jahren auf die Straße oder in die Regimenter – als Soldatenjungen oder als Trossjungen. Deutlich geworden ist ebenso, dass gewohnte Schutzgemeinschaften (Familie, Nachbarschaft, Gemeinde) in Kriegszeiten, d.h. in den Zeiten, in denen der Krieg ‚vor Ort‘ war, zerbrachen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Hahn, der darauf verweist, dass der Krieg „den Fortbestand familiärer Grundstrukturen als einer Lebens- und Schutzgemeinschaft“ bedrohte. 94 Ergänzt werden muss dieser Befund um die Dimension der spirituellen Verunsicherung und Orientierungslosigkeit in der gewohnten Welt. So zerbrachen nicht nur Familie und Nachbarschaft, sondern auch die Gemeinde als spirituelle Gemeinschaft. Kinder waren insbesondere betroffen, z.B. wenn sie von ihren Eltern zurückgelassen wurden. 95 Zum zweiten haben sich Einsichten in die Sozialgeschichte von Kindern im Krieg ergeben, die als Soldatenjungen gedient haben. Die Quellen sprechen dafür, die Beziehung zwischen Junge und Herr für eine stabilere soziale Bezie-
93
Vgl. zum Zusammenhang von Erfahrung und Narration: Joan W. Scott, The Evidence of Experience, in:
Critical Inquiry 17, 1991, 773–797. 94
Hahn, Kriegserfahrungen (wie Anm.3), 7.
95
Ausgelassen habe ich in diesem Beitrag die Hinweise auf Kannibalismus an Kindern. Solche finden
sich bei Zillhardt (Hrsg.), Heberles „Zeytregister“ (wie Anm.28),f. 80 u. 80v, sowie bei Rockstuhl (Hrsg.), Leben und Leiden (wie Anm.60), 21. Während Heberle den Kannibalismus an Kindern der Not und dem Hunger zuschreibt, dient er bei Bötzinger der Stigmatisierung der Soldaten.
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hung zu halten, die von Vertrauen und einiger Dauer gekennzeichnet war. Die Trosskinder hingegen wurden eher als Unruhe stiftende, schwer zu bändigende Kinder, die zu Diebstählen neigten, wahrgenommen. Schließlich konnte die Sorge um die eigenen Kinder nachvollzogen werden, wenn etwa Hagendorf und seine Frau den knapp vierjährigen Sohn sobald wie möglich an einen Schulmeister gaben und aus dem laufenden Kriegsgeschehen heraushielten. Für diese Sorge um das eigene Kind im Heer sprechen auch die wenigen Hinweise auf die Kriegsgefangenschaft von Kindern, die dann wiederum ausgelöst werden mussten. Während also für die einen Kinder das Militär eine Überlebensoption war, wurden andere Kinder unter Kosten und Mühen aus dem Heer herausgebracht. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie der Krieg für Kinder oder als Zeitraum der eigenen Kindheit erinnert wurde, hat wertvolle Hinweise auf die Entscheidungsnot von Eltern, auf die wahrgenommene Bedrohung sowie auf die zahlreichen Handlungsvarianten, mit denen das eigene und das Überleben der Angehörigen gesichert werden konnte, geliefert. Dabei ist deutlich geworden, dass Kinder, nicht nur die eigenen, oft zentrale Funktionen in der religiös aufgeladenen Narration der Rettung sowie einen großen Teil des Berichts selber einnehmen. Das eigene Überleben zu legitimieren, konnte als eine Funktion dieser Texte identifiziert werden; die Erinnerung an die Unfassbarkeit des Krieges wachzuhalten als eine andere. In diesem Sinne sind viele der Schilderungen zu verstehen. Bernd Roeck hat jüngst vorgeschlagen, die mentalen und emotionalen Konsequenzen des Kriegserlebens als „psychische Ökonomie“ zu fassen und hebt hier insbesondere die religiöse Emotion hervor: „Dieselbe Steigerung der religiösen Emotion, die zu den Voraussetzungen des Dreißigjährigen Kriegs zu rechnen ist, mag so dazu beigetragen haben, dass es gelang, seine Schrecken psychisch zu bewältigen.“ 96 Dieser Eindruck hat sich an den bearbeiteten Quellen nur teilweise bestätigt und dürfte insbesondere für Kinder, deren religiöse Sozialisation weitgehend brachlag, nicht zutreffen. 97 Insofern wäre ein Vorschlag von Maren Lorenz aufzugreifen und anhand weiterer Untersuchungen zu prüfen, inwiefern die frühe Gewaltsozialisation durch den Krieg in den Kontext einer generationenübergreifenden Gewaltbereitschaft (auch im häuslichen Bereich) gestellt werden kann. 98
96 Roeck, Der Dreißigjährige Krieg und die Menschen (wie Anm.9), 156. 97 Zu denken ist hier an die zahlreichen Hinweise auf ausfallende Kinderlehre und Gottesdienste. 98 Lorenz, Tiefe Wunden (wie Anm.9).
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Es bleibt die Frage nach dem Mehrwert: Die Militärgeschichte der Frühen Neuzeit hat Kinder bislang vor allem in ihren emblematischen Funktionen berücksichtigt. 99 Die Sozialgeschichte von Kindern im Krieg ist dabei in den Hintergrund getreten. Allerdings hat sich gezeigt, dass Erkenntnisse über Kinder im Krieg zur Sozialgeschichte von Militär und Gesellschaft, zur Sozialgeschichte des Dreißigjährigen Krieges Substantielles beitragen können. Kinder hatten spezifische Optionen und waren in spezifischer Weise von Krieg, Gewalt und Flucht betroffen. Zudem stellte sich ihnen der Krieg (auch als Bedrohung) häufig als die übergeordnete Struktur ihres Erlebens und Handelns dar. Für die Geschichte der Kindheit bedeutet die Berücksichtigung von Krieg und Kriegserleben ebenfalls eine bereichernde Herausforderung, denn die Geschichte der Kindheit hat mittlerweile ein methodisches Instrumentarium zur Historisierung von Kindern und Kindheit entwickelt, das in der Lage ist, Krieg und Gewalt jenseits von Behauptungen historischer Konstanten aufzunehmen. So wäre es wünschens- und lohnenswert, ausgehend von den hier vorgelegten Befunden die sozialen Konsequenzen für diejenigen Kinder zu erforschen, die im Laufe des Krieges herangewachsen sind. Damit wäre ein Beitrag zur Geschichte der Kindheit ebenso geleistet wie zur historischen Anthropologie.
99
Markus Meumann/Dirk Niefanger, „Ein Schauplatz herber Angst“. Wahrnehmung und Darstellung von
Gewalt im 17.Jahrhundert. Göttingen 1997.
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Von Kontinuität und Wandel Eltern-Kind-Beziehungen in den beiden Weltkriegen von Julia Brandts, Clara Hesse, Kathrin Kiefer, Markus Raasch, Hanna Rehm und Desiree Wolny
I. Einleitung Weltkriegskindheiten werden in Deutschland seit einigen Jahren bevorzugt in der longue durée betrachtet. Im Fokus stehen psychohistorische Erbschaften und transgenerationale Folgen, das besondere Interesse gilt den Erinnerungsgemeinschaften von Kriegskindern. Ein wichtiges Deutungskonzept bildet das der Vaterlosigkeit. Der Fluchtpunkt war lange Zeit der Zweite Weltkrieg, zuletzt wurde der Gesichtskreis mehrfach auf die Zwischenkriegszeit erweitert. 1 Jüngst hat etwa Barbara Stambolis das „Aufwachsen in eisernen Zeiten“ als signifikante erfahrungsgeschichtliche Konstante beschrieben. 2 Das Dysfunktionieren bzw. Funktionieren von Familie im Krieg selbst, mithin das Reden und Schweigen zwischen Eltern und Kindern, hat weniger Beachtung gefunden. Fragen nach Familienalltag, Erziehungsstrategien nebst entsprechender politischer Indoktrination, nach Vater- und Mutterrolle werden zumeist am Rande 3 und/oder methodisch wenig reflektiert behandelt 4. Ausnahmecharakter besitzt eine erziehungswissenschaftliche Dissertation aus dem Jahr 2009, die freilich randständig erschienen ist, sich zwischen Theorie, vermeintlichen Rahmenbedingungen und Codierungen verliert und den Anschluss 1 Siehe die ausführlichen Literaturangaben in der Einleitung zu diesem Band. 2 Barbara Stambolis, Aufgewachsen in „eiserner Zeit“. Kriegskinder zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise. Gießen 2014; der Erste Weltkrieg steht auch im Blickfeld bei: Arndt Weinrich, Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Essen 2013; Barbara Stambolis (Hrsg.), Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten. Beiträge zu einem historischen und gesellschaftlichen Schlüsselthema. Weinheim/Basel 2013. 3 Z.B.: Klaus Latzel, Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung. 1939–1945. Paderborn u.a. 1998, 328–352; Martin Humburg, Das Gesicht des Krieges. Feldpostbriefe von Wehrmachtssoldaten aus der Sowjetunion 1941–1944. Opladen 1998, 173–193; Gerald Lamprecht, Feldpost und Kriegserlebnis. Briefe als historisch-biographische Quelle. Innsbruck u.a. 2001, 223–241. 4 Etwa: Margarete Dörr, „Der Krieg hat uns geprägt“. Wie Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebten. Frankfurt am Main 2007.
DOI
10.1515/9783110469196-011
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an die historische Forschung nur bedingt leisten kann. 5 Der Erste Weltkrieg ist in Relation deutlich unterbelichtet. Demgegenüber hat beispielsweise die angloamerikanische Forschung zuletzt solche praxeologischen Erkenntnisinteressen in den Vordergrund gerückt. Hester Vaizey beschäftigte sich etwa mit „family life in Germany“ zwischen 1939 und 1948 6, William M. Tuttle nahm den absenten Vater in amerikanischen Familien des Zweiten Weltkriegs ins Blickfeld 7, Michael Roper hat die besondere Bedeutung mütterlicher Feldpost für das „emotional survival“ der britischen Soldaten im Ersten Weltkrieg konturiert 8. Eine systematische Zusammenschau von Erstem und Zweitem Weltkrieg liegt bisher nicht vor. Wenig berücksichtigt wurde zudem eine wichtige Quellengattung, die der Kinderbriefe. Hier möchte unsere Forschergruppe ansetzen. 9 Sie nimmt die Eltern-Kind-Beziehungen in den beiden Weltkriegen ins Blickfeld und fragt jenseits aller Sonderwegsthesen nach der Kontinuität der deutschen Geschichte: Was kennzeichnet das ‚Selbstkonzept‘ von Kriegsfamilien, inwiefern wandelt es sich? Wie beeinflusst der Krieg das innerfamiliäre Reden über Politik? Wie spezifisch sind die Kriege in gefühlshistorischer Hinsicht? Was ist sag-, was ist unsagbar? Aus heuristischen Gründen beschränken wir uns auf die Familienkonstellation, in der sich der Vater an der Front befindet. Ausgeblendet werden somit Familien, in denen die Mutter schon bei Kriegseintritt alleinerziehend, der Sohn an der Front oder kein Familienmitglied eingezogen war. Drei Gliederungspunkte erscheinen uns sodann sinnvoll: Zunächst soll der Alltag an der Heimatfront im Blickpunkt stehen, dann werden Betrachtungen zur Kommunikation zwischen Vätern und Kindern behandelt und schließlich stehen Erziehungsfragen im Mittelpunkt. Unser theoretisch-methodischer Zugriff ist der eines gemäßigten Kulturalismus. Wir gehen davon aus, dass sich Wirklichkeit nicht nur, aber zu beträchtlichen Teilen über soziale Praxis konstituiert und deshalb eine besondere Sensibilität für sprachliches Handeln vonnöten ist. Demge5 Rolf Schoffit, „Viele liebe Grüße an meine Kinderle, sollen recht brav bleiben“. Väter und die Wahrnehmung der Vaterrolle im Spiegel von Feldpostbriefen 1939–1945. Tübingen 2010. 6 Hester Vaizey, Surviving Hitler’s War. Family Life in Germany, 1939–48. Basingstoke 2010. 7 William M. Tuttle, „Daddy’s Gone to War“. The Second World War in the Lives of America’s Children. New York u.a. 1995. 8 Michael Roper, Secret Battle. Emotional Survival in the Great War. Manchester 2009. 9 Sie wurde im Sommersemester 2014 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz unter dem Namen „Eltern und Kinder im Krieg“ gebildet. Zu ihr gehören die Historikerinnen und Historiker: Julia Brandts, Clara Hesse, Kathrin Kiefer, Markus Raasch, Hanna Rehm und Desiree Wolny. Zur Gruppe auch: http:// www.geschichte.uni-mainz.de/zeitgeschichte/637.php [10.10.2015].
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mäß haben wir unsere Quellengrundlage vornehmlich aus Selbstzeugnissen zusammengestellt. Sie werden als kulturelle Artefakte verstanden, mithin als Resonanzraum gesellschaftlicher Einflüsse auf das individuelle Wahrnehmungsspektrum des Schreibenden 10, und umfassen Kriegserinnerungen, Tagebücher und vor allem ca. 3500 Feldpostbriefe und -karten, darunter Vater-Kind- und Mutter-Vater-Korrespondenzen. Herangezogen wurden einschlägige Editionen, die Onlinebestände des Berliner Kommunikationsmuseums 11 sowie Sammlungen im Tagebucharchiv Emmendingen 12 und in den staatlichen Archiven von Rheinland-Pfalz 13, Hessen 14 und Bayern 15. Ergänzend stützen wir uns auf insgesamt 45 Zeitzeugengespräche, von denen 20 in den Jahren 2014/15 mittels eines halbstandardisierten Verfahrens explizit zum Thema Eltern-Kind-Beziehungen geführt wurden. 16 Zeitzeugenaussagen deuten wir als Selbstzeugnisse zweiter Art, die als Hybrid zwischen Quelle und Darstellung besonders vorsichtig zu interpretieren, jedoch für eine differenzierte Rekonstruktion kriegsbezogener Erfahrungswelten im 20.Jahrhundert wesentlich sind. 17
II. Familienalltag Wenn der Vater als Soldat kämpfte, war der Familienalltag im Regelfall mütterlich bestimmt. Die mannigfaltigen Phänomene der Kinderlandverschickung 18 sol10 Allgemein dazu z.B.: Eckart Henning, Selbstzeugnisse. Quellenwert und Quellenkritik. Berlin 2012. 11 Relevantes Material wurde in den Beständen des Museums für Kommunikation Berlin (künftig: KB), d.h. unter http://www.briefsammlung.de/ [17.02.2016], durch eine Suche nach den Wortfeldern „Kind“, „Eltern“ und „Familie“ eruiert. 12 Tagebucharchiv Emmendingen (künftig: TE): Briefwechsel der Eggebrechts (424 / I, 10 u. 424 / II, 1). 13 Landesarchiv Speyer (künftig: LS): Lehrerbildungsanstalt Speyer (P 23), Nachlass Eugen Jäger (V 13), Nachlass Jakob Ziegler (V 118), Nachlass Familie Ziegler (V 201). 14 Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (künftig: HSD): Familienarchiv Preuschen (O 15). 15 Staatsarchiv Amberg (künftig: SA): Schlossarchiv Rampsau (SR), Freiherren von Brand (FB). 16 25 Gespräche sind 2012/13 von Studierenden der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt im Kontext der von Markus Raasch verantworteten Ausstellung „Bayerische Kriegskinder 1939–1945“ (http: //www1.ku.de/ggf/nng/zeitzeuge/ [15.02.2016]) geführt worden. 17 Grundlegend zu den Möglichkeiten und Grenzen von ‚oral history‘ z.B.: Lutz Niethammer, Fragen an das deutsche Gedächtnis. Aufsätze zur Oral History. Essen 2007. – Wir bitten zu berücksichtigen, dass unsere Forschungen erst am Anfang stehen und wir einen Bericht vorlegen, der in mancher Hinsicht Werkstattcharakter besitzt. 18 Zur Kinderlandverschickung z.B.: Gerhard Kock, „Der Führer sorgt für unsere Kinder ...“. Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg. Paderborn u.a. 1997.
J . BRANDTS ET AL .
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len hier aus pragmatischen Gründen vernachlässigt werden. Die Mutter prägte die Familienaktivitäten: Sie half bei den Hausaufgaben, unternahm mit ihren Kindern Spaziergänge und Ausflüge, führte sie in den Zoo, ins Theater oder ins Museum, ging mit ihnen einkaufen und auf Reisen, las und sang mit ihnen, nahm sie mit zum „Wohltätigkeitskonzert“. 19 Im Zweiten Weltkrieg gehörte das gemeinschaftliche Radiohören zu den beliebtesten Alltagstätigkeiten. Höhepunkte des familiären Miteinanders waren die Oster- und Weihnachtsfeiertage, wenn z.B. der „Kriegs-Nikolaus“ kam. 20 Die Mutter suchte in der Lebenswelt des Kriegsalltags die kindlichen Bande zum Vater zu stärken: Sie erzählte von ihm, las aus der Feldpost vor und betete bisweilen jeden Abend für seine „glückliche Heimkehr“. 21 Besonders emphatisch tat sie dies, wenn die Kinder wieder einmal „den ganzen Tag“ Krieg gespielt hatten und dabei mitunter „viermal schwerverwundet und einmal […] getötet“ worden waren. 22 Die kindliche Feldpost war selbstverständlich mütterlich redigiert. Mütter waren es auch häufig, die ihren Kindern rieten, ein Kriegstagebuch zu schreiben, da es im Alter „interessant sein“ könnte. 23 Entsprechend sorgsam wachten sie über seine Führung. Die Mutter koordinierte die familiäre Kriegsunterstützung: Mit ihren Kindern verbrachte sie beispielsweise zahlreiche Stunden mit ‚Liebestätigkeiten‘. Man sammelte Gebrauchsgegenstände und Haushaltswaren, nähte und strickte Socken, Pullover, Knie-, Puls- oder Ohrenwärmer und packte entsprechende Pakete für die Front. Etliche Mütter nahmen ihre Kinder zur Kriegsandacht mit und integrierten sogar die Konfrontation mit Verwundung und Tod in ihre Kriegsunterstützung. Mithin besuchten sie z.B. Krankenhäuser und Lazarette, um einem Verwandten oder Unbekannten Geschenke oder Nahrungsmittel zu übergeben, so dass die Kinder viele Soldaten mit „nur mehr eine[m] Arm oder Fuß“, zudem „mit apfelgroßen Löchern im Gesicht“ sahen. 24 Darüber hinaus wurde einige Zeit auf die Bedürfnisse
19
Anna an Philipp von Brand, o. D., in: SA FB 880.
20
Ernst Buchner, Wie es damals daheim war. 1914–1918. Das Kriegstagebuch eines Knaben. Leipzig 1930,
49f. 21
Wilhelmine Scheuermann, „… trotz Mutters Tränen und Flehen meldete er sich freiwillig…“, in: Christa
Hämmerle (Hrsg.), Kindheit im Ersten Weltkrieg. Wien u.a. 1993, 68–77, 70. 22
Buchner, Wie es damals war (wie Anm.20), 174 (11.05.1917).
23
Jo Mihaly, „… da gibt’s ein Wiedersehn!“. Kriegstagebuch eines Mädchens 1914–1918. Freiburg/
Heidelberg 1982, 13. 24
Buchner, Wie es damals daheim war (wie Anm.20), 70 (15.04.1915). Vgl. Tagebucheintrag der Helene
Gräfin von Plettenberg-Lenhausen vom 2.10.1914, in: Marcus Stumpf (Hrsg.), Adel im Krieg. Quellen zum Ersten Weltkrieg aus westfälischen Adelsarchiven. Münster 2015, Nr.31.
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der Kriegswirtschaft verwendet. Die Familie legte zwecks Selbstversorgung Gemüsebeete an. Sie sammelte Blechdosen, Weidenröschen, Laubheu, Messing oder Gold, richtete „viele kupferne und andere Gerätschaften zusammen“ und trug diese „in einem großen Korb […] in die Altmetallstelle“. 25 Die Kinder unterstützten die Mutter – je älter, desto mehr – im Haushalt, bei Garten- und Feldarbeiten. Vor allem im Ersten Weltkrieg fungierte die Mutter angesichts der bald desaströsen Versorgungssituation als Managerin des Mangels. Ihr oblag es – so formulieren Kriegskinder oft – ‚die Familie durchzubringen‘, wozu in den Städten auch die Organisation von Hamsterfahrten aufs Land oder die Teilnahme an öffentlichen sowie privaten Massenspeisungen gehörte. Sie war es, die ihren Kindern bei Luftangriffen beizustehen hatte. Immer wieder musste sie sich um kranke Kinder kümmern, viele waren unterernährt und kaum mehr widerstandsfähig. Der Urlaub des Vaters bildete eine Sondersituation. Diese wurde von vielen Vätern und Kindern gerne angenommen. Die Kinder freuten sich, wenn der Vater Spielzeug mitbrachte. Sie waren dankbar, wenn der Vater viel Zeit mit ihnen verbrachte. Er zeigte ihnen seine Briefmarkensammlung, ging mit ihnen Schlitten fahren oder schwimmen, baute für sie Sandkästen und Schaukeln, unternahm mit ihnen Ausflüge in die nähere Umgebung. Für viele Kinder „waren das Festtage, wenn Vater auf Urlaub kam“ und die Trauer fiel groß aus, „wenn er wieder weg mußte“. 26 Etliche Kinder fremdelten freilich auch mit dem normalerweise absenten Vater („Mama, schick den fremden Mann wieder weg!“ 27), begegneten ihm mit Scheu, sprachen deutlich weniger als gewöhnlich. Die kindliche Wahrnehmung der Mutter fiel sodann disparat aus, wobei durchaus Unterschiede zwischen den beiden Weltkriegen virulent sind. Oft war die Mutter die Bewunderte, die in „dieser schweren Zeit“ eine „enorm[e] Leistung“ vollbrachte 28, das „Zentrum der Welt“ inkarnierte und in Anbetracht von schwersten äußeren Umständen ein „Gefühl der Geborgenheit“ vermittelte 29. Die mütterliche Selbst-
25 Buchner, Wie es damals daheim war (wie Anm.20), 94f. (16.10.1915). 26 Rudolf Aigner, „… die aus der Not geborene Idee, Sparkocher zu bauen…“, in: Hämmerle (Hrsg.), Kindheit (wie Anm.21), 210–217, 212. 27 Maria Truhe, Lachen verboten, in: Jürgen Kleindienst (Hrsg.), Stöckchen-Hiebe. Kindheit in Deutschland 1914–1933. 52 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen. 3., überarb.Aufl. Berlin 1998, 66–68, 68. 28 Karl Kaulich, „Meine Mutter verzweifelte und ging mit uns vier Kindern zum Magistrat“, in: Hämmerle (Hrsg.), Kindheit (wie Anm.21), 226–229, 229. 29 Mechthild V., zit. n. Dörr, Krieg (wie Anm.4), 114.
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losigkeit wurde immer wieder exponiert. Kinder erlebten etwa, dass die Mutter „so manches Mal auf einen Teil ihrer Ration“ verzichtete 30 oder vor einem Lebensmittelgeschäft die Nacht verbrachte, um ihrer Familie überhaupt ein Frühstück bereiten zu können 31. In Bezug auf den Zweiten Weltkrieg kumulieren indes die sprachlichen Bezüge auf Eigenschaften wie Stärke, Disziplin und Selbstkontrolle. Der Dank galt der „resoluten Mutter“ 32, der Mutter wurde attestiert, „sehr, sehr konsequent“ zu sein 33, sie erschien als „Ruhigste von allen in brenzligen Situationen“ 34, als stets „starke Frau“ 35. Kinder fragten sich: „was war da für eine Kraft dahinter“ 36, bewunderten „das Nicht-Jammern“ 37. Nicht wenige Kinder des Zweiten Weltkrieges litten auch unter dieser ‚eisernen‘ Disziplin der Mutter. Mitunter ist die Rede von einer „verschlossenen, aber alles beherrschen wollenden Frau, die nie ihre Gefühle zeigte“. 38 In unseren Zeitzeugengesprächen wurde deutlich, dass beispielsweise beim Essen nicht über persönliche Angelegenheiten geredet wurde und lediglich in einer Familie die Mutter die Kinder dazu aufforderte, das Erlebte des Tages zu erzählen. 39 Zuwendungsbekundungen waren rar, Umarmungen gab es vorzugsweise zu Festanlässen, viele Kinder mussten selbst einen Gutenachtkuss missen. Im Ersten Weltkrieg mangelte es nicht an mütterlicher Härte – sei es, dass die Mutter ihre Kinder in einem eiskalten Heizhaus mit bloßen, häufig blaugefrorenen und blutenden Händen nach Kohlenstücken suchen ließ 40, sei es, dass ihr nachgesagt wurde, ihr Kleinkind den ganzen Tag schreiend und hungernd zu Hause zu lassen, während sie zur Arbeit ging 41. In einem Kindertagebuch heißt es: Ich muss „mein Herz fest in die
30
Margarete Feuerbach, „Und man hatte stundenlang umsonst gewartet“, in: Hämmerle (Hrsg.), Kindheit
(wie Anm.21), 96–104, 101. 31
Margaretha Witeschnik-Edlbacher, „Ein Kind versteht nicht viel vom Grauen des Krieges“, in: Hämmer-
le (Hrsg.), Kindheit (wie Anm.21), 43–61, 51. 32
Dietlind S., zit. n. Dörr, „Der Krieg hat uns geprägt“ (wie Anm.4), 208.
33
Gertraud M., zit. n. ebd.
34
Brigitte R., zit. n. ebd.209.
35
Ursula K., zit. n. ebd.215.
36
Renate S., zit. n. ebd.208.
37
Ingrid A., zit. n. ebd.209.
38
Marianne U., zit. n. ebd.214.
39
Zeitzeugengespräch (künftig: ZzG) mit Rosemarie M. (geb. 1931, aufgewachsen in Eltville) vom
24.10.2014, durchgeführt v. Kathrin Kiefer. 40
Josefine Kluger, „Jeden Tag wurde vor dem Unterricht die Kriegslage besprochen“, in: Hämmerle
(Hrsg.), Kindheit (wie Anm.21), 105–118, 110. 41
250
„Das Kind schrie den ganzen Nachmittag um Wasser und Brot. Denunziation einer Kriegerfrau in Ra-
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Hand nehmen, denn es droht jedesmal wieder auseinanderzufallen, wenn es so viele Schmerzen erfährt“. 42 Die Perzeption der Kinder hebt aber im Hinblick auf die Zeit zwischen 1914 und 1918 weniger stark auf das Härteideal ab. Immer wieder wurden auch die mütterlichen Schwächen, mithin der Verlust von Stärke, Disziplin und Selbstkontrolle angesprochen. Da war die Mutter überfordert von der „ständigen Angst, der Sorge, wie sie uns Kinder durchbringen sollte“, sie erschien „auch ganz kaputt“ 43. Immer wieder berichteten Kinder von Weinkrämpfen, Schwächeanfällen und Krankheiten. Umso schwieriger erschien die Lage für die Mutter in den nicht seltenen Fällen, in denen sie nur als untergeordnet Leidende imaginiert wurde. Exemplarisch schrieb eine Ehefrau an ihren Mann: „Die Kleinen sagten, als ich Ihnen erzählte, daß Du so frieren mußt, Du kannst Dich freuen Mutter, daß Du kein Mann bist. Du brauchst wenigstens nicht ins Feld.“ 44 Politik spielte im Familienalltag in beiden Weltkriegen im Regelfall eine zweitrangige Rolle, freilich war sie omnipräsent – durch das, was die Eltern und insbesondere die Mütter taten oder unterließen. Auch die Familie fungierte als Agent der Propaganda, wenn Mütter ihren Kindern im Ersten Weltkrieg eine Fahne nähten 45, mit ihnen Kriegsbilderbögen bastelten 46, sie Kriegsgedichte aufsagen ließen oder die Mütter in beiden Weltkriegen „über die Bosheit unsrer Feinde“ sprachen und ausdrücklich zur klaren Rollenverteilung beim Kriegsspielen aufforderten 47. Zugleich konterkarierten Familien die Kriegspropaganda. Dies konnte aktiv geschehen, wenn am Geburtstag des Kaisers ostentativ rote statt weiße Schürzen umgebunden wurden 48, Eltern im Zweiten Weltkrieg fleißig Entschuldigungsschreiben
tingen (20.08.1917)“, in: Jens Flemming/Klaus Saul/Peter-Christian Witt (Hrsg.), Lebenswelten im Ausnahmezustand. Die Deutschen, der Alltag und der Krieg. (Zivilisation & Geschichte, Bd. 16.) Frankfurt am Main u.a. 2011, 256f. 42 Silvia von Bornstedt, Ein Kind erlebt den Weltkrieg. Freiburg im Breisgau 1937, 27. 43 Doris Kachulle (Hrsg.), Die Pöhlands im Krieg. Briefe einer sozialdemokratischen Bremer Arbeiterfamilie aus dem ersten Weltkrieg. Köln 2006, 38. 44 Anna Pöhland an ihren Mann, 28.10.1915, in: ebd.56. 45 Edith Hagener, „Es lief sich so sicher an Deinem Arm“. Briefe einer Soldatenfrau 1914. Weinheim u.a. 1986, 48. 46 Anna an Lorenz, 28.9.1914, in: Heilwig Gudehus-Schomerus/Marie-Luise Recker/Marcus Riverein (Hrsg.), „Einmal muß doch das wirkliche Leben wieder kommen!“ Die Kriegsbriefe von Anna und Lorenz Treplin 1914–1918. Paderborn u.a. 2010, Nr.41. 47 Anna an Lorenz, 29.12.1914, in: ebd.Nr.122. 48 Kachulle (Hrsg.), Die Pöhlands (wie Anm.43), 36.
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für die Hitler-Jugend verfassten 49 oder abfällige Kommentare nach dem Attentat vom 20.Juli von sich gaben 50. Dies passierte mittelbar, wenn Mütter ihre Kinder mit Fortdauer des Krieges nicht mehr zur Kriegspredigt mitnahmen, die Eltern es verboten, weiterhin Kriegshefte auszutragen 51 oder die Mütter vorsichtige Bedenken wegen der HJ-Aktivitäten zu äußern begannen 52. Im Ganzen taten sich die Familien unter den Bedingungen der totalitären Diktatur zweifelsohne schwerer, Alltagsgespräche über Politik zu führen.
III. Kommunikation Die Familie bildete in den Briefen der Soldatenväter das dominierende Thema. Es gab nicht wenige Soldaten, die ihre Frauen baten, „nur Familienangelegenheiten“ zu schreiben 53 und immer wieder fragten: „Was macht unser kleiner Liebling?“ 54 Sie konnten offenbar „garnicht genug“ von den Kindern hören. 55 Intensiv wurde über Schwangerschaften, die Entwicklung und Gesundheitsverhältnisse der Kinder, Spiele und Geburtstagswünsche korrespondiert. Die Frau figurierte als wichtiges Medium und sollte Küsse, Grüße und Wünsche des Vaters übermitteln. Die Kinder selbst waren in quantitativer Hinsicht zweifelsohne kein bevorzugter Adressat der Soldatenpost. In Relation zu Ehefrauen, Geschwistern, den eigenen Eltern oder Freunden bekamen die Töchter und Söhne wenige Briefe. 56 Dabei ist jedoch in Rechnung zu stellen, dass viele Eltern die Korrespondenz mit dem Partner als Familien-
49
ZzG mit Gebhard H. (geb. 1933, aufgewachsen in Gebhardshain) vom 15.11.2014, durchgeführt v.Julia
Brandts; ZzG mit Wiltrud S. (geb. 1933, aufgewachsen in Darmstadt) vom 14.10.2014, durchgeführt v. Kathrin Kiefer. 50
Z.B. ZzG mit Rosemarie M. vom 24.10.2014.
51
Buchner, Wie es damals war (wie Anm.20), 83.
52
Renate S., zit. n. Dörr, „Der Krieg hat uns geprägt“ (wie Anm.4), 243.
53
Eva Anna Welles, Der verblasste Krieg. Vom Feld der Ehre in die Dunkelheit. Geschichte einer Familie
in der Zeit des Ersten Weltkrieges. Mödling 2014, 43. 54
Oberarzt Heinrich Luft an seine Frau, 16.08.1914, in: Jens Ebert (Hrsg.), Vom Augusterlebnis zur No-
vemberrevolution. Briefe aus dem Weltkrieg 1914–1918. Göttingen 2014, 14. 55
Lorenz an Anna, 16.07.1915, in: Gudehus-Schomerus/Recker/Riverein (Hrsg.), Einmal muß doch (wie
Anm.46), Nr. 26. 56
In unserem Untersuchungssample traten bei weniger als fünf Prozent der Feldpostbriefe ausschließ-
lich Kinder als Sender oder Empfänger auf.
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post verstanden. Zahlreiche Briefe enthalten die Anrede „Liebe Frau und Kinder“ oder „Liebe gute Mama“, sind mit „Vati“, „Euer Papa“, „Vatile“ oder „Euer guter Vater in der Ferne“ unterschrieben und bilden tatsächlich ein mitunter wenig kohärentes Konglomerat von partner- und kindbezogenen Ausführungen. Da wurde der Ehefrau von den Briefen der Verwandten erzählt und ehe der Soldat zu Ratschlägen in Sachen Haushaltskasse überging, fragte er: „Meine liebe Tochter, was machst Du an allen Tagen? Holst Du auch Futter für die Ziegen?“ 57 Umgekehrt finden sich immer wieder Kindereinschübe in den Briefen der Ehefrau, wobei die Perspektiven kaum auseinanderzuhalten sind. Da hieß es z.B.: „Ich habe immer solche Angst um Dich, lieber Vater. Wie es unserem lieben Sohn geht, weiß keiner.“ 58 Etliche Frauen unterschrieben die Briefe an ihren Mann mit „Mamma“oder „Mutti“. Dessen ungeachtet freuten sich die Kinder über jeden Brief des Vaters. Dies betraf ältere Kinder, die schon bei der Einberufung des Vaters von einem „furchtbare[n] Abschiedsschmerz“ erfüllt waren und reichlich Tränen vergossen hatten. 59 Dies betraf die Jüngeren, die an den abwesenden Vater gewöhnt waren. Immer wieder beschwerten sich Kinder, wenn der Vater nicht schrieb. Der Feldpostbrief besaß für sie elementare Bedeutung. Immerhin versicherte er ihnen, dass der Vater wohlauf war („Ich habe seine erste Karte. Er ist gesund und wohl. Was will ich mehr? Nun liegt ein kleines Licht auf diesem Leben“ 60) und bildete die einzige Möglichkeit, den Vater mit der eigenen Lebenswelt in Verbindung zu bringen. Die in Relation wenigen kindlichen Briefe waren zumeist kurz und prägnant, nahmen aber mit fortschreitendem Alter deutlich an Volumen und Gehalt zu. Und auch die kleinen Kinder gaben sich große Mühe, auch wenn sie manchmal unverblümt zugaben, wie schwer es ihnen fiel: „Ich will jetzt Schluss machen von dem Schreiben, weil mir die Pfoten weh tun!“ 61 Töchter und Söhne schickten selbst gemalte oder geklebte Bilder und rapportierten von – wie es Margarete Dörr genannt
57 Karl Falkenhain an seine Ehefrau, 29.05.1915, in: Frank Schumann (Hrsg.), Was tun wir hier? Soldatenpost und Heimatbriefe aus zwei Weltkriegen. 2.Aufl. Berlin 2013, 47f. 58 Minna Falkenhain an ihren Ehemann, 27.12.1917, in: ebd.111f. 59 Hermine Gerstl, „Eine furchtbar traurige Zeit schritt im Riesentempo vorwärts“, in: Hämmerle (Hrsg.), Kindheit (wie Anm.21), 119–142, 122. 60 Edwin Erich Dwinger, Die Armee hinter Stacheldraht. Das sibirische Tagebuch. Jena 1946, 185. 61 Richard an seinen Vater, 17.7.1943, in: Herta Lange/Benedikt Burkard (Hrsg.), Abends wenn wir essen fehlt uns immer einer. Kinder schreiben an die Väter 1939–1945. Hamburg 2000, 233.
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hat – „den kleinen Begebenheiten des Kinderlebens“. 62 Sie berichteten von Besuchen und Ausflügen, Zoofahrten, von Büchern, die sie gerade lasen, vom Klavieroder Geigenunterricht, von den Blumen im Garten, von den Haustieren, vom Weihnachtsfest, baten den Vater, „die Daumen“ für die anstehende Prüfung zu halten. 63 Der Krieg gehörte dazu: Sie berichteten von eingezogenen Geschwistern, schwärmten von „wüst interessanten“ Luftangriffen 64, sprachen von ausgebombten Flüchtlingen, davon, dass sie wegen der Verdunkelungsvorschriften sogar ihre „Fahrradlampe mit Seidenpapier vorschriftsmäßig“ umwickelt hätten 65. Ältere diskutierten mitunter die Kriegspolitik 66 oder neue Waffentechniken 67. Vorzugsweise wählten die Kinder die positive Selbstdarstellung und exponierten das, was sie schon konnten und geleistet hatten. Der Brief sollte dem Vater in erster Linie eine Freude sein. Die Kinder verwiesen auf gute Noten, darauf, wie groß, wie selbstständig sie schon geworden seien, wie sie innerhalb von drei Minuten „alleine Fahrrad fahren gelernt“ hätten 68, dass sie „40mal durchs Becken in einer Stunde und 5 Minuten“ geschwommen waren 69; sie malten dem Vater die Silberplakette auf, die sie für ihre Sportleistungen erhalten hatten 70; sie erläuterten, welche Aufgaben sie der Mutter abgenommen hätten, dass sie den Geschwistern beim Schreibenlernen halfen und wieder bei der Erntehilfe mitmachten. Ein besonderes Verdienst sahen die Kinder darin, wenn sie stellvertretend für die geplagte Mutter, die „ihren Kopf ganz voll“ habe 71, die Briefe an den Vater verfassen durften. Vice versa war es eine besondere Ehre, wenn der Vater die Tochter demonstrativ bevorzugte: „Heute aber kommst erst Du an die Reihe, dann vielleicht noch unsere gute Mutti.“ 72
62
Dörr, „Der Krieg hat uns geprägt“ (wie Anm.4), 120.
63
Edith an ihren Vater, 19.06.1943, in: Lange/Burkard (Hrsg.), Abends (wie Anm.61), 192.
64
Jürgen an Geert Westphal, 19.05.1940, in: Dirck Westphal/Jürgen Westphal (Hrsg.), Feldpostbriefe einer
Familie im 2. Weltkrieg. Briefwechsel von Grete Westphal und ihren 5 Söhnen im Krieg. Norderstedt 2010, 20. Der älteste Bruder Geert hatte in der Familie die Rolle des verstorbenen Vaters übernommen. Deswegen wurde dieser Briefwechsel herangezogen. 65
254
Liese an ihren Vater, 30.09.1939, in: Lange/Burkard (Hrsg.), Abends (wie Anm.61), 24.
66
Vgl. den Briefwechsel Rosemaries mit ihrem Vater, in: ebd.28ff.
67
Trudel an ihren Vater, 19.11.1944, in: ebd.159.
68
Richard an seinen Vater, 14.10.1943, in: ebd.239.
69
Liese an ihren Vater, 05.09.1939, in: ebd.18.
70
Liese an ihren Vater, 13.09.1939, in: ebd.22.
71
Marion an ihren Vater, 30.08.1943, in: ebd.179.
72
Der Vater an Gisela, 13.07.1942, in: ebd.133.
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Den Vätern war die direkte Korrespondenz mit den Kindern nicht minder wichtig. Vereinzelt appellierten sie ganz offen: „keine Faulheit mehr vorschützen, sondern etwas fleißiger schreiben.“ 73 Häufig versicherten sie, dass sie sich über „jedes Wort“ der Kinder sehr freuten. Gerne konzedierten sie den Kleinen, dass sie nur eine Seite zu schreiben bräuchten, „weil du noch nicht so schnell schreiben kannst“. 74 In ihrem eigenen Schreiben spiegelte sich diese Wertschätzung wider. Sicherlich gab es schreibfaule Väter. Es kam vor, dass Frauen ihre Ehemänner baten, „den Kindern öfter einmal“ zu schreiben 75 und sie mahnten: „Dein großer Patriotismus und Dein unerschütterlicher Mut sind ja sehr, sehr lobenswert. Nur denke auch ein ganz klein wenig an Weib und Kind.“ 76 Etliche Väter pflegten einen nüchternen, ereignisorientierten Ton und hielten sich gegenüber ihren Kindern sehr knapp. Viele gingen aber ausdrücklich auf die kindliche Lebenswelt ein, was schon damit begann, dass Briefe für kleinere Kinder in Großbuchstaben verfasst wurden. 77 Väter erkundigten sich nach der neuen Puppe, dem Befinden von Haustieren, der liebsten Freizeitbeschäftigung. Sie schrieben Gedichte, schickten Süßigkeiten oder Malfarben, zeichneten und bastelten für ihre Kinder. Es kam vor, dass Väter ganze Bilderbücher zusammenstellten oder zugesandtes Spielzeug der Kinder repariert zurückschickten. Väter entschuldigten sich, wenn ihre Briefe aus Zeitmangel knapp ausfielen, nicht wenige baten ihr Kind, auch ausführlich von den Geschwistern zu berichten. Inhaltlich kreisten die väterlichen Briefe um scheinbare Alltagsbanalitäten: Der Vater erzählte vom Wetter, vom Essen, vom Frontkino, von Tieren, mit denen er zu tun hatte. Auch das Kriegsgeschehen beschwieg er nicht. Etliche Soldaten mühten sich um kindgerechte Beschreibungsformen und ummantelten das schwierige Thema ‚Töten und Sterben‘ mit Bildern, wenn sie etwa von Onkel Sosinski sprachen, der alle Hasen tot schoss. 78 Andere Väter gaben sich noch offener („Ich will doch erst die Engländer wichsen“ 79) und gewährten recht weitgehende Einblicke. Sie berichteten von den 73 Der Vater an Gisela, 11.10.1942, in: ebd.135. 74 Der Vater an Edith, 18.10.1943, in: ebd.196. 75 Anna Pöhland an ihren Mann, 02.03.1916, in: Kachulle (Hrsg.), Die Pöhlands (wie Anm.43), 85. 76 Hagener, „Es lief sich so sicher an Deinem Arm“ (wie Anm.45), 44. 77 Vgl. den Briefwechsel Richards mit seinem Vater, in: Lange/Burkard (Hrsg.), Abends (wie Anm.61), 224 ff. 78 Otto Wolfien, Kriegstagebuch 1914/15. Feldpostbriefe an Frau und Kinder. Hamburg 2009, 120. 79 August Stark an seine Tochter, 28.02.1915, in: Evelyn Hemmerich, Heute nach vorn. Alltag und Erlebnis des August Stark aus Nassau-Scheuern im Ersten Weltkrieg. (Heimatkundliche Buchreihe zum östlichen Rheinischen Schiefergebirge, Bd. 9.) Weilburg 2012, 243.
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politisch-sozialen Verhältnissen in den deutsch besetzten Ländern, von Vormärschen, vom Alltag an der Front („die letzte Woche war wohl die kritischste, die die meisten von uns in diesem Krieg erlebt haben“ 80), sie informierten über die Beschaffenheit der Stellungen, die Soldatenunterkünfte, auf Bitten der Kinder wurden Waffen beschrieben. Auch die Behandlung von Kriegsgefangenen war Thema in den väterlichen Briefen. Es ist signifikant, dass die Bedeutung der Vater-Kind-Korrespondenz weit mehr Funktionen hatte, als oberflächliche lebensweltliche Bindungen herzustellen. Sie diente im Sinne einer „support unit“ 81 ferner dazu 1. sich der gegenseitigen Relevanz und der entsprechenden Sehnsucht – eines der am häufigsten auftretenden Wörter in der männlichen Feldpost – zu versichern. Die Kinder machten immer wieder deutlich: „Wir denken immer so viel an Dich und überlegen, in welche Stadt Du ein marschiert sein kannst.“ 82 Eine Tochter erzählt ihrem Vater von einem Theaterabend nicht ohne den Hinweis: „Du kannst Dir gar nicht denken, wie wundervoll es war. Doch hätte ich mehr Genuß gehabt, wenn Du mit dabei warst.“ 83 Eine andere ließ wissen: „Ich habe geweint weil du nicht heim [ge]kommen bist.“ 84 Die Väter akzentuierten fortwährend, wie gerne sie zu Hause wären: „Manchmal hat man eine richtige Sehnsucht nach Hause u. ich kann es begreiflich finden, wenn hierbei jemand den Kopf u. seine Überlegung verliert.“ 85 Die räumliche Distanz zum Kind suchten sie zu relativieren: „Dein Papa ist weit, weit von Dir weg. Er gedenkt aber doch täglich Deiner.“ 86 Um die engen geistigen Bande herauszustellen, verwendeten Väter bisweilen geflissentlich das Partizip Perfekt Passiv statt des eigentlich notwendigen Partizip Präsens Aktiv („Herzliche Grüße und Küsse von Deinem vielgeliebten Mann“ 87), Söhne und Töchter schrieben am
80
Heino Graf Vitzthum, 29.11.1942, in: Jens Ebert (Hrsg.), Feldpostbriefe aus Stalingrad. Göttingen 2003,
83. 81
Vaizey, Surviving (wie Anm.6), 151.
82
Jürgen an Geert Westphal, 24.06.1940, in: Westphal/Westphal, Feldpostbriefe (wie Anm.64), 21.
83
Anna Pöhland an ihren Mann, 14.10.1915, in: Kachulle (Hrsg.), Die Pöhlands (wie Anm.43), 51.
84
Hermine Stark an ihren Vater, März 1915, in: Hemmerich, Heute nach vorn (wie Anm.79).
85
Paul Rockstroh an seine Ehefrau, 13.01.1916 (KB, 3.2011.2334).
86
Hagener, „Es lief sich so sicher an Deinem Arm“ (wie Anm.45), 97. Fast wortgleich: Ihr Lieben,
16.05.1945, in: HSD, 0 59 / 82. 87
Karl Falkenhain an seine Ehefrau, 20.01.1915, in: Schumann (Hrsg.), Was tun wir hier (wie Anm.57),
29; ähnlich: die Formeln in: Wolfien, Kriegstagebuch (wie Anm.78).
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Briefende formelhaft von „deinen dankb. Kindern“ 88. Auffallend sind die zahlreichen Konjunktiv- und Konditionalphrasen: „Ich freue mich schon, wenn Du auf Urlaub kommst“ 89; „könnten wir doch zusammen rollen“ 90; „Heute Morgen habe ich lang schlafen können und da habe ich gedacht: könntest du jetzt mit dein[em] Herminchen hutscheln“ 91. Zudem wurde häufig in gemeinschaftsstiftender Absicht auf die Vergangenheit rekurriert: „Schön war es früher“. 92 2. war das Bemühen groß, die wechselseitigen Ängste zu kalmieren: Da suchte die Tochter deutlich zu machen: „Die Mutti war in den ersten Tagen recht traurig. Jetzt geht es schon besser.“ 93 Da betonte der Sohn: „Bei mir ist alles in Ordnung, was ich auch von Dir hoffe.“ 94 Väter bekundeten immer wieder, dass sie an der Front keine Not zu leiden bräuchten. Bisweilen verwiesen sie sogar darauf, dass es dem Gegner ja viel schlechter gehe: „Die armen Franzosen, die wir neulich gefangen genommen haben, hatten schon beinahe keine Stiefel mehr an, ihnen guckten schon die Zehen aus den Schuhen heraus. Vater braucht dagegen heute Nacht nicht einmal draußen auf dem Felde zu liegen und friert bloß ein ganz klein bißchen.“ 95
Den Kindern suchten sie durch den Vergleich mit ihrer eigenen Situation die Angst zu nehmen: „Auch du darfst keine Angst haben, wen[n] die Mama fort geht und du allein im Haus bleiben mußt, denn niemand tut dir etwas. Ich habe auch keine Angst vor den Russen und Serben und auch jetzt vor den Franzosen nicht.“ 96
Im Zweiten Weltkrieg mühten sich Väter die kindlichen Ängste unter Umständen auch damit zu zerstreuen, dass sie auf ihr eigenes Schicksal als Kriegskind Bezug nahmen: „Wo ich so alt war wie Du war auch so ein Krieg wie jetzt und wir haben auch oft nicht in die Schule dürfen.“ 97
88 Z.B. Elisabeth und Alex an den Oberleutnant Freiherr von Pfetten, o. D.; Elisabeth, Alex und Marie Therese an den Oberleutnant Freiherr von Pfetten, 02.05.1916, beide in: SA SR 650. 89 Gisela an ihren Vater, 29.04.1944, in: Lange/Burkard (Hrsg.), Abends (wie Anm.61), 202. 90 August Stark an seine Tochter, 14.03.1915, in: Hemmerich, Heute nach vorn (wie Anm.79), 247. 91 August Stark an seine Tochter vom 21.02.1915, in: ebd.241. 92 Der Vater an Oskar, 13.03.1945, zit. n. Dörr, „Der Krieg hat uns geprägt“ (wie Anm.4), 119. 93 Edith an ihren Vater, 06.04.1943, in: Lange/Burkard (Hrsg.), Abends (wie Anm.61), 188. 94 Detlef an seinen Vater, 23.11.1944, in: ebd.109. 95 Wolfien, Kriegstagebuch (wie Anm.78), 69. 96 August Stark an seine Tochter, 07.02.1916, in: Hemmerich, Heute nach vorn (wie Anm.79), 340. 97 Der Vater an Oskar, 10.03.1945, zit. n. Dörr, „Der Krieg hat uns geprägt“ (wie Anm.4), 119.
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3. fungierten die Briefe als ‚Sorgentelefon‘, zuvörderst für die Kinder: Gemäß entsprechenden Aufrufen des Vaters („Ich will von Deinen kleinen u. großen Sorgen wissen, ich will an allem teilnehmen“ 98) beschwerten sich kleinere Kinder, wenn die Mutter das gewünschte Essen verweigert hatte 99 oder sie von anderen Kindern geärgert wurden 100. Ältere Mädchen verschwiegen nicht, dass sie von ihrer Doppelrolle als Schülerin und Jungmädel überfordert waren: „Ich ersuff gleich darin.“ 101 Auffallend ist, dass Väter im Ersten Weltkrieg 102 häufiger bereit waren, auch eigene Sorgen, Nöte und Schwächen einzugestehen: Hier wurde weniger verhehlt, wie schlecht es einem ging, wie sehr Langweile und Trübsal plagen konnten 103, wie bedrückend sich der Frontalltag ausnahm: „Gott mag helfen, […] damit man noch mal als Mensch leben kann. Jetzt lebt man wie ein wildes Tier, das in der Nacht keine Ruhe findet.“ 104 Etliche Männer hatten das Bedürfnis, ihren Familien „alles, was […] bewegt, ob Freude oder Schmerz“, mitzuteilen 105. Sie verschwiegen ihren älteren Kindern nicht, wenn ihnen „ein mächtiger Alp […] auf der Brust“ lag. 106 Ohne emotionale Scheu bekundeten sie: „Hoffentlich werde ich nicht eines der unzähligen Opfer dieses grausamen, wahnsinnigen Krieges. Du kannst Dir keinen Begriff machen, welche Seelenqualen ich in diesem verflossenen Jahr zu erdulden hatte. Jedesmal wenn wir über diese ‚modernen Waffen‘ instruiert werden, überläuft mir ein eisiger Schauer.“ 107
98
Hans-Joachim S. an seine Frau, 24.10.1944 (KB, 3.2002.1214).
99
Minna Falkenhain an ihren Ehemann, 04.07.1916, in: Schumann (Hrsg.), Was tun wir hier (wie
Anm.57), 77. 100 Minna an ihren Vater [29.01.1916], in: ebd.63. 101 Liese an ihren Vater, 30.09.1939, in: Lange/Burkard (Hrsg.), Abends (wie Anm.61), 24. 102 Adelige, die für gewöhnlich Offiziere waren und mit speziellen Selbst- wie Fremdimaginationen umzugehen hatten, scheinen sich in Feldpostbriefen nicht so geäußert zu haben. Vgl. Stumpf, Adel im Krieg (wie Anm.24), sowie die Briefwechsel im Schlossarchiv Ramsau, in denen der Militäreintritt als „Herzenswunsch“ firmiert (Clara an Philipp Freiherr von Brand, 16.08.1916, in: SA FB 968) und es z.B. noch für Februar 1916 heißt: „sehne mich nach 2½ Monaten Ruhe wieder nach Krieg“: Max Emmanuel von Pfetten an seinen Vater, 14.02.1916, in: SA SR 607. 103 „Ihr lieben Kinder!“, 15.09.1914, in: HSD, O 15 / 452. 104 Karl Falkenhain an seine Ehefrau, 24.03.1918, in: Schumann (Hrsg.), Was tun wir hier (wie Anm.57), 118. 105 Robert Pöhland an seine Familie, 31.03.1916, in: Kachulle (Hrsg.), Die Pöhlands (wie Anm.43), 106. 106 Robert Pöhland an seinen Sohn, 17.10.1916, in: ebd.225f. 107 Robert Pöhland an seinen Sohn, 11.07.1916, in: ebd.162f.
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Sie verschwiegen nicht, wenn ihnen „die Tränen in die Augen getreten waren“ 108 und brachten ihre Überforderung zum Ausdruck: „Wie ich aus dem Brief vernommen habe, ist mein gutes liebes Kind noch nicht besser. Das schmerzt mich furchtbar und dann ich noch im Feindesland; kann ich doch nicht bei ihm sein. Ich mußte beim Lesen die Tränen verbärgen daß es mir niemand ansah.“ 109
Väter nutzten die Post an die Kinder, um sich zu erleichtern und muteten dabei ihren Kindern einiges zu: „Er war ja doch ganz fertig. […] das hat mich natürlich immer wieder sehr aufgeregt, was er mir geschrieben hat, oder wenn er mir eine Originalaufnahme von der Wirkung einer unterirdischen Mine schickte.“ 110 Sowohl gegenüber der Ehefrau wie auch den Kindern mühten sich Männer Willen und Fähigkeit zur Selbstkritik zu zeigen. Bisweilen geißelten sie ihre „Torheit“ 111 und baten die Ehefrau um Entschuldigung, wenn sie beim Urlaubsende nicht herzlich genug waren: „Wenn fremde Menschen dabei sind, kann ich nicht anders […]. Verzeiht deshalb.“ 112 Gegenüber dem Kind erwähnten Männer ihr zu „barsches, gereiztes Auftreten“ und baten: „Nehme Dir in dieser Beziehung Deine liebe Mutter zum Vorbild und nicht mich.“ 113 Dieses verhältnismäßig offene Reden korrespondiert mit den selbstreferentiellen Aussagen der Mütter, die in ihren Briefen an den Ehemann vor allem im Ersten Weltkrieg ihre Lasten, ja ihre zumindest temporäre Überforderung nicht verheimlichten. In Anbetracht der „grauenvoll ernste[n] Zeit“ 114 zweifelten sie unverhohlen, berichteten, dass sie ihre Tränen immer weniger zurückhalten könnten, sahen das Ende ihrer Kräfte kommen („Ich kann bald nicht mehr“ 115). Sie gaben zu: „[I]ch kann die Kinder oft nicht mehr um mich haben und dabei habe ich auch keine Ruhe dazu mich ins Bett zu legen“ 116; sie erklärten mit schlechtem Gewissen, nicht mehr weiter zu wissen: „Wie gern möchte ich immer alles fix u. fertig haben, doch fühle ich mich nicht immer so stark. Mir wird oft jeder Tritt zu viel. Ich schäme 108 Wolfien, Kriegstagebuch (wie Anm.78), 67. 109 August Stark an seine Frau, 07.10.1914, in: Hemmerich, Heute nach vorn (wie Anm.79), 208. 110 Kachulle (Hrsg.), Die Pöhlands (wie Anm.43), 38. 111 Siegfried Eggebrecht an seine Frau, 13.05.1918, in: TE, 424 / I, 10. 112 Robert Pöhland an seine Frau, 16.11.1915, in: Kachulle (Hrsg.), Die Pöhlands (wie Anm.43), 65f. 113 Robert Pöhland an seinen Sohn, 17.10.1916, in: ebd.225f. 114 Emmy Luft an ihren Mann, 06.10.1914, in: Ebert (Hrsg.), Vom Augusterlebnis (wie Anm.54), 36. 115 Minna Falkenhain an ihren Ehemann, 20.08.1915, in: Schumann (Hrsg.), Was tun wir hier (wie Anm.57), 55. 116 Hedwig Lauth an ihren Ehemann, 12.09.1917 (KB, 3.2012.1801).
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mich dessen oft.“ 117 Im Extremfall waren Mutter und Kinder so verzweifelt, dass sie den so dringend vermissten Vater zur Simulation einer Verletzung oder zur Selbstverstümmelung aufriefen: „Mach es doch auch so, lieber Vater.“ 118 Sicherlich lässt sich die relative emotionale Verschlossenheit, die den Briefen des Zweiten Weltkrieges eigen ist, zum Teil mit der verhältnismäßig strengen Zensur und vor allem der dazugehörigen Medienaufmerksamkeit im nationalsozialistischen Deutschland erklären. 119 Der Brief sollte als ‚Waffe‘ fungieren, Probleme aus der Heimat sollten im Sinne der geistigen Mobilisierung verschwiegen werden. Darüber hinaus ist das unterschiedliche staatliche Strafregime in den beiden Weltkriegen in Rechnung zu stellen. Die Forschung hat jedoch immer wieder deutlich machen können, dass die äußere Zensur nur marginal ins Gewicht fiel und sich zudem ein beträchtlicher Teil der Soldaten allenfalls bedingt an die Zensurvorschriften hielt. 120 Ferner bestätigen auch die Zeitzeugen, dass die Eltern sie von den eigenen Problemen fernhielten, dass Gefühle wie Verzweiflung oder Gedanken von Selbstkritik nicht an die Kinder herangelassen wurden. Ein letzter Unterschied zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg bestand beim Sagbaren in Liebesangelegenheiten. Offenbar bildete die fehlende sexuelle Aufklärung durch die Eltern eine Konstante. Für sie war dies „ein ewig schwieriges Kapitel“. 121 Die Storchmetapher florierte ebenso wie die Rede vom „liebe[n] Gott als Bringer“ („die Kinder kämen vom Himmel und der liebe Gott liesse es die Mutter rechtzeitig vorher wissen“ 122). Im Zweiten Weltkrieg redeten allerdings nicht nur die
117 Anna Pöhland an ihren Mann, 18.10.1915, in: Kachulle (Hrsg.), Die Pöhlands (wie Anm.43), 52. 118 Minna Falkenhain an ihren Ehemann, 08.06.1916, in: Schumann (Hrsg.), Was tun wir hier (wie Anm.57), 72. 119 Konzise zur Feldpostzensur: Benjamin Ziemann, Feldpostbriefe und ihre Zensur in den zwei Weltkriegen, in: Nobert Abels/Klaus Beyrer (Hrsg.), Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation. 2.Aufl. Heidelberg 1997, 163–171. 120 Bernd Ulrich pointierte: „Inhalt und Masse der Kommunikation zwischen Front und Heimat und ihre mehr als ambivalenten Deutungspotentiale waren weder mit reichlich publizierten Appellen an das nationale Verantwortungsgefühl der Briefschreiber noch mit Zensurmaßnahmen wirkungsvoll in den Griff zu bekommen“; Bernd Ulrich, Feldpostbriefe des Ersten Weltkrieges. Möglichkeiten und Grenzen einer alltagsgeschichtlichen Quelle, in: MGM 53, 1994, 73–83, 81. Vgl. zu einer Zusammenschau von Erstem und Zweitem Weltkrieg auch die Beiträge in: Veit Didczuneit/Jens Ebert/Thomas Jander (Hrsg.), Schreiben im Krieg – Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege. Essen 2011. 121 Anna an Lorenz, 19.01.1916, in: Gudehus-Schomerus/Recker/Riverein (Hrsg.), Einmal muß doch (wie Anm.46), Nr.296. 122 Lorenz an Anna, 23.01.1916, in: ebd.Nr.301.
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Ehepartner unverblümter, ja drastischer über das Thema Sex, sondern die Töchter erzählten ihren Vätern auch offen von ihrem ersten Freund („Hier haben Franz-Josef und ich Freundschaft geschlossen. [...] Aber mit der Freundschaft ist nach drei Tagen schon wieder Schluss geworden. Ich habe Schluss gemacht.“ 123) oder Söhne sogar von homophilen Handlungen: „Max Kasse war mal bei mir [...] und dann hat Max gesagt, Richard tuste mal deine Zunge an meine und da habe ich nein gesagt. Aber da hat er mich gezwungen, er hat meine Backen zusammen gekniffen, dass die Zunge rausguckt.“ 124 Ältere Töchter schrieben ungeschminkt von ihren schwierigen Beziehungsverhältnissen: „Du fragst, ob ich schon wieder einen neuen Freund habe: nein, ich will auch keinen wieder haben. Und ob ich mit Karl gesprochen habe, na klar, er hat mir ja geschrieben, ob wir uns nicht mal wiedersehen könnten. […] Ich habe aber zu ihm gesagt, daß es kein[en] Zweck hätte, daß wir uns schreiben und überhaupt mal wieder treffen könnten. Da[ß] ich ein Kind habe, habe ich nicht gesagt, denn das werden andere wohl schon ausgerichtet haben.“ 125
IV. Erziehung Sicherlich war für viele Kinder die Mutter die wesentliche Bezugsperson in Erziehungsfragen. Nicht wenige Väter gerierten sich gleichwohl auch in Abwesenheit als Erzieher. Erziehungs- und Ausbildungsfragen bildeten einen zentralen Bestandteil der elterlichen Kommunikation. Die Eltern tauschten sich über die Notwendigkeit aus, ob ihre Tochter oder ihr Sohn einen Kindergarten besuchen sollte. 126 Väter wurden häufig geflissentlich über die Schulleistungen der Kinder informiert. Lehrergespräche wurden genauso rapportiert wie Zeugnisinhalte. Der Vater fragte nach bestimmten Lehrern und Vorfällen in der Schule. Eltern diskutierten die Berufspläne ihrer Kinder. Sie machten sich Gedanken über die adäquate Kleidung ihrer Kinder, über Art und Umfang von Geburtstags- und Weihnachtsgeschenken oder darüber, dass der Sohn mit dem Rauchen anfangen könne. Einige Frauen zögerten nicht,
123 Edith an ihren Vater, 02.07.1944, in: Lange/Burkard (Hrsg.), Abends (wie Anm.61), 203f. 124 Richard an seinen Vater, o. D., in: ebd.227. 125 Irmgard an ihren Vater, 05.01.1945, in: Jörg Echternkamp, Kriegsschauplatz Deutschland 1945. Leben in Angst – Hoffnung auf Frieden. Feldpost aus der Heimat von der Front. Paderborn u.a. 2006, 119. 126 Helmut Nick, 28.11.1940 (KB, 3.2002.0274).
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Schwierigkeiten mit den Kindern offenzulegen, kindliche Widerspenstigkeit war ebenso ein Thema wie ständiges Lügen. Umgekehrt scheuten sich Männer nicht, auch Fragen der Säuglingspflege im Allgemeinen und des Stillens im Besonderen anzusprechen. 127 In gläubigen Familien war den Eltern die religiöse Erziehung ein besonderes Anliegen, sollte die Kirche regelmäßig besucht, aus der Bibel vorgelesen und gemeinschaftlich gebetet werden. Väter ließen sich zu Taufe, Kommunion oder Konfirmation aus. Die kindadressierte Feldpost der Soldaten ist durchzogen von erzieherischen Ratschlägen. Geradezu topoihaft findet sich dabei das Postulat „Sei mir recht brav und lerne fleißig“ 128. Dieser beständig formulierte Appell bezog sich im Wesentlichen auf drei Ebenen: 1. Beistand der Mutter und Einsatz für die Familie. Immer wieder mahnte der Vater, der Mutter Unterstützung zuteilwerden zu lassen. In diesem Kontext kumulieren entweder Imperative und Finalkonstruktionen: „Seid recht fleißig und vergnügt, damit ihr Mutti recht viel Freude macht“ 129; „Nun wirst Du bald 8 Jahre alt, und ich hoffe, dass Du so langsam auch der Mutter hilfst bei der Arbeit“ 130; „mußt Mutter trösten und aufheitern jetzt, wo sie so einsam ist und immer an Vater denkt“ 131. Oder der Appell wird indirekt über scheinbare Deklarativsätze formuliert: „Ihr werdet wohl wieder fleißig unserer lieben Mutter behilflich sein“ 132; „Mutti wird sich sicher auch sehr gefreut haben, dass Ihr Euch in der Schule Mühe gegeben habt“ 133; „Du hast sicherlich in den Tagen nach dem Angriff auch Deine Arbeitskraft zur Verfügung gestellt“ 134. In besonderer Verantwortung sahen die Väter ihre ältesten Kinder, vorzugsweise ihre Söhne. Sie figurierten oftmals als Vatersurrogat, ja einige Soldaten formulierten eine offiziöse Nachfolgeregelung: „Ein Gedanke macht mir den schrecklichen Gang leichter, und das ist der, daß ich weiß, daß Du mich bald vertreten kannst. […] Du kannst mich wirklich
127 Julius Lauth an seine Ehefrau, 14.06.1915 (KB, 3.2012.1801). 128 Welles, Der verblasste Krieg (wie Anm.53), 28. 129 Geert an Jürgen Westphal, 22.09.1940, in: Westphal/Westphal (Hrsg.), Feldpostbriefe (wie Anm.64), 25. 130 Der Vater an Oskar, 10.03.1945, zit. n. Dörr, „Der Krieg hat uns geprägt“ (wie Anm.4), 119. 131 Julius Lauth an seine Ehefrau, 09.07.1915 (KB, 3.2012.1801). 132 Geert an Jürgen Westphal, 22.09.1940, in: Westphal/Westphal (Hrsg.), Feldpostbriefe (wie Anm.64), 25. 133 Geert an Jürgen Westphal, 24.03.1941, in: ebd.31. 134 Der Vater an Detlev, 30.12.1944, in: Lange/Burkard (Hrsg.), Abends (wie Anm.61), 121.
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nicht besser in Ehren halten als daß Du, gleich mir, für Deine Mutter und Deine noch so hilfsbedürftigen Geschwister sorgst.“ 135
2. Allgemeine Verhaltensregeln. Etliche Väter lobten ein gewissenhaftes Sparverhalten, gaben Hinweise für eine adäquate Fahrradreparatur, Ratschläge in Sachen ordentliche Tischsitten, erläuterten, warum man „stets [s]eine Sachen in Ordnung bis ins Kleinste“ halten sollte 136 und gemahnten zu einer gewissen Eigenständigkeit in Haushaltsangelegenheiten. Geflissentlich inszenierten sie sich selbst als Leitfigur: „Stopfst du auch weiter die Strümpfe? Ich mache es hier auch […].“ 137 Beständig findet sich vor allem, aber nicht nur in Briefen aus dem Zweiten Weltkrieg die Mahnung, sich bei Fliegerangriffen in einen Luftschutzraum zu begeben. Immer wieder gaben Väter bei Krankheit des Kindes konkrete Hinweise: „Erstens: darfst du jetzt nicht viel lesen, […] Zweitens: mußt du tüchtig essen und viel Milch trinken. […] Du mußt immer denken: ich will groß und kräftig werden […].“ 138 Einige Väter mühten sich auf höherer Ebene Lebenshilfe zu geben und intendierten, den moralischen Kompass zumal ihrer älteren Kinder zu justieren. Dies begann bei der Bestärkung von fürsorglichem Verhalten für Haus- und Nutztiere („Ich bin stolz auf meine kleine Magd, denn sie ist wohl eine kleine Magd, wenn sie alle Tage mit ihrer Kiepe Futter holt und für ihr Kälbchen sorgt“ 139) und endete in der Formulierung von sittlichen Imperativen: „Du musst Dir allmählich angewöhnen, Dir stets über die Tragweite und die Folgen Deines Tuns und Handelns klar zu werden und dafür ein zu stehen, das heißt die Verantwortung selbst zu übernehmen […]. Vor allem, wenn Dich jemand zum Bösen überreden will, oder eine Versuchung lockt, so höre auf Dein Gewissen. Bist du einmal im Zweifel was Du tun sollst, so frage Dich, was würden Vater und Mutti dazu sagen.“ 140
Gläubige Väter hielten ihre Kinder an, den regelmäßigen Kirchgang und das tägliche Gebet nicht zu vergessen.
135 Robert Pöhland an seinen Sohn, 17.10.1916, in: Kachulle (Hrsg.), Die Pöhlands (wie Anm.43), 225f. 136 Der Vater an Detlef, 18.02.1945, in: Lange/Burkard (Hrsg.), Abends (wie Anm.61), 128. 137 Der Vater an Richard, 16.12.1943, in: ebd.247. 138 August Stark an seine Tochter, 21.02.1915, in: Hemmerich, Heute nach vorn (wie Anm.79), 241. 139 Otto Gasse an seine Ehefrau, 08.06.1942, in: Schumann (Hrsg.), Was tun wir hier (wie Anm.57), 192. 140 Geert an Jürgen Westphal, 21.11.1941, in: Westphal/Westphal (Hrsg.), Feldpostbriefe (wie Anm.64), 63.
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3. Bildung der Kinder. Sinnfälligerweise bat der Vater bisweilen sein Kind, mehr über die Schule zu schreiben, weil die Mutter „ganz selten eine von mir gestellte Frage“ beantwortete. 141 Der Vater hielt die Kinder beständig zum Bildungsfleiß an. Er tat dies zunächst mittelbar, indem er etwa seine Freude darüber zum Ausdruck brachte, „dass die Schule nun endlich wieder angefangen hat“. 142 Sodann wählte er das Mittel der positiven Bestärkung, machte sein Wohlwollen über gute Noten deutlich, häufig mit Geld oder einem Geschenk. Bisweilen verwies er darauf, wie sehr seine Bildungsund speziell seine Sprachkenntnisse ihm im Krieg halfen. 143 Oft paarte sich Konzilianz mit Nachdrücklichkeit: „Dass die eine Englischarbeit missglückt ist, kann ja einmal vorkommen. Die Hauptsache ist, dass Du diese dann beim nächsten Mal ausgleichst durch eine gute Arbeit.“ 144 Einige Väter gaben sich jedoch ungeschminkt und es kam vor, dass sie auch nicht vor der für viele Kinder ultimativen Drohung zurückschreckten: „Wenn er nicht besser lernt, dann komme ich nicht nach Hause!“ 145 Viele Soldaten beließen es nicht bei rhetorischen Mitteln und suchten eine aktive Rolle in der Bildungsarbeit zu spielen. Sie machten ihren Kindern Lektürevorschläge, überprüften die kindlichen Briefe im Hinblick auf ihre Rechtschreibung, ließen sich Aufsätze der Kinder zur Korrektur schicken, sendeten ausgebesserte Zeichnungen zurück, tauschten sich über Grammatik und Vokabeln aus, stellten ihren Kindern Aufgaben, mitunter curriculumbezogen, mitunter aus der eigenen Alltagswelt gewonnen. 146 Einige Väter diskutierten mit ihren Kindern deren Berufsaussichten. Im Ganzen ist die Rolle des abwesenden Vaters als Erzieher vermutlich nicht gering zu schätzen, indes auch nicht zu überhöhen. Die Haupterziehungsarbeit leisteten in jedem Fall die Mütter, in großbürgerlichen Familien ergänzt durch Kinder-
141 Robert Pöhland an seine Tochter, 08.07.1916, in: Kachulle (Hrsg.), Die Pöhlands (wie Anm.43), 158. 142 Ebd. 143 Arthur Gomma an seine Tochter, 15.07.1916, in: Ebert (Hrsg.), Vom Augusterlebnis (wie Anm.54), 158. 144 Geert an Dirck Westphal, 24.11.1941, in: Westphal/Westphal (Hrsg.), Feldpostbriefe (wie Anm.64), 64. 145 Welles, Der verblasste Krieg (wie Anm.53), 113f. 146 Ein Soldat schrieb aus Russland: „Es ist 5.30 Uhr. Draußen ist es noch dunkel. Es wird jetzt morgens um 6 Uhr hell und abends um 18 Uhr dunkel. Die Tag- und Nachtgleiche stimmte genau. […] Bei uns [zu Hause] habe ich immer festgestellt, dass in diesem Fall Theorie und Praxis nicht übereinstimmen. Hier zeigt die Theorie sich als richtig! Woran liegt das?“ Geert an Dirck Westphal, 23.10.1941, in: Westphal/ Westphal (Hrsg.), Feldpostbriefe (wie Anm.64), 54.
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mädchen, und vereinzelt ließen die Frauen das zumindest partiell Pseudohafte des väterlichen Erziehungsanspruchs auch evident werden. Eine Frau schrieb z.B. an ihren Mann: „Du freust Dich über Margots fehlerfreie Schrift. [Aber] ich schreibe es ihr doch vor, und dann schreibt sie oft nicht richtig ab, und ich muss zum Radiergummi greifen.“ 147 Gleichwohl scheint – im Spiegel der von uns untersuchten Selbstzeugnisse – das väterliche Verhalten im Krieg nur bedingt vereinbar mit den Thesen der Bürgertumsforschung, die davon ausgeht, dass die Familie für den Mann nur einen ‚Nebenschauplatz‘ bedeutete. 148 Einige Frauen litten nicht zuletzt deshalb an der Abwesenheit des Mannes, weil sie glaubten, „daß die nur mütterliche Erziehung nicht recht ausreichend ist“. 149 In Briefen bekundeten sie immer wieder ihr Interesse an ‚Fingerzeigen‘ des Mannes. Einige Väter waren sich der Grenzen ihrer Erziehungstätigkeit bewusst, gingen offen damit um und bestärkten ihre Frauen in ihrem Tun. Ein Mann schrieb seiner Frau im Jahre 1915: „Du weisst mein Lieb wie glücklich ich bin, eine Frau zu haben, die es gerade viel besser versteht als das Gros der anderen sich mit den Kindern abzugeben und sie zu erziehen, wie wir es für das richtige halten“. 150 Politische Erziehung spielte nach Meinung der einschlägigen Forschungsliteratur kaum eine Rolle. Die Aussagen der von uns befragten Zeitzeugen bestätigen dies. Gleichwohl ist sie evident – in Sonderheit gegenüber etwas älteren Kindern – sei es, dass im Ersten Weltkrieg Väter insistierten, „daß unsere Jugend garnicht früh genug sich mit Politik beschäftigen kann“ 151, und von der Front entsprechende politische Literatur empfahlen, sei es, dass Feldpost zum eindrücklichen Mediator von ‚Antikriegsstimmung‘ avancierte („Wir müssen uns hier totschießen lassen, um die Geldsäcke der Reichen zu füllen.“ 152), sei es, dass sich Väter im Zweiten Weltkrieg gegen die Kriegs- und ‚Untermenschen‘-Propaganda äußerten 153 oder – was deutlich häufiger vorkam – den Kindern gegenüber Stolz darüber zum Ausdruck brachten, „daß 147 Minna Gasse an ihren Ehemann, 13.01.1944, in: Schumann (Hrsg.), Was tun wir hier (wie Anm.57), 243. 148 Gunilla-Friederike Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1918. Göttingen 1994, 151. 149 Anna an Lorenz, 22.06.1915, in: Gudehus-Schomerus/Recker/Riverein (Hrsg.), Einmal muß doch (wie Anm.46), Nr.204. 150 Lorenz an Anna, 11.09.1915, in: ebd.Nr.372. 151 Robert Pöhland an seine Frau, 07.11.1915, in: Kachulle (Hrsg.), Die Pöhlands (wie Anm.43), 59. 152 Robert Pöhland an seine Tochter, 01.07.1916, in: ebd.153. 153 Vgl. etwa die Äußerungen von Egberts Vater, in: Lange/Burkard (Hrsg.), Abends (wie Anm.61), 60ff.
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wir Euch bis jetzt von den Greueln des Bolschewismus bewahrt haben“ 154, ihre Kinder zum Anhören der Führerreden ermunterten oder Freude darüber bekundeten, dass diese „gerade in der jetzigen Zeit“ der Hitler-Jugend beigetreten seien 155. Es gab Väter, die ihre Tochter zum Erlernen des Englischen anhielten, damit sie vorbereitet sei, wenn Deutschland Kolonien zugesprochen würden. 156 Der Leistungsappell war oftmals nationalsozialistisch codiert, der Gedanke der Formationserziehung wurde in diesem Sinne hochgehalten: „Wer nichts leistet, ist weder ein guter Deutscher noch ein guter Nationalsozialist, sondern ein Drückeberger […]. Ich weiß, es wird heute auch außerhalb der Schule viel von euch verlangt, aber das ist gerade eure Ehre, daß ihr weder in Schule (oder Beruf) noch in der Jugendgruppe versagt, sondern auf beiden Plätzen Tüchtiges leistet.“ 157
Im Regelfall kamen die Kinder den Erziehungsvorstellungen der Eltern unwidersprochen und/oder sogar gerne nach. Dies betraf die Schulwahl und den Besuch eines Sportvereins ebenso wie das Erlernen eines Musikinstruments oder die Lektüre bestimmter Bücher. 158 Ausdrücklich fragten Kinder nach der Meinung des Vaters zum Thema einer Studienarbeit 159 oder wie viele Klappen Stroh die Familie für den Winter benötige 160. Für gewöhnlich erlebten die Kinder in diesem Kontext jeweils ein Elternteil als das strengere, wobei es sich hier um Vater oder Mutter handeln konnte. So wandte sich beispielsweise ein Mädchen – mit Erfolg – an den abwesenden Vater, weil ihr die Mutter nicht erlaubt hatte, sich die Zöpfe abschneiden zu lassen. 161 In politischer Hinsicht sind in der Regel keine Differenzen zwischen Eltern und Kindern zu konstatieren. In der Eltern-Kind-Kommunikation schienen solche zum Unsag154 Karl Dercks an seine Familie, Kriegsweihnacht 1942, in: Ebert (Hrsg.), Feldpostbriefe (wie Anm.80), 219. 155 Geert an Jürgen Westphal, 02.07.1940, in: Westphal/Westphal (Hrsg.), Feldpostbriefe (wie Anm.64), 24. 156 Der Vater an Rosemarie, 11.01.1940, in: Lange/Burkard (Hrsg.), Abends (wie Anm.61), 36. 157 Der Vater an Liese, 05.10.1939, in: ebd.25. 158 ZzG mit Rosemarie M. vom 24.10.2014; ZzG mit Karl-Heinz F. (geb. 1929, aufgewachsen in Püttlingen) vom 23.10.2014, durchgeführt v. Kathrin Kiefer; ZzG mit Dietrich F. (geb. 1927, aufgewachsen in Coswig) vom 24.11.2014, durchgeführt v.Julia Brandts. 159 Dirck an Geert Westphal, 29.07.1942, in: Westphal/Westphal (Hrsg.), Feldpostbriefe (wie Anm.64), 102. 160 Ebd. 161 ZzG mit Annemie H. (geb. 1931, aufgewachsen in Wissen und Köln) vom 17.11.2014, durchgeführt v. Julia Brandts.
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baren zu gehören. Wenn der Vater zum Hören der Führerrede aufforderte, dann gab sich die Tochter begeistert: „Das war einmal wieder richtig unser Führer […]. Er war wieder ganz großartig. Ich habe mitgeschrien vor Freude.“ 162 Kinder schwärmten ihrem Vater vom neuen Lehrer vor: „Unser Professor ist überhaupt so lustig und ein echter Nationalsozialist.“ 163 Sie freuten sich mit dem Vater, „dass die Russen Dresche kriegen“. 164 Eine eindrucksvolle Ausnahme ist in der Edition „Abends, wenn wir essen, fehlt uns immer einer“ dokumentiert. Der Teenager Egbert gerierte sich als überzeugter Nationalsozialist, schmähte die Lektürevorschläge des Vaters und stritt sich mit ihm ausführlich über den Wunsch, aus der Kirche auszutreten. Der Vater ärgerte sich darüber, dass er dem Sohn in der Vergangenheit „weltanschaulichen Unterricht“ erlaubt habe und forderte – vergeblich –, dass Egbert keine politische Stelle annehme. Der Sohn meldete sich freiwillig zur Waffen-SS. 165 Phänomenologisch gab es kaum Unterschiede zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg. Indes lässt sich für die Zeit zwischen 1939 und 1945 eine stärkere Polarität konstatieren: Weitaus öfter als im Ersten Weltkrieg delegierte der absente Vater entweder den Bereich Erziehung, indem er ihn beschwieg, oder er nahm reichlich und emphatisch Anteil. Deutlich klarer als im Ersten Weltkrieg ist die Sprache verhärtet, imaginieren die Eltern und zumal die Väter Erziehung als Bekämpfung von Verweichlichung. Gemäß der zuletzt von Barbara Stambolis beschriebenen „janusköpfigen Zeitheimat der Kinder des Ersten Weltkrieges“ 166 paarten sich zwischen 1914 und 1918 Forderungen nach Pflichterfüllung häufig mit Empathie. Eltern legten nicht nur großen Wert auf die Leistungen der Kinder, sondern auch darauf, wie sich die Kinder in der Schule fühlten, wie es ihnen mit Lehrern und Mitschülern erging. Entsprechende Befindlichkeiten sprachen die Männer offen an: „Muß sich ein Kind denn nicht gekränkt fühlen, wenn von ihm mehr verlangt wird, als es zu geben im Stande ist?“ 167 Im Zweiten Weltkrieg ist diese Ambivalenz ungleich weniger vorhanden. Bisweilen wurde einem regelrechten Härtekult gehuldigt, sollte die Familie zu einer „Festung“ werden 168, wurde das „Sei mir recht brav und lerne fleißig“ inter-
162 Liese an ihren Vater, 05.09.1939, in: Lange/Burkard (Hrsg.), Abends (wie Anm.61), 18. 163 Rosemarie an ihren Vater, 30.01.1940, in: ebd.42. 164 Zit. n. Dörr, „Der Krieg hat uns geprägt“ (wie Anm.4), 123. 165 Vgl. Briefwechsel Egbert mit seinem Vater, in: Lange/Burkard (Hrsg.), Abends (wie Anm.61), 62ff. 166 Stambolis, Aufgewachsen (wie Anm.2), 17ff. 167 Robert Pöhland an seinen Sohn, 11.07.1916, in: Kachulle (Hrsg.), Die Pöhlands (wie Anm.43), 162. 168 Friedrich Spemann an seine Ehefrau, 01.09.1939 (KB, 3.2002.7135).
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pretiert als „Bleib frisch und tüchtig“ 169. Väter riefen zu „frischem Mut“ auf 170, mahnten ihre Kinder, „die schöne freie Zeit nicht zu vertrödeln“, „keinen Quatsch zu schmökern“ und jeden Tag Sport zu treiben 171. Die Frauen sollten Acht geben, ihre Kinder nicht zu verwöhnen, sondern sie „zu Kämpfernaturen erziehen, damit sie niemals durch irgend einen Schicksalsschlag weich werden sondern sich stets im Lebenskampf behaupten“. 172 Ein Vater mahnte seine Ehefrau in paradigmatischer Weise: „Lass sie nur viel ins Freie, immer wieder: Abhärtung. Das spürt der Mensch sein Leben lang. Hart gegen sich selbst und auch hart gegen andere sollen sie werden, anders ist ein Dasein nicht mehr viel wert heute.“ 173 Miriam Gebhardt hat diese Haltung in einem anderen Zusammenhang als durchaus neue Entwicklung der 1930erJahre beschrieben und sie mit dem Postulat der „Lebensbemeisterung“ umschrieben. 174 Die Kinder sollten lernen, dass es in der Welt nicht um Bedürfnisbefriedigung, sondern um die Beherrschung der eigenen körperlichen und emotionalen Bedürfnisse zum Zwecke der Immunisierung gegen die Härten des Lebens gehe.
V. Schlussbetrachtung In weiten Teilen kann unsere vorläufige Zusammenschau das bestätigen, was bisher separiert zum Ersten und Zweiten Weltkrieg geschrieben wurde; die Diskontinuitäten sollten aber nicht übersehen werden: Die Abwesenheit des Vaters bedingte, dass die kindliche Lebenswelt des Kriegsalltags zu großen Teilen mütterlich bestimmt war. Die Kinder erlebten die Mutter in mannigfaltigen Rollen inklusive der Agentin bzw. verhinderten Agentin der Kriegspropaganda. Die Mutter wurde für ihre Rolle bewundert oder gefürchtet, wobei die kindliche Perzeption dies für den Zweiten Weltkrieg in erster Linie mit ihrer ‚eisernen Disziplin‘ begründete, während sich das Mutterbild für den Ersten Weltkrieg ambivalenter gestaltete. Die herausragende Bedeutung der Feldpost für das ‚emotional survival‘ von Familien steht
169 Der Vater an Liese, 22.09.1939, in: Lange/Burkard (Hrsg.), Abends (wie Anm.61), 23. 170 Der Vater an Detlev und seine Schwester, 2. Weihnachtsfeiertag 1944, in: ebd.118. 171 Der Vater an Liese, 10.09.1939, in: ebd.19f. 172 Hans-Joachim S. an seine Frau, 16.10.1944 (KB, 3.2002.1214). 173 Alfons L., zit. n. Dörr, „Der Krieg hat uns geprägt“ (wie Anm.4), 122. 174 Miriam Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20.Jahrhundert. München 2009, 91ff.
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im Hinblick auf beide Weltkriege außer Frage. Das Miteinanderreden fiel bei allen nötigen Differenzierungen durchaus intensiv aus. Gefühle wie Einsamkeit, Sehnsucht und Angst wurden artikuliert und diskursiv aufgegriffen. Das Spezifikum des Ersten Weltkrieges liegt abermals in den Nuancierungen: Weitaus häufiger finden wir das Eingeständnis von Schwäche und eigener Fehler sowie die Fähigkeit zur Selbstkritik. Eine Eigenart des Zweiten Weltkrieges liegt im freieren Sprechen über Liebesbeziehungen; hier werden die umstrittenen Erkenntnisse Dagmar Herzogs zur relativen sexuellen Liberalität des Nationalsozialismus 175 im Hinblick auf die Eltern-Kind-Beziehungen bestätigt. Auch der absente Vater trat nicht selten als Erzieher auf. Sein Anspruch zielte auf den Beistand der Mutter, allgemeine Verhaltensregeln, die Bildung der Kinder und auch – was bisher etwas zu gering geachtet wurde – die politische Sozialisation. Gerade auf letzterem Gebiet vermochte der Vater im Regelfall zu reüssieren. Zweifelsohne konnte er insgesamt seine Erzieherrolle nur bedingt einlösen, jedoch sollte vielleicht – auch mit Blick auf neuere Forschungen zum adeligen Männlichkeitsbild 176 – die bürgertumsfixierte Historiografie der Erziehung ihre klaren Geschlechtszuweisungen überdenken. Zuletzt zeigt sich auch beim Blick auf die Dimension der Erziehung wieder, dass zwischen den beiden Weltkriegen ein signifikanter Verhärtungsprozess stattgefunden hat. Dieser Verhärtungsprozess mahnt – so meinen wir – zu Differenzierungen im ‚Eisernen Zeitalter‘ und sollte in Zukunft genauer, sozial differenzierend und auch transnational, in Augenschein genommen werden.
175 Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. München 2005. Zu einer kritischen Sicht: Sven Reichardt, Rezension zu: Herzog, Dagmar: Sex After Fascism. Memory and Morality in Twentieth-Century Germany. Princeton 2005, in: H-Soz-Kult, 14.04.2006, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-6566 [15.02.2016]. 176 Markus Raasch, „Ich habe in Seinem Schlafzimmer oft Seine Hände geküsst“. Adel und Männlichkeit am Beispiel des Katholizismus, in: ders. (Hrsg.), Adeligkeit, Katholizismus, Mythos. Neue Perspektiven auf die Adelsgeschichte der Moderne. (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 15.) München 2014, 134–152.
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III. Prägungen und Erbschaften
Kindheit in ,eisernen Zeiten‘ Mentalitätsgeschichtliche und transgenerationale Aspekte von Kriegskindheiten im Ersten Weltkrieg von Barbara Stambolis
I. Forschungen zu Prägungen im 20.Jahrhundert unter dem Einfluss zweier Weltkriege Vor elf Jahren, 2005, als öffentlich breit und facettenreich an die 60. Wiederkehr des Kriegsendes 1945 erinnert wurde, steuerte das wissenschaftliche und mediale Interesse an Kriegskindheiten im Zweiten Weltkrieg und ihren Folgen einem ersten Höhepunkt zu. Historiker und Historikerinnen betraten damals insofern zumeist Neuland, als sie – im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus den ‚Psychowissenschaften‘ – den Blick auf kriegsbedingte psychische Belastungen und Beeinträchtigungen von Menschen geworfen haben, die zwischen 1930 und 1945 geboren waren und den Zweiten Weltkrieg als Kinder und Jugendliche erlebt hatten. Sie hatten zwar langjährige methodische Erfahrungen mit alltagsgeschichtlichen Zeitzeugenprojekten, nicht jedoch in einer angemessenen professionellen Umgehensweise mit dem psychomentalen Gepäck von Menschen, die als Heranwachsende Bomben, Flucht und Hunger erlebt hatten oder die kriegsbedingt in unvollständigen Familien aufgewachsen waren, die also insgesamt gesehen unter einer unzureichenden Befriedigung primärer kindlicher Geborgenheits- und Bindungsbedürfnisse gelitten hatten. Befragungen von älteren Betroffenen, teilweise unter Einbeziehung von Kindern und Enkeln 1, führten zu Einsichten, die gängige Narrative, nach denen die Geschichte nach 1945 eine ‚Erfolgsgeschichte‘ war, als nur bedingt gültig erscheinen ließen. War, so ließ sich fragen, die Beheimatung unzähliger Flüchtlinge tatsächlich gelungen? Wie hoch war der Preis für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen 1 Barbara Stambolis, „Es hat mich niemand ins Leben geführt.“ Vaterlosigkeit und Vaterferne in weiblichen Lebensrückblicken der Kriegsgeneration, in: dies. (Hrsg.), Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten. Beiträge zu einem historischen und gesellschaftlichen Schlüsselthema. Weinheim/München 2013, 115–139; dies., „Ich weiß, ich werde alles wiedersehen. Und es wird alles ganz verwandelt sein …“. Von Heimat(en) und Heimweh in unbehausten Zeiten, in: Psychotherapie im Alter (PiA) 10, 2013, H.3, 323–333.
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10.1515/9783110469196-012
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Aufstieg durch ‚Tüchtigkeit‘ und die tatsächliche Bewältigung von Kriegsfolgen durch Leistung, Disziplin und ‚eisernen Willen‘? In den darauf folgenden Jahren entstanden bereits erste wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit der ‚Nachhaltigkeit‘ kriegsbedingter historischer Erfahrungen über mehrere Generationen im 20.Jahrhundert befassten. 2008 wurden beispielsweise in einem Sammelband ausdrücklich mentalitätsgeschichtliche und transgenerationale Aspekte von Kriegskindheiten im 20.Jahrhundert angesprochen und es wurde die Frage nach möglichen Zusammenhängen zwischen Kindheiten im Zweiten und im Ersten Weltkrieg gestellt. Einleitend heißt es in dieser Publikation wörtlich: „Die heutige historische Forschung sieht die Ursachen des Zweiten Weltkriegs im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg und seinen Auswirkungen. Eine solche Perspektive bietet sich auch für die Erforschung von Kriegskindheiten an. Die Eltern der Kriegskinder des Zweiten Weltkrieges sind ihrerseits Kriegskinder des Ersten Weltkrieges. Die Frage, was hier jeweils bewusst und unbewusst an die nächste Generation weitergegeben wurde, stellt eine Erweiterung der bisherigen Fragestellungen […] dar.“ 2
Allerdings standen dann zunächst vor allem die Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs, zwischen 1930 und 1945 geboren, sowie deren Kinder und Enkel im Mittelpunkt eines transgenerationale Fragen betreffenden Forschungsinteresses. Gegenwärtig, 2016, wird dem Gedenken an das mittlerweile 71 Jahre zurückliegende Ende des Zweiten Weltkriegs erneut große Aufmerksamkeit zuteil. Intensiver als noch vor ca. zehn Jahren werden heute – nicht zuletzt im Nachwirken des Erinnerungsbooms, den 2014 die 100. Wiederkehr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs ausgelöst hatte – Fragen an Langzeitwirkungen belastender Kindheits- und Jugenderfahrungen im 20.Jahrhundert gestellt. Nachdem Angehörige der Geburtsjahrgänge 1930 bis 1945 sich im Kreise ihrer ‚Altersgenossen‘ generationell verortet hatten 3 so-
2 Hartmut Radebold/Werner Bohleber/Jürgen Zinnecker (Hrsg.), Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. Weinheim/München 2008, 7; vgl. in diesem Band Jürgen Reulecke/Barbara Stambolis, Kindheiten und Jugendzeit im Zweiten Weltkrieg. Erfahrungen, Normen der Elterngeneration und ihre Weitergabe, 13–32. 3 Angesprochen ist hier, um es noch einmal anders zu formulieren, zum einen eine „lebensalterspezifische historische Selbstverortung von Menschen (oder Menschengruppen) im Kreise ihrer Altersgenossen“, die mit dem Begriff „Generationalität“ zu umreißen ist. Mit den Worten von Jürgen Reulecke zielt dieser „auf eine Annäherung an die subjektive Selbst- und Fremdverortung von Menschen in ihrer Zeit und deren damit verbundenen Sinnstiftungen – dies mit Blick auf die von ihnen erlebte Geschichte und die
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wie Kinder oder Enkel mit in die Diskussion um mögliche bewusste und unbewusste Auswirkungen des Krieges einbezogen worden waren, erweiterte sich schließlich die Perspektive mit Blick auf die Jahre 1914 bis 1918. Es wurde also auch ein weiter Bogen zurück zu den Kriegskindern des Ersten Weltkriegs – geboren zwischen 1900/ 02 und 1914/18 – geschlagen. Nunmehr findet also die Positionierung von Menschen ‚im Kommen und Gehen der Geschlechter‘ sowohl bei interessierten Laien als auch in der Forschung jene Beachtung, die, wie oben angesprochen, 2008 bereits als Desiderat formuliert worden war. Es handelt sich hier wissenschaftlich gesehen um das Interesse an ‚Generativität‘, d.h. der eigenen Positionierung „zwischen den Vorfahren, den Großeltern und Eltern also, und den Nachkommen, den Kindern und Enkeln“. 4 Eine ganze Reihe Angehöriger der Kriegskindergeneration des Zweiten Weltkriegs, die sich in der soeben angesprochenen Weise in die Zeit und die Geschichte des 20.Jahrhunderts stellt, steht deshalb heute, im Alter, vor einer für viele von ihnen überraschenden Einsicht. Viele stellen fest, dass sie mit ihren Kindheitserfahrungen, zu denen Hunger, die Trennung von Angehörigen, der Verlust des Vaters und älterer Geschwister und weitere Belastungen zu zählen sind, nicht alleine sind. Ihnen wurde beziehungsweise wird oft erst seit kurzem in der Beschäftigung mit der eigenen Kindheit und Jugend deutlich, dass bereits im Ersten Weltkrieg etwa der Großvater väterlicher- oder mütterlicherseits und weitere männliche Familienangehörige umgekommen waren. Auch die von Angehörigen der Kriegskindergeneration des Zweiten Weltkriegs verinnerlichte Haltung, in Grenzsituationen seelischer Einsamkeit, Verlassenheit und Angst nicht zu klagen oder zu weinen, stellt sich beim Rückblick auf die Geschichte des 20.Jahrhunderts keineswegs als generationelles Alleinstellungsmerkmal heraus. Forscherinnen und Forscher, die sich diesem wissenschaftlichen Feld zuwenden, finden ihrerseits eine Fülle von Anhaltspunkten dafür, dass die Generation der Kriegskinder des Ersten wie die des Zweiten Weltkriegs zu funktionieren, ‚tapfer‘ zu sein und sich ‚durchzubeißen‘ hatte und dass Ersteren ebenso wie Letzteren oft „BeKontexte, die sie umgeben, die sie wahrnehmen und in denen sie ihre Erfahrungen machen.“ Jürgen Reulecke, Einführung: Lebensgeschichten des 20.Jahrhunderts – im „Generationencontainer“?, in: ders. (Hrsg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20.Jahrhundert. München 2003, VII–XVI, VIII. 4 Jürgen Reulecke, „Vaterlose Söhne“ in einer „vaterlosen Gesellschaft“. Die Bundesrepublik nach 1945, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Vaterlosigkeit – Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee. Frankfurt am Main 2009, 142–159, 142.
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schützer ihrer kindlichen Seelen“ gefehlt hatten. 5 Bislang enthielten auch geschichtswissenschaftliche Untersuchungen zur Zwischenkriegszeit insgesamt gesehen nur wenige Anhaltspunkte, geschweige denn ausführliche Darlegungen dazu, wie sich das Leben von Angehörigen der Kriegskindergeneration des Ersten Weltkriegs gestaltet hatte, was sie empfunden hatten und welche ‚Geheimspuren‘ sich in der Folge für die Geschichte des 20.Jahrhunderts ergeben könnten. Verstärkt stellte sich deshalb die Frage nach geeigneten Quellen, die in dieser Hinsicht in einigen Aspekten zumindest Aufschluss ermöglichen. Gesichtet wurde für die folgenden Ausführungen vor allem medizinische – nicht zuletzt auch pädiatrische –, psychologische, sozial- und heilpädagogische Fachliteratur; nachgegangen wurde daneben Experten und Netzwerken, die im Laufe des 20.Jahrhunderts wissenschaftlich und berufspraktisch das ‚Wohl‘ von Kindern und Heranwachsenden, d.h. deren Bedürfnislagen und mögliche Beeinträchtigungen ihrer Entwicklungsmöglichkeiten im Blick hatten. 6 Es handelt sich um einen vorsichtigen historischen Brückenschlag zwischen Kindheits- und Jugenderfahrungen im bzw. nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, dem hoffentlich weitere, vor allem detailliertere Untersuchungen folgen werden. Dabei geht es um die Konturierung einer transgenerationalen Langzeitperspektive im Sinne eines wie auch immer im Einzelnen zu bestimmenden psychohistorischen Erbes zweier Weltkriege im 20.Jahrhundert. Es geht außerdem um die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Bedingungen des Aufwachsens nach 1918 und 1945 und den Wandel des Umgangs mit kriegsbelasteten Kindheiten im Verlauf des 20.Jahrhunderts. Der Ruf nach seelischer Abhärtung und eiserner Erziehung einerseits, das Wissen um die Schutzbedürftigkeit kindlicher Seelen andererseits standen über Jahrzehnte hinweg im 20.Jahrhundert in einem Spannungsverhältnis zueinander. Und vor allem: Diskurse und Akteure auf dem weiten Feld der Kindheits- und Jugendforschung und Jugendfürsorge setzten nach 1918 deutlich andere Akzente als nach 1945. Die Einsich-
5 Hermann Schulz, Reisen über die Schattenlinie. Vom Leben und Schreiben. Rede in der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, am 1.Juli 2011. Frankfurt am Main 2011, ohne Seitenangabe. 6 Barbara Stambolis, Aufgewachsen in „eiserner Zeit“. Kriegskinder zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise. Gießen 2014; dies., „Die Väter gingen stumm ins Feld und fielen.“ Kindheit und Jugend zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise, in: Mitteilungen des Archivs der Arbeiterjugend 1, 2014, 14–19; dies., Kindheit und Jugend in Westfalen im Ersten Weltkrieg, in: Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hrsg.), Katalog zur Ausstellung des LWL Museumsamtes ‚An der Heimatfront‘. Westfalen und Lippe im Ersten Weltkrieg. Münster 2014, 74–93.
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ten, die Experten vor 1933 über die Kriegsfolgen für Kinder und Heranwachsende gewonnen hatten, waren nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend verschüttet und mussten neu entdeckt werden, weil sich das ‚Eiserne‘ gegenüber der Erkenntnis der nachhaltigen psychischen Belastung von Kindern und Jugendlichen zeitweise massiv durchgesetzt hatte. Die Folgen dieser Entwicklung sind mindestens bis in die 1960er-Jahre nachweisbar, wie in Projekten, die sich mit ‚Menschenbildern‘ im 20.Jahrhundert befassen, vertiefend zu untersuchen sein wird. 7
II. Das „Jahrhundert des Kindes“ als ‚eiserne Zeiten‘? Die janusköpfige Zeitheimat der Kinder des Ersten Weltkriegs Weitreichende gesellschaftliche und kulturelle Umbrucherfahrungen hatten um die Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert einerseits zu einer positiven, fortschrittsoptimistischen Sicht auf die Zukunft geführt, wie nicht zuletzt eine Fülle von lebensreformerischen Initiativen belegt. Andererseits hatten Industrialisierung und Verstädterung zu spezifischen katastrophalen Lebensbedingungen weiter Teile der Bevölkerung und zu massiven Umweltbelastungen im weitesten Sinne beigetragen. Auf der einen Seite schienen Hoffnungen auf gesellschaftliche Veränderungen und wissenschaftlichen Fortschritt – nicht zuletzt zum Wohle nachwachsender Generationen – durchaus berechtigt. Licht-, Luft- und Sonne-Bäder, das Wandern in der freien Natur wurden propagiert, und Heranwachsenden wurde ein Freiraum jenseits elterlicher und schulischer Einflussnahme zugestanden. Auf der anderen Seite stand dem verbreiteten Fortschrittsoptimismus das Wissen um miserable Lebensbedingungen nicht zuletzt von Unterschichtenkindern und eine insgesamt gesehen an Disziplin und Härte ausgerichtete Erziehung gegenüber, von der ein ‚Abschied‘ wohl erst unter großen Anstrengungen und über einen längeren Zeitraum hinweg möglich war. Gleichsam wie ein unmittelbares Echo auf das im Jahre 1900 erschienene Buch der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key mit dem Titel „Das Jahrhundert des Kindes“ wirkt zum Beispiel eine Abbildung auf der Titelseite der satirischen Zeit-
7 Barbara Stambolis, Die Gilde Soziale Arbeit – Kinder- und Jugendfürsorge vor dem Hintergrund der Erfahrungen zweier Weltkriege, in: dies. (Hrsg.), Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen. Göttingen 2014, 355–374.
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schrift ‚Der wahre Jakob‘ in ihrer Neujahrsausgabe des Jahres 1900: „Das Jahrhundert gehört uns“ verkündete hier ein wohlgenährtes nacktes Kleinkind mit jakobinischer Freiheitsmütze. Es schwebte einem Engelchen gleich über den Köpfen vorwiegend alter Menschen, die die wilhelminische Gesellschaft verkörperten, darunter greise Politiker, Militärs, Richter und gekrönte Häupter. 8 Intensive Bemühungen um den ‚Nachwuchs‘, die diesem Optimismus Nahrung gaben, spiegeln sich um die Jahrhundertwende in vielfältiger Weise in Kinderschutz und Kinderforschung wider. So wurden kindliche Affekte studiert, um Entwicklungen und Bedürfnisse besser zu verstehen. Große Beachtung fand beispielsweise auch das Elterntagebuch eines psychologisch interessierten Ehepaares, das mit Freude die ersten sechs Lebensjahre ihres Sohnes Ernst-Wolfgang, genannt Bubi, minutiös dokumentierte und ihr Kind tendenziell als ‚glückliches‘, mit vielen Freiräumen und Möglichkeiten der Entfaltung in einer behüteten Umgebung beschrieb. In wissenschaftlichen wie populären Schriften wandten sich Experten in bemerkenswerter Weise seelischen Bedürfnislagen und Verfasstheiten von Heranwachsenden zu, wobei besonders die sozialen Bedingungen des Aufwachsens in Kombination mit psychischen Beeinträchtigungen in den Fokus des Interesses gerieten. 9 Auf dem weiten Feld damaliger Forschung setzten beispielsweise der führende Ernährungsphysiologe Max Rubner (1854–1932) und der bedeutende Heilpädagoge Johannes Trüper (1855–1921), Herausgeber der „Zeitschrift für Kinderforschung“ und Gründer eines Heimes für „entwicklungsgeschädigte und -gestörte Kinder“, wichtige Impulse. Sie gehörten zu denjenigen, die sich schon wenig später intensiv mit den Kriegsfolgen für das Heranwachsen von Kindern und Jugendlichen befassten und deshalb hier namentlich genannt werden. In diese Reihe von Fachleuten gehört ferner auch der Kinderarzt Leo Langstein (1876–1933), der sich nicht nur der Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit widmete, sondern darüber hinaus auf dem Gebiet der Gesundheits- und Wohlfahrtspflege Maßgebliches leistete. So beeinflusste besonders der Psychologe William Stern (1871–1938), Mitbegründer der „Deut-
8 Das Jahrhundert des Kindes und des Sozialismus, in: Der wahre Jakob, Nr.551, 2.Januar 1900, Titelseite; Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes (1902). Unveränderter Nachdruck. Weinheim/München 2000. Siehe auch für weitere Hintergrundinformationen G. Ulrich Großmann/Claudia Selheim/Barbara Stambolis (Hrsg.), Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugend zwischen Selbstbestimmung und Verführung. Katalog zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg vom 26.September 2013 bis 19.Januar 2014. Nürnberg 2013. 9 Siehe zu Einzelnachweisen: Stambolis, Aufgewachsen in „eiserner Zeit“ (wie Anm.6).
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schen Gesellschaft für Psychologie“ (DGPs) und der „Zeitschrift für angewandte Psychologie“, bereits vor dem Ersten Weltkrieg die wissenschaftliche Kinderforschung nachhaltig. Zeitgleich jedoch war allen reformpädagogischen, lebensreformerischen, medizinischen und sozialpädiatrischen Ansätzen zum Trotz in den nach wie vor verbreiteten Erziehungsgrundsätzen des Kaiserreiches viel von ‚eisernem Willen‘ die Rede. Gleichsam mit ‚eisernem Besen‘ wurde in Schule und Elternhaus für Disziplin und Ordnung gesorgt, Tugenden, unter deren rigoroser Durchsetzung die Bedürfnisse sensibler Kinder und Jugendlicher nach Schutz und Geborgenheit nicht selten in Vergessenheit gerieten. Einem Aufbruch in ein „Jahrhundert des Kindes“ standen nicht nur bedrückende soziale Verhältnisse, sondern auch Erziehungsprinzipien entgegen, die unter dem Stichwort ‚Durchgreifen mit eiserner Faust‘ zusammengefasst werden können. Insbesondere unter dem wachsenden Einfluss bevölkerungspolitischer Argumente erschien es wünschenswert, für einen starken, gesunden deutschen Nachwuchs zu sorgen, oft unter Hinweis auf Deutschlands Konkurrenzfähigkeit im Wettbewerb mit anderen Nationen. Je näher der Krieg rückte und je intensiver sich in nationalpolitisch agierenden Jugendpflegeverbänden der Gedanke der ‚Wehrertüchtigung‘ durchsetzte, umso größerer Beliebtheit erfreute sich die Devise, dass Abhärtung das beste Mittel gegen Weinerlich- und Zimperlichkeit seien. Der ‚Wille‘ schien ausschlaggebend, Zaghaftigkeit, Ängstlichkeit und Schmerz jedweder Art zu unterdrücken.
III. Kinder und Heranwachsende im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik Der Erste Weltkrieg bedeutete zwar kein Ende der soeben angerissenen Bemühungen, die Bedürfnisse fragiler kindlicher Seelen zu schützen, er brachte jedoch zugleich massive Belastungen für Kinder und Jugendliche, die in der Fachliteratur und in der sozialpsychiatrischen und heilpädagogischen Praxis durchaus gesehen, indes nicht immer angemessen aufgefangen werden konnten. Auf einer ärztlichen Fortbildungstagung im Jahre 1915 etwa gingen mehrere Referenten in ihren Vorträgen auf nervöse Krankheiten im Kindesalter ein; Spasmophilie, d.h. Verkrampfungen unterschiedlicher Art oder habituelles Erbrechen, besonders ‚Schulerbrechen‘, und nervöse ‚Anorexie‘ beschrieb beispielsweise der Kinderarzt Leo Langstein 1915 als beunru-
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higende Folge der Kriegseinwirkungen auf Kinder. Neurasthenische Kinder, die Adolf Baginsky (1843–1918), Mitbegründer der Gesellschaft für Kinderheilkunde, ebenfalls 1915, als in der Regel „hastig und zapplig in Bewegungen, psychisch zerfahren, ängstlich und unaufmerksam“ darstellte, seien „eine Plage der Lehrer und eine andauernde Angst der Eltern“. Engagiert trat u.a. auch der Jurist und Präsident des Kaiserlichen, ab 1918 des Reichs-Gesundheitsamtes Franz Bumm (1861–1942) in der Debatte um Kriegsbeeinträchtigungen für Kinder und Heranwachsende hervor. 10 Besonders intensiv beschäftigten sich Experten mit den „Kriegsneugeborenen“, eine Bezeichnung, die in der ersten Jahreshälfte 1916 mehrfach Arthur Kettner, ärztlicher Leiter einer Säuglingsfürsorgestelle in Berlin-Charlottenburg und Schularzt, in die Debatte einbrachte, der einen völlig neuen ‚lebensschwachen‘ Säuglingstyp beschrieb, der kriegsbedingt bereits als Embryo unter der Nervosität der Mutter gelitten habe. In einer Reihe von medizinischen Zeitschriften wurde das Thema bereits 1916 aufgegriffen, so in der „Zeitschrift für Säuglingsschutz“, der „Zeitschrift für Kinderforschung“, der „Berliner klinischen Wochenschrift“ und der „Münchener medizinischen Wochenschrift“. Wohlfahrtsverbände und der Verein für Schulgesundheitspflege gingen der Frage nach, ob sich ein „besonderer Typus von Kriegsneugeborenen“ nachweisen lasse, dessen „Minderwertigkeit“ Kettner „gegenüber den Friedenskindern auf die nervöse Beeinflussung der Mutter“ zurückführte. Sozialpädiatrisch ausgerichtete Experten wie Leo Langstein, Bernhard Bendix (1863–1943), leitender Arzt der Charlottenburger Säuglingsklinik, oder Arthur Schlossmann, (1867–1932), der Düsseldorfer Ordinarius für Kinderheilkunde und Leiter der ersten Kinderklinik der Stadt, beteiligten sich an dieser nur schwer zu klärenden Frage. Sie schien vor allem deswegen so alarmierend, weil aus kriegspropagandistischen Gründen der Eindruck aufrechterhalten werden sollte, für den ‚Nachwuchs‘ werde trotz des Kriegsausnahmezustandes gut gesorgt. Auch Schulärzte, Wohlfahrtspfleger und Verwaltungsbeamte untersuchten auf lokaler Ebene städtische sowie ländliche soziale Verhältnisse, in die Säuglinge hineingeboren wurden, und verglichen Säuglinge und Schulkinder, Mädchen und Jungen im Hinblick auf das Risiko, nervös zu erkranken. Leiter von Säuglingsheimen und Mitarbeiter in der HebammenAusbildung berichteten aus der Praxis. In der Folge wurde von den meisten Ärzten die Existenz eines solchen ‚Typus‘ abgestritten.
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Hier und im Folgenden siehe ebd.64–69.
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Unter denjenigen, die die kriegsbedingten Belastungen für Kinder ausdrücklich betonten, befand sich nicht zuletzt der Psychologe William Stern. Er sammelte zusammen mit weiteren Psychologen und auch Lehrern Kinderzeichnungen und -niederschriften, um der Gefühlswelt von Kindern im Krieg auf die Spur zu kommen. 11 Dass Kinder insgesamt gesehen stark verunsichert und ängstlich waren, geht aus den Zeugnissen ebenso hervor wie ihre Auseinandersetzung mit dem Tod von Angehörigen, vor allem des Vaters, älterer Brüder und weiterer Männer in ihrer Verwandtschaft. Unter den Mitarbeitern von Stern, im Zusammenwirken mit einer Breslauer Gruppe von Lehrern, die dem Bund für Schulreform angehörten, bestand weitgehende Übereinstimmung dahingehend, das „psychische Verhalten der Schuljugend“ lasse keineswegs den Schluss zu, dass sie den Krieg im Sinne von Heldengeschichten deute; vielmehr habe sie ein ausdrückliches Gespür für die massive Bedrohung und Gefährdung ihrer Lebenswelt. 12 Kindliche Gebete für den Frieden gehörten demzufolge ebenso in den seelischen Haushalt der Kriegskinder des Ersten Weltkriegs wie die Verinnerlichung von Tugenden wie Sparsamkeit sowie die Bereitschaft zu Verzicht und Opfern; sie versprachen, der Mutter eine Freude zu machen, fleißig und – wie an anderer Stelle noch zu zeigen sein wird – tapfer zu sein, also nicht zu klagen und zu weinen. In aufschlussreichen Materialien und Berichten über „Jugendliches Seelenleben und Krieg“ gibt es zudem weitere interessante Befunde und Überlegungen, die einer Neuinterpretation bedürften. So findet sich darin etwa die Befürchtung, Kinder könnten infolge des Krieges in bedrohlicher Weise gefühlsarm werden. Ein Lehrer wunderte sich etwa darüber, dass acht- bis neunjährige Jungen sachlich und ohne Anzeichen von Trauer über den Soldatentod ihrer Väter und älteren Brüder schrieben und sprachen. Ähnliches ist aus Studien über Kinder des Zweiten Weltkriegs bekannt, die traumatische Erfahrungen abgekapselt hatten, emotionslos wirkten und lediglich über Sachverhalte berichteten. 13 Kritische Beobachter vermuteten bereits gegen Ende des Ersten Weltkrieges, die Trauer um den Verlust des Vaters und die schmerzliche Sehnsucht der Kriegswaisen
11 William Stern, Jugendliches Seelenleben und Krieg. Leipzig 1915. Vgl. auch ders., Psychologie der Kindheit und des Jugendalters. Psychologische Pädagogik. Kritischer Sammelbericht, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung 3, 1910, 106–121. 12 William Stern, Jugendliches Seelenleben und Krieg. Materialien und Berichte. Unter Mitwirkung der Breslauer Ortsgruppe des Bundes für Schulreform. Leipzig 1916, III. 13 Adolphe Ferrière, Unsere Kinder die Hauptkriegsopfer. Eine seelen- und seelenheilkundliche und erzieherische Studie. Paderborn 1949, 105f.
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nach väterlicher Geborgenheit werde Narben in den kindlichen Seelen hinterlassen, die nur schwer verheilten. Weitsichtig verwiesen einige Experten bereits darauf, der Krieg werde auf jeden Fall Auswirkungen auf das ‚Seelenleben‘ Heranwachsender haben: Fleißig-aufgeweckte Schüler würden plötzlich zu Träumern, wenn vom Vater keine Nachrichten kämen und die Mutter deshalb weine. Besonders älteren Kriegswaisen werde „das verlorene eigene Kinderland“ fehlen, und zwar „lebenslang“. 14 Dieser Sichtweise standen allerdings während der Kriegsjahre massive nationalpolitische Interessen entgegen. Rigorose Zensurbestimmungen verhinderten das Bekanntwerden psychischer wie physischer Auswirkungen des Krieges auf Kinder. Die Debatte um die nervösen Kriegssäuglinge wurde aus politischen Gründen unterdrückt, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Stattdessen setzte die Kriegsund Durchhalterhetorik im Ersten Weltkrieg – nicht zuletzt auf Mütter und Kinder und ihre ‚Haltung‘ gemünzt – auf den „eisernen Willen“. 15 In ihren Tagebuchaufzeichnungen notierte eine Schülerin anlässlich ihrer Konfirmation, der Pfarrer habe darüber gesprochen, „was wohl die Gedanken der im Felde weilenden Väter und Brüder sein werden, nämlich daß eine eiserne Zeit auch eine eiserne Jugend braucht, die alle Mühen und Lasten mit eisernem Willen auf sich nimmt, daß eine harte Zeit auch einer harten Jugend bedarf, die nicht verweichliche, die sich in Selbstzucht und Selbstverleugnung übe […] alles zum Großen beitrage, daß eine Zeit wie die unsrige auch einer opferwilligen Jugend bedarf, die alles hingibt, sogar Leib und Leben im Dienste fürs Ganze“. 16
Während der gesamten Kriegsjahre wurde in kriegspropagandistischen Schriften, aber auch in Publikationen national gesinnter bürgerlicher Frauenvereinigungen vom weiblichen Geschlecht, nicht zuletzt von den Müttern eine insgesamt gesehen heroische Haltung erwartet. Im Oktober 1915 hieß es zum Beispiel in der „Feldzeitung“ in einem Gedicht bezüglich der Erwartungen an die Frauen an der Heimatfront in bezeichnender Weise: „Fröhlich sein – und im Herzen eine Wunde haben,/Stark hingehn und soviel Leid ertragen;/… Deutsche Frau! Das ist dein ‚Eisern Kreuz‘.“ 17 14
F. J. Landsberg, Können wir Kriegswaisen der Armenpflege überlassen?, in: Zeitschrift für Kinderfor-
schung unter besonderer Berücksichtigung der pädagogischen Pathologie 20, 1915, 145–152, 148. 15 16 17
Privatbesitz Waltraud Rose Reiber. Tagebuch Familie Reiber, Privatbesitz. Zit. bei Ralph Winkle, Dank des Vaterlandes. Eine Symbolgeschichte des Eisernen Kreuzes 1914 bis
1936. Essen 2007, 161f.
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IV. Zwischen Weimarer Republik und NS-Zeit Obwohl das Gewicht dieser Ausführungen nicht auf statistischen Daten und Fakten liegt, seien an dieser Stelle – wie später auch für den Zweiten Weltkrieg – einige wenige diesbezügliche Angaben als Hintergrundinformationen angeführt. Der Erste Weltkrieg hinterließ eine bis dahin nicht gekannte Masse an Gefallenen, Vermissten und Kriegsversehrten. In den Jahren 1914 bis 1918 kamen kriegsbedingt mehr als doppelt so viele Menschen ums Leben als in allen größeren Kriegen des 19.Jahrhunderts zusammen. Auf Europa bezogen dürfte die Zahl der Kinder, die infolge des Ersten Weltkriegs verwaist waren, d.h. Vater und Mutter verloren hatten, circa 6 Millionen betragen haben. Für Deutschland werden etwa 2,4 Millionen Kriegstote – etwa 19 Prozent der insgesamt 13 Millionen Soldaten – und circa 4,3 Millionen Kriegsverletzte angenommen. Hinzu kommen Hunderttausende Personen, besonders Frauen und Kinder, die an Hunger und Krankheiten starben. 18 In lokalen, nationalen und internationalen Hilfsaktionen erschienen Kinder als Hauptopfer des Krieges, für die gesammelt wurde, die verpflegt, zur Erholung verschickt und die Gegenstand von Antikriegskampagnen wurden. Die Beeinträchtigungen der Kinder und Heranwachsenden wurden in medizinischen Studien dokumentiert und politisch diskutiert. Breit angelegte gründliche Studien, in denen die Belastungen und nachhaltigen Beeinträchtigungen von Kriegskindern aus der Sicht unterschiedlicher Fachdisziplinen dargestellt wurden, lagen ab Mitte der 1920er-Jahre vor. 19 Sie wiesen nachdrücklich auf langfristige Folgewirkungen des Krieges im Sinne einer allgemeinen physischen und psychischen Schwächung ganzer Jahrgangsgruppen hin. Viele Schüler seien nach der Schulentlassung nicht in der Lage, eine Berufsausbildung zu beginnen. Bereits in der Schule seien sie zu schwach, um sich zu konzentrieren. Diese alarmierenden Befunde gälten für die Großstädte in besonderer Weise, wo jeder Lehrer solche „im Wachstum zurückgebliebenen, schmächtigen und bleichen Hungerkinder mit den mageren Armen […] und den müden Augen“ kenne, denen es so
18 Zu den Nachweisen siehe Stambolis, Aufgewachsen in „eiserner Zeit“ (wie Anm.6), 71f. 19 Vgl. Wilhelm Flitner, Der Krieg und die Jugend, in: Otto Baumgarten/Erich Foerster/Arnold Rademacher /Wilhelm Flitner (Hrsg.), Geistige und sittliche Wirkungen des Krieges in Deutschland. Stuttgart 1927, 217–356. Wieder in: Wilhelm Flitner, Gesammelte Schriften. Bd. 4: Die Pädagogische Bewegung. Beiträge – Berichte – Rückblicke. Paderborn 1987, 56–169.
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schwer falle, „in die Geheimnisse des Lesens und Schreibens einzudringen“. 20 Auf Eltern, Schulen und soziale Einrichtungen, z.B. die Arbeiterwohlfahrt kämen ernste Aufgaben zu. Als sich gegen Ende der 1920er-Jahre die Kriegskindergeneration des Ersten Weltkriegs selbst zu Wort meldete, war ihre Bilanz bitter. In dem 1931 erstmals veröffentlichten Gedicht der 1907 geborenen Dichterin Mascha Kalèko mit dem Titel „Chor der Kriegswaisen“ wird die Generation der nach 1900 Geborenen als „Kinder der eisernen Zeit“ bezeichnet. Wörtlich heißt es darin: „Kindsein das haben wir niemals gekannt – Uns sang nur der Hunger in Schlaf […] Und kam eines Tages ein Telegramm – Wenn der Vater schon lang nicht geschrieben – Dann zog sich die Mutter das ‚Schwarze‘ an, Und wir waren kriegshinterblieben […].“ 21 Der Verfasser der im Folgenden zitierten Anklage „der arbeitslosen Jugend“ war sich vermutlich der Wirkung seiner folgenden, 1931 im sozialdemokratischen „Jungbanner“ erscheinenden Sätze bewusst; er sehe „junge Menschen mit den Gesichtern wie Greise“ vor sich, „mit Gesichtern, aus denen jede Spur von Lebensmut, jugendlicher Lebensfreude verbannt ist […] 1908, 1910 kamen sie zur Welt. Wurden groß ohne die feste Erzieher-, Führerhand des Vaters – der im Felde kämpfte und litt –; ohne die Zärtlichkeit der Mutter, die auf der Jagd nach Kartoffeln, Kunsthonig und Kriegsbrot dem Hause ferngehalten war. Erlebten den Wirrwarr der Revolution – ohne ihn zu begreifen; sahen den Vater heimkehren aus Dreck und Blut – froh, wieder ein menschenwürdiges Dasein beginnen zu können. Es kam der große Taumel: Inflation. […] Neues Elend die Folge: Geldmangel überall; verminderte Kaufkraft; als Folge davon steigende Arbeitslosigkeit; Zusammenbruch Tausender von Existenzen, […] darunter Hunderttausende von Jugendlichen. […] Wie rannten doch Vater und Mutter – schon als der Junge elf, zwölf Jahre alt war – eine Lehrstelle suchend. Und dann war’s doch nichts. […] Die arbeitslose Jugend klagt an: […] Gebt ihr ihre Jugend wieder!“ 22
Noch nie hatte es in Deutschland einen so hohen Anteil von Jugendlichen gegeben. Und noch nie war der sogenannte tragende, der arbeitsfähige Bevölkerungsanteil der 14–65-Jährigen so groß gewesen. Ein entsprechendes Gedränge herrschte da20
Clara Henriques (Hrsg.), Kinderspeisung. Im Auftrage des Deutschen Zentralausschusses für die Aus-
landshilfe e.V. Weimar 1926, 37. 21
Mascha Kaléko, Chor der Kriegswaisen, in: Simplizissimus 35, 1931, 626; wieder in: Mascha Kaléko, Das
lyrische Stenogrammheft. 2.Aufl. Reinbek 2007, 90f. 22
G. Bauer, Jugend klagt an, in: Jungbanner, Beilage zum Reichsbanner Nr.10 vom 7.März 1931, ohne Sei-
tenangabe.
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her in den 1920er-Jahren auf dem Arbeitsmarkt. Diese Überfüllung des Arbeitsmarktes und vor allem die besonders schlechten Perspektiven der geradezu überflüssigen Generation der Geburtsjahrgänge um 1900 gaben dem nationalistischen Schlagwort vom ‚Volk ohne Raum‘ auf den ersten Blick eine gewisse Plausibilität. 23 ‚Die überflüssige Jugendgeneration‘ oder die ‚ausgesperrte Generation‘ sind zentrale Stichworte, mit denen vor allem ihre soziale Lage aus zeitgenössischer Sicht umschrieben wurde. Ihre Situation beim Übergang zwischen Jugend und Erwachsenwerden war infolge jahrelanger Abwesenheit der Väter, durch starke Verunsicherungen infolge der Instabilität des politischen Systems, die in 20-maligem Regierungswechsel in 14 Jahren ihren Ausdruck fand, durch wirtschaftliche Krisenerscheinungen, insbesondere eine angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt, und dies auch in den wirtschaftlich relativ stabilen Jahren der Republik nach 1924, gekennzeichnet. Hochschulabsolventen und Jugendliche, vor allem ungelernte Industriearbeiter waren auf dem Arbeitsmarkt besonders benachteiligt. Unter den Schriftstellern, die sich um 1930 einer generationellen Selbstbeschreibung widmeten und zu ähnlichen Charakterisierungen kamen, ist Frank Matzke (1903–1952) zu nennen, der mit seinem Generationsporträt unter der Überschrift „Jugend bekennt: So sind wir“ 1930 von sich reden machte. Es erfuhr noch im Erscheinungsjahr sechs Auflagen und wurde wohl nicht zuletzt deshalb so häufig kommentiert, weil hier ein 1903 Geborener das ‚Lebensgefühl‘ seiner Generation auf den Punkt zu bringen versuchte, der „Jugend zwischen 20 und 30. Des Geschlechts nach dem großen Krieg, das von ihm nur den Hunger der Heimat kannte und die geborgenen Siegesfeiern.“ Gefühlskälte, Skepsis und Misstrauen seien Kerneigenschaften der – vor allem männlichen – Kriegskinder des Ersten Weltkriegs. Sie seien hart, unerbittlich, gnadenlos und in der Lage, Väter und Großväter das Fürchten zu lehren: „Wir sind bereit, große Bünde und Verbände zu bilden, die mit Schlagkraft nach einem Ziele streben. Wir sind bereit, uns Führern unterzuordnen.“ Die nationalistische wie die kommunistische Jugend beweise bereits, wie durchsetzungskräftig die Kriegsjugend im außerparlamentarischen politischen Raum sei. 24
23 Detlev J. K. Peukert, Jugend zwischen Krieg und Krise. Lebenswelten von Arbeiterjungen in der Weimarer Republik. Köln 1987, 92. 24 Frank Matzke, Jugend bekennt: So sind wir! 4. bis 6. veränderte Aufl. Leipzig 1930, 6 und 83f. Vgl. Barbara Stambolis, Mythos Jugend. Leitbild und Krisensymptom. Ein Aspekt der politischen Kultur im 20.Jahrhundert. Schwalbach/Ts. 2003.
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Politische Sprengkraft entfalteten solche Selbstbeschreibungen der Kriegskinder des Ersten Weltkriegs in der Endphase der Weimarer Republik nicht zuletzt vor dem Hintergrund der von Wirtschaftskrise, politischer Radikalisierung im außerparlamentarischen Raum und Republikfeindlichkeit bestimmten Zeitatmosphäre, von wachsenden Erfolgen radikaler Parteien und Gruppierungen sowie schwindendem Rückhalt der staatstragenden Parteien in der Jugend.
V. Der Siegeszug „eiserner Zucht“ Mit Beginn der Herrschaft der Nationalsozialisten änderte sich die kinderärztliche Versorgung in Deutschland grundlegend. Von den 1283 im Jahre 1933 in Deutschland amtlich registrierten Kinderärzten verloren viele wegen ihrer jüdischen Herkunft sofort ihre Arbeit; in den Folgejahren war etwa die Hälfte von Ausgrenzung oder Vernichtung bedroht. Eine große Gruppe hatte sich mit der Behandlung armer Bevölkerungsschichten, der Prävention und der Betreuung von Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten aller Art befasst. Auch für eine ganze Reihe ausgewiesener Experten auf dem Gebiet der Kindheits- und Jugendforschung und vor allem der Sozialpädiatrie bedeutete das Jahr 1933 einen lebensgeschichtlichen und berufsbiografischen Einbruch. Ihnen wurde die Approbation entzogen, sie wurden verfolgt und ermordet. Der deutsch-jüdische Kinderarzt Leo Langstein nahm sich nach der ‚Machtergreifung‘ der Nationalsozialisten das Leben. Der Psychologe William Stern emigrierte in die Niederlande und dann in die USA. Der Psychologe Curt Bondy (1894–1972), der sich intensiv sozialpädagogisch engagiert und das Menschenbild zahlreicher Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen geprägt hatte, erhielt 1933 Berufsverbot aus ‚rassischen‘ Gründen und wanderte aus. Im Krankenhaus Moabit im Osten Berlins, wo in den 1920er-Jahren Waisen- und Kriegswitwenfürsorge betrieben und z.B. Jugendliche, nachdem sie ärztlich versorgt worden waren, an Beratungsstellen vermittelt wurden, stand 1933 fast das gesamte ‚nichtarische‘ Personal vor dem beruflichen Aus. „Wissenschaftlich, menschlich und in der Betreuung kranker Kinder“ kam es in Deutschland zu einem „gewaltigen Aderlass“. 25 Fortan war „Willensschwäche“ die Diagnose für ‚Devianz‘, d.h. abweichen25
Eduard Seidler, Jüdische Kinderärzte 1933–1945. Entrechtet – geflohen – ermordet. Erweiterte Neu-
aufl. Basel/Freiburg 2007, 3.
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des Verhalten. 26 Bestrafung trat an die Stelle medizinischer wie fürsorgerischer bzw. pflegerischer Maßnahmen. Psychosomatische Begründungen für Erkrankungen, wie sie der Neuropsychologe Kurt Goldstein (1879–1965) vor allem im Zusammenhang mit Kriegsneurosen vertreten hatte, verloren ihre Gültigkeit. Es sprechen also gute Gründe für eine Betonung der Zäsur des Jahres 1933; gleichwohl sind ‚eiserne Zucht‘ und ‚Willensstärke‘ Stichworte, die als erzieherische Leitmotive über politische Umbrüche hinweg in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts eine mehr oder weniger uneingeschränkte Gültigkeit besaßen. In der Jugend bestehe ein „heroisches Bedürfnis“, stellte beispielsweise der Historiker Friedrich Meinecke (1862–1954) Mitte der 1920er-Jahre fest. 27 Auf heroische Weise den Herausforderungen und Härten der Zeit zu begegnen, war ein Ideal, mit dem Heranwachsende schon in der Weimarer Republik durchaus vertraut waren. Angesprochen ist hier nicht nur die Tatsache, dass Jugendliche Abhärtung trainierten, indem sie – wie von Baldur von Schirach (1907–1974) überliefert – auf dem harten Boden schliefen oder sich anderer Härtetests, einzeln oder bevorzugt wohl auch in Gruppen, unterzogen. Entwicklungspsychologische Studien, die unter Anregung und Mitwirkung der Psychologin Charlotte Bühler (1893–1974), einer führenden Vertreterin ihres Faches, zustande kamen, gingen z.B. auch der als generationenspezifisch aufgefassten ‚heroischen Pubertät‘ bei Mädchen nach. „Das Hervortreten des heroisch Willenskräftigen“ glaubte Bühler 1932 z.B. anhand der Tagebuchaufzeichnungen einer im Jahre 1900 Geborenen (geführt zwischen dem 14. und 21. Lebensjahr) nachweisen zu können, und dies ausdrücklich im Sinne einer grundlegenden „Lebenseinstellung“. 28 Nach 1933 erschien eine Serie von Büchern, die den Krieg – in Fortsetzung der bereits in den letzten Jahren der Weimarer Republik stark anwachsenden kriegsverherrlichenden Belletristik – so darstellten, als habe es die Not der Kinder und die nachhaltigen Wirkungen auf deren Leben nicht gegeben. Zu solchen Jugendbüchern für die jugendliche Erfahrungsgruppe, die anders als die zwischen 1900/02 und 1914/18 Geborenen keine eigenen Kriegserfahrungen bzw. teilweise auch eigene Kriegserinnerungen mehr hatte, gehört z.B. Werner Beumelburgs „Eine ganze
26 Christian Pross/Rolf Winau (Hrsg.), Nicht misshandeln. Das Krankenhaus Moabit 1920–1933. Ein Zentrum jüdischer Ärzte in Berlin. 1933–1945. Verfolgung, Widerstand, Zerstörung. Berlin 1984, 131. 27 Friedrich Meinecke, Republik, Bürgertum und Jugend. Vortrag aus dem Jahre 1925, in: Georg Kotowski (Hrsg.), Friedrich Meinecke. Politische Schriften und Reden. Darmstadt 1958, 369–383, 380. 28 Charlotte Bühler (Hrsg.), Jugendtagebuch und Lebenslauf. Jena 1931, 1 und 5.
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Welt gegen uns“ und Wulf Bleys „Das Jugendbuch vom Weltkrieg“, beide 1934 erschienen. 29 Beumelburg (1899–1963), Bley (1890–1961) und andere Autoren trugen mit dazu bei, dass die nach 1918 Geborenen, die HJ- und BDM-Generation, wohl zumeist in Unkenntnis der spezifischen Erfahrungen von Kriegskindern des Ersten Weltkriegs aufwuchsen, es sei denn, diese wurden in Familien kommuniziert und weitergegeben.
VI. Vom Umgang mit ‚eisernen Zeiten‘ nach 1945 Im Zweiten Weltkrieg verloren Millionen von Menschen ihr Leben und ihre Heimat. In Europa wuchsen nach 1945 schätzungsweise 12 Millionen Kinder ohne Vater auf, in Deutschland dürfte es mit 2,5 Millionen ungefähr jedes vierte Kind gewesen sein. Die Gesamtzahl verwitweter Frauen belief sich 1946 auf rund 2,7 Millionen, 1950 auf 3 Millionen. 30 Mit rund 56 Prozent zahlenmäßig am stärksten waren unter ihnen die Frauen der Jahrgänge 1901 bis 1915 vertreten, zu denen viele Mütter der vaterlos aufwachsenden Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs gehörten. 31 In medizinischen Zeitschriften, besonders aus dem Fachgebiet der Kinderheilkunde wurde den Kriegskindern des Zweiten Weltkriegs, seien es Säuglinge, Kleinkinder oder ältere Kinder, nicht in ähnlicher Weise Aufmerksamkeit zuteil wie im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik. Eine Erklärung dafür liegt sicher darin, dass diejenigen, die sich dem Blick auf die spezifischen Kriegseinwirkungen auf Kinder und Heranwachsende gewidmet hatten, einer Altersgruppe angehörten, die bereits um 1930 aus dem Berufs- und Forschungsleben ausgeschieden war. Eine weitaus größere Gruppe hatte, wie bereits gesagt, emigrieren müssen, und ein nicht unerheblicher Teil war aufgrund ihrer deutsch-jüdischen Herkunft verfolgt oder ermordet worden. 32 Auf das „Jahrhundert des Kindes“ wurde kaum noch Bezug ge-
29
Werner Beumelburg/Wilhelm Reetz, Eine ganze Welt gegen uns. Eine Geschichte des Weltkriegs in Bil-
dern. Berlin 1934; Wulf Bley, Das Jugendbuch vom Weltkrieg. Stuttgart u.a. 1934. 30
Anna Schnädelbach, Kriegerwitwen. Lebensbewältigung zwischen Arbeit und Familie in Westdeutsch-
land nach 1945. Frankfurt am Main/New York 2009, 68. 31
Barbara Stambolis, Töchter ohne Väter. Frauen der Kriegsgeneration und ihre lebenslange Sehnsucht.
Stuttgart 2012, 75f. 32
Vgl. Sascha Topp, Geschichte als Argument in der Nachkriegsmedizin. Formen der Vergegenwärti-
gung der nationalsozialistischen Euthanasie zwischen Politisierung und Historiographie. Göttingen 2013.
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nommen, und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Gerhard Joppich (1903–1992), ein Pädiater, der „eiserne Zucht“ in der HJ durchzusetzen versucht hatte 33 und dennoch nach 1945 weiter angesehene Ämter bekleidete, 1956 in Göttingen vor Studenten eine Rede über „das Kind im Jahrhundert des Kindes“ hielt, das zu Ende gegangen sei, ohne dass sich die einst in das neue Säkulum gesetzten Hoffnungen erfüllt hätten. 34 Dennoch gab es besonders unter Sozialpädagogen manche, die entweder die Jahre des ‚Dritten Reiches‘ mehr oder weniger angepasst überlebt hatten oder nach Kriegsende nach Deutschland zurückkehrten. Sie engagierten sich erneut vor allem in der Fürsorge und konnten auf ihr Wissen über psychische Folgen des Krieges für Kinder und Familien zurückgreifen. In der Gilde ‚Soziale Arbeit‘ wurde nun der Versuch unternommen, an Erkenntnisse der Kinder- und Jugendforschung aus den ersten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts anzuknüpfen und diese in der Jugendarbeit in einer Weise umzusetzen, wie dies in der Zwischenkriegszeit nicht möglich gewesen war. 35 Es bestand die Hoffnung, den zwischen 1930 und 1945 Geborenen möge ein ‚besserer Start ins Leben‘ als den zwischen 1900 und 1918 auf die Welt Gekommenen zuteil werden. Sie wollten aus der Geschichte lernen, wie sie wiederholt versicherten, und der nachwachsenden Generation ihre ganze Aufmerksamkeit widmen. Das Verdienst dieser kleinen Gruppe von Kennern der Lebensbedingungen von Heranwachsenden nach dem Ersten Weltkrieg lag wohl in erster Linie darin, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Rückbesinnung auf eine Sichtweise kindlichen und jugendlichen Seelenlebens beitrug, die in der NS-Zeit fast verschüttet worden war. In der Regel waren es Schüler und Schülerinnen von Pionieren der Sozialpädiatrie und Jugendfürsorge der Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert, die Fragen nach Zusammenhängen von psychischen Belastungen und körperlichen Symptomen stellten, die etwa auch wussten, dass z.B. das Bettnässen bei Kindern seelische Mitursachen haben oder dass eine Abkapselung von Gefühlen und ‚seelische Erstarrung‘ aus innerer Not heraus erfolgen können. Auf diesen Fundamenten baut die interdisziplinäre Kriegskinderforschung heute zu Beginn des 21.Jahrhunderts mit auf, wohl
33 Vgl. z.B. Gerhard Joppich/Eberhard Kitzing, Das Sommerzeltlager, in: Robert Hördemann (Hrsg.), Die Gesundheitsführung der Jugend. München 1939, 332–388. 34 Gerhard Joppich, Das Kind im Jahrhundert des Kindes. Rede zur Feierlichen Immatrikulation am 24.November 1956. Göttingen 1957. 35 Vgl. Stambolis, Die Gilde Soziale Arbeit (wie Anm.7).
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zumeist, ohne die soeben skizzierten Einsichten aus der Zwischenkriegszeit und ihr teilweises ‚Revival‘ nach 1945 hinreichend einzubeziehen. Weitere Einsichten in Aspekte möglicher transgenerationaler Weitergabe kriegsbedingt belastender Erbschaften im 20.Jahrhundert sind also durchaus noch zu gewinnen. Doch es wäre dabei nicht nur nach Ausprägungen und Dauer derselben zu fragen, der longue durée deutscher Wertetraditionen von Härte, Schneid und Unerbittlichkeit, einer, wie Norbert Elias schreibt, „Idealisierung der menschlichen Härte“ und eines „Kult(s) der menschlichen Unerbittlichkeit“ beziehungsweise einer Geringschätzung des unmilitärisch Zivilen. 36 Es wären auch vergleichsweise Unterschiede zwischen den Dimensionen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs zu berücksichtigen: So hatte der Luftkrieg mit seinen Folgen für die Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg dem Ersten nicht zu vergleichende Auswirkungen. Von der nationalsozialistischen Vernichtung der Juden in Europa abgesehen, die jedem Vergleich zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg eine Grenze setzt, stellen außerdem das Ausmaß von Flucht und Vertreibung im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren nach 1945 Facetten von Kriegs- und Kriegsfolgeerfahrungen wesentliche Unterschiede dar. Ferner setzte, zumindest in Deutschland – und hier vor allem bezogen auf Westdeutschland – anders als nach 1918 ein über Jahre deutlich spürbarer wirtschaftlicher Aufschwung ein; demokratische Verhältnisse etablierten sich, und es fand allmählich ein Abschied von dem an Härte und Gehorsam ausgerichteten Erziehungsverhalten der Väter statt. Die 1960er-Jahre brachten dann auf einer breiteren Ebene einen allgemeineren Umbruch.
VII. Nachbemerkung Besonders in den 1970er-Jahren hatte es eine ganze Reihe weiterführender methodischer Impulse gegeben, die sich für diejenigen Historiker als hilfreich erwiesen, die sich nach der Jahrtausendwende auf die eingangs erwähnten interdisziplinären Kriegskinderforschungen einließen. Für einige jüngere Historiker und Doktoranden eröffnete sich in einem anregenden wissenschaftlichen Umfeld an der Ruhr-Universität zudem in den 1970er-Jahren die Möglichkeit, u.a. am Beispiel der 36
Norbert Elias, Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und
20.Jahrhundert. Frankfurt am Main 1992, 254, 256, 272.
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Weimarer Republik Generationenkonflikte unter Einbeziehung der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zu untersuchen. Sie begannen – mit angeregt von dort diskutierten Arbeiten Erik H.Eriksons, des Nestors der amerikanischen Psychohistorie, u.a. zu Hitlers Kindheit oder von den gleichfalls rezipierten, psychohistorisch bahnbrechenden Aufsätzen Peter Loewenbergs etwa zur sogenannten Nazi Youth cohort 37 – sich mit psychischen Dynamiken, seelisch prägenden Eindrücken und Erfahrungen, mit Befindlichkeiten, Belastungen, Krisen und Problemlagen von Individuen mit weitreichenden historischen Folgen auseinanderzusetzen. Loewenbergs spätere, ausdrücklich auch Kriegskindererfahrungen des Ersten Weltkriegs einbeziehende Arbeiten wurden in Deutschland in der Geschichtswissenschaft kaum beachtet. 38 Diese Ansätze blieben eher randständig, denn in den 1970er- und 1980erJahren hatte eine um 1930 geborene Altersgruppe in der Historikerzunft an den Universitäten das Sagen, die ihre Aufgabe relativ klar vor sich sah. In Abgrenzung von der Ereignis- und Politikgeschichte ihrer akademischen Väter etablierte sie die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte als eine Strukturgeschichte, in der durchaus zunächst auch mentalitäts- und alltagsgeschichtlichen Fragestellungen ein Platz eingeräumt wurde, indem sie sich den ‚Menschen als handelnden Subjekten‘ zuwandte, weniger indes der Psychohistorie. Letztere wurde bald in der deutschen Zunft kaum noch wahrgenommen, obwohl sie sich in den USA kontinuierlich weiterentwickelte. Im Rückblick hat Peter Loewenberg bei aller Würdigung der Leistungen HansUlrich Wehlers, des kämpferischen und in seiner Kritik nicht selten gnadenlosen Bielefelder Vaters der modernen deutschen Sozialgeschichte, auf den hohen „Preis seiner kritischen Polemik gegenüber der Psychohistorie für die Entwicklung historischer Forschungsmethoden und -aufgaben“ hingewiesen. Wehlers Angriff auf diese habe verhindert, „dass die jüngeren und zugleich wagemutigeren Historiker Deutschlands das historisch-psychologische Feld betraten“. Loewenberg spitzte seine Bilanz folgendermaßen zu: „Die fehlende Auseinandersetzung mit psychoanalytischem Gedankengut paralysierte das Interesse und die professionelle Kompetenz der deutschen Historiker; sie verhinderte die Wahrnehmung und Interpretation emotiona37 Eric H.Erikson, Hitler’s and German Youth, in: Psychiatry 5, 1942, 475–493; Peter Loewenberg, The Psychohistorical Origins of the Nazi Youth Cohort, in: AHR 76, 1971, 1457–1502. 38 Peter Loewenberg, Germany, the Home Front. The Physical and Psychological Consequences of Home Front Hardship, in: Hugh Cecil (Ed.), Facing Armageddon. The First World War Experienced. London 1996, 554–562.
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ler Variablen im historischen Material zum Schaden […] des historischen Verstehens auf verschiedenen Bedeutungsebenen.“ 39
Allerdings entwickelte eine Reihe von Historikern und Historikerinnen gleichsam im Windschatten der strukturgeschichtlichen Verengungen generationen- und mentalitätengeschichtliche Fragestellungen, und d.h. jenseits bzw. abseits des Mainstreams in der Historikerzunft, ihr Interesse an subjektiven Erzählungen durchschnittlicher Zeitgenossen, an Kindheits- und Jugend- und generationellen Prägungen weiter. 40 Sie richteten sich mit ihren Forschungen in keineswegs gänzlich unbeachteten Nischen der Zunft ein, vernetzten sich in produktiver Weise und entwickeln – wie es ‚transgenerationaler Weitergabe von Forschungsfragen‘ zu wünschen ist – auch derzeit wieder neue Perspektiven. 41
39
Peter Loewenberg, Emotion und Subjektivität. Desiderata der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft
aus psychoanalytischer Sicht, in: Paul Nolte/Manfred Hettling/Frank-Michael Kuhlemann/Hans-Walter Schmuhl (Hrsg.), Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte. München 2000, 58–78, 59f. 40
Vgl. u.a. Jürgen Reulecke, „... und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben!“ Jungmannschaft der
Weimarer Republik auf dem Weg in die Staatsjugend des ‚Dritten Reiches‘, in: ders., „Ich möchte einer werden so wie die ...“. Männerbünde im 20.Jahrhundert. Frankfurt am Main 2001, 129–150, 131 Anm.4.; sowie Lutz Niethammer, Sind Generationen identisch?, in: Jürgen Reulecke (Hrsg.), Generationalität und Lebensgeschichte (wie Anm.3), 1–16. 41
Die Weltkriegs2-Forschungsgruppe, 2002 gegründet, bestand nach einer Phase fester institutioneller
Verankerung noch eine gewisse Zeit informell weiter und hat sich schließlich aufgelöst. Ein gewisser Kontakt – nicht zuletzt unter Forscherinnen und Forschern, die selbst nicht mehr der Erlebensgeneration der Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs angehören, führt gegenwärtig zu neuen Vernetzungen; siehe z.B. die Konferenz „Kindheit im Zweiten Weltkrieg – eine vergleichende Perspektive“, Leipzig 12.11.2015– 14.11.2015 (Kooperation des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e.V. und des Lehrstuhls Geschichtsdidaktik am Historischen Seminar der Universität Leipzig).
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Deutsche Kriegswaisen im 20.Jahrhundert Gesellschaftliche Deutungen und individuelle Erfahrungen von Lu Seegers
I. Einleitung Als im Jahr 1902 das Buch der schwedischen Pädagogin Ellen Key mit dem Titel „Das Jahrhundert des Kindes“ in Deutschland erschien, war noch nicht abzusehen, dass das 20.Jahrhundert besonders aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen vor allem durch Familientrennungen bzw. den irreversiblen Verlust von Elternteilen gekennzeichnet sein würde. 1 Nach dem Ersten Weltkrieg gab es circa 600 000 Kriegerwitwen, mehr als 968000 Halb- und 65000 Vollwaisen. 2 Nach dem Zweiten Weltkrieg potenzierte sich das ‚Problem‘: Die 5,3 Millionen toten deutschen Soldaten hinterließen mehr als eine Million Witwen, fast 2,5 Millionen Halbwaisen und etwa 100000 Vollwaisen. 3 Tatsächlich werden die Folgen des demographischen und lebensgeschichtlichen Massenphänomens der kriegsbedingten Vaterlosigkeit für Deutschland erst seit einigen Jahren von der Geschichtswissenschaft erforscht. 4 Das ist verwunderlich, 1 Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes. Studien. 3.Aufl. Berlin 1903. 2 Die Zahl der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen in Deutschland, in: Wirtschaft und Statistik, Bd. 5, 1925, 28–30, 28. Vgl. auch Adelheid zu Castell, Die demographischen Konsequenzen des Ersten und Zweiten Weltkriegs für das Deutsche Reich, die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik Deutschland, in: Wacław Długoborski (Hrsg.), Zweiter Weltkrieg und sozialer Wandel. Achsenmächte und besetzte Länder. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 47.) Göttingen 1981, 117–137, 117. 3 Rüdiger Overmans, Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg. (Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 46.) München 1999, 316. Die offizielle Zahl der Frauen, die durch den Zweiten Weltkrieg verwitwet wurden, ist ungeklärt. 1950 soll es in Westdeutschland 890000 Kriegerwitwen gegeben haben, die Rentenzahlungen erhielten. Dazu Hester Vaizey, Surviving Hitler’s War. Family Life in Germany 1938– 1948. Basingstoke u.a. 2010, 84. Für die SBZ liegen keine Zahlen vor. Anna Schnädelbach, Kriegerwitwen. Lebensbewältigung zwischen Arbeit und Familie in Westdeutschland nach 1945. (Geschichte und Geschlechter, Bd. 52.) Frankfurt am Main/New York 2009, 69. 4 Dieter Thomä (Hrsg.), Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee. Berlin 2010; Barbara Stambolis (Hrsg.), Vaterlosigkeit in vaterlosen Zeiten. Beiträge zu einem historischen und gesellschaftlichen Schlüsselthema. Weinheim 2013.
DOI
10.1515/9783110469196-013
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zumal die kriegsbedingte Vaterlosigkeit geradezu als eine Signatur des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. Zwar gibt es eine internationale sozial- und kulturgeschichtlich inspirierte Forschung zu Tod und Trauer. 5 Allerdings spielen Erfahrungen und retrospektive Deutungen von Kindern dabei nur eine untergeordnete Rolle. Dies hat sich mit journalistischen und psychoanalytisch inspirierten Studien zur ‚Generation der Kriegskinder‘ deutlich geändert, zumal rund 95 Prozent der kriegsbedingt vaterlosen Kinder in Deutschland den Jahrgängen 1935 bis 1945 angehört haben sollen – mithin der altersbezogenen Kerngruppe, die in der Bundesrepublik unter das Label ‚Kriegskind‘ gefasst wurde. 6 Vielen Arbeiten ist jedoch gemein, dass sie aufgrund von Zeitzeugeninterviews vor allem auf die Kriegs- und Nachkriegszeit fokussieren und vor diesem Hintergrund auf nachhaltige biografische Folgen und ‚Gefühlserbschaften‘ verweisen, ohne Längsschnittanalysen vorzunehmen. Außerdem wurden gesellschaftliche Diskurse und medial vermittelte Erinnerungskulturen zum Zeitpunkt der Interviews nur wenig beachtet. 7 In diesem Beitrag geht es darum, zum einen die soziale Situation von Kriegerwitwen und Halbwaisen respektive die gesellschaftlichen Diskurse um die vaterverwaisten Kinder seit dem Ersten Weltkrieg in Deutschland darzustellen, wobei der Schwerpunkt auf der Zeit nach 1945 liegt. 8 Vor diesem Hintergrund werden zum anderen die subjektiven Erfahrungen, Wahrnehmungen und Deutungen der kriegsbedingten Vaterlosigkeit erörtert. Dazu werden 30 lebensgeschichtliche Interviews mit Männern und Frauen der Jahrgänge 1935 bis 1945 aus Ost- und Westdeutsch-
5 Paul Betts/Alon Confino/Dirk Schumann, Introduction: Dead and Twentieth Century in Germany, in: Alon Confino/Paul Betts/Dirk Schumann (Eds.), Between Mass Death and Individual Loss. New York/ Oxford 2008, 1–22, bes. 2f. Vgl. Richard Bessel/Dirk Schumann, Introduction: Violence, Normality, and the Construction of Postwar Europe, in: ders./Dirk Schumann (Eds.), Life after Death. Approaches to a Cultural and Social History of Europe during the 1940s and 1950s. Cambridge 2003, 1–13, bes. 3ff. 6 Sabine Bode, Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart 2004; Hilke Lorenz, Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation. München 2003. 7 Cornelia Staudacher, Vaterlose Töchter. Kriegskinder zwischen Freiheit und Anpassung. Zürich 2006; Gertrud Ennulat, Kriegskinder. Wie die Wunden der Vergangenheit heilen. Stuttgart 2008; Hartmut Radebold, Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit. Hilfen für Kriegskinder im Alter. Stuttgart 2005, 3.Aufl. 2009. Siehe zur psychoanalytischen Blickweise auf die „Generation der Kriegskinder“ kritisch: Michael Heinlein, Die Erfindung der Erinnerung. Deutsche Kriegskindheiten im Gedächtnis der Gegenwart. Bielefeld 2010. 8 Die folgenden Ausführungen basieren auf meiner Studie: Lu Seegers, Vati blieb im Krieg. Vaterlosigkeit als generationelle Erfahrung im 20.Jahrhundert – Deutschland und Polen. (Göttinger Studien zur Generationsforschung, Bd. 13.) Göttingen 2013.
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land mit unterschiedlichem Konfessions-, Bildungs- und sozialem Hintergrund ausgewertet. 9 Dabei sind folgende Fragen zentral: Wie erfuhren die Kinder vom Tod des Vaters? Wie sah die materielle Situation der Kinder aus und wie erlebten sie Diskriminierungen im sozialen Umfeld und/oder in der Familie? Wie wurde in den Familien über die Väter gesprochen? Welche Rolle spielte die Vaterlosigkeit im weiteren Leben der Interviewpartnerinnen und -partner? Die Interviews ermöglichen einen Zugang, um beispielhaft veränderte Familienbeziehungen nach dem Tod des Vaters, individuelle Deutungen des Verlustes sowie seine Positionierung in der familiären Erinnerung rekonstruieren zu können. 10 Dabei muss beachtet werden, dass die befragten Frauen und Männer zum Zeitpunkt der Interviews in einem Alter waren, in dem viele ihr Leben bilanzieren und nicht zuletzt in Anbetracht von Enkelkindern und ihrem eigenen Status als Großeltern ihre Kindheit neu betrachten. Zudem ist davon auszugehen, dass kindliche Erfahrungen und Deutungen der Vaterlosigkeit in den Interviews zwar durchaus artikuliert werden, diese aber durch das gesellschaftlich-politische Setting und den weiteren Lebensverlauf der Betroffenen geprägt bzw. modifiziert werden. 11
II. Deutungen der sozialen Situation von Halbwaisen nach den beiden Weltkriegen Ebenso wie die anderen kriegführenden Nationen war auch Deutschland mit einem Kriegsversehrtensystem in den Ersten Weltkrieg gegangen, das an begrenzten Todeszahlen orientiert war. Zwar erhielten aufgrund des Militärhinterbliebenengesetzes vom 17.Mai 1907 Halbwaisen bis zum 18. Lebensjahr und ihre verheirateten Mütter Renten. 12 Allerdings bemaß sich die Rentenhöhe am militärischen
9 Die Namen der Interviewpartner wurden anonymisiert. Zu Sample und Methode: Seegers, Vati (wie Anm.8), 140–143. 10 Jüdische Kinder wurden nicht befragt, weil ihre Leid- und Verfolgungsgeschichten mit den Lebensgeschichten von Kindern aus deutschen ‚Täter‘- und ‚Mitläufer‘-Familien kaum vergleichbar sind. 11 Zu den methodischen Schwierigkeiten, kindliche Erfahrungen aus Oral History Interviews zu kondensieren, siehe Maren Röger/Machteld Venken, Growing up in the Shadow of the Second World War. European Perspectives, in: European Review of History 22, 2015, H.2, 199–220, 204f. 12 Robert Weldon Whalen, Bitter Wounds. German Victims of the Great War, 1914–1939. Ithaca/London 1984 169ff.
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Rang des Verstorbenen, während dessen frühere berufliche Stellung keine Rolle spielte. 13 Eheliche Halbwaisen von Angehörigen der militärischen Unterklassen erhielten eine Rente von 168 Mark jährlich und Vollwaisen einen Betrag von 240 Mark, während uneheliche Kinder, die ihren Vater verloren hatten, keinerlei Rentenansprüche besaßen, aber eine sogenannte Kriegsunterstützung bekamen. 14 Erst gegen Ende des Krieges wurden diesbezüglich Modifikationen vorgenommen. So wurden den betroffenen Kindern widerrufliche Zuwendungen aus Heeresmitteln gewährt, wenn die Vaterschaft und Unterhaltspflicht des Mannes glaubhaft nachgewiesen werden konnte. 15 In Anbetracht der Schwächen des Versorgungssystems und angesichts steigender Todeszahlen stieg der Druck, den Hinterbliebenen konkret zu helfen. Bis 1917 entstanden 2000 Fürsorgestellen in Deutschland, die für Familienhilfe, Arbeitsbeschaffung, Gesundheits- und Erholungsfürsorge zuständig waren. Hinzu kamen die ‚Nationalstiftung für die Hinterbliebenen der im Kriege Gefallenen‘, der ‚Reichsausschuss für Kriegspatenschaften‘ und der ‚Hauptausschuss der Kriegerwitwen und Waisenfürsorge‘. Sie organisierten Beihilfen für den Lebensunterhalt der zumeist noch sehr jungen Kriegerwitwen sowie für die Erziehung und Ausbildung der Halbwaisen. 16 Solche Maßnahmen konnten den Betroffenen ebenso helfen mit dem eigenen Schicksal fertig zu werden wie das ‚vaterländische‘ Bewusstsein, „dass Tausende ihrer Schwestern das gleiche Leid tragen“, ihnen die Kraft verleihen sollte, „der Macht der Verzweiflung zu widerstehen, für sich und […] für ihre verwaisten Kinder“. 17 Eine viel diskutierte Maßnahme, um die Lebenssituation von Kriegshinterbliebenen zu verbessern, war das ‚Reichsheimstättengesetz‘. Durch die Kapitalisierung von Renten sollten Kriegerwitwen in die Lage
13
Theodor von Olshausen, Handbuch zum Militärhinterbliebenengesetz. Mit Genehmigung des König-
lich-Preußischen Kriegsministeriums unter Benutzung amtlicher Quellen. Berlin 1918, bes. 10, 13. 14
Gustav Vogt, Waisenpflege, in: Fürsorge für Kriegsteilnehmer 4, 1918, Nr.5, 25f.
15
Olshausen, Handbuch (wie Anm.13), 9f. Uneheliche Kinder von Angehörigen der Unterklassen konn-
ten Zuwendungen von bis zu 225 Mark pro Jahr erhalten (ebd.15). 16
Helene Hurwitz-Stranz, Sorge für die Berufsausbildung und Gesundheitsfürsorge unserer Kriegerwai-
sen, in: Blätter des Deutschen Roten Kreuz 8, 1929, 48. Zwei Drittel der betroffenen Frauen sollen unter 30 Jahre alt gewesen sein und 76 Prozent von ihnen hatten Kinder unter sechs Jahren. Silke Fehlemann, Bereavement and Mourning (Germany), in: 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War. Berlin 2014. URL: http://dx.doi.org/10.15463/ie1418.10177 [9.11.2015]. 17
M. Woltok, Welchen Beruf wählt die Kriegerwitwe? Die wichtigste Lebensfrage der heutigen Zeit für
alle erwerbenden Frauen. Berlin 1915, 49.
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versetzt werden, Wohnhäuser abzubezahlen. 18 Der Pädagoge Adolf Sellmann betonte, für die Kinder sei es besonders wichtig, ein ‚Vaterhaus‘ zu haben, weil hier das „Bild des Vaters“ lebendig bleibe. 19 Aufgabe der Mütter sei es, die Kinder an „die großen Taten der deutschen Geschichte heranzuführen und ihr Herz mit der Begeisterung für Deutschlands Glanz und Größe zu erfüllen“. 20 Allerdings verschlechterten sich die Diagnosen und Prognosen, was die Entwicklung der vaterlosen Halbwaisen anging, nach der Niederlage erheblich. So betonte Sellmann 1918, dass der Vater als „der Erzieher und Berater, der Mittler zwischen Haus und Leben, der Führer und Meister“ nicht zu ersetzen sei. 21 Als Folge konstatierte er bei Söhnen „Schüchternheit, eine gewisse Weltfremdheit, vielleicht sogar linkisches Wesen und Unselbständigkeit“. 22 Daran änderte auch das Reichsversorgungsgesetz nichts, das 1920 in Kraft trat und die Versorgung der Kriegsopfer und damit auch der Kriegerwitwen und Halbwaisen erstmals umfassend regelte. 23 Die Hinterbliebenenrenten wurden erhöht und der Kreis der versorgungsberechtigten Personen erweitert. 24 Im Zuge der Weltwirtschaftskrise verschärfte sich die Diskussion um die Zukunftschancen der Halbwaisen weiter, zumal sich deren Ausbildungschancen durch die Massenarbeitslosigkeit drastisch verschlechterten. Vor diesem Hintergrund ist die Studie von Karl Clauß zum Thema „Mutter und Sohn. Vom Werdegang vaterloser Halbwaisen“ aus dem Jahr 1931 zu sehen. 25 Clauß konstatierte anhand einer Fragebogenuntersuchung mit älteren Schülern und ihren Müttern vielfältige Gefährdungen für vaterlose Halbwaisen. Aktive Söhne würden von den Müttern
18 Else Trott-Helge, Erhaltet der Kriegerwitwe ihre Heimstätte!, in: Fürsorge für Kriegsteilnehmer 3, 1917, Nr.3, 90f. 19 Adolf Sellmann, Unsere Kriegerwaisen und die höheren Lehranstalten, in: Deutsches Philologen-Blatt 7, 1918, Nr.3/4, 17. 20 Ebd.7. Zur Kriegspädagogik ausführlich siehe Andrew Donson, Youth in the Fatherless Land. War Pedagogy, Nationalism, and Authority in Germany, 1914–1918. Cambridge/London 2010. 21 Sellmann, Kriegerwaisen (wie Anm.19), 20f. 22 Ebd. 23 James M. Diehl, Change and Continuity in the Treatment of German Kriegsopfer, in: Robert Moeller (Ed.), West Germany under Construction. Politics, Society and Culture in the Adenauer Era. Ann Arbor 1997, 93–108, 94. 24 Michael Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates. Die Kriegsopferversorgung in Frankreich, Deutschland und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg, in: GG 9, 1983, 230–277, 235. 25 Karl Clauß, Mutter und Sohn. Vom Werdegang vaterloser Halbwaisen. Langensalza 1931.
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nicht gebändigt und in der Schule häufig sitzenbleiben. Später seien abrupte Stellenwechsel charakteristisch. 26 Kontemplativen Söhnen, denen Clauß eine stärkere Innenzentriertheit und Sentimentalität zuschrieb, drohte hingegen die Gefahr der Verweichlichung und Feminisierung. Einige von ihnen seien regelrechte „Jammergestalten“, viele in ihrer Entwicklung verzögert. 27 Gleichwohl gebe es auch mustergültig erzogene Jungen, die diszipliniert und gute Schüler seien. Allerdings handele es sich dabei fast ausnahmslos um Söhne aus Offiziers-, Beamten- und Fabrikantenfamilien. Denn hier werde das Bild des beruflich erfolgreichen und heldenhaft verstorbenen Vaters gepflegt, welches den Sohn unsichtbar leite. 28 Die etwaige Trauer der Kinder bzw. die Verarbeitung des väterlichen Todes spielte bei Clauß hingegen keine Rolle. 29 Ein Plädoyer für vaterlose Familien markierte hingegen das Buch „Kriegerwitwen gestalten ihr Schicksal“, das 1931 von Helene Hurwitz-Stranz herausgegeben wurde. Die Auswahl an Lebensgeschichten machte deutlich, dass viele Familien trotz erheblicher wirtschaftlicher Probleme intakt waren und meist ein inniges Vertrauensverhältnis bestand. Zudem hatten die ‚Blätter des Deutschen Roten Kreuz‘ bereits 1930 eine Statistik veröffentlicht, nach welcher der Anteil von Kriegswaisen in höheren Schulen mehr als 50 Prozent betrug. Dennoch war es der Diskurs um die Defiziterziehung vor allem der Söhne, der nach 1945 ebenso relevant blieb.
III. Halbwaisen im ‚Dritten Reich‘ und während des Zweiten Weltkriegs Im ‚Dritten Reich‘ erfuhren die Hinterbliebenen des Ersten Weltkriegs symbolische wie praktische Aufwertungen, inszenierte sich Adolf Hitler doch als ‚unbekannter Soldat‘, der die Sorgen der Kriegsopfer verstand. Durch eine Gesetzesänderung vom 4.Juli 1934 bezogen Kriegerwitwen ohne Rücksicht auf ihr Alter und ihre Erwerbstätigkeit eine einheitliche Rente von 60 Prozent der Vollrente des verstorbenen 26
Ebd.104.
27
Ebd.65.
28
Ebd.106ff.
29
Seit dem 19.Jahrhundert wurde Trauer als weiblich konnotiert. Während Männer unmittelbar ins öf-
fentliche Leben zurückkehrten, personifizierten bürgerliche Frauen allein schon durch ihre schwarze Kleidung die Trauer. Dazu Fehlemann, Bereavement (wie Anm.16).
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Ehemannes – zehn Prozent mehr als im Reichsversorgungsgesetz (RVG) vorgesehen waren. 30 Zudem schrieb die NSDAP sich auf die Fahnen, insbesondere den Kriegswaisen ganz konkret zu helfen. 1934 wurde ein Heldengedenktag ins Leben gerufen, der von hoher symbolischer Bedeutung für die Kriegshinterbliebenen gewesen sein dürfte. 31 Kriegswaisen, Kriegerwitwen und sogenannte Kriegseltern erhielten zudem Vergünstigungen z.B. bei Fahrten der Reichsbahn sowie bei Veranstaltungen des Winterhilfswerks. 32 Die NSDAP gründete eine eigene Abteilung für Hinterbliebenenfürsorge, die sich insbesondere für die Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche von Halbwaisen engagieren sollte. 33 Besonders begabte Halbwaisen, die eine Fachoder Hochschule besuchten, erhielten Semesterbeihilfen durch das Reichsarbeitsministerium und darauf aufbauend weitere Förderungen und Weiterbildungen durch das Amt für Berufserziehung und Betriebsführung der ‚Deutschen Arbeitsfront‘ (DAF). Außerdem konnten Halb- und Vollwaisen – wie bereits in der Weimarer Republik – Sonderunterstützungen der ‚Nationalstiftung der Hinterbliebenen der im Kriege Gefallenen‘ beantragen. Ab 1938 wurde für die Hinterbliebenen des Zweiten Weltkriegs das Wehrmachtsfürsorge- und -versorgungsgesetz (WFVG) bindend. Allerdings mussten sich die Hinterbliebenen der Zahlungen als ‚würdig‘ erweisen, d.h. rassisch erwünscht sein und sich politisch bzw. sozial „wohl“verhalten. 34 Nachdem die Zeit der ‚Blitzsiege‘ im Herbst 1941 mit der stagnierenden Offensive gegen die Sowjetunion vorbei war und die Wehrmacht immer größere Verluste verzeichnete, ging es der NSDAP an der ‚Heimatfront‘ verstärkt darum, Frauen und Kindern den Tod von Ehemännern und Vätern sinnstiftend nahezubringen. Ziel war es dabei, die zahlreichen Toten zu legitimieren als Vorstufe eines langjährigen Friedens und einer verheißungsvollen Zukunft, wenn erst die feindlichen Länder besiegt seien, denen Deutschland bereits im Ersten Weltkrieg unschuldig gegenüber
30 Max Wuttke, Planmäßiger Versorgungsaufbau – erfolgreiche Betreuung, in: Hanns Oberlindober (Hrsg.), Fünf Jahre Arbeit für Führer und Volk. Ein Rechenschaftsbericht über die Tätigkeit des Hauptamtes für Kriegsopfer der NSDAP und der Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung e.V. für die Jahre 1933 bis 1938. Berlin 1938, 12–15, 14f. 31 Alfred Dick, NSKOV und Presse, in: Oberlindober (Hrsg.), Fünf Jahre Arbeit (wie Anm.30), 55–59, 58. 32 Wuttke, Versorgungsaufbau (wie Anm.30), 14f. 33 Anna Götting, Die Hinterbliebenenfürsorge, in: Oberlindober (Hrsg.), Fünf Jahre Arbeit (wie Anm.30), 16–18, 16. 34 Dazu detailliert Nicole Kramer, Volksgenossinnen an der Heimatfront. Mobilisierung, Verhalten, Erinnerung. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 82.) Göttingen 2011, 208ff.
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gestanden habe. 35 So hieß es in einem Artikel der „NS-Frauenwarte“ aus dem Jahr 1942 an Frauen und Kinder gerichtet: „Ein jeder fiel dafür, dass es eine neuere und glücklichere Generation von deutschen Frauen gebe, die nicht ob der verbrecherischen Willkür verblendeter Kriegshetzer von neuem ihre Männer und Söhne hergeben und opfern werden müssen. Und jeder fiel dafür, dass Deutschland endlich ein glückliches Land werde, ein Kinderland, und damit ein Land des Glückes für die deutschen Frauen.“ 36
Noch persönlicher sprach die „NS-Frauenwarte“ jene Frauen an, die schwanger waren, als ihr Ehemann oder Verlobter verstarb. Die Geburt des Kindes wurde gewissermaßen als Inkarnation des verlorenen Partners inszeniert, wenn eine Mutter mit ihrem neugeborenen Jungen im Arm in Gedanken Zwiesprache mit dem Verstorbenen hielt: „Sieh nur, nun bist Du mir wiedergeschenkt. Er hat deine hohe Stirn, und selbst sein Daumen ist geformt wie deiner.“ 37 Die NS-Institutionen standen den Kriegerwitwen und ihren Kindern aber nicht nur in moralischer Hinsicht beiseite. Die Fürsorgeoffiziere und die Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung (NSKOV) konnten die Kosten einer Trauerfeier erstatten und Sterbegeld bewilligen sowie Sachspenden wie Möbel, Radiogeräte oder Kleidung gewähren. Zudem sorgten die zuständigen Institutionen dafür, dass Witwen und ihre Kinder in Erholungseinrichtungen geschickt wurden und halfen bei behördlichen Korrespondenzen. 38 In materieller Hinsicht erhielten die Kriegshinterbliebenen jedoch geringere Renten als nach dem Ersten Weltkrieg, nachdem die Zahl der Toten nach dem Russland-Feldzug 1941/42 rapide zugenommen hatte. 39 Eine Sonderstellung nahmen die Kriegerwitwen und Kinder von gefallenen SSLeuten ein. Die Fürsorgeverwaltung der SS prägte das Selbstverständnis einer elitären Sippengemeinschaft und die Vorstellung einer besonderen Verbundenheit mit den Hinterbliebenen. 40 Starb ein SS-Mann, konnte für seine Kinder ein noch nicht einberufenes SS-Mitglied gesucht werden, um die Vormundschaft zu überneh-
35
Präzise herausgearbeitet ist diese Argumentation von Nicholas Stargardt, Der Deutsche Krieg 1939–
1945. Frankfurt am Main 2015.
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36
K. M., Damit Deutschland lebe, in: NS-Frauen-Warte 11, 1942/43, Nr.11, 173b.
37
Liselotte Henckel, Des Lebens ewige Wiederkehr, in: NS-Frauenwarte 11, 1942/43, Nr.11, 174.
38
Kramer, Volksgenossinnen (wie Anm.34), 228.
39
Diehl, Change (wie Anm.23), 94.
40
Ebd.225.
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men. 41 In den ersten Kriegsjahren erhielten SS-Kriegerwitwen und -Bräute mit Kindern zudem spezielle Erholungsaufenthalte. So wurden Familien gefallener SS-Angehöriger in Heilbädern in der Hohen Tatra untergebracht. 42 Kinder, deren Väter zum hauptamtlichen Personal der SS zählten, erhielten eigens Sparguthaben, während die Witwen von einer postmortalen Beförderung ihrer Ehemänner finanziell profitierten, durch die sich ihre Versorgungsleistungen erhöhten. 43 Solche Vergünstigungen für SS-Hinterbliebene wurden jedoch aufgegeben, als die Verluste der Wehrmacht zur Mitte des Jahres 1944 eine Größenordnung von 200000 Gefallenen pro Monat erreichten. 44
IV. Tabuisierungen und Thematisierungen der Halbwaisen nach 1945 Nach 1945 war die soziale Lage der oftmals noch sehr jungen Kriegerwitwen und ihrer meist kleinen Kinder deutlich schwieriger als nach 1918 und während des Zweiten Weltkriegs. Die Chance, eine neue Ehe einzugehen, war wegen des Männermangels gering, und die wirtschaftliche Lage sah düster aus. 45 1945 setzten die Alliierten der Besatzungszonen – mit Ausnahme der französischen Zone – mit dem Kontrollratsgesetz Nr.34 die Hinterbliebenenrenten komplett aus. 46 Angehörige der Wehrmacht sollten in sozial- wie in erinnerungspolitischer Hinsicht keinen privilegierten Platz mehr in der deutschen Gesellschaft einnehmen. Erst 1947 wurden
41 Bundesarchiv (künftig: BA) Berlin, NS 34/78, Vermerk der SS-Standarte Guben, betr. Betreuung der Kinder unserer gefallenen Kameraden, SS-Abschnitt XII, 7.3.1940. 42 BA Berlin, NS 19/2810, Geheime Kommandosache betreffs Werbung für Freiplätze für Frauen und Bräute mit Kindern gefallener SS-Angehöriger, 12.12.1940. 43 BA Berlin, NS 34/36, Schreiben von SS-Sturmbannführer Hans-Werner Lopass, Berlin, an Luise Krack, 29.8.1944. 44 Zu den monatlichen Todeszahlungen: Overmans, Verluste (wie Anm.3), 237ff. 45 Merith Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland 1945–1960. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 65.) Göttingen 2001, 116. Vgl. Christiane Kuller, Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949–1975. (Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 67.) München 2004, 39. 46 Wilhelm Dobbernack, Die Leistungen an Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene in der britischen Zone, in: Arbeitsblatt für die britische Zone 1, 1946/47, Nr.2, 326–330, 326.
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Kriegerwitwen, die arbeitsunfähig waren oder Kinder im Vorschulalter zu versorgen hatten, in der britischen und der US-amerikanischen Besatzungszone wieder Renten zugestanden. 47 Vormalige Mitglieder von NS-Organisationen hatten keine Leistungsansprüche. Vielen Frauen standen daher neben den Renten für die Halbwaisen nur die meist geringen Bezüge aus der Invaliden- bzw. Angestelltenversicherung ihrer Männer zu. In der SBZ gestaltete sich die Lebenssituation für die betroffenen Familien besonders schwierig. Unter ihnen hatten es vor allem Flüchtlinge und Vertriebene in den strukturarmen agrarischen Gebieten schwer. Es fehlten Arbeitsplätze für die Kriegerwitwen und Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder. 48 In der DDR beharrte die SED nach 1949 auf der Gleichbehandlung aller ‚Kriegsopfer‘. Frauen, deren Männer gefallen waren, sollten aus erinnerungspolitischen und volkswirtschaftlichen Gründen nicht privilegiert, sondern für den Aufbau des Sozialismus in den Arbeitsmarkt integriert werden. Konkret bedeutete dies, dass Kriegerwitwen Renten bis zu 80 Mark nur bekamen, wenn sie über 60 Jahre alt, zu mehr als 66 Prozent erwerbsunfähig waren oder kleine Kinder zu versorgen hatten. 49 Halbwaisen erhielten eine Rente bis zum 18. Lebensjahr. Die Situation der Hinterbliebenen fand in den Medien fortan praktisch keine Beachtung. Insofern gab es einerseits eine Diskrepanz zwischen der persönlichen Bedeutung der Witwenschaft und ihrer mangelnden gesellschaftlichen Erörterung. Andererseits wurden die ‚Halbfamilien‘ den Familien von ledigen und geschiedenen Frauen gleichgestellt und standen unter dem besonderen Schutz des Staates. 50 In den westlichen Besatzungszonen sah die Situation für die Hinterbliebenen zunächst nicht besser aus. Allerdings gab es hier häufiger Zeitschriften- und Zeitungsartikel über Kriegerwitwen und ihre Kinder. So widmete sich etwa der Publizist Walther von Hollander dem Schicksal der vaterlosen Familien und forderte die Einrichtung von Kindergärten auch für Kleinstkinder. 51 In der Bundesrepublik erhiel47
Ebd.327.
48
Seegers, Vati (wie Anm.8) 90ff.
49
Nur Kriegerwitwen, deren Männer als Opfer des Faschismus anerkannt wurden, erhielten höhere
Renten. Doch diese Gruppe umfasste 1953 nur rund 5000 Frauen. Gar keine Hinterbliebenenrente bekamen Frauen, die selbst oder deren Ehemänner Mitglied der NSDAP gewesen waren. Elizabeth Heineman, What Difference Does a Husband Make? Women and Marital Status in Nazi and Postwar Germany. Berkeley 2003, 196. 50
Ebd.190.
51
Walther von Hollander, Die es am schwersten haben: Mütter ohne Männer, in: Constanze 1, 1948, Nr.6,
6–8.
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ten die Kriegshinterbliebenen in erinnerungspolitischer Hinsicht einen Opferstatus, symbolisierten sie doch den Tod deutscher Wehrmachtssoldaten, die aus damaliger Sicht nur ihre Pflicht getan hatten. Hier kehrte der Staat anders als in der DDR zu einer Sonderversorgung der ‚Kriegsopfer‘ zurück, unabhängig von deren Zugehörigkeit zu einer NS-Organisation. Das Bundesversorgungsgesetz regelte ab Dezember 1950 die Bezüge einheitlich in Form einer Grund- und Ausgleichsrente. 1954 bezogen rund 1,2 Millionen Kriegerwitwen und 1,4 Millionen Halbwaisen solche Renten. 52 Diese reichten aber für viele Familien bis in die 60er-Jahre nur für ein Leben am Rande des Existenzminimums aus, da sie, anders als die Renten aus der Arbeiterund Angestelltenversicherung vor 1969, nicht dynamisiert wurden. Die Chancen für die Teilhabe am ‚Wirtschaftswunder‘ waren somit ungerecht verteilt. Dennoch wurde die sozioökonomische Situation ‚vaterverwaister‘ Familien bis Mitte der 1950er-Jahre zumeist nur unter den Stichworten ‚Onkelehe‘ bzw. ‚Rentenkonkubinat‘ diskutiert. Sozialexperten und Medien prangerten an, dass Frauen mit neuen Partnern unverheiratet zusammenlebten, um das Anrecht auf die Witwenrente nicht zu gefährden, und ihren Kindern damit schadeten. Dahinter stand der moralische Vorwurf, dass Frauen weder ihren verstorbenen Männern noch dem sie finanziell unterstützenden Staat gegenüber ein schlechtes Gewissen hatten. In gewisser Hinsicht stand dieser Vorwurf in Zusammenhang mit der in größeren Teilen der Bevölkerung kursierenden Meinung, dass deutsche Frauen nach Kriegsende schnell Verhältnisse mit den Soldaten der Besatzungsmächte eingegangen seien, obgleich der eigene Ehemann im Kampf gegen sie gefallen war. Besonders deutlich wird dies in dem Gedicht eines Kriegsheimkehrers: „Der Mann liegt im Massengrab, die Frau in fremden Betten. Der Mann fiel fürs Vaterland, die Frau für Zigaretten.“ 53 Von soziologischer, pädagogischer und kirchlicher Seite gab es in den 1950er-Jahren zahlreiche Stellungnahmen zur Situation der Kriegerwitwen und Halbwaisen. Die Meinungen waren zweigeteilt: Auf der einen Seite wollte man gesellschaftliche Vorurteile abbauen und den Staat stärker zur Betreuung der Hinterbliebenenfamilien verpflichten. 54 Auf der anderen Seite gab es vor allem von kirchlicher Seite Stim-
52 Vera Neumann, Kampf um Anerkennung. Die westdeutsche Kriegsfolgengesellschaft im Spiegel der Versorgungsämter, in: Klaus Naumann (Hrsg.), Nachkrieg in Deutschland. Hamburg 2001, 364–383, 371. 53 Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, II G 18, Nachlass Hans Griep, „An alle, die es angeht!!!“, o.D. [1945]. 54 Bernd Jahns, Probleme der Kriegswaisenfürsorge, in: Soziale Welt 2, 1951, H.3, 308–310, 309.
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men, die Halbwaisen als eine Gefahr für die Gesellschaft ansahen. Der Caritas-Mitarbeiter Hans Wollasch formulierte dies 1954: „Dem Leben in der vaterlosen Familie fehlt die eine Hälfte. Die Deutung der Welt, die klärende Führung, die sorgende Festigkeit, der sichere Schutz.“ 55 Die Pädagogin Luise Lampert schrieb 1952: „Für Bub und Mädchen ist der Vater der, der alles kann – die Mutter die, die überall hilft.“ 56 Vermittelt wurde hier ein Vaterideal aus dem 19.Jahrhundert, das der gesellschaftlichen Realität angesichts von Millionen physisch und psychisch versehrten Kriegsheimkehrern mitnichten entsprach. Den fehlenden väterlichen Einfluss erachteten Psychologen wie Pädagogen vor allem für Jungen als schädlich, wenn die Mütter sie ‚verzärtelten‘ oder als Ersatz des Ehemannes ansahen. Arroganz, Passivität und Verweichlichung seien typische Erscheinungen, monierte 1955 die Psychologin Luitgard Gräser. Einzig helfen konnte, wie Hans Wollasch meinte, wenn die Mutter ihr gottgegebenes Schicksal annähme: „Als tapfere Teilhaberin des Lebensopfers ihres Mannes, als glaubwürdige Hüterin seines geistigen und sittlichen Vermächtnisses.“ 57 Die psychologischen Folgen des Zweiten Weltkriegs spielten hingegen kaum eine Rolle. Zwar war in den ersten Nachkriegsjahren im europäischen Raum ein Grundstein gelegt worden für Forschungen über Kriegsfolgen bei Kindern. Für Deutschland vermittelten die im Jahr 1950 veröffentlichten Ergebnisse der ‚Langeoog-Studie‘ einen Einblick in die psychische Befindlichkeit von Kindern nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele Kinder könnten nicht lachen, Konzentrationsschwäche, motorische Unruhe, Sprachstörungen und Bettnässen kämen häufig vor. 58 Generell dominierte aber in der Bundesrepublik der 1950er-Jahre weiterhin die psychiatrische Auffassung, nach der die psychische Belastbarkeit von Menschen in extremen Situationen als unbegrenzt galt. Sie beruhte auf der seit dem Ersten Weltkrieg in Deutschland vorherrschenden Lehrmeinung, dass traumatische Neurosen nicht durch Kriegserfahrungen verursacht würden, sondern ihre Ursache außer-
55
Hans Wollasch, Die seelische Situation in der vaterlosen Familie. Mangel und Fülle, in: Jugendwohl 35,
1954, 243–245, 243. 56
Luise Lampert, Kinder, die ohne Vater aufwachsen, in: Die Sammlung 7, 1952, 46–53, 51.
57
Wollasch, Situation (wie Anm.55), 245.
58
Elisabeth Lippert/Claudia Keppel, Deutsche Kinder in den Jahren 1947 bis 1950. Beitrag zur biologi-
schen und epochalpsychologischen Lebensalterforschung, in: Schweizerische Zeitschrift für Psychologie 9, 1950, 212–322, 215–220.
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halb des Kriegsgeschehens liege. 59 So ging der Psychiater Werner Villinger 1952 davon aus, dass viele psychopathologische Erscheinungen bei Kindern nichts mit ihren Erfahrungen oder ihrer Umwelt zu tun hätten, sondern vielmehr „Folgezustände nach organischen Hirnschädigungen“ seien. 60 Psychische Folgen des Krieges auf Kinder wurden – wenn überhaupt – allenfalls nebulös angedeutet und betont, dass es vor allem die „Nestwärme“ der Mutter sei, die über „seelische Notzeiten“ hinweghelfe. 61 Stimmen, die die schwierige psychische Verarbeitung der Kriegserfahrungen bei Kindern betonten, kamen – wenn überhaupt – eher aus dem Bereich der Pädagogik. So hatte der Psychologe und Volksschullehrer Richard Müller bereits 1950 anhand von Aufsatzanalysen und Beobachtungen festgestellt, dass Kinder im Unterricht oft teilnahmslos und unkonzentriert seien, weil sie von schockierenden Kriegserlebnissen belastet waren. 62 Eine ähnliche Meinung vertrat der österreichische Psychiater Sepp Schindler. 1955 schrieb er, dass Kriege zu den wesentlichsten Ursachen seelischer Verletzungen bei Kindern und Jugendlichen gehörten und benutzte dabei den Begriff des Traumas von Sigmund Freud. 63 Ab Mitte der 1950er-Jahre lassen sich jedoch auch in Deutschland vermehrt Hinweise für eine realitätsnähere Betrachtung der Probleme der Kriegshinterbliebenen finden. So nahmen im Jahr 1955 rund 150 Kriegerwitwen an der Tagung „Familien ohne Vater“ in der Evangelischen Akademie Bad Boll teil. Sie berichteten über ihre wirtschaftliche Situation und mangelnde Unterstützung durch Verwandte. 64 Die Journalistin Gertrud Jaeke betonte in der Stuttgarter Zeitung, dass das soziale Umfeld die Kinder zu Unrecht skeptisch und herablassend betrachte. Denn auch in ‚vollstän59 Svenja Goltermann, Psychisches Leid und herrschende Lehre. Der Wissenschaftswandel in der westdeutschen Psychiatrie der Nachkriegszeit, in: Bernd Weisbrod (Hrsg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit. (Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen, Bd. 20.) Göttingen 2002, 263–280, 263f. 60 Werner Villinger, Moderne Probleme der Jugendpsychiatrie, in: Der Nervenarzt 23, 1952, H.6, 201–209, 205. Zur Biographie von Werner Villinger: Martin Holtkamp, Werner Villinger (1887–1961). Die Kontinuität des Minderwertigkeitsgedankens in der Jugend- und Sozialpsychiatrie. Husum 2002. 61 Ebd.292. 62 Richard Müller, Die psychische Situation des heutigen Volksschulkindes, in: Bildung und Erziehung 3, 1950, 188–198, 188. 63 Sepp Schindler, Seelische Traumen durch Kriegseinwirkungen als Dauerschädigung der Jugend (aus dem Wiener Arbeitskreis für Tiefenpsychologie), in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 4, 1955, H.5/6, 113–117, 113. 64 Hans Keller, Familie ohne Vater. Bericht über die gleichnamige Tagung, in: Für Arbeit und Besinnung 9, 1955, Nr.8, 321f.
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digen‘ Familien obliege die Erziehung ja allein der Ehefrau. Deshalb riet sie Kriegerwitwen, selbstbewusster zu sein und offensiv aufzutreten. 65 Diese veränderte Sichtweise ist in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext einzuordnen. Wichtig war dabei Helmut Schelskys Diagnose einer „skeptischen Generation“ aus dem Jahr 1957, die jungen Leuten eine erfolgreiche und pragmatische Lebensführung bescheinigte. 66 Vor diesem Hintergrund wurde erstmals auch die Verarbeitung psychischer Folgen des Krieges bei Kindern und Jugendlichen in Westdeutschland etwas breiter diskutiert. So widerlegte der Pädagoge Wilhelm Rössler ebenfalls im Jahr 1957 in seiner Studie „Jugend im Erziehungsfeld“ anhand von Schüleraufsätzen die bis dato verbreitete Ansicht, dass Kinder am wenigsten von den Auswirkungen des Krieges betroffen worden seien. Die Erfahrungen von Gewalt, Bombenkrieg und Tod hätten sich im Gegenteil sehr wohl bei ihnen eingeprägt und zu einer Abwehrhaltung gegenüber jeder Form von Ideologie geführt. 67 Ende der 1950er-Jahre stellte u.a. der Soziologe René König fest, dass vaterlose Söhne und Töchter häufig hochqualifizierte Berufe ergriffen. 68 Und generell wandte sich der gesellschaftliche Diskurs nun zunehmend der Kritik am Funktionsverlust des Vaters in der Familie zu, wie das Buch „vaterlose Gesellschaft“ von Alexander Mitscherlich 1963 zeigte. 69 Zudem standen nunmehr Scheidungskinder als ‚Problemgruppe‘ stärker im Vordergrund. 70 In der DDR wurden die psychischen Folgen des Zweiten Weltkriegs für Kinder weitaus we-
niger thematisiert. Deren seelisches Wohlbefinden und der Einfluss äußerer Lebensbedingungen darauf wurden erst ab Anfang der 1960er-Jahre im Rahmen eines Erziehungsprogramms für Krippenkinder thematisiert und primär mit körperlichen Merkmalen wie Gewichtszunahme und Größenwachstum gleichgesetzt. 71 65
Gertrud Jaeke, Familien ohne Vater, in: Stuttgarter Zeitung vom 28.6.1955.
66
Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend. Düsseldorf 1957.
67
Wilhelm Rössler, Jugend im Erziehungsfeld. Haltung und Verhalten der westdeutschen Jugend in der
ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Unter besonderer Berücksichtigung der westdeutschen Jugend der Gegenwart. Düsseldorf 1957, 309. 68
Anne Anderson, Mutterkinder geraten besser. Erstaunliche Ergebnisse statistischer Untersuchungen,
in: Otto Häcker (Hrsg.), Deutscher Forschungsdienst. Godesberg 1960, 6–8. 69
Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. Mün-
chen 1963. 70
BA Koblenz, B 153/876, Niederschrift der Ergebnisse der 2. Sitzung des Arbeitskreises „Kinder aus un-
vollständigen Familien“ des wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums für Familien- und Jugendfragen, Hamburg, 18.11.1961, fol.253. 71
Eva Schmidt-Kolmer, Der Einfluss der Lebensbedingungen auf die Entwicklung des Kindes im Vor-
schulalter. Berlin (Ost) 1963.
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V. Der Vater ist tot: Leid und Stärke der Mutter Nur die älteren Interviewpartnerinnen und -partner meinen, sich präzise daran erinnern zu können, als ihre Mutter die Todesnachricht erhielt. Dabei handelt es sich vielfach um so genannte ‚Blitzlicht-Erinnerungen‘ (flashbulb memories), denen in der Forschung nicht nur eine primäre und lebendige Qualität zugesprochen wird, es ist auch von ihrer erstaunlichen Beharrlichkeit die Rede. Sie stellen eine spezifische Form des autobiographischen oder episodischen Gedächtnisses dar, welches darin besteht, sich genau zu erinnern, wo man gewesen ist und was man gerade tat, als einen die Nachricht von einem bedeutsamen historischen Ereignis erreichte. Als Auslöser für Blitzlicht-Erinnerungen gelten vor allem einschneidende Veränderungen, die die Zeitzeugen unvermittelt treffen und dem eigenen Leben eine unerwartete Wendung geben. 72 Zugleich ist der Begriff aber auch kritisch zu betrachten, denn gerade dramatische Ereignisse wie Todesfälle werden als Schlüsselmomente im Familiengedächtnis oft erzählt. Es ist nicht zuletzt die Intensität und Häufigkeit, mit der Mütter mit ihren Kindern im Sinne des ‚Memory Talk‘ über Erlebtes sprechen, die den Kindern die Bedeutung eines Ereignisses vermittelt. 73 Ilse Müller, die 1936 im bayerischen Sandelzhausen geboren wurde, z.B. erinnert sich an die Situation, als die Todesnachricht ihres Vaters kam, „als ob es gestern gewesen wäre“. In ihrer Erzählung ist die Tatsache präsent, dass ihre Mutter das offizielle Schreiben, das – anders als vorgesehen – nicht durch den NSDAP-Ortsgruppenleiter, sondern einfach als Postsendung überbracht worden war, gleich erkannte und dass sie selbst als sechsjähriges Mädchen von den Großeltern sofort angewiesen wurde, den Raum zu verlassen. 74 Im Mittelpunkt der weiteren Erzählung von Ilse Müller steht jedoch das Leid der Mutter und weniger ihre eigene Trauer bzw. die Tatsache, dass sie zunächst im Unklaren über die Nachricht gelassen wurde. „Die Mutti“, wie Ilse Müller ihre Mutter in kindlicher Sprache nennt, sei ganz elend und krank gewesen, sie habe nichts mehr gegessen und hätte ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen. Zwar
72 Aleida Assmann, Wie wahr sind unsere Erinnerungen, in: Harald Welzer/Hans J. Markowitsch (Hrsg.), Warum Menschen sich erinnern. Fortschritte in der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Stuttgart 2006, 95–110, 101. 73 Karoline Tschuggnall, Sprachspiele des Erinnerns. Lebensgeschichte, Gedächtnis und Kultur. Gießen 2004, 45. 74 Interview mit Ilse Müller vom 23.2.2006, Transkript, 3.
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habe „die Mutti“ dann später auch noch geweint, doch habe sie sich „irgendwie berappelt“ und sei für ihre Tochter dagewesen. 75 Das Erzählmotiv vom Leid der Mutter und ihrer vorübergehenden Schwäche scheint auch in der Erzählung von Inge Bude auf. Ihre Mutter, ehemals Büroangestellte, wurde mit den drei Kindern wegen der Luftangriffe auf Berlin 1943 in ein polnisches Dorf evakuiert, wo sie die Todesnachricht ihres Ehemannes im Jahr 1944 erhielt. Ihre Mutter habe daraufhin einen Schock erlitten. Doch danach habe die Mutter für ihre Kinder wieder „wie eine Löwin gekämpft“. 76 Die nach tiefem Leid wiedererlangte Stärke der Mutter hatte allerdings auch einen Preis, wie Christa Weber erzählt, die 1941 in Berlin geboren wurde und 1942 wegen der Luftangriffe mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder zu Verwandten nach Niedersachsen zog. Wichtig sei nach der Todesnachricht gewesen, der Mutter, die nun die Witwe eines Prokuristen der Reichsumsiedlungsgesellschaft war, nicht noch mehr Kummer zu machen – so wurde es Christa Weber zumindest von ihrer Umwelt suggeriert: „Die Tante Trude hat ja auch mal zu mir gesagt, das weiß ich wie heute, im Garten haben wir da gesessen im Sommer, dass sie gesagt hat, ich war wohl frech gewesen, und da hat sie mich an die Hand genommen und gesagt, meine Mutter hätte ja so viel schon gelitten und so viel mitgemacht und ich müsste das doch eigentlich wissen und sollte mich gefälligst freundlich benehmen und ein liebes, ordentliches Kind sein.“ 77
Das Motiv der leidenden und zu beschützenden, aber zugleich starken Mutter ist auch in den Erzählungen der adligen Gesprächspartner präsent. In der adligen Erinnerungskultur spielt das Bild der Kette eine besondere Rolle und steht für die übernatürliche Verbindung von Individuen aus unterschiedlichen Generationen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 78 Die Mutter von Gräfin Waldeshausen erfuhr 1948 bei ihren Eltern in Bayern, wohin sie mit ihren beiden Kindern und ihren Schwiegereltern geflüchtet war, von einem Regimentskameraden, dass ihr Ehemann, der seit Juni 1944 vermisst war, bei Witebsk gefallen sei. Nach dieser Nachricht habe sich gewissermaßen ein Raureif über die Familie gelegt. 79 Die Mutter
75
Ebd.
76
Interview mit Inge Bude am 10.6.2006, Transkript, 2.
77
Interview mit Christa Weber am 21.2.2006, Transkript, 20.
78
Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im
deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat. (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 4.) Berlin 2003, 50. 79
308
Interview mit Luise Gräfin Waldeshausen am 19.5.2007, Transkript, 2f.
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habe allerdings ihre Trauer nicht offen gezeigt, sondern Kraft aus ihrem katholischen Glauben bezogen. Zudem habe sie sich als ‚Staffelträgerin‘ des geistigen Vermächtnisses des Vaters gesehen, besonders nachdem der Besitz der Familie in Thüringen enteignet worden war. Etwas anders sind die Erzählmotive bei jenen deutschen Interviewpartnern gelagert, deren Vater dauerhaft vermisst war. In ihren Erinnerungs-Erzählungen steht weniger die Stärke der Mutter im Vordergrund als vielmehr die Last der Ungewissheit, von der die Mütter sich mitunter jahrzehntelang nicht befreien konnten und die das Familienleben nachhaltig belastete. Der vermisste Vater habe über der Familie wie ein Damoklesschwert geschwebt, so empfand es Thomas Schmidt, der 1939 als Sohn eines Architekten in Würzburg geboren wurde und mit seiner Mutter und seinem Bruder später bei Verwandten am Steinhuder Meer wohnte. Sein Bruder und er hätten auf Geheiß der Mutter jeden Abend für die Rückkehr des Vaters, an den er selbst keine Erinnerung mehr hatte, beten müssen. Die Mutter habe noch in den 1950er-Jahren regelmäßig ihren Ehering über den Atlas pendeln lassen und gelegentlich eine Wahrsagerin zu Rate gezogen, um herauszufinden, ob ihr Ehemann noch lebte. 80 Die vielen Gebete der Mutter – „Lieber Gott, bitte mach, dass Vati wieder kommt“ – sorgten dafür, dass auch Thomas glaubte, das Leben sei ohne ihn nur „halb“. Der Vater von Sigmar Fauth, der 1941 als Sohn eines Malergesellen in Wolfenbüttel geboren wurde, war seit August 1944 vermisst, und die Mutter hoffte täglich auf seine Rückkehr. Besonders präsent sind Sigmar Fauth die Abende am Radio in den Jahren 1955/56, als nach dem Besuch Adenauers in der UdSSR die letzten Kriegsgefangenen wieder in der Bundesrepublik ankamen und er und seine zwei Brüder ganz still zu sein hatten. 81 Auch bei den ostdeutschen Interviewpartnern, deren Vater vermisst war, markierte das Jahr 1955 einen Wendepunkt. So erinnert sich Horst Kuhlmann, der 1943 in Thüringen geboren wurde, ebenfalls an die unzähligen Abende am Radio in dieser Zeit. Die Mutter habe die Hoffnung auf eine Rückkehr des Vaters danach aufgegeben. 82 Albert Leuchter aus Erfurt berichtet, dass die Vorstellungswelt seiner Mutter von dem Verbleib des Vaters noch Jahrzehnte später beherrscht gewesen sei. Eine Todesnachricht hätten sich er und seine Geschwister geradezu als ‚Erlösung‘ herbeigesehnt, damit die Mutter ihr Leben hätte neu ordnen können, statt
80 Interview mit Thomas Schmidt am 2.7. 2007, Transcript, 6f. 81 Interview mit Sigmar Fauth am 27.7.2007, Transkript, 6. 82 Interview Horst Kuhlmann am 22.8.2007, Transkript, 2.
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nur in der Vergangenheit zu leben. 83 Damit spricht Albert Leuchter, sein Vater war städtischer Beamter gewesen, nicht nur seine persönliche Haltung, sondern auch eine gesellschaftliche Vorgabe an. Die ‚wartenden Frauen‘ galten, wie Elizabeth Heineman gezeigt hat, in der DDR als politisch destabilisierend und fanden daher ebenso wie Kriegerwitwen und Menschen, die Flucht und Vertreibung als Unrecht ansahen, praktisch keine gesellschaftliche Beachtung. 84
VI. Materielle Not, Familienkonstellationen und der Blick von außen Angesichts der großen Unterschiede im gesellschaftspolitischen Umgang mit Kriegshinterbliebenen in West- und Ostdeutschland stellt sich die Frage, ob und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede es bei der Wahrnehmung und Deutung der kriegsbedingten Vaterlosigkeit durch ost- und westdeutsche Interviewpartner, Frauen und Männer gibt. Alle Interviewpartner haben die Nachkriegsjahre ohne den Vater als Zeit der materiellen Verschlechterung erfahren. Dies ist besonders bei westdeutschen Befragten der Fall, deren Erzählungen vor der Folie des sich wieder formierenden Leitbilds der ‚vollständigen‘ Familie und deren Teilhabe am ‚Wirtschaftswunder‘ spielen. Während viele der Letzteren verhältnismäßig rasch einen höheren Lebensstandard erreichen konnten, gelang dies den Kriegerwitwen und ihren Familien nur selten. Das förderte zumindest in der Retrospektive Frustrationen und Neidgefühle. Vor allem die Schule war ein Ort, an dem die Halbwaisen die Folgen materieller Ungleichheit erfuhren, sei es in einer angenommenen Benachteiligung durch Lehrer, sei es im Hinblick auf jene materiell besser gestellten Schüler, deren Väter beruflich erfolgreich waren. Bei ostdeutschen Interviewpartnern steht hingegen weniger der Verlust des Vaters als Erklärung für materielle Schwierigkeiten oder Probleme in der Schule im Vordergrund, als vielmehr der Eindruck, dass der Krieg in der DDR generell noch länger präsent war und eine Verbesserung der Situation erst im letzten Drittel der 1950er-Jahre eintrat. In der Tat waren die sozialen Unterschiede zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in den 1950er-Jahren wesentlich geringer als in der Bundesrepublik. Hinzu kommt,
310
83
Interview mit Albert Leuchter, 24.6.2007, Transkript, 1.
84
Heineman, Difference (wie Anm.49), 111f.
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dass die DDR eine Gesellschaft war, in der die Selbstthematisierung sozialer Chancengleichheit eine zentrale Rolle spielte. 85 Bei den meisten Interviewpartnern führte der Tod des Vaters zudem dazu, dass die Beziehungen zu anderen familiären Bezugspersonen enger wurden, da die Mütter aufgrund der Wohnungsnot weiterhin oder erneut mit ihren Eltern bzw. Schwiegereltern zusammenwohnten und/oder auf die Mithilfe von Verwandten bei der Erziehung der Kinder angewiesen waren, wenn sie selbst einer Erwerbstätigkeit nachgingen. 86 Vor allem Großmütter werden von den befragten Männern und Frauen als liebe- und verständnisvoll dargestellt. Großeltern konnten aber auch sehr beherrschende Positionen in den Familien einnehmen, wie etwa bei Hella Deckmann, Jahrgang 1938 aus Berlin-Pankow, die häufig von ihrem Großvater geschlagen wurde, wenn die Mutter als Neulehrerin arbeitete. Hella Deckmann stellt dabei jedoch nicht ihr eigenes Leid in den Mittelpunkt ihrer Erzählung, sondern das ihrer Mutter: „Es war ja hart, plötzlich nach so langer Hausfrauentätigkeit einen Beruf zu ergreifen und sich in der Schule rumzuquälen. Dadurch war sie froh, dass Opa denn alles so in der Hand hatte. Was sollte sie denn machen?“ 87 Generell veränderte sich das generationelle Familiengefüge: Die Großeltern rückten mehr noch als in ‚vollständigen‘ Familien in den Mittelpunkt, vor allem was die Vermittlung von Erziehungsnormen, Sekundärtugenden und Werten betraf. Daraus resultierende Konflikte wurden in Ost- und Westdeutschland von den Kindern zumeist nicht offen artikuliert, entweder um den Familienfrieden nicht zu stören oder aber um die Mutter nicht zu belasten. 88 Auch das Verhältnis zwischen Geschwistern konnte durch den Tod des Vaters empfindlich, wenn auch geschlechtsspezifisch unterschiedlich tangiert werden. So wurden in Westdeutschland in der Regel Mädchen gegenüber ihren Brüdern in punkto Bildung und Ausbildung deutlich weniger gefördert. Dies war zwar auch in
85 Heike Solga, Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR. Anspruch und Wirklichkeit des Postulats sozialer Gleichheit, in: Johannes Huinink/Karl Ulrich Mayer u.a., Kollektiv und Eigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach. Berlin 1995, 46–88, 46. 86 Mit Ausnahme von Kriegs- und Nachkriegszeiten haben Menschen seit dem 19.Jahrhundert vor allem in den Städten in Zwei-Generationen-Haushalten gelebt. Dazu Heide Rosenbaum/Elisabeth Timm, Private Netzwerke im Wohlfahrtsstaat. Familie, Verwandtschaft und soziale Sicherheit im Deutschland des 20.Jahrhunderts. Konstanz 2008, 65. 87 Interview mit Hella Deckmann am 9.6.2006, 4. 88 Interview mit Ruth Waxner vom 16.3.2006, 14.
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‚vollständigen‘ Familien der Fall, doch spezifisch für die ‚Halbfamilien‘ war, dass Söhne durch den Verlust des Vaters früh in der bürgerlichen und adligen Erbfolge nachrückten und ihnen die Mütter eher den Besuch einer höheren Schule ermöglichten als Töchtern. Bei den Mädchen zählte nicht die berufliche Laufbahn – ihr sozialer Status definierte sich vielmehr über die Eheschließung. Neben solchen gesellschaftlich-strukturellen Faktoren spielten auch Diskurse über die Auswirkungen der Vaterlosigkeit eine Rolle, die schon in der Weimarer Republik virulent waren, in der Bundesrepublik wieder aufgenommen wurden und davon ausgingen, dass Mädchen vom Verlust des Vaters emotional und psychisch weniger betroffen waren als Jungen. Die befragten westdeutschen Frauen schildern, dass ihre Brüder mehr Aufmerksamkeit erhielten als sie selbst – weil die Jungen als vom Verlust des Vaters stärker betroffen galten und ihnen häufig eine besondere Ähnlichkeit zu dem Verstorbenen zugeschrieben wurde. 89 Demgegenüber spielen Geschwisterkonkurrenzen in den Erzählungen der ostdeutschen Frauen praktisch keine Rolle, weil die Vererbung von Familienunternehmen und größeren Grundstücken an einen möglichst männlichen Erben aufgrund der Kollektivierung der Privatwirtschaft und der Bodenreform in der DDR seltener vorkam und der Zugang zu höherer Bildung politisch, aber nicht finanziell reglementiert war. Dennoch gab es auch hier Hierarchien zwischen älteren und jüngeren Geschwistern, was die Bedeutungszuschreibung durch die Mütter und Verwandten anbetraf – allerdings waren diese nicht ansatzweise so materiell untermauert wie in der Bundesrepublik. Auch vom sozialen Umfeld fühlten sich die westdeutschen Interviewpartner kritischer beobachtet als die ostdeutschen. An der Art und Weise, wie in der Bundesrepublik Verwandte und Bekannte vaterlosen Halbwaisen gegenüber traten und wie diese Kinder in ihrem sozialen Umfeld behandelt wurden, zeigt sich, dass zeitgenössische Diskurse über ‚Verwahrlosung‘ auch in die Beurteilung der Halbwaisen einflossen oder zumindest von diesen so empfunden wurden. Sigmar Fauth, Jahrgang 1942 aus Wolfenbüttel, sein Vater war Malergeselle gewesen, wuchs mit zwei Brüdern auf und schildert den gefühlten gesellschaftlichen Druck: „Man hat ja immer auf diese Kriegerfrauen runter geschaut und gesagt: naja, das sind drei Jungs und die können ja nichts werden. Wir mussten ja Musterknaben sein. Bloß nach außen hin nicht auffallen.“ 90
312
89
Das war z.B. bei Inge Bude und Christa Weber der Fall.
90
Interview Sigmar Fauth, Transkript, 25.
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Die Angst kontrolliert und sanktioniert zu werden, war allerdings vor allem in Arbeiterfamilien, in denen der männliche Ernährer verstorben war und es mehrere Kinder, aber kaum unterstützende Verwandte gab, ein bereits bekanntes Phänomen. Die Soziologin Heide Rosenbaum hat am Beispiel von Hannover für das frühe 20.Jahrhundert beschrieben, dass Witwen sich häufig von kirchlich engagierten ‚Waisenrätinnen‘ überwacht fühlten und ihre Kinder zwangen, sich im Sinne bürgerlicher Erziehungsnormen besonders vorbildlich zu verhalten. 91 Für die Halbwaisen in der DDR schien die öffentliche Nichtbeachtung der Kriegshinterbliebenen hingegen sogar eher von Vorteil gewesen zu sein. In ihren Schilderungen spielen die Zuschreibung gesellschaftlichen Versagens und das Gefühl, durch das soziale Umfeld kontrolliert zu werden, jedenfalls keine Rolle. Ein weiterer Faktor für veränderte Familienbeziehungen, aber auch für die gesellschaftliche Positionierung der Kriegswaisen war eine neue Bindung der Mutter. Allerdings heirateten im vorliegenden Sample sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland nur Mütter von Töchtern erneut. Auch wenn die Interviewpartnerinnen als Kinder unter den Stiefvätern litten, rechtfertigen sie die neue Verbindung mit pragmatischen Gründen und vor dem Hintergrund, dass weibliches Lebensglück in den 1950er-Jahren mit einer Heirat assoziiert wurde. Viele Mütter banden sich allerdings ohnehin kein zweites Mal, entweder weil sie keinen neuen Partner fanden oder sich nicht noch einmal binden wollten.
VII. Vater-Bilder im Familiengedächtnis Auch nach dem Zweiten Weltkrieg waren der Tod und die Toten in der Erinnerungs- und Vorstellungswelt der Nachkriegsgesellschaften stets gegenwärtig. 92 In West- wie in Ostdeutschland kursierten in den meisten Familien Erzählungen über den gefallenen Vater, die ihn mit vorbildhaften Charakterzügen ausstatteten und
91 Heide Rosenbaum, Vaterlose Familien. Zur Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen in der Arbeiterschaft des frühen 20.Jahrhunderts am Beispiel der Industriestadt Linden bei Hannover, in: Jürgen Schlumbohm (Hrsg.), Familie und Familienlosigkeit. Fallstudien aus Niedersachsen und Bremen vom 15. bis 20.Jahrhundert. (Quellen und Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Niedersachsens in der Neuzeit, Bd. 17.) Hannover 1993, 239, 241. 92 Svenja Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. München 2009, 17.
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idealisierten. Ruth Waxner, die 1939 in Rostock geboren wurde, z.B. liebte es, wenn die Mutter über den Vater erzählte, einen Heizungsinstallateur, der 1943 in Russland ums Leben gekommen war und nicht nur liebevoll, sondern auch besonders gutaussehend gewesen sein soll. 93 Auch in der Familie von Thomas Schmidt grenzte die Schilderung des toten Vaters an Ikonisierung, wie er aus der Retrospektive kritisch bemerkt: „Also der war wirklich perfekt und man konnte ihm nicht an’s Zeug flicken, man hatte ihn ja schließlich nicht und der war unantastbar, der war wie ein Gott, ne?“ 94 Als personifizierte ‚Lichtgestalt‘ dienten die toten Väter in der ihnen zugeschriebenen Rolle als nicht hinterfragbare moralische Instanz den Müttern nicht selten auch als Erziehungsmittel. Die Trauer vieler Mütter trug dazu bei, die gemeinsame Vergangenheit mit dem Verlobten oder Ehemann romantisch zu verklären, während es für die Kinder nicht opportun war, genauer nach der politischen Orientierung des Vaters und seinen Aktivitäten im Zweiten Weltkrieg zu fragen. Bei den in der Familie kursierenden Anekdoten blieb insbesondere in der sich sozial ausfächernden Bundesrepublik der jeweils schichtspezifische Hintergrund des Familiengedächtnisses mit ausschlaggebend für die Interpretation des Charakters und der Handlungen des Vaters. Während adlige Interviewpartner ihren Vätern per se eine Resistenz gegenüber dem Nationalsozialismus sowie ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein und Entscheidungskraft zuschreiben, dominieren in Arbeiter- und Angestelltenfamilien Erzählungen des Vaters als Opfer gegebener und nicht veränderbarer Umstände. In der DDR variierte das Familiengedächtnis an den Vater ebenfalls schichtspezifisch, wo-
bei die sozialistische Sozialisation der Väter in einigen Erzählungen eine wichtige Rolle spielt. Besonders deutlich wird dies in der Erzählung von Margret Dahms, die heute in Pirna lebt. 1937 in Radebeul geboren, betont sie noch heute die sozialistische Tradition der Familie. Ihr Vater – aus einer armen Glasbläserfamilie in Ilmenau stammend – sei in der Weimarer Republik Mitglied der ‚Sozialistischen Arbeiterjugend‘ (SAJ) gewesen und habe gemeinsam mit seinem Bruder für ein „besseres Leben“ gekämpft. 95 Diese antifaschistische Tradition prägt dann auch die Schilderung der Rolle des Vaters im Krieg. Zwar war der Vater als Soldat beim Polenfeldzug dabei gewesen, doch habe er in Polen Kohlen schaufeln müssen und sei mit einem Ge-
314
93
Interview Ruth Waxner, Transkript, 9.
94
Interview Thomas Schmidt, Transkript, 35.
95
Interview mit Margret Dahms, 24.6.2007, Transkript, 4–5, 21.
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wehrkolben in den Bauch gestoßen worden, was zu einer nicht mehr heilenden Verletzung geführt habe. Der Vater sei dann an ‚Hitlers Geburtstag‘ 1942 verstorben – gewissermaßen als Opfer der Wehrmacht, der er selbst angehörte. 96 Diese Geschichte dürfte für Margret Dahms in der DDR in mehrfacher Hinsicht Sinn gestiftet haben. Sie situiert die Familie eindeutig in einen antifaschistischen Kontext, zum anderen rückt sie den Vater in die Nähe des Status ‚Opfer des Faschismus‘, der in der DDR auch bei Kriegerwitwen sehr begehrt war, weil er höhere Renten und eine hohe gesellschaftliche Anerkennung bedeutete. 97 Zudem entsprach die Interpretation der politischen Einstellung von Margret Dahms und ihrer Mutter. Beide waren langjährige Mitglieder der SED. Vielen deutschen Interviewpartnern gemein ist, dass sie den Vater trotz ihres mangelhaften Wissens über seine Aktivitäten während des Zweiten Weltkriegs in einen entlastenden Konversionstopos einbinden, wobei die beiden Wehrmachtsausstellungen einen Subtext ihrer Erzählungen bilden. 98 Zwar setzen die befragten Männer und Frauen die Verbrechen der Wehrmacht als gegeben voraus, aber dem eigenen Vater schreiben sie eine ablehnende Haltung dazu zu. In den Interviews wird vielfach ein spezifischer Schlüsselmoment thematisiert, in dem der Vater entweder in einem Gespräch mit der Mutter oder brieflich angedeutet hätte, dass er die Verbrechen der Nationalsozialisten im Krieg verabscheue. Das vorherrschende Leitmotiv in den Erzählungen ist daher die teilnehmende Erinnerung an die Leiden der Eltern im Krieg. 99
VIII. Wiedergutmachungen im weiteren Lebensverlauf Bei allen Interviewpartnern spielt die Bezugnahme auf das Leid der Mutter und eine daraus resultierende Verpflichtung zur Wiedergutmachung eine große Rolle. Die eigene berufliche Etablierung und die Gründung einer Familie werden damit
96 Ebd.4f. 97 Allerdings umfasste diese Gruppe 1953 nur rund 5000 Kriegerwitwen. Dazu Heineman, Difference (wie Anm.49), 196. 98 Zur öffentlichen Resonanz auf die Wehrmachtsausstellungen: Tim Seidenschnur, Streit um die Wehrmacht. Die Debatten um die Wehrmachtsausstellungen im Wandel der Generationen. Marburg 2010. 99 Vgl. Margarete Dörr, „Wer die Zeit nicht miterlebt hat…“. Frauenerfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach. Bd. 3: Das Verhältnis zum Nationalsozialismus und zum Krieg. Frankfurt am Main 1998, 194.
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eng verbunden. Der Verlust des Vaters ragte als Kriegsfolge in sozialer Hinsicht weitaus stärker in die Adoleszenz der Töchter hinein, als dies bei Söhnen der Fall war. Gerade was den Bereich von Ehe und Familie angeht, ist die Vaterlosigkeit als Deutungsmotiv bei den befragten Frauen deutlich präsenter als bei den Männern. Dies hat vor allem gesellschaftlich-strukturelle Gründe. Verglichen mit Männern hatten ledige junge Frauen in den 1950er- und 1960er-Jahren deutlich geringere Bewegungs- und Handlungsspielräume, zumal Mädchen weitaus stärker als Jungen zu Arbeiten im Haushalt herangezogen wurden. 100 Zu stark war die Angst der Mütter, die Mädchen könnten sich ‚unter Wert weggeben‘, vorzeitig schwanger werden und damit von der Norm der ehelichen Mutterschaft abweichen. 101 Denn ein sozialer Aufstieg für Frauen wurde in Westdeutschland in erster Linie mit einer ‚guten‘ Ehe assoziiert, was insbesondere für adlige und bürgerliche Kriegerwitwen bedeutsam war. Bekamen die jungen Frauen uneheliche Kinder oder heirateten sie in den Augen der Mutter den ‚falschen‘ Partner, wurde dies allerdings in allen sozialen Schichten schnell mit der kriegsbedingten Vaterlosigkeit in Verbindung gebracht. In der DDR hatte die ebenfalls enge Verbindung zwischen Töchtern und Müttern andere Gründe. Zu nennen ist hier die desolate Wohnraumsituation, die dazu führte, dass viele Töchter auch nach der Eheschließung bei den Müttern wohnten, die bei der Kinderbetreuung und im Haushalt halfen. Wichtig war hierbei, dass sich das ‚Doppelverdiener-Modell‘ in der DDR in den 1960er-Jahren durchgesetzt hatte, wobei die Last der Haushaltsarbeit weiterhin fast ausschließlich bei den Frauen lag. 102 Weil die Interviewpartnerinnen in der Regel voll erwerbstätig waren und von den Qualifizierungsmaßnahmen für Frauen profitieren konnten, fühlten sie sich für ihren Ehemann, von dem sie in der Regel finanziell unabhängig waren, oft weniger verantwortlich als für das Wohlergehen der Mutter, die sie im Familienalltag unterstützten. Hinzu kam die vergleichsweise hohe gesellschaftliche Akzeptanz Alleinerziehender in der DDR. Eine solche Konstellation trug unter Umständen dazu bei,
100 Rosenbaum/Timm, Netzwerke (wie Anm.86), 75. 101 Vgl. Silke Kral, Brennpunkt Familie: 1945 bis 1965. Sexualität, Abtreibungen und Vergewaltigungen im Spannungsfeld zwischen Intimität und Öffentlichkeit. Marburg 2004, 51. 102 Wegen des frühen Heiratsalters in der DDR waren die Großmütter in der Regel noch vergleichsweise jung und belastbar, auch wenn sie wegen ihrer eigenen Erwerbstätigkeit zeitlichen Einschränkungen unterlagen. Vgl. Rosenbaum/Timm, Netzwerke (wie Anm.86), 98.
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dass sich fast alle ostdeutschen Interviewpartnerinnen von ihren Ehemännern trennten. Die männlichen Befragten konnten sich wohl etwas leichter von den Zielen, Bedürfnissen und Interessen ihrer Mütter lösen, zumindest was den Bereich von Ehe und Familie angeht. Ihre Ehefrauen suchten sie nach eigenen Wünschen aus und ließen der Mutter für Kritik weniger Raum. Auch diese Verhaltensweisen waren sozialisationsbedingt: Jungen wurden in der Regel größere Freiheiten zugestanden als Mädchen. Als Wiedergutmachung deuten die Männer vor allem schulische Leistungen und ihren Beruf. Dabei spielten nicht zuletzt gesellschaftlich-strukturelle Momente eine Rolle: Angesichts der privatwirtschaftlichen Verfasstheit der Bundesrepublik war das Interesse der Mütter groß, die Söhne als Stammhalter aufzubauen, wenn ein Betrieb vorhanden war. So traten mehrere Söhne beruflich in die Fußstapfen des Vaters und führten somit sein ‚ideelles Erbe‘ im Sinne der Mütter weiter. Generell erzählen westdeutsche Männer ihr berufliches Leben als Geschichte individueller Wahlmöglichkeiten vor dem Hintergrund der, mit Ausnahme der Wirtschaftsrezession 1966/67, durch Vollbeschäftigung gekennzeichneten, prosperierenden 1960er- und frühen 1970er-Jahre. 103 Insofern werden von ihnen im Interview berufliche Niederlagen bzw. die Nichtwahrnehmung von Chancen und Möglichkeiten weitaus stärker psychologisiert und individualisiert. Bei den Erzählungen der ostdeutschen Interviewpartner ist hingegen in erster Linie der Staat präsent, entweder fördernd-paternalistisch oder als Gegenpart zur eigenen beruflichen Selbstbehauptung. Gefühlte Verpflichtungen gegenüber einem tatsächlichen oder imaginären Erbe des Vaters spielen kaum eine Rolle, entweder weil die Interviewpartner als Flüchtlinge und Vertriebene ohnehin von den väterlichen Betrieben und Netzwerken ausgeschlossen, oder weil viele Betriebe schon in den 1950er-Jahren kollektiviert worden waren. Die gesellschaftlich-ideologisch unterfütterte Relevanz des Berufs für die Menschen führte dazu, dass etwaige berufliche Krisen und Konflikte nicht vor dem Hintergrund der kriegsbedingten Vaterlosigkeit, also nicht als persönliches Manko, gedeutet wurden, zumal es in der DDR berufliche Konkurrenzsituationen nicht in dem Ausmaß wie in der Bundesrepublik gab. 104
103 Axel Schildt/Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart. München 2009, 183. 104 Vgl. Danuta Kneipp, Im Abseits. Berufliche Diskriminierung und politische Dissidenz in der Honecker-DDR. Köln u.a. 2009, 39.
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IX. Fazit Die Wahrnehmungen der und die Leistungen für Kriegerwitwen und -waisen in Deutschland fanden während und nach dem Ersten Weltkrieg zu keinem Zeitpunkt unabhängig von dem Gedenken an die gefallenen Soldaten statt. Die Verantwortung für die ‚Halbfamilien‘, die von staatlicher, privater und fürsorgerischer Seite immer wieder formuliert wurde, basierte allein auf der Dankesschuld der Nation gegenüber den gefallenen ‚Helden‘. Aus einer solchen Perspektive konnten die Familien nicht unabhängig von dem verstorbenen Ehemann und Vater gesehen werden, dessen Gedenken nach der Kriegsniederlage zur nationalen Erziehungsleistung verklärt wurde. Die Erinnerung an den Toten wurde für die Halbwaisen als wegweisend angesehen. Insgesamt wurden ältere Jungen als stärker von der Vaterlosigkeit betroffen erachtet als kleine Kinder und Mädchen; ein Diskurs, der sich auch für die Zeit nach 1945 in Westdeutschland als dominierend erweisen sollte. Die Diskussionen um mangelnde Zukunftschancen für Halbwaisen, die im Kontext einer allgemeinen Debatte um Jugendverwahrlosung standen, wurden besonders während der Weltwirtschaftskrise mit Befürchtungen vor dem sozialen Abstieg der Kriegshinterbliebenen vor dem Hintergrund von massiven Rentenkürzungen geführt. Hier bot sich den Nationalsozialisten ein Ansatzpunkt, um sich als ‚Retter der soldatischen Ehre‘ und als ‚Beschützer‘ von Witwen und Waisen zu inszenieren. Dies galt allerdings nur für ‚rassisch wertvolle‘ und politisch genehme ‚Halbfamilien‘, wie dies insbesondere während des Zweiten Weltkriegs deutlich wurde. Während in der DDR den Kriegshinterbliebenen keine Sonderrolle zugeschrieben und damit ein Bruch mit der Hinterbliebenenpolitik seit dem Ersten Weltkrieg vollzogen wurde, standen die Kriegerwitwen und ihre Kinder in der Bundesrepublik unter großer öffentlicher Beobachtung. Ausschlaggebend dafür war eine offizielle Gedenkpolitik an den Zweiten Weltkrieg, die die Wehrmachtssoldaten zwar nicht mehr – wie in der Weimarer Republik – als Helden, aber als schicksalshafte Opfer des nationalsozialistischen Regimes auswies. Ihr geistiges Erbe sollte in der Erziehung der Kinder fortwirken. Vor allem junge Kriegerwitwen wurden gerade im Hinblick auf die Erziehung der Söhne von kirchlicher, soziologischer und pädagogischer Seite als defizitär eingeschätzt. Dies hing nicht zuletzt mit der Ideologie einer ‚aufopferungsvollen Mütterlichkeit‘ zusammen, die angesichts des realen Autoritätsverlusts von Männern und Vätern nach 1945 den Kindern Geborgenheit und Nähe geben und dabei das Andenken an den gefallenen Vater ‚schützen‘ sollte. 105 In diesem diskursiven Umfeld schildern
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auch die Interviewpartner retrospektiv, dass sie sich gegenüber Kindern aus ‚vollständigen‘ Familien materiell benachteiligt und einem erhöhten sozialen Erwartungsdruck ausgesetzt sahen. Gleichwohl kam es auch zu gesellschaftlichen Lernprozessen. Vor dem Hintergrund der Einbindung der Bundesrepublik in das westliche Bündnis, der breitenwirksamen Deutung von der ‚skeptischen Generation‘ und in Anbetracht der Erkenntnis, dass Kinder aus ‚Halbfamilien‘ qualifizierte Ausbildungen durchliefen, traten die Halbwaisen als Problemgruppe in den Hintergrund. In der DDR spürten die Halbwaisen in Anbetracht der nicht vorhandenen öffentlichen Erörterung kein gesellschaftliches Versagensverdikt. Die Idealisierung des Vaters spielte jedoch in den Familien genauso wie der Erwartungsdruck der Mutter, was die Gestaltung des eigenen Lebens anging, eine ebenso große Rolle. So blieben gerade vaterlose Töchter noch in den späten 1960er-Jahren eng an ihre Mütter gebunden.
105 Vgl. dazu Rosenbaum/Timm, Netzwerke (wie Anm.86), 71.
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Die Waisenkinder der „verwaisten Nation“ Armenische Kinder als Überlebende des Völkermordes im Ersten Weltkrieg von Andreas Frings
„It is difficult to underestimate the importance that the history of transfer, transformation through loss of identity, and recovery of Armenian children has had on the formation of modern Armenian identity, especially in its Diaspora.“ 1
I. Problemstellung Mit dem Stummfilm „Ravished Armenia; the Story of Aurora Mardiganian, the Christian Girl, Who Survived the Great Massacres“ begann schon am Ende des Ersten Weltkrieges eine frühe populärkulturelle Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg, die dieses Geschehen vor allem als Gewalt an jungen Frauen und Kindern thematisierte. 2 Die Geschichte knüpfte an vertraute Bilder an: Schon die hamidischen Massaker der Jahre 1894–1896, bei denen 1 Keith David Watenpaugh, ‚Are there any Children for Sale?‘ Genocide and the Forced Transfer of Armenian Children (1915–1922), in: Journal of Human Rights 12, 2013, 283–295, 286. – Der vorliegende Aufsatz ist auch ein Produkt einer dreisemestrigen projektförmigen Beschäftigung mit dem Deutschen Reich und seinen Verflechtungen in den Völkermord an den Armeniern, die in eine Ausstellung mündete. Für ihr Engagement im Projekt danke ich den elf beteiligten Studierenden sehr herzlich: Dilan Tas, Judith Perisic, Jelena Menderetska, Alexander Hermann Ring, Benan Halil Sarlayan, Aline Breuer, Yannick Weber, Philipp Benedikt Herrmann, David Selzer, Benedikt Chaßeur und Peter Philipp Werner. Die Posterausstellung selbst ist online unter https://www.blogs.uni-mainz.de/fb07-armeniergreuel/ [20.10.2015] zu finden. 2 Der Film basierte auf Aurora Mardiganian, Ravished Armenia. New York 1918. Als Opfer des Völkermordes figurieren in diesem Werk prominent women, children und orphans. Es existieren zahlreiche Versionen des Films, die teilweise auch unter dem Titel „Auction of Souls“ zu sehen sind; vgl. etwa die Fassung unter https://archive.org/details/RavishedArmenia1919 [27.10.2015]. Zu den medialen Strategien des Films Leshu Torchin, Ravished Armenia. Visual Media, Humanitarian Advocacy, and the Formation of Witnessing Publics, in: American Anthropologist. Journal of the American Anthropological Association 108, 2006, 214–220. – Der vorliegende Beitrag kann Kinder nicht durchweg von erwachsenen Frauen trennen. Es ist für den Völkermord an den Armeniern charakteristisch, dass Frauen und Kinder als Gruppe gemein-
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10.1515/9783110469196-014
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eine sechsstellige Zahl an Armeniern osmanischer Gewalt zum Opfer fiel 3, hatten eine große Zahl armenischer Waisenkinder zurückgelassen. Diese prägte die Wahrnehmung der Situation von Armeniern im Osmanischen Reich durch die armenische Gemeinschaft und lenkte die amerikanische und europäische Missionsarbeit im Osmanischen Reich in neue Bahnen und Zielstellungen. Das Motiv der zurückgebliebenen Frauen und Kinder in Verbindung mit massiver Gewaltanwendung gegen die armenische Bevölkerung des Reiches war noch präsent, als das jungtürkische Regime 1915 im Zuge einer kumulativen Radikalisierung die vollständige Vernichtung des armenischen Volkes entfesselte. Als populärkulturelles Motiv zeigte das armenische Kind, das den Völkermord als Waise überlebt hatte, noch in den 1920er-Jahren breite Wirkung. 4 Tatsächlich war die Zahl überlebender armenischer Kinder und Waisenkinder nach dem Völkermord 1915/16 groß. Umso mehr erstaunt, dass die historische Forschung der Frage nach der Bedeutung der armenischen Waisenkinder bisher kaum nachgegangen ist. Sie hat sich stattdessen lange auf die Täter und auf männliche Opfer konzentriert. Spätestens seit den 1990er-Jahren wandte sich die Forschung auch Frauen und Kindern als Opfern zu, wobei die Aufmerksamkeit bisher stärker auf Frauen lag. 5 Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass die armenischen Kinder nicht
sam die gleiche Gewalt erfuhren. Zudem waren viele Frauen, die den Krieg überlebten, im Krieg noch Kinder und wurden dennoch vergewaltigt oder zwangsverheiratet. 3 Vgl. Jelle Verheiji, Die armenischen Massaker von 1894–1896. Anatomie und Hintergründe einer Krise, in: Hans-Lukas Kieser (Hrsg.), Die armenische Frage und die Schweiz (1896–1923). Zürich 1999, 69–129. 4 Eine einfache Google-Ngram-Viewer-Recherche etwa zeigt, dass das Motiv der ‚Armenian orphans‘ in den Jahren 1920–1934 besonders häufig thematisiert wurde. Die Ansprache der armenischen Gemeinschaft als ‚verwaiste Nation‘ ist weiterhin oft zu finden. So ist etwa das letzte Kapitel aus dem Werk von Ronald Grigor Suny, „They Can Live in the Desert but nowhere else“. A History of the Armenian Genocide. Princeton u.a. 2015 mit „Orphaned nation“ überschrieben. Kevork Hintlian, Mitglied der armenischen Gemeinde in Jerusalem, erzählte der Ethnologin Nefissa Naguib: „We are a nation of widows and orphans“ (Nefissa Naguib, A Nation of Widows and Orphans. Armenian Memories of Relief in Jerusalem, in: dies./ Inger Marie Okkenhaug [Eds.], Interpreting Welfare and Relief in the Middle East. [Social, Economic, and Political Studies of the Middle East and Asia, Vol.103.] Leiden/Boston 2008, 35–56, 39). 5 Der erste große Beitrag zu Gender-Unterschieden im Prozess des Völkermordes etwa konzentrierte sich eigentlich auf Frauen, tat dies jedoch auf der Grundlage von Interviews mit armenischen Überlebenden, die während des Ersten Weltkrieges größtenteils Kinder gewesen waren: Eliz Sanasarian, Gender Distinction in the Genocidal Process. A Preliminary Study of the Armenian Case, in: Holocaust and Genocide Studies 4, 1989, 449–461. In der Sache sind Kinder und Frauen kaum zu trennen; so schrieb etwa der britische Beobachter Edward Herbert Keeling 1924: „There was scarcely a girl over twelve who had not been a wife to some Moslem“ (Edward Herbert Keeling, Adventures in Turkey and Russia. London 1924, 225).
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nur ein Motiv waren, das besondere internationale, vor allem humanitäre Aufmerksamkeit garantierte 6, sondern dass sie für das weitere Schicksal der armenischen Gemeinschaft in ihrer Selbstwahrnehmung auch eine besondere Rolle spielten. Der vorliegende Aufsatz soll der Bedeutung der überlebenden armenischen Kinder für die armenische Gemeinschaft, die hier in besonderer Weise als imagined community anzusprechen sein wird, nachgehen. In der unmittelbaren Nachkriegssituation wurde ihnen, so meine Annahme, eine Aufgabe zugeschrieben, die prägend war und bis heute nachwirkt. Sie war verantwortlich für „psychohistorische Erbschaften“ 7 der armenischen Kriegskinderschaft. So hat Keith David Watenpough entsprechende Fragen aufgeworfen, die dem Anliegen dieses Aufsatzes nahekommen: „How is that story understood and explained within families and the community; what did it mean for the rebuilding of social structures and social networks; in particular what did it mean to be an Armenian woman or child after the genocide are profound, far-reaching and multigenerational questions that arise from this aspect of genocide.“ 8
Um dies anzugehen, bedarf es eines historischen Rückgriffs auf den Völkermord selbst. Dabei muss es gelingen, die Kinder selbst nicht nur als Opfer anzusprechen, was die historisch belastenden Zuschreibungen in gewisser Weise perpetuieren würde, sondern auch als Handelnde – ein Versuch, der in der jüngeren Forschung ebenso für andere armenische Gruppen im Völkermord erfolgreich unternommen wurde. 9 Schon die Sicherung des Überlebens konnte Ausdruck der eigenen Hand-
6 Dass Kinder in der Geschichte der Entwicklung des Humanitarismus eine besondere Rolle spielen, ist aktuell Gegenstand historischer Forschungen, so etwa bei Katharina Stornig (Mainz) oder Emily Baughan (Bristol). 7 So die Herausgeber dieses Bandes in ihrer Einleitung. Die erste Studie, die den psychohistorischen Prägungen des Völkermords nachging, stammte von Levon Boyajian/Haigaz Grigorian, Psychosocial Sequelae of the Armenian Genocide, in: Richard G. Hovannisian (Ed.), The Armenian Genocide in Perspective. New Brunswick 1988, 177–185; sie ging den spezifisch armenischen Ausformungen des survivor syndrome nach. Hierzu auch Diane Kupelian/Anie Sanentz Kalayjian/Alice Kassabian, The Turkish Genocide of the Armenians. Continuing Effects on Survivors and their Families eight Decades after Massive Trauma, in: Yael Danieli (Ed.), International Handbook of Multigenerational Legacies of Trauma. New York 1998, 191–210. 8 Watenpaugh, ‚Are there any Children for Sale?‘ (wie Anm.1), 286. 9 Inzwischen wird dies aber sogar von armenischen Wissenschaftlerinnen kritisiert: „The impulse to impute agency is very strong because we don’t want to see people as merely victims, and resistance is the part of the story that is not told […].“ Arlene Avakian/Hourig Attarian, Imagining our Foremothers. Memory and Evidence of Women Victims and Survivors of the Armenian Genocide. A Dialogue, in: European Journal of Women’s Studies 22, 2015, 476–483, 478.
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lungsfähigkeit auch von Kindern sein, die in der Nachkriegszeit und in der populärkulturellen Erinnerung kaum Würdigung fand. 10 Der Aufsatz wird dabei ganz unterschiedliche Forschungsstränge aufnehmen müssen, die sich ihrerseits auf die unterschiedlichsten Quellentypen (osmanisch-amtliche Akten, Augenzeugenberichte, Erinnerungen Überlebender, Belletristik und vieles mehr) stützen. Dabei werden die spezifischen Erfahrungen von Kindern und jungen Frauen im Vordergrund stehen. Dass sich diese Erfahrungen durchweg auf Gewalt durch den eigenen Staat (und nicht durch Kriegsgegner) beziehen, ist dem Geschehen inhärent. Ein Völkermord mag insofern etwas kategorial anderes sein als ein Krieg. Es war aber eben der Krieg, der diesen Völkermord nicht nur ermöglichte, sondern auch für die Radikalisierung im jungtürkischen demographic engineering verantwortlich war. Zugleich erfuhren die armenischen Kinder die ihnen angetane Gewalt als eine, die eng mit dem Krieg zusammenhing: Die Deportationen wurden vor Ort durchweg mit der Kriegslage begründet. 11 Es scheint also angemessen, auch diese Kindheit als Kriegskindheit anzusprechen.
10
In der extremen Situation der Todesmärsche konnte sogar die Flucht in den (individuellen und kol-
lektiven) Selbstmord der Behauptung einer eigenen Handlungsfähigkeit dienen; in Liedern von Überlebenden wurde der Sprung in den Euphrat, also der sichere Suizid, als bessere Alternative zur Heirat mit einem Muslim beschrieben. Vgl. Matthias Bjørnlund, ‚A Fate Worse than Dying‘. Sexual Violence during the Armenian Genocide, in: Dagmar Herzog (Ed.), Brutality and Desire. War and Sexuality in Europe’s Twentieth Century. Basingstoke 2011, 16–59, 28. 11
Dass diese Gewalt auf die Vernichtung aller Armenier zielte, war vielen Zeitgenossen ab Sommer 1915
bewusst. Armenische Überlebende haben dies kurz nach dem Weltkrieg schon beschrieben, auch wenn ihnen der Begriff ‚Völkermord‘ hierfür noch nicht zur Verfügung stand. Selbstverständlich aber handelt es sich bei den Massakern im Sinne der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen von 1948 um einen Völkermord, also um eine Handlung „committed with intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group, as such“. Historiker/innen haben wiederholt und zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass etwa der Transfer der armenischen Kinder in muslimische Familien und Waisenhäuser struktureller Bestandteil des Völkermordes war und deshalb in der Völkermordkonvention der Kindertransfer auch explizit als Völkermord angesprochen wird. Ein starkes Argument für diese Auslegung bietet Ara Sarafian, The Absorption of Armenian Women and Children into Muslim Households as a Structual Component of the Armenian Genocide, in: Omer Barṭov/Phyllis Mack (Eds.), In God’s Name. Genocide and Religion in the Twentieth Century. New York 2001, 209–221. Zu den Historikern, die bestreiten, dass es sich beim Schicksal armenischer Kinder im Weltkrieg um eine Ausprägung eines Völkermords gehandelt habe, gehört İbrahim Ethem Atnur, Türkiye’de Ermeni kadınları ve çocukları meselesi. (1915–1923). Ankara 2005.
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II. Armenische Kinder im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges Auch im Zuge der hamidischen Massaker von 1894–1896 waren viele Frauen ohne Ehemann, viele Kinder ohne Vater oder ohne Eltern zurückgeblieben. Auf sie vor allem konzentrierten sich internationale missionarische und humanitäre Bemühungen. 12 Sie blieben jedoch Mitglied ihrer jeweiligen millet, die die Verantwortung für sie übernahm. Eine Politik des aktiven Transfers der Witwen und Waisen in die osmanisch-sunnitische Gemeinschaft gab es nicht. Die Massaker von 1894–1896 waren insofern kategorial auch kein Völkermord. In den Jahren 1915/16 hingegen wurde Gewalt viel systematischer ausgeübt, und sie zielte auf die Vernichtung der Armenier als Gemeinschaft. Frauen und Kinder traf diese Politik in spezifischer Weise. Schon in den Erinnerungen armenischer Überlebender und in den Augenzeugenberichten der Zeit wird deutlich, dass sie auf den Deportationszügen in die syrische Wüste vielfacher Gewalt ausgesetzt waren. 13 Sie wurden ausgeraubt, vergewaltigt, nicht selten mehrfach, auf Sklavenmärkten verkauft und von ihren Familien getrennt. Viele Frauen und Kinder wurden durch Bestechung oder Einschüchterung der begleitenden Wachen aus dem Deportationszug herausgerissen und in Familien überführt: als billige Arbeitskräfte, als Ehefrau oder auch als Ersatz für eigene Kinder. 14 Dabei entdeckten schon zeitgenössische Beobachter ein regelrechtes Muster:
12 Vgl. Nazan Maksudyan, ‚Being Saved to Serve‘. Armenian Orphans of 1894–96 and Interested Relief in Missionary Orphanages, in: Turcica 42, 2010, 47–88. Zu Konversionen, die 1894–1896 als individuelle Überlebensstrategie eine wichtige Rolle spielen, Selim Deringil, „The Armenian Question Is finally Closed“. Mass Conversions of Armenians in Anatolia during the Hamidian Massacres of 1895–1897, in: CSSH 51, 2009, 344–371. Im Umgang mit Glaubenswechseln zeigen sich interessante Unterschiede zwischen 1894– 96 und 1915/16 sowohl hinsichtlich der staatlichen Perspektive (das osmanische Regime der 1890er-Jahre war hier stärker von der sunnitischen Rechtsvorstellung geprägt, erzwungene Konversionen seien nicht gültig) als auch hinsichtlich der missionarischen Perspektive (Katholiken und Protestanten waren hier eher bereit, die Waisen als Missionsobjekte zu betrachten; im und nach dem Weltkrieg waren sie dann stärker geneigt, auf Mission zu verzichten und das Überleben der armenischen Nation in den Vordergrund zu rücken). 13 Grundlegend zu den genderspezifischen Ausformungen der Gewalt gegen Armenierinnen und Armenier Katharine Derderian, Common Fate, Different Experience. Gender-Specific Aspects of the Armenian Genocide, 1915–1917, in: Holocaust and Genocide Studies 19, 2005, 1–25. Unberücksichtigt bleiben im vorliegenden Aufsatz Kinder, die direkt ermordet wurden. 14 Ein solches Vorgehen war in der Region historisch nicht völlig neu und ungewöhnlich. Watenpough
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„All tell the same story and bear the same scars: their men were all killed on the first days’ march from their cities, after which the women and girls were constantly robbed of their money, bedding, clothing, and beaten, criminally abused and abducted along the way. Their guards forced them to pay even for drinking from the springs along the way and were their worst abusers but also allowed the baser element in every village through which they passed to abduct the girls and women and abuse them. We were not only told these things but the same things occurred right here in our own city before our very eyes and openly on the streets.“ 15
Dass Gewalt gegenüber Frauen und Kindern andere Formen annahm als gegenüber Männern, war kein Zufall. Das hatte zum einen mit den Akteuren vor Ort zu tun: Taner Akçam geht davon aus, dass beinahe jeder höhere Beamte in der Region die Gelegenheit zum Aufbau oder zur Erweiterung eines Harems zu nutzen verstand; Quellen sprechen von Sexparties, von jungen Armenierinnen, die als ‚Geschenk‘ weitergegeben wurden, und von Armenierinnen, die in Bordellen arbeiten mussten. 16 Aufschlussreich ist aber auch die heute in osmanischen Archiven nachvollziehbare Politik der jungtürkischen Führung gegenüber armenischen Frauen und Kindern. Osmanische Quellen belegen, dass die jungtürkische Führung das Schicksal der armenischen Kinder von Anfang an im Blick hatte. Schon im Juni und Juli 1915 wurden Direktiven zur Behandlung der Kinder und der älteren Mädchen in die Provinzen telegraphiert – also genau in der Zeit, in der sich die Vertreibung der Armenier aus Ostanatolien radikalisierte. Am 26.Juni 1915 telegraphierte das Bildungsministerium: spricht von einer „common Eastern Mediterranean social practice“ (Keith David Watenpaugh, The League of Nations’ Rescue of Armenian Genocide Survivors and the Making of Modern Humanitarianism. 1920– 1927, in: AHR 155, 2010, 1315–1339, 1324). Die Aneignung fremder Kinder kostete nun jedoch weniger, weil um ein Vielfaches mehr Kinder zur Verfügung standen. Armenische Frauen kosteten keinen Brautpreis. Die Extremsituation der geplanten Vernichtung veränderte also die Rahmenbedingungen für ein etabliertes, in normalen Zeiten aber selteneres Verhalten deutlich. Zur Tradition der Aufnahme von Kindern und der Nutzung ihrer kostenlosen Arbeitskraft vgl. Nazan Maksudyan, Foster-Daughter or Servant, Charity or Abuse. Beslemes in the Late Ottoman Empire, in: Journal of Historical Sociology 21, 2008, 488–512. 15 Ara Sarafian (Ed.), United States Official Records on the Armenian Genocide 1915–1917. Princeton, N. J./London 1994, 199. In die gleiche Richtung gehen auch die Aufnahmeprotokolle des Aleppo Rescue Home, das nach dem Weltkrieg armenische Kinder aufnahm; vgl. Watenpaugh, ‚Are there any Children for Sale?‘ (wie Anm.1), 291. 16
Vgl. Taner Akçam, The Young Turks’ Crime against Humanity. The Armenian Genocide and Ethnic
Cleansing in the Ottoman Empire. (Human Rights and Crimes against Humanity.) Princeton, N. J. 2012, 313; Bjørnlund, A Fate Worse than Dying (wie Anm.10).
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„Da die Frage der Bildung und der Erziehung von Kindern unter 10 Jahren jener Armenier, die umgesiedelt oder auf irgendeine Art und Weise deportiert wurden, entweder durch die Einrichtung eines Waisenhauses oder durch ihre Aufnahme in ein bereits bestehendes Waisenhaus, diskutiert wurde, wird gefordert, dass mit aller Eile rückgemeldet wird, wie viele solcher verwaister Kinder in der Provinz existieren und ob es dort ein geeignetes Gebäude für die Einrichtung eines Waisenhauses gibt.“ 17
Zwei Wochen später folgte ein Telegramm des Innenministeriums, genauer: des (neben anderen für die Durchführung der ‚Deportationen‘ verantwortlichen) Amtes für die Ansiedlung von Stämmen und Einwanderern (Dahiliye Nezareti Iskan-ı Aşair ve Muhacir’in Müdüriyeti): „Mit dem Ziel der Sorge und der Erziehung für Kinder, die in Folge der Transporte und Deportationen der Armenier wahrscheinlich ohne Beschützer 18 sein werden, wird ihre Verteilung an die örtlichen Honoratioren und an Männer von Ansehen in Dörfern und Kreisen, in denen es keine Armenier und keine Ausländer gibt, sowie die Zahlung von 30 guruş monatlich aus den Zueignungen für Einwanderer für jene Kinder, die nach der Verteilung übrig bleiben und an jene gegeben werden, die nicht die Mittel für den Lebensunterhalt haben, für geeignet erachtet.“ 19
Nur oberflächlich lesen sich diese Telegramme wie ein Ausdruck staatlicher Sorge um verwaiste Kinder. Tatsächlich lassen sie erkennen, dass die jungtürkische Führung schon im Sommer 1915 davon ausging, dass es sich bei den ‚Umsiedlungen‘ um Massenmord handelte, mithin Tausende armenischer Kinder als Waisen übrig bleiben würden – und dass es keinerlei Interesse gab, sie als Armenier leben zu lassen. Der Plan ging vielmehr dahin, sie in einer ‚armenierfreien‘ Umgebung zu assimilieren. Ein Telegramm an die Vorsitzenden der Kommissionen für das aufgegebene Eigentum ergänzte am 1.August 1915: „Das persönliche Eigentum jener Kinder, die zum Ziel der Bildung und Erzie-
17 Akçam, Young Turks’ Crime against Humanity (wie Anm.16), 316f. Eine ähnliche Chronologie wie Akçam beschreibt auch Uğur Ümit Üngör, Orphans, Converts, and Prostitutes. Social Consequences of War and Persecution in the Ottoman Empire, 1914–1923, in: War in History 19, 2012, 173–192. 18 Zum Konzept der Menschen ‚ohne Beschützer‘ vgl. Ayşe Gül Altınay/Yektan Türkyilmaz, Unraveling Layers of Gendered Silencing. Converted Armenian Survivors of the 1915 Catastrophe, in: Amy Singer (Ed.), Untold Histories of the Middle East. Recovering Voices from the 19th and 20th Centuries. London u.a. 2011, 23–53. 19 Akçam, Young Turks’ Crime against Humanity (wie Anm.16), 317.
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hung vertrauenswürdigen Menschen überlassen werden, zusammen mit dem Eigentum jener, die konvertieren oder heiraten, wird bewahrt werden und ihre Erbanteile werden, wenn ihre Vermächtnisgeber gestorben sind, an sie übergeben.“ 20
Zugleich wurde klargestellt, dass es nicht um das Überleben dieser Kinder als Armenier ging. Talat Paşa präzisierte in Telegrammen, dass Sorge, Bildung und Erziehung islamischen Vorschriften folgen sollten. Mädchen sollten nur Muslime heiraten dürfen, armenische Kinder nur in muslimischen Waisenhäusern aufgenommen werden. 21 Im April 1916, also zum Auftakt der 2. Phase des Völkermordes (vor allem der Massaker in der syrischen Wüste), forderte das Amt für die Ansiedlung von Stämmen und Einwanderern erneut die Zerstreuung von Familien ‚ohne Beschützer‘ (deren Männer deportiert oder als Soldaten in der Armee tätig seien) in armenier- und ausländerfreie Dörfer und Städte. Mittel der Assimilation waren die aktive Verheiratung junger Mädchen und Witwen mit Muslimen, die Unterbringung von Kindern unter 12 Jahren in Waisenhäusern und Wohnheimen oder auch in muslimischen Familien und die Aufteilung der übrig bleibenden Kinder auf Dörfer, die hierfür mit 30 guruş monatlich entlohnt würden. 22 Mit anderen Worten: Der Transfer von Kindern war Teil der angestrebten Vernichtung der Armenier als Gruppe; Nazan Maksudyan hat diese Politik daher auch als „weitere ‚Kriegsfront‘ der osmanischen Innenpolitik während des Krieges“ 23 bezeichnet. Die mit der Unterbringung verbundene Konversion zum Islam wurde nicht als rein religiöses Projekt begriffen, sondern als ein Schritt im Wechsel von einer sozialen Gruppe in die andere. Ein Übertritt zum Islam, der klassischerweise durch das bloße Rezitieren des muslimischen Glaubensbekenntnisses vor Zeugen vollzogen wurde, bedurfte zur Anerkennung durch das Regime nun weiterer Faktoren; so
20
Ebd.319.
21
Vgl. ebd.320. Traditionell waren armenische Waisenkinder in der Verantwortung armenischer Fami-
lien oder Institutionen geblieben. 22
Vgl. ebd.323. Die Zahlung von 30 guruş für die Aufnahme von (muslimischen) Waisenkindern hatte
es bereits vor dem Weltkrieg gegeben; vgl. Nazan Maksudyan, Modernization of Welfare or further Deprivation? State Provisions for Foundlings in the Late Ottoman Empire, in: JHCY 2, 2009, 361–392. Das jungtürkische Regime knüpfte hier an eine etablierte Praxis an und suggerierte damit womöglich auch Kontinuität und Normalität. 23
Nazan Maksudyan, Helden, Opfer, Ikonen. Massenmobilisierung und osmanische Kinder während des
Ersten Weltkriegs, in: Jürgen Angelow (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Perspektiven der Forschung. Berlin 2011, 179–191, 190.
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mussten armenische Mädchen einen Muslim heiraten, und die Kinder aus solchen Ehen wurden nach traditionellem Verständnis dem Mann zugesprochen. 24 Die Erinnerungen Überlebender dokumentieren in ihrer Gesamtheit eindrücklich, dass diese Erfahrungen keine Einzelfälle waren – und sie waren bürokratisch eingerahmt. Polizei und Gerichtswesen nahmen von Übertritten zum Islam Kenntnis, Geistliche waren informiert (spätestens wenn armenische Frauen einen Muslim heirateten), Adoptionen wurden registriert. Ausdruck dieser Politik war es auch, nicht einfach auf das Netz der Waisenhäuser zurückzugreifen, die 1914 schon existierten; sie waren oft in missionarischer Trägerschaft und in großer Zahl in Folge der hamidischen Massaker 1894–1896 entstanden. Neben Häusern in staatlicher Trägerschaft 25 entstanden auch solche, die durch neugegründete nichtstaatliche Organisationen wie die ‚Gesellschaft für den Schutz von Kindern‘ betrieben wurden; der Generaldirektor für Stämme und Flüchtlinge Şükrü Kaya hatte seit den frühen Kriegstagen den Auftrag, neue Waisenhäuser zu errichten. 26 Zum Staat gehörten beispielsweise die etwa 80 (später 65) Häuser, die während des Krieges vom Generaldirektorium für Waisen betrieben wurden – oder jene, die dem Amt für Migration unterstanden. In diesen staatlichen Häusern wurden etwa 30000 Kinder untergebracht. 27 1916 gründete Enver Paşa die ‚Gesellschaft für die Beschäftigung osmanischer muslimischer Frauen‘, um die Nutzung der weiblichen Arbeitskraft unter Kriegsbedingungen zu fördern; diese Gesellschaft wurde auch mit dem Transfer von Waisenkindern aller ethnischen Gruppen nach Istanbul beauftragt. 28
24 Vgl. Sanasarian, Gender Distinction (wie Anm.5), 453. 25 Zu osmanischen Waisenhäusern vor 1914 vgl. Nazan Maksudyan, Orphans, Cities, and the State. Vocational Orphanages („islahhanes“) and Reform in the Late Ottoman Urban Space, in: IJMES 43, 2011, 493– 511; vgl. auch ihre größere Studie: dies., Orphans and Destitute Children in the Late Ottoman Empire. Syracuse 2014. Eine Erinnerung an ein sehr bekanntes Waisenhaus liegt seit kurzem in verkürzter Form auch auf Englisch vor: Karnik Panian, Goodbye, Antoura. A Memoir of the Armenian Genocide. Stanford, Cal. 2015. 26 Vgl. Üngör, Orphans, Converts, and Prostitutes (wie Anm.17), 176. Die ‚Gesellschaft für den Schutz von Kindern‘ wurde während des Ersten Weltkriegs in Istanbul gegründet. Vgl. Tylor Brand, Orphans (Ottoman Empire/Middle East), in: Ute Daniel/Peter Gatrell/Oliver Janz u.a., 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War. Hrsg. v. der Freien Universität Berlin, Berlin 2015, http://dx.doi.org/ 10.15463/ie1418.10607 [19.02.2016]. 27 Vgl. Brand, Orphans (wie Anm.26). 28 Vgl. Lerna Ekmekcioglu, A Climate for Abduction, a Climate for Redemption. The Politics of Inclusion
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III. Armenische Kinder und ihre nationale Aufgabe nach 1918/23 War die Aufnahme der armenischen Kinder in muslimische Familien oder Waisenhäuser Teil der Rettung des armenischen Volkes – oder war sie Bestandteil, und zwar konstitutiver Bestandteil, des Völkermordes an den Armeniern? So merkwürdig das klingen mag: Sie war beides, und diese beiden Facetten waren sehr eng aufeinander bezogen. „Forcibly transferring children of the group to another group“ wurde in der „Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide“ der Vereinten Nationen 1948 in die Legaldefinition von Genozid aufgenommen. Aus der Perspektive der jungtürkischen Führung galt die Aufnahme armenischer Kinder in muslimische Familien und osmanische Waisenhäuser nicht der Bewahrung der armenischen Nation und ihrer Kultur, sondern war Teil ihrer Vernichtung als ethnische Gruppe. 29 Zugleich eröffnete diese Politik nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg aber Möglichkeiten der Wiederherstellung der Gemeinschaft. Die Bemühungen, armenische Kinder und junge Frauen nach dem Krieg wieder aus den Waisenhäusern und den muslimischen Familien herauszuholen, waren sehr intensiv. 30 An ihrer Rückführung in die armenische Gemeinschaft waren sowohl osmanisch-armenische Überlebende als auch Vertreter der Besatzungsmächte und des Völkerbunds sowie kooperierender Institutionen beteiligt. Da dies sehr viele Kinder betraf, handelte es sich um ein großes Unterfangen. Die Zahl der Kinder, die in muslimischen Familien oder in Waisenhäusern untergebracht worden waren, ist bis heute ungewiss. Schätzungen gehen von bis zu 100000 oder gar 200000 Armeniern aus, die den Völkermord durch Übertritt zum Islam überlebten. Wie viele davon Kinder in muslimischen Familien und Waisenhäusern waren, ist nicht mit Sicherheit
during and after the Armenian Genocide, in: Comparative Studies in Society and History 55, 2013, 522–553, 529. 29 Auch von armenischen Zeitgenossen wurde dies – wenn auch ohne Verwendung des noch nicht geschaffenen Völkermordbegriffs – entsprechend thematisiert, etwa bei Yervant Odian, Accursed Years. My Exile and Return from Der Zor, 1914–1919. London 2009. 30
Zu den konkreten Bemühungen etwa auf der arabischen Halbinsel Vahé Tachjian/Raymond H. Kévor-
kian, Reconstructing the Nation with Women and Children Kidnapped during the Genocide, in: Ararat 45, 2006, 5–14; Vahram Shemmassian, The Reclamation of Captive Armenian Genocide Survivors in Syria and Lebanon at the End of World War I, in: Journal of the Society for Armenian Studies 15, 2006, 113–140.
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anzugeben. 31 1921 sprach der Armenische Patriarch in Istanbul von 63000 armenischen Kindern, die noch immer in muslimischen Familien und Haushalten lebten. 32 Aus Sicht der armenischen Helferinnen und Helfer, die im Umfeld der Völkerbundsbemühungen tätig waren, galt es, diese Kinder schnellstmöglich kulturell wieder zu armenisieren. Es gab gewissermaßen den Auftrag eines ethnischen reprogramming: Den Kindern wurde Lesen und Schreiben auf Armenisch beigebracht, sie lernten armenische Literatur, Liturgie und Musik kennen und wurden an armenisches Handwerk herangeführt. 33 Dabei waren diese oft selbst schon aktiv geworden. Kinder, die den Krieg im für seine Türkisierung berüchtigten Waisenhaus von Antoura überstanden hatten, forderten die armenische Sprache und armenische Namen ein, kaum dass die britischen Truppen den Ort erobert hatten: „Immediately the Armenian children asserted their rights. They refused to use their Turkish names and they brought out Armenian books, which they had hidden away in secret places during the Turkish regime.“ 34 Dabei darf man nicht vergessen, dass hier im Grunde eine gemeinsame Sprache neu aufgebaut wurde; die Vielsprachigkeit von Armenierinnen und Armeniern vor dem Krieg wurde in eine Verpflichtung auf ein gemeinsames Armenisch umgewandelt. Je nachdem wo Armenier im Osmanischen Reich lebten, waren sie in der Regel vielsprachig; häufig war Türkisch oder eine der kurdischen Sprachen sogar ihre Muttersprache, oder sie nutzten einen armenischen Dialekt, der für Armenier aus anderen Regionen unverständlich war. Erst nach dem Völkermord und nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde das (West-)Armenische zur Nationalsprache mit Geltung für alle Armenierinnen und Armenier ausgebaut und gelehrt. 35 Nicht alles Sichtbare und Hörbare ließ sich auf diese Weise auslöschen. So waren
31 Vgl. Sarafian, Absorption (wie Anm.11). Die gleiche Zahl nennt auch Bjørnlund, A Fate Worse than Dying (wie Anm.10), 34. 32 Die Basis für diese vielzitierte Zahl, so etwa bei Hikmet Özdemir, Ermeniler. Sürgün ve Göç. Ankara 2004, ist nicht ganz klar. Ob sie stimmt, ist auch weniger wichtig als die Tatsache, dass die Rettungsbemühungen von einer Orientierung an dieser Größenordnung geprägt waren. 33 Sanasarian, Gender Distinction (wie Anm.5), 456. 34 So in einem Bericht des Präsidenten der American University in Beirut Bayard Dodge, zit. n. Watenpaugh, ‚Are there any Children for Sale?‘ (wie Anm.1), 293. Auch die Tatsache, dass viele armenische Kinder nach Kriegsende selbst und aktiv aus ihrer zugeordneten Familie flüchteten und Häuser aufsuchten, die eigens für sie eingerichtet worden waren, beweist ihre Handlungsfähigkeit. 35 Vgl. Matthias Bjørnlund, The Aleppo Protocols. Histories of the Armenian Genocide, 2015, http://
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armenische Mädchen und Frauen oft tätowiert worden, um den Eigentümer oder Beschützer anzuzeigen. 36 Und nicht alle Armenier waren davon überzeugt, dass alle Frauen und Kinder in die armenische Gemeinschaft zurückgeholt werden mussten. Konsens gab es in der absoluten Notwendigkeit, die armenische Nation wieder aufzurichten und hierfür radikal mit der osmanischen Welt zu brechen. Welche Reste der Nation hierfür in Frage kamen, war jedoch Gegenstand von Auseinandersetzungen. Waisenkinder waren unverschuldet, weil nicht selbst entscheidungsfähig, in türkische, arabische oder kurdische Familien gelangt und somit reintegrierbar. Es galt, sie von allem Osmanischen zu ‚reinigen‘. 37 Bei Frauen sah dies anders aus: Armenische Männer, die sich in armenischen Zeitungen äußerten, gelangten nicht selten zu der öffentlich artikulierten Überzeugung, dass sie die ethnischen Seiten gewechselt hatten und nicht mehr zu re-armenisieren waren. Der Schutz, der ihnen in der Zeit der massiven Gewalt gefehlt hatte, wurde ihnen nun auch nach dem Krieg verwehrt. Umgekehrt galt, dass Frauen, denen die Rückkehr in die armenische Gemeinschaft ermöglicht wurde, damit in eine Gemeinschaft zurückkehrten, die sie nicht hatte beschützen können. So erinnerte sich Elise Hasgopian: „The men seemed helpless. Used to the outdoors, this cramped cattle car with their suffering wives, children and kin was not their world. They were confused, unnerved, pathetic to watch in their inability to take charge or to comfort their families as they had taken pride in doing all their lives.“ 38
Selbstverständlich wurde diese Charakterisierung dem Handeln der Männer in Kriegszeiten nicht gerecht; entscheidend ist hier aber vielmehr, dass sie als des Schutzes nicht fähig wahrgenommen wurden. Rhetorisch verlagerte sich die Schutz-
www.armenocide.net/armenocide/orphan-children.nsf / Guides / Introdution?OpenDocument [23.10.2015]. 36 Vgl. Armen Manuk-Khaloyan, ‚Rescued and Safe‘. Armenian Orphans and the Experience of Genocide. Center for Armenian Remembrance Occasional Paper. Auch hier zeigt sich eine gewisse agency: Mitunter eigneten sich armenische Frauen Tattoos an, die auf ihre christliche Herkunft verwiesen. Vgl. ebd.unter Verweis auf laufende Forschungen von Elyse Semerdjian. 37
Vgl. Vahé Tachjian, Mixed Marriage, Prostitution, Survival. Reintegrating Armenian Women into Post-
Ottoman Cities, in: Nazan Maksudyan (Ed.), Women and the City, Women in the City. A Gendered Perspective on Ottoman Urban History. New York 2014, 86–106, 90f. 38
Victoria Rowe, Armenian Women Refugees at the End of Empire. Strategies of Survival, in: Panikos
Panayi/Pippa Virdee (Eds.), Refugees and the End of Empire. Imperial Collapse and Forced Migration in the Twentieth Century. Basingstoke/New York 2011, 152–174, 167.
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aufgabe damit auf einen neuen Akteur: die Nation (die vor 1914 nur bei einzelnen armenischen Gruppen als kognitiver Fluchtpunkt gedient hatte). So berichtete A. Leylani (= Movses Der-Kalousdian) aus ihren Erfahrungen in Aleppo über die armenischen Frauen dort: „They have no one to look out for them, apart from the nation“ 39. Andererseits waren aber auch nicht alle Frauen und Kinder bereit, in ‚ihre‘ armenische Gemeinschaft zurückzukehren. Yervant Odian berichtete von einer Armenierin, die er nach dem Krieg in einem Zug in Konya kennenlernte. Sie erzählte, viele Armenierinnen aus Konya hätten die Prostitution oder das Konkubinat mit einem türkischen Mann der Deportation in die syrische Wüste vorgezogen; der Rückweg sei ihnen nun versperrt, sie seien zu weit gegangen und würden in ihrer eigenen Gemeinschaft kein Verständnis mehr finden. 40 In anderen Fällen wurde Frauen die Rückkehr in die armenische Gemeinschaft nur unter der Voraussetzung ermöglicht, dass sie die Kinder aus der Ehe mit einem Araber, einem Türken oder einem Kurden zurückließen; nicht jede Frau war dazu bereit. Eine überlebende Armenierin erzählte im Rahmen der Miller-Interviews: „We knew an Armenian woman who was married to a Turk. She used to come to us and help with our house cleaning. We guess[ed] that she was Armenian, and talked to her. She gave us her father’s name. We wrote letters and advertised in the U.S., and, sure enough, we found her father. He wrote to her, saying: you are my daughter and I will take you back, but not your children who also belong to a Turk. She had a boy and a girl. She herself had gotten married very young, only twelve or so. Obviously she was taken during the deportation. She kept crying and crying, not knowing what to do. Finally she decided to leave and went to Beirut; once in Beirut, she could not take it without her children but was too afraid to return.“ 41
Aus Sicht der armenischen Gemeinschaft war der (wie auch immer begründete und motivierte) selbstgewählte Verbleib in der Tätergesellschaft Verrat. Auch die nichtarmenischen Helfer etwa des Völkerbunds ließen individuelle Gründe nicht gelten. So erklärte Karen Jeppe, die dänische Missionarin, die den Völkermord zunächst in Urfa erlebt hatte und später humanitäre Arbeit in Aleppo leistete, noch
39 Zit. n. Tachjian, Mixed Marriage (wie Anm.37), 95. 40 Vgl. ebd.86f. 41 Zit. n. Derderian, Common Fate (wie Anm.13), 14.
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1924: „[…] in fact the woman who places her nation below her sexual gratification is not worthy of any help. May such women be lost forever.“ 42 Die Rückführung armenischer Frauen und Kinder warf jedoch nicht nur Fragen der ethnischen Zuordnung auf, sondern galt auch als Prüfstein des humanitären Engagements des Völkerbundes und verwandter Organisationen im unterlegenen Osmanischen Reich. 43 Dabei war diese humanitäre Aufgabe keineswegs unproblematisch. Sie richtete sich weniger auf die leidenden Individuen als vielmehr auf die ethnische Gruppe als Ganze, deren Überleben im Vordergrund stand; und dabei machten insbesondere christlich geprägte Akteure oft zivilisatorische Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen. 44 Zudem war das humanitäre Engagement zur gleichen Zeit Ausübung von Besatzungsherrschaft. In ihrer konkreten Ausprägung versuchte man zwar, Konflikte zu vermeiden; so wurden zum Beispiel Kinder, deren ethnische oder religiöse Zugehörigkeit nicht sicher war, für eine gewisse Zeit in einem ‚Neutral House‘ untergebracht. Dort wurden sie von Vertretern der armenischen und der griechischen Gemeinschaft wie auch des Osmanischen Roten Halbmondes und der britischen Regierung beobachtet. So hatte man sich zwischen osmanischen, alliierten, armenischen und griechischen Repräsentanten kurz nach der britischen Besetzung Istanbuls geeinigt. In der Sache entbrannte aber bald ein heftiger Konflikt um die Kinder, die jede Seite als ihre betrachtete, während sie der anderen den Raub eben dieser Kinder vorwarf. 45 Auf allen Seiten zeigte sich eine Wahr-
42
Zit. nach Tachjian, Mixed Marriage (wie Anm.37), 100. Eine ähnlich rigide Haltung nahm offenbar der
Patriarch ein; vgl. Ekmekcioglu, A Climate for Abduction (wie Anm.28), 539. 43
In einer Hinsicht hatte bereits der Vertrag von Sèvres eine wichtige Entscheidung getroffen. In
Art.142 hieß es: „Whereas, in view of the terrorist régime which has existed in Turkey since November 1, 1914, conversions to Islam could not take place under normal conditions, no conversions since that date are recognised and all persons who were non-Moslems before November 1, 1914, will be considered as still remaining such, unless, after regaining their liberty, they voluntarily perform the necessary formalities for embracing the Islamic faith“ (Treaty of Peace with Turkey. Signed at Sèvres, August 10, 1920. Presented to Parliament by Command of His Majesty. London 1920). Zur Arbeit des Völkerbundes auf diesem Feld allgemein Vahram L. Shemmassian, The League of Nations and the Reclamation of Armenian Genocide Survivors, in: Richard G. Hovannisian (Ed.), Looking Backward, Moving Forward. Confronting the Armenian Genocide. New Brunswick, N. J. 2003, 81–112. 44
Vgl. Watenpaugh, The League (wie Anm.14), 1315–1339, 1327.
45
Vgl. ebd.1330f. Auch für diesen Konflikt gibt es ein Vorkriegspendant: Mit der Ausprägung moderner
Methoden der Bevölkerungsregistrierung im Osmanischen Reich Ende des 19.Jahrhunderts waren auch Konflikte um die korrekte Zuordnung der Findelkinder zwischen den verschiedenen millet ausgebrochen. Zu diesem „contested terrain over which much effort was spent by local authorities, foreign missionaries,
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nehmung der Frauen und Kinder, die Watenpough als „empty vessels into which anxieties and beliefs about change, national honor, and civilization could be poured“ 46 bezeichnet. 47 Ein grundlegendes Problem aber ließ sich durch die Rückführung von Frauen und Kindern nicht lösen. Frauen und Kinder waren traditionell nicht die Bewahrer der armenischen Nation; in der Herkunftsregion, also bei Armeniern, Kurden und Türken gleichermaßen, bestimmte die Zugehörigkeit des Vaters und Ehemannes über die ethnische Zugehörigkeit der Kinder oder der Ehefrau. Die Konsequenz hätte für das Projekt des ethnischen Wiederaufbaus vernichtend sein können: „[…] males exemplified the chief promoters of the Armenian national/ethnic identity. Without them there would have been no nation.“ 48 Da der Völkermord als physischer Mord armenische Männer am stärksten getroffen hatte, war der Wiederaufbau nun von jenen abhängig, die diese Rolle so nie gehabt hatten: von Frauen und Kindern. Die Förderung der aktiven, endogamen 49 Verheiratung armenischer Frauen mit armenischen Männern, die den Weltkrieg im Ausland, etwa in den USA oder in Kanada, überlebt hatten, half dabei noch am ehesten, zu tradierten Rollenzuschreibungen zurückzukehren. 50 Auch die überlebenden Kinder wurden in armenische Familien überführt. Ihr individuelles Schicksal wurde damit dem Schicksal der imaginierten armenischen Gemeinschaft untergeordnet. Eine Ausnahme stellten nur die Kinder aus den geschilderten Zwangsehen dar, insofern sie als türkische Kinder wahrgenommen wurden. 51 Hier zeigte sich ein nur
religious and civil leaders of the communities, municipalities, the police force, and the central state“, vgl. Nazan Maksudyan, The Fight over Nobody’s Children. Religion, Nationality and Citizenship of Foundlings in the Late Ottoman Empire, in: NPT 41, 2009, 151–179, 176. 46 Watenpaugh, The League (wie Anm.14), 1337. 47 Weitere Ausführungen zur Arbeit von Missionen im Hinblick auf Frauen und Kinder auch bei Inger Marie Okkenhaug, Scandinavian Missionaries, Gender and Armenian Refugees during World War I. Crisis and Reshaping of Vocation, in: Social Sciences and Missions 23, 2010, 63–93. 48 Sanasarian, Gender Distinction (wie Anm.5), 452. 49 Wobei die ‚endogame‘ Gemeinschaft nach dem Krieg neu und anders imaginiert wurde. 50 Die Langzeitfolgen dieser Politik sind von Isabel Kaprielian eindrücklich beschrieben worden: Isabel Kaprielian-Churchill, Odars and ‚Others‘. Intermarriage and the Retention of Armenian Ethnic Identity, in: Marlene Epp/Franca Iacovetta/Frances Swyripa (Eds.), Sisters or Strangers? Immigrant, Ethnic, and Racialized Women in Canadian History. Toronto 2004, 248–265. 51 An einem dramatischen Beispiel Ekmekcioglu, A Climate for Abduction (wie Anm.28), 522f. Es handelt sich um etwa einhundert Interviews, die Donald E. Miller und Lorna Touryan-Miller in den 1990er-Jahren
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sehr langsamer Wandel; so ging das ‚Armenian National Relief Committee‘ dazu über, Kinder aus solchen gemischten Ehen als ‚unsere Waisen‘ einzustufen. Es blieb jedoch eine Ausnahme. Karen Jeppe schrieb dem armenischen Erzbischof in den frühen 1920er-Jahren: „I have received your letter about the woman, Jeranig, but I profoundly suggest not to be able to touch the case, as it is entirely against my rule to receive Mohammedan children except in the case, when the father gives them up on his own account. […] However, from a purely Armenian point of view, I do not approve of these half-cast children. They are no good anyhow. My advice is to send her back. Why should we trouble to educate these foreign children, when we have so many Armenian children in need.“ 52
IV. Langzeitprägungen Es fällt nicht leicht, die Folgen dieser aus ihrer Zeit heraus verständlichen und nachvollziehbaren Bemühungen für die Kinder auf der einen Seite und für die armenische Gemeinschaft im Ganzen auf der anderen Seite kohärent zusammenzufassen. Auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung lassen sich nur Eindrücke formulieren. Der Bestand an Quellen für solche Forschungen, etwa Oral History-Interviews mit Überlebenden 53 und ihren Nachkommen oder gedruckte Erinnerungen 54 und Autobiographien, ist in den letzten Jahren gewachsen. Zu denken wäre auch an
mit Überlebenden des Völkermordes führten; vgl. Donald E. Miller/Lorna Touryan-Miller, Survivors. An Oral History of the Armenian Genocide. Berkeley 1999. 52 Zit. n. Vahé Tachjian, Gender, Nationalism, Exclusion. The Reintegration Process of Female Survivors of the Armenian Genocide, in: Nations and Nationalism 15, 2009, 60–80, 75. 53
Am wichtigsten sind hier wohl Miller/Touryan-Miller, Survivors (wie Anm.51); zu Methode und Be-
funden vgl. dies., Women and Children of the Armenian Genocide, in: Richard G. Hovannisian (Ed.), The Armenian Genocide. History, Politics, Ethics. New York 1992, 152–172; dies., An Oral History Perspective on Responses to the Armenian Genocide, in: Hovannisian (Ed.), The Armenian Genocide in Perspective (wie Anm.7), 107–203; Mihran Dabag/Kristin Platt (Hrsg.), Verlust und Vermächtnis. Überlebende des Genozids an den Armeniern erinnern sich. Paderborn 2015. Hunderte Interviews wurden auch im Rahmen des UCLA [= University of California, Los Angeles] Armenian Oral History Projekts aufgezeichnet. 54
Vgl. Odian, Accursed Years (wie Anm.29); Vahram Dadrian, To the Desert. Pages from my Diary.
Princeton/London 2003.
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Belletristik oder Werke der bildenden Kunst. 55 Viele dieser Quellen sind lange nach dem Völkermord entstanden. Insbesondere überlebende Frauen und Kinder waren oft nicht auf eigenes Sprechen in einer Öffentlichkeit vorbereitet. 56 Das bedeutet nicht, dass – wie vermutet werden könnte – die armenische Herkunft jener Frauen und Kinder, die in türkische oder kurdische Familien transferiert worden waren, nach dem Weltkrieg völlig negiert worden wäre. Gerade in den ostanatolischen Regionen der Republik Türkei blieb die ethnische Herkunft der Frauen und Heranwachsenden oft über Generationen hinweg bekannt. Fethiye Çetin berichtet in ihrem Werk „Meine Großmutter“, dass ihre Großmutter Heranuş Gadaryan mitunter Bräuche begangen habe, die sie nun rückblickend als armenischchristliche Feste mit anderen überlebenden Armenierinnen und Armeniern deuten könne. 57 Zerrin Özlem Biner berichtet von Feldforschungen in der Region Mardin, in der Bezugnahmen auf die Gewaltgeschichte von 1915 (wie auch der Gewalt gegen Kurden) in Alltagsgesprächen nicht selten seien; auch das Fortdauern ehemals armenisch-christlicher Bräuche sei in der Region kein Tabu. 58 Für Armenierinnen und Armenier, die im Ausland überlebten und weiterlebten, bedeutete das Erinnern immer auch eine Auseinandersetzung mit den Narrativen der eigenen Gemeinschaft und insofern ein Ringen um die je individuelle Erinnerung, die sich nicht von der Gemeinschaft distanziert, aber zur gleichen Zeit die Person zu wahren vermag. Unter den Interviewpartnern von Mihran Dabag und seinen
55 Atom Egoyans Film „Ararat“ etwa hat das Bild „The artist and his mother“ des armenischen Malers Arshile Gorky in eine Erzählung darüber eingebaut, welche Schwierigkeiten das Erzählen dieses Völkermords bereitet. Arshile Gorky hatte 1915/16 als Kind über Eriwan in die USA fliehen können. Das Bild ist für den Film sprechend, indem es Arshiles Arbeit an dieser Mutter-Sohn-Erzählung hervorhebt. 56 Janice Okoomian, Becoming White. Contested History, Armenian American Women, and Racialized Bodies, in: MELUS 27, 2002, 213–237, analysiert den Roman „Rise the Euphrates“ von Carol Edgarian und stellt fest, dass diese Geschichte des Heranwachsens zugleich eine literarische Auseinandersetzung mit der Tradition des weiblichen Schweigens in der armenischen Gesellschaft ist. Sie verweist damit explizit auf die Verbindung zwischen weiblichem Schweigen und den Schwierigkeiten der Erfahrungsbewältigung der Nachfahren. 57 Vgl. die deutsche Ausgabe: Fethiye Çetin, Meine Großmutter. Erinnerungen. 2.Aufl. Engelschoff 2013, 89f. 58 Vgl. auch die aussagekräftigen Zitate in Zerrin Özlem Biner, Acts of Defacement, Memories of Loss. Ghostly Effects of the „Armenian Crisis“ in Mardin, Southeastern Turkey, in: History and Memory 22, 2010, 68–94. Zu den Langzeitfolgen dieser schwierigen Erzählsituation auch Uğur Ümit Üngör, Recalling the Appalling. Mass Violence in Eastern Turkey in the Twentieth Century, in: Nanci Adler (Ed.), Memories of Mass Repression. Narrating Life Stories in the Aftermath of Atrocity. New Brunswick, N. J. 2009, 175–198.
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Kollegen findet sich der Bericht von Aram Güreghian, der seine Erinnerungen mit den Worten abschließt: „Es wird immer viel geredet in der Politik und unter den Armeniern. Über Anerkennung. Über Armenien. Aber das, was uns ausmacht, ist doch unsere persönliche Geschichte. Es sind unsere persönlichen Erfahrungen. Unsere Vergangenheit.“ 59 Der Zwiespalt zwischen individueller Erinnerung und kollektiver Erzählung kann wohl kaum prägnanter in diesem Wechsel aus ‚ich‘, ‚wir‘ und dem distanzierenden Passiv ausgedrückt werden. Als schwere Belastung für das weitere Leben und auch die Handlungsfähigkeit vieler armenischer Überlebender, insbesondere der Kinder, erwies sich ihre Unterordnung unter ein übergeordnetes nationales Ziel. Die armenische Gemeinschaft 60 erwartete von ihnen die Übernahme einer gewaltigen Aufgabe – jene der Wiedergeburt des armenischen Volkes: „The dominant mentality was that by giving these children an Armenian education it would be possible to ‚Armenianize‘ them again and turn them into the most important factors in the reconstruction of Armenian Society.“ 61 Da der Grund für diese Unterordnung im so überwältigenden Erleben einer versuchten vollständigen Vernichtung des eigenen Volkes lag, das sich auch mit den eigenen individuellen Erfahrungen von Schutzlosigkeit, Gewalt und Todesnähe deckte, gab es keinerlei Anlass, aus dieser Zuschreibung herauszutreten. Hinzu trat das Opfer der vielen Armenierinnen und Armenier, die im Völkermord gestorben waren. Ihr Tod verpflichtete die Überlebenden moralisch, an der Erinnerung und dem eigenen Armenisch-Sein festzuhalten. So schrieb der armenische Dichter David Kherdian Anfang der 1990er-Jahre rückblickend: „I had assumed the burden of their
59
Dabag/Platt, Verlust und Vermächtnis (wie Anm.53), 88.
60
Selbstverständlich handelt es sich bei der hier oft angesprochenen ‚armenischen Gemeinschaft‘ um
eine eher diffuse Gruppenbenennung. Eine organisierte Gemeinschaft mit klaren Vertretungsansprüchen gab es nicht einmal sektoral, auch wenn einzelne Akteure wie der armenische Patriarch einen gesamtarmenischen Vertretungsanspruch formulieren mochten; Institutionen wie die Jewish Claims Conference, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Vertretung von Entschädigungsansprüchen überlebender jüdischer Opfer der Shoa gegründet wurde, haben im armenischen Fall kein Pendant. Auch politische Vertretungen wie im jüdischen Fall die Alliance Israélite Universelle oder der World Jewish Congress fehlen. Terroristische Gruppen wie die Armenian Revolutionary Army oder die ASALA (Armenian Secret Army for the Liberation of Armenia) können nicht als Vertretung der armenischen Gemeinschaft gelten, auch nicht im Hinblick auf die von ihnen formulierten politischen (v.a. territorialen) Ziele. 61
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Tachjian, Mixed Marriage (wie Anm.37), 98.
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sacrifice …“. 62 Boyajian und Grigorian beobachteten die Aneignung der nationalen Aufgabe als spezifische Ausprägung des survivor syndrome: „For Armenian children of survivors of the genocide, a dominant theme that emerges is the feeling of being ‚special‘; special in the sense that there is an obligation that was placed upon them directly or indirectly, to be the bearers of the hopes and aspirations, not only of a given family but of a whole people.“ 63
Trotz der Tatsache, dass Frauen und Kinder Krieg und Völkermord nicht unter männlichem Schutz, sondern nur aus eigener Handlungsfähigkeit überlebt hatten, galt es nach dem Krieg, traditionelle Rollenbilder erneut zur Geltung zu bringen, um so die Nation wieder aufzurichten. Ihre agency wurde in der armenischen Gemeinschaft wieder auf klassische Tätigkeiten reduziert, deren Wert nun in ihrem Beitrag für die armenische Wiedergeburt gesehen wurde. Entscheidend im Blick auf ein dauerhaftes Fortleben war insbesondere ihre Fruchtbarkeit. So schrieb Vahan Malezian schon 1917 in Alexandria: „[Tomorrow], especially then, it will once again be the Armenian woman who will pit herself against ruins and tombs with her two supreme virtues – fertility and purity; she will, as a mother and wife, be the real worker in the task of national reconstruction, giving the fatherland many regiments in place of its martyred generations, and lighting the yertik’s fire, so that everywhere smoke-filled hearths may speak of the life of the fatherland. We must ready ourselves, therefore, for that happy day: and, on that day, let no Armenian woman remain outside the fatherland, or be barren. The ruined fatherland needs men. You Armenian women can give it that which the Turk stole, like a wild beast; only you, the fruitful bosom of the fatherland, can, with marvelous fecundity, take our supreme vengeance on our accursed executioners, providing ten generations against them instead of one.“ 64
Da Malezian von der vielfachen Prostitution und den Zwangsverheiratungen armenischer Frauen nichts wusste, war das nicht zynisch zu verstehen; er formulierte aber jene Rolle, die in armenischen Zeitungen auch nach 1918 vorgetragen wurde. Schwierig war die Festlegung auf das Überleben der armenischen Gemeinde auch
62 Zit. nach Lorne Shirinian, David Kherdian and the Ethno-Autobiographical Impulse. Rediscovering the Past, in: MELUS 22, 1997, 77–89, 86; übergeordnet dies., Writing Memory. The Search for Home in Armenian Diaspora Literature as Cultural Practice. Kingston, Ont. 2000. 63 Boyajian/Grigorian, Psychosocial Sequelae (wie Anm.7), 181. 64 Zit. n. Tachjian, Gender, Nationalism, Exclusion (wie Anm.52), 69.
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für die Nachfahren der armenischen Überlebenden. Wie in anderen Fällen genozidaler Erfahrungen wurden Aufgabe und Belastung – meist ungewollt – über Generationen weitergegeben: „Although generations have passed since the genocide, traumatic family memories seem to persist, and apparently many of these people feel the need to fill in the gaps in their self-narrative.” 65 Die Sozialwissenschaftlerin Sevan Beukian spricht von „the burden of remembering that women had to carry after enduring so much, all by being expected to reproduce and give life to ‚continue‘ the Armenian nation.“ 66 Vielleicht am deutlichsten zeigt sich die Langzeitprägung in der Rate interethnischer und innerethnischer Ehen unter im Exil lebenden Armenier/innen. Im Blick auf den Vorrang der armenischen Nation gegenüber dem individuellen Lebensglück war und ist die Suche nach einem armenischen Ehepartner bis heute dominant. Richard G. Hovannisian etwa schildert seine Eindrücke aus Hunderten Interviews in der UCLA Armenian Oral History-Sammlung: „Most survivors express deep concern about maintaining a national existence and cohesion in the Diaspora. They fear the loss of identity through a ‚white massacre‘, that is, through intermarriage and assimilation, and they often preach in their interviews about the need to speak Armenian, maintain Armenian traditions, and advance the Armenian cause. Even as they profess hope and pride in the ‚new generation‘, they betray an anxiety that the impact of the genocide has not yet run its full course.“ 67
Die Orientierung der Eheschließung am Wohl der Nation findet sich sogar unter umgekehrten Vorzeichen in wissenschaftlichen Beiträgen, etwa im Plädoyer Isabell Kaprielians für interethnische Ehen, die sie als „one of the greatest, but unrecognized, unappreciated, and underused assets of the Armenian community in the diaspora“ ansieht und damit ebenfalls dem Primat des Überlebens der armenischen Nation unterordnet. 68 Die in den armenischen Gemeinschaften beobachtbare perpetuierte Bezugnah65
Üngör, Orphans, Converts, and Prostitutes (wie Anm.17), 192.
66
Sevan Beukian, Motherhood as Armenianness. Expressions of Femininity in the Making of Armenian
National Identity, in: SEN 14, 2014, 247–269, 248. Die Langzeitfolgen dieser Aufgabe spürte sie noch bei armenischen Frauen auf, die im Bergkarabach-Konflikt trotz ihrer aktiven Beteiligung auf ihr Mutter-Sein im Dienst der armenischen Nation zurückgeworfen wurden. 67
Richard G. Hovannisian, Bitter-Sweet Memories. The Last Generation of Ottoman Armenians, in: ders.
(Ed.), Looking Backward, Moving Forward (wie Anm.43), 113–124, 123. 68
340
Kaprielian-Churchill, Odars and ‚Others‘ (wie Anm.50), 258.
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me auf den Völkermord, die als Begründung für die Unterordnung von Armenierinnen und Armeniern unter eine nationale Aufgabe dient, wirkt im Rückblick fast zwangsläufig, die hier erzählte Geschichte mutet plausibel und erwartbar an. Erst der Vergleich mit anderen betroffenen Gemeinschaften verdeutlicht, dass dem keineswegs so war. So haben Sofia Mutlu-Numansen und Ringo Ossewaarde in Studien zu Nachkommen überlebender Aramäer, Assyrer und Chaldäer zeigen können, dass diese die Erfahrung des Völkermordes 1915 in andere (v.a. religiöse) Termini kleideten und kleiden. 69 Das verändert auch den Blick auf die Kinder aus erzwungenen gemischten Ehen, auf die Frauen, die Zwangsheiraten unterworfen wurden, und auf die eigene Gemeinschaft. Spätestens in diesem Vergleich wird deutlich, dass die langfristigen Prägungen des Völkermords in den armenischen Gemeinschaften nicht einfach gegeben, sondern auch Folge der aktiven Aneignung der zugeschriebenen nationalen Aufgabe über Generationen hinweg sind. Erst so erweist sich die Übernahme der Aufgabe nicht als Ausdruck von Passivität, sondern von agency. Es ist bezeichnend, dass die Versuche, an diesen Aufgaben zu rütteln, nicht selten z.B. von armenischen Wissenschaftlerinnen herrühren, die dabei vor allem auch gegenwärtige Geschlechterverhältnisse im Blick haben. 70
V. Fazit Die Konzentration auf das Überleben der armenischen Nation hat die Gemeinschaft dauerhaft auf den historischen Rückbezug von Armenierinnen und Armeniern auf den Völkermord von 1915 verwiesen. Dass insbesondere Kinder und junge Frauen den Völkermord überlebten und somit – abweichend von etablierten Rollenzuschreibungen – für dieses Davonkommen verantwortlich waren, kann die Ausprägung einer neu imaginierten, nicht mehr regional differenziert und in ihren viel-
69 Vgl. Sofia Mutlu-Numansen/Ringo Ossewaarde, Heroines of Gendercide. The Religious Sensemaking of Rape and Abduction in Aramean, Assyrian and Chaldean Migrant Communities, in: European Journal of Women’s Studies 22, 2015, 428–442. 70 Zu nennen wäre etwa der Workshop „Gendered Memories of War and political Violence“ der Central European University und der Sabancı University 2012, organisiert von Ayşe Gül Altınay und Andrea Petö (Programm:
http://myweb.sabanciuniv.edu/genderconf/files/2011/08/14-May%C4%B1s_-Program.pdf,
[27.10.2015]). Hierzu auch das Themenheft „Gendering Genocide“ des European Journal of Women’s Studies 22, 2015; u.a. auch Avakian/Attarian, Imagining our Foremothers (wie Anm.9).
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fältigen Verflechtungen vor Ort gedachten armenischen Nation zumindest teilweise erklären. Sie eigneten sich die Rolle des Aufbaus dieser Nation an, die sie als moralische Aufgabe wahrnahmen. Jeder Versuch, sich auf das Geschehen von 1915 zu beziehen, ohne dabei direkt den Begriff ‚Völkermord‘ zu verwenden, stößt in der armenischen Gemeinschaft daher noch heute auf heftigen Widerstand. 71 Die Fixierung auf die Frage ‚Nennst Du es nun Völkermord oder nicht?‘ sowohl auf der Seite des armenischen als auch des türkischen nationalen Narrativs verhindert jedoch seit Langem das Gespräch in der Sache selbst. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Auch die „Workshops on Armenian Turkish Scholarship“ haben an diesem Punkt gearbeitet und das Gespräch über den Völkermord zwischen keineswegs auf Konsens eingestellten Historiker/innen gesucht. Der Journalist Hrant Dink favorisierte ein türkisch-armenisches Gespräch, das von wechselseitiger Empathie (nicht aber von rhetorischer Weichspülerei) geprägt sein sollte. 72 Dabei kann die neue Aufmerksamkeit für Kinder die erstarrte Diskussion aufbrechen. Der Blick auf die Kinder lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Gruppe, die für keinerlei Illoyalität gegenüber dem Osmanischen Reich oder für Massaker an Türken und Kurden verantwortlich gemacht werden kann; nationaltürkische Narrative der Rechtfertigung der Massaker geraten hier an ihre Grenzen. Gerade in der Türkei hat das Schicksal überlebender armenischer Kinder in den letzten Jahren für Aufmerksamkeit gesorgt. Die Erinnerungen von Fethiye Cetin an ihre Großmutter 73 waren für lange Zeit eines der bestverkauften Bücher der Türkei. Weitere Erinnerungen erschienen in den Buchläden. Symptomatisch ist auch, dass Fatih Akins Film „The Cut“, der weniger den Völkermord an den Armeniern selbst als vielmehr das, was ein Vater ganz unmittelbar in diesen und in den Folgejahren erlebt haben kann, erzählt, ohne Schwierigkeiten in der Türkei gezeigt werden konnte. In der türkischen Belletristik ist das Motiv armenischer Überlebender, die in türkischen Fami-
71
Vgl. etwa die Reaktionen auf die bemerkenswerte erste Veröffentlichung aus dem Umfeld der Work-
shops on Armenian Turkish Scholarship: Ronald Grigor Suny/Fatma Müge Göçek (Eds.), A Question of Genocide. Armenians and Turks at the End of the Ottoman Empire. New York 2011. Schon das Wort „question of“ im Titel weckte den Verdacht, der Völkermord werde in Frage gestellt. Siehe etwa die Rezension von Bedross Der Matossian in: JSAS 20, 2011, 173–187; Marc Mamigonian, ‚A Question of Genocide‘ … and More Questions, in: Armenian Weekly 2011, 2011, http://armenianweekly.com/2011/05/03/a-question-of-genocide/ [30.10.2015].
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72
Vgl. Hrant Dink/Günter Seufert (Hrsg.), Von der Saat der Worte. Berlin 2008.
73
Çetin/Tremmel-Turan, Meine Großmutter (wie Anm.57).
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lien weiterleben, inzwischen etabliert; beispielhaft hierfür stehen Romane wie Elif Shafaks „Der Bastard von Istanbul“ 74 oder Zülfü Livanelis „Serenade für Nadja“. In der armenischen Belletristik ist es vielleicht sogar schon etwas älter; 1994 beispielsweise erschien Carol Edgarians „Rise the Euphrates“. 75 Die wahrscheinlich bekannteste dokumentarische Verfilmung ist Suzanne Khardalians „Grandma’s Tattoos“ von 2011. Auch ein türkischer Exilschriftsteller wie Doğan Akhanli greift das Motiv islamisierter armenischer Kinder in seinem Theaterstück „Annes Schweigen“ auf. In Projekten zur Stärkung der Zivilgesellschaften werden türkische und armenische Erinnerungen bewusst zusammengeführt. 76 Dank internationaler Konferenzen, wie sie etwa von der Hrant-Dink-Stiftung organisiert wurden und werden, finden auch armenische und türkische Wissenschaftler zur Diskussion des Schicksals armenischer Kinder zusammen. 77 Unter türkischen Wissenschaftlern und Intellektuellen lässt sich beobachten, dass der neue Umgang mit den überlebenden armenischen Kindern und ihren Nachfahren den Diskurs über die türkische Nation verändert und den Blick auf die ethnische Vielfalt im ausgehenden Osmanischen Reich und in der Türkei lenkt. Das ist nicht spannungsfrei, wie die heftige Kontroverse um die ethnische Herkunft von Mustafa Kemals Adoptivtochter Sabiha Gökçen zeigt: Der türkisch-armenische Journalist Hrant Dink hatte 2004 in einem Artikel eine armenische Herkunft Gökçens behauptet. Diese Abstammung konnte bis heute nicht widerlegt werden, wur-
74 2006 war dieses Buch der meistverkaufte Roman in der Türkei mit über 100000 verkauften Exemplaren. Vgl. Altınay/Türkyilmaz, Unraveling Layers of Gendered Silencing (wie Anm.18). Ayşe Gül Altınay berichtete 2013, dass mindestens 17 Bücher unterschiedlicher wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Genres auf Türkisch erschienen seien, die das Schicksal überlebender, islamisierter armenischer Kinder thematisierten. Vgl. Ayşe Gül Altınay, Gendered Silences, Gendered Memories. New Memory Work on Islamized Armenians in Turkey, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 24/2, 2013, 73–89. 75 Vgl. Janice Okoomian, Becoming White. Contested History, Armenian American Women, and Racialized Bodies, in: MELUS 27, 2002, 213–237. 76 Vgl. etwa Institut für Internationale Zusammenarbeit des Deutschen Volkshochschul-Verbandes e.V., Speaking to One Another. Personal Memories of the Past in Armenia and Turkey, http://www.dvv-international.ge/personal-memories-of-the-past-in-armenia-and-turkey.html [29.10.2015]. Wohl am beeindruckendsten sind die Bemühungen des Houshamadyan-Projektes: Elke Hartmann/Vahé Tachjian, Houshamadyan – a Project to Reconstruct Ottoman Armenian Town and Village Life, 2009, http://www.houshamadyan.org/en/home.html [29.10.2015]. 77 Vgl. Conference on Islamized Armenians. 2.–4.November 2013, Istanbul: http://www.hrantdink.org/ ?Detail=753&Lang=en [27.10.2015].
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de in türkisch-nationalen Kreisen aber als extreme Provokation wahrgenommen. Gerade der Gang der Diskussion über überlebende armenische Frauen und Kinder vermag aber die Aufmerksamkeit wieder auf das individuelle Leid zu lenken, das unter der beiderseitigen türkisch-armenischen Fixierung auf die ‚Völkermord‘-Frage aus dem Blick geraten ist. Die Aufmerksamkeit für Kinder und junge Frauen verwandelt die politische Frage der Völkermord-Anerkennung in die Frage nach dem Leid von Menschen – im Krieg und nach dem Krieg. In diesem Sinne plädierte auch Hrant Dink für eine neue Perspektive auf diese Geschichte: „Das Wort ‚Genozid‘ ist für mich nicht entscheidend. Wenn wir uns der Geschichte mit juristischen Begriffen nähern, die international eine spezifische Bedeutung haben, verhindern wir, dass wir begreifen, was damals passiert ist. Wir brauchen eine ethische Annäherung an die Geschichte.“ 78
Auf diese Weise könnte der Blick auf die armenischen Kinder zur Entwicklung einer nicht zwingend konsensualen, aber ernsthaften und empathischen Perspektive auf eine in ihren vielfältigen Verflechtungen (die hier nicht einmal angetippt werden konnten) sehr komplexe Geschichte beitragen.
78
„Das Wort ‚Genozid‘ ist nicht entscheidend“. Interview mit Hrant Dink von Deniz Yücel, in: Jungle
World Nr.17, 27.April 2005, http://jungle-world.com/artikel/2005/17/15123.html [29.10.2015].
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„So verlief meine Jugend und so wird sie mir ewig im Gedächtnis bleiben – hart und ohne Freude“ Kriegsprägungen und der Weg in die SA von Lara Hensch
I. Einleitung Der Verfasser des Titelzitates 1 war Mitglied der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA), geboren 1907 in Berlin als Sohn eines Justizwachtmeisters. 2 Bereits 1925, knapp 18-jährig, trat er in den Berliner Frontbann ein, eine Tarnorganisation in der Verbotszeit der NSDAP, die 1926 in die SA überführt wurde. Entstanden ist der Ausspruch im Sommer 1934, im Rahmen eines „wissenschaftlichen Preisausschreibens“ des Soziologen Theodore Fred Abel und der Columbia University. 3 Ziel Abels war es, die Sozialstruktur der „frühen Anhänger der Hitler-Bewegung“ zu analysieren, deren „Weg“ zur NSDAP und zu ihren Organisationen sowie ihre Motivationen nachzuvollziehen. Von den 683 eingesandten Biogrammen, wie Abel die Lebensgeschichten nannte, sind 581 erhalten, ungefähr 300 wurden von SA-Männern verfasst. 4
1 Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 4, Nr.227, 1. 2 Vgl. ebd. 3 Das Preisausschreiben wurde Anfang Juni 1934 über das Reichsministerium für Propaganda und Volksaufklärung, lokale Parteizentralen und die Parteipresse annonciert: „400 Marks in Prizes for the Best Personal Life History of an Adherent of the Hitler Movement. Any person, regardless of sex or age, who was a member of the National Socialist party before January 1, 1933, or who was in sympathy with the movement, may participate in this contest. Contestants are to give accurate and detailed descriptions of their personal lives, particularly after the World War.“ Theodore Abel, The Nazi Movement. Why Hitler Came to Power. Überarb. Neuaufl. New York 1965, 3. Erstveröffentlicht wurde Abels Studie im Jahr 1938, vgl. ders., Why Hitler Came into Power. New York 1938. Die Sammlung liegt heute unter dem Namen Theodore Fred Abel Papers in den Hoover Institution Archives der Universität Stanford. 4 Der Bestand der Abel Papers ist von der Autorin im Rahmen des Dissertationsprojekts mit dem Arbeitstitel „Politische Soldaten – Konstruktionen soldatischer Männlichkeit am Beispiel der frühen SA“ vollständig gesichtet und ausgewertet worden. Der vorliegende Artikel basiert darauf, einzelne hier behandelte As-
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10.1515/9783110469196-015
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Bis heute wurden die Abel Papers in der historischen Forschung hauptsächlich als Quelle zur Sozialstruktur der frühen NS-‚Bewegung‘, insbesondere der SA, verwendet. 5 Wenig Beachtung fand, dass diese eine einzigartige Sammlung von Selbstdarstellungen früher SA-Männer kurz nach der Machtübernahme bilden. Sie enthalten implizite und explizite Aussagen über die Soldaten- und Männlichkeitsbilder der Verfasser: größtenteils Männer, die deutlich vor dem Januar 1933 – oft bereits in den späten 1920er-Jahren – zu begeisterten Anhängern des Nationalsozialismus geworden waren. 6 Ebenfalls vernachlässigt wurden die ausführlichen Schilderungen über Kindheit und Jugend der Verfasser. Angesichts der Altersstruktur der Teilnehmer des Preisausschreibens bilden die Abel Papers eine einmalige Quelle zu Kindheits- und Jugenddeutungen späterer SA-Männer und den Prägewirkungen des Ersten Weltkrieges – zwei Drittel der Abel’schen SA-Männer sind nach 1900 geboren und damit der Kriegskindheits- und Nachkriegsgeneration zuzurechnen. 7 Der vorliegende Artikel möchte einen Beitrag dazu leisten, diese Forschungslücke zu schließen, wobei die methodische und analytische Perspektive der Gender- bzw. Männlichkeitsforschung verpflichtet ist. Die aus den Abel’schen Biogrammen rekonstrupekte finden sich auch in Lara Hensch, „Wir aber sind mitten im Kampf aufgewachsen“. Erster Weltkrieg und „Kampfzeit“ in Selbstdarstellungen früher SA-Männer, in: Yves Müller/Reiner Zilkenat (Hrsg.), Bürgerkriegsarmee. Forschungen zur nationalsozialistischen Sturmabteilung. Frankfurt am Main 2013, 331– 354. 5 Vgl. Abel, Nazi Movement (wie Anm.3); Peter H.Merkl, Political Violence under the Swastika. 581 Early Nazis. Princeton 1975; ders., The Making of a Stormtrooper. Princeton 1980; ders., Die alten Kämpfer der NSDAP, in: Sozialwissenschaftliches Jahrbuch für Politik 2, 1971, 495–517. Die (statistische) Auswertung
der Abel Papers respektive der SA-Biogramme durch Peter Merkl bildet die Datengrundlage für den vorliegenden Aufsatz. 6 Die Verfasser der Biogramme verblieben häufig über mehrere Jahre in der SA, das ist angesichts der generell hohen Mitgliederfluktuation bemerkenswert; vgl. Mathilde Jamin, Zwischen den Klassen. Zur Sozialstruktur der SA-Führerschaft. Wuppertal 1984, 3. Viele von ihnen traten in die SA ein, bevor diese 1929 zur Massenorganisation wurde, was darauf schließen lässt, dass es sich um eine stark mit dem Nationalsozialismus identifizierte Personengruppe handelte. Auch deshalb beziehen sich die folgenden Aussagen über „die SA-Männer“ ausschließlich auf die hier untersuchten Biogramme, die präsentierten Ergebnisse sind nur sehr bedingt auf die Masse der SA-Mitglieder im Sommer 1934 übertragbar. 7 Knapp ein Drittel sind der Kriegsgeneration der Jahrgänge 1894 bis 1901 zuzurechnen. Die Vorkriegsgeneration der vor 1894 Geborenen ist deutlich unterrepräsentiert, was annähernd der Alterszusammensetzung der SA zum relevanten Zeitpunkt entspricht. Zur Zusammensetzung des SA-Samples der Abel Papers vgl. Merkl, Making (wie Anm.5), 109. Die Definition als Nachkriegs- bzw. Kriegsjugendgeneration und als Kriegs- bzw. Frontgeneration erfolgt nach Jamin, Klassen (wie Anm.6), 80. Für eine differenzierte Diskussion des Generationenbegriffs aus interdisziplinärer Perspektive vgl. Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hrsg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. 2.Aufl. Hamburg 2005.
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ierbare Erzählung über Kindheit und Jugend in Welt- und Nachkrieg lässt wesentliche Rückschlüsse auf die Konstruktion – wie auch auf die rückwirkende Begründung – ihrer Männlichkeitsbilder zu. Zugleich wird das Erleben von Kindheit und Jugend von den SA-Männern selbst oft als maßgeblich für die spätere Hinwendung zum Nationalsozialismus angeführt. Auch das in der Propaganda der frühen SA angebotene spezifische Männlichkeitsbild rekurrierte auf ebendiese Erfahrungen von Erstem Weltkrieg und ‚Kampfzeit‘. Der SA-Mann sei der „letzte Schritt in der Entwicklung des deutschen Soldatentums“ 8 und wurde gefasst als ‚politischer Soldat‘. „Der politische Soldat – das ist der Mann unseres Volkes, ganz gleich wo er steht, der weiß worum es geht.“ 9 In welcher Weise sich die Abel’schen SA-Männer auf die (Nach-)Kriegszeit bezogen, die sie mehrheitlich als Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene erlebten, und welche Vorstellungen von Männlichkeit und Soldatentum sie daraus ableiteten, wird im Folgenden untersucht. Die hier angeführten Selbstdarstellungen bilden einen Ausschnitt aus der Gesamtheit der Abel Papers. Kriterien für die Auswahl waren insbesondere das Alter – die Autoren der für die vorliegende Analyse herangezogenen Biogramme sind nach 1900 geboren – sowie der Zeitpunkt des Eintrittes in die NSDAP, nämlich vor 1931. 10 Der Verfasser des Titelzitates kann als typisch für die Auswahl gelten: Er erlebte den Weltkrieg als Kind und die Turbulenzen der Nachkriegszeit als Jugendlicher. Vor seinem Eintritt in den Frontbann 1925 war er in unterschiedlichen Wehr- und Kampforganisationen des extrem rechten und völkischen Spektrums der Weimarer Republik aktiv. Dieser Prozess der Politisierung und Militarisierung wurde in seiner Selbstdarstellung durch das Erleben des Krieges und der Revolution von 1918 begründet und musste – so der Aufbau der Erzählung – geradezu zwangsläufig in seinem begeisterten Engagement für die SA als ‚Faust der Bewegung‘ münden.
8 Der SA-Führer, Heft 11, Jg. 2, November 1937, 30. 9 Alfred Baeumler, Männerbund und Wissenschaft. Berlin 1934, 129. 10 Mit den Reichstagswahlen am 14.September 1930 wurde die NSDAP zur zweitstärksten Partei, die Zahl der SA-Mitglieder lag im Herbst 1930 bei ca. 60000. Im Verlauf des Jahres 1931 wurde die SA zur Massenorganisation, im Dezember 1931 hatte sie bereits ca. 260000 Mitglieder. Vgl. u.a. Peter Longerich, Die braunen Bataillone. Geschichte der SA. München 1989, 80, 93, 111. Bei den vor 1931 in die NSDAP eingetretenen SA-Männern der Abel Papers, auf die sich der vorliegende Artikel bezieht, kann davon ausgegangen werden, dass es sich um überzeugte Nationalsozialisten handelte – Eintritte aus (politischem und ökonomischen) Opportunismus können weitestgehend ausgeschlossen werden.
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II. Imaginationen eines männlichen Krieges und die Generationsfrage „Der deutschen Jugend, die im Weltkrieg 1914 bis 1918 heranwuchs, verblieb wohl als heiligstes Vermächtnis für ihr späteres Leben nur die Erinnerung an dem großen [sic] Geschehen, welches heute vor 20 Jahren die ganze Welt erschütterte. Ihr fehlte aber in jener schicksalsharten Zeit vor allem die ruhige Entwicklung des jungen Menschen, deren Erfüllung früheren Generationen einmal die Jugendzeit als die goldigste ihres Lebens erscheinen lies [sic]. Wir aber sind mitten im Kampf aufgewachsen. Wir hatten uns damit auch das Recht erwirkt, unsere Zukunft einmal selbst zu gestalten.“ 11
Der Verfasser dieser Worte präsentiert sich als Teil einer Generation, der Kriegsjugendgeneration, die maßgeblich über das kindliche Erleben des Ersten Weltkrieges definiert wird. Damit nimmt er Bezug auf einen zeitgenössischen Topos, der insbesondere in den letzten Jahren der Weimarer Republik Konjunktur hatte und sowohl als sozialwissenschaftliche Kategorie als auch zur Identitätsstiftung, vor allem im völkischen Spektrum, herangezogen wurde. 12 Weder der analytische noch der selbstbeschreibende Generationenbegriff ist unproblematisch, dennoch kann für die Untersuchung der Abel Papers nicht auf ihn verzichtet werden. Die SA-Männer des Samples beziehen sich auf den Topos der Generation in identitäts- sowie gemeinschaftsstiftender Weise. Der vorliegende Artikel untersucht, wie ebenjene konstruierte Gemeinschaft erzählungsimmanent auf die Kindheits- und Jugenderlebnisse während des Weltkrieges und der Umbrüche der Nachkriegszeit zurückgeführt wird. Dabei ist mitzudenken, dass die vermeintlich gemeinsamen bzw. identischen Erfahrungen in dieser Zeit eine Fiktion sind, sie unterscheiden sich zum Teil sehr stark. Dennoch fügen die Verfasser sie in eine stets ähnliche und immer stringente Erzählung ein – und verweisen damit auf die Funktion der generationellen Selbstverortung: Generationen fungieren als ‚imagined communities‘, als gefühlte Gemein-
11
Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 4, Nr.227, 1. Verfasser geb. 1907.
12
Vgl. aus unterschiedlicher Perspektive Karl Mannheim, Das Problem der Generationen (1928), in: ders.,
Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Neuwied/Berlin 1964, 509–565; Günther E. Gründel, Die Sendung der Jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise. München 1933; Ernst Glaeser, Jahrgang 1902. Berlin 1929; Hans Zehrer, Absage an den Jahrgang 1902, in: Die Tat 21, 1929/30, 740–748.
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schaften, sie vereinheitlichen disparate Erfahrungen und entindividualisieren diese. 13 Die Tatsache, dass auch gemeinsam erlebte Situationen von den Beteiligten unterschiedlich erfahren werden, wird über das Konstrukt des generationellen Erfahrungszusammenhangs ausgeblendet. Doch selbst wenn die in den Biogrammen als prägend genannten (Jugend-)Erfahrungen eventuell nicht von allen, die sich dieser Generation zuordneten, geteilt wurden, „so liegt in ihnen doch eine Art subjektiven Jugenderwachens, eine Bekehrung oder Selbstbestimmung symbolischer Identität“. 14 Die Männlichkeitsbilder aller SA-Männer des Abel Samples, der älteren wie der jüngeren, haben ihren Ausgangspunkt in der soldatischen Männlichkeit des Ersten Weltkriegs. Dabei lassen sich generationsspezifische Unterschiede ausmachen, die angesichts der Alterszusammensetzung des Abel Samples von besonderer Relevanz sind. Die Kriegsgeneration konstituierte ihre Generationszugehörigkeit über die aktive Teilnahme am Weltkrieg, dem „maskulinen Ereignis par excellence“. 15 Altersgenossen, die über keine ‚Fronterfahrung‘ verfügten, wurden aus dem Generationszusammenhang ausgeschlossen und abwertend als ‚Zivilisten‘, ‚Helden der Etappe‘ oder ‚Drückeberger‘ bezeichnet. 16 Zugleich wurden über das Konstrukt der Frontkämpfergeneration soziale Unterschiede nivelliert: In der Soldatengemeinschaft sei wahrer „Frontgeist, Frontkameradschaft, Frontsozialismus“ gelebt worden. 17 Unter den Frontkämpfern der Abel Papers stellt die Mehrheit ihre positiven Kriegserlebnisse heraus, obwohl sie Erschütterndes wie Verwundung, Gefangenschaft oder den Tod von Kameraden erfahren hatten. Auch diese Dopplung von Abgrenzung gegenüber den anderen, unmännlichen Altersgenossen, bei gleichzeitiger Gemeinschafts-
13 Vgl. Ulrike Jureit, Generationenforschung. Göttingen 2006, 82. 14 Vgl. Heinz D. Kittsteiner, Die Generationen der ‚Heroischen Moderne’. Zur kollektiven Verständigung auf einen Grundbegriff, in: Jureit/Wildt (Hrsg.), Generationen (wie Anm.7), 200–219, 207ff. 15 George L. Mosse, Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit. Frankfurt am Main 1997, 143. Christina Benninghaus hat zu Recht darauf verwiesen, dass die meisten generationellen Zuschreibungen, wenn auch vermeintlich geschlechtsneutral formuliert, deutlich männlich konnotiert waren und sind. Vgl. Christina Benninghaus, Geschlecht der Generation, in: Jureit/Wildt (Hrsg.), Generationen (wie Anm.7), 127–159, 131ff. 16 Vgl. Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 3, Nr.174, 1. Verfasser geb. 1903; vgl. Merkl, Violence (wie Anm.5), 589. 17 Vgl. Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 3, Nr.174, 1.
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konstruktion trug dazu bei, dass einige den Krieg als schönste Zeit ihres Lebens bezeichneten. 18 Angesichts der Prominenz der Kriegserfahrung und des Frontkämpfertums in gesellschaftlichen Debatten wie persönlichen Schilderungen ist es naheliegend, dass die Angehörigen der sogenannten Kriegsjugendgeneration ebenfalls auf diese Imaginationen Bezug nahmen. Die Partizipation am männlichen Ideal des Frontsoldaten war gerade angesichts des Scheiterns dieses Ideals und der deutschen Kriegsniederlage fundamental für ihre Identitätskonstruktion. Auch im Rückblick auf ihre Kindheit im Weltkrieg heroisierten sie mehrheitlich den Krieg und die deutschen Soldaten. Die Darstellungen des Ersten Weltkriegs unterscheiden sich bei den späteren SAMännern dieser Generation je nach Alter natürlich recht stark. In den Erzählungen der Älteren sind die Erinnerungen an die allgemeine Mobilmachung im August 1914 sehr präsent, sie betonen, innerhalb des Familiensystems stark gefordert – sogar überfordert – gewesen zu sein, weil sie angesichts der Abwesenheit älterer männlicher Verwandter zunehmend Verantwortung übernehmen mussten. Die Jüngsten erinnern sich hingegen kaum an diese Zeit, was die Bedeutung des ‚Kriegserlebnisses‘ in der Retrospektive aber nicht schmälert. Trotz dieser altersbedingten und biografischen Unterschiede gibt es deutliche Gemeinsamkeiten in den Kriegserzählungen der jüngeren SA-Männer. Am eindrücklichsten ist, dass der Beginn des Krieges, die Tage der allgemeinen Mobilmachung, als Hochzeit erscheinen; die Schilderungen sind geprägt von Euphorie und Begeisterung. Die Biogramme wimmeln von enthusiastischen Beschreibungen der frühen Kriegszeit, die auch dadurch nicht gebrochen werden, dass enge Verwandte und Bezugspersonen in den Krieg zogen. „[...] am 3. Tage der Mobilmachung kam morgens mein Vater an unsere Betten und verabschiedete sich von seinen Kindern. Herrlich war, wie immer und immer wieder neue Züge von Militär über die Hauptstrasse dahinzog [sic] und abends einquartiert wurde [sic]. Wir Kinder waren alle stolz darauf, wenn wir zuhause Einquartierung hatten und wir irgend ein glänzendes Uniformstück
18
Doch selbst diejenigen, die den Krieg als fürchterlich in Erinnerung behielten und schwere physische
und psychische Verwundungen davon getragen hatten, begrüßten das Ende des Krieges und die deutsche Kapitulation nicht. Vgl. Merkl, Making (wie Anm.5), 112.
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hin und wieder umhängen konnten. Wir spielten in den kommenden Monaten dauernd Soldaten und Strasse kämpfte gegen Strasse, Dorf gegen Dorf.“ 19
Die SA-Männer der Kriegsjugendgeneration waren klassische ‚victory watcher‘, begeistert verfolgten sie den Kriegsverlauf, die Truppenaufstellungen und vor allem die Siege der deutschen Armee. 20 Diese Haltung wurde innerfamiliär und von Bildungsinstitutionen unterstützt, in der Schule seien die Siege der deutschen Soldaten gefeiert worden, nach erfolgreichen Schlachten habe man schulfrei bekommen. 21 Das obige Zitat verweist auf eine zunehmende Militarisierung der Kinder und Jugendlichen bereits in der Frühphase des Krieges, sie spielten Soldaten, „nicht mehr Räuber und Gensdarm [sic], sondern Franzosen und Deutsche“. 22 Die überbordende Begeisterung für den Krieg und alles Soldatische wurde nur dadurch getrübt, dass man selbst zu jung war, um mit den Brüdern und Vätern mitzuziehen und Soldat zu werden. „Die Frauen weinen, während ihre Männer davon ziehen und wir Jungen begleiten unsere Krieger noch ein Stück Weges. Am liebsten möchten wir mit.“ 23 Die Erfahrung der Abwesenheit und des Todes der Väter, Brüder und älteren Freunde wurde in der Retrospektive nicht nur von der Erinnerung an die echte oder vermeintliche kollektive Kriegseuphorie überlagert. 24 Der existentiellen Verlusterfahrung wurde eine überindividuelle Qualität zugewiesen, das Sterben der männlichen Identifikationsfiguren wurde zum stolzen Dienst für das ‚Vaterland‘. Eine Besonderheit der Abel Papers ist, dass ca. 17% des Samples Halb- oder Vollwaisen waren. 25
19 Vgl. Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 4, Nr.250, 2. Verfasser geb. 1908. 20 Vgl. Merkl, Violence (wie Anm.5), 158f. 21 Vgl. Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 4, Nr.250, 3. Verfasser geb. 1908. Sowie Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 1, Nr.10, 1. Verfasser geb. 1907. 22 Vgl. Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 3, Nr.183, 1. Verfasser geb. ca. 1904. 23 Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 3, Nr.165, 3. Verfasser geb. 1904. 24 Die Frage, ob und inwieweit die Mehrheit der Bevölkerung in der Frühphase des Krieges von Euphorie ergriffen war, kann und soll hier nicht erörtert werden. Relevant ist jedoch, dass die SA-Männer sich in ihrer Erzählung über den beginnenden Weltkrieg an dem hegemonialen Narrativ des „Geistes von 1914“, also eines vom Krieg begeisterten und geeinten deutschen Volkes orientierten. Der wiederkehrende Rekurs der SA-Männer des Samples auf die kollektive Kriegsbegeisterung des Sommers 1914, auf das „Augusterleb-
nis“, bestätigt die These Jeffrey Verheys, dass es sich bei der konstatierten massenhaften Kriegsbegeisterung um einen äußerst wirksamen politischen Mythos handelte. Vgl. Jeffrey Verhey, Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Hamburg 2000. Zur Frage der Kriegsbegeisterung vgl. u.a. Thomas Raithel, Die innere Einheit des Kriegsbeginns als Erfahrung und Mythos in Deutschland und Frankreich 1914–1919, in: Francia 24, 1997, H.3,H.GH 39–66. 25 Vgl. Merkl, Violence (wie Anm.5), 588.
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Selbst wenn der Tod der Eltern nicht kriegsbedingt war, wurde er in der Erzählung mit dem Krieg verwoben: „Mit meinem 9. Lebensjahre starben meine Eltern. Mit 12 erlebte ich den Kriegsausbruch. Die Begeisterung mit der mein Bruder [und] sonstigen Verwandten in den Krieg zog und das Weinen ihrer Frauen, machte auf mich einen starken Eindruck. Von Klassenunterschieden war keine Rede mehr, das Volk war eins. Nun erlebte ich die großen Siege des deutschen Soldaten. Wir Jungens waren stolz darauf.“ 26
Der Verlust der Eltern wurde eingebettet in die große nationale Erzählung von Krieg und Sieg, aus ihm resultierende Verunsicherung, Angst und Trauer aufgefangen durch das kollektive Gefühl nationaler Einheit und Erhebung. Die Identifikation mit der Nation überlagerte die Trauer über den Tod der Eltern und anderer Verwandter. Zugleich wurde der aus Kinderperspektive existentielle Verlust retrospektiv als ursächlich für die drängende Notwendigkeit, selbst aktiv zu werden und an die Front zu kommen, angeführt. Die Eltern des Verfassers der folgenden Passage starben beide 1917, kurz darauf wurde sein an der Front stehender Bruder als vermisst gemeldet: „Dieses Erlebnis wühlte mich in meinem Innern so auf, dass ich beschloss ebenfalls meinem Vaterland als Soldat zu dienen. Ich wollte mich an die Front durchschlagen und in eine Feldkompagnie [sic] eintreten. Meine Pflegeeltern liessen mich allerdings von Alzey zurückholen und steckten mich wieder in die Schule.“ 27
Der Versuch, sich an die Front zu schmuggeln, blieb meist erfolglos, dennoch wurde er den Verfassern der Abel Papers zufolge immer wieder unternommen. Die Jugendlichen wollten teilhaben am Kriegsgeschehen und dem damit zusammenhängenden Männlichkeitsideal des Frontsoldaten. Da dies nicht gelang, betonten sie ihr soldatisches Verhalten an der Heimatfront: Sie seien in Wehrvereine eingetreten, hätten unterstützende Arbeiten und Kriegshilfsdienste geleistet und so weiter. Vor allem aber betonten sie, dass die Kriegszeit für sie ähnlich hart gewesen sei wie für die Soldaten an der Front und – was entscheidend ist – den Eintritt ins Erwachsenenalter markiert habe.
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26
Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 2, Nr.118, 8. Verfasser geb. 1902.
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Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 3, Nr.178, 2. Verfasser geb. 1901.
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„So war ich zum einzigen ‚Mann‘ in der Familie geworden. Meine Generation lernte schon früh begreifen, was Krieg und Not bedeutet. Wir lernten entbehren, aber wir wurden damals auch selbstständig. In dem Alter, in dem sonstige Generationen eine ruhige Jugend genossen, mussten wir 10–16jährigen tüchtig zulangen. Wir halfen in der Wehrkraft […] vaterländischen Hilfsdienst verrichten. Die Not wurde immer grösser. Oftmals hatten wir wochenlang keine Kartoffel, Fleisch war ein seltener Luxusartikel geworden.“ 28
III. Krieg im unmännlichen Frieden Die jüngeren SA-Männer des Abel Samples beschrieben ihr ‚Erleben‘ des Krieges als prägend für ihr persönliches und politisches Selbstverständnis als Erwachsene; die Selbstverortung als Generation gerade in Bezug auf den Weltkrieg ist wesentlich für sie. Tatsächliche Kampfhandlungen und Gewalt erlebten sie auf Grund ihres Alters und des Kriegsverlaufs meist erst nach dem Krieg, in der Zeit der Revolution und der politischen Kämpfe der Weimarer Republik. In ihren Erzählungen betten sie die Nachkriegszeit in das Kriegsgeschehen ein, oder anders gesagt – der Krieg hört für sie nicht auf. Der Kampf der SA erscheint in der Rückschau als Weiterführung des Weltkriegs an der innenpolitischen Front. Er endet erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933. Dies verweist auf einen weiteren, für die Analyse der Selbstdarstellungen wesentlichen Punkt: Die Erzählungen suggerieren eine Unmittelbarkeit von Erfahrung und Erlebnis, ihre Autoren sind darauf bedacht, nicht nur Stringenz, sondern auch Authentizität zu vermitteln. Gerade in Bezug auf die Kindheits- und Jugendschilderungen ist jedoch zu beachten, dass es sich um Schilderungen von Erwachsenen über Vergangenes und Erinnertes handelt. 29 Die Erzählungen sind als autobiografische Rekonstruktionen zu verstehen, als Reschematisierungen der eigenen Lebensgeschichte innerhalb eines historischen Kontextes. 30 Die SA-Männer des Abel Samples schreiben ‚sich in die Geschichte hinein‘ und
28 Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 3, Nr.183, 2. Verfasser geb. ca. 1904. 29 In Anlehnung an Lena Inowlocki ist gerade in Bezug auf Erzählungen ein „unmittelbarer Erfahrungsbegriff“ irreführend; „wenn von ‚Erfahrungen‘ erzählt wird, [werden] gleichzeitig ‚Erklärungen‘ abgegeben“. Vgl. Lena Inowlocki, Sich in die Geschichte hineinreden. Biografische Fallanalysen rechtsextremer Gruppenzugehörigkeit. (Reihe Migration und Kultur.) Frankfurt am Main 2000, 27. 30 Der Begriff der Reschematisierung bezeichnet nach Fritz Schütze den Prozess der Uminterpretation
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deuten diese auf eine Weise um, die sie selbst zu Akteuren dieser Geschichte macht. 31 Der generationsbestimmende Makel, zu jung für die aktive Teilnahme am Weltkrieg und für die Inanspruchnahme des Frontsoldaten als Männlichkeitsbild zu sein, konnte so ausgeglichen werden. Sie konstruierten ihre Lebenserzählung so, dass sie den ‚politischen Soldaten‘ als soldatische Männlichkeit für sich beanspruchen konnten. Die Inanspruchnahme dieses später als Männlichkeitsbild der SA etablierten Ideals wird gerade in den Darstellungen der ‚Kampfzeit‘ der SA wirksam, denn der Begriff des ‚politischen Soldaten‘ vereint „das Moment der militärischen Mobilmachung des Einzelnen“ sowie „das politische Element des weltanschaulichen Kreuzzugs“, des fanatischen politischen Aktivismus. 32 Durch die Reschematisierung ihrer Kriegskindheit auf diesen Aspekt hin legten die SA-Männer den Grundstein für die bruchlose Selbstdarstellung als ‚politische Soldaten‘. Zentral ist dabei die Betonung der an der ‚Heimatfront‘ erfahrenen Härten, die mit dem Kriegserlebnis der Frontsoldaten gleichgesetzt wurden – ähnlich wie in den Biogrammen der Frontsoldaten wurden diese zum zentralen Merkmal der eigenen Generation erhoben. 33 Daraus leiteten die Abel’schen Kriegskinder die Verpflichtung und das Recht zur Übernahme von Verantwortung im Staat ab, ein Motiv, das sich ähnlich bei den Angehörigen der Frontgeneration findet. 34 Beide Generationen schlossen aus der Erfahrung des Weltkriegs auf eine gemeinsame politische ‚Grundaufgabe‘ und bildeten in diesem Sinne einen Generationenverbund. 35 Die Verfasser sahen
von gesellschaftlichen, sozialen und biografischen Deutungsmustern innerhalb einer Gruppe; „eher zufällige Aktivitäten vor dem Gruppenbeitritt [werden] dann als zielvolle reschematisiert […]“. Vgl. ebd.38. 31
Vgl. den Topos des „sich in die Geschichte Hineinredens“ bei Lena Inowlocki in Bezug auf rechtsex-
treme Jugendliche. Ebd. 32
Vgl. Merkl, Kämpfer (wie Anm.5), 507.
33
Peter Merkl zufolge ließ die Kriegsbegeisterung der ersten Jahre bei ca. einem Drittel der Angehörigen
der Kriegsjugendgeneration nach, als sie mit Hunger, Knappheit und Tod konfrontiert wurden. Dies führte nicht zu einer grundsätzlichen Ablehnung des Krieges, sondern zu starken Ressentiments gegenüber der Regierung. Vgl. Merkl, Making (wie Anm.5), 111. 34
„Der Frontsoldat hat mitten im Glutofen der Nation gestanden. Er hat das große Männersterben gese-
hen. Das hat in ihm ausgebrannt was unmännlich war. Darum wird er eher zugrunde gehen, als daß er Sklave wird. So wird er überall da sein, wo Entscheidungen fallen.“ Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 4, Nr.258, 4. 35
Die These Heinz D. Kittsteiners eines Generationenverbundes von Frontsoldaten und Kriegsjugend-
lichen sieht sich durch die Analyse der Abel Papers bestätigt. Vgl. Kittsteiner, Generationen (wie Anm.14), 207ff.
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sich als zukünftige Träger einer neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung, die auf völkischen Grundsätzen basieren sollte. 36 Ihre Interpretation des Ersten Weltkrieges entsprach den offiziellen Deutungen im nationalistischen und völkischen Spektrum der Nachkriegszeit: Männer beider Generationen glorifizierten die Einheit des deutschen ‚Volkes‘ während des Krieges und verehrten die Frontsoldaten – allen voran die ‚gefallenen‘ – als Kriegshelden. 37 Die Erzählung von freudloser und harter Kindheit und Jugend steht bruchlos neben der über die Euphorie des Kriegsbeginns. Dies funktioniert primär über die Gegenüberstellung der Kriegszeit mit dem Ende des Krieges und der Nachkriegszeit. Während des Krieges habe Einheit geherrscht im deutschen Volk, diese sei mit dem durch einen vermeintlichen ‚Dolchstoß‘ verursachten Kriegsende zerbrochen und erst im Nationalsozialismus wiederhergestellt worden. Der Rekurs auf zeitgenössische Topoi wie eben den ‚Dolchstoß‘ durch ‚die Politik‘ bzw. die ‚Volksverräter‘ und den mangelnden Rückhalt an der ‚Heimatfront‘ als Begründungen für die Kriegsniederlage kann auch als Versuch interpretiert werden, sich die eigenen Kindheitshelden und -vorbilder zu erhalten. 38 Dass den ‚in tausend Schlachten siegreichen‘ Truppen bei ihrer Rückkehr nicht Respekt, Anerkennung und Dank entgegengebracht wurden, führte zu einer Erschütterung im Weltbild insbesondere der jüngsten Teilnehmer des Abel’schen Preisausschreibens. 39 Der mit dem Topos der „schmachvolle[n] Rückkehr der deutschen Soldaten“ 40 markierte Verlust des Heeres und der Soldaten als nationale Symbole und Identifikationsfiguren löste eine tiefe Krise aus 41:
36 Vgl. ebd. 37 Zur kritischen Begriffsanalyse des „Fallens im Krieg“ vgl. z.B. Klaus Latzel, Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939–1945. Paderborn 1998, 236ff. 38 Vgl. z.B. Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 1, Nr.4, 1. Verfasser geb. 1910. S. dazu auch Merkl, Making (wie Anm.5), 114ff. 39 Vgl. z.B. Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 3, Nr.183, 2. Verfasser geb. ca. 1904. 40 Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 2, Nr.118, 2. Verfasser geb. 1902. 41 Dieser Topos findet sich auch bei den älteren SA-Männern. Zur Verwendung des Krisenbegriffs für die Weimarer Zeit vgl. Moritz Föllmer (Hrsg.), Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt am Main 2005. Zur kritischen Kontextualisierung der oft angeführten „Krise der Männlichkeit“ nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Benninghaus, Geschlecht (wie Anm.15), 129; Mosse, Bild (wie Anm.15), 143; Raewyn Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Wiesbaden 2006, 106.
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„Es war fast nichts geschmückt und kein Lächeln zeigte sich auf den Lippen. Es war alles ganz anders, wie ich es aus Büchern und Bildern ersehen habe. Die Heimkehr der deutschen Krieger hat auf mich eine moralische Wirkung gehabt, welches [sic] ich in meinem Leben nie vergessen werde.“ 42
Die Kriegskinder und -jugendlichen fühlten sich um den Sieg ihrer Väter betrogen, ihn fortzusetzen erschien ihnen als Pflicht. Damit rekurrierten sie auf ein in der Propaganda der frühen SA weit verbreitetes Argumentationsschema, das in der eigenen Lebenserzählung dadurch verstärkt wurde, dass der Krieg erst mit der Heimkehr der in der Kindheit so verehrten Frontsoldaten in die Heimat einzuziehen schien. Die folgende Darstellung verweist auf diesen diskursiven Zusammenhang: „Unsere Truppen kehren wieder in die Heimat zurück. Aber der Anblick, der sich einem hier bietet, war ekelerregend. Blutjunge Burschen, heruntergekommene Deserteure und Dirnen reißen unseren Besten, die draußen an der Front gestanden, die Achselstücke herunter und bespeien die feldgraue Uniform. Sie brüllen etwas von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. […] Ich bin bis ins Innerste hinein erschüttert. Leute, die überhaupt keinen Kriegsschauplatz gesehen, keine Kugel pfeifen hörten, vergehen sich an Männern, die 4 1⁄2 Jahre lang einer Welt von Feinden getrotzt, die in unzähligen Feldschlachten ihr Leben auf [sic] Spiel setzten […].“ 43
Die Schuldigen an der als verheerend wahrgenommenen Situation werden von den späteren SA-Männern klar ausgemacht. Es sind „heruntergekommene Deserteure und Dirnen“, also unmännliche, deviante, sozial deklassierte Personen. Diese Vertreter der ‚Revolution‘ von 1918 seien nicht nur schuld an der Niederlage Deutschlands im Weltkrieg, sondern auch an den sich zunehmend verschlechternden Verhältnissen. Auffällig an dieser Erzählung ist ihre Ambivalenz: Die Frontsoldaten erscheinen einerseits als übermännlich und heroisch, sind aber andererseits besonders schutzbedürftig und können sich nicht gegen die Angriffe der ‚blutjungen Burschen‘ und der ‚Dirnen‘ wehren, was besonders aus folgender Darstellung desselben Autors deutlich wird. „In Berlin toben um die kaiserlichen Gebäude, wie Schloß, Marstall, Reichstag usw. heftige [sic] Kämpfe. Wehrlose Menschen, verwundete Soldaten, werden viehisch hingemordet. Das war die Freiheit, die diese Helden der Etappe gemeint hatten.“ 44
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Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 2, Nr.118, 2. Verfasser geb. 1902.
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Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 3, Nr.174, 1. Verfasser geb. 1903.
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Ebd.
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Diese Ambivalenz von Heroisierung und Schutzbedürftigkeit der Frontsoldaten läuft parallel zur Wahrnehmung der eigenen Väter. Erscheinen diese, auch die daheimgebliebenen, während des Krieges als standhaft und stark, so führen deren Emotionalität und Hilflosigkeit bei Kriegsende zu einer Überforderung und einem Bruch im Vaterbild: „Inzwischen kam das unrühmliche Ende des Krieges immer näher, und nie in meinem Leben kann ich den Tag vergessen als der Vater mit der Schreckensnachricht nach Hause kam, dass Teile der Armee revoltierten. Der grosse, starke Mann weinte, das erste und einzige Mal wo ich meinen Vater weinen sah. Wir Kinder standen natürlich diesem Gefühlsausbruch hilflos gegenüber […].“ 45
Gemeinsam ist den SA-Männern der Kriegsjugendgeneration ein Hass auf, wie sie schreiben, „alles Rote“, auf die „Internationale“, auf die „Vertreter der Revolution“. 46 Dieser wird argumentativ abgeleitet aus dem eigenen Erleben des Kriegsendes und der Revolution, auch wenn aus der Erzählung deutlich wird, dass er in den meisten Fällen von nationalgesinnten Eltern, Verwandten oder Lehrern vermittelt wurde. 47 Eine solche Argumentation – verstanden als Teil der Selbstdarstellung als ‚politische Soldaten‘ der SA – erfüllt verschiedene Funktionen. Zum einen begründet sie die Inanspruchnahme des Generationsmotivs gerade in Abgrenzung zu den Eltern und den Bildungsinstitutionen. Die Abneigung gegenüber dem Kommunismus sei nicht gelernt, sondern aus einer eigenen, generationsbestimmenden Erfahrung erwachsen. Damit wird zum anderen angeknüpft an die im Nationalsozialismus und insbesondere auch in der frühen SA kolportierte Vorstellung eines natürlichen, ‚ras-
45 Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 1, Nr.5, 1. Verfasser geb. 1908. 46 Hier sei darauf verwiesen, dass diese Topoi antisemitische Codes darstellen; die überwiegende Mehrheit der Abel’schen SA-Männer ist offen antisemitisch eingestellt. Merkl zufolge vertraten 13,6 % der SAMänner der Abel Papers einen aggressiven Antisemitismus, unter den jungen SA-Männern ist dieser Anteil weit höher. Vgl. Merkl, Kämpfer (wie Anm.5), 515. Eine detaillierte Untersuchung des Antisemitismus der SA-Männer steht noch aus, dabei könnte diese Einblick in die Dynamik antijüdischer Gewalt im frühen NS-
Staat geben, an der die SA maßgeblich beteiligt war. Vgl. Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939. 1.Aufl. Hamburg 2007. 47 „Oft sah ich auf den Straßen grosse Menschenhaufen daherkommen. Sie führten große Schilder mit. […] Macht die Kohlenhalden auf, wir frieren! und: Gebt dem Proletarier Brot! – Was sind Proletarier? – Meine Lehrerin sagte zu uns, dies seien Leute, die nicht arbeiten und alles kaputt machen wollten. Mein Onkel gab mir zur Antwort, daß auch viele arme Leute dabei seien, ich mich aber in acht nehmen müsste, und gleich nach Hause kommen sollte, wenn ich die Kommunisten […] sehen würde.“ Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 5, Nr.267, 2. Verfasser geb. ca. 1909.
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sischen‘ Grundgefühls, aus dem heraus die Hinwendung zum Nationalsozialismus erfolge. Bereits vor der Kenntnis der nationalsozialistischen ‚Bewegung‘ habe man sich dieser innerlich zugehörig und ihren Idealen verpflichtet gefühlt. 48 Insofern ist die Reschematisierung des Kindheitserlebens des Kriegsendes als notwendig für das Funktionieren der eigenen Lebenserzählung im Kontext der SA-Geschichtsschreibung und als Begründung der eigenen Gruppenzugehörigkeit zu begreifen. Das Kriegsende markiert in den Kindheits- und Jugenderinnerungen der SA-Männer einen radikalen Bruch. Dies erklärt sich nicht nur aus der retrospektiven Verklärung des Weltkrieges entlang der nationalsozialistischen Erinnerungsnarrative, sondern auch aus dem Kriegsverlauf. Mit Ausnahme derjenigen, die in den Grenzgebieten, insbesondere den östlichen, aufwuchsen, waren die Abel’schen SA-Männer in ihrer Kindheit vom realen Kriegsgeschehen verschont geblieben. Mit der Revolution von 1918, den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in weiten Teilen der Weimarer Republik und nicht zuletzt der französischen Ruhrbesetzung wurden sie mit einer Realität von Krieg und Gewalt konfrontiert, die nicht mit der heroisierenden Erzählung über siegreiche Schlachten im Weltkrieg zusammenzubringen war. Und so häufen sich im Kontext der Nachkriegsjahre die Schilderungen von Kampfhandlungen und Gewalterlebnissen: „Ostern 1920 sassen wir mit einer Familie von zehn Personen im Hause ohne einen Brocken Brot, da es meiner Mutter nicht möglich war einzukaufen, denn in der uns gegenüberliegenden Strasse war ein Geschütz aufgefahren worden und die ganze Strassenfront wimmelte von Rotgardisten, die [sic] da sie ihrem Heldenmut auf keine andere Art Luft machen konnten, aus Zeitvertreib sinnlos Löcher in die Weltgeschichte schossen, und so Passanten das Überschreiten der Strasse unmöglich machten.“ 49
Neben der Gewalt wird auch der Hunger in den Schilderungen der Nachkriegszeit hervorgehoben, im Kontext der Revolution und der Wirtschaftskrise häufen sich diese Erzählungen. Wie aus dem Zitat deutlich wird, wird die Krise personalisiert; als ihre Ursache wurden nicht Faktoren der allgemeinen wirtschaftlichen Lage ausgemacht, sondern eben die ‚Rotgardisten‘, die das Einkaufen verhinderten oder Geschäfte plünderten. Im Kontext der Inflation und der Krise wird dann auch der
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Vgl. z.B. Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 4, Nr.219. Verfasser geb. 1907.
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Antisemitismus der SA-Männer explizit. Der „jüdische Bolschewismus“ sei schuld an der „Not des deutschen Volkes“: „Ich machte schlechte Zeiten mit durch. Es war die Zeit der Inflation. Die Franzosen stellten der Konsumbäckerei Brot zur Verfügung und ein Jude hatte die Verteilung. Es war der Kommunistenführer […]. Ich bat einmal um ein Brot, es wurde mir glatt abgeschlagen, weil ich demselben nicht zuwillen [sic] war. Sie köderten arme ausgehungerte Menschen damit. Ich ging und war erbittert.“ 50
Aus dieser Wahrnehmung des Kriegsendes und seiner Folgen leiteten die Angehörigen der Kriegsjugendgeneration die Verpflichtung ab, den Kampf ihrer Väter fortzusetzen. Wer alt genug war und nicht aufgrund beruflicher, schulischer oder familiärer Verpflichtungen zu Hause bleiben musste, schloss sich den Freikorps und Kampfbünden an. Viele aber konnten oder wollten das nicht und so stilisierten sie ihre Erlebnisse in der Nachkriegszeit zum Kriegserlebnis oder versuchten zumindest, ihren Handlungen eine überindividuelle, das Schicksal der Nation bestimmende Qualität zuzuschreiben: „Der Zusammenbruch der Heimat und die jeden Deutschen niederschmetternden Waffenstillstandsbedingungen stärkten in mir den Vorsatz, an der Stelle [sic] an der ich stand, alles zu tun [sic] um der deutschen Sache zu dienen. Das erste Mal war dazu Gelegenheit beim Kampf gegen die hochverräterische separatistische Bewegung […].“ 51
Gerade im besetzten Ruhrgebiet bot sich durch die Praxis des passiven Widerstandes Gelegenheit dazu. Während die älteren SA-Männer ihre Mitwirkung an Sabotageakten und Attentaten hervorheben, schildern die jüngeren, wie sie den ‚Feinden Deutschlands‘, den Besatzern, Soldatenräten und Kommunisten, immer wieder Schnippchen geschlagen hätten. Durch ihre – teils auch gewalttätige – Beteiligung an Demonstrationen hätten sie ebenso zur Überwindung der Fremdherrschaft beigetragen wie durch den Boykott der französisch geführten Reichsbahn. Dabei hätten sie Leid und große Nachteile auf sich genommen, wie beispielsweise tägliche lange Fußmärsche zur Schule, um nur nicht den Franzosen die Genugtuung zu geben, mit der Bahn zu fahren. „Dass dadurch unsere Liebe zu den Franzosen und insbesondere
50 Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 2, Nr.118, 4. Verfasser geb. 1902. 51 Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 3, Nr.178, 2. Verfasser geb. 1901.
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unsere Zuneigung zu den Separatisten, diesen Verrätern auf deutscher Seite [sic] nicht vergrössert wurde, lässt sich denken.“ 52 Dieses Moment der Politisierung für den Nationalsozialismus – oder zumindest gegen die ‚Verräter und Feinde Deutschlands‘ – findet sich in den meisten Selbstdarstellungen der ehemaligen Kriegskinder im Kontext der Nachkriegszeit. Ab diesem Punkt in der Erzählung führt der Weg über verschiedene Parteien und Kampfbünde, oft gegliedert durch verschiedene Erweckungs- oder Schlüsselerlebnisse, in die Reihen der jungen nationalsozialistischen Bewegung und häufig zeitgleich der SA. Zusammenfassend sei auf eine Anekdote über das Erleben des Jahres 1918 eingegangen, die symptomatisch für die Nachkriegserinnerungen der jungen SA-Männer stehen kann. Der Autor, 1904 geboren und Kellnerlehrling, gerät am 9.November 1918 während eines Botengangs nahe des Berliner Alexanderplatzes in eine revolutionäre Demonstration. Als er einen Demonstranten fragt, „was die roten Fahnen sollen“, wird er von diesem geohrfeigt mit den Worten „Du Lausejunge scheinst wohl nicht zu wissen was heute los ist, wir haben Revolution“. „Verstört“ durch diese „erste Segnung der Revolution“ kehrt er zu seiner Arbeitsstelle zurück. Nachdem er dort erzählt hat, dass die Revolution ausgebrochen sei, wird er von dem national gesinnten Oberkellner ebenfalls geohrfeigt. „Revolution und zwei Ohrfeigen! Ich verstand den Zusammenhang nicht ganz. Was kann ich denn dafür, warum entlud sich die Wut zweier extremer Richtungen auf mir denn gerade. Eine Frage, die mit aller Entschiedenheit bis heute noch nicht gelöst werden konnte.“ 53
In dieser Erzählung bündeln sich verschiedene Elemente, die für die Narrative über Krieg und Nachkrieg zentral sind. Die Revolution von 1918 als Einleitung der Weimarer Zeit wird als gesellschaftliche und nationale Spaltung erlebt; das im Weltkrieg vermeintlich parteienlose und vereinte Volk bricht mit dem ‚Dolchstoß‘ auseinander. Die SA-Männer des Abel Samples verstehen sich als Opfer dieser Entwicklung, die sie als Kinder und Jugendliche nicht einzuordnen wissen. Die nationalsozialistische Erzählung über ein von Feinden und Verrätern gespaltenes Volk, das in der NS-Volksgemeinschaft wieder zur Einheit gelange, wird aufgegriffen, die eigenen Erinnerungen werden anhand dieser Erzählung reschematisiert.
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Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 4, Nr.206, 3, Verfasser geb. 1911.
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Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 4, Nr.224, 1–2, Verfasser geb. 1904.
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IV. Der Weg in die SA Die SA-Männer verwenden ein Narrativ des Suchens und Findens, das zunächst in den SA-Eintritt und dann in die nationalsozialistische Machtübernahme im Januar 1933 mündet. Ihr politischer Werdegang divergierte im Einzelnen. Einige durchliefen die verschiedenen nationalen Parteien und Wehrverbände, bevor sie über die Kampfbünde unterschiedlicher politischer Spektren in die SA eintraten, andere, insbesondere die jüngsten, wurden direkt nationalsozialistisch politisiert. Eine detaillierte Analyse des institutionellen Werdegangs der Kriegskinder und -jugendlichen auf dem Weg in die SA soll hier nicht geleistet werden. 54 Es sei nur darauf verwiesen, dass gerade für die jüngsten SA-Männer des Abel Samples ein schneller Prozess der politischen Radikalisierung und Militarisierung konstatiert werden kann. Gemeinsam hingegen ist den Erzählungen der jungen SA-Männer die Ablehnung der Weimarer Republik. Schon kurz nach dem Putschversuch Hitlers in München 1923, so ein 1906 geborener SA-Führer, hätten alle in der Schule „sehr für die Hitlerbewegung [geschwärmt], ohne zu wissen, was dieselbe eigentlich wollte. Es genügte uns, dass die Nationalsozialisten als radikale Rechte gegen den Staat kämpften.“ 55 Diese Positionierung gegen das Weimarer ‚System‘ wird in den Selbstdarstellungen als zentrales Element der Attraktivität des Nationalsozialismus angeführt: „Als denkender Mensch stellte ich einen Vergleich an mit jenen Männern vom November 1918 und jenen Tapferen des November 1923. Und schon stand mein Entschluß fest. Wenn ich auch von Hitler nur wenig wusste, sagte mir doch mein Innerstes, auf diese Seite gehörst du, dort ist dein Platz.“ 56
Durch die soldatische Selbstinszenierung weckte die NSDAP, insbesondere die SA als ihre Kampforganisation, Assoziationen an die vormals verehrten Frontsoldaten, während die Weimarer Republik als ‚System der Novemberverbrecher‘ die Kriegsniederlage und den ‚Dolchstoß‘ symbolisierte. In ihrem militärischen Auftreten allein unterschied sich die SA nicht grundlegend von den vielzähligen Wehrverbän-
54 Mehr als zwei Drittel der SA-Männer des Abel Samples waren vor ihrem Eintritt in SA und NSDAP Mitglieder in anderen militarisierten Bünden. Dabei gab es eine hohe Fluktuationsrate: Etwa die Hälfte wechselte von einer Organisation zur nächsten, wobei sie oft drei oder vier Verbände ausprobierten, bevor sie zu einer Organisation der NSDAP, meist der SA, fanden. Vgl. Merkl, Violence (wie Anm.5), 587; ders., Kämpfer (wie Anm.5), 503. 55 Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 3, Nr.198, 2. Verfasser geb. 1906. 56 Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 3, Nr.174, 2, Verfasser geb. 1903.
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den, Veteranenvereinen und Kampfbünden der Weimarer Republik. Es trug zwar zu ihrer Attraktivität bei, die Begeisterung der Abel’schen SA-Angehörigen wurde aber vor allem dadurch ausgelöst, dass die SA es verstand, „den Sprung von der ‚Haltung‘ zur ‚Tat‘ zu organisieren (‚Kamerad, komm mit!‘)“. 57 Die SA-Aufmärsche und die nationalsozialistischen Versammlungen vermittelten nicht nur den Eindruck militärischer Disziplin, sondern verwiesen auch auf die Möglichkeit kollektiver Gewaltausübung. Die SA-Männer grenzten sich durch Uniform und Haltung von der sie beobachtenden Menge ab und präsentierten sich als geschlossene und kampfbereite Gemeinschaft. 58 Diese propagandistische Außendarstellung der SA zeigte vor allem bei den jüngsten Verfassern des Abel Samples Wirkung: „Sie [die SA-Männer, L. H.] marschierten mit klingendem Spiel durch Heidelberg und verteilten daran anschließend ihre Flugblätter und Werbezettel. Ich verfolgte diesen ganzen Vorgang mit lebhaftem Interesse und bemerkte auf einmal, dass es zwischen den Uniformierten und Zivilisten zu einer Auseinandersetzung kam, die in eine Schlägerei ausartete. Bei dieser Gelegenheit konnte ich das erstemal [sic] den Mut beobachten, mit welchem sich Nationalsozialisten für ihre Überzeugung einsetzten. Binnen wenigen Augenblicken hatten die SA-Männer […] die Strasse geräumt und ihre Gegner mit blutigen Schädeln zum Teufel gejagt. Das imponierte mir. Ich kaufte mir sofort ein Hakenkreuz, das mir allerdings sofort von dem Direktor meiner Schule verboten wurde, las regelmäßig die Nazizeitungen und hatte keinen sehnlicheren Wunsch als SA-Mann zu werden.“ 59
Der SA-Aufmarsch findet sich als Schlüsselmoment in der Hinwendung zum NS auch bei den älteren Generationen. Die propagandistische Selbstinszenierung der SA als militärische Formation, die gleichzeitig Disziplin wie Gewaltbereitschaft sug-
gerierte, funktionierte offensichtlich generationsübergreifend. Für die ehemaligen Kriegskinder scheinen aber insbesondere der Gesang der SA und „das klingende Spiel“ eine große Anziehungskraft besessen zu haben: „Gegen Abend […] hörten wir schon von weitem lauten Marschtritt und lauttönenden Gesang. […] Da kamen Uniformierte an, rechts und links begleitet von mitmarschierenden Menschen. Vornauf ging einer alleine, der hielt die rechte Hand immer nach vorne hochgestreckt. Dahinter trug einer eine
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Vgl. Thomas Balistier, Gewalt und Ordnung. Kalkül und Faszination der SA. Münster 1989, 165.
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Zur Funktion der SA-Kolonne vgl. ebd.55ff.
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Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 4, Nr.206, 8. Verfasser geb. 1911.
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große Fahne […]. Zu seinen Seiten gingen zwei Uniformierte. Es war ein ziemlich langer Zug. Alle sangen laut. […] Mein Onkel erklärte mir nun, dies seien die Hitlerleute gewesen. Aber was ist denn Hitlerleute? […] Das waren aber ganz andere Leute, wie die, die das Barmer Rathaus besetzen wollten, also auch die Macht zu erreichen suchten, sagte ich mir. Die Hitler-Leute sangen so schöne Lieder und marschierten so gut, genau wie Soldaten. […] Nein, die Hitler-Leute konnten doch gar nichts Böses wollen!“ 60
Die Selbstdarstellung der SA funktionierte auch darüber, dass die Beobachter der Aufmärsche als einkalkulierte Zuschauer den Vergleich zu den politischen Gegnern der Nationalsozialisten zogen: Während die SA in disziplinierten Kolonnen aufmarschierte, wurden die Demonstrationen der Kommunisten und Sozialdemokraten als chaotischer Mob wahrgenommen. Der militärische Gesang der SA verstärkte den Eindruck von Ordnung. Zugleich hatten die Inszenierungen eine stark emotionalisierende Komponente, durch Fackeln wurde gleichermaßen Erhabenheit wie mögliche Bedrohung suggeriert. Gerade der Zusammenhang von Aufmarsch und anschließender Rede beziehungsweise Versammlung scheint die Autoren der Abel Papers beeindruckt zu haben. Den Schilderungen von jüngeren und älteren SAMännern ist hierbei gemeinsam, dass die bei den Versammlungen gehörten Inhalte hinter „der Sinnlichkeit eines betörenden Erlebnisses“ verblassten. 61 Ein wesentlicher generationeller Unterschied findet sich aber in der Hinführung zum Nationalsozialismus jenseits der propagandistischen Inszenierungen. Die jüngeren SA-Männer wurden sehr häufig über ältere Freunde, Bekannte und Verwandte politisch initiiert. Zwar war die Mund-zu-Mund-Propaganda auch bei den Älteren relevant, aber nicht in demselben Maße. Ein späterer SA-Mann etwa besuchte die Aufmärsche und Versammlungen gemeinsam mit seinem Vater, das gemeinsame Erleben der emotionalisierenden Inszenierung mag deren Eindruck verstärkt haben. Viele Junge begaben sich durch das Sympathisieren mit NSDAP und SA jedoch in direkte Opposition zu ihrer Familie und ihren Lehrern. Zwar stellten sich manche dabei als Einzelkämpfer dar, in der Regel war aber gerade die in Abgrenzung von Eltern und Schule gefühlte Gemeinschaft von (fast) Gleichaltrigen ein motivierendes Moment. Das Abenteuer, einer verschworenen Gemeinschaft anzugehören, wurde
60 Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 5, Nr.267, 4. Verfasser geb. zw. 1909 und 1912. 61 Vgl. Balistier, Gewalt (wie Anm.57), 32.
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durch die oft selbst provozierten Konflikte mit politisch anders gesinnten Mitschülern aufrechterhalten und immer aufs Neue aktiviert. „Auf dem Schulhof bekam ich öfters meine Fänge [sic] wenn ich mir ein schwarz-weiß-rotes Bändchen ansteckte und ausserdem noch ‚für Hitler war‘, wie wir Jungens uns immer ausdrückten. Im Jahre 1929 wurde ich dann Nazi. Ich kam mittlerweile ins 16. Lebensjahr und konnte mir vom Nationalsozialismus schon eher ein Bild machen.“ 62
In der Darstellung der SA-Männer resultierte das Bekenntnis zum Nationalsozialismus in Spötteleien bis hin zu physischen Übergriffen der Umwelt. Auf den Eintritt in die SA folgen immer Schilderungen massiver Einschüchterungsversuche wie der Entlassung aus der Schule, dem Verlust der Lehrstelle und der Entfremdung vom Elternhaus. Hier treffen sich die Erzählungen der Kriegskinder und -jugendlichen mit denen der vor 1900 geborenen SA-Männer, der ehemaligen Frontsoldaten. Sie sehen sich auf Grund ihrer politischen Überzeugung einem Meer von Feinden gegenüber und stellen sich als politisch Verfolgte dar. 63 Dies erscheint als Versuch der Selbstaufwertung; die massenhaften sozialen Deklassierungsprozesse der Wirtschaftskrise wurden erhöht und als Resultat der eigenen politischen Überzeugung, des Kampfes fürs Vaterland präsentiert. 64 Durch die Übernahme des propagandistischen Topos der großen Opfer der ‚Kampfzeit‘ konnte der eigene soziale Abstieg als ‚politisches Martyrium‘ dargestellt werden 65: „Damals [im Juni 1930, L. H.] bekam ich auch zum ersten Mal die Gummiknüppel der roten Steinberg-Polizei zu spüren. Aber das machte mich erst recht zu einem Kämpfer, ausserdem erkannte ich an dem Gezeter der jüdischen und verwandten Presse, dass wir auf dem rechten Weg waren. Gegen
62
Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 6, Nr.397, 1. Verfasser geb. ca. 1913.
63
Vgl. beispielsweise Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 3, Nr.184, S.3. Ver-
fasser geb. 1902. 64
Vgl. Christof Schmidt, Zu den Motiven ‚alter Kämpfer‘ in der NSDAP, in: Detlef Peukert/Jürgen Reuleke
(Hrsg.), Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus. Wuppertal 1981, 21–43, 27f. 65
Vgl. ebd.27f. Die Quellenbasis von Schmidts Untersuchung bilden 74 ‚Kampfberichte‘ über die Jahre
1919–1933, die 1936/37 auf Aufforderung der NSDAP hin von ‚alten Kämpfern‘ des Gaus Hessen-Nassau abgefasst wurden und „die mehr oder weniger ausführlich ihre eigene Lebensgeschichte mit der ‚Bewegung‘ verknüpft dargestellt haben“. Vgl. ebd.21. Neben den Abel Papers sind diese ‚Kampfberichte‘ einer der wenigen Quellenbestände von Selbstzeugnissen von SA-Männern.
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Ende des Jahres 1931 trat ich dann als kaum 18 jähriger [sic] in die S.A. ein und von dieser Zeit an war es mir nun vergönnt, den schweren Kampf unseres Führers Adolf Hitler ums Dritte Reich, [sic] in vorderster Linie mitzumachen.“ 66
V. Fazit Mit dem Eintritt in die SA beginnt in den Selbstdarstellungen eine Zeit des frenetischen politischen Aktivismus, gepaart mit organisierten Gewaltausbrüchen in Straßen- und Saalschlachten. In der SA kämpften die Angehörigen der Kriegsjugendgeneration gemeinsam mit den von ihnen verehrten ehemaligen Frontsoldaten, mit denen sie sich sowohl in der Erinnerung an den Weltkrieg als auch im Ideal des ‚politischen Soldatentums‘ vereint sahen. Die Lebenserzählungen der frühen SA-Männer machen deutlich, dass es der Kriegsjugendgeneration über die Deutung ihres Erlebens des Ersten Weltkriegs, des Kriegsendes und der politischen Unruhen der Weimarer Zeit gelang, eine soldatische und militarisierte Männlichkeit für sich zu reklamieren. Dies findet seine Zuspitzung im Typus des ‚politischen Soldaten‘ der SA.
Wie auch für die älteren, vor 1900 geborenen ehemaligen Frontsoldaten, war die SA für die ehemaligen Kinder und Jugendlichen des Weltkriegs attraktiv, weil sie an
ein etabliertes Männlichkeitsideal anknüpfte. Das uniformierte Marschieren, im Zusammenhang mit propagandistisch suggerierter oder tatsächlich erlebter Kameradschaft, erinnerte an den Mythos der Frontkameradschaft des Weltkriegs. Zugleich erscheint der Kampf der SA in den Erzählungen ihrer Mitglieder ebenso wie in der Propaganda als eine Weiterführung des Weltkrieges an der innenpolitischen Front. Das von der SA angebotene Ideal des ‚politischen Soldaten‘ hatte eine generationenvereinende Wirkung: Die ehemaligen Frontsoldaten konnten die Schmach von 1918 überwinden und im Januar 1933 siegreich durchs Brandenburger Tor ziehen. Die ehemaligen Kriegskinder und -jugendlichen konnten den Makel, zu jung für den Krieg gewesen zu sein, abstreifen und sich als ‚politische Soldaten‘ Adolf Hitlers inszenieren.
66 Hoover Institution Archives, Theodore Fred Abel Papers, Box 6, Nr.397, 1, Verfasser geb. ca. 1913.
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Jüdische Kindheit nach dem Zweiten Weltkrieg Aufwachsen zwischen Trauma und Neubeginn von Kristina Dietrich
I. Einleitung Im März 1948 war im „Jüdischen Gemeindeblatt der Britischen Zone“ Folgendes zu lesen: „Durch liebevolle und kluge Erziehung“, hieß es dort, „durch psychotherapeutische Behandlung werden die Kleinen zu aufrechten Männern und Frauen“. 1 Gemeint waren jüdische Kinder, die die Shoah überlebt hatten. Die Autorin des Artikels – Dr. Irena Willen – erachtete die Überführung der Kinder nach Palästina und später nach Israel als entscheidend dafür, dass „sie die qualvollen Erlebnisse vergessen“ 2 konnten und so eine junge und selbstbewusste Generation entstehen würde, die den Fortbestand des jüdischen Volkes sicherte. Die norwegische Psychologin Elin Hordvik, die kriegstraumatisierte Kinder betreut, bewertete die Nachwirkungen von Kriegsereignissen auf Kinder im Jahr 1997 wie folgt: „Das tief eingeprägte Erlebnis“, so die Therapeutin, sei „ein Störfaktor, der das Kind ständig begleitet und es immer wieder überwältigt, auch wenn das Kind gar nicht daran denken will.“ 3 Das Trauma der Shoah als Störfaktor also? Doch was genau bedeutet dies bezogen auf die überlebenden jüdischen Kinder? Was hatten sie erlebt, und war eine Bewältigung ihrer Erfahrungen „[d]urch liebevolle und kluge Erziehung“ 4, wie Dr. Irena Willen schrieb, überhaupt möglich? Der folgende Aufsatz gibt zunächst einen Überblick über die Erfahrungen jüdischer Kinder während der Shoah. Darauf aufbauend werden ferner die dokumen1 Dr. Irena Willen, Der Weg ins Leben, in: Jüdisches Gemeindeblatt für die Britische Zone 23, 24.März 1948, 4. 2 Ebd. 3 Elin Hordvik, Was ist ein psychisches Trauma? Methoden zur Behandlung, in: Werner Hilweg / Elisabeth Ullmann (Hrsg.), Kindheit und Trauma. Trennung, Mißbrauch, Krieg. Göttingen 1997, 37–48, 39. 4 Willen, Der Weg ins Leben (wie Anm.1), 4.
DOI
10.1515/9783110469196-016
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tierten Folgeschäden der jüngsten Überlebenden sowie das weitere Leben der Kinder nach der Befreiung betrachtet. Abschließend werden mögliche Gründe für die Vererbung der Folgeschäden erörtert.
II. Erfahrungen jüdischer Kinder während der Shoah Im Jahr 1946 veröffentlichte Rabbiner Zorach Warhaftig eine Statistik über die Alterszusammensetzung der Shoah-Überlebenden, der zufolge nur 3,6 % von 22 374 Überlebenden, die Warhaftig befragt hatte, unter 16 Jahre alt waren. 5 Zahlen wie diese dokumentieren in aller Deutlichkeit die Vorgehensweise der Nationalsozialisten, aufgrund derer Kinder, ebenso wie ältere Menschen und Kranke 6, in den Ghettos und Konzentrationslagern kaum Überlebenschancen hatten 7 und oft schon nach der Ankunft in den Lagern an den berüchtigten Rampen zur Ermordung selektiert wurden. Im Oktober 1944 wurde der Schutz, der bis dahin die unter 12-Jährigen in den Konzentrationslagern und Ghettos zumindest formal vor den Tötungsaktionen bewahrt hatte, gänzlich aufgehoben. 8 Ein Grund hierfür war, dass Kinder als Arbeitskräfte kaum nutzbar waren. Zudem hatte die NS-Propagandamaschinerie Gräuelmärchen über angebliche Racheakte der jüngsten jüdischen Generation gestreut. Die Kinder waren daher in den meisten Fällen keine zufälligen Opfer, sondern wurden gezielt ermordet. Berichte über die Brutalität, mit der in den Lagern und Ghettos mit den Kindern verfahren wurde, gelangten bald auch nach Deutschland und in die besetzten Gebiete. Dies führte dazu, dass sich einige jüdische Familien dazu entschlossen, ihre Kinder fortzugeben, um sie so vor der drohenden Deportation zu bewahren. Die Kinder erhielten eine neue Identität und wuchsen in nichtjüdischen Familien, christlichen Heimen oder Klöstern auf – begleitet von der ständigen Angst entdeckt oder verra-
5 Vgl. Zorach Warhaftig, Uprooted. Jewish Refugees and Displaced Persons after Liberation. New York 1946, 53. 6 Der Anteil der über 45-Jährigen betrug 7,3 %; vgl. Warhaftig, Uprooted (wie Anm.5), 53. 7 Vgl. hierzu auch Michael Brenner, Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950. München 1995, 35. 8 Vgl. Nelly Wolffheim, Psychoanalyse und Kindergarten. (Beiträge zur Kinderpsychotherapie, Bd. 4.) München 1966, 193.
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ten zu werden. 9 Außerdem ist bekannt, dass Kinder in der letzten Verzweiflung ihrer Eltern von den Deportationszügen geworfen wurden. Einige von ihnen überlebten mit viel Glück in der Obhut von Partisanenkämpfern oder Bauernfamilien. 10 Auch für diese Kinder war die Angst vor den Verfolgern ein ständiger Begleiter. Dr. Zalman Grinberg, erster Präsident des im Sommer 1945 gegründeten „Zentralkomitees der befreiten Juden in der amerikanischen Zone“, berichtete im Mai 1945 anlässlich eines Konzerts zur Befreiung von seinem Leidensweg. Dabei schilderte er auch eines der grausamsten Ereignisse, die er im Ghetto von Kowno erlebt hatte. Am 27.März 1944 hatte die SS dort „eine brutale Jagd auf Kinder bis zum 13. Lebensjahr“ 11, veranstaltet. „Ich sehe das ganze Lager in Tränen“, erinnerte sich Grinberg. „[D]ie Tränen unschuldiger Kinder, die wilde Verzweiflung aller, den Anblick von Kindern, die den Armen ihrer Eltern entrissen werden.“ 12
III. Dokumentierte Folgeschäden Angesichts dieser Darstellungen, die uns dennoch nur einen kleinen Ausschnitt der Schicksale der überlebenden Kinder vor Augen führen, ist es kaum verwunderlich, dass die (psychischen und oft auch die physischen) Folgeschäden, die die Kinder davontrugen, ihr weiteres Leben massiv bestimmten. Allerdings kann und sollte nicht von einer pauschalen Ursache-Folge-Kette ausgegangen werden. Das Alter der Kinder, die Vorerfahrungen, individuelle Bewältigungsmechanismen, die Art des Erlebten und nicht zuletzt das Leben nach der Befreiung konnten die Schwere und Komplexität der Folgeschäden sehr beeinflussen, wenngleich alle Shoah-Überlebenden Trauma-Erfahrungen von bis dahin nie gekannten Ausmaßen einten. Um einen differenzierteren Einblick in die Tragweite der Traumata und deren mögliche Behandlung zu erhalten, werden nachfolgend einzelne dokumentierte Folgeschäden der überlebenden Kinder in Bezug zum Stufenmodell der psychosozi-
9 Vgl. Jacob Biber, Risen from the Ashes. A Story of the Jewish Displaced Persons in the Aftermath of World War II. Being a Sequel to Survivors. San Bernardino 1990, 36. 10 Ebd.25; vgl. auch Kurt Schilde, Im Schatten der „Weißen Rose“. Jugendopposition gegen den Nationalsozialismus im Spiegel der Forschung. Frankfurt am Main 1995, 129. 11 Robert L. Hilliard, Von den Befreiern vergessen. Der Überlebenskampf jüdischer KZ-Häftlinge unter amerikanischer Besatzung. Frankfurt am Main/New York 2000, 27. 12 Ebd.
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alen Entwicklung nach Erik H.Erikson betrachtet. 13 Die Grundaussage Eriksons ist, dass „jedes zu diskutierende Problem der gesunden Persönlichkeit systematisch mit allen anderen verbunden ist und alle von der richtigen Entwicklung zur rechten Zeit abhängen“. 14 Das schrittweise Absolvieren der Entwicklungsstufen, das durch die Bewältigung von Krisen bestimmt ist, stellte Erikson für die Herausbildung der Persönlichkeit des Menschen als entscheidend heraus. Erikson selbst gebrauchte das Wort ‚Krise‘ jedoch nicht im Zusammenhang mit ‚drohenden Katastrophen‘, mit denen das heranwachsende Kind konfrontiert werden kann, sondern vielmehr zur Beschreibung von entscheidenden Wendepunkten innerhalb des (psychosozialen) Entwicklungsprozesses 15, deren Bewältigung die psychisch-emotional gesunde Entwicklung von Kindern begünstigt. Probleme treten auf, wenn die Voraussetzungen zur Bewältigung dieser Krisen nicht mehr gegeben sind oder durch äußere Faktoren gestört werden; dann also, wenn einzelne Entwicklungsstufen nicht in einem bestimmten zeitlichen Rahmen abgeschlossen werden können und allgemein ungünstige Aufwachsbedingungen herrschen und damit die Grundlage für das erfolgreiche Absolvieren der einzelnen Stufen genommen ist. Nach der Befreiung nahmen die pädagogischen und psychologischen Betreuer der Kinder zunächst fälschlicherweise an, dass die Erfahrungen, die die Kinder hatten machen müssen, nur eine bestimmte Zeitspanne ihres Lebens, nämlich die Verfolgungszeit, beeinflusst hatten. Ein psychisch gesunder Mensch, so die Meinung von Psychologen noch in den 1950er-Jahren, könne selbst schwierigste Situationen überstehen und völlige Genesung wiedererlangen, sobald die psychisch belastende
13
Erik H.Erikson erhielt seine psychoanalytische Ausbildung bei Anna Freud, der Begründerin der Kin-
derpsychoanalyse, an deren Burlingham-Rosenfeld-Schule er auch tätig war. Anna Freuds, auf den Ideen Sigmund Freuds basierende Ich-Psychologie erweiterte Erikson um die gesellschaftliche Komponente. Das Modell bietet einen Einblick in die Komplexität identitätsprägender Erziehungs- und Sozialisationskomponenten und die Bewältigung markanter Entwicklungsschritte. Dabei wird der Heranwachsende nie isoliert, sondern stets im Wechselspiel mit seiner Umwelt gesehen, die sich begünstigend, hemmend oder gar gravierend negativ auf die psychosoziale Entwicklung auswirken kann. Ebenso werden mögliche Folgen dieser Prozesse mit einbezogen. Mithilfe des Modells wird eine Betrachtung der Extremsituationen, in der sich die überlebenden Kinder der Shoah befanden, und der daraus resultierenden traumatischen Schäden aus kinderpsychoanalytischer Sicht ermöglicht. Dabei werden die Erfahrungen der Kinder in einen Gesamtzusammenhang gebracht, ohne dabei individuell abweichende Einzelschicksale außer acht zu lassen.
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14
Erik Homburger Erikson, Identität und Lebenszyklus. Frankfurt am Main 1973, 59.
15
Vgl. Erik Homburger Erikson, Jugend und Krise. Stuttgart 1970, 96.
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Situation vorüber sei. 16 Jedoch entwickelten sich die Folgeschäden der Kinder häufig zu einem prägenden Lebensbegleiter. Gründe hierfür waren vor allem die Schwere der Traumata, fehlende Therapiemöglichkeiten sowie die Tatsache, dass die psychisch belastende Situation mit der Befreiung nicht als beendet gelten konnte, da viele der Kinder ihre Familien verloren hatten. Die erste Stufe der psychosozialen Entwicklungen nach Erikson umfasst das erste Lebensjahr des Kindes. Hierbei steht die Ausbildung von Urvertrauen, das Erikson als den „Eckstein der gesunden Persönlichkeit“ 17 bezeichnet, im Mittelpunkt. Wird die Vertrauensbildung behindert, fehlen also vertrauensvolle Personen, die dem Kind Liebe und Pflege zukommen lassen, kann bei dem betreffenden Menschen bis ins hohe Erwachsenenalter ein latentes Misstrauen bestehen bleiben. 18 Das Beispiel einer Gruppe überlebender Kinder, die im Alter zwischen sechs und zwölf Monaten ihre Eltern verloren hatten und das Konzentrationslager Theresienstadt dank der Fürsorge älterer Häftlinge überlebten, unterstreicht diese Erkenntnis besonders eindringlich. Aufgrund des permanenten Wechsels der sie betreuenden Personen, dem Mangel an individueller Pflege und dem Fehlen einer dauernden Mutterbindung wiesen die Kinder auch lange Zeit nach der Befreiung erhebliche Misstrauenssymptome auf. 19 Der Psychoanalytiker Hans Keilson, der sich im niederländischen Widerstand um jüdische Kinder gekümmert hatte, schrieb dem Verlust der Mutter in verschiedenen Altersstufen jeweils „unterschiedliche traumatische Stellenwerte“ 20 zu. Nur durch eine dauerhaft erlebte liebevolle Ersatzmutterbindung könnten diese überwunden werden. 21 Viele überlebende Kinder der Shoah hatten jedoch nicht nur den Verlust ihrer engsten und wichtigsten Bezugspersonen erfahren, sondern diesen oft auch auf die gewaltsamste Art.Zudem waren sie – wenn sie selbst in einem Kon-
16 Lea Eitinger, Die Jahre danach. Folgen und Spätfolgen der KZ-Haft, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.), Überleben und Spätfolgen. (Dachauer Hefte, Bd. 8.) München 1996, 3–17, 8. 17 Erikson, Identität und Lebenszyklus (wie Anm.14), 63. 18 Vgl. ebd.. 19 Vgl. Wolffheim, Psychoanalyse und Kindergarten (wie Anm.8), 198. 20 Hans Keilson, Sequentielle Traumatisierung bei Kindern durch „man-made-disaster“, in: Alexander Friedmann/Elvira Glück/David Vyssoky (Hrsg.), Überleben der Shoah – und danach. Wien 1999, 109–126, 115. 21 Vgl. ebd.115.
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zentrationslager oder Ghetto interniert gewesen waren – in einer von Brutalität und Tod geprägten Umgebung aufgewachsen. Eine Folge dessen war, dass ihnen nach der Befreiung die Integration in Heime oder Pflegefamilien und ein Vertrauensaufbau gegenüber den betreuenden Pädagogen sehr schwerfiel. „[E]s hat einige Zeit gedauert“, erinnerte sich die Psychologin Dr. Irena Willen, „bis sich eine Art Vertrauensverhältnis zu einigen Erwachsenen herausbildete.“ 22 Allein die Verwendung von Worten, wie ‚eine Art Vertrauensverhältnis‘ und ‚zu einigen Erwachsenen‘ macht deutlich, wie diffizil sich der Aufbau einer Beziehung zu den Kindern gestaltete. Die zweite Stufe der psychosozialen Entwicklung nach Erikson umfasst das Lebensalter von etwa 18 Monaten bis zum dritten Lebensjahr. Das Kind erlangt in diesem Alter Einsicht in die eigenen Fähigkeiten. Die Reinlichkeitserziehung wird mit Hilfe der Bezugspersonen begonnen bzw. abgeschlossen. Das Kind beginnt seine Ich-Identität zu erproben und entwickelt ein stark exploratives Verhalten. Dies ist der erste Schritt zur Emanzipation von den Eltern. Die Zustände in den Konzentrationslagern und Ghettos wiesen eine ganze Reihe ungünstiger Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern in diesem Alter auf: mangelnde Hygieneverhältnisse, Knappheit an Nahrung und das Vorherrschen von Gewalt und Kontrolle bestimmten den Alltag. Noch lange Zeit nach der Befreiung versteckten einige der Kinder heimlich Essen, aus Angst, dass sie bald wieder hungern müssten. Andere wiederum neigten dazu, Lebensmittel zu verschwenden 23, womit sie ihre Wut über den jahrelangen Entzug von Fürsorge und Ressourcen zum Ausdruck brachten, die für andere Kinder selbstverständlich waren. 24 Viele Kinder wiesen eine hohe Gewaltbereitschaft auf und besaßen kein Wissen über soziale Verhaltens- und Hygienenormen. Auch verfügten sie häufig über eine starke Gruppen-, jedoch kaum über eine stabile Ich-Identität. 25 Sie nahmen sich nicht als Persönlichkeit wahr, sondern stets nur als Teil der Gruppe, mit der sie sich gegen die Menschen außerhalb dieser geschlossenen Gemeinschaft zur Wehr setzen mussten: „Ein neues Haus bedeutet ihnen ein Haus, in dem man umgebracht würde.“ So
22
Willen, Der Weg ins Leben (wie Anm.1), 4.
23
Vgl. Wolffheim, Psychoanalyse und Kindergarten (wie Anm.8), 202.
24
Vgl. hierzu auch Biber, Risen from the Ashes (wie Anm.9), 32.
25
Vgl. Wolffheim, Psychoanalyse und Kindergarten (wie Anm.8), 202; vgl. Biber, Risen from the Ashes
(wie Anm.9), 25.
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fasste die jüdische Psychoanalytikerin Nelly Wolffheim ihre Beobachtungen über die jüngsten Überlebenden zusammen. „Erwachsene waren Feinde, die einem wehtaten, gegen die man sich in gemeinsamer Gegnerschaft verteidigen musste.“ 26 Wolffheim ergänzt: „Von Anfang an fiel es auf, wie fest die Kinder durch die Gemeinsamkeit des Leidens, wenn sie aus dem gleichen KZ kamen, zusammenhingen. Alle zeigten starkes Misstrauen gegen die sie empfangenden Erwachsenen.“ 27 Die dritte Stufe der psychosozialen Entwicklung des Kindes, die etwa das dritte bis sechste Lebensjahr umfasst, ist geprägt durch ein starkes Neugierverhalten. Wichtig für das Ausleben der Neugier ist das Vorhandensein von und die Orientierung an Vorbildern. In diesem Lebensalter bilden sich – günstige Bedingungen vorausgesetzt – Gewissen und Moral des Kindes aus. Positive Vorbilder, Gewissen, Moral, das Ausleben von Neugier – all das hatten die Überlebenden Kinder der Shoah lange Zeit nicht erfahren dürfen. Das Beispiel einer Gruppe von Kindern aus den Konzentrationslagern Bergen-Belsen und Buchenwald, die nach der Befreiung in einem Auffanglager in Southampton-Durley Zuflucht fanden, zeigt, wie schlechte Bedingungen und Voraussetzungen die psychosoziale Entwicklung in diesem Lebensalter hemmen oder gar negativ beeinflussen können. Besonders auffällig bei diesen Kindern war die „Kontrolliertheit ihres Benehmens […], woran sie durch die Umstände des KZ-Lebens gewohnt waren“. 28 Das zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr typische Neugierverhalten von Kindern stand in direktem Widerspruch zu einem Leben unter Befehlsgewalt bzw. zu dem Zwang des Verbergens eigener Wünsche und Bestrebungen, dem die Kinder sich hatten fügen müssen. Auch wenn die bereits beschriebenen Kinder in Southampton-Durley die Heimbetreuer nur schwer als Vertrauenspersonen akzeptieren konnten, taten sie dennoch genau das, was die Vorschriften von ihnen verlangten, ohne aufzubegehren oder festgelegte Abläufe zu hinterfragen. 29 Der nächste Altersabschnitt vom siebten bis zwölften Lebensjahr ist vorrangig geprägt durch den Schuleintritt. Die Kinder erwerben und entdecken hierbei eine Vielzahl neuer Fähigkeiten und Kompetenzen, die sie in der Familie oder im Freundeskreis erproben. Sie beginnen sich mit anderen zu vergleichen und streben nach
26 Wolffheim, Psychoanalyse und Kindergarten (wie Anm.8), 201. 27 Ebd.205. 28 Ebd. 29 Ebd.223.
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Anerkennung. Bei Nichtbewältigen bestimmter Anforderungen können sich Minderwertigkeitskomplexe einstellen. 30 Die überlebenden Kinder waren in aller Regel dazu gezwungen worden, ihren Bildungsweg frühzeitig abzubrechen. Einige von ihnen hatten diesen auch nie beginnen können. In den Jahren der Verfolgung hatten die Kinder keine oder nur eine geringfügige Schulbildung erhalten. 31 Ein wichtiger Teil der Kindheit und der Erwerb notwendigen Wissens waren ihnen damit verwehrt geblieben. Dies äußerte sich u.a. in Problemen beim Schreiben und Sprechen 32 und in mangelndem Wissen über soziale Verhaltensnormen, moralisches Handeln und Werten. 33 Die Fertigkeiten, die die Kinder während der Verfolgung erlernt hatten, hatten nichts mit den Lerninhalten einer normalen Schulbildung gemein. Die psychischen und physischen Nachwirkungen ihrer Erfahrungen bewirkten zudem, dass es für sie anfangs sehr schwer war, eine Schulstunde lang konzentriert zu arbeiten, um das Versäumte aufzuholen. 34 Dennoch zeigten nahezu alle Kinder ein hohes Maß an Lernbegeisterung. Viele von ihnen erzielten dadurch in kürzester Zeit erstaunliche Resultate. Schon bald standen sie ihren Altersgenossen in nichts mehr nach oder übertrafen deren Leistungen sogar. 35 Die Schulen für die Überlebenden – die nach dem Krieg u.a. in Flüchtlingslagern und jüdischen Kinderheimen entstanden – boten kulturelle und geistige Betätigung und konnten dadurch die Demoralisierung und Isolation der Kinder ein Stück weit mildern. 36 Die Regelmäßigkeit und Routine des Schulunterrichts stellten sich hierbei als besonders wichtig und heilsam heraus. Im März 1948 hieß es im „Jüdischen Gemeindeblatt für die Britische Zone“ über die überlebenden jüdischen Kinder in den bereits erwähnten Übergangsheimen in England: „Die meisten sind jetzt allen anfänglichen Behinderungen zum Trotz ausgezeichnete Schüler. Fast alle sprechen jetzt fließend englisch, treiben
30
Vgl. Erikson, Identität und Lebenszyklus (wie Anm.14), 98–101.
31
Vgl. u.a. Keilson, Sequentielle Traumatisierung bei Kindern (wie Anm.20), 111.
32
Vgl. Wolffheim, Psychoanalyse und Kindergarten (wie Anm.8), 209.
33
Vgl. ebd.195, 237, 247.
34
Vgl. ebd.197f.; Vgl. Chana Dichter, Eine Schule für Überlebende der Shoah, in: Kirschen auf der Elbe.
Das jüdische Kinderheim Blankenese 1946–1948. Hrsg. vom Verein zur Erforschung der Geschichte der Juden in Blankenese. Hamburg 2006, 109–112. 35
Vgl. Wolffheim, Psychoanalyse und Kindergarten (wie Anm.8), 204, 245, 251; Vgl. Biber, Risen from the
Ashes (wie Anm.9), 25. 36
374
Vgl. Biber, Risen from the Ashes (wie Anm.9), 33.
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Sport, tanzen; viele Interessen füllen ihr Leben. Und auch gesundheitlich geht es ihnen sehr viel besser.“ 37 Die fünfte Stufe der psychosozialen Entwicklung nach Erikson umfasst das Alter zwischen dem 13. und 18. Lebensjahr. Diese Jahre sind vorrangig durch die Identitätsfindung der nunmehr herangewachsenen Jugendlichen gekennzeichnet und damit in Komplexität und Folge enorm weitreichend. Eine prägende Erfahrung für viele ältere jüdische Kinder und Jugendliche während der Jahre der Verfolgung war die Last der frühen Verantwortung, die sie für Jüngere hatten übernehmen müssen. Hinzu kam der bewusst erfahrene Verlust von Freunden und Verwandten (während die Jüngeren dies häufig erst als Heranwachsende symptomatisch verstärkt wahrnahmen), das beschleunigte Erwachsenwerden, wodurch ihnen wichtige Kindheits- und Jugendjahre geraubt und Entwicklungsschritte in der psychosozialen Entwicklung übersprungen wurden, sowie die verwehrte Identitätsfindung. Allein schon die Degradierung der Insassen in den Konzentrationslagern zu Nummern symbolisierte, dass die eigene Identität nichts wert war, ja sogar das Streben nach Identität gefährlich sein konnte. Ebenso wurde die Ausbildung der Geschlechtsidentität unterbunden. Häufig hatten Mädchen und Frauen in den Konzentrations- und Arbeitslagern ähnlich anstrengende Arbeiten verrichten müssen wie die Jungen und Männer. Auch gab es keine geschlechts- oder altersspezifische Kleidung. Zudem wurden den Insassen die Haare abgeschoren. Ein Überlebender, der die Shoah als Kind versteckt in Berlin überlebt hatte, erinnerte sich an seine erste Begegnung mit Bergen-Belsen-Überlebenden: „Sie können sich nicht vorstellen wie das war, die Mädchen waren alle kahl […] geschoren, mit Glatze, und das war so komisch, ein Mädchen mit, mit Glatze zu sehen. […] Das Haar ist sehr langsam […] nachgewachsen. Das war sehr deprimierend.“ 38 Das Meistern der Adoleszenz geschieht in starker Abhängigkeit zum Absolvieren der vorangegangenen Entwicklungsstufen. Ohne einen gesunden Abschluss aller Entwicklungsphasen ist die Identitätsfindung in der Pubertät problematisch. Brüche, Defizite und unbewältigte Krisen in den vorherigen Stadien können das Bewältigen der fünften Stufe der psychosozialen Entwicklung daher erheblich erschweren. Dies belegen auch die Folgeschäden, die viele ältere Kinder und Jugendliche
37 Jüdisches Gemeindeblatt für die Britische Zone 23, 24.März 1948, 4. 38 Interview Aviv Müller FZH / WdE 1178, 19 (Interviewtranskripte der „Werkstatt der Erinnerung“ in Hamburg).
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durch die Shoah davontrugen. Zum einen verfügten sie häufig über ein ausgeprägtes kindliches Liebes- und Verwöhnbedürfnis, das auf das jahrelange Verwehren dieses Grundbedürfnisses zurückzuführen ist. 39 Zum anderen litten sie vermehrt unter massiven Identitäts- und Selbstbewusstseinsstörungen. Wie die sie betreuenden Pädagogen jedoch beobachten konnten, entwickelten viele von ihnen trotz aller Erfahrungen bald „sehr das Gefühl, ein Individuum zu sein, nicht nur einer unter vielen, die nichts galten“. 40 Unter günstigen Bedingungen holten die jungen Erwachsenen auf diese Weise ihre Pubertätsphase nach der Befreiung quasi ein Stück weit nach, wenngleich man auch hierbei nicht von einer geradlinigen Entwicklung sprechen konnte. Laut Erikson kann „[e]ine dauernde Ich-Identität […] sich nicht bilden ohne das Vertrauen der ersten oralen Phase; sie kann sich nicht vollenden ohne das Versprechen einer Erfüllung, das von dem dominierenden Bild des Erwachsenseins hinabreicht in die ersten Kindheitstage und auf jeder Stufe dem Kinde einen Zuwachs an Ichstärke bringt.“ 41
Anhand dieser Aussage wird wahrscheinlich am deutlichsten, was Erikson mit der abschnittsweisen Entwicklung der Persönlichkeit meint. 42 Die Frage, ob ein Neubeginn für die Kinder und Jugendlichen ohne Weiteres möglich war, lässt sich damit aus psychoanalytischer Sicht zunächst negativ beantworten. Mit welchen organisatorischen und gesellschaftlichen Umständen die Überlebenden zusätzlich konfrontiert wurden, sollen die nachfolgenden Kapitel genauer beleuchten.
IV. Weiterleben nach der Katastrophe Nach der Befreiung wurden in Deutschland, Österreich und Italien sogenannte Displaced-Persons-Lager (kurz: DP-Lager) für die Unterbringung der heimatlos gewordenen Opfer des Zweiten Weltkriegs errichtet. Da die jüdischen DPs hierbei eine Sonderrolle einnahmen und es ihnen nicht zuzumuten war, in Flüchtlingslagern mit ehemaligen Landsleuten untergebracht zu werden, die mitunter mit den Natio39
Vgl. Wolffheim, Psychoanalyse und Kindergarten (wie Anm.8), 204, 245, 251; Vgl. Biber, Risen from the
Ashes (wie Anm.9), 207.
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40
Wolffheim, Psychoanalyse und Kindergarten (wie Anm.8), 206.
41
Erikson, Identität und Lebenszyklus (wie Anm.14), 109.
42
Vgl. ebd.58.
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nalsozialisten kollaboriert hatten, entstanden bald eigene jüdische DP-Lager. In Deutschland befanden sich diese überwiegend auf dem Gebiet der amerikanischen Besatzungszone. Die DP-Lager ebneten dem jüdischen Leben im Nachkriegsdeutschland einen Neuanfang, auch wenn sie ursprünglich nur als Übergangslösung bis zur Auswanderung der Überlebenden gedacht gewesen waren. Doch die raren Einwanderungszertifikate für Palästina und die strengen Einwanderungsbedingungen von begehrten Zielländern wie Amerika und Australien führten dazu, dass der Aufenthalt der jüdischen DPs auf deutschem Boden länger anhielt als geplant. Zudem waren viele Überlebende zu geschwächt, als dass eine schnelle Auswanderung für sie in Frage gekommen wäre. Das letzte jüdische DP-Lager in Deutschland schloss daher erst zwölf Jahre nach der Befreiung. 43 In dieser Zeit bauten die jüdischen DPs sich selbst organisierende und verwaltende Gemeinden auf. Die überlebenden und nachgeborenen jüdischen Kinder wuchsen in den DP-Lagern in einer einzigartigen und längst vernichtet geglaubten jüdischen Welt auf, in der sie sowohl nach traditionelljüdischen als auch nach zionistischen Grundsätzen erzogen und so auf ihr zukünftiges Leben in Palästina vorbereitet wurden. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass eine Art ‚jüdischer Schtetl‘ ausgerechnet im ‚Land der Täter‘ für einige Jahre neu erblühte und diese zeitweise über die höchsten Geburtenraten aller jüdischen Gemeinden weltweit verfügten. Mit der Einwanderung von polnisch-jüdischen Pogromflüchtlingen in die Besatzungszonen ab Ende des Jahres 1945 stieg die Zahl der Kinder in den DP-Lagern stark an. Dies führte zu einem Ausbau der pädagogischen Einrichtungen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde der Erziehungs- und Bildungsarbeit in den DP-Lagern höchste Priorität zugeschrieben. Doch bereits im September 1945 war im DP-Lager Föhrenwald mit dem Aufbau einer Schule begonnen worden, obwohl es laut einer Zählung vom Oktober 1945 zu dieser Zeit nur 39 Kinder im schulpflichtigen Alter im Lager gab. 44 Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man die Vielzahl von Problemen bedenkt, mit denen die DPs nach der Befreiung konfrontiert wurden: Viele von ihnen waren die einzigen oder wenigen Überlebenden einst großer Familien, sie hatten keine Heimat mehr, litten an Krankheiten, waren traumatisiert, hatten hohe fi-
43 Hierbei handelte es sich um das DP-Lager Föhrenwald. 44 Vgl. Angelika Königseder/Juliane Wetzel, Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland. Aktual. Neuausgabe. Frankfurt am Main 2004, 104, 107.
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nanzielle Verluste erfahren und gehörten einer Schicksalsgemeinschaft an, die geradeso der Auslöschung entgangen war. Der Unterricht in den DP-Schulen besaß trotz großen Engagements noch lange Zeit Improvisationscharakter. Es gab zu wenige (ausgebildete) Lehrkräfte, ungenügende Räumlichkeiten und keine Lehrmaterialien. Hilfe und Unterstützung erfuhren die Lehrkräfte und Erzieher, die zumeist ambitionierte DPs waren, von internationalen und jüdischen Hilfsorganisationen wie der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), ihrer Nachfolgeorganisation, der International Refugee Organization (IRO), oder dem American Jewish Joint Distribution Committee (JOINT). Ziel der Erziehung und Bildung in den DP-Einrichtungen war es, den Kindern die in Palästina benötigten Fertigkeiten beizubringen, damit der Auswanderung aus Deutschland und dem Einleben in der neuen Heimat nichts im Wege stand. Hebräischunterricht, Palästinakunde und handwerkliche Fertigkeiten bildeten daher den Schwerpunkt in den Lehr- und Erziehungsrichtlinien. 45 Eine psychotherapeutische Behandlung jedoch, die Dr. Irena Willen im Jüdischen Gemeindeblatt im Jahr 1948 als wichtige Voraussetzung für die Gesundung der überlebenden Kinder beschrieben hatte, erfuhren nur die wenigsten. Die zionistische Erziehung, die in den Erziehungs- und Bildungseinrichtungen der DP-Lager vorherrschend war, war darauf ausgerichtet, die Kinder auf ihre Zukunft vorzubereiten. Der darüber hinaus bestehende Mangel an psychologisch geschultem Personal und die geringe Zeit, die zur Verfügung stand – schließlich konnte die Auswanderung jeden Tag bewilligt werden – ließen keinen Platz für eine Auseinandersetzung mit dem Erlebten. Zitate wie dieses lassen sich daher in den Berichten der überlebenden Kinder häufig finden: „Wir verstanden, dass wir den vergangenen Teil unseres Lebens wegschließen, beenden, beiseite legen, verleugnen, verdrängen, wegschieben, verjagen, vergessen und davor fliehen mussten.“ 46
45
Vgl. Jaqueline Dewell Giere, Wir sind unterwegs, aber nicht in der Wüste. Erziehung und Kultur in den
jüdischen Displaced Persons-Lagern der amerikanischen Zone 1945–1949. Diss. phil. Frankfurt am Main 1993, 353. 46
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Alisa Beer, Das Geschenk, in: Kirschen auf der Elbe (wie Anm.34), 175–177, 175.
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V. Verschleppung der Folgeschäden Da die Aufarbeitung der Vergangenheit aufgrund der genannten Voraussetzungen zumeist nur ansatzweise bzw. verspätet einsetzen konnte, wurden nicht nur die Überlebenden, sondern auch deren Nachkommen nachhaltig von den Erfahrungen der Shoah beeinflusst. Was aber waren die genauen Ursachen dafür, dass selbst erfahrene Pädagogen dem Vergessen vor der Therapie den Vorrang gaben? Zunächst existierte, wie bereits erwähnt, zu wenig psychologisch geschultes Personal, das die Kinder nach der Befreiung adäquat hätte betreuen können. Die ebenfalls erwähnte, oftmals nur sehr kurze Zeitspanne, in der sich die meisten Kinder nach der Befreiung in pädagogischer Betreuung befanden, war hierfür außerdem ausschlaggebend. Ein wichtiger Grund lag zudem darin, dass die Psychiatrie zu dieser Zeit mit derart gravierenden Folgeschäden und den dafür notwendigen therapeutischen Methoden noch nicht vertraut war. Der niederländische Psychotherapeut Hans Keilson kam aufgrund seiner Arbeit mit den überlebenden Kindern der Shoah zu dem Schluss, dass „in der kinderpsychiatrischen Praxis man diese Bilder in diesem Ausmaß und in dieser Intensität bisher noch nicht erlebt [hatte]“. 47 Der verständliche Wunsch der Kinder, alles so schnell wie möglich zu vergessen, – auch wenn dies, wie Elin Hordvik betont, eigentlich gar nicht möglich ist 48 – verhinderte überdies häufig den therapeutischen Zugang zu den Heranwachsenden. Ein weiterer entscheidender Aspekt war die weltweite gesellschaftliche Verdrängung der Shoah, besonders in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende. Der Psychologe Nathan Durst stellte dies als einen wesentlichen Grund dafür heraus, warum die Bekämpfung der Traumata für die Überlebenden so schwierig war: „Über das Thema des Holocaust mit seinen psychischen und sozialen Folgen für das Individuum wurde geschwiegen: Die Gesellschaft wollte vergessen, der Überlebende aber konnte es nicht und blieb allein mit seiner Trauer. Er trauerte im Stillen und schwieg.“ 49 Die missglückte zeitnahe Bewältigung der Shoah-Erlebnisse führte schließlich
47 Hans Keilson, Das „Nachher“ der Überlebenden, in: Benz/Distel (Hrsg.), Überleben und Spätfolgen (wie Anm.16), 32–34, 32. 48 Vgl. Hordvik, Was ist ein psychisches Trauma? (wie Anm.3), 39. 49 Nathan Durst, Psychotherapeutisches Arbeiten mit Überlebenden des Holocaust, in: http://www.ai-aktionsnetz-heilberufe.de/docs/texte/texte/politische_traumatisierung_1999/tdurst.pdf [29.02.2012].
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zur ‚Verschleppung‘ der Folgeschäden bis in die nächsten Generationen. Die Erfahrungen der Eltern oder Großeltern wurden zum ‚Familiengeheimnis‘, das jedoch an bestimmten Punkten immer wieder hervorbrach, ohne dass die Kinder verstanden, was genau die Überlebenden beschäftigte. Besonders hiervon betroffen war die sogenannte zweite Generation der Shoah-Überlebenden, die direkten Nachkommen der Überlebenden also, die häufig die Namen von in der Shoah ermordeten Verwandten trugen. In diesem Zusammenhang fühlten sie sich nicht selten dem (bewussten oder unbewussten) Erwartungsdruck ausgesetzt, ihr Leben im Sinne der Ermordeten zu gestalten. Die unaufgearbeiteten Folgeschäden beeinflussten vielfach aber auch den gesamten Familienalltag, vor allem dann, wenn dieser in Deutschland stattfand. Die Eltern litten häufig unter Depressionen und der permanenten Angst vor einem erneuten Ausbruch antisemitischer Gewalt, was ein latentes Misstrauen gegenüber der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft mit sich brachte. Dies konnte plötzlich gegenüber nichtjüdischen Freunden oder Partnern der Kinder auftreten und so zu massiven Konflikten zwischen der Generation der Überlebenden und den Nachgeborenen führen. Viele Mitglieder der zweiten Generation berichten ferner von der Angst, die Hoffnungen der Eltern, die in ihrem Leben bereits viel Traumatisches erfahren hatten, zu enttäuschen. Aus diesem Grund konnte sich auch der Ablösungsprozess von den Eltern im hohen Maße problematisch gestalten. 50
VI. Fazit Während es zur Zeit der Befreiung, wie auch viele Jahrzehnte danach, nur wenige Ansätze zu einem therapeutischen Umgang mit den überlebenden Kindern der Shoah gab, wurde im Jahr 1980 die posttraumatische Belastungsstörung als diagnostische Kategorie für die Reaktion eines Menschen auf eine Bedrohung unnatürlichen Ausmaßes und die daraus resultierenden Folgewirkungen definiert. Grundlage für die Beschreibung der Belastungsstörung bildete die therapeutische Arbeit mit Shoah-, Hiroshima- und Vietnam-Überlebenden. 51 Jedoch bezog sich die Dia-
50
Vgl. Günther Bernd Ginzel, Es war ein Abschied wie im Film, in: Viola Roggenkamp (Hrsg.), Tu mir eine
Liebe. Meine Mamme. Jüdische Frauen und Männer in Deutschland sprechen von ihrer Mutter. Berlin 2002, 54–61, 59; vgl. auch Rafael Seligman, Die Ziege, die eine Schildkröte gebar, in: ebd.142–149, 147. 51
380
Nathan Durst, Eine Herausforderung für Therapeuten. Psychotherapie mit Überlebenden der Shoa, in:
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gnose der posttraumatischen Belastungsstörung zunächst nur auf Erwachsene. Noch bis vor wenigen Jahren herrschte Uneinigkeit darüber, ob Kinder, ähnlich wie Erwachsene, infolge von Schock- oder Krisenerlebnissen überhaupt unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Es konnte jedoch nachgewiesen werden, dass „die Art des Wiedererlebens [des traumatischen Ereignisses, K. D.] sich zwar bei Kindern und Jugendlichen je nach Entwicklungsstand [unterscheide], sich aber mit zunehmender Reife immer mehr der bei Erwachsenen beschriebenen Symptomatik [nähere]“. 52 Wie in Kapitel II ausführlich geschildert, hatten die jüngsten Überlebenden der Shoah, genau wie die Erwachsenen, nicht nur körperliche, sondern vor allem psychische Schäden davongetragen, deren Bewältigung eine zeitnahe, intensive therapeutische Begleitung verlangt hätte. Es kann nur vermutet werden, wie anders und vielleicht auch leichter die Lebenswege der ehemaligen Insassen von Konzentrationslagern, Ghettos oder auch die der versteckten Kinder hätten verlaufen können, wäre ihnen medizinisch wie gesellschaftlich entsprechende Hilfe und Unterstützung zuteil geworden. Nur wenige bekamen jedoch überhaupt die Möglichkeit über das Erlebte zu sprechen. Scham, gesellschaftliche Ignoranz und Verdrängung, fehlende Möglichkeiten oder schlicht der Wunsch, diesen Teil des Lebens für immer zu vergessen und in die Zukunft zu schauen, waren wichtige Gründe hierfür. Dass ein Vergessen nicht möglich war und die meisten Shoah-Überlebenden unzureichend oder gar nicht therapiert wurden, beweisen vor allem die bis in die nächsten Generationen verschleppten Folgeschäden, die sowohl die Überlebenden selbst als auch deren Familien nachhaltig beeinflussten. Besonders im Alter, mit dem Wegfall alltagsprägender Strukturen, wie Beruf, Eheleben oder das Aufziehen der Kinder, kehrten längst verdrängte Traumata, zumeist sogar mit großer Intensität, zurück, deren Bewältigung die Betroffenen weder allein noch mit Hilfe ihrer Familien leisten konnten. Aus diesem Grund entstanden von Überlebenden initiierte Selbsthilfeprogramme, wie AMCHA, die genau da ansetzen, wo die Gesellschaft und jahrzehntelang auch Therapeuten begannen wegzuschauen. AMCHA-Mitarbeiter selbst sehen Revital Ludewig-Kedmi/Miriam Victory Spiegel/Sylvie Tyrangiel (Hrsg.), Das Trauma des Holocaust zwischen Psychologie und Geschichte. Zürich 2002, 79–96, 86. 52 Hubertus Adam/Martin Aßhauer, Flüchtlingskinder – Individuelles Trauma. Versöhnungsprozess und soziale Rekonstruktion, in: Insa Fooken/Jürgen Zinnecker (Hrsg.), Trauma und Resilienz. Chancen und Risiken lebensgeschichtlicher Bewältigung von belasteten Kindheiten. Weinheim/München 2007, 155–168, 158.
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die Schwierigkeit des Neubeginns für die Überlebenden genau darin begründet, dass sie bis heute Hilfsangeboten öffentlicher Einrichtungen misstrauen, „[w]eil sich viele Überlebende aufgrund emotionaler Probleme vor Ausgrenzung fürchten und weil in der Öffentlichkeit lange über die psychischen Folgen des Holocaust geschwiegen wurde“. 53 Deshalb gründete AMCHA eigene Sozialzentren von Überlebenden für Überlebende. Ähnliche Ansätze bietet die Organisation „Child Survivors“ 54. Wie bei AMCHA steht auch hier die Möglichkeit im Vordergrund, sich in vertrauter Gemein-
schaft auszutauschen, der Einsamkeit im Alter mit Hilfe dieser Gemeinschaft entgegenzutreten, aber auch die Öffentlichkeit auf die Schicksale der Überlebenden aufmerksam zu machen. Dass das kollektive Wegschauen kein Problem der Vergangenheit ist, beweisen die Schicksale von Kindern, die bis heute immer wieder zu den unschuldigen Opfern von Kriegen, Genoziden und Naturkatastrophen zählen, ohne dass sie in der Öffentlichkeit eine adäquate Stimme erhalten würden. Auch die jüngsten Opfer der Shoah zeigen, dass die Tragik des Erlebten nicht nur aus diesem selbst erwächst, sondern auch im Umgang damit durch die Gesellschaft. An dieser Stelle könnten wir aus der Geschichte lernen und von den Erfahrungen der Shoah-Überlebenden und Organisationen wie AMCHA oder „Child Survivors“ profitieren, um so zu versuchen, den jüngsten Kriegs- und Gewaltopfern der Gegenwart einen Neubeginn und ein annähernd normales Aufwachsen zu ermöglichen.
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53
AMCHA, Über AMCHA, in: http:// http://amcha.de/uber-amcha/ [27.02.2016].
54
Vgl. http://www.child-survivors-deutschland.de/wir-stellen-uns-vor/ [27.02.2016].
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„Kindersoldaten“ Zur Kontinuität kämpfender Kinder in Kriegen und bewaffneten Konflikten von Michael Pittwald
I. Einleitung Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 18 Jahren, mitunter auch jünger, sind gegenwärtig fester Bestandteil regulärer Armeen und außerstaatlicher bewaffneter Gruppen. Wird über Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen in den Medien berichtet, tauchen darin immer wieder bewaffnete und kämpfende Kinder und Jugendliche auf – ein mittlerweile gewohntes, jedoch nach wie vor schwer zu fassendes und irritierendes Phänomen der heutigen Kriegsrealität. Das Thema von in Kriegen und bewaffneten Konflikten involvierten und kämpfenden Kindern und Jugendlichen wird seit Mitte der 1990er-Jahre verstärkt in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Maßgeblich dazu beigetragen haben international vernetzte Aktivitäten und Kampagnen von Organisationen der Zivilgesellschaft, die sich mit Kinderrechten und dem Themenfeld ‚Kinder in bewaffneten Konflikten‘ beschäftigen und als eines ihrer Ziele die völkerrechtliche Verbesserung des Schutzes von Kindern in kriegerischen Auseinandersetzungen haben. Einen zentralen Impuls dafür gab die 1996 im Auftrag des UN-Generalsekretariats von der damaligen mosambikanischen Bildungsministerin Graça Machel und einer Sachverständigenkommission erstellte Studie „Impact of Armed Conflict on Children“ 1, die auch als „Machel Report“ benannt wird. Der Report basiert auf intensiven Recherchen in 24 Ländern. Er belegt einen bis dahin von der Weltöffentlichkeit so nicht wahrgenommenen und für viele Menschen ungeheuerlichen Aspekt des Kriegsgeschehens: Die weit verbreitete und systematische Versklavung von Kindern als Soldaten, ihre vielfältigen Arbeitsaufgaben in den Truppen und bewaffneten Gruppen sowie ihren direkten Einsatz im bewaffneten Kampf.
1 Graça Machel, Impact of Armed Conflict on Children. Report of the Expert of the Secretary-General, Ms. Graça Machel, Submitted Pursuant to General Assembly Resolution 48/157. New York 1996.
DOI
10.1515/9783110469196-017
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Kinder und Jugendliche werden zwangsrekrutiert oder schließen sich ‚freiwillig‘ bewaffneten Gruppen an. Nehmen sie nicht aktiv mit der Waffe an Kämpfen teil, so arbeiten sie in ihren Einheiten als Anführer oder Ausbilder für andere Jugendliche und Kinder, als Träger, Köche, Spione oder werden als ‚Soldatenbräute‘ von ihren Vorgesetzten missbraucht. Das betrifft Mädchen und Jungen gleichermaßen. Nach Schätzungen internationaler Hilfsorganisationen waren um die 250000 Kinder und Jugendliche in den 2014 registrierten 31 Kriegen und bewaffneten Konflikten involviert. Die Zahl blieb auch 2015 konstant. 2 Im Februar 2015 sind beispielsweise im Südsudan 89 Schuljungen von einer bewaffneten Gruppe entführt worden, um diese vermutlich als Kämpfer einzusetzen. Unicef gibt an, dass 2014 allein im Südsudan circa 12000 Kinder in das Kriegsgeschehen eingebunden waren. Und auch im anhaltenden Bürgerkrieg in Syrien werden von allen Seiten Minderjährige eingesetzt. Die Kampftruppen des ‚Islamischen Staates im Irak und Syrien‘ (ISIS) rekrutieren systematisch Kinder und Jugendliche. In Kriegen oder bewaffneten Konflikten kämpfende Kinder und Jugendliche gibt es heute unter anderem in Afghanistan, im Tschad, in der Zentralafrikanischen Republik, in Kolumbien, in der Demokratischen Republik Kongo, in Indien, im Irak, in Israel und Palästina, in Mali, in Myanmar, in Pakistan, auf den Philippinen, in Sri Lanka, in Somalia, im Sudan, in Uganda, in Thailand und im Jemen. 3 Aber auch in Staaten der westlichen Welt werden Minderjährige in deren Armeen oder in Polizeieinheiten aufgenommen, an der Waffe ausgebildet und auf Kriegseinsätze vorbereitet. Dazu gehören neben anderen die Bundesrepublik Deutschland, die jedes Jahr um die 1000 17-jährige Jungen und Mädchen in die Bundeswehr aufnimmt. In Großbritannien beträgt das Rekrutierungsalter 16 Jahre, in den USA 17 Jahre und in Kanada 16 Jahre. In den britischen Streitkräften befinden sich zwischen 6000 bis 7000 Unter18-Jährige, die an der Waffe trainiert werden, jedoch nicht in Kampfeinsätze geschickt werden dürfen. 4 2008 gab es weltweit 63 Staaten, in denen die Rekrutierung Unter-18-Jähriger gängige Praxis war. 5
2 Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg (Hrsg.), Das Kriegsgeschehen 2014. Hamburg 2015, unter: http://www.wiso.uni-hamburg.de/fachbereiche/sozialwissenschaften/forschung/akuf/laufende-kriege/ [15.10.2015]. 3 Deutsches Aktionsnetz Kleinwaffen Stoppen, Red Hand Day 2015. Stoppt den Missbrauch von Kindern als Soldaten!, in: DAKS-Kleinwaffen Newsletter 1, 2015, Nr.112, 1–3. 4 Zur Rekrutierungspraxis der einzelnen Länder siehe: Child Soldiers International (Ed.), Louder than Words. An Agenda for Action to End State Use of Child Soldiers Report Published to Mark the Tenth An-
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Die erhöhte Aufmerksamkeit, die das Thema ‚Kindersoldaten‘ in den letzten Jahren erfahren hat, führte dazu, dass das Thema auch in der Wissenschaft verstärkt wahrgenommen wird. Dies gilt zum einen für das Themenfeld ‚Kinder und Krieg‘ beziehungsweise ‚Kriegskindheiten‘. Hierbei steht allerdings weniger die Analyse der Ursachen für den Einsatz von Kindern als Soldaten als vielmehr die Dokumentation von Erfahrungsberichten ehemaliger Kindersoldaten im Zentrum. 6 Daneben gibt es zum anderen Untersuchungen, die das Thema ‚Kindersoldaten‘ als eigenständigen Gegenstand aufgreifen. In den Blick genommen werden dabei vor allem Aspekte des Völkerrechts, psychotherapeutische Ansätze für ehemalige Kindersoldaten, Demobilisierungsstrategien sowie die Analyse des Themas und die Ursachenforschung im Kontext der Friedens- und Konfliktforschung. 7 Brauchbare empirische Grundlagen für diese Arbeiten bilden zahlreiche Publikationen und sogenannte ‚Reports‘ aus dem Umfeld der UN und der sich mit dem Gegenstand befassenden Nichtregierungsorganisationen. 8 Nur sporadisch wird die historische Einordnung der Kindersoldatenproblematik betrieben. Obwohl in das Kriegsgeschehen eingebundene Kinder im Zusammenhang mit Ereignissen wie beispielsweise dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) durchaus behandelt werden, steht hier eine umfassende Aufarbeitung noch aus. 9 Der vorliegende Sammelband kann diese Lücke ein Stück weit schließen.
niversary Year of Entry into Force of the Optional Protocol on the Involvement of Children in Armed Conflict. London 2012. 5 Coalition to Stop the Use of Child Soldiers (Ed.), Child Soldiers. Global Report 2008. London 2008, 35. 6 Als Beispiele für Arbeiten, die ‚Kindersoldaten‘ in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs thematisieren, seien hier genannt: Nicholas Stargardt, Kinder in Hitlers Krieg. München 2008; Margarete Dörr, „Der Krieg hat uns geprägt“. Wie Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebten. 2 Bde. Frankfurt am Main/New York 2007. 7 So neben anderen: Flavia von Meiss, Die Pflichten der Staaten im menschenrechtlichen Schutz von Kindersoldaten. Schweizer Studien zum Internationalen Recht. Zürich 2014; Gregoria Paloma Suárez, Kindersoldaten und Völkerstrafrecht. Die Strafbarkeit der Rekrutierung und Verwendung von Kindersoldaten nach Völkerrecht. Berlin 2009; Boia Efraime Junior, Psychotherapie mit Kindersoldaten in Mosambik. Auf der Suche nach Wirkfaktoren. Diss. phil. Köln 2007; Michael Pittwald, Kindersoldaten, neue Kriege und Gewaltmärkte. 2.Aufl. Belm-Vehrte 2008. 8 Zum Beispiel: Rachel Brett/Margret McCallin, Children. The Invisible Soldiers. 2.Aufl. Växjö 1998; Child Soldiers (wie Anm.5); Louder than Words (wie Anm.4). Hier findet man unter anderem Basisdaten zu einzelnen Ländern, in denen Kinder und Jugendliche rekrutiert werden, zur Rekrutierungspraxis von bewaffneten Gruppen und staatlichen Armeen oder zur Demobilisierung. 9 Hervorzuheben sind hier: Dittmar Dahlmann (Hrsg.), Kinder und Jugendliche in Krieg und Revolution. Paderborn 2000, und Karl Mittermaier, Kinder als Soldaten. Eskalationen der Gewalt in Vergangenheit und Gegenwart. Thaur 1999.
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Im Folgenden werden sechs Punkte aufgegriffen, die für die Problematik von an Kriegen und bewaffneten Konflikten beteiligten Kindern und Jugendlichen von besonderer Bedeutung sind. Zunächst erfolgt eine Klärung des Begriffs ‚Kindersoldat‘. Danach wird kurz der völkerrechtliche Rahmen beschrieben, der die Rekrutierung von Unter-18-Jährigen regelt und auf den sich Gegner und Befürworter der aktuellen Rekrutierungspraxis gleichermaßen berufen. Ausgehend von der These, dass Kinder keine neuen Gewaltakteure sind, die erst in den Kriegen der letzten drei Jahrzehnte aufgetaucht sind, wird deshalb in einem dritten Schritt ein schlaglichtartiger Blick in die Geschichte vorgenommen. Viertens stehen die Ursachen und Bedingungen der heutigen Versklavung von Kindern als Soldaten im Vordergrund. In direktem Zusammenhang damit werden als fünfter Punkt Rolle und Funktion von Kindersoldaten in Kriegen und Konflikten beleuchtet. Abschließend sollen die Auswirkungen, die eine militärisch-ideologische Sozialisation auf die Betroffenen selbst haben können, anhand der Beispiele von ehemaligen Kindersoldaten in Mosambik beschrieben werden.
II. ‚Kindersoldat‘ – Definition und Verwendung eines Begriffs Der Begriff ‚Kindersoldat‘ 10 war bereits im 19.Jahrhundert im deutschen und französischen Sprachraum nicht unbekannt. Einen Beleg für den Gebrauch des Begriffs gibt die mehrbändige „Geschichte des deutschen Freiheitskrieges“ von Friedrich Richter aus dem Jahr 1837. Richter beschreibt die schlechte Versorgungslage und die Strapazen der Truppen Napoleons: „Umsonst nach Trunk und Labung lechzend, wurden jene Kinder-Soldaten (enfants soldats, wie sie die Franzosen selbst nannten), die kaum dem Knabenalter entwichenen Glieder der jungen Garde, durch die Stadt auf das Schlachtfeld gejagt.“ 11 Die Verbreitung des Begriffs ‚Kindersoldat‘ blieb jedoch bis Ende des 20.Jahrhunderts eher gering. 1996 verwendete Graça Machel den Terminus ‚Child Soldier‘ in der im Auftrag der UN erstellten Studie „Impact of Armed Conflict on Children“ und trug damit ent-
10
Wenn hier von ,Kindersoldaten‘ oder ,Kindersoldat‘ die Rede ist, sind damit sowohl männliche wie
auch weibliche Kinder und Jugendliche gemeint, die rekrutiert worden sind. 11
Friedrich Richter, Geschichte des deutschen Freiheitskrieges vom Jahre 1813 bis zum Jahre 1815. Bd. 2.
Berlin 1837, 36.
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scheidend dazu bei, dass diese Bezeichnung für Kinder, die aktiv an bewaffneten Konflikten beteiligt sind, international weitgehend akzeptiert und weit verbreitet ist. 12 Der Begriff wird mittlerweile nicht nur in der Wissenschaft, bei Nichtregierungsorganisationen oder auf der politischen Ebene benutzt, sondern ebenso in populären Medien wie Romanen, Radioberichten, Fernsehsendungen oder in Kinound Dokumentarfilmen. 13 Auf der Studie von 1996 aufbauend, lieferte Machel 2001 eine bis heute international gängige Definition des Terminus ‚Child Soldier‘: „A Child Soldier is any child – boy or girl – under the age of 18, who is compulsory, forcibly or voluntarily recruited or used in hostilities by armed forces, paramilitaries, civil defence units or other armed groups.“ 14 Dies ist allerdings keine juristisch beziehungsweise völkerrechtlich verbindliche Definition. Genaugenommen handelt es sich hierbei um eine politische sowie programmatische Definition, die eine völkerrechtliche Verbesserung des Schutzes von Kindern in bewaffneten Konflikten beabsichtigt. In keinem völkerrechtlich verbindlichen Dokument wird der Begriff ‚Kindersoldat‘ verwendet. Im Völkerrecht wird in diesem Zusammenhang von den Altersgrenzen 15 und 18 Jahre gesprochen, die die Rekrutierung regeln. 15 ‚Kindersoldat‘ ist insofern zunächst ein medial geprägter und politisch gezielt eingesetzter Begriff. Hinzu kommt, dass dem Begriff eine gewisse Unschärfe anhaftet, die bei seinem Gebrauch berücksichtigt werden muss. Als ‚Kindersoldaten‘ werden oftmals auch Minderjährige benannt, die sich auf Grund der instabilen politischen Lage und der ökonomischen Situation ihres Landes, die eine geregelte Reproduktion ihrer Existenz ausschließen, zusammentun, um in bandenähnlichen Gemeinschaften durch
12 Graça Machel, The Impact of War on Children. A Review of Progress since the 1996 United Nations Report on the Impact of Armed Conflict on Children. London 2001. 13 Auf dem Büchermarkt gibt es inzwischen zahlreiche Publikationen in Form von autobiografischen Erzählungen ehemaliger Kindersoldaten. In diesem ‚Genre‘ verschwimmen oft die Grenzen zwischen dem von den Autorinnen und Autoren real Erlebten und fiktiven Handlungssträngen. Zum Beispiel: Cyrus Avramian, Die letzte Nacht. Mein Leben als iranischer Kindersoldat. Freiburg/Basel/Wien 2012; Ishamel Beah, Rückkehr ins Leben. Ich war Kindersoldat. Frankfurt am Main 2007; China Keitetsi, Sie nahmen mir die Mutter und gaben mir ein Gewehr. Berlin 2005; Seanit G. Mehari, Feuerherz. München 2005. 14 Machel, The Impact of War on Children (wie Anm.12), 7. 15 Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten. New York 2000, unter: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/ Aussenpolitik/Menschenrechte/KinderrechteVN_node.html [15.10.2015]. Siehe auch: von Meiss, Die Pflichten der Staaten (wie Anm.7), 12f.
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Raub und Plünderungen zu überleben. Uniform und Gewehr werden dabei zu ihren Produktionsmitteln. Weiter gefasste politische und militärische Strategien oder Zielsetzungen, für die Soldaten in der Regel in den Kampf geschickt werden, verfolgen diese Gruppen nicht. Ihr Organisations- und Ausrüstungsgrad ist wesentlich geringer als bei regulären Streitkräften oder Bürgerkriegsparteien; ihre Vorgehensweise ‚chaotischer‘ und von situationsbedingter, eskalierender Gewalt geprägt. Ob in diesem Fall die Bezeichnung ‚Soldat‘ für die an solchen Gewalthandlungen Teilnehmenden noch zutrifft, kann zumindest bezweifelt werden. In diesem Beitrag wird der Begriff ‚Kindersoldat‘ demnach wie folgt verwendet: Kindersoldaten sind diejenigen unter-18-jährigen Mädchen und Jungen, die im Rahmen staatlicher Armeen oder nichtstaatlicher, bewaffneter Gruppen aktiv an Kämpfen teilnehmen, an der Waffe ausgebildet werden und/oder dort andere Arbeitsaufgaben wahrnehmen.
III. Der völkerrechtliche Rahmen für die Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen Heute wird das Themenfeld ‚Kindersoldaten‘ vornehmlich aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet: zum einen aus dem der Zivilgesellschaft und zum anderen aus dem der militärischen und verteidigungspolitischen Führungsebenen. Die zur internationalen Zivilgesellschaft gehörenden Nichtregierungsorganisationen leisten in Form von Nothilfe- und Reintegrationsprogrammen praktische Hilfe für die betroffenen Kinder und Jugendlichen. Auf der politischen Ebene wird das Thema von ihnen vorrangig unter dem Aspekt Menschenrechte respektive Kinderrechte und des Humanitären Völkerrechts behandelt. Hierbei geht es vor allem um die völkerrechtliche Verbesserung des Schutzes von Kindern vor Gewalt, Krieg und Ausbeutung. Zu den wichtigsten völkerrechtlichen Bestimmungen und Konventionen gehört die „Kinderrechtskonvention von 1989“ mit ihrem ergänzenden „Fakultativprotokoll“ aus dem Jahr 2000. Nach diesem dürfen sogenannte Non-State-Actors keine Unter-18-Jährigen mehr rekrutieren. Regulären Armeen ist es weiterhin erlaubt, freiwillig sich meldende Unter-18-Jährige aufzunehmen, sie dürfen sie jedoch nicht in Kampfeinsätze schicken. Für Unter-15-Jährige gilt ein striktes Rekru-
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tierungsverbot. 16 Die Forderung der Befürworter einer Neuregelung der völkerrechtlichen Rahmenbedingungen zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten war die Anhebung des Rekrutierungsalters auf 18 Jahre und somit ein generelles Verbot der Rekrutierung Minderjähriger. Insofern ist das Zusatzprotokoll ein Kompromiss auf eher schwachem Niveau. Besonders problematisch ist der im Protokoll enthaltene Doppelstandard. Für Non-State-Actors gilt ein striktes Rekrutierungsverbot von Unter-18-Jährigen. Staatliche Streitkräfte dürfen jedoch weiterhin Minderjährige aufnehmen, diese militärisch ausbilden und auf Kampfeinsätze vorbereiten. Eine weitere wichtige völkerrechtliche Regelung, die unmittelbare Auswirkungen auf diejenigen haben kann, die Kinder rekrutieren, ist das „Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs“ aus dem Jahr 1998. 17 In diesem gilt die Rekrutierung von Kindern unter 15 Jahren als Kriegsverbrechen. Seit der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH) 2002 seine Arbeit aufgenommen hat, besteht nunmehr die Möglichkeit, die Verantwortlichen für die Rekrutierung von Kindern juristisch zur Rechenschaft zu ziehen. So wurde der kongolesische Milizenführer Thomas Lubanga 2012 zu 14 Jahren Haft verurteilt – unter anderem wegen der Rekrutierung von Kindern. Und mit einem Urteil des IStGH vom März 2015 besteht zudem die Möglichkeit, die Opfer von Kriegsverbrechen, also auch Kindersoldaten, materiell zu entschädigen. Die Verantwortlichen für die Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen müssen diese aus ihrem Vermögen entschädigen. Sollte bei den Verantwortlichen kein Privatvermögen mehr vorhanden sein, springt ein Treuhandfonds ein. 18 Da es sich beim kriegerischen Einsatz von Kindern und Jugendlichen um eine besondere Form von Versklavung und Ausbeutung handelt, muss in diesem Zusammenhang auch das „Übereinkommen über das Verbot und unverzügliche Maßnah-
16 Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Siehe auch: Gesetz zu dem Fakultativprotokoll vom 25.Mai 2000 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten. Vom 16.September 2004, in: Bundesgesetzblatt, T. II, 30, 2004, 1354–1361. 17 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17.Juli 1998. Amtliche Übersetzung. Angenommen am 17.Juli 1998 auf der Diplomatischen Bevollmächtigtenkonferenz der Vereinten Nationen zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs, Artikel 8, Absatz XXVI. 18 Dominic Johnson, Geld für Ex-Kindersoldaten im Kongo, in: die tageszeitung, 03.03.2015.
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men zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit“ der International Labour Organization (ILO) von 1999 genannt werden. 19 Aus diesem völkerrechtlichen Rahmen ergeben sich auf nationalstaatlicher Ebene unterschiedliche Umgehensweisen mit dem Thema ‚Kindersoldaten‘, die konkrete innen- und außenpolitische Konsequenzen haben. Als Beispiel sollen hier die offiziellen Standpunkte der Bundesrepublik Deutschland und der Bundeswehr genannt werden. Innenpolitisch bedeutet das, dass die Rekrutierungspraxis der Bundesrepublik erlaubt, dass sich 17-jährige Mädchen und Jungen mit Zustimmung der Erziehungsberechtigten freiwillig der Bundeswehr anschließen dürfen. Die Regierung der Bundesrepublik ist nicht bereit, das Rekrutierungsalter auf 18 Jahre anzuheben. 20 Außenpolitisch kommt ein anderer Aspekt hinzu, der die in Kriegen kämpfenden Kinder und Jugendliche unmittelbar betrifft. Durch den Anstieg der militärischen Auslandseinsätze der Bundeswehr treffen Bundeswehrsoldaten immer öfter auf bewaffnete Minderjährige. Hier gilt bis heute die Aussage eines Drei-Sterne-Generals aus dem Jahr 2006. Dieser betonte bezogen auf den Einsatz der Bundeswehr im Kongo: „Wenn ein Kindersoldat mit geladener Waffe vor einem meiner Soldaten steht, hoffe ich, dass er genauso reagieren wird, wie wenn ein Erwachsener vor ihm steht!“ 21 Diese Position, wonach bewaffnete Kinder und Jugendliche Kombattanten sind und mit den gleichen Mitteln wie andere Soldaten bekämpft werden müssen, vertritt nicht allein die Bundeswehrführung. Sie ist international verbreiteter Konsens. Auf der einen Seite existiert also ein hochentwickeltes Völkerrecht, das bei konsequenter Beachtung und Anwendung durchaus geeignet wäre, die Problematik von Kindern und Jugendlichen als aktive Kriegsteilnehmer einzudämmen. Auf der an-
19
Übereinkommen über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten
Formen der Kinderarbeit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO Convention 182). Genf 1999. 20
Rechtsgrundlage ist hier der § 5 (2) des Wehrpflichtgesetzes. In diesem Zusammenhang gehört auch
das in den letzten Jahren verstärkte Werben der Bundeswehr in Schulen, auf Berufsorientierungsmessen, in Jugendzeitschriften, im Kino und Fernsehen. Das von der Bundeswehr 2014 für 16- bis 19-Jährige durchgeführte ‚Bw-Adventure-Camp‘, bei dem den Mädchen und Jungen das Soldatenleben als Abenteuer, sportliche Herausforderung, Mutprobe und Urlaub vermittelt wird, steht ebenso in diesem Kontext wie die direkten Werbeanschreiben der Bundeswehr an Minderjährige und ihre Familien. 21
Anna Reimann, Kongo-Einsatz. Im Notfall auf Kindersoldaten schießen, in: Spiegel online, 14.06.2014,
unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/kongo-einsatz-im-notfall-auf-kindersoldaten-schiessen-a421430.html [15.10.2015].
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deren Seite haben wir eine anhaltend hohe Zahl von kämpfenden Kindern und den mangelnden politischen Willen vieler Regierungen zu verzeichnen, das bestehende Völkerrecht zum Schutz von Kindern und Jugendlichen in bewaffneten Konflikten weiter auszubauen und durchzusetzen. 22 Auch die Bereitschaft, im nationalstaatlichen Rahmen das Rekrutierungsalter auf 18 Jahre anzuheben, ist in vielen Staaten gering.
IV. Historische Schlaglichter Kindersoldaten werden vor allem in Bezug auf Kriegs- und Konfliktregionen in Afrika, im asiatischen Raum und im Nahen Osten verortet und üblicherweise nicht in den regulären Armeen westlicher Staaten vermutet. Ebenso selten wird darauf hingewiesen, dass es gerade in Europa und in Nordamerika eine lange Tradition von kämpfenden und in militärische Strukturen systematisch eingebundenen Kindern und Jugendlichen gibt. Bezogen auf das vorkoloniale Afrika kann man dagegen sagen, dass dort keine spezifische Tradition von Kindersoldaten anzutreffen war. Kindersoldaten traten in nennenswerter Zahl dort erst im Zuge der postkolonialen Bürgerkriege auf, wie zum Beispiel in Mosambik. 23 Ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt, dass Kindersoldaten ein historisch bekanntes Phänomen sind. Dieses soll hier schlaglichtartig anhand ausgewählter Beispiele aus verschiedenen Epochen und Ereignissen verdeutlicht werden. Im antiken Sparta gab es bekanntlich eine sehr positive Einstellung zum Kampf und zum Krieg. Dementsprechend wurden Kinder zu Kriegern ausgebildet, durften sich im Kampf gegen die ‚Heloten‘ bewähren und diese sogar töten. 24 Im Mittelalter wurden die Jungen von Rittern ab dem siebten Lebensjahr auf den kriegerischen Kampf durch die Schulung im Jagen, Reiten und Schießen vorbereitet. Jungen nahmen als Knappen mit dreizehn oder vierzehn Jahren an den Feldzügen der Ritter teil. 25 In Europa war bei den höheren Ständen die militärische Erziehung und Ausbildung von Kin22 Zum Völkerrecht bezogen auf Kinder in bewaffneten Konflikten siehe: von Meiss, Die Pflichten der Staaten (wie Anm.7); Suárez, Kindersoldaten und Völkerstrafrecht (wie Anm.7). 23 Freya Grünhagen/Frank Schubert, Kindersoldaten in Afrika. Uganda und Mosambik in den 1980er-Jahren, in: Dahlmann (Hrsg.), Kinder und Jugendliche in Krieg und Revolution (wie Anm.9), 213. 24 Mittermaier, Kinder als Soldaten (wie Anm.9), 24f. 25 Ebd.35. Vgl. auch den Beitrag von Hans-Henning Kortüm in diesem Band.
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dern bis in die erste Hälfte des 20.Jahrhunderts hinein überwiegend akzeptiert. Im 18.Jahrhundert entstanden in vielen Ländern Europas Kadettenschulen oder Militärkollegs als Reproduktionsstätten für Beamte und Offiziere. 26 Und noch heute existieren zum Beispiel in den USA, Großbritannien, Russland, Deutschland oder Österreich Schulen und Universitäten, deren Aufgabe die langfristige Nachwuchssicherung der militärischen Elite ist. Im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) schlossen sich zehntausende von Kindern den Söldnerheeren an und arbeiteten in den Lagern oder auf den Schlachtfeldern als Reiter- und Trossbuben. Beteiligt waren sie auch an bewaffneten Plünderungen. 27 Während des amerikanischen Bürgerkrieges (1861–1865) waren ungefähr 33000 Heranwachsende bei den Nordstaatenarmeen sowie circa 45000 Unter-18-Jährige bei den Südstaatenarmeen im Einsatz, darunter insgesamt 23 500 Kinder unter 14 Jahren. 28 Im Zweiten Weltkrieg, in den Jahren 1943–1945, wurden etwa 200000 15–17-jährige Jungen als Luftwaffen- oder Marinehelfer im nationalsozialistischen Deutschland rekrutiert und eingesetzt. Dem vorausgegangen war eine gezielte Militarisierung und rassistische Ideologisierung der Kinder bereits im Kindergarten, die sich dann in der Schule und in der Hitlerjugend fortsetzte und radikalisierte. Dies führte dazu, dass sich für das sogenannte „letzte Aufgebot“ in den Jahren 1944 und 1945 viele Jungen freiwillig zum Kriegseinsatz meldeten. 29 Negativbeispiel ist der erst zwölfjährige ‚Hitlerjunge‘ Alfred Czech, der noch am 19.03.1945 von Hitler selbst mit dem Eisernen Kreuz II für seine Teilnahme an Kämpfen in Schlesien ausgezeichnet wurde. 30 Auch im Widerstand gegen den Nationalsozialismus waren viele Kinder und
26
Vgl. den Beitrag von Stefan Kroll in diesem Band.
27
Peter-Michael Hahn, Kriegserfahrungen von Kindern und Jugendlichen im Zeitalter des Dreißigjähri-
gen Krieges, in: Dahlmann (Hrsg.), Kinder und Jugendliche in Krieg und Revolution (wie Anm.9), 1–15. Vgl. den Beitrag von Claudia Jarzebowski in diesem Band. Neben schriftlichen Quellen belegt auch eine archäologische Ausgrabung den Einsatz von Kindern im Dreißigjährigen Krieg. 1632 tobte bei Lützen eine der heftigsten Schlachten des Krieges. Archäologen fanden 2011 bei einer Ausgrabung ein Massengrab mit 47 Toten. Nachgewiesen wurde, dass darunter 14- bis 16-jährige Jungen waren. Siehe: http://www.archaeologie-online.de/magazin/nachrichten/massengrab-aus-der-schlacht-von-luetzen-wird-untersucht-20777/ ?sword_list[]=lützen&no_cache=1 [11.03.2016]. 28
Jörg Nagler, Kinder im amerikanischen Bürgerkrieg, in: Dahlmann (Hrsg.), Kinder und Jugendliche in
Krieg und Revolution (wie Anm.9), 43–72, 50f.
392
29
Stargardt, Kinder in Hitlers Krieg (wie Anm.6), 356ff.
30
Dörr, „Der Krieg hat uns geprägt“ (wie Anm.6), Bd. 1, 243f.
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Jugendliche aktiv. Am polnischen Widerstand, der sich unter anderem in den von den Deutschen errichteten Gettos organisierte, waren Minderjährige in verschiedenen Funktionen beteiligt. So zum Beispiel als Melder zwischen den Kampflinien und den Befehlszentralen, als Austräger der Widerstandspresse, als Wachen oder als mit Maschinengewehren ausgestattete Kämpfer. 31 Im Vietnamkrieg (1964–1975) waren auf beiden Seiten viele Unter-18-Jährige im Einsatz. Damalige Berichterstatter sprachen nicht von ungefähr vom „Krieg der Teenager“. Das Durchschnittsalter der US-Bodentruppen lag bei 19 Jahren. 32 Das Phänomen Kindersoldaten, ihre Beteiligung an Kriegen und bewaffneten Konflikten als Arbeitskräfte oder als Kombattanten ist demnach nicht neu. Unabhängig von gesellschaftlichen, ökonomischen, staatlich-politischen Systemen und Regierungsformen wurden und werden Kinder und Jugendliche indirekt oder direkt in das Kampfgeschehen eingebunden. Damit ist auch klar, dass Staatlichkeit, also ein funktionierender Staatsapparat, Minderjährige nicht per se vor Rekrutierung und Kampfeinsatz schützt.
V. Bedingungen und Ursachen für den Einsatz von Kindern und Jugendlichen als Soldatinnen und Soldaten Bei der Suche nach Erklärungen für den anhaltenden Missbrauch von Kindern und Jugendlichen als Soldatinnen und Soldaten müssen sowohl die Veränderungen im internationalen Kriegsgeschehen der letzten Jahre als auch die ökonomischen Bedingungen, unter denen Kriege und bewaffnete Konflikte heute stattfinden, in den Blick genommen werden. Das Modell des zwischenstaatlichen und großflächig angelegten Krieges, in dem staatlich finanzierte und politisch kontrollierte Armeen aufeinandertreffen, ist seit Ende des Zweiten Weltkriegs rückläufig. Stattdessen stieg die Zahl der sogenannten innerstaatlichen oder Grenzregionen tangierenden Kriege und Konflikte. Für diese
31 Roman Hrabar/Zofia Tokarz/Jacek E. Wilczur, Kriegsschicksale polnischer Kinder. Warschau 1981, 160f. 32 Michael Hochgeschwender, „Mired in Stalemate“. Zur Geschichte vietnamesischer und amerikanischer Kinder und Jugendlicher im Vietnamkrieg (1964–1975), in: Dahlmann (Hrsg.), Kinder und Jugendliche in Krieg und Revolution (wie Anm.9), 169–202.
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Art von Kriegen ist der Begriff ‚Neue Kriege‘ prägend. 33 Diese weit verbreite Begrifflichkeit bezieht sich auf die Kriege und bewaffneten Konflikte, die im Zuge der Auflösung der Blockkonfrontation zwischen Ost und West seit 1990 stattfinden. Obwohl es bereits vorher zu Bürgerkriegen, Befreiungs- und Sezessionskriegen gekommen war, die partiell ähnliche Konfliktmuster aufwiesen, wie die als ‚Neue Kriege‘ bezeichneten Auseinandersetzungen, gibt es dennoch grundlegende Veränderungen im internationalen Kriegsgeschehen seit 1990. Diese Veränderungen sind von zentraler Bedeutung für den Einsatz von Kindersoldaten. Was ist also ‚neu‘ an den Kriegen seit 1990? Erstens agieren in zahlreichen Kriegen und Konflikten heute Söldnertruppen, gut ausgerüstete Privatarmeen, private Militärunternehmen, Paramilitärs, international organisierte Gruppen von ‚Terroristen‘ oder auch kleine, bandenähnliche Gruppen. 34 Diese Akteure haben in der Regel gemeinsam, dass sie das Kriegsvölkerrecht missachten und dass ihre ökonomische beziehungsweise reproduktive Basis im dauerhaften, bewaffneten Kampf liegt. Ihnen gegenüber stehen staatliche Armeen und international zusammengesetzte UN-Truppen. Zweitens setzte sich in den westlichen Industriestaaten seit 1990 ein Sicherheitsbegriff durch, bei dem nicht mehr die Verteidigung des eigenen Territoriums im Mittelpunkt steht, sondern die militärische „Sicherung der Märkte“ und somit die Schaffung eines absolut freien Weltmarkts unter der Doktrin des Neoliberalismus. 35 Drittens ging es in den meisten der innerstaatlichen Kriege und Konflikte bis 33
Mary Kaldor, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt am
Main 1999; Herfried Münkler, Die neuen Kriege. Hamburg 2002. Der Begriff der „Neuen Kriege“ ist nicht unumstritten. Siehe dazu: Klaus-Jürgen Gantzel, Neue Kriege? Neue Kämpfer? Arbeitspapier 2 der Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung an der Universität Hamburg. Hamburg 2002; Sybille Tönnies, Die „Neuen Kriege“ und der alte Hobbes, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 46, 2009, 27–32. 34
Siehe zu den Kriegsakteuren: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung
(Hrsg.), Söldner, Schurken, Seepiraten. Von der Privatisierung der Sicherheit und dem Chaos der „neuen Kriege“. Wien/Berlin 2010; Siegfried Frech/Peter I. Trummer (Hrsg.), Neue Kriege. Akteure, Gewaltmärkte, Ökonomie. Schwalbach 2005; Dario Azzelini/Boris Kanzleiter, Das Unternehmen Krieg. Paramilitärs, Warlords und Privatarmeen als Akteure der neuen Kriegsordnung. Berlin u.a. 2003. 35
Eine gute Zusammenfassung der westlichen Sicherheitsstrategien bietet: Christopher Daase, Der erwei-
terte Sicherheitsbegriff. Working Paper I hrsg. vom Projekt „Sicherheitskultur im Wandel“ an der Goethe Universität Frankfurt. Frankfurt am Main 2010, 6f. Siehe auch: Pittwald, Kindersoldaten (wie Anm.7), 68– 71.
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1990 um Veränderung, Herausbildung und Konsolidierung von Staatlichkeit sowie – je nach politischer Priorität – um Fortschritte und Verbesserungen für das Gemeinwesen. Es wurde um die Macht in einem Staat gekämpft. Heute kann man – wie beispielsweise in Syrien – das Gegenteil beobachten: Durch Kriege und bewaffnete Konflikte zerfallen vormals funktionierende Staaten. In das dort entstandene Machtvakuum stoßen staatlich unkontrollierte, bewaffnete Gruppen oder Restbestände staatlicher Armeen, die oftmals keinerlei politische oder emanzipatorische Zielsetzungen verfolgen. Seit 1990 können wir daher folgende Entwicklung beobachten: Auf der einen Seite gibt es eine Konzentration und damit Zentralisation ökonomischer, politischer und militärischer Macht in den Händen weniger handlungsfähiger und die Weltpolitik bestimmender Staaten. Auf der anderen Seite kam und kommt es zur Destabilisierung oder Implosion ganzer Staatsgebilde mit ihren Gewaltmonopolen, die dann als sogenannte failed states 36 bezeichnet werden. Viertens waren bis 1990 viele Bürgerkriegsparteien militärisch, ökonomisch und ideologisch abhängig von den beiden, die damalige geopolitische Tektonik bestimmenden Machtblöcken Warschauer Pakt und Nato, angeführt von den USA und der damaligen Sowjetunion. Waffen und anderes Material wurden den Kriegsparteien geliefert, ebenso wurde von außen Aufbauhilfe geleistet sowie ideologische Nähe hergestellt. Bedingt durch die Verbindung zwischen den Staaten der jeweiligen Machtblöcke und den von diesen unterstützten Konfliktparteien, wurden diese Kriege auch als ‚Stellvertreterkriege‘ bezeichnet. 37 Fünftens geht es in den ‚Neuen Kriegen‘ in erster Linie um die Herrschaft über kleine, rohstoffreiche Enklaven. (Kampf-)Verbände unter Führung von ‚Warlords‘, ausgerüstet mit Kleinwaffen, prägen diese Kriege und Konflikte. Die private Bereicherung der Kriegsherren steht dabei im Vordergrund. Es entstehen gewaltoffene Räume, in denen sich die Kriegsparteien selbst finanzieren müssen, um die Kämpfe 36 Zu diesem Begriff und der Schwächung staatlicher Gewaltmonopole siehe: Werner Ruf, Einleitung. Politische Ökonomie der Gewalt. Staatszerfall und die Privatisierung von Gewalt, in: ders. (Hrsg.), Politische Ökonomie der Gewalt. Staatszerfall und die Privatisierung von Gewalt. Opladen 2003, 9–51; Erhard Eppler, Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt? Die Privatisierung und Kommerzialisierung der Gewalt. Frankfurt am Main 2002. 37 Zum Beispiel standen die mosambikanischen Bürgerkriegsparteien Renamo und Frelimo stark unter dem Einfluss des Ost-West-Gegensatzes. Die Renamo stand politisch für Antikommunismus und Antisozialismus und wurde aus dem Westen unterstützt. Die Frelimo stand für Antikolonialismus und Sozialismus und erfuhr Unterstützung von Staaten aus dem Warschauer Pakt. Dazu: Pittwald, Kindersoldaten (wie Anm.7), 91f.
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fortsetzen zu können. Wirtschaftliche Basis der neuen Kriege sind sogenannte Gewaltmärkte, die selbst aus diesen Kriegen hervorgehen. 38 Deren Merkmale sind Raub, Plünderungen, Entführungen, Erpressungen, Hehlerei, das Abschöpfen internationaler Hilfsgüter und die schonungslose Ausbeutung von Rohstoffen und Arbeitskräften. Holz, Öl, Wasser, Diamanten, Coltan, Erze, Kautschuk, Drogen und Seltene Erden gehören zu den umkämpften Ressourcen. Die Kriegsherren sind, so gesehen, ‚Unternehmer‘, die ökonomische und organisatorische Probleme zu lösen haben. Zur Gewinnung von Rohstoffen müssen Arbeitsprozesse organisiert sowie Maschinen und Arbeitskräfte beschafft werden. Für den Absatz der Güter sind wenigstens minimale Kommunikationsmittel und bürokratische Strukturen erforderlich. All dieses muss so kostengünstig wie möglich realisiert werden. Gewaltmärkte sind daher darauf angewiesen, mit dem Weltmarkt verbunden zu sein; sie brauchen Absatzmärkte. Profiteure der neuen Kriege finden sich deshalb auch in den Industriestaaten. Der Krieg wird somit unter anderem ein Mittel zur Existenzsicherung. In dieser Logik muss er am Laufen gehalten werden, um seine Akteure zu ernähren. Diese fünf Merkmale und Charakteristika der ‚Neuen Kriege‘ bilden die zentralen Rahmenbedingungen, untern denen Kinder und Jugendliche rekrutiert und in Kriegen und bewaffneten Konflikten eingesetzt werden.
VI. Die Rolle von Kindersoldaten in den ‚Neuen Kriegen‘ Kindersoldaten finden sich häufig dort, wo Konflikte lange andauern und Gewaltmarktstrukturen existieren. Die lokalen Kriegsherren müssen die Finanzierung des Kampfes sichern: Dazu gehören die Beschaffung von Waffen und eine wenigstens rudimentäre Ausbildung, Ausstattung und Versorgung der Kämpferinnen und Kämpfer. Im Gegensatz zu Söldnertruppen oder auch erwachsenen Soldaten sind Kindersoldaten mittlerweile das billigste, am leichtesten zu beschaffende und einzusetzende Kampfpotenzial. Einerseits sind Kindersoldaten somit eine ökonomische Ressource in den ‚Neuen Kriegen‘. Sie kämpfen vorwiegend mit einer ebenso
38
Georg Elwert, Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität von Gewalt, in: Kölner Zeitschrift
für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft: Soziologie der Gewalt 37, 1997, 86–101; Francois Jean/ Jean-Christophe Rufin (Hrsg.), Ökonomie der Bürgerkriege. Hamburg 1999.
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billigen wie leicht zu beschaffenden Tötungstechnik: den Kleinwaffen. 39 Dort, wo es temporär zu einem Überangebot an Kindersoldaten kommt und deren Arbeits- bzw. Kampfkraft nicht mehr gebraucht wird, machen die Kriegsherren aus ihnen kurzum eine Handelsware und verkaufen sie an andere Warlords. 40 Andererseits können Kindersoldaten eigenständige Akteure in Kriegen und Konflikten sein. Sie tun sich zusammen und versuchen durch Raub, Plünderungen und Erpressungen ihre Existenz zu sichern und sich ihren Anteil an den zu raubenden Gütern zu sichern.
VII. Auswirkungen von Gewalterfahrungen und militärischideologischer Sozialisation auf ehemalige Kindersoldaten in Mosambik In Mosambik wurde von 1975 bis 1992 ein Bürgerkrieg geführt, in dem sich die sozialistisch ausgerichtete und von den Staaten des Warschauer Pakts unterstützte Regierungspartei Frelimo (Frente de Libertação de Moçambique) und die zunächst von dem früheren Rhodesien, dem heutigen Simbabwe, und später vom Apartheidstaat Südafrika sowie von verschiedenen westlichen Staaten unterstützte Rebellengruppe Renamo (Resistência Nacional Moçambicana) gegenüberstanden. Beide Seiten rekrutierten Kinder, wenngleich auch mit unterschiedlicher Intensität. Was bedeutet es für die Betroffenen, Kindheit und Jugend als aktiv Kämpfende durchlebt zu
39 Oft wird die Verfügbarkeit von Kleinwaffen als Ursache für bewaffnete Konflikte und vor allem auch für die hohe Zahl von Kindersoldaten angesehen. Dieser Aussage kann nur eingeschränkt zugestimmt werden. Kleinwaffen sind in den meisten Kriegen und bewaffneten Konflikten die vorherrschende Waffengattung. Ihr Verbreitungsgrad und ihre Verfügbarkeit sind enorm und sie können tatsächlich bewaffnete Konflikte befördern. Kinder und Jugendliche sind in der Lage, diese Waffen zu benutzen. Die Existenz von Kleinwaffen ist jedoch keine Kriegsursache und hat nur bedingt etwas mit der Bereitschaft zu tun, diese Waffen auch einzusetzen. 40 So hat zum Beispiel der Anführer der nordugandischen Lord Resistence Army, Joseph Kony, der circa 12000 Jungen und Mädchen versklavt hat, Kindersoldaten, die er nicht mehr benötigte, in den Sudan verkauft oder gegen Waffen und Nahrungsmittel eingetauscht. Siehe dazu: Elizabeth Rubin, Todesangst vor den eigenen Kindern. Die Rebellen in Norduganda entführen Kinder und setzen sie als Guerillakämpfer ein, in: Der Überblick. Zeitschrift für ökumenische Begegnung und internationale Zusammenarbeit 4, 1998, 9–18, 17.
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haben? Und wie gehen die Betroffenen im Nachhinein damit um, unter militärischen Strukturen oder in einem Militärlager aufgewachsen zu sein? 41 Nahezu alle ehemaligen Kindersoldaten müssen sich in ihrem weiteren Leben mehr oder weniger intensiv mit den Gewalterfahrungen, die sie gemacht haben, auseinandersetzen. Ausnahmslos alle haben frühe Erfahrungen mit Hunger, kriegerischer Gewalt und Misshandlungen gemacht. Sie haben Gewalt gegen sich selbst erfahren oder gegenüber anderen ausgeübt. Dies betrifft nicht nur ehemalige Kindersoldaten in Mosambik, sondern gilt allgemein für die meisten der in Kriegen und bewaffneten Konflikten involvierten Kinder und Jugendliche. Zu den Folgen, die Kindersoldaten davontragen, gehören unter anderem körperliche Schäden, psychosomatische Störungen, Schuldgefühle, Angstzustände, Depressionen, Aggressionen, Traumatisierungen in unterschiedlichen Schweregraden. 42 Hinzu kommen soziale Komponenten wie Bildungsdefizite, die schlechte berufliche Perspektiven nach sich ziehen sowie Armut und soziale Ausgrenzungen. 43 Betroffen davon sind sowohl die Mädchen und Jungen, die zwangsrekrutiert worden sind wie auch diejenigen, die behaupten, sich ‚freiwillig‘ 44 bewaffneten Einheiten angeschlossen zu haben. Trotz der negativen Erfahrungen und Folgen bewerten einige ehemalige Kindersoldaten ihre ‚Militärzeit‘ zum Teil als positiv. Sie haben ein starkes Interesse daran, diese Zeit in ihre Biografien einzubauen und dementsprechend nicht ausschließlich negativ einzustufen. Zum Beispiel gaben sie an, dass das Leben als Soldat dazu führte, früher als andere Kinder und Jugendliche erwachsen geworden zu sein, Verant-
41
Die folgenden Aussagen beruhen auf der Auswertung von 15 Einzelinterviews, die der Autor mit ehe-
maligen Kindersoldaten in Mosambik im Jahr 2003 durchgeführt hat. Befragt wurden 7 Frauen und 8 Männer; 5 ehemalige Kindersoldaten waren bei der Renamo und 10 bei der Frelimo; 12 von ihnen waren zum Zeitpunkt ihrer Rekrutierung zwischen 12 und 16 Jahren, die anderen 3 jünger; 7 von ihnen wurden zwangsrekrutiert, 8 schlossen sich ‚freiwillig‘ den Kriegsparteien an. 42
Efraime Junior, Psychotherapie (wie Anm.7), 33–48 u. 127–129.
43
Ebd.133.
44
Es gibt eine nicht unerhebliche Zahl von ehemaligen Kindersoldaten, die für sich beanspruchen, ‚frei-
willig‘ in den Kampf gezogen zu sein. Ein Begriff wie ‚Freiwilligkeit‘, bezogen auf die Teilnahme von Kindern und Jugendlichen an bewaffneten Konflikten, ist allerdings problematisch. Hier muss getrennt werden zwischen Rekrutierungsgründen, die auf ‚struktureller Gewalt‘ beruhen und/oder auf einer ideologisch bedingten Motivation basieren sowie direkten Zwangsrekrutierungen, die mit Entführungen, Erpressungen und anderen physischen Nötigungen einhergehen. Dazu: Johan Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Hamburg 1975; International Labour Office (Ed.), Wounded Childhood. The Use of Children in Armed Conflict in Central Africa. Genf 2003; Stargardt, Kinder in Hitlers Krieg (wie Anm.6), 356ff.; Pittwald, Kindersoldaten (wie Anm.7), 30–35.
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wortung für sich und andere Kindersoldaten getragen zu haben, eine gewisse Selbstständigkeit erlangt und Selbstverteidigung gegenüber potenziellen Gewalttätern trainiert zu haben. Die letzten beiden Punkte werden vor allem von Frauen angeführt. Die meisten der ehemaligen Kindersoldaten stellten einen ‚verinnerlichten‘ Wertekanon heraus, der sich auf kollektive Identitätskonstruktionen wie Volk und Nation bezieht und sich in Patriotismus und Pflichtbewusstsein gegenüber der Gemeinschaft sowie in Kampfbereitschaft äußert. Diese Kindersoldaten hielten es bereits vor ihrer Rekrutierung für selbstverständlich, für ‚ihr Land zu kämpfen‘ oder dieses zu ‚verteidigen‘. Vermittelt wurde dieser Wertekanon den Befragten zufolge durch die Schule, den Freundes- und Familienkreis oder durch andere Erwachsene in den Dörfern. Hier liegen die Gründe dafür, dass es einigen ehemaligen Kindersoldaten wie eine unausweichliche Notwendigkeit vorkam, in den Kampf zu ziehen, in Militärcamps zu arbeiten oder mit der Waffe in der Hand ihre Dörfer zu bewachen. Massiv verstärkt wurden diese Orientierungen dann während der Soldatenzeit. Werte wie Patriotismus, Pflichterfüllung und Kampfbereitschaft haben sich den ehemaligen Kindersoldaten tief eingeprägt und ihre Militärzeit trotz aller Negativerfahrungen überdauert. Entscheidend für die Teilnahme von Kindern und Jugendlichen an Kriegen und bewaffneten Konflikten bleibt jedoch die Gewalt, der sie ausgesetzt sind – strukturell, durch die jeweiligen Lebensbedingungen, die die Jugendlichen in ihren Gesellschaften erfahren, und direkt, durch die unmittelbare physische Gewalt, die die für die Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen Verantwortlichen auf diese ausüben.
VIII. Fazit Es deutet alles darauf hin, dass die kriegerischen Konflikte auf der Welt noch weiter zunehmen werden. Und je mehr Kriege und bewaffnete Konflikte entstehen, und je länger diese andauern, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder und Jugendliche zu Kriegsakteuren, zu Kindersoldaten werden. Damit wird es auch weiterhin kämpfende und im Kampf gefallene Kinder und Jugendliche geben. Die Überlebenden werden es schwer haben, in ihre Herkunftsgesellschaften zurückzukehren und ein geordnetes ziviles Leben zu führen. Eine Rückkehr würde funktionierende
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gesellschaftliche Strukturen voraussetzen, die in ehemaligen Kriegsgebieten oftmals vollständig fehlen oder aber erst langfristig entstehen können. Die Kindersoldatenproblematik ist nicht zu lösen, ohne grundsätzlich über Krieg und Frieden nachzudenken. Weder eine funktionierende Staatlichkeit noch ein entwickeltes Völkerrecht können Kinder und Jugendliche vor Gewalt und Rekrutierungen schützen. Nur im Rahmen globaler Friedensstrategien, die die sozialen und ökonomischen Ursachen der heutigen Kriege ernst nehmen und auf zivile sowie diplomatische Lösungen setzen statt immer mehr militärische Einsätze zu fordern, besteht die Chance, die Kindersoldatenproblematik einzudämmen. Armut, soziale Marginalisierung und Perspektivlosigkeit sowie eine früh vermittelte patriotische Gesinnung sind Faktoren, welche die Rekrutierung oder den ‚freiwilligen‘ Anschluss von Kindern und Jugendlichen an bewaffnete Einheiten oder an reguläre Streitkräfte begünstigen. Für die Forschung bedeutet das, dass der Gegenstand ‚Kindersoldaten‘ auch künftig Bestand haben dürfte. Um diesen weiter zu durchdringen, ist ein interdisziplinärer Ansatz förderlich und empfehlenswert. Dieser sollte die historische Forschung, die Friedens- und Konfliktforschung, die Kultur-, Literatur- und Sozialwissenschaften umfassen sowie die im Rahmen von Psychotherapie und Traumabehandlung gewonnenen Erkenntnisse berücksichtigen.
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Die Autorinnen und Autoren
Dr. Alexander Berner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität DuisburgEssen. Er wurde mit einer Arbeit zum reziproken Verhältnis zwischen den Kreuzzügen und den Dynamiken der Heimatregion einer adeligen Kreuzfahrerdynastie promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind untern anderem die Geschichte der Kreuzzüge sowie Körper- und Geschlechtergeschichte. Prof. Dr. Dr. Eberhard Demm war bis zu seiner Pensionierung 2003 Inhaber der Professur „Civilisation allemande“ an der Universität Jean Moulin Lyon (Lyon III). Er ist Mitglied des „Institut Centre de recherche sur l’Allemagne et l’Autriche contemporaines“ an der Universität Stendhal Grenoble (Grenoble III) und einschlägig ausgewiesen für die Geschichte des wilhelminischen Deutschland und des Ersten Weltkrieges. Unter anderem legte er Arbeiten zu Alfred Weber, zur Kriegspropaganda und zur Situation deutscher Kinder zwischen 1914 und 1918 vor. Dr. Alexander Denzler ist Akademischer Rat auf Zeit an der Professur für Vergleichende Landesgeschichte und Geschichte der Frühen Neuzeit der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er wurde mit der Arbeit „Über den Schriftalltag im 18.Jahrhundert. Die Visitation des Reichskammergerichtes von 1767–1776“ promoviert. Neben der Schriftkultur und Infrastrukturgeschichte der Vormoderne erforscht er unter anderem die Geschichte des Todes. Dr. Kristina Dietrich arbeitet seit 2012 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Technischen Universität Dresden. Ihre Forschungsstätigkeit umfasst unter anderem die jüdische Geschichte von Erziehung und Bildung vom Ende des 18.Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Ihre Dissertation ist betitelt mit „Institutionelle Erziehung und Bildung jüdischer Kinder in Deutschland“. Forschergruppe „Eltern und Kinder im Krieg“ Die im Jahr 2014 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ins Leben gerufene Forschergruppe thematisiert Eltern-Kind-Beziehungen in den beiden Welt-
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN
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kriegen, wofür systematisch Kriegserinnerungen, Tagebücher und Feldpostbriefe ausgewertet und Zeitzeugengespräche durchgeführt wurden. Die Mitglieder Julia Brandts, Clara Hesse, Kathrin Kiefer, Hanna Rehm und Desiree Wolny befinden sich im Master-Studiengang im Fach Geschichte. Koordiniert wird die Projektarbeit von Markus Raasch. Dr. Andreas Frings ist Studienmanager und Akademischer Oberrat am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er wurde mit einer Arbeit über die sowjetische Schriftpolitik zwischen 1917 und 1941 promoviert. Neben dem Interesse für Geschichtstheorie und -didaktik umfasst seine Forschungstätigkeit die Geschichte des russischen Zarenreiches, der Sowjetunion sowie muslimische Lebenswelten in Osteuropa. Zuletzt verantwortete er eine Ausstellung zum Thema „Eine innertürkische Verwaltungsangelegenheit? Osmanisch-deutsche Verflechtungen und die Armeniergräuel im Ersten Weltkrieg“. M. Sc. Colin Gilmour absolvierte sein Master-Studium an der Universität Edinburgh, wo er seine Abschlussarbeit über die Behandlung der deutschen Marine in den Nachkriegsprozessen verfasste. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der McGill-Universität in Montreal und verfasst eine Dissertation über die Konstruktion von Ruhm und Prestige militärischer Persönlichkeiten in Deutschland zwischen 1939 und 1945. Prof. Dr. Stefan Grüner vertritt zurzeit den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er habilitierte sich mit einer Arbeit zum Thema „Geplantes ‚Wirtschaftswunder‘? Industrie- und Strukturpolitik in Bayern 1945 bis 1973“. Seine Forschungsschwerpunkte sind neben dem sozialökonomischen Wandel in der Bundesrepublik Deutschland die Geschichte Frankreichs im 19. und 20.Jahrhundert, die Geschichte des Liberalismus sowie Gewalt gegen Kinder in historischer Perspektive. Dr. Andreas Hartmann ist Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Alte Geschichte der Universität Augsburg. Er wurde mit einer Studie zu gegenstandsbezogenen Erinnerungspraktiken in Gesellschaften der Antike promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen neben Erinnerungskulturen unter anderem Kulturtransfer und kulturelle Hybridisierungen, Formen und Funktionen des Religiösen in antiken Gesellschaften sowie das Verhältnis von Christen und Juden im antiken Mittelmeerraum.
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Diplom-Politologin Lara Hensch, M. A. ist als Referentin für das Ernst Ludwig Ehrlich-Studienwerk tätig. Sie forscht für ihre Dissertation „‚Politische Soldaten‘ – Analyse soldatischer Männlichkeit am Beispiel der SA“. Weitere Forschungsschwerpunkte liegen auf Geschichte, Politik und Erinnerungskultur des deutschen Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der Shoah sowie jüdisch-deutscher Geschichte. Prof. Dr. Claudia Jarzebowski ist Juniorprofessorin für Geschichte der Frühen Neuzeit und Historische Emotionenforschung an der Freien Universität Berlin. Sie wurde mit einer rechts- und landesgeschichtlichen Arbeit zu Verwandtschaft und Sexualität im 18.Jahrhundert promoviert. Ihre Habilitationsschrift „Kindheit und Emotion. Kinder und ihre Lebenswelten in der europäischen Frühen Neuzeit“ erscheint 2016. Sie hat einschlägig zur Geschichte der Kindheit in der Frühen Neuzeit gearbeitet und publiziert. Prof. Dr. Hans-Henning Kortüm ist Inhaber des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Regensburg. Seine Habilitationsschrift verfasste er über päpstliche Privilegien im Zeitraum von 896 bis 1046. Ein Schwerpunkt seiner Forschungs- und Publikationstätigkeit bildet der mittelalterliche Krieg, er fungierte unter anderem als Sprecher der Forschergruppe „Formen und Funktionen des Krieges im Mittelalter“. Prof. Dr. Stefan Kroll ist außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte und Leiter des Arbeitsbereiches Historische Geographie und Demographie an der Universität Rostock. Er habilitierte sich mit einer Arbeit zu Lebenswelt und Kultur kursächsischer Soldaten im 18.Jahrhundert und ist unter anderem ein ausgewiesener Experte für die Sozialgeschichte des Militärs in der Frühen Neuzeit. Dr. Michael Pittwald war von 2000 an zwei Jahre als Referent beim Kinderhilfswerk Terre des Hommes im Rahmen der Kampagne „Straight 18! Stop the Use of Child Soldiers“ tätig. Dem folgte ein Forschungsprojekt an der Universität Osnabrück zu den Themenfeldern Kindersoldaten, kollektive Identitätskonstruktionen und Wandel kriegerischer Gewaltformen. Er wurde mit der Studie „Ernst Niekisch. Völkischer Sozialismus, nationale Revolution, deutsches Endimperium“ promoviert. Derzeit arbeitet er freiberuflich am Servicebüro Geschichte und dem Institut für praxisorientierte Sozialforschung & Beratung.
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN
403
PD Dr. Markus Raasch vertritt zurzeit den Lehrstuhl für Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er habilitierte sich mit der Arbeit „Der Adel auf dem Feld der Politik. Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära (1871– 1890)“. Er beschäftigt sich unter anderem mit kindlichen Lebenswelten in Kriegen, wobei er einen Schwerpunkt auf die Eltern-Kind-Beziehungen legt. Er koordiniert die Arbeit der Forschergruppe „Eltern und Kinder im Krieg“. Prof. Dr. Christoph Schubert ist Inhaber der Professur Klassische Philologie/Latein an der Bergischen Universität Wuppertal. Er wurde mit der Arbeit „Studien zum Nerobild in der lateinischen Dichtung der Antike“ promoviert und beschäftigte sich in seiner Habilitationsschrift mit Ambrosius’ „De Noe“. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen unter anderem die lateinische Dichtung des 1. nachchristlichen Jahrhunderts sowie die christliche lateinische Literatur des 3. und 4. Jahrhunderts. PD Dr. Lu Seegers ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH). Sie habilitierte sich mit einer Arbeit zum Thema „Vaterlosigkeit im 20.Jahrhundert. Kriegsbedingte Erfahrungen in Deutschland und Polen“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Stadt-, Medien-, und Erfahrungsgeschichte sowie Erinnerungskulturen im 20.Jahrhundert. PD Dr. Matthias Stadelmann vertritt zurzeit den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Er habilitierte sich mit der Studie „Großfürst Konstantin Nikolaevič. Der persönliche Faktor und die Kultur des Wandels in der russischen Autokratie“. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört unter anderem die Kulturgeschichte der Stalin-Zeit. Prof. Dr. Barbara Stambolis ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Paderborn. Sie hat einschlägige Arbeiten zu transgenerationalen Folgen von Kriegskindheiten im 20.Jahrhundert vorgelegt. Zuletzt erschien die Monografie „Aufgewachsen in ‚eiserner Zeit‘. Kriegskinder zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise“. Ihr weiteres Forschungsinteresse umfasst unter anderem die Geschichte der Jugend und Jugendbewegung.
404
Historische Zeitschrift //
BEIHEFT
68 / 2016
Verzeichnis der Zeitschriftensiglen
AHR
The American Historical Review
Annales
Annales Économies, Sociétés, Civilisations
APSR
American Political Science Review
AU
Der altsprachliche Unterricht
BCH
Bulletin de correspondance héllenique
CSSH
Comparative Studies in Society and History
EHR
English Historical Review
FMSt
Frühmittelalterliche Studien
GRBS
Greek, Roman, and Byzantine Studies
HA
Historische Anthropologie
IJMES
International Journal of Middle East Studies
JbDAI
Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts
JHCY
Journal of the History of Childhood and Youth
JMedH
Journal of Medieval History
JNES
Journal of Near Eastern Studies
JSAS
Journal of the Society for Armenian Studies
MELUS
Multi-Ethnic Literature of the United States
MGM
Militärgeschichtliche Mitteilungen
MGZ
Militärgeschichtliche Zeitschrift
NPT
New Perspectives on Turkey
RBPH
Revue Belge de philologie et d’histoire
REG
Revue des études grecques
SEN
Studies in Ethnicity and Nationalism
ZAK
Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte
ZBLG
Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
ZHF
Zeitschrift für historische Forschung
ZPE
Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik
ZRG KA
Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung
VERZEICHNIS DER ZEITSCHRIFTENSIGLEN
405
Register (inklusive mythischer Figuren und Orte)
Aalen 231
Athene 40
Abel, Theodore Fred 30, 345, 346
Attius Varus 191
Adenauer, Konrad 309
Augustinus (Augustin) 71, 201, 211
Aelius Aristeides 46
Augustus (Octavian) 57, 185, 188, 189
Aemilius Paullus 189
Aurelia Artemis 52
Afghanistan 182, 384
Australien 377
Afrika (auch römische Provinz Africa) 143, 191 f.,
Avaricum 190, 196
194, 391 Ägypten 234
Bad Boll 305
Akarnanien 40
Baden 107
Akçam, Taner 326
Baginsky, Adolf 280
Akhanli, Dogan 343
Bähr, Andreas 239
Akin, Fatih 342
Balling, Willi 144
Albinus, Lucceius 189
Baltikum 216
Aleppo 333
Bammes, Dorothea 225
Alexander der Große 48
Bammes, Hans 225
Alexandria 339
Bartelt 230 f.
Alexios I. Komnenos 54, 62, 64
Bayern 51, 82, 247, 308
Altheim 234
Beinhorn, Elly 136
Altinius [Dasius Altinius] 197
Beirut 331, 333
Alzey 352
Bellegarde, Heinrich Josef Johann Graf von 94
Amerika (auch Nordamerika) 377, 391
Bendix, Bernhard 251
Amerikanische Besatzungszone 272, 377
Benninghaus, Christina 349
Anatolien 66, 332
Bergen-Belsen 373, 375
Andreasberg 244
Berkshire 214
Andromache 38, 41
Berlin 87, 113, 131, 142, 280, 286, 308, 311, 345, 356,
Annaburg 25, 86, 94–96, 98, 99, 101, 103
375
Antiochia 60, 61, 64
Berner, Alexander 24, 59, 401
Ariès, Philippe 68, 204, 205
Bethlehem 77
Aristoteles 43, 45, 47, 49, 58
Beukian, Sevan 340
Armenien 338
Beumelburg, Werner 287 f.
Arnold, Klaus 205
Bielefeld 291
Asien (auch Kleinasien, Mittelasien) 64, 169, 230
Biner, Zerrin Özlem 337
Askalon 64
Bismarck, Otto von 117
Aspasia 42
Blasius 223
Astapa 195
Bley, Wulf 288
Astyanax 38 f., 47
Boelcke, Oswald 136, 143
Athen 41–50, 54, 56
Bohemund von Antiochien 65
REGISTER
407
Böhmen 102
Cuppius, Albert 240 f.
Bolkestein, Hendrik 55
Czech, Alfred 392
Bondy, Curt 286 Bosporus 64
Dabag, Mihran 331
Bötzinger, Annegret 239
Dahms, Margret 314 f.
Bötzinger, Martin 233, 235, 239 f.
Dardanellen 113
Bötzinger, Michael 239
Deckmann, Hella 311
Boyajian, Levon 339
Demetrios Poliorketes 49
Brandts, Julia 245 f., 402
Demm, Eberhard 25, 26, 105, 401
Breuer, Aline 321
Demosthenes 42
Bruck 224–227
Den Haag 389
Brühl, Heinrich Graf von 98
Derevšcikova, Ekaterina 159, 161, 169
Büchenbach 227
Derrida, Jacques 211
Buchenwald 373
Desprès, Émile 125
Bühler, Charlotte 287
Deutsche Demokratische Republik (Ostdeutsch-
Bumm, Franz 280
land) 30, 302 f., 306, 310–319
Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland) 290, 293, 306, 311–313, 316, 318, 384, 390, 402
Deutschland (auch Deutsches Reich) 4, 6, 11, 25, 30, 106, 109–120, 123 f., 126–129, 132, 135 f., 149,
Busch, Otto 137
152, 157, 167 f., 203, 245, 260, 266, 279, 283 f., 286,
Bussemer, Thymian 23
288–297, 299 f., 304 f., 318, 321, 356, 359, 368,
Byzanz 37, 52
376–378, 380, 385, 392, 402 Dietl, Eduard 133, 138, 143
Caecilius Metellus 179, 180, 189
Dietrich, Kristina 31, 367, 401
Caere 189
Dink, Hrant 342–344
Caesar [Gaius Iulius Caesar] 27, 185–187, 189, 191–
Dobrenko, Evgeny 161
193, 195 f., 198 f.
Dörr, Margarete 253
Calpurnius Bibulus 196
Doryläu 64
Camillus [Marius Furius Camillus] 192
Dresden 25, 82, 86, 92–94, 96–99, 101, 103, 401
Cannae 50
Duby, Georges 214, 217
Capena 194
Dujardin, Victor 125
Caporetto 107
Durst, Nathan 379
Catilina [Lucius Sergius Catilina] 186
Düsseldorf 280
Catilina M. Petreius 190
408
Cato d. Jüngere 199
Ebrard 60
Centobriga 179
Edessa 64
Çetin, Fethiye 337, 342
Edgarian, Carol 337, 343
Chaplin, Charlie 136
Edgington, Susan B. 60
Chaßeur, Benedikt 321
Eichstätt 34, 401
Christ, Torsten 145–147
Elias, Norbert 290
Cicero 198–200
Elieser ben Nathans 75
Clauß, Karl 297 f.
Elisabeth von Thüringen 77
Clermont 63
Elsasser, Johann Gottfried 97
Connelly, Mark 125
Eltersdorf 224–226
Constantius II. 53
Emmendingen 247
Cottbus 145
England 110, 114, 118, 124, 214, 216, 374
Creel, Georges 128
Erfurt 223, 224, 309
Historische Zeitschrift //
BEIHEFT
68 / 2016
Erikson, Erik H. 32, 291, 370–372, 375 f.
Gergovia 196
Eriwan 337
Gilmour, Colin 26, 131, 402
Euphrat 324
Giloi, Eva 135
Euripides 47
Glaeser, Ernst 128
Europa 81, 157, 167, 174, 208, 213, 219, 283, 288, 290,
Goebbels, Joseph 138, 145–147, 149
391 f.
Gökçen, Sabiha 343
Eusebius 52
Goldstein, Kurt 287
Evans, John K. 21, 184
Golunski, Siegmund 143 f. Gondé, Oberst de 94
Falerii 192 f.
Gorbacev, Michail Sergeevic 152
Fauth, Sigmar 309, 312
Gorky, Arshile 337
Fennen, Michael 224
Gotenhafen 143
Ferner Osten 159, 167
Goya, Francisco de 2
Finnland 157, 159, 167
Gräser, Luitgard 304
Flandern 62, 64, 64, 210
Griechenland 23, 37–39, 41, 55, 57, 125, 180
Föhrenwald 377
Grigorian, Haigaz 339
Forcheim 224
Grinberg, Zalman 369
Francke, August Hermann 87, 89
Grivin, Brenda 118
Frank, Anne 9
Großbritannien 4, 6, 25, 107–109, 111–113, 115–
Frankreich 4, 6, 25, 105 f., 108–111, 113, 115–122, 124 f., 127 f., 209, 402
122, 124 f., 127 f., 209, 402 Großgründlach 224, 226
Franz Josef I. 116, 126
Guibert von Nogent 62, 66
Freiburg 143
Guillaume le Maréchal [siehe Wilhelm Marschall]
Friedrich August I. 92
Güreghian, Aram 338
Friedrich August II. 92 Friedrich Barbarossa 216
Hadrian 51, 57
Friedrich II. 89, 91, 95, 216
Hagenmeyer, Heinrich 66
Friedrich Wilhelm I. 87, 89, 91
Hagendorf, Melchior 234 f.
Friese, Christian 237 f.
Hagendorf, Peter 225, 230 f., 233–235, 242
Friese, Daniel 236
Halder, Franz 131, 143–145, 148
Friese, Johann Daniel 236–238, 241
Halle 86, 87, 89
Friesenegger, Maurus 223, 228
Hannibal 50, 185, 194, 197
Frings, Andreas 31, 321, 402
Hannover 83, 313
Frunze, Michail V. 157
Hansen, Anna 226
Frunze, Timur Michajlovic 157
Hartmann, Andreas 23, 25, 37, 402
Fulcher von Chartres 61
Hasgopian, Elise 332
Fulvius Flaccus 191
Heberle, Hans 225 Heberle, Michael 231, 233, 235
Gadaryan, Heranus 337
Hedenus, Johann Conrad 238
Gajdar (Golikov), Arkadij Petrovic 154–160, 162,
Heidelberg 362
168 f., 172, 174 f.
Heinrich I., König von England 214
Gajdar, Timur A. 157
Heinrich III., König von England 214
Garaev, Timur 154
Heinrich V., König von England 210, 216
Gastgeber, Christian 66, 76 f.
Hektor 38 f.
Gebhardt, Miriam 268
Heldburg 239
Geldsetzer, Sabine 61
Hensch, Lara 30, 345, 403
REGISTER
409
Herakleia 48
Jean le Maingre, genannt Boucicaut 209
Herakleides 43
Jeanne d’Arc 2
Heraklit 37
Jemen 384
Herodes der Große 211
Jeppe, Karen 333, 336
Herrenbreitungen 223
Jeremia 77
Herrmann, Philipp Benedikt 321
Jerusalem 61–64, 70, 77, 212, 322
Herzog, Dagmar 269
Jesus Christus 111
Hesiod 39
Joppich, Gerhard 289
Hesse, Clara 245 f., 402
Joranson, Einar 66
Hessen 247
Jugurtha 186, 192
Hessen-Nassau 364
Julia (Tochter von Caesar) 192
Hindenburg, Paul von 114
Jung, Franz Josef 202
Hippodamos von Milet 43, 47
Justinian 54
Hiroshima 380 Hitler, Adolf 131, 137, 140–142, 168, 291, 298, 315, 361, 363–365, 392
Kaléko, Mascha 284 Kallinos 39
Hoffmann, Heinrich 141 f.
Kanada 335, 384
Hollander, Walter von 302
Kaniv/Kanev 168
Holzner, Georg 225
Kaprielians, Isabell 340
Hommel, Werner 143
Karelien 157
Hordvik, Elin 367, 379
Karthago 184, 197
Hovannisian, Richard G. 340
Kaya, Sükrü 329
Hugo von St. Viktor 74
Keilson, Hans 371, 379
Huntsch, E. 145
Kellerman, Katharinae 227
Hurwitz-Stranz, Helene 298
Kellerman, Konrad 227 Kellerman, Margaretha 227
Ikonium 64
Kelly, Catriona 153, 161, 174
Ilmenau 314
Kemal, Mustafa 343
Immelmann, Max 136
Kennan, George F. 29
Indien 48, 384
Kennedy, Rosie 4, 7
Inowlocki, Lena 353 f.
Kerameikos 41
Irak 384
Kerschensteiner, Georg 109
Isaak HaLevi 75
Kettner, Arthur 280
Isidor von Sevilla 72
Key, Ellen 277, 293
Israel 367, 384
Khardalian, Suzanne 343
Istanbul 329, 331, 334, 343
Kherdian, David 338
Italien 52, 56, 66, 105 f., 108, 116, 120 f., 124, 126, 128,
Kiefer, Kathrin 245, 247, 402
185, 216, 372
Kilikien 64
Ithaka 38, 40
Kirdorf 103 Kißener, Michael 34
410
Jaeke, Gertrud 305
Kittsteiner, Heinz 354
Jalón 179
Knopp, Guido 134
Janson, Felicitas 34
Knotten, Hans 227
Jaroslavskij, Emel’jan M. 173
Kohlrausch, Martin 135
Jarzebowski, Claudia 28, 219, 392, 403
Kolumbien 384
Jauß, Hans Robert 203
König, René Horst 306
Historische Zeitschrift //
BEIHEFT
68 / 2016
König, Wolfhilde von 132
Lysias 42–44
Kongo (auch Demokratische Republik Kongo) 384, 390
Machel, Graça 383, 386 f.
Konstantin 52 f.
Magdeburg 236, 238
Konstantinopel 53, 55, 64 f.
Mainz 22, 33, 34, 246, 323, 401 f., 404
Kony, Josef 397
Makedonien 189
Konya 333
Maksudyan, Nazan 328
Kortüm, Hans-Henning 27, 28, 60, 191, 391, 403
Malezian, Vahan 339
Kowno 369
Mali 384
Krafft, Hans 223 f., 228
Marc Anton 185, 192
Kraftshof 226
Marcus Octavius 193
Krause, Jens-Uwe 50
Mardin 337
Kreta 45
[Gaius] Marius 185, 191, 194
Kroll, Stefan 25, 81, 392, 403
Marperger, Paul Jacob 85
Krusenstjern, Benigna von 221 f.
Marseille 194
Ktimene 40
Marseille, Hans-Joachim 142
Kuhlmann, Horst 309
Marten, James 13 Mathilde von England (Tochter Heinrichs I.) 214
Laërtes 40
Matthäus 77
Laktanz 205
Matzke, Frank 285
Lampert, Luise 304
Mayren, Michael 224
Langstein, Leo 278–280, 286
Medick, Hans 221
Leipzig 4, 100
Mehmet V. (Sultan) 116
Lenin, Vladimir Il’ic 155, 151
Meinecke, Friedrich 287
Leo I. 53
Meiningen 223
Lettenmairin, Barbara 224
Memmingen 223
Lettenmairin, Kunegunda 224
Menderetska, Jelena 321
Leuchter, Albert 309 f.
Merkl, Peter 346, 357
Leylani, A. (= Movses Der-Kalousdian) 333
Miami 220
Licinius 53
Micipsa 190–192
Liebknecht, Karl 106
Mitscherlich, Alexander 306
Lietz, Hermann 109
Mitteleuropa 215
Limpurger, Peter 226
Möhring, Hannes 67
Lindbergh, Charles 136
Mölders, Werner 138
Lindemann, Mary 220
Moorhouse, Roger 141
Livaneli, Zülfü 343
Mosambik 32, 386, 391, 397 f.
Livia (Drusilla) 197
Moskau 151, 154, 156, 158, 160 f., 169
Livius [Titus Livius] 27, 50, 186–189, 192, 194 f., 197
Müller, Ilse 307
Loewenberg, Peter 289
Müller, Richard 305
London 124
München 33, 122, 234, 361, 402
Lorenz, Maren 220, 243
Münster 83
Lucius [Caesar] 188
Mutlu-Numansen, Sofia 341
Ludendorff, Erich 107, 128
Myanmar 384
Lüdke, Lisa 34
Mykalessos 2
Lützen 233, 392
Naher Osten 391
Lützgendorf, Günter 144
Napoleon I. 386
REGISTER
411
Naumburg 144
Plinius d. Jüngere 181
Nerva 52, 184
Podeyn, Erwin 145
Neuseeland 13
Polen 92, 131, 315
Neustadt-Glewe 145
Pompeius [Gnaeus Pompeius Magnus] 185, 192
Neuve Chapelle 110
Potsdam 25, 82, 86–92, 96, 98 f., 101
Newbury 214
Preiß, Caspar 82, 84, 87, 93, 101, 103, 220
Nibling, Michael 231, 233
Preußen 82, 84, 87, 93, 101, 103, 220
Nieden, Birthe zur 238
Prien, Günther 138
Niederlande (auch Holland) 229 f., 284
Pydna 189
Niedersachsen 308
Pyrrhus 185
Nieritz, Carl 93 f. Nieritz, Karl Gustav 93
Quintilian 181
Nordafrika 143
Quintus Metellus 179
Nowosadtko, Jutta 83, 85 Nürnberg 224–226
Rahel 75, 77 Razumnyj, Vladimir A. 157
Odian, Yervant 333
Reckahn 90
Odysseus 38, 40
Rehm, Hanna 245 f., 402
Orlov 125
Reifenberg, Peter 34
Orthmann, Horst 145
Raimund von Aguilers 60, 74
Osmanisches Reich 322, 325, 330 f., 334, 342 f.
Reulecke, Jürgen 274
Ossewaarde, Ringo 341
Rheinland-Pfalz 247
Österreich 25, 105, 107, 110, 115, 117, 120, 122, 126,
Rhodos 49, 56
376, 392
Rhoetogenes 179
Osteuropa 6, 402
Rhys ap Gruffyd 61
Ostpreußen 209
Riché, Pierre 205 Richter, Christoph 100
Pakistan 384
Richter, Friedrich 386
Palästina 367, 377 f., 384
Richter, Johann Friedrich 100
Pasa, Enver 329
Richthofen, Manfred von 136, 139
Pasa, Talat 328
Riley-Smith, Jonathan 71
Paulus 73
Ring, Alexander Hermann 321
Peisistratos 42
Robert der Mönch 61
Penelope 38, 40
Robert von Flandern 62, 64
Perikles 42
Robert von Reims 66, 77
Perisic, Judith 321
Rochow, Friedrich Eberhard von 90
Perseus (König von Makedonien) 194
Roeck, Bernd 220, 243
Peter I. von Serbien 117
Rom 23, 35, 50, 55 f., 180, 182–185, 189, 191, 193, 197
Pfannen, Hans 226
412
f., 200
Pfister, Sebastian 225
Rommel, Erwin 132, 143
Pfondo, Gerhard 143
Roosebeke 210
Pforzheim 234
Roosevelt, Theodor 116
Philippinen 384
Roper, Michael 246
Pirna 314
Rosemeyer, Bernd 136
Pittwald, Michael 32, 383, 403
Rosenbaum, Heide 313
Plaggenborg, Stefan 174
Rössler, Wilhelm 306
Historische Zeitschrift //
BEIHEFT
68 / 2016
Rostock 314, 403
Solon 42 f., 45
Rouen 216
Somalia 384
Rubner, Max 278
Sonderhausen 238
Rüger, Johann Gottfried 97
Southampton-Durley 373
Ruggenberg, Rob 124
Sowjetische Besatzungszone (SBZ) 293, 302
Ruhrgebiet 359
Sowjetunion (UDSSR) 157, 171, 174, 309
Rumford, Sir Benjamin Thompson Graf von 82
Spanien 179, 184
Rüsen, Jörn 21
Sparta 40, 45, 391
Russland 6, 25, 27, 116, 124 f., 153, 156, 169, 172 f.,
Spiegel, Andreas 224
264, 314, 392
Spiegel, Anna Maria 224 Sri Lanka 384
Sachsen (auch Kursachsen) 82, 84 f., 88, 92–95, 100– 103 Sallust [Gaius Sallustius Crispus] 27, 186 f., 191, 193 f., 197–199
Stadelmann, Matthias 6, 26, 27, 151, 404 Stalin, Iosif 151, 155, 157, 161, 166, 174 Stalinabad (Dužanbe) 169 Stambolis, Barbara 29, 245, 267, 273, 404
Salonae 193
Stargardt, Nicolas 4
Same 40
Stausebach 229
Sandelzhausen 307
Steinhuder Meer 309
Sarlayan, Benan Halil 321
Stepanov, Aleksandr Stepanovic 151 f., 172
Schäffer, Immanuel 146 f.
Stephan, König von England 214
Schelsky, Helmut 306
Stern, William 278, 281, 286
Schindler, Sepp 305
Stuttgart 143
Schirach, Baldur von 287
Sudan 384, 397
Schlesien 392
Südtirol 209
Schlossmann, Arthur 280
Südwestdeutschland 103
Schmalkalden 225
Sulla [Lucius Cornelius Sulla Felix] 185, 191, 194
Schmehl, Verena 34
Syrien 64
Schmeling, Max 136
Sywottek, Jutta 138
Schmidt, Christof 364 Schmidt, Heinz-Werner 143
Tadžikistan 169
Schmidt, Thomas 309, 314
Tas, Dilan 321
Schraepler, Albrecht 143
Taurusgebirge 64
Schroten, Hans 225 f.
Telemachos 38, 40
Schubert, Christoph 27, 179, 404
Thailand 384
Schütze, Fritz 353
Thasos 48 f., 56
Seegers, Lu 29, 293, 404
Theozotides 43 f.
Sellmann, Adolf 297
Theresienstadt 371
Selzer, David 321
Thukydides 42 f.
Seneca 181
Thüringen 77, 309
Shafak, Elif 343
Tiberius [Tiberius Iulius Caesar Augustus] 188, 197
Shahar, Shulamit 205
Timur Khan 154
Shrewsbury 210
Torgau 94, 99
Simonides 41
Trajan 184
Slowenien 237
Tripolis 64
Söderbaum, Kristina 136
Troja 38–40
Solomo bar Simsons 75
Trüper, Johannes 278
REGISTER
413
Tschad 384
Walter, Heinz 131, 143, 144
Tubero [Aelius Tubero] 191
Warhaftig, Zorach 368
Türkei 31, 337, 342 f.
Watenpough, Keith David 323, 325, 335
Turpilius [Titus Turpilius Silanus] 193
Waxner, Ruth 314
Tuttle, William M. 246
Weber, Yannick 321
Tutzing 33
Weddigen, Otto 139
Tyrtaios 39
Wehler, Hans-Ulrich 291 Werner, Peter Philipp 321
Uganda 384, 397
Westphal, Geert 254
Ulm 231, 233, 235
White, Hayden 211
Ungarn 92, 237
Wien 22
Urban II. 62 f.
Wilhelm I. 117
Urfa 333
Wilhelm II. 110, 116 f., 135
Utica 191
Wilhelm, Graf von Pembroke 214 Wilhelm Marschall 213, 215–217, 223
Vach 224, 226, 229 f.
Willen, Irena 367, 372, 378
Vaga 193
Willrich, Wolfgang 141 f.
Vaizey, Hester 246
Wolf, Hans 223
Valerius Maximus 179, 188
Wolfenbüttel 309, 312
Vegetius [Flavius Vegetius Renatus] 267
Wolffheim, Nelly 373
Veiji 193
Wolkenstein, Oswald von 209
Velleius Paterculus 27, 186–191, 197
Wollasch, Hans 304
Vercingetorix 198
Wolmirstedt 238
Vereinigte Staaten von Amerika (USA) 6, 25, 107–
Wolny, Desiree 245 f.
110, 114 f., 121–123, 136, 286, 291, 335, 337, 384,
Würzburg 131, 143, 309
392, 395
Wyneken, Gustav 109
Verhey, Jeffrey 351 Vietnam 380, 393
Xenophon 49
Villinger, Werner 305 Voll, Heinz 143, 145
Zellerfeld 240
Vorderer Orient 24, 52
Zenoch, Rosa 126
Vorošilov, Kliment E. 155
Zentralafrikanische Republik 384 Zillhardt, Gerd 231
Waha, Michael de 66
Zunino, Bérénice 105, 109, 115, 120
Waldeshausen, Luise Gräfin von 308
414
Historische Zeitschrift //
BEIHEFT
68 / 2016