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German Pages [280] Year 1996
Robert Jütte / Abraham P. Kustermann (Hg.)
Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart
ASCHKENAS Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden
herausgegeben von J. F. Battenberg und M. J. Wenninger Beiheft 3
Robert Jütte / Abraham P. Kustermann (Hg.)
Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart
BÖHLAU VERLAG W E N • KÖLN • WEIMAR
Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst
Umschlagabbildung: Jüdischer Gemeinderat in Frankfurt (Kupferstich, 18. Jh.), Institut für Stadtgeschichte der Stadt Frankfurt am Main
Die Deutsche Bibliothek - CIP Einheitsaufnahme Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart / Robert Jütte/Abraham P. Kustermann (Hg.). - Wien ; Köln; Weimar: Böhlau, 1996 (Aschenkas : Beiheift; 3) ISBN 3-205-98537-0 NE: Jütte, Robert [Hrsg.]
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugs weiser Verwertung, vorbehalten.
© 1996 by Böhlau Verlag Ges.m.b.G. und Co. KG., Wien • Köln • Weimar
Satz: Bernhard Computertext, A-1030 Wien Druck: Plöchl, A-4240 Freistadt
Inhalt
Einführung
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HERMANN LICHTENBERGER
Organisationsformen und Ämter in den jüdischen Gemeinden im antiken Griechenland und Italien
11
WALTER AMELING
Die jüdischen Gemeinden im antiken Kleinasien
29
JOHANNES HAHN
Die jüdische Gemeinde im spätantiken Antiochia: Leben im Spannungsfeld von sozialer Einbindung, religiösem Wettbewerb und gewaltsamem Konflikt
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ISRAEL JACOB YUVAL
Heilige Städte, heilige Gemeinden - Mainz als das Jerusalem Deutschlands
91
ALFRED HAVERKAMP
„Concivilitas" von Christen und Juden in Aschkenas im Mittelalter
103
STEFAN ROHRBACHER
Organisationsformen der süddeutschen Juden in der Frühneuzeit
137
JÖRG DEVENTER
Organisationsformen der Juden in einem nordwestdeutschen Duodezfürstentum der Frühen Neuzeit
151
THOMAS SCHLICH
Die Medizin und der Wandel der jüdischen Gemeinde: Das jüdische rituelle Bad im Hygienediskurs des 19. Jahrhunderts
173
JÖRG H . FEHRS
Der preußische Staat und die jüdischen Gemeinden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
195
6
INA LORENZ
Das „Hamburger System" als Organisationsmodell einer jüdischen Großgemeinde. Konzeption und Wirklichkeit
221
JULIUS CARLEBACH
Der Wiederaufbau jüdischer Gemeinden in Deutschland nach der Schoa
257
AbkürzungsVerzeichnis
265
Personenregister
269
Ortsregister
273
Autoren- und Herausgeberverzeichnis
278
Einführung Wie so oft sagt ein jüdischer Witz mehr aus als manche gelehrte Abhandlung. Das Motiv ist bekannt: Ein Schiffbrüchiger rettet sich auf eine menschenleere Insel. Da er Jude ist, versucht er - so gut es eben geht - die Gebote der Torah und der Halacha einzuhalten. Nach vielen Jahren endlich wird er von einem vorbeifahrenden Schiff entdeckt. Die Freude ist groß. Der jüdische Robinson Crusoe zeigt seinen Rettern stolz die Insel mit den von ihm errichteten Hütten. Darunter ist auch eine Synagoge. Als seine Begleiter beim Rundgang auf ein ähnliches, ganz in der Nähe gelegenes Gebäude aufmerksam werden, fragen sie ihn erstaunt, ob das etwa auch eine Synagoge sei. Worauf der Erbauer antwortet:, Ja, aber in diese würde ich eppes niemals einen Fuß setzen!" In diesem Witz spiegelt sich eine fast zweitausendjährige Geschichte der Juden in der Diaspora wider: Das Verstreutsein über die ganze Welt, die Vereinzelung, die oft so extrem ist, daß es an manchen Siedlungsorten von Juden nicht einmal die für den Minjan, das gemeinsame Gebet, vorgeschriebene Zahl von zehn jüdischen Männern gibt, aber auch die Glaubensstreitigkeiten und Abspaltungstendenzen, die das Judentum häufig vor eine Zerreißprobe gestellt haben. Das Leben der jüdischen Gemeinden, die Formen und Strukturen jüdischer Organisationen regelten sich während der längsten Phasen der Geschichte selten autonom, sondern vorwiegend innerhalb komplexer Bedingungsmuster. Die Chance der jüdischen Minderheit zur Realisierung ihrer eigenen religiösen und ethischen Normen und zur Etablierung einer Selbstverwaltung wurde von der umgebenden Mehrheit, die zunächst hellenistisch, dann christlich geprägt war, vielfach beschränkt, und dies unter kulturell, politisch oder regional gesehen höchst unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Jüdische Identität mußte sich fast immer unter äußerlich (oft rigoros) eingeschränkten Gegebenheiten sozial zum Ausdruck bringen. Ihre Ausformung ist ohne Rücksicht darauf und folglich ohne Berücksichtigung ihrer jeweiligen Umwelt nicht zu verstehen. Die dauernde Spannung zwischen Eigen- und Fremdbestimmung verleiht der jüdischen Geschichte spezifische Konturen, die als solche Teil der allgemeinen Geschichte sind - nicht zuletzt der deutschen Geschichte und nicht nur der des deutschen Judentums. Diesen weiten Blickwinkel haben die in diesem Band versammelten Beiträge gemeinsam. Sie befassen sich mit einem Phänomen, das bislang noch nicht systematisch erforscht ist und schon gar nicht eine umfassende Gesamtdarstellung erhalten hat. Gemeint ist die Geschichte der jüdischen Gemeinden und ihrer Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart.
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Einführung
Ein einzelner wäre zweifellos mit einer solchen Synthese überfordert. Die Zeit der großen Überblicksdarstellungen aus der Feder eines einzigen Autors (Graetz, Dubnow, Baron, Dinur u. a.) ist angesichts der fast unüberschaubar gewordenen Spezialliteratur vermutlich endgültig vorbei. So haben an diesem Sammelwerk, das sich auf einen zentralen Aspekt der jüdischen Geschichte konzentriert, aus verständlichen Gründen Fachleute aus den unterschiedlichsten Disziplinen (Alte, Mittelalterliche und Neuere Geschichte, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Medizingeschichte, Judaistik, Theologie und Soziologie) mitgearbeitet. Die Bandbreite der alle Epochen der jüdischen Diaspora berührenden Beiträge reicht von den Organisationsformen und Ämtern in den jüdischen Gemeinden im antiken Griechenland und Italien bis zur Wiederbegründung der jüdischen Gemeinden im Nachkriegsdeutschland. Daß sich ein Großteil der Beiträge mit der jüdischen Gemeinde in der Antike und in der Neueren Geschichte befaßt, spiegelt in gewissem Sinne auch die gegenwärtigen Forschungsschwerpunkte wider. Immerhin wird aber die mittelalterliche Geschichte der jüdischen Gemeinde in Aschenkas, die nicht nur von Verfolgung, sondern über lange Zeit auch von „concivilitas" (A. Haverkamp) geprägt war, in zwei Beiträgen lebendig, die sowohl die Außen- als auch die Binnenperspektive des Themas berücksichtigen. Fünf Problemfelder sind es, die in den hier versammelten Beiträgen wiederkehrend als Konstanten in der jüdischen Geschichte thematisiert werden: 1) Das problematische Verhältnis von Ortsgemeinde und Synagogengemeinde, das immer wieder Anlaß zu Kompromißlösungen war (siehe das „Hamburger Modell" im Beitrag LORENZ oder die jüdische „Einheitsgemeinde" in Deutschland nach 1 9 4 5 im Beitrag CARLEBACH). Daß Dissidentengemeinden nicht nur ein Phänomen der jüngeren und jüngsten Geschichte sind, machen die Beiträge zur Geschichte des Judentums in der Antike (LICHTENBERGER, AMELING, HAHN) deutlich. 2) Die Spannungen zwischen der weitgehend autonomen Einzelgemeinde und übergeordneten zentralen Instanzen (Exilarchat, Waad, Landjudenschaften), die ebenfalls die jüdische Geschichte wie ein roter Faden durchziehen. 3) Organisatorische und strukturelle Probleme (Wahl und Einsetzung der Amtsträger, Autorität, Aufgabenverteilung), mit denen sich die Gemeinden in der Diaspora immer wieder konfrontiert sahen und für die sie eine flexible, gleichzeitig aber auch dauerhafte Lösung suchen mußten. 4) Das selten spannungsfreie Verhältnis zwischen der jüdischen Gemeinde und der (meist intoleranten) Umwelt. Die Herrscher und Obrigkeiten wechselten, was sich wiederholte, waren die unterschiedlich motivierten Versuche, die Autonomie der jüdischen Gemeinden zu beschränken oder in religiösen Angelegenheiten zu intervenieren (SCHLICH). Übergeordnetes Ziel war, die Judenschaft
Einführung
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in den Staats- oder Herrschaftsverband einzubinden bzw. ihren Sonderstatus aufzuheben (FEHRS, LORENZ). Daß solche Bestrebungen immer noch aktuell sind, zeigen die Bemühungen „freier" jüdischer Gruppen, in die Staatsverträge, die einzelne Bundesländer mit den jüdischen Einheitsgemeinden auf Landesebene geschlossen haben, ebenfalls einbezogen zu werden. 5) Daß das Urchristentum einige Elemente der jüdischen Gemeindeorganisation übernommen hat, ist ein Gemeinplatz der Kirchengeschichte. Weniger bekannt dürfte sein, daß dieser Einfluß durchaus wechselseitig war, wie die weitere Geschichte der jüdischen Gemeinde, vor allem im Mittelalter (YUVAL, HAVERKAMP), zeigt. Die Parallelen gehen bis in die Ämterhierarchie. So stand beispielsweise an der Spitze der großen mittelalterlichen Judengemeinden des Rheinlands ein sogenannter „Judenbischof'. Auch die Landjudenschaften des 16. und 17. Jahrhunderts (ROHRBACHER, DEVENTER) sind sowohl Ausdruck der Übernahme stark ständisch geprägter Staatsvorstellungen als auch Resultat politischer Zwänge. Wer die historischen Hintergründe des noch nicht ganz ausgestandenen Streits über den jüdischen Friedhof in Hamburg-Ottensen oder die lange Vorgeschichte der internen Querelen in der Berliner jüdischen Gemeinde um die Anerkennung und Rückgabeforderungen der orthodoxen Adass Jisroel-Gemeinde verstehen will, der wird mit Gewinn diesen Band in die Hand nehmen, denn er macht mit den zentralen Problemen jüdischen Gemeindelebens in den letzten zweitausend Jahren vertraut. Es ist eine wechselhafte Geschichte, die in Deutschland durch die Shoa fast ihr Ende gefunden hätte, wenn es nicht einige wenige mutige und vielleicht auch starrsinnige Überlebende gegeben hätte (CARLEBACH), die sich trotz aller Anfeindungen von jüdischer Seite nicht haben davon abbringen lassen, nach dem fürchterlichsten Schlag gegen das Judentum gerade im Land der Mörder wieder einen Neuanfang zu wagen. Der vorliegende Band vereinigt die Beiträge zu einer gemeinsamen Wissenschaftlichen Studientagung der Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland e.V. (GEGJ) und der Akademie der Diözese RottenburgStuttgart in deren Tagungshaus Stuttgart-Hohenheim vom 28. bis 30. Oktober 1994. Zunächst vom Wissenschaftlichen Beirat der GEGJ konzipiert, dann in gemeinsamer Planung im Detail ausgearbeitet und schließlich in gemeinsamer Trägerschaft beider Partner vorbereitet und ausgeschrieben, fand sie - zum beiderseitigen Gewinn - ein erstaunlich großes Echo, d.h. eine Teilnehmerschaft, die der Zahl nach das gastgebende Tagungshaus bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit beanspruchte. Dieser Erfolg sowie auf der Hand liegende sachliche und wissenschaftliche Gründe selbst ließen den Vorsitzenden der GEGJ, Prof. Dr. Alfred Haverkamp, der Mitgliedschaft spontan den Beschluß zur Ver-
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Einführung
öffentlichung der Referate empfehlen. Mit dem Beschluß war die Bitte an die beiden verantwortlichen Tagungsleiter verbunden, Herausgeberschaft und Redaktion zu übernehmen. Die Herausgeber der Zeitschrift ASCHKENAS, Prof. Dr. J. Friedrich Battenberg und Dr. Markus Wenninger, ermöglichten dankenswerterweise die Aufnahme in die Reihe ihrer Beihefte. Der Autorin und den Autoren ist sehr zu danken, daß sie ihre Beiträge in relativ knapp bemessener Frist überarbeitet und ausnahmslos für den Druck zur Verfügung gestellt haben. Ihre Zusammenarbeit mit den Herausgebern hinsichtlich der Publikation war nicht minder erfreulich als zuvor die im Blick auf die erwähnte Tagung. Dafür sei herzlich gedankt. Wegen eines Forschungsaufenthalts in den USA konnte innerhalb der verfügbaren Zeit einzig der Apparat des Beitrags YUVAL nicht in jeder den Autor befriedigenden Hinsicht überarbeitet werden - ein Umstand, der uns jedoch eher verschmerzbar erschien als die Dehnung des Drucktermins. Daß sich das Erscheinen des Bandes trotz der Anstrengung aller Beteiligten dann doch weit länger als geplant hinauszog, ist ausschließlich Schwierigkeiten bei der Finanzierung zuzuschreiben. Um die Einwerbung von Druckkostenzuschüssen haben sich Frau Dr. Eva Reinhold-Weisz von der Programmleitung des Böhlau-Verlags durch einen Antrag an das Österreichische Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst und die beiden genannten Herausgeber von ASCHKENAS verdient gemacht. Schließlich, in einem kritischen Moment, übernahm der Böhlau-Verlag selbst einen Teil der Produktionskosten auf eigene Rechnung. Dafür sei allen Genannten herzlich Dank gesagt. Die Redaktion, insbesondere die der Anmerkungsapparate, konnte sich dank weitgehender Beachtung der redaktionellen Vorgaben durch die Autoren in den Grenzen halten, daß zwar nicht der ganze Band nach durchgehend einheitlichen und gleichartigen Konventionen redigiert ist, wohl aber jeder Beitrag in sich konsequent und stimmig. Gebräuchliche Abkürzungen blieben unberücksichtigt; bibliographische Siglen usw. sind im Abkürzungsverzeichnis aufgelöst. Zuletzt gilt unser Dank Frau Martina Judt M.A. für die Erstellung des Registers. Stuttgart, im Frühjahr 1996
Robert Jütte - Abraham Peter Kustermann
H E R M A N N LICHTENBERGER
Organisationsformen und Ämter in den jüdischen Gemeinden im antiken Griechenland und Italien* Philo von Alexandrien schreibt nach 41 n. Chr., nach dem antijüdischen Pogrom in Alexandria des Jahres 38 n. Chr., in seiner Schrift Legatio ad Gaium (Caligula) über jenes Gegenbild kaiserlichen Großmuts und der Fürsorge für die Juden, Augustus: Es war ihm wohlbekannt, daß der große Stadtteil Roms jenseits des Tiber von Juden besetzt und besiedelt war, die Mehrzahl von ihnen Freigelassene und römische Bürger. Denn als Kriegsgefangene waren sie nach Italien gebracht und von ihren Besitzern freigelassen worden, ohne sie zu zwingen, ihre überlieferten Gewohnheiten aufzugeben. So war es Augustus bekannt, daß sie Synagogen besaßen und sich in ihnen versammelten, besonders am heiligen Sabbat, wenn sie öffentlich in der Philosophie ihrer Väter unterwiesen wurden. Er wußte aber auch, daß sie fromme Gaben sammelten von ihren Erstlingsopfern und sie durch Leute, die die Opfer überbrachten, nach Jerusalem sandten. Trotzdem vertrieb er sie nicht aus Rom und entzog ihnen nicht das römische Staatsbürgerrecht, weil sie auch ihre jüdische Nationalität hoch hielten. Er traf auch keine Änderungen gegen ihre Synagogen, hinderte sie nicht, sich in ihnen zu versammeln, um ihre Gesetze auszulegen, und legte dem Einziehen ihrer Opfergaben nichts in den Weg ...1 Dieser Abschnitt, der gewiß bestimmt ist vom Gegensatz Caligula-Augustus2, gibt, auch wenn er die ideale Sicht Philos zum Ausdruck bringt, doch eine ganze Reihe wichtiger Informationen, die uns zum Thema hinführen können. Dabei stehen - naturgemäß - zunächst Rom und Italien im Horizont des Interesses. * Für das Schreiben des Manuskripts danke ich Marietta Hämmerle, für vielfältige Hilfe Dr. Drs. Gerbern Oegema und Dr. Friedrich Avemarie. Karl Kertelge in herzlicher Verbundenheit zum 70. Geburtstag. 1 PHILO, Leg Gai 1 5 5 - 1 5 7 . Übersetzung nach F.W. KOHNKE, in: Philo von Alexandrien. Die Werke in d e u t s c h e r Ü b e r s e t z u n g , hrsg. v o n L. COHN, I. HEINEMANN, M . ADLER, W. THEILER, B d . 7 , B e r l i n 1 9 6 4 .
2 Wieviel Augustus vom Judentum gewußt hat, wissen wir nicht mit Sicherheit, jedenfalls hält er den Sabbat für einen Fasttag; SUETON, Augustus 76,2. Der Verzicht auf Schweinefleisch war bekannt genug, um den Spott über Herodes' Schwein/Sohn zu ermöglichen, MACROBIUS, Saturnalia 2,4,11; M. STERN, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism, 1 1976, II 1980, III 1984 Jerusalem; Band II Nr. 543, S. 665 f.
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Hermann Lichtenberger
1. „Als Kriegsgefangene waren sie nach Italien gebracht und von ihren Besitzern freigelassen worden, ohne sie zu zwingen, ihre überlieferten Gewohnheiten aufzugeben."3 Es gehört zu den verbreiteten Irrtümern, die jüdische Diaspora sei eine Folge der Tempelzerstörung des Jahres 70 n. Chr. Dem ist die weite Verbreitung der Juden in der ganzen Mittelmeerwelt vor 70 entgegenzuhalten.4 Philo beschreibt in Flacc 45 die Diaspora so: Denn die Juden kann wegen ihrer großen Zahl ein Land nicht fassen. Deswegen wohnen sie in den meisten und reichsten Ländern Europas und Asiens, auf Inseln und auf dem Festland. Als Mutterstadt (nnipöTtoXn;) betrachten sie die .Heilige Stadt', in der der Tempel des höchsten Gottes erbaut ist. Was sie aber von ihren Vätern und Großvätern und Urgroßvätern und den weiteren Vorfahren als Wohnsitz übernommen haben, das halten sie jeweils für ihr Vaterland (naTpi^), in dem sie geboren und aufgewachsen sind.5
Hier schreibt nicht einer, der sehnsüchtig nach dem Heiligen Land blickt, aus dem er vertrieben worden wäre, als dem einzigen Ort, an dem Juden leben können - oder sollten [so wie es die Weisen im Land Israel formulierten: „Im Land Israel zu leben wiegt alle Gebote der Tora auf'] 6 , sondern ein selbstbewußter Vertreter des alexandrinischen Judentums, dessen Repräsentanten und wohlhabende Vertreter die Familie Philos war. Für diese Juden bedeutet leben in der Diaspora nicht einmal leben in der Fremde: Jerusalem ist Metropolis, dort steht der Tempel; Vaterland, itaxpic,, aber ist der Ort, an dem Juden seit Generationen leben. So hören wir über die Verbreitung der Diaspora bei Strabo von Emesa noch vor der Zeitenwende: Dieses Volk ist schon in jede Stadt (JC6A.II;) gekommen, und es ist nicht leicht, einen Ort in der Oikumene zu finden, wo nicht dieses Volk Aufnahme gefunden und sich behauptet hätte.7
So hatte Ägypten - um nochmals auf Philo zurückzukommen - eine hohe wirtschaftliche Attraktivität. Herondas im 3. vorchristlichen Jahrhundert gibt Zeugnis davon:
3 PHILO, Leg Gai 155. Übersetzung siehe Anm.l. 4 Siehe M. STERN, in: S. SAFRAI / M. STERN, The Jewish People in the First Century, CRINT 1, Assen 1994, S. 117-183. 5 PHILO, Flacc 4 5 - 4 6 ; zur Übersetzung vgl. K . H . GERSCHMANN, in: siehe Anm. 1, S . 1 3 9 . 6 Vgl. H. LICHTENBERGER: „Im Lande Israel zu wohnen wiegt alle Gebote der Tora auf', in: R. FELDMEIER / U . HECKEL, Die Heiden: Juden, Christen und das Problem des Fremden, Tübingen 1994, S. 92-107. 7 Histórica Hypomnemata, bei JOSEPHUS ant 14,114-118.
Organisationsformen und Ämter im antiken Griechenland und Italien
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Ja, in Ägypten ist das Heim der Göttin, dort gibt es alles, was man sich nur denkt, Geld, Sport, Macht, Luxus, Ruhm, Theater, Philosophen, Gold, junge Männer und das Heiligtum der göttlichen Geschwister und des guten Königs, Wein, das Museion, alles Schöne, was du willst, und Frauen, bei Persephone, mehr als der Himmel sich rühmen kann, an Sternen aufzuweisen, und herrlich wie die Göttinnen, die einst zu Paris zum Schönheitsurteil kamen.8 Dieses Land floß - umso mehr von der Außenperspektive - wirklich von Milch und Honig, schon die Israeliten des Auszugs erinnerten sich wehmütig an die Fleischtöpfe Ägyptens (Ex 16,3). Eine jüdische Diaspora in Ägypten gab es bereits zur Zeit des Propheten Jeremia (ca. 645-580), im 5. Jh. schützt eine jüdische Militärkolonie auf Elephantine die Südgrenze Ägyptens, in deren Leben vielfältige aramäische Urkunden (Ehekontrakte, Eigentumsübertragungen, Darlehensverträge, Sklavenbefreiung) Einblick geben, vor allem aber auch in ihren Tempelgottesdienst mit der Verehrung Jahus, des Gottes Israels.9 Vielleicht dürfen es schon in früher Zeit auch wirtschaftliche Gründe gewesen sein, die Juden zur Auswanderung bewegten. Von dieser eher freiwilligen (welchen Freiwilligkeitscharakter hat wirtschaftliche Not?!) ist die gewaltmäßige zu unterscheiden, das Exil, die Exilierung, hebr. Galut bzw. Gola. Hierzu ist für die alte Zeit auf die assyrische (733 und 724 v. Chr. Nordreich Israel) und die babylonische (587 Judäa) zu verweisen. Nach dem Kyrus-Edikt (538), das den Wiederaufbau des Tempels und die Rückkehr nach Judäa erlaubte, blieben viele in der neuen Heimat. Babylonien blieb durch Zuwanderung und ständigen Austausch eines der wichtigsten Länder der Diaspora. Nach der üblichen Sicht war es im babylonischen Exil, fern vom zerstörten Tempel, daß eine .Erfindung' gemacht wurde, die für die antike Welt einzigartig war: der opferlose Wortgottesdienst mit Schriftlesung und -auslegung und Gebet, der Synagogengottesdienst. Über die Entstehungszeit können wir keine sicheren Angaben machen. Jedenfalls sind Synagogengebäude in der 2. Hälfte des 3. Jh.s v. Chr. in Ägypten bezeugt.10 8 HERONDAS, Die Kupplerin 26 ff, Übersetzung nach K. und U. TREU, in: Menander-Herondas, Berlin 1980; Hinweis von Prof. Dr. M. Hengel. 9 Zu Elephantine vgl. M. HENGEL, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh.s v. Chr., 3. Aufl., Tübingen 1982, S. 49, 278, 488, 499 f. Die Texte bei A. COWLEY, Aramaic Papyri of the Fifth Century B.C., Oxford 1923; zur Grammatik P. LEANDER, Laut- und Formenlehre des Ägyptisch-Aramäischen, Göteborg 1928, Nachdruck Hildesheim 1966; siehe auch S. SEGERT, Altaramäische Grammatik, Leipzig 31986, S. 26 f. 10 Zu den ersten bekannten Synagogen vgl. E. SCHÜRER, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ. A New English Version revised and edited by G. VERMES / F. MILLAR, 1 1973, n 1979, m , l 1986, m , 2 1987; hier: 111,1, S. 46 ff. Die Inschriften sind jetzt vorzüglich gesammelt bei W. HORBURY / D. NOY, Jewish Inscriptions of Graeco-Roman Egypt, Cambridge 1992.
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Es ist hier nicht der Ort, die babylonische und ägyptische Diaspora weiter zu verfolgen. Insgesamt kann man sagen, daß die babylonische Diaspora bis zur Zeitenwende in ruhigeren Bahnen verlief als das Leben im politisch und religiös erschütterten Judäa. In der Zeit des Herodes kommt Hillel aus Babylonien und wird einer der berühmtesten Lehrer der Pharisäer. Auch die Erschütterungen des 1. Jüdischen Krieges gegen Rom (66-73) und der Diaspora-Aufstand 115-117 des kyrenischen und ägyptischen Judentums haben die Juden in Mesopotamien kaum berührt. Beim 2. Jüdischen Aufstand (132-135) flohen viele Rabbinen nach Babylonien und legten dort den Grund für eine Gelehrsamkeit, die die im Lande Israel bald übertreffen sollte.11 Sie fand schließlich zwischen dem 3. und 6. Jh. ihren Niederschlag im babylonischen Talmud, dessen Bedeutung für das Judentum bis heute unschätzbar geblieben ist.12 Kehren wir noch für einen Augenblick zur ägyptischen Diaspora zurück: Hier finden wir - wie erwähnt - die freiwillige Einwanderung (aber was heißt schon freiwillig, wenn die wirtschaftliche Not zur Auswanderung zwingt! Es ist bezeichnend, daß jene erste Einwanderung der Jakobssöhne ebenfalls im Hunger begründet ist) und die Deportation. Als der erste Ptolemäer (Ptolemaios I. Soter) im Jahr 302 v. Chr. durch eine List am Sabbat, an dem die Juden sich aus religiösen Gründen nicht verteidigten, Jerusalem einnahm, deportierte er den größten Teil der Bevölkerung nach Ägypten. Einige machte er zu Soldaten, die meisten zu Sklaven. Der zweite Ptolemäer (Philadelphos) soll eine großzügige Freilassung der von seinem Vater verschleppten jüdischen Sklaven angeordnet haben, wobei der sogenannte Aristeasbrief übertreibend eine Zahl von 100000 nennt.13 Im sogenannten Zenon-Archiv (Mitte 3. Jh. v. Chr.) finden wir entsprechend neben jüdischen Haussklaven auch freie jüdische Lohnarbeiter der niedersten sozialen Stufe: Weingärtner, Schäfer, Hundewärter und Ziegeleiarbeiter.14 Jüdische Identität wird eindrücklich bezeugt in einer Ziegelabrechnung, die die Ablieferung an einzelnen Wochentagen exakt angibt, aber am 7. Tag sabbata aufweist.15 Wichtig ist: Dieser Papyrus ist wie fast alle jüdischen Papyri aus Ägypten zwischen dem 3. Jh. v. Chr. und dem 1. Jh. n. Chr. griechisch geschrieben.
11 Zu den jüdischen Kriegen vgl. SCHÜRER (wie Anm. 10) I, S . 485 und 543 ff. 12 Siehe G. STEMBERGER, Das klassische Judentum. Kultur und Geschichte der rabbinischen Zeit, München 1979; DERS., Einleitung in Talmud und Midrasch, München 1992. 13 Aristeasbrief 12. 1 4 V . A . TCHERIKOVER / A . FUKS, Corpus Papyrorum Judaicarum (CPJ) I, Cambridge/Mass. 1 9 5 7 . 15 CPJ (wie Anm. 14) I, Nr. 10, S. 136 f.
Organisationsformen und Ämter im antiken Griechenland und Italien
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Griechisch war nicht nur die Lingua franca des hellenisierten Ostens, es war auch die Sprache des sozialen Aufstiegs. Schon hier stellt sich das grundsätzliche Problem: Assimilation und Bewahrung der eigenen jüdischen Identität.16 An dieser Stelle wäre auch von einer Großtat zu sprechen, die einmalig in der antiken Welt ist, und die für die Diaspora insgesamt (und später für die urchristliche Mission) von kaum zu ermessender Bedeutung ist: die Übersetzung der Tora ins Griechische, noch in der 1. Hälfte des 3. Jh.s, der dann sukzessive die anderen Schriften folgten. Ich muß es hier bei dem Hinweis belassen.17 Damit kehren wir nach Rom - Italien und zum Zitat des Philo als unserem Ausgangspunkt zurück: „Als Kriegsgefangene waren sie nach Italien gebracht und von ihren Besitzern freigelassen worden .. ," 18 Wir finden deutliche Hinweise, daß Juden in Italien und besonders Rom seit der Mitte des 2. Jhs. v. Chr. lebten. Zum einen sind es die Verbindungen und der Vertrag, den Judas Makkabäus (161 v. Chr.) mit Rom schloß und der von seinen Nachfolgern erneuert wurde und verbunden war mit Reisen politischer und religiöser Würdenträger19, zum anderen erfahren wir von Maßnahmen des praetor peregrinus (Gnaeus Cornelius Hispalus) gegen religiöse Propaganda der Juden in Rom, die offenbar innerhalb des Pomeriums religiös aktiv wurden.20 Die Vertreibung fügt sich ein in die Maßnahmen gegen griechische Rhetoren und Philosophen (161 und 154 v. Chr.), die Juden werden zusammen mit den Astrologen (Chaldäern) vertrieben.21 Mit der Verstärkung der Beziehungen Roms und Italiens nach dem Osten, insbesondere dem wirtschaftlichen Austausch, ging die Niederlassung von Juden in Italien - Rom Hand in Hand. M. Stern22 macht darauf aufmerksam, daß die jüdische Bevölkerung Roms bereits vor Roms militärisch-politischem Griff nach dem Osten beträchtlich gewesen sein muß, wie Ciceros Rede pro Flacco vom
16 Siehe M. HENGEL, Juden, Griechen und Barbaren. Aspekte der Hellenisierung des Judentums in vorchristlicher Zeit, Stuttgart 1976. 17 Siehe den Sammelband, M . HENGEL / A . M . SCHWEMER (Hrsg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum, Tübingen 1994. 18 Vgl. zuAnm. 1. 19 Vgl. 1 Makk 8,1-32. 20 Vgl. Valerius Maximus bei STERN (wie Anm. 2) I, Nr. 147a und b, S . 357-360. 21 Zu Rom siehe die grundlegenden Werke von A. BERLINER, Geschichte der Juden in Rom, Frankfurt/M. 1893, Nachdruck Hildesheim 1987; J. JUSTER, Les juifs dans l'empire romain, Paris 1914; HJ. LEON, The Jews of Ancient Rome, Philadelphia 1960; P. LAMPE, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten, 2. Aufl., Tübingen 1987. 2 2 STERN ( w i e A n m . 4 ) , S . 1 6 1 .
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Jahr 59 beweist23, wo von Zahl und Einfluß der Juden Roms in den Volksversammlungen die Rede ist. The Jews of Rome were by that time already involved in the political and social dissensions that characterized republican Rome in its final phase. The Jews largely sided with the populäres against the supremacy of the Senate and the Roman aristocracy, whose political traditions made them less favourably disposed towards the new religious elements coming into the city. 24
So standen die Juden Roms auch auf der Seite Caesars, die er dann vom Verbot der Collegia ausnahm. Sueton berichtet, daß nach der Ermordung Caesars (44) die einzelnen ausländischen Kolonien in Rom Trauerfeiern nach ihrem eigenen Ritus abhielten, und hebt die Juden hervor, die sogar einige Nächte hintereinander die Grabstätte Caesars besuchten.25 Nachdem Pompeius 63 v. Chr. durch eine List am Versöhnungstag Jerusalem eroberte, verschleppte er Tausende von Kriegsgefangenen nach Rom.26 Auf sie nimmt wohl Philo Bezug, wenn er davon spricht, daß sie nach und nach freigelassen wurden. Zusammen mit den schon vorher (und nachher) Eingewanderten bildeten sie den Grundstock zu der stetig wachsenden jüdischen Gemeinschaft Roms. Beim 1. Jüdischen Krieg (66-73) wurden Zehn- oder Hunderttausende in die Sklaverei verkauft und kamen so wohl auch nach Rom, andere wurden als Gefangene mitgeführt. 700 waren sogleich für den Triumphzug ausgewählt worden.27 Eine Grabinschrift des 1. Jh.s n. Chr. aus Neapel (?) nennt mit „Claudia Aster Hierosolymitana captiva" eine solche Kriegsgefangene.28 2. „Es war ihm wohlbekannt, daß der große Stadtteil jenseits des Tiber von Juden besetzt und besiedelt war."29
23 ABRAHAM BERLINER schrieb vor 100 Jahren (wie Anm. 21), S. 13, über die Zeit Ciceros: „Aus dem Dunkel der Zeiten tritt jetzt eine deutliche Erscheinung klar hervor: Die jüdische Gemeinde, welche als eine Gesammtheit bis dahin nicht bekannt ist, ist bereits zu solchem Ansehen gelangt, daß sie einen Redner wie Cicero, zugleich den ersten Advokaten der Stadt, zwingt, mit ihrer materiellen Macht und ihrem politischen Einfluß zu rechnen." STERN (wie Anm. 2), Nr. 68, S. 1 9 6 - 2 0 1 . 2 4 STERN ( w i e A n m . 4 ) , S. 161.
25 SUETON, Caesar, 84. 2 6 V g l . SCHÜRER ( w i e A n m . 10) I, S. 2 4 0 f.
27 Jos bell 7,118. 28 J.-B. FREY, Corpus Inscriptionum Judaicarum (CIJ) I, Europe (Rom 1936), 556; D. NOY, Jewish Inscriptions of Western Europe, I, Cambridge 1993, Nr. 26, S. 43^*5. 29 Siehe Anm. 1. - Die Inschriften sind gesammelt bei FREY, CIJ (wie Anm. 28) I, Prolegomenon B. LIFSHITZ, New York 1975, und nun bei D. NOY, Jewish Inscriptions of Western Europe, II, The City of Rome, Cambridge 1995.
Organisationsformen und Ämter im antiken Griechenland und Italien
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Philo denkt hier natürlich an Trastevere als dem Hauptwohnviertel der Juden. Dies wird auch bezeugt von den Katakombeninschriften von Monteverde, in nächster Nachbarschaft gelegen. Doch auch andere Orte sind literarisch bezeugt: - der südöstlich vor der Porta Capena gelegene Hain der Quellennymphe Egeria,30 - auf dem Campus Martius, - in der Subura, „einem nicht gerade gut beleumdeten Geschäftsviertel".31 Die Nachrichten Juvenals über die Porta Capena werden gestützt durch eine aus dem 3. Jh. n. Chr. stammende Inschrift, die einen Juden Alexander bezeugt, der beim macellum, dem Fleischmarkt, lebte32, nicht weit von der von Juvenal beschriebenen Stelle. Im 1. Jh. n. Chr. gab es jüdische Siedlungen mit Sicherheit in Trastevere und vor der Porta Capena. Die Ansiedlung in Trastevere reicht schon ins 1. vorchristliche Jh. zurück, die Hinweise Juvenals erwecken nicht den Eindruck, als hätten sich Juden eben erst an der Porta Capena angesiedelt.33 Weitere Hinweise und Bestätigungen erhalten wir durch die Synagogen.34 3. „So war es Augustus bekannt, daß sie Synagogen besaßen ..." Die Synagogen, die Augustus bekannt sein konnten oder die ihm zeitlich zumindest nahestehen, sind aufgrund ihres Namens bzw. ihrer Mitglieder zu erschließen: 1. Synagoge der Augustenser35 (E. xcbv 'Aurouarriaicov; synagoga Augustensium). Ihr Name rührt wohl eben von dem den Juden freundlichen Augustus her. 2. Synagoge der Agrippenser36 (X. Aypi7rr|Gia>v; synagoga Agrippensium), benannt nach dem Schwiegersohn des Augustus, Marcus Vipsanius Agrippa (6212 v. Chr.), der für sein gutes Verhältnis zu Juden bekannt war. 3. Synagoge der Hebräer37 (I. 'Eßpaitov). Nach den Erwägungen von Leon und La Piana kann diese Synagoge zu den ältesten in Rom gehören: „The first 30 JUVENAL, Sat III, 10-18; dafür sprechen auch die jüdischen Coemeterien an der Via Appia; vgl. LAMPE (wie Anm. 21), S. 27, in der Vigna Randanini, an der Via Appia Pignatelli und in der Vigna Cimarra. 3 1 LAMPE ( w i e A n m . 2 1 ) , S. 2 8 ; v g l . a u c h STERN ( w i e A n m . 4 ) , S. 167. 3 2 CIJ ( w i e A n m . 2 8 ) I, 2 1 0 ; LAMPE ( w i e A n m . 2 1 ) , S. 2 7 .
33 Vgl. STERN (wie Anm. 2) I, Nr. 296, S. 97-98.
34 Zu den folgenden Angaben vgl. H. LICHTENBERGER, Jews and Christians in Rome in the Time of Nero: Josephus and Paul in Rome, in: ANRW 11.26.1 (im Druck). Grundlegend CIJ (wie Anm. 28) I, S. LXVM-LXXXI; H.J. LEON, The Jews of Ancient Rome, Philadelphia 1960, S. 135-166. 3 5 LEON ( w i e A n m . 2 1 ) , S . 142.
36 Ebd. S. 140 f. 37 Ebd. S. 147-149.
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group of Jews to form a congregation at Rome would naturally have called itself the Congregation or Synagogue of the Hebrews, as different from other religious or ethnic groups".38 Insgesamt wissen wir von mindestens 11 (vielleicht 13) Synagogen in Rom; genannt wird eine Proseuche in einer heidnischen Inschrift des 1. Jh.s, die an der republikanischen Mauer zwischen Porta Esquiliana und Porta Collina gefunden wurde. Daß wir unabhängig von der Nachweisbarkeit bestimmter Gemeinden mit einer Mehrzahl zu rechnen haben, dafür spricht eben Philo, wenn er von jcpoaeuXai berichtet.39 4. Bei der Synagoge der Calcarenser40, I. KaXKapriotov, hat man an eine berufsständische Synagogenvereinigung gedacht; der Name könnte sich aber von einem Straßennamen oder einer Region herleiten, die den Namen der Kalkarbeiter trug.41 5. X. Kanjrricrtcov42, vielleicht auch von der Ortslage her, dann vom Campus Martius. Wir erfahren von einem Kind, das Archon war und im Alter von 8 Jahren starb, dessen Vater Vater der Synagoge war; wichtig Veturia Paulla, eine Proselytin, die den Namen Sara annahm und Mutter dieser und der Volumnensier war.43 6. Ob sich die Synagoge von Elaia44 von der Olive oder von Elija herleitet oder, so Berliner, von der Velia auf dem Palatin, oder einen Herkunftsnamen darstellt, bleibt ungewiß. 7. Nur eine Inschrift bezeugt die Synagoge der Sekenier45, leicrivcov, nämlich die eines YpamiaxetK;. Ob dahinter ein Ortsname steht (Sekaneya - Sogane in Galiläa oder Seina in Nordafrika) oder ein anderer, muß offenbleiben. 8. Synagoge der Siburesianer46, Iißouptioicov, abgeleitet von der Subura, einem Stadtteil der kleinen Leute (wie Trastevere).
38 Ebd. S. 149. Vgl. auch G. LAPIANA, Foreign Groups in Rome Düring the First Centuries of the Empire, in: HThR 20 (1927), S. 356: Anm. 26. 3 9 Zu Verwendung und Bedeutung von Proseuche siehe die bahnbrechende Studie von M . HENGEL, Proseuche und Synagoge, in: G. JEREMIAS / H.-W. KUHN / H. STEGEMANN (Hrsg.), Tradition und Glaube. Das frühe Christentum in seiner Umwelt, FS K.G. KUHN, Göttingen 1 9 7 1 , S. 1 5 7 - 1 8 4 . 40 LEON (wie Anm. 21), S. 142-144. 41 Ebd. S. 143. 42 Ebd. S. 144 f. 43 CIJ (wie Anm. 28)1,523. 44 LEON (wie Anm. 21), S. 145-147. 45 Ebd. S. 149-151. 46 Ebd. S. 151-153.
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9. Synagoge der Tripolitaner47, TputoAmKöv, nach einer der zahlreichen Städte mit diesem Namen benannt. 10. Synagoge der Vernaclesianer48, BepvßtKXtov, BepvaKXriibpcov, BepvaicXriGtcov, offenbar im Transtiberienbereich gelegen. Wahrscheinlich handelt es sich um die Synagoge von in der Stadt Geborenen, die sich damit von den Einwanderern unterschieden (Schürer: die Einheimischen). 11. Die Synagoge der Volumnesianer49, Botarunvticicov, bekannt von der Veturia Paulla-Inschrift. Wahrscheinlich auch in Trastevere gelegen, benannt wohl nach einem Patron mit Namen Volumnius.50 Nach den Inschriften zu urteilen, hatte jede Gemeinde ihre eigenen Ämter und Amtsträger.51 4. „... und sich in ihnen versammelten, besonders am heiligen Sabbat, wenn sie öffentlich in der Philosophie ihrer Väter unterrichtet werden." Was in den Synagogen geschah, wird am deutlichsten in der Jerusalemer Theodotos-Inschrift zum Ausdruck gebracht: „zur Verlesung der Tora (vöM-oq) und zur Lehre der Gebote."52 Daß Philo bei seinem Bericht einerseits von seinen eigenen philosophischen Auslegungen ausgeht, andererseits ein hellenisiertes Publikum vor Augen hat, hat selbstverständlich seine Diktion geprägt. Wir werden beim Synagogengottesdienst selbst nicht verweilen, sondern über die Organisation der Gemeinden sprechen. Zuvor soll betont werden, daß die Synagogen weit über den gottesdienstlichen Gebrauch in starkem Maße soziale Funktionen ausübten. Das wissen wir nicht nur aus der Theodotosinschrift von Jerusalem, wo neben der Zweckbestimmung,Verlesung der Tora' und,Lehre der Gebote' von „Herberge und Nebenräumen und Wasseranlagen zum Quartier für diejenigen aus der Fremde, die (dieser Einrichtungen) bedürfen", gesprochen wird, sondern auch aus der Schilderung der Synagoge von Alexandria53, wo das Sitzen nach Berufsgruppen (auch) der Arbeitsvermittlung dient.54 Erkennbar wird die Funktion als Gemeinschafts- und Lebenszentrum auch bei der Synagoge von Stobi (Ende des 3. Jh. n. Chr.), wo die Erwähnung des Tricli47 48 49 50
Ebd. S. Ebd. S. Ebd. S. Analog
153-154. 154-157. 157-161. zur Herleitung von Augustus oder Agrippa.
5 1 C U ( w i e A n m . 2 8 ) I, S. L X X X I I - C I ; LEON ( w i e A n m . 2 1 ) , S. 1 6 7 - 1 9 4 .
52 Zu Text und Bibliographie siehe F. HÜTTENMEISTER / G. REEG, Die antiken Synagogen in Israel, I, W i e s b a d e n 1977, S. 1 9 2 - 1 9 5 .
53 tSuk 4,6; jSuk 55a,72-55b,8; bSuk 51b. 54 Apg 18,2-3.
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nium „wohl auf eine Verwendung als Herberge und auf Gemeinschaftsmahle hin (weist), die in der Synagogengemeinde abgehalten wurden".55 Zu Rechtsstellung und Organisation Die Synagogengemeinden im Westen, und damit in Rom, waren seit der Zeit Caesars rechtlich Collegien, und sie blieben als collegia licita bei den verschiedenen Maßnahmen gegen die Vereine unbehelligt. Die einzelnen Synagogen hatten jeweils ihre eigene Verwaltung und ihre Ämter; eine zentralistische Organisationsform, die alle Synagogen einem Vorsteher oder Gremium unterstellte, hat es in Rom nicht gegeben.56 Interessantes Licht fällt auf dieses Problem, wenn wir in Apg 28,17 lesen, Paulus habe die ,Leiter der Juden' zu sich ins Gefängnis gerufen. Ganz gleich, wie sich das historisch verhält - Lukas hat an die Repräsentanten der jüdischen Gemeinden in Rom gedacht (cf. Paulus in Korinth).57 Die in den Katakombeninschriften (und auch sonst) genannten Ämter zeigen deutlich, daß die Gemeinde sowohl von den Verfassungen der kleinasiatischen Poleis (Archonten) als auch der palästinischen Presbyterialstruktur geprägt waren.58 Sicher wird man daraus schließen dürfen, daß in den jüdischen Gemeinden Roms Einwanderer aus dem Land Israel und aus Kleinasien eine neue Heimat gefunden hatten. Diesen Titeln und Ämtern wenden wir uns im folgenden zu. Organisation und Ämter59 Die kontroverse Diskussion geht, wie schon erwähnt, darüber, ob es in Rom für die verschiedenen Gemeinden ein Oberhaupt bzw. ein zentrales Verwaltungsorgan gegeben habe. Als Beispiel für eine oberste Instanz wird gewöhnlich das Beispiel Alexandriens herangezogen, doch sind die Verhältnisse nicht vergleichbar. Das jüdische Politeuma Alexandriens hatte und brauchte anders als Rom einen obersten Repräsentanten, den Ethnarchen.60
55 M. HENGEL, Die Synagogeninschrift von Stobi, in: ZNW 57 (1966), S. 145-183, hier 183; zur sozialen Bedeutung ebd. S. 170-172. 56 Zu den verschiedenen Ämtern der jeweiligen Gemeinden siehe oben S. 19. 57 Siehe LICHTENBERGER (wie Anm. 34). 5 8 HENGEL ( w i e A n m . 5 5 ) .
59 Siehe oben Anm. 51. 60 HENGEL (wie Anm. 55), S. 151-159.
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Leon betont m. R., daß die Verhältnisse in Alexandrien und Rom nicht vergleichbar seien: die römische jüdische Gemeinde war ganz anders entstanden als die Alexandriens, die seit der Gründung der Stadt integraler und bedeutender politischer und wirtschaftlicher Faktor gewesen ist.61 Accordingly, in the absence of adequate evidence, it is preferable to reject as unproven the thesis of a central gerusia with a supreme head and proceed on the assumption that the eleven or more Jewish congregations of Rome were seperate and independent entities, each with its own Organisation and rules.62 An der Spitze einer Gemeinde steht, wie der Name besagt, der äpxicruvöc-ytüToq. Das entspricht zumindest terminologisch dem rosh ha-kneset der rabbinischen Quellen.63 Er war verantwortlich für den Ablauf des Gottesdienstes, bestimmte zur Tora-Lesung oder Predigt und lud Gäste ein, das Wort zu nehmen (daß Paulus in Synagogen Gelegenheit zur Predigt erhält, wird durch ihn veranlaßt sein). Mancherorts wird sein Amt auch mit dem Bau bzw. Ausbau von Synagogengebäuden in Verbindung gebracht;64 dieser Sachverhalt führte zu der alternativen Auffassung, daß der Synagogenvorsteher keine geistliche Funktion innehatte. Wie jemand das Amt erhielt und wie lange er es behielt, wissen wir nicht eindeutig, es konnte auf Lebenszeit sein (5tix; ßtou; oder ist es ein Ehrentitel?). Daß der Archisynagogos als oberster Repräsentant einer Gemeinde gelten konnte, wird auch aus dem Schimpfwort deutlich, mit dem Kaiser Alexander Severus (222-235) wegen seiner Zuneigung zum Judentum: .Syrischer Synagogenvorsteher' (Archisynagogos) betitelt wurde.65 Am häufigsten wird der Titel Archon66 genannt, in bezug auf acht römische Synagogen wird der Titel gebraucht, und es spricht nichts dagegen, daß die anderen nicht auch Archonten gehabt hätten. Aber auch trotz der häufigen Nennung wird ihre Funktion nicht recht deutlich. Offenbar wurden sie auf Zeit gewählt, wahrscheinlich nur für ein Jahr, aber wir haben auch Archonten auf Lebenszeit. Was ihre Funktion betrifft, so zeigen sich zwei grundsätzliche Möglichkeiten, die mit der schon aufgeworfenen Frage einer zentralen Instanz/Repräsentanz zusammenhängen: entweder stehen ein oder mehrere Archonten einer Gemeinde vor, bilden quasi den Vorstand; oder sie sind die Vertreter der Einzelgemeinden in einer Gerusie, der Repräsentanz bzw. des Vorstands aller Gemeinden (Roms).
6 1 LEON ( w i e A n m . 2 1 ) , S. 1 7 0 .
62 Ebd. 63 Ebd. S. 171. 64 Ebd. S. 171: Anm. 1. 6 5 B e i STERN ( w i e A n m . 2 ) II, Nr. 5 2 1 , S. 6 3 0 .
66 LEON (wie Anm. 21), S. 173-180.
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Am wahrscheinlichsten ist: jede Gemeinde hatte einen Archon für ein Jahr, Wiederwahl möglich. Das erklärt, warum dies das am häufigsten genannte Amt ist. Bezüglich ihrer Aufgaben hat man an die Führung des Geschäftsverkehrs gedacht; das ist plausibel, aber wir wissen es nicht. Da wir faktisch nur aus den Gräberinschriften über die Archonten unterrichtet sind, wissen wir zugleich meist ihr Lebensalter: oft Männer in den Dreißigern oder jünger hatten das Amt inne.67 Dabei gibt es auch einige Rätsel: ein Kind als Ötpxcov vfjjucx; - wahrscheinlich wurden Kindern (aus vornehmen Familien oder wenn der Vater ein Ehrenamt oder einen Ehrentitel in der Synagoge eingenommen hatte) solche Titel ehrenhalber verliehen.68 Anders verhält es sich wahrscheinlich mit dem Titel Mellarchon (künftiger Archon); da unsere Zeugnisse Grabinschriften sind, wird man schließen dürfen, daß es sich um designierte (gewählte) Archonten handelt, die vor Antritt ihres Amtes verstorben sind. Aus dem Titel Gerusiarches ist zu schließen, daß jede Gemeinde eine Gerusie, also einen Rat von Ältesten, hatte, dessen Vorsitzender der Gerusiarchos war. Ihre Lebensalter beim Tod sind deutlich höher als bei den Archonten. Auch hier können wir die Funktion nur indirekt erschließen: von einem heißt es: KCCGÖX; ßuboa; rtötvTcov.69 War die Aufgabe eher innergemeindlich als nach außen? Wahrscheinlich - geschlossen aus seinem Titel - war er nach dem Archisynagogos der zweite in der Gemeinde. In der Häufigkeit folgt dem Archontentitel in Rom der des grammateus (dazu auch Mellogrammateus). Was war seine Aufgabe? Die alte Forschung (Berliner, Schürer) sahen in ihm den sofer, den Gelehrten, den ,Rabbi'! Heute denkt man eher an den,Sekretär' der Gemeinde70; ich bin mir dabei nicht so sicher. Denn es handelt sich ja um ein Amt bzw. eine Funktion, die auf dem Grabstein zu notieren wichtig war. Also: wir wissen auch hier nicht genau, was seines Amtes war! Pater synagogae (raxfip awaycoYnO scheint ein Ehrentitel zu sein wie auch das Pendant Mater synagogae (jj-rixfip (ruvaToyyfji;).71 Es gibt noch eine Reihe weniger häufig belegter Ämter: Exarchon, Hyperetes, Phrontistes, Prostates.12
67 Ebd. S. 178. 68 Ebd. S. 179. 69 Ebd. S. 183. 7 0 Ebd. S . 1 8 4 . Dort die Angaben zu BERLINER und SCHÜRER. 71 Vgl. B. BROOTEN, Women Leaders in the Ancient Synagogue. Inscriptional Evidence and Background Issues, Chico 21987 (zu weiblichen Ämtern insgesamt); LEON (wie Anm. 21), S. 187— 188. 72 Ebd. S. 188-194.
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Exarchon: Ist es ein Archon oder ein ehemaliger Archon? Wir wissen es nicht. Hyperetes: vielleicht ein hazzan oder shammash. Vielleicht war das Amt so nachgeordnet, daß wir kaum Belege haben (also nicht wert, in der Grabinschrift festgehalten zu werden). Phrontistes scheint wichtiger gewesen zu sein, vielleicht so etwas wie der Finanzverwalter der Gemeinde. Prostates: vielleicht der Rechtsvertreter der Gemeinde nach außen, vor allem zu den politischen Instanzen. Noch einige andere Titel tauchen auf: Hiereus: sicher liturgische Aufgaben (Priestersegen), vielleicht nur diese (dabei auch eine Hierisa, die Ehefrau eines Priesters?). Mathetes sophon, Schüler der Weisen talmid hakham entspricht Nomomathes? Handelt es sich um Lehrer?73 Leons Darstellung läßt sich wie folgt zusammenfassen: Das Gesamtbild ist lückenhaft, es gibt aber keinen durchschlagenden Beleg dafür, daß ein Gremium und (oder) ein Vorsitzender der gesamten Judenheit Roms vorgestanden wären. Vielmehr spricht alles dafür, daß jede Gemeinde ihren Archisynagogos hatte, dessen Aufgabenbereich wohl im Religiösen lag. Ihm zugeordnet als Helfer war der Hyperetes, der Shammash. Wahrscheinlich hatte jede Gemeinde ihre Gerusie, ihren Ältestenrat, mit dem Vorsitzenden, dem Gerusiarch. Ein jährlich gewählter Archon ordnete die nicht-religiösen Dinge der Gemeinde. Der Grammateus war eher ein Schriftführer als ein Schriftgelehrter (?). Finanzielles verwaltete der Phrontistes. Daneben gab es Ehrentitel wie Vater bzw. Mutter der Synagoge.74 Freilich: Das meiste ist Vermutung. Juden in Griechenland Gegenüber dem aufsteigenden Rom bleibt Griechenland in den Jahrhunderten um die Zeitenwende im Blick auf die Geschichte der Juden ohne große Bedeutung: The diminished position of Greece during the imperial period is reflected in the history of the Jews in that country, who do not seem to have any major impact on the Jewish world of those times.75
Für die jüdische Diaspora in Griechenland ist wieder Philo unser Zeuge: In der Legatio ad Gaium läßt er Agrippa I. in seinem Brief an Caligula über Jerusalem sagen:
73 Vgl. dazu ebd. S. 193. 74 Ebd. S. 193 f. 75
STERN ( w i e A n m . 4 ) , S . 1 5 7 .
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Sie ist (...) meine Heimatstadt, aber auch die Metropole nicht nur des einen Landes Judäa, sondern auch der meisten anderen Länder dank der Kolonien, die sie im Laufe der Zeit in den Nachbarländern gründete, in Ägypten, Phönizien, Syrien - dem eigentlichen oberen Syrien und dem sogenannten Koilesyrien - ferner in den weiter gelegenen Ländern Pamphylien, Cilicien, dem größten Teil Asiens bis Bithynien und dem Inneren von Pontus, ebenso auch in Europa, Thessalien, Böotien, Makedonien, Ätolien, Attika, Argos, Korinth und den meisten und bedeutendsten Gegenden der Peloponnes.76
Agrippa nennt dann noch die Inseln Euböa, Cypern und Kreta.77 Bestätigt werden die Angaben Philos zum größeren Teil durch die Apostelgeschichte, und ich nenne nur die griechischen Städte, in denen Paulus in die Synagoge geht oder Juden begegnet: Thessalonike (Apg 17,11 ff.); Beröa (17,10 ff.); Athen (17,16 ff.); Korinth (18,4); Philippi, Proseuche (16,13 ff.) und schließlich Rom (28,17 ff.); Kreta in der Pfingstgeschichte (Apg 2,11). Und schließlich spricht das epigraphische Material eine deutliche Sprache.78 Im folgenden gebe ich nur eine knappe Übersicht: Athen: Über den Bericht der Apg hinaus (Apg 17) erfahren wir inschriftlich von Juden in Athen: Von einer „Ammia aus Jerusalem" (1. Jh. n. Chr.)79; im 2. vorchristlichen Jh. hören wir von einem Simon, Sohn des Ananias80; aus Piräus von einem „Demetrius, Sohn des Demetrius, der Jude".81 Korinth als Stadt jüdischer Besiedlung wurde schon genannt; bekannt ist der Türsturz (ruvalycoyTi 'Eßp[aia>v82; auch für Korinth gibt Apg wichtige Informationen (Apg 18). Patras83 und die Peleponnes (Mani)84 haben Zeugnisse jüdischer Besiedlung. Zu Makedonien sind es - auch nach dem Bericht der Apg (Apg 17,11 ff.) Thessaloniki85, Philippi (Apg 16,13 ff.)86 und Beröa (Apg 17,10 ff.). Wichtigstes Zeugnis ist in diesem Zusammenhang die Synagogeninschrift von Stobi; Stobi, 150 km nordwestlich von Thessalonika, nahe der Nordgrenze der
76
PHILO, L e g 2 8 1 .
77
PHILO, L e g 2 8 2 .
78 Vielleicht ist der Grabstein einer Anna, einer jüdischen Sklavin vom 4. Jh. v.Chr. (?) in Athen das älteste Zeugnis für Juden in Europa; vgl. HENGEL (wie Anm. 16), S. 121. 79
C I J ( w i e A n m . 2 8 ) 1 , 7 1 5 a : LIFSHITZ.
80
C ü e b d . 7 1 5 c : LIFSHITZ.
81
C I J e b d . 7 1 5 i : LIFSHITZ.
82 83 84 85 86
CU ebd. 718. CU ebd. 716-717. CIJ ebd. 720-721. CU ebd. 693; 66*-67*. Siehe jetzt die umfassende Arbeit über Philippi von P. PILHOFER, Philippi, Bd. christliche Gemeinde Europas, Tübingen 1995; Bd. 2 in Vorbereitung.
1:
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römischen Provinz Makedonien.87 Was die archäologischen Besonderheiten betrifft, verweisen wir auf M. Hengel: Offenbar hat der Eigentümer Polycharmos seine Villa, bisher schon quasi .Privatsynagoge', auf Grund eines Gelübdes der jüdischen Gemeinde überschrieben; neben dem eigentlichen gottesdienstlichen Raum ist von Nebengebäuden die Rede (wie wir sie ähnlich auch aus Ostia, Milet, Scythopolis, Na'aran, Beit Alpha kennen).88 Bedeutung für die Frage nach der sozialen Funktion der Synagoge hat das Triklinion, ein Speiseraum (vergleichbar solchen in heidnischen Tempeln). Für die Synagoge sind zwei Gesichtspunkte zu betonen: - Es war notwendig, einen Raum für gemeinsame Mahlzeiten, wie die am Sabbatabend, zur Verfügung zu haben. - Wegen des zunehmenden Heiligkeitscharakters der Synagogen seit der Tempelzerstörung waren solche Mahlzeiten im eigentlich gottesdienstlichen Raum immer weniger möglich.89 Diese Gemeinschaftsmahle hatten gerade in der Diaspora eine wichtige, identitätsstiftende und soziale Funktion. Die gemeinschaftlichen Veranstaltungen beschränkten sich nicht auf den Sabbatgottesdienst und das (persönliche) Gebet, sondern hatten vielerlei Aspekte. In Ostia finden wir mit der Synagoge Herbergsräume mit Liegebänken und eine Mazzenbäckerei. Neben der Lehre war die Synagoge auch Ort gerichtlicher Entscheidungen ([zeitweiliger] Ausschluß, Körperstrafen); auf die Bedeutung als Ort der Arbeitsvermittlung wurde schon hingewiesen90; in diesem Kontext ist der Hinweis auf Paulus signifikant, der in Korinth die aus Rom vertriebenen Aquila und Prisca trifft, bei denen er - wegen der Berufsgleichheit - Arbeit findet. Polycharmos, der Stifter, trägt den Ehrentitel „Vater der Synagoge", ein Titel, der in späteren Inschriften einen Amtsträger bezeichnet91, vergleichbar dem Archisynagogos. Auffallendstes Charakteristikum der Inschrift von Stobi ist die Nennung des Patriarchen (falls jemand an seiner Verfügung etwas ändern sollte, müsse er dem Patriarchen eine viertel Million Denare bezahlen). Bei dem Patriarchen kann es sich 92 nur um das Haupt der Judenschaft im spätrömischen Reich mit Sitz in Galiläa handeln (erster Amtsträger Jehuda I. Ha-Nasi seit 170 n. Chr.):
87
HENGEL ( w i e A n m . 5 5 ) , S . 1 4 5 .
88 Ebd. S. 165. 89 Ebd. S. 173. 90 Siehe oben S. 19. 91
HENGEL ( w i e A n m . 5 5 ) , S . 1 7 7 : A n m . 1 0 3 .
92 Ebd. S. 152-156.
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Als das geistlich-rechtliche Haupt der Juden hatte er das Vorrecht der Ordination von Rabbinen, konnte er Sendboten (apostoli) in die Diaspora entsenden und Amtsträger in den jüdischen Gemeinden des römischen Reiches ein- und absetzen, war er die letzte jurisdiktionelle Instanz in allen Fragen des Gesetzes und besaß auch das Recht, eine jährliche feste Steuer, das aurum coronarium, einzuziehen".93 Im Blick auf die Rolle des Patriarchen ist die Synagogeninschrift von Stobi von größter Bedeutung: „Für die Diaspora ist die Inschrift von Stobi vermutlich die früheste Nennung des ,Patriarchen'. Sie unterstreicht die Einflußnahme der palästinischen Judenschaft auf die Diaspora der spätrömischen Zeit".94 Von größter Bedeutung sind die Inseln: Kreta - worauf auch Tacitus verweist (s.u.); eine der Frauen des Josephus stammte aus der vornehmsten Familie von Kreta.95 Die schon erwähnte Stelle im Brief des Agrippa96 spricht davon, daß die Inseln, unter ihnen Kreta, „voll von jüdischen Niederlassungen" sind. In diesem Zusammenhang wäre auch an den Pseudo-Alexander zu erinnern, der die Juden Kretas getäuscht hat.97 Van der Horst verweist als Quelle für die jüdische Diaspora98 in Kreta m.R. auf die Pfingstgeschichte Apg 2,11 („Kreter und Araber ..."). Von Kreta stammt das für das Verständnis der Funktionen von Frauen in den Synagogen so wichtige Zeugnis der Ioi