Wasserinfrastrukturen und Macht von der Antike bis zur Gegenwart 9783486781052, 9783486717310

Hydraulic systems are the visible embodiment of political power and critical determinants of social participation. In ad

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German Pages 288 Year 2014

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Table of contents :
Einleitung
Einführung: Wasserinfrastrukturen und Macht. Politisch-soziale Dimensionen technischer Systeme // Birte Förster und Martin Bauch
Infrastrukturen der Macht – Macht der Infrastrukturen. Überlegungen zu einem Forschungsfeld // Jens Ivo Engels und Gerrit Jasper Schenk
Vormoderne
Die Macht des fließenden Wassers. Hydrosysteme im kaiserzeitlichen Rom // Franziska Lang und Helge Svenshon
Macht und Wohlfahrt. Wasser und Infrastruktur im Imperium Romanum // Helmuth Schneider
„Aqua curanda est“. Wasserinfrastrukturen als Streitfaktor in der Stadt Catania von Kaiser Friedrich II. bis zu Alfons V. „dem Großmütigen“ (1220–1458) // Marco Leonardi
Les infrastructures fluviales et les pouvoirs dans la vallée de la Meuse, des origines à la fin du XVIe siècle // Marc Suttor
Zwischen Brandenburg, Pommern und Dänemark. Mittelalterliche Wasserwege- und Infrastrukturplanung am Beispiel der uckermärkischen Stadt Prenzlau // Sascha Bütow
Die umstrittene Kompetenz der geschworenen Müller in Prag. Böhmische Wasserbauexperten vom Mittelalter bis in die Neuzeit // Martina Maríková
Moderne
Höfische Repräsentation, soziale Exklusion und die (symbolische) Beherrschung des Landes. Zur Funktion von Infrastrukturen in der Frühen Neuzeit // Christian Wieland
Water as a Commodity? Debates and Conflicts on the (De)regulation of Water Infrastructures in Istanbul, 1885–1937 // Noyan Dinçkal
Karrieren, Patronage und „Infrastrukturpoesie“. Dimensionen der Infrastrukturgeschichte am Beispiel des russländischen und sowjetischen Zentralasien // Julia Obertreis
„Whose Power?“ Energie und Entwicklung in der Spätkolonialzeit am Beispiel des Kariba-Staudamms in der Zentralafrikanischen Föderation // Julia Tischler
Die Autorinnen und Autoren
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Wasserinfrastrukturen und Macht von der Antike bis zur Gegenwart
 9783486781052, 9783486717310

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Wasserinfrastrukturen und Macht von der Antike bis zur Gegenwart

Historische Zeitschrift // Beihefte (Neue Folge)

beiheft 63 herausgegeben von andreas fahrmeir und lothar gall

DOI

10.1515/9783486781052.fm

Birte Förster, Martin Bauch (Hrsg.)

Wasserinfrastrukturen und Macht von der Antike bis zur Gegenwart

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

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Dieses Papier ist alterungsbeständig nach din / iso 9706. Gestaltung: Katja v. Ruville, Frankfurt a. M. Satz: Roland Schmid, mediaventa, München Druck und Bindung: Grafik und Druck, München isbn 978-3-486-71731-0 e-isbn 978-3-486-78105-2

Inhalt

Einleitung Einführung: Wasserinfrastrukturen und Macht. Politisch-soziale Dimensionen technischer Systeme // Birte Förster und Martin Bauch _____

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Infrastrukturen der Macht – Macht der Infrastrukturen. Überlegungen zu einem Forschungsfeld // Jens Ivo Engels und Gerrit Jasper Schenk

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Vormoderne Die Macht des fließenden Wassers. Hydrosysteme im kaiserzeitlichen Rom // Franziska Lang und Helge Svenshon Macht und Wohlfahrt. Wasser und Infrastruktur im Imperium Romanum // Helmuth Schneider „Aqua curanda est“. Wasserinfrastrukturen als Streitfaktor in der Stadt Catania von Kaiser Friedrich II. bis zu Alfons V. „dem Großmütigen“ (1220–1458) // Marco Leonardi

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Les infrastructures fluviales et les pouvoirs dans la vallée de la Meuse, des origines à la fin du XVIe siècle // Marc Suttor

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Zwischen Brandenburg, Pommern und Dänemark. Mittelalterliche Wasserwege- und Infrastrukturplanung am Beispiel der uckermärkischen Stadt Prenzlau // Sascha Bütow

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Die umstrittene Kompetenz der geschworenen Müller in Prag. Böhmische Wasserbauexperten vom Mittelalter bis in die Neuzeit // Martina Maříková

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Moderne Höfische Repräsentation, soziale Exklusion und die (symbolische) Beherrschung des Landes. Zur Funktion von Infrastrukturen in der Frühen Neuzeit // Christian Wieland

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Water as a Commodity? Debates and Conflicts on the (De)regulation of Water Infrastructures in Istanbul, 1885–1937 // Noyan Dinçkal

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Karrieren, Patronage und „Infrastrukturpoesie“. Dimensionen der Infrastrukturgeschichte am Beispiel des russländischen und sowjetischen Zentralasien // Julia Obertreis

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„Whose Power?“ Energie und Entwicklung in der Spätkolonialzeit am Beispiel des Kariba-Staudamms in der Zentralafrikanischen Föderation // Julia Tischler

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Die Autorinnen und Autoren

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Einleitung

Einführung: Wasserinfrastrukturen und Macht Politisch-soziale Dimensionen technischer Systeme von Birte Förster und Martin Bauch

Wasserinfrastrukturen zählen zu den facettenreichsten technischen Großsystemen. Sie dienen nicht allein der Wasserversorgung, sondern regulieren, erweitern und begrenzen Wasserströme. Sie schützen vor Wasser und machen es nutzbar, sie stellen Techniken für Energiegewinnung sowie großräumige Bewässerungs- und Meliorationsprojekte bereit und sorgen für den Abtransport des Brauchwassers. Wasserinfrastrukturen sind genauso in der Lage, Naturräume langfristig zu verändern, wie urbane Zentren an Wasserstraßen oder an die Wasserversorgung anzuschließen. Damit stellen sie wesentliche Mittel zur Daseinsvorsorge zur Verfügung. Ihr bereits in der Antike hoher Technisierungsgrad macht sie indes anfällig und verletzbar: Sie erfordern nicht nur große gesellschaftliche Anstrengungen und Expertenwissen bei Planung, Bau und Einführung, sie müssen überdies fortwährend aufwändig gewartet, verbessert und erneuert werden. Dies gilt für antike Wasserinfrastrukturen, deren Vernachlässigung für frühmittelalterliche Kommunen langfristige ökonomische, soziale und kulturelle Folgen hatte, ebenso wie für den Wasserschutz im 20.Jahrhundert. Der Zusammenbruch der Deiche während der sogenannten Hollandsturmflut im Jahr 1953 etwa prägte die niederländische Gesellschaft nachhaltig. 1 Derlei Katastrophen konnten aber auch zur Weiterentwicklung von Techniken und Expertenwissen, zu verbessertem Küstenschutz wie zu effizienterer Energienutzung und Bewässerung führen. Als technische Großsysteme haben Wasserinfrastrukturen nicht nur eine technisch-materielle, sondern ebenso eine politisch-soziale Dimension. 2 An ihnen wer-

1 Wiebe B. Bijker; The Osterschelde Storm Surge Barrier. A Test Case for Dutch Water Technology, Management and Politics, in: Technology and Culture 43, 2002, 569–584. Den Hinweis auf diesen Beitrag verdanken wir Caterina Caetano da Rosa. 2 Renate Mayntz, Große technische Systeme und ihre gesellschaftstheoretische Bedeutung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 45, 1993, 97–108.

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den gesellschaftliche Aushandlungsprozesse über die Verwendung finanzieller Ressourcen sowie über territoriale Eingriffe sichtbar. Die Erforschung von Wasserinfrastrukturen erlaubt es, neue Perspektiven auf die Geschichte von Machtbeziehungen zu entwerfen, denn sie sind nicht nur Ergebnis, sondern zugleich Voraussetzungen, Instrumente und Quellen von Macht. Die Beiträge dieses Bandes untersuchen diese Machtbeziehungen erstmals epochenübergreifend. Sie fragen, wie Aushandlungsprozesse um Wasserinfrastrukturen soziale Beziehungen prägen und verändern oder gar erst etablieren. Während für die Moderne dazu erste Ansätze in der Forschung vorliegen 3, kann von einer so perspektivierten Infrastrukturgeschichte der Antike, des Mittelalters oder der Frühen Neuzeit bisher nicht gesprochen werden. Ein Beispiel aus Norditalien macht indes deutlich, wie lohnenswert es ist, den Zusammenhang von Infrastrukturen und Macht für die Vormoderne zu untersuchen: Am 13.Oktober 1461 übertrat der Montone, der die Stadt Forlì eigentlich von Osten her begrenzte und vor feindlichen Attacken schützte, seine Ufer. Über die hochwassergefährdete Vorstadt, wohl nicht zufällig das Wohngebiet der Armen 4, drangen die Wassermassen an verschiedenen Stellen nach Forlì ein. Darüber hinaus zerstörten die nun frei fließenden Wassermassen in der Ebene nördlich der Stadt weitere Ortschaften, zahlreiche Getreidefelder wurden vernichtet. Bei Ravenna, das er eigentlich nördlich umfloss, suchte sich der Montone sogar ein neues Bett. 5 Der Signore von Forlì 6 kam wegen der „Sintflut“ mit der Bürgerschaft zusammen, um Maßnahmen zu beraten, waren doch aus dem benachbarten Ravenna Boten eingetroffen, die mit großem Nachdruck auf die Errichtung schützender Dämme und Kanäle drängten. 7 Das Fehlen adäquater Wasserinfrastrukturen bekamen zwar margi-

3 Dirk van Laak, Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880–1960. Paderborn 2004; Jens Ivo Engels, Machtfragen. Aktuelle Entwicklungen und Perspektiven der Infrastrukturgeschichte, in: Neue Politische Literatur 55, 2010, 51–70. Wir verzichten hier auf eine ausführliche Literaturdiskussion und verweisen auf Kapitel II des Beitrags von Engels/Schenk. 4 Paolo Mettica, Cultura, potere, società nei cronisti tardomedievali, in: Augusto Vasina (Ed.), Il Medioevo. (Storia di Forlì, 2.) Bologna 1990, 137–154, hier 137–142. 5 Keineswegs zum ersten Mal: Pietro Zanghieri, Il corso del Montone e del Rabbi dalle epoche geologiche ai tempi attuali, in: Forum Livii 4, 1927, 29–35; 5, 1927, 26–33 u. 6, 1928, 51–64. 6 Francesco IV. Ordelaffi (1435–1466), siehe Augusto Vasina, Il dominio degli Ordelaffi, in: ders. (Ed.), Il Medioevo (wie Anm.4), 155–183, hier 178–180. 7 Giovanni di Pedrino Merlini, Cronica del suo tempo. Vol.2: (1437–1464). Ed. da Gino Borghezio e Marco

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nalisierte städtische Schichten am stärksten zu spüren, doch es war der Druck von außen, der den Stadtherrn zum Handeln bewegte. Forlì hatte schon früh angefangen, mit Wasserbauten die Gewalt der Flüsse Montone und Rabbi zu bändigen und zu nutzen. Seit 1205 verfügte die Stadt über ein Kanalsystem 8 zum Schutz gegen Hochwasser und für die Mühlenwirtschaft, die Instandhaltung der Wasserinfrastrukturen wurde bereits 1359 in den kommunalen Statuten geregelt. 9 Darüber hinaus hatten die innerstädtischen Kanäle auch eine symbolische Funktion, bildeten sie doch die Grenzen der contrade, der politischen Gliederungseinheiten der Stadt. 10 Die Kommune schritt vor dem Hintergrund dieser Wasserbautradition routiniert zur Tat: Innerhalb zweier Monate wurde ein neuer Graben ausgehoben, der im Ostteil der Stadt jegliche künftige Überflutung verhindern sollte. Beim ersten Spatenstich war der Signore präsent und viele Bürger gingen ihm dabei zur Hand; der Beginn der Bauarbeiten war eine willkommene Gelegenheit zur politischen Repräsentation. Dass Wasserinfrastrukturen aber mehr erforderten als Symbolpolitik, nämlich ein langes und finanziell aufwändiges Engagement, war dem Ältestenrat der Stadt sehr bewusst: Keine zwei Wochen nach der Überflutung schlossen sie mit dem Wasserbauexperten Giacomo Cardellino einen „Knebelvertrag“ über den Bau eines Wassergrabens inklusive Schleuse 11, der den engegniero mittels einer hohen Pfandsumme langfristig an Forlì band. 12 Diese Vertragsklausel und das hohe Gehalt Cardellinos lassen auf die guten Einnahmemöglichkeiten spätmit-

Vattasso. (Studi e testi, 34.) Rom 1934, 366. Der Chronist war Mitglied des Ältestenrates, der Anziani, und daher in die kommunalen Angelegenheiten eingebunden sowie Augenzeuge. 8 Marina Foschi/Giuliano Missirini/Luciana Prati, Forlì: Il canale di Ravaldino nel disegno della città, in: Il carrobbio 23, 1997, 45–50, hier 46. 9 Silvia Tagliaferri, Edilizia e urbanistica a Forlí in età comunale, in: Vasina (Ed.), Il Medioevo (wie Anm.4), 185–207, hier 202. 10 Foschi/Missirini/Prati, Forlì: Il canale di Ravaldino (wie Anm.8), 50. 11 Cardellino erhielt eine Summe von 90 Lire im Jahr in Aussicht gestellt, die wohl aus den Erträgen einer lokalen Wassermühle bestritten werden sollten. Übrigens war der Kanalneubau nicht die einzige hydrologische Ingenieursarbeit in Forlì zu dieser Zeit: Parallel wurde in den Jahren 1459–1462 ein Teil des quer durch die Stadt verlaufenden Ravaldino-Kanals mit einer Erweiterung des Palazzo Communale überbaut, vgl. Foschi/Missirini/Prati, Forlì: Il canale di Ravaldino (wie Anm.8), 47. 12 Zugunsten einer langfristigen Instandhaltung der Anlage wurde der hochbezahlte Experte seinerseits verpflichtet, mindestens zehn Jahre lang über den neuen Kanal samt Schleuse zu wachen und die hohe Summe von 1000 Lire am Sitz der anziani zu deponieren. Dieses Pfand war höher als der versprochene Lohn über zehn Jahre, vgl. di Pedrino Merlini, Cronica (wie Anm.7), 367f.

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telalterlicher Ingenieure in Italien schließen, sie offenbaren desgleichen die Sorge der anziani, ihr hochbezahlter Spezialist könne vor der Zeit abgeworben werden. Schon das knapp skizzierte Beispiel Forlìs wirft ein Licht darauf, wie komplex und dynamisch das Verhältnis von Wasserinfrastrukturen und Macht ist. Um diesem Befund gerecht zu werden, untersuchen die Beiträge dieses Bandes das Thema auf fünf unterschiedlichen Ebenen, die hier zunächst einmal benannt und weiter unten ausgeführt werden. Sie dienen dazu, Mehrdimensionalität, historische Wandelbarkeit und langfristige Folgen der Beziehung von Wasserinfrastrukturen und Macht abzubilden. Es geht uns erstens um das Verhältnis von Macht und Infrastrukturen allgemein, also um das Aushandeln von Machtbeziehungen, um die Einschränkungen oder Ausweitungen von Handlungsoptionen. Zweitens untersuchen die Beiträge, wie Macht anhand von Wasserinfrastrukturen sichtbar oder aber verschleiert wird. Ein drittes Thema ist die Frage, ob Wasserinfrastrukturen in der Lage sind, Macht zu konservieren und so die dominanten Machtbeziehungen zur Zeit der Planung oder Umsetzung zu speichern. In diesen Bereich fallen außerdem mögliche Abweichungen von der ursprünglich intendierten Nutzung. Viertens diskutieren die Beiträge, ob Wasserinfrastrukturen gesellschaftliche Integration fördern oder ob sie die Desintegration sozialer Gruppen oder von Regionen verstärken. Fünftens ist jene soziale Gruppe von besonderem Interesse, die sich durch ihr Wissen um Konstruktion, Betrieb und Erhalt unentbehrlich macht: Anhand von Experten lässt sich die mögliche Pluralisierung von Machtchancen nachvollziehen. All diese Fragen diskutieren die Artikel mit je unterschiedlichen Gewichtungen anhand empirischer Beispiele von der Antike bis zum Ende des 20.Jahrhunderts. Eingeleitet werden sie durch einen programmatischen Aufsatz von Jens Ivo Engels und Gerrit Jasper Schenk, der das Forschungsfeld „Infrastrukturen der Macht – Macht der Infrastrukturen“ auffächert und Machtwirkungen wie Machtfelder skizziert.

I. Infrastrukturen und Macht Grundsätzlich zu klären ist das Verhältnis von Macht und Infrastrukturen. Macht ist hier nicht allein im Weberschen Sinne als Durchsetzung von Herrschaftschancen zu verstehen, sondern ebenso als Ermöglichung und damit als Erweiterung

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von Handlungsoptionen, wie Jens Ivo Engels und Gerrit Jasper Schenk im dritten Teil ihres Beitrages ausführen. 13 Wir gehen davon aus, dass Infrastrukturen Machtbeziehungen rekonfigurieren und Handlungsoptionen eröffnen, denn technische Großprojekte zwingen die jeweiligen Akteure dazu, Machtverhältnisse neu zu verhandeln und festzuschreiben. Dies nimmt allerdings künftige Entscheidungen vorweg und schränkt die Handlungsoptionen nachfolgender Akteure ein. Häufig sind – in unterschiedlichen Abstufungen – sogar beide Varianten zu finden. Gerade diese Ambivalenz macht Infrastrukturprojekte zu lohnenswerten Untersuchungsobjekten für Machtanalysen. Macht wird unter anderem deshalb neu verhandelt, weil durch den Bau von Infrastrukturen neue Rechtsbeziehungen nötig, Institutionen gegründet, Besitzansprüche revidiert und Konzessionen vergeben werden. So konnten europäische Privatfirmen erfolgreich die jahrelange Verlängerung ihrer Konzessionen verhandeln, als die Istanbuler Stadtverwaltung 1887 und 1914 die städtische Wasserversorgung auf weitere Stadtviertel ausdehnen wollte, und so ihre Handlungsoptionen erweitern. 14 Zuwachs oder Verlust an Macht werden durch Infrastrukturen sogar erst ermöglicht, wie Marc Suttor in einer longue-durée-Perspektive darstellt: Der Zugang zu Zoll- und Anlegestellen sowie Flussquerungen war für die wirtschaftliche Entwicklung und damit für den Auf- wie den Abstieg von Kommunen entlang der Maas entscheidend. 15 Darüber hinaus ist die Einrichtung neuer Institutionen und somit die Koevolution von Wasserinfrastrukturen und Macht zu beobachten: 16 Die mit dem Bau römischer Wasserinfrastrukturen gewährten Durchgriffsrechte auf privates Eigentum zogen modern anmutende juristische Auseinandersetzungen nach sich, Bau und Erhalt von Infrastrukturen führte zu neuen Verwaltungsstrukturen. 17 Auch im mittelalterlichen Prag kam es nach Nutzungskonflikten zwischen Mühlenwirtschaft und Wasserschutz mit den „geschworenen Müllern“ zu einer neuen, paritätisch mit politischer Elite und Experten besetzten Institution, um deren Kompetenzen gleichwohl bis in 16.Jahrhundert fortwährend gerungen wurde. 18 Im Brandenburg des 13 Siehe dazu den Beitrag von Engels/Schenk. 14 Siehe dazu den Beitrag von Dinçkal. 15 Siehe dazu den Beitrag von Suttor. 16 Siehe dazu Kapitel III des Beitrags von Engels/Schenk. 17 Siehe dazu den Beitrag von Lang/Svenshon. 18 Siehe dazu den Beitrag von Mařiková.

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13. und 14.Jahrhunderts wiederum konnten Kommunen mittels Infrastrukturplanung ihre Eingriffsrechte über den unmittelbaren städtischen Bereich hinaus erweitern. 19 Macht wird bei den komplexen Planungs-, Bau- und Instandhaltungsmaßnahmen von Wasserinfrastrukturen also an vielen neuralgischen Punkten und häufig von unterschiedlichen Akteuren ausgehandelt. Dabei kann es nicht nur zur Erweiterung, sondern gleichermaßen zu Einschränkungen von Handlungsoptionen und Machtchancen kommen. Dies ist namentlich in jenen Gesellschaftsformen augenfällig, die sich ohnehin durch einen hohen Grad von asymmetrischen Machtbeziehungen auszeichnen, doch nicht auf diese beschränkt. Obendrein sind auch hier unterschiedliche Ebenen von Machtbeziehungen zu beobachten. Wenngleich die Bauherrin, die Föderation von Rhodesien und Nyasaland, schon wenige Jahre nach Einweihung des Kariba-Staudamms im Jahr 1963 ihr Ende fand, hat dessen Bau noch heute Nachwirkungen auf Anrainerstaaten wie auf die zwangsumgesiedelten Gwembe Tonga. Nichtsdestotrotz entstanden auf der Mikroebene neue Machtchancen: Dem Chief Councillor der Native Authority Hezekiah Habanayama etwa gelang es, bessere Umsiedlungsbedingungen für die Gwembe Tonga zu erreichen. Teile der Gwembe Tonga leisteten durch „stillen Protest“ Widerstand und nahmen damit zumindest Einfluss auf die Umsiedlungsmaßnahmen. Doch die Einschränkungen von Handlungsoptionen verlaufen nicht immer friedlich oder unwidersprochen. Ein Teil der Gwembe Tonga reagierte mit Gewaltaktionen auf die bevorstehende Umsiedlung, auch in anderen Epochen wurde gegen den Bau von Infrastrukturen protestiert: Der Bau repräsentativer Wasseranlagen der Medici in Pratolino führte nach erzwungenen Frondiensten zu wütenden Zerstörungen hydraulischer Konstruktionen. Und bereits aus antiken Wasserleitungen wurde illegal Wasser abgezweigt und so gegen den Ausschluss vom Versorgungsnetz vorgegangen. 20 Die historischen Fallbeispiele konterkarieren somit die Vorstellung, Macht werde schlicht vertikal projiziert und das Gefälle verlaufe dabei stets von oben nach unten.

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Siehe dazu den Beitrag von Bütow.

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Siehe dazu die Beiträge von Tischler, Wieland und Schneider.

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II. Sichtbarkeit und Verschleierung von Machtbeziehungen Wasserinfrastrukturen dienen neben ihrer Funktion als Daseinsvorsorge häufig als sichtbares Zeichen von Macht: Seien es Brunnen in Rom, die auf das päpstliche Engagement für die städtische Wasserversorgung hinweisen, Maßnahmen zum Wasserschutz, Staudämme als weithin sichtbare Zeichen von Modernisierung oder aufwändige Wasserspiele zur Erbauung der höfischen Gesellschaft – Wasserinfrastrukturen demonstrieren auf vielfältige Weise die Anwesenheit von und den Anspruch auf Macht und Herrschaft. Besonders deutlich wird dies, wenn teure Aquädukte im antiken Rom eben nicht der bereits gesicherten Grundversorgung dienen, sondern der Inszenierung von Pracht und der Wandlung Roms in eine urbs ornata, um so die Akzeptanz neuer politischer Verhältnisse zu erhöhen. Die dauerhafte Sicherung und Erweiterung von Wasserinfrastrukturen wären zudem ohne die Machtfülle der principes und deren entsprechender Finanzkraft nicht möglich gewesen – erneut ein Anzeichen dafür, dass und wie Wasserinfrastrukturen Macht sichtbar machen. Die Visualisierung erfolgte konkret durch Namensgebung, die durch Inschriften oder Statuen unterstützt wurde. 21 In der Frühen Neuzeit repräsentierten die eingesetzten Techniken der Naturbeherrschung nicht allein Macht, sondern zugleich den Anspruch auf Machtausübung. Der Aspekt der Nützlichkeit von Wasserinfrastrukturen war dabei nachrangig, wie Christian Wieland anhand der Erschließungsmaßnahmen des Prinzen Heinrich von Preußen in Rheinsberg erläutert. Diese dienten vorrangig der Überhöhung des Herrscherhauses qua öffentlicher Demonstration von Naturbeherrschung. 22 Wasserinfrastrukturen können Machtbeziehungen jedoch auch verschleiern: durch Inklusionsversprechen, wie etwa die kostenfreie Trinkwasserversorgung von Hospitälern und Schulen in Istanbul; als Symbol nationaler Einheit eines neugegründeten Staates; durch scheinbar neutrale Sachzwänge wie die Notwendigkeit, Teilrepubliken oder Kolonien zu industrialisieren und modernisieren. 23 Mit dem

21 Diese Formen imperialer Visualisierung von Macht durch Infrastrukturen fand Nachahmung durch begüterte Privatpersonen, die Aquädukte (teil-)finanzierten. Siehe dazu die Beiträge von Lang/Svenshon und Schneider. 22 Siehe dazu Kapitel II des Beitrags von Wieland. Allerdings konnte diese Praxis zurückfeuern, wenn die Techniken, wie Wieland am Beispiel der ätzenden Bemerkungen des Herzogs von Saint-Simon zu den übelriechenden Wasseranlagen in Versailles vorführt. 23 Siehe dazu die Beiträge von Tischler und Dinçkal.

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Begriff der „Infrastrukturpoesie“ bezeichnet Julia Obertreis jene Legitimierungsdiskurse, mithilfe derer sich zum einen Experten und Entscheidungsträger verständigten und zum anderen die Bevölkerung eingebunden werden sollte: Metaphern von erblühenden Wüsten und schöpferischer Kraft der Ingenieurskunst machten großräumige Veränderungen der Naturlandschaft in Zentralasien zu einer nahezu märchenhaften Erzählung von Fortschritt, paradiesischen Gärten und heroischen Ingenieuren. Machtbeziehungen wurden auf diese Weise gleichermaßen legitimiert und verschleiert. 24

III. Speicherung und Zirkulation von Macht Wasserinfrastrukturen speichern Macht und konservieren so die dominanten Machtbeziehungen zur Zeit der Planung oder Umsetzung. Im Einzelfall ist sogar eine rein ideelle Speicherung denkbar: Frühneuzeitliche Diskussionen in der lokalen Historiographie der Stadt Prenzlau zeugen vom langen Nachhall der seit 200 Jahren nicht mehr aktiv betriebenen Schifffahrt und der verfallenen oder umgenutzten Flutrinnen. 25 Ferner ermöglichen Wasserinfrastrukturen aufgrund ihres Netzcharakters die Zirkulation von Macht. Diese erfolgt wie die Speicherung über die materielle Seite der Infrastrukturen: Entscheidungen, wer an Energienetze und Trinkwasserversorgung angeschlossen wird, wer von Wasserschutzmaßnahmen profitiert und wer nicht, werden zwar in einer bestimmten historischen Konstellation getroffen, die Folgen dieser Entscheidungen betreffen Nutzerinnen und Nutzer dagegen noch Jahre später. Ein mehrere Epochen übergreifendes Beispiel liefert eine Stadt wie Catania, deren Toponomastik seit der Antike durch Wasserinfrastrukturen bestimmt wurde. Natürliche Anlegestellen wurden ebenfalls seit der Antike durch Hafenanlagen ergänzt und blieben über fast 2000 Jahre von großer ökonomischer Bedeutung; nachhaltig zerstört wurden diese langlebigen Infrastrukturen allenfalls durch Erdbeben und Vulkanausbrüche. 26 Die Verfügungsgewalt über den Wasserweg und ihn kreuzende Brücken war im

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Siehe dazu Kapitel III des Beitrags von Obertreis, in dem sie darüber hinaus darauf hinweist, wie die

Infrastrukturpoesie nach 1990 in sich zusammenfiel.

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Siehe dazu den Beitrag von Bütow.

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Siehe dazu den Beitrag von Leonardi.

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8. und 9.Jahrhundert noch ein königliches Prärogativ, während diese Rechte seit den Ottonen schrittweise an Anlieger, also laikale und kirchliche Machthaber der Region abwanderten. Die Ausbildung des Lehnswesens und die zunehmende Verschränkung von weltlicher Macht und Kirche spiegelt sich auch in der Verfügungsgewalt über Wasserinfrastrukturen – Macht verschob sich im Lauf des Mittelalters von der übergeordneten auf die mittlere Herrschaftsebene. 27 Offensichtlich wird die infrastrukturelle Speicherung und Zirkulation von Macht in modernen imperialen Kontexten, wenn etwa Staudämme zwecks Stromerzeugung für die Kupfer- oder Aluminiumproduktion errichtet und so Konzepte von colonial development bis in die Gegenwart auf Dauer gestellt wurden. Zusätzlich hatte der mit dem Staudammbau von Kariba verbundene wirtschaftspolitische Schwerpunkt auf Kupferproduktion und -export nach dem Einbruch der Kupferpreise in den 1970er Jahren schwerwiegende Folgen für die Nachfolgestaaten. 28 Nicht immer überdauern koloniale Projekte indes den Zusammenbruch von Imperien, wie das Prestigeprojekt zur Bewässerung der usbekischen „Hungersteppe“ zeigt. Dennoch setzte dieses Projekt fast 40 Jahre lang Modernisierungsvorstellungen um, welche die Moskauer Zentrale in den 1950er Jahren propagiert hatte und stellte diese so auf Dauer. 29 Schließlich können Infrastrukturen Einfluss auf das Verhalten der Nutzerinnen und Nutzer nehmen und so selbst Eigenmacht 30 entwickeln. Selbstredend sind empirische Beispiele für eine solche Umnutzung rarer gesät, doch es gibt sie. Ein Beleg sind die römischen Thermen, die komplexesten Bauten der Römer. Sie waren zwar Figurationen kaiserlicher Handlungsmacht, wurden aber dessen ungeachtet zu potentiellen Begegnungsräumen aller sozialen Schichten. Nicht zuletzt in diesem Zusammenhang entwickelten die Wasserinfrastrukturen Eigenmacht – so Franziska Lang und Helge Svenshon: Als Synonyme römischer Kultur legten sie den Kaiser auf ihre kostspielige Unterhaltung fest und schränkten ihn so in seiner Entscheidungsmacht zu einem gewissen Grad ein. 31

27 Siehe dazu den Beitrag von Suttor. 28 Siehe dazu den Beitrag von Tischler. 29 Siehe dazu den Beitrag von Obertreis. 30 Siehe dazu Kapitel I des Beitrags von Engels/Schenk. 31 Siehe dazu den Beitrag von Lang/Svenshon.

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IV. Gesellschaftliche Integration oder Desintegration? Schon in der Antike gehörten Inklusionsversprechen und das Gemeinwohl in der Regel zu jenen Diskursen, die Infrastrukturen legitimieren und ihren Bau umsetzen sollten. 32 Infrastrukturen, so wurde und wird vermittelt, ermöglichen und fördern gesellschaftliche Integration, beispielsweise durch Zugang zu Verkehrsmitteln oder Wasserversorgung. So konnte etwa die Lebensqualität in ärmeren Stadtvierteln durch Anschluss an die Verteilerstrukturen der Aquädukte gehoben werden. 33 Private Wasserzuleitungen in den Städten signalisierten hingegen ein besonderes Nahverhältnis zum Kaiser, was sich zum Beispiel in einem Vielfachen der Wassermenge für die reichen Privatleute abzeichnete, zieht man die öffentlichen Brunnen zum Vergleich heran. Die Wasserverteilung spiegelte also sehr genau die sozialen Hierarchien Roms im frühen Prinzipat wider. 34 Am Beispiel der selten behandelten kleinen Wasserläufe arbeitet der Beitrag von Sascha Bütow die Omnipräsenz von Wasserinfrastrukturen im mittelalterlichen Brandenburg heraus. Als fein verästeltes Netz boten sie der Region Anschluss an den großen Handelsraum der Hanse. An der Maas erlaubte der mit den Flusshäfen verbundene Stapelzwang lokalen Machthabern die Kontrolle über Waren und Preise, schloss aber die anliegenden Kommunen an Handelswege an und förderte so die lokale Wirtschaft. 35 Wasserinfrastrukturen konnten darüber hinaus durch nicht intendierte Nutzung sozial integrierend wirken, wie der Beitrag von Marco Leonardi andeutet: In Catania wurden Brunnen zu Brennpunkten der lokalen Heiligenverehrung und Erinnerungsorten an lokale Heroen, eine Therme sogar zur Kirche umgewidmet und umgenutzt. Infrastrukturen können obendrein soziale Segregation verstärken oder gar erst schaffen. Eines der berühmtesten Beispiele sind wohl die von Robert Moses konstruierten Brücken auf Long Island, die so tief hingen und noch immer hängen, dass es nur Autofahrern möglich war, dorthin zu gelangen, Busverkehr hingegen verhindert wurde. Die Effekte der Brücken waren damit, so der Technikhistoriker Langdon 32

Siehe dazu den Beitrag von Schneider. Neben der Förderung der öffentlichen Gesundheit wurden bei

Wasserinfrastrukturen, so Helmuth Schneider, auch ästhetische und ökonomische Argumente hinzugezogen.

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Siehe dazu den Beitrag von Lang/Svenshon.

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Siehe dazu den Beitrag von Schneider.

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Siehe dazu den Beitrag von Suttor.

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Winner, zugleich sozial exklusiv und sie schrieben die Rassensegregation materiell fest. 36 Für die Frage nach Integrations- und Desintegrationseffekten spielt zudem die geographische Lage eine Rolle: Die Inklusion einer Region beim Wasserschutz kann die Exklusion einer anderen nach sich ziehen – mit durchaus fatalen Folgen, wie schon das Beispiel Forlì zeigt. Schließlich ist zu fragen, wer in den Entscheidungsprozessen eigentlich als Nutzer der Infrastruktur konzipiert wurde. Bei den Planungen zum Volta River Project hieß es beispielsweise in einem White Paper von 1952, die Energiegewinnung in der Goldküste solle vorrangig der Aluminiumproduktion vor Ort und damit der britischen Aluminiumindustrie dienen. 37 In Istanbul konzentrierten sich die privaten Wasserversorgungsfirmen zunächst auf Stadtviertel, deren Bewohner den Komfort der Wasserversorgung finanziell entlohnen konnten und wollten. In der Frühen Neuzeit schufen Wasserinfrastrukturprojekte zwar neue Kommunikationsmöglichkeiten für die höfische Gesellschaft. Nichtsdestoweniger waren sie Elemente demonstrativer Exklusion, denn die zur Schau gestellte Naturbeherrschung diente als Bühne für den eigenen Herrschaftsanspruch und damit als Bühne zur Abgrenzung von den Beherrschten. 38 Der engen Verzahnung sozialer, ökonomischer und politischer Integration oder Desintegration hat die Infrastrukturforschung lange wenig Aufmerksamkeit geschenkt. 39 Doch gerade die desintegrierenden Wirkungen technischer Großsysteme können Aufschlüsse über deren langfristige Folgen bieten.

V. Wasserinfrastrukturen und Experten Dass der Bau von Infrastrukturen zum sozialen Aufstieg von Fachleuten führte, die sich durch ihr Wissen um deren Konstruktion und Betrieb unentbehrlich mach36 Langdon Winner, Do Artifacts Have Politics?, in: Donald MacKenzie/Judy Wajcman (Eds.), The Social Shaping of Technology. Milton Keynes/Philadelphia 1985, 26–38. Die These Winners blieb allerdings nicht unwidersprochen, s. Bernward Joerges, Die Brücken des Robert Moses. Stille Post in der Stadt- und Techniksoziologie, in: Leviathan 27, 1999, 42–53. 37 Siehe National Archives, CAB 129/57, Bl. 11f., URL: http://filestore.nationalarchives.gov.uk/pdfs/large/ cab-129–57.pdf. 38 Siehe dazu die Beiträge von Dinçkal und Wieland. 39 Jens Ivo Engels, Infrastructures and Fragmentation. The Limits of the Integration Paradigm, in: Martin Schiefelbusch/Hans-Liudger Dienel (Eds.), Linking Networks. The Formation of Common Standards and Visions for Infrastructure Development. Farnham 2014, 19–33.

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ten, ist bereits in der Antike zu beobachten. Anhand von Experten lässt sich beispielhaft die Pluralisierung von Machtchancen durch Infrastrukturen dokumentieren: Die für die Errichtung von Wasserinfrastrukturen im römischen Imperium notwendigen Experten und Facharbeiter konnten nur durch die Einrichtung einer cura aquarum genannten Behörde dauerhaft gesichert werden, die rasch größer und größer wurde. Um einem möglichen Kontrollverlust über die Experten entgegen zu wirken, wurde deren Wissen verschriftlicht und damit allgemein zugänglich gemacht. 40 Am Beispiel der „geschworenen Landesmüller“ zeigt sich, wie der Kompetenzanspruch einer Expertengruppe lange bestritten und zurückgewiesen wurde. Einen Bedeutungszuwachs verdankten sie erst im 17.Jahrhundert ihrem Fachwissen, das sie zu wichtigen Beratern bei der Schiffbarmachung der böhmischen Flüsse werden ließ. Doch schon im 18.Jahrhundert lösten akademisch ausgebildete Ingenieure und Landvermesser die „geschworenen Müller“ ab – an Experten wurden neue Anforderungen gestellt, denen die aus der Praxis stammenden Müller nicht mehr genügten. Im europäischen Vergleich gewannen Expertengruppen wie die „geschworenen Müller“ wohl vor allem dann an dauerhaftem Einfluss, wenn sie über eigene Finanzquellen für Infrastrukturarbeiten verfügten. 41 Im 20.Jahrhundert gelang es Experten aus den zentralasiatischen Unionsrepubliken im Rahmen von Großprojekten wie der Bewässerung der usbekischen „Hungersteppe“, Patronagenetzwerke zu etablieren, die Systemwechsel zumindest teilweise überdauerten. Zudem ermöglichten diese Netzwerke seit den 1940er Jahren auch indigenen Ingenieuren Karrierechancen. Ihre Machtposition stärken konnten die Infrastrukturexperten immer dann, wenn die Organisation ihres Projektes besonders hochrangig angesiedelt war. 42 Wasserbauexperten verantworteten also mehr als Bau und Betrieb; sie bestimmten neben dem technischen ebenso den sozialen Charakter einer Infrastruktur mit und waren alles andere als neutrale Fachleute. Wasserinfrastrukturen ermöglichen, verleihen und beschneiden Machtchancen. Allerdings geschieht dies in den einzelnen Abschnitten ihres „Lebenszyklus“ auf unterschiedliche Weise. Machtkonzentration, Machtchancen und Handlungsoptionen müssen, das dokumentieren die Beiträge dieses Bandes, auf unterschiedlichen

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Siehe dazu die Beiträge von Lang/Svenshon und Schneider.

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Siehe dazu den Beitrag von Maříková.

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Siehe dazu besonders Kapitel II im Beitrag von Obertreis.

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Ebenen und im zeitlichen Verlauf (neu) untersucht werden. Die Machtbeziehungen, die sich anhand technischer Systeme beobachten lassen, sind hochdynamisch und wandelbar, der materielle Charakter von Wasserinfrastrukturen verleiht ihnen darüber hinaus Dauer. Sie sind damit exzellente Untersuchungsobjekte für die geschichtswissenschaftliche Forschung zu Macht und Herrschaft, und das über alle Epochen hinweg. Der vorliegende Band geht zum einen auf die interdisziplinäre Ringvorlesung „Infrastrukturen und Macht“ zurück, die wir im Wintersemester 2010/11 gemeinsam mit Jochen Hack vom Centrum für Interdisziplinäre Studienschwerpunkte (CiSP) an der Technischen Universität Darmstadt veranstaltet haben. Außerdem versammelt der Band ausgewählte Beiträge der Sektion „Infrastrukturen der Macht“ des Historikertags an der Humboldt-Universität zu Berlin im Jahr 2010. Für die Möglichkeit, die Ergebnisse als Beiheft der Historischen Zeitschrift zu veröffentlichen, sind wir deren Herausgebern Lothar Gall und Andreas Fahrmeir zu großem Dank verpflichtet. Danken möchten wir überdies den beiden Redakteuren der Historischen Zeitschrift, Jürgen Müller und Eckhardt Treichel, für ihre Unterstützung bei der Bandredaktion sowie Clotilde Esnault, Carolin Grimm, Denise Herfurth und Kathrin Reichert für ihre Mitarbeit am Lektorat und Detlev Mares für seine hilfreichen Bemerkungen zur Einleitung. Alle Beiträge wurden für den Druck grundlegend überarbeitet, darüber hinaus wurden für die Veröffentlichung einige Beiträge zusätzlich aufgenommen. Der vorliegende Band kann so die Bandbreite der aktuellen Forschung zur Geschichte der Infrastrukturen von der Antike bis zur Zeitgeschichte präsentieren. Dafür danken wir nicht zuletzt den Autorinnen und Autoren dieses Beiheftes.

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Infrastrukturen der Macht – Macht der Infrastrukturen Überlegungen zu einem Forschungsfeld von Jens Ivo Engels und Gerrit Jasper Schenk

Infrastrukturen sind viel mehr als bloße Technik. 1 Zwar neigen wir im Alltag dazu, Infrastruktursysteme und ihre Leistungen für selbstverständlich und gewissermaßen sekundär zu halten. Doch die sozialwissenschaftliche und historische Forschung der letzten Jahrzehnte hat zu der Erkenntnis geführt, dass Technik politisch und sozial weder voraussetzungslos noch folgenlos ist. Und dies gilt für Infrastrukturen in besonderem Maß. Erhebliche Ressourcen sind in sie investiert, enorme Planungs- und Betriebsanstrengungen gelten ihnen, Heere von Experten und Entscheidern sind mit ihnen beschäftigt. Die Relevanz von Infrastrukturen steht außer Frage. Ungeklärt ist bislang, wie die Beziehung von Infrastrukturen und Macht beschaffen ist. Systematische Erkenntnisse oder gar eine Theorie über das Wechselverhältnis von Macht und Infrastruktur sucht man vergeblich. Generell spielen Infrastrukturen im wissenschaftlichen Mainstream der Geistes- und Sozialwissenschaften immer noch eine untergeordnete Rolle – umgekehrt ist die Untersuchung von Macht wohl einer der wichtigsten Inhalte historischer Forschung. Dieses Missverhältnis gilt es aufzulösen. Die hier entwickelten Überlegungen sind ein Plädoyer für eine historiographische Beschäftigung mit dem Wechselverhältnis von Infrastrukturen und Macht. Wohl kaum ein technisches Phänomen ist derart zentral für alle entwickelten Gesellschaften. Das Prinzip der infrastrukturellen Versorgung ist mutatis mutandis seit der klassischen Antike ein Strukturmerkmal europäischer Gesellschaften. 2 Es bietet

1 Die Entstehung der hier vorgestellten Überlegungen wurden maßgeblich in einem Arbeitskreis über „Infrastrukturen der Macht – Macht der Infrastrukturen“ an der Technischen Universität Darmstadt entwickelt (siehe http://www.geschichte.tu-darmstadt.de/index.php?id=macht, Zugriff 12.März 2012). Die Autoren danken daher allen daran Beteiligten für ihren beträchtlichen Beitrag zu den gemeinsam entwickelten Ideen: Martin Bauch, Birte Förster, Julika Griem, Mikael Hård, Andreas Kunz, Jochen Monstadt, Peter Niesen, Marc Rölli, Dieter Schott, Christian Wieland. 2 Damit sollen die frühen infrastrukturellen Leistungen außereuropäischer Kulturen (z.B. in China, Me-

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daher ideale Voraussetzungen für epochenübergreifende Untersuchungen. Wir möchten an dieser Stelle nicht nur auf die Potenziale dieses Forschungsfeldes hinweisen. Vielmehr stellen wir eine Reihe von Hypothesen über das Verhältnis von Infrastrukturen und Macht auf, die die empirische Forschung anleiten können. Wir versuchen sie so zu konzipieren, dass sie kultur- und epochenübergreifend überprüft werden können. Zu den Begriffen Infrastruktur, Macht und Koevolution nehmen wir weiter unten ausführlich Stellung. Hier sei nur kurz unterstrichen, dass wir uns auf technische Infrastrukturen beziehen, die in der Regel eine Netzwerkstruktur aufweisen. Soziale Infrastrukturen und Infrastrukturen als Organisationen schließen wir nicht in unsere Untersuchung ein.

I. Beobachtungen und Ausgangshypothesen Infrastrukturen erfüllen in allen Gesellschaften zentrale Funktionen, so dass Machtausübung nicht ohne ihre Berücksichtigung verstanden werden kann. Hierzu zunächst einige Beobachtungen: – Infrastrukturen sind raum-zeitlich omnipräsent; sie durchziehen und markieren den Raum und die Dauer menschlicher Existenz. Das gilt für die Topographie ebenso wie für soziale und imaginäre Räume, vom Zentrum bis zur Peripherie. – Die meisten Infrastrukturen sind langlebig.

sopotamien und Ägypten) nicht in Abrede gestellt, sondern nur das lange Überdauern bestimmter Infrastrukturen in Europa auch über Transformationsphasen hinweg hervorgehoben werden. Zum Fortbestand etwa des römischen Straßennetzes über die Jahrhunderte der sogenannten Völkerwanderung hinweg und seine (wirklich nur partiell?) prägende Wirkung bis in die Neuzeit hinein vgl. Thomas Szabó, Der Übergang von der Antike bis zum Mittelalter am Beispiel des Straßennetzes, in: Uta Lindgren (Hrsg.), Europäische Technik im Mittelalter 800–1400. Tradition und Innovation. Ein Handbuch. Berlin 1996, 25–43, hier 25f., 37f.; Arnold Esch, Römische Straßen in ihrer Landschaft. Das Nachleben antiker Straßen um Rom mit Hinweisen zur Begehung im Gelände. (Zaberns Bildbände zur Archäologie, Sonderhefte der antiken Welt.) Mainz 1997; ders., Auf der Straße nach Italien. Alpenübergänge und Wege nach Rom zwischen Antike und Spätmittelalter. Methodische Beobachtungen zu den verfügbaren Quellengattungen, in: Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Straßen- und Verkehrswesen im hohen und späten Mittelalter. (Vorträge und Forschungen, Bd. 66.) Ostfildern 2007, 19–48; Raymond van Uytven, Landtransport durch Brabant im Mittelalter und im 16.Jahrhundert, in: Friedhelm Burghard/Alfred Haverkamp (Hrsg.), Auf den Römerstraßen ins Mittelalter. Beiträge zur Verkehrsgeschichte zwischen Maas und Rhein von der Spätantike bis ins 19.Jahrhundert. (Trierer historische Forschungen, Bd. 33.) Mainz 1997, 471–499, hier bes. 471–479.

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– Viele Infrastrukturen sind komplex und erfordern einen hohen Aufwand für Planung, Organisation, Finanzierung. Daher sind in der Regel viele und maßgebliche Akteure in ihre Entstehung wie auch ihren Betrieb einbezogen. – In den betroffenen Gesellschaften werden machtrelevante Ressourcen durch Infrastrukturen gebunden, aber auch distribuiert. – Als komplexe und tendenziell omnipräsente Systeme entwickeln Infrastrukturen Eigendynamiken, führen zu Pfadabhängigkeiten und in Zwangssituationen; sie üben also eine spezifische Form von Macht aus. – Infrastrukturen lösen kognitive Prozesse, reflexive Diskurse und normative Setzungen hinsichtlich der Partizipation an ihnen aus. – Infrastrukturen bilden Schnittstellen zwischen Gesellschaft und Natur, Individuum und Kollektiv, Materie und kognitiven Prozessen, Ressourcen und (Re-) Produktion, Gegenwart und Zukunft. Solche Schnittstellen sind wichtige Zonen der Machtaushandlung. – Technische Infrastrukturen besitzen stets eine materielle Dimension. An ihnen lässt sich das Zusammenspiel sozialer und kultureller Prozesse mit technischen Artefakten untersuchen. Aus diesen Beobachtungen lassen sich folgende Hypothesen entwickeln: Infrastrukturen verleihen Macht: Die Eigentümer der Wasserversorgung sind zentrale Akteure; wer am Wasserhahn sitzt, kann seine Nachbarn austrocknen. Infrastrukturen zwingen zur Aushandlung von Machtverhältnissen, etwa im Zusammenspiel von Planungsbehörden, Versorgungsunternehmen und Politik. Infrastrukturen visibilisieren Machtansprüche – prächtige Brunnenanlagen verbildlichen seit der Antike das Selbstverständnis von Stadt- und Landesherren. Historistische Wasserschlösser des späten 19.Jahrhunderts repräsentieren ebenso wie die betonierten pilzartigen, über das gesamte Land verteilten Wassertürme in Frankreich den technischen Gestaltungswillen der jeweiligen Obrigkeit. Infrastrukturen speichern Macht, wenn sie Dominanzverhältnisse über Revolutionen, Systemtransformation und Entkolonisierung hinweg stabilisieren. Infrastrukturen legitimieren Macht, wenn infrastrukturelle Leistungen die raison d’être des Wohlfahrtsstaates kondensieren. Infrastrukturen kaschieren Machtansprüche, wenn mit ihnen begründete tatsächliche oder vermeintliche ‚Sachzwänge‘ an die Stelle politischer Kontroversen treten. Haben Infrastrukturen Macht? Diese Frage scheint sich zu verbieten, wenn man davon ausgeht, dass Macht von Handelnden, von Menschen ausgeübt wird. Doch so

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einfach liegen die Dinge nicht. Oftmals nehmen Menschen wahr, dass Infrastruktursysteme ihre Handlungsmöglichkeiten beeinträchtigen. Dies erfuhren deutsche Manager und Politiker, als sie die schienengebundene Eisenbahn durch Magnetbahnen ersetzen wollten. Dies zeigen auch die rezenten Diskussionen um den Ausstieg aus der Nutzung der Atomenergie. Bei genauer Betrachtung stellt man zudem fest, wie Infrastrukturen Handlungen erst ermöglichen: Sie entfalten ein Eigenleben, das die Routinen ihrer Nutzer verändert und prägt – in Mitteleuropa geht heute niemand mehr zum Brunnen, um Trinkwasser zu holen. Infrastrukturen haben integrative Wirkungen, wenn alle an das gleiche Netz angeschlossen werden, sie erzeugen aber auch soziale Segregation etwa durch unterschiedliche Wagenklassen in der Eisenbahn und bewirken die Exklusion all jener, die keinen Zugang zu ihrem Netz erhalten. Kurzum: Technische Infrastrukturen sind Voraussetzungen, Ergebnisse, Instrumente und Quellen von Macht – all dies häufig zur gleichen Zeit. Mehr noch: Infrastrukturen prägen und transformieren Macht. Doch was ist nun spezifisch am Wechselverhältnis von Infrastrukturen und Macht? Wir gehen davon aus, dass zwei Komponenten von entscheidender Bedeutung sind, nämlich die Historizität und Materialität von Infrastrukturen. Sie rechtfertigen eine spezifisch historische Perspektive auf dieses Thema. Infrastrukturen haben eine besondere Beziehung zu Zeit. Sie sind nicht ohne den Faktor ihrer langen Dauer zu verstehen und erfordern von den betroffenen Gesellschaften einen langen Atem. Das Phänomen Infrastruktur ist somit ein historisches Phänomen par excellence. Bereits Planung und Bau eines infrastrukturellen Großprojekts können mehrere Jahrzehnte, in Sonderfällen sogar Jahrhunderte umfassen. Infrastrukturen formen Landschaften, prägen Kulturen und – so eine umstrittene These von Karl August Wittfogel – determinieren sogar politische Systeme. 3 Einmal errichtete Infrastrukturen legen die sie nutzenden Gesellschaften oft

3 Vgl. Karl August Wittfogel, Oriental Despotism. A Comparative Study of Total Power. 3.Aufl. New Haven 1959, bes. 26f.; zur Kritik an Wittfogel z.B. Stefan Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie. Frankfurt am Main 1991, 110f.; Udo Witzens, Kritik der Thesen Karl A. Wittfogels über den „hydraulischen Despotismus“ mit besonderer Berücksichtigung des historischen singhalesischen Theravāda-Buddhismus. Diss. Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 2000 [URN: urn:nbn:de:bsz:16-opus-19376; URL: http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/1937, Zugriff 13.März 2012). David H. Price, Wittfogel's Neglected Hydraulic/Hydroagricultural Distinction, in: Journal of Anthropological Research 50, 1997, 194–204, hier 192–198, macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die Kritiker häufig Wittfolgels Differenzierung in „hydroagricultural“ und

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auf lange Sicht fest, weil der Bau alternativer Infrastrukturen zu aufwändig oder kostenintensiv wäre („Pfadabhängigkeit“). Im soziokulturellen Machtgefüge scheint Infrastrukturen eben durch ihren langlebigen Charakter, der ihre Existenz von einer ursächlichen Handlungsmacht Einzelner oder solcher von Gruppen gleichsam entkoppelt, eine eigentümliche Eigendynamik oder sogar Eigenmacht zuzukommen. Während der jeweilige Gegenwartshorizont nur die Entscheidungen über Konfigurationen von Infrastruktur und soziokultureller Macht erkennen lässt, führt die historische Analyse zur Einsicht in ihre langfristig wechselwirkende Dynamik. Die historische Perspektive ist daher zentral, um den Zusammenhang von Macht und Infrastrukturen auch in einer gegenwartsorientierten Perspektive zu verstehen. Infrastrukturen lassen sich nicht auf ihre Form als technische Anlagen reduzieren. Aber die technisch-dingliche Dimension von Infrastrukturen hat Konsequenzen für ihre soziokulturelle Wirkung. Auf theoretischem Gebiet stellt die Frage nach der spezifischen Verschränkung von Infrastruktur und Macht eine große Herausforderung dar. So hat sich die Debatte über Macht in den letzten Jahrzehnten von reifizierenden Machtbegriffen verabschiedet, also von Konzepten, die der Macht eine ‚Substanz‘ zuschreiben. Mit der Dinglichkeit von technischen Infrastrukturen kommt jedoch ein materieller Aspekt von Macht ins Spiel. Hinter den unten noch ausführlicher diskutierten Stand der machttheoretischen Diskussion wollen wir nicht zurückgehen, im Gegenteil: Wir möchten alte und neuere Machttheorien mit dem Problem einer durch Materialität bestimmten Dimension von Macht konfrontieren und nach Möglichkeiten suchen, diese konzeptionell zu berücksichtigen. Die Materialität großer Infrastrukturen hat ihrerseits auch unmittelbaren Einfluss auf

„hydraulic society“ übersehen. Zur Kulturlandschaftsforschung Winfried Schenk/Rudolf Bergmann (Hrsg.), Historische Kulturlandschaftsforschung im Spannungsfeld von älteren Ansätzen und aktuellen Fragestellungen und Methoden. Institutioneller Hintergrund, methodische Ausgangsüberlegungen und inhaltliche Zielsetzungen. (Siedlungsforschung. Archäologie – Geschichte – Geographie, Bd. 24.) Bonn 2006, 9–12; Ward Chesworth, A Semantic Introduction, in: I. Peter Martini/Ward Chesworth (Eds.), Landscapes and Societies. Selected Cases. Dordrecht 2010, 19–24. Gold/Revill sprechen vor allem im Zusammenhang mit militärischen Infrastrukturen von „landscapes of defence“ – diese Charakterisierung trifft mutatis mutandis auch auf die Formung von Landschaften gegen Naturgefahren durch Deiche, vgl. John R. Gold/George Revill, Landscapes of Defence, in: Landscape Research 24, 1999, 229–239, Lawinenverbauung usw. zu, vgl. dazu demnächst Michael Falser, Alpine Landscapes of Defence – on Modern-Vernacular Avalanche Protection Systems in the Swiss Alps, in: Gerrit Jasper Schenk (Ed.), Disasters, Risks and Cultures. A Comparative and Transcultural Survey of Historical Disaster Experiences between Asia and Europe. Heidelberg (in Vorbereitung 2015).

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ihre Historizität, etwa wenn Wege, Straßen und Bahnlinien über Jahrhunderte die gleiche Trasse benutzen und damit ganze Regionen an den Verkehr anschließen – und andere ausschließen.

II. Stand der Forschung In der Geschichtswissenschaft gehören Studien über technische Infrastrukturen zum Kanon der traditionellen Technikgeschichte, die bis vor etwa ein bis zwei Dekaden in Deutschland, aber auch international dominierte. Die einschlägigen Darstellungen orientierten sich hauptsächlich an der Frage, wann und wie technische Innovationen aufeinander folgten. In den letzten Jahrzehnten ist das Bild freilich facettenreicher geworden. Einen epochalen Wandel brachte die Forschung zu „großtechnischen Systemen“ mit sich, die in der Folge der Arbeiten von Thomas Hughes entstanden. 4 Großtechnik und insbesondere Infrastruktursysteme werden seitdem eingebettet in ihren institutionellen, sozialen, wissenschaftlichen und politischen Entstehungskontext. Zentrale Prämisse ist die Verwobenheit von Gesellschaft und Technik, ihre wechselseitige Beeinflussung. 5 Allerdings präferierte die Forschung lange eine Erfolgsgeschichte, indem sie nach den Bedingungen für die Errichtung großtechnischer Systeme fragte. Die Rückwirkung der Infrastrukturen auf die Gesellschaft blieben ebenso vergleichsweise unterbelichtet wie eine systematische Untersuchung der Frage nach den Wechselwirkungen zwischen Infrastrukturen und Macht. Gleichwohl beschäftigte sich die vor allem angelsächsische Technik- und Infrastrukturgeschichte seit rund zwei Jahrzehnten mit der politischen Wirkung ihrer Objekte. Einer der ersten Beiträge war der Aufsatz von Langdon Winner „Do artifacts have politics?“ von 1985, in dem er die These aufstellte, dass Technik ein Instrument der Machtausübung sei und bestimmte technische Systeme gewissermaßen kongeniale Herrschaftssysteme erfordern, damit sie funktionieren. Ausgehend von dieser

4 Thomas P. Hughes, Networks of Power. Electrification in Western Society, 1880–1930. Baltimore 1983. 5 Vgl. Erik van der Vleuten, Understanding Network Societies. Two Decades of Large Technical Systems Studies, in: ders./Arne Kaijser (Eds.), Networking Europe. Transnational Infrastructures and the Shaping of Europe, 1850–2000. Sagamore Beach, Mass. 2006, 279–314.

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These hat sich in der Technikforschung eine längere Debatte entzündet. 6 Zu den aus unserer Sicht wichtigen Beiträgen gehört Bryan Pfaffenbergers Konzept von den „Technical Dramas“. Auch Pfaffenberger interessiert sich für die politischen Wirkungen von Technik; er geht jedoch davon aus, dass die Bedeutung der Technik durch soziale und kulturelle Kontextualisierung entsteht. Pfaffenberger betont die Intention bestimmter Gruppen, andere mittels Technik zu disziplinieren und hebt die Fähigkeit der zu Disziplinierenden hervor, sich diesem Ansinnen mittels Gegenstrategien zu entziehen. 7 Festzuhalten ist die bislang wenig explorierte Erkenntnis, dass Technik gesellschaftlich nicht nur Integration und Konsens produziert oder ihr Ergebnis ist, sondern eine Ursache oder ein Ergebnis von gesellschaftlichen und politischen Konflikten darstellen kann. 8 Diese Erkenntnis geht über die in der jüngeren und älteren Forschung vielfach thematisierten Nutzungskonflikte bei zum Beispiel wasserbaulichen Infrastrukturen hinaus, da nicht nur die Nutzer, sondern auch die Materialität und Technizität der zugrundeliegenden Systeme als Faktor eigenen Rechts verstanden werden. 9 Kein expliziter, aber ein wichtige Aspekte erhellender Beitrag zur Infrastrukturforschung ist der mittlerweile klassische Beitrag von James C. Scott „Seeing like a State“, in dem Herrschaftstechniken moderner Staaten auf dem Feld der Gesellschaftsplanung behandelt werden. Neben der Geometrisierung von Landschaft und Städte- bzw. Raumplanung sieht Scott technische Netze und Infrastrukturen als wichtiges Element der Herrschaft des Staates in der Hochmoderne an. 10 Die aktuelle historische Infrastrukturforschung ist recht ertragreich. Insgesamt können zwei methodologisch unterscheidbare Gruppen von Arbeiten identifiziert werden: Während sich ein Teil der Untersuchungen erkennbar für Wirtschaftsge-

6 Langdon Winner, Do Artifacts Have Politics?, in: Donald MacKenzie/Judy Wajcman (Eds.), The Social Shaping of Technology. Milton Keynes/Philadelphia 1985, 26–38. 7 Bryan Pfaffenberger, Technological Dramas, in: Science, Technology & Human Values 17, 1992, 282–312. 8 Vgl. Mikael Hård, Beyond Harmony and Consensus. A Social Conflict Approach to Technology, in: Science, Technology and Human Values 18, 1993, 408–432. 9 Vgl. die Kontroverse um die Effizienz von Wasserwegen für den inländischen Transport im England des Mittelalters, der die Nutzungskonflikte von Wasserläufen als Transportweg, für den Mühlenbetrieb und als Fischgrund thematisiert, zuletzt John Langdon, The Efficiency of Inland Water Transport in Medieval England, in: John Blair (Ed.), Waterways and Canal-Building in Medieval England. Oxford/New York 2007, 110–130. 10

James Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed.

New Haven/London 1998.

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schichte 11, Infrastrukturpolitik als Wirtschaftspolitik 12 und/oder eine stark auf die Rekonstruktion von Fakten orientierte Institutionengeschichte interessiert, widmen sich andere stärker sozial- und kulturgeschichtlichen Zusammenhängen 13. Die kulturgeschichtliche Erweiterung der Infrastrukturforschung ist insofern von Bedeutung, als sie nachweist, dass Infrastrukturen Träger komplexer Botschaften und Artikulationsfelder sozialer wie auch politischer Konflikte und Identitäten sein können. 14 Als Meilenstein für die Machtgeschichte der Infrastrukturen darf die Arbeit von Dirk van Laak über „Imperiale Infrastrukturen“ gelten. 15 In diesem wegweisenden Beitrag wird unter anderem der Nachweis geführt, dass Infrastrukturplanungen in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts ein Medium für Herrschaft über (insbesondere überseeische) Peripherien darstellten und sich darüber hinaus in ihnen der Politikstil einer ganzen Epoche manifestierte. Infrastrukturen, so van Laak, waren in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts „Medien“ der Politik; sie repräsentierten gar ein eigenes „Politikmodell“, indem sie weniger über Zwang als vielmehr mittels Bedürfnissteuerung europäisch geprägte Modelle der Entwicklung durchsetzen halfen. Mit diesem Ansatz entwickelt van Laak ältere Untersuchungen über den Zusammenhang von Kolonialismus und Infrastrukturen wie in den „Tools of Empire“ 16

11 Andreas Kunz/John Armstrong (Hrsg.), Inland Navigation and Economic Development in NineteenthCentury Europe. Mainz 1995. Zur privaten bzw. öffentlichen Trägerschaft vgl. Robert Millward, Private and Public Enterprise in Europe. Energy, Telecommunication and Transport, 1830–1990. Cambridge 2005. 12 Uwe Müller, Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung. Der Chausseebau in der preußischen Provinz Sachsen und dem Herzogtum Braunschweig vom Ende des 18.Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre des 19.Jahrhunderts. Berlin 2000. 13 Überblick bei Jens Ivo Engels, Machtfragen. Aktuelle Entwicklungen und Perspektiven der Infrastrukturgeschichte, in: Neue Politische Literatur 55, 2010, 51–70. Wichtiger methodischer Beitrag etwa Colin Divall/George Revill, Cultures of Transport. Representation, Practice and Technology, in: Journal of Transport History 26, 2005, 99–111. Als Klassiker immer noch Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19.Jahrhundert. München 1977. Zu Straßen vgl. Christof Mauch/Thomas Zeller, The World beyond the Windshield. Roads and Landscapes in the United States and Europe. Athens/Stuttgart 2008. 14 Als Beispiel Judith Schueler, Materialising Identity. The Co-Construction of the Gotthard Railway and Swiss National Identity. Amsterdam 2008; Carlo Santini (Ed.), Il linguaggio figurativo della Fontana Maggiore. Atti del convegno del 14–16 febbraio 1995. (Ex aere tabularia, Vol.1.) Perugia 1996. 15 Dirk van Laak, Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880–1960. Paderborn 2004. Grundlegend auch ders., Infrastrukturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001, 367–393. 16 Daniel R. Headrick, The Tools of Empire. Technology and European Imperialism in the Nineteenth Century. New York 1981.

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oder dem „Eisenbahnimperialismus“ 17 empirisch wie auch methodisch fort, nicht zuletzt indem die spezifischen Logiken und die Eigendynamik der Planung von Infrastruktur Beachtung finden – über die Rolle als reines Instrument der Herrschaft hinaus. Da sich van Laaks Arbeit in erster Linie auf Planungen und Visionen bezieht, bleibt die Erforschung von Machtwirkungen in der Umsetzung und im Betrieb von Infrastrukturen jedoch ein Desiderat. 18 Für die Sowjetunion hat Klaus Gestwa in mehreren Studien auf die zentrale ideologische, aber auch machtförmige Bedeutung von technischen Großprojekten hingewiesen, wozu auch Infrastrukturmaßnahmen zählen. Er kann nachweisen, dass jene zentrale Instrumente Stalin'scher Herrschaft waren, insbesondere im Sinne gesellschaftlicher Umgestaltung. 19 Inspiriert von diesen Ansätzen, wendet sich ein Teil der Imperiumsforschung großtechnischen Systemen wie etwa Bewässerungsanlagen als Träger von Herrschaft zu. So stellt Julia Obertreis den Zusammenhang von politischer Herrschaft, Wasserversorgung und Baumwollproduktion in der russischen und sowjetischen Peripherie dar. 20 Zu den beherrschenden Paradigmen der europäischen Infrastrukturgeschichte gehören derzeit die Integration und Verflechtung in technischer, wirtschaftlicher, sozialer und politischer Hinsicht. Dabei dominiert neben dem Interesse an föderalnational(staatlich)er 21 vor allem jenes an europäischer und imperialer Integration. Schon Dirk van Laak hat in seinen Arbeiten auf die gesellschaftlich integrierende Wirkung von (sozialstaatlichen) Infrastrukturen hingewiesen. In mehreren international angelegten Projekten wurden und werden Infrastrukturmaßnahmen als Elemente der politischen und kulturellen Integration vornehmlich Westeuropas

17

Lance E. Davis/Robert A. Huttenback, Railway Imperialism. New York 1991. Jüngst und methodisch wei-

ter entwickelt Trevor W. Roberts, Republicanism, Railway Imperialism, and the French Empire in Africa, 1879–1889, in: Historical Journal 54, 2011, 401–420. 18

Vgl. auch Dirk van Laak, Infrastrukturen und Macht, in: Jens Ivo Engels/François Duceppe-Lamarre

(Hrsg.), Umwelt und Herrschaft in der Geschichte. München 2008, 106–114. 19

Synthese jetzt in Klaus Gestwa, Die „Stalinschen Großbauten des Kommunismus“. Sowjetische Tech-

nik- und Umweltgeschichte 1948–1964. München 2010. 20

Julia Obertreis, Infrastrukturen im Sozialismus. Das Beispiel der Bewässerungssysteme im sowjeti-

schen Zentralasien, in: Saeculum 58, 2007, 151–182. 21

Gerold Ambrosius, Die politische Integration netzgebundener Dienstleistungssysteme im Föderalis-

mus. Das Beispiel des Deutschen Reiches vor dem Ersten Weltkrieg, in: Ulrich Kirchhoff/Gerhard Trilling (Hrsg.), Öffentliche Wirtschaft, Sozialwirtschaft und Daseinsvorsorge im Wandel. Regensburg 2003, 39– 55.

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im 20.Jahrhundert untersucht. Diese Studien belegen, dass Infrastrukturen für die europäische Geschichte in hohem Maße relevant sind. Insbesondere die grenzüberschreitende Lobbyarbeit, aber auch der stark betonte transnationale Charakter der technischen Netze gelten dabei als wesentliche Faktoren. 22 Auch wenn in einigen Fällen der instrumentelle Charakter der Infrastrukturpolitik betont wird – also der bewusste Einsatz von Infrastrukturen, um der europäischen Idee Vorschub zu leisten – gibt es auch im Zusammenhang mit diesen Forschungen keine systematische Darstellung des Verhältnisses von politischer Machtausübung und Infrastrukturen. In den weiteren Kontext der Vulnerabilitäts- und Resilienzforschung in Politikund Sozialwissenschaft, Geographie, Katastrophenhilfe, Entwicklungszusammenarbeit und historischer Katastrophenforschung gehört auch die Frage nach „kritischen Infrastrukturen“. 23 Hier wird danach gefragt, ob und welche Infrastrukturen für das Funktionieren einer Gesellschaft essentiell sind und was passiert, wenn solche Infrastrukturen ausfallen oder (terroristisch) sabotiert werden. Hier stellt sich die Machtfrage ganz unmittelbar. 24 Derartige Forschungen sind anschlussfähig an

22 Vgl. Martin Schiefelbusch/Hans-Liudger Dienel (Eds.), Linking Networks. The Formation of Common Standards and Visions for Infrastructure Development. Farnham 2014; Alexander Badenoch/Andreas Fickers (Eds.), Materializing Europe. Transnational Infrastructures and the Project of Europe. Basingstoke 2010; Gerold Ambrosius/Christian Henrich-Franke/Cornelius Neutsch (Hrsg.), Internationale Politik und Integration europäischer Infrastrukturen in Geschichte und Gegenwart. Baden-Baden 2010; Jean-François Auger, Three Theses on the Internationalization of Infrastructures, in: Network Industries Quarterly 11, 2009, 3–6; Frank Schipper, Driving Europe. Building Europe on Roads in the Twentieth Century. Amsterdam 2008; Vincent Langendijk, Electrifying Europe. The Power of Europe in the Construction of Electricity Networks. Amsterdam 2008; Christian Henrich-Franke/Cornelius Neutsch/Guido Thiemeyer (Hrsg.), Internationalismus und Europäische Integration im Vergleich. Fallstudien zu Währungen, Landwirtschaft, Verkehrs- und Nachrichtenwesen. Baden-Baden 2007; van der Vleuten/Kaijser (Eds.), Networking Europe (wie Anm.5); Thomas J. Misa/Johan Schot, Inventing Europe. Technology and the Hidden Integration of Europe, in: History & Technology 21, 2005, 1–19; Armand Mattelart, Networking the World, 1784–2000. Chicago 2004. 23 Vgl. Ben Wisner/Piers Blaikie/Terry Cannon/Ian Davis (Eds.), At Risk. Natural Hazards, People’s Vulnerability and Disasters. 2.Aufl. London/New York 2004; Greg Bankoff, Comparing Vulnerabilities. Toward Charting an Historical Trajectory of Disasters, in: Gerrit Jasper Schenk/Jens Ivo Engels (Eds.), Historical Disaster Research. Concepts, Methods and Case Studies (Special Issue) – Historische Katastrophenforschung. Begriffe, Konzepte und Fallbeispiele (Sondernummer). (Historische Sozialforschung/Historical Social Research, No.121, Vol.32.) Köln 2007, 103–114. Ferner die Diskussionspapiere des „Forschungsforums öffentliche Sicherheit“ (http://www.sicherheit-forschung.de/schriftenreihe/index.html, Zugriff 11.März 2012), das sich mehrfach mit kritischen Infrastrukturen beschäftigt hat; eine Nähe zur Politikberatung ist hier unübersehbar. 24 Z.B. Frithjof Benjamin Schenk, Attacking the Empire’s Achilles Heels. Railroads and Terrorism in Tsarist Russia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58, 2010, 232–253; Christoph Maria Merki, Die Verwund-

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die jüngste Erforschung „bedrohter Ordnungen“, wie sie derzeit in Tübingen in ihrer historischen Tiefendimension untersucht werden. 25 Eine umfassende Infrastrukturgeschichte muss sich selbstverständlich auch mit den betroffenen sozialen Gruppen beschäftigen. Dazu gehören zum einen die sie prägenden Eliten – insbesondere technische Experten und Ingenieure in den jüngeren Epochen. 26 In letzter Zeit gilt das Interesse den Mechanismen von Normalisierung und Unterwerfung, denen die potenziellen Nutzer ausgesetzt sind. 27 Andererseits ist auch die Perspektive der Nutzer und ihrer unter Umständen widerständigen Aneignung zu berücksichtigen. 28 Zu berücksichtigen sind auch jene, die exkludiert werden oder sich, aus welchen Gründen auch immer, gegen infrastrukturelle Maßnahmen zur Wehr setzen. Hier kann die in den letzten Jahren expandierende Umweltgeschichte wertvolle Beiträge liefern. 29 Noch gering ausgeprägt ist der Brückenschlag zwischen Patronage- und Verflechtungsforschung, Skandal- und Korruptionsgeschichte mit der Infrastrukturforschung. 30 Eine systematische Erforschung dieser Zusammenhänge könnte wichtige Hinweise auf die Machttechniken und Interessenkonfigurationen geben, die auch und gerade beim kostenträchtigen Infrastrukturbau zum Tragen kommen – man denke nur an die Affären um den Bau des Panama-Kanals oder die Eisenbahn-Könige Strousberg und Hudson. 31 Zudem gilt für viele politische Systeme: Infrastrukturbarkeit modernen Verkehrs. Unfälle und Terrorismus, in: Ralf Roth/Karl Schlögel (Hrsg.), Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20.Jahrhundert. Frankfurt am Main 2009, 515–528. 25 Vgl. http://www.uni-tuebingen.de/forschung/forschungsschwerpunkte/sonderforschungsbereiche/ sfb-923/kontakt.html, Zugriff 12.März 2012. 26

Jens Ivo Engels/Philipp Hertzog, Die Macht der Ingenieure. Zum Wandel ihres politischen Selbstver-

ständnisses in den 1970er Jahren, in: Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande 43, 2011, 19–38. 27

Michelle Kooy/Karen Bakker, Technologies of Government. Constituting Subjectivities, Spaces, and

Infrastructures in Colonial and Contemporary Jakarta, in: International Journal of Urban and Regional Research 32, 2008, 375–391; Christopher Otter, Cleansing and Clarifying. Technology and Perception in Nineteenth Century London, in: Journal of British Studies 43, 2004, 40–64. 28

Frithjof Benjamin Schenk, Im Kampf um Recht und Ordnung. Zivilisatorische Mission und Chaos auf

den Eisenbahnen im Zarenreich, in: Roth/Schlögel (Hrsg.), Neue Wege in ein neues Europa (wie Anm.24), 197–221; Rudy J. Koshar, Driving Cultures and the Meaning of Roads, in: Mauch/Zeller (Hrsg.), The World beyond the Windshield (wie Anm.13), 14–34. 29

Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. München 2011.

30

Vgl. Jens Ivo Engels/Andreas Fahrmeir/Alexander Nützenadel (Hrsg.), Geld – Geschenke – Politik. Kor-

ruption im neuzeitlichen Europa. (Historische Zeitschrift, Beih. 48.) München 2009. 31

Jean-Yves Mollier, Le scandale de Panama. Paris 1991; Robert Beaumont, The Railway King. A Biography

of George Hudson. London 2002; Ralf Roth, Der Sturz des Eisenbahnkönigs Bethel Henry Strousberg. Ein jü-

32

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maßnahmen waren und sind eine Währung, in der politischer Klientelismus vergütet wird. 32 Der auch quantitative Schwerpunkt der jüngeren historischen Infrastrukturforschung liegt insgesamt auf der Geschichte der letzten rund zweihundert Jahre. Eine Ausnahme von dieser Regel stellt die sogenannte Altstraßen- oder Altwegeforschung dar, die sich schon seit dem Ende des 19.Jahrhunderts als Subdisziplin zwischen Archäologie, historischer Geographie und Geschichte etabliert hat. Da hier Methoden und Fragestellungen entwickelt wurden, die auch in der Erforschung der wasserbaulichen Infrastruktur eine Rolle spielen, soll an dieser Stelle kurz darauf eingegangen werden. Die Altstraßenforschung begann zunächst mit der Rekonstruktion antiker Straßen und entwickelte an diesem Beispiel viele ihrer Methoden. Das römische Straßennetz, dessen Gesamtlänge auf 80000 bis 100000 Kilometer geschätzt wird, gab 1626 zur mehrfach aufgelegten „Histoire des grands chemins de l’Empire Romain“ von Nicolas Bergier Anlass, ein deutschsprachiger Forschungsüberblick aus dem Jahre 1982 nur zum Thema der antiken Straßen umfasste bereits 130 Seiten. 33 Mit den Mitteln der Archäologie wurden im Gelände die antiken Straßenzüge rekonstruiert, mit Hilfe zum Beispiel von Meilensteinen und der Tabula Peutingeriana identifiziert, vermessen und in Karten verzeichnet. 34 Zur Rekonstruktion mittelalterlicher Wege und Straßen und der Analyse ihres soziokulturellen Kontextes von den Pfalzen, Märkten, Gasthäusern, Zollstationen bis hin zur Rolle von Straßenräubern und Geleitwesen haben auch die Itinerarforschung, Wirtschafts- und Handelsgeschichte sowie in jüngerer Zeit die Reiseforschung, Pilgerforschung und Kommunikationsgeschichte wesentliche Beiträge geleistet. Doch die verstreuten Ergebnisse dieser Forschungen wurden kaum unter der Fragestellung zusammengeführt, ob es sich um eine (mehr oder weniger komplexe) Infrastruktur handeln könnte. Systematische Fragen nach der Eigenart der hochmit-

discher Wirtschaftsbürger in den Turbulenzen der Reichsgründung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 10, 2001, 86–112. 32 Für England um 1800 Michael W. McCahill, The House of Lords in the Age of George III. (1760–1811). Malden 2009, 369–372. 33 Hans-Christian Schneider, Altstraßenforschung. (Erträge der Forschung, Bd. 170.) Darmstadt 1982, 13. 34 Die Tabula Peutingeriana ist eine mittelalterliche Kopie einer spätantiken kartografischen Darstellung des römischen Straßennetzes, die nach ihrem Besitzer, dem Humanisten Konrad Peutinger (1465–1547), benannt wurde.

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33

telalterlichen Struktur von Wegen und Straßen hatte zwar schon 1938 Johan Plesner in seiner bahnbrechenden Studie „Una rivoluzione stradale del Dugento“ gestellt. Doch sein Beitrag fand bis in jüngere Zeit nur im Spezialistendiskurs der Altstraßenforschung Beachtung. 35 Die Altstraßenforschung als etablierte Spezialdisziplin mit einer Vielfalt an Methoden hat sich neben der Rekonstruktion des mittelalterlichen auch mit dem frühneuzeitlichen Wegenetz beschäftigt. 36 In Verbindung mit archäologischen Surveys, dem Einsatz von Geoinformationssystemen (GIS) und regressiv genutztem frühneuzeitlichen Kartenmaterial werden selbst bei erstaunlich umfassende Rekonstruktionen möglich. 37 In jüngster Zeit werden schließlich auch systematische Fragen

35

Johan Plesner, Una rivoluzione stradale del Dugento. (Aarsshrift for Aarhus Universitet, Bd. 10; Acta

Iutlandica, Bd. 10/1.) Aarhus 1938, bes. 92–101. Neuerdings Leonardo Rombai, Per una storia della viabilità provinciale di Firenze. La „Rivoluzione Stradale“ dell’età comunale. Gli interventi dei governi granducali, la gestione provinciale, in: ders. (Ed.), Provincia di Firenze. Le Strade Provinciali di Firenze. Geografia, Storia e toponomastica. Vol.1. Florenz 1992, 83–115, hier 86–93. 36

Als kleine Auswahl: Meinrad Schaab, Straßen und Geleitwesen zwischen Rhein, Neckar und Schwarz-

wald im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Jahrbücher für Statistik und Landeskunde von BadenWürttemberg 4, 1958, 54–75; Herbert Krüger, Hessische Altstraßen des 16. und 17.Jahrhunderts nach zeitgenössischen Itinerar- und Kartenwerken (1500–1650). (Hessische Forschungen zur geschichtlichen Landes- und Volkskunde, Bd. 5.) Kassel u.a. 1963; Dietrich Denecke, Methoden und Ergebnisse der historisch-geographischen und archäologischen Untersuchung und Rekonstruktion mittelalterlicher Verkehrswege, in: Herbert Jankuhn/Reinhard Wenskus (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und Archäologie. (Untersuchungen zur Siedlungs-, Wirtschafts- und Kirchengeschichte. Vorträge und Forschungen, Bd. 22.) Sigmaringen 1979, 433–483; ders., Zur Entstehung des Verkehrs, in: Alois Niederstätter (Hrsg.), Stadt – Strom – Straße – Schiene. Die Bedeutung des Verkehrs für die Genese der mitteleuropäischen Städtelandschaft. (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas, Bd. 16.) Linz 2001, 1–25; Achim Simon, Bibliographie zur Verkehrsgeschichte Deutschlands im Mittelalter. Das mittelalterliche Straßen- und Wegenetz. (Wissenschaftliche Arbeitshilfen zur Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Bd. 2.) 2.Aufl. Trier 1985; Szabó, Übergang Antike zum Mittelalter (wie Anm.2), 25f., 37f.; Hans Ulrich Schiedt, Trampelpfade und Chausseen. Literaturbericht einer straßenbezogenen Verkehrsgeschichte, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 2, 1999, 17– 35; Esch, Römische Straße (wie Anm.2); ders., Straße nach Italien (wie Anm.2); Burghard/Haverkamp (Hrsg.), Auf den Römerstraßen ins Mittelalter (wie Anm.2); Arturo Carlo Quintavalle, Le vie del Medioevo. Atti del Convegno internazionale di studi. Parma. 28 settembre – 1 ottobre 1998. (I convegni di Parma, Vol.1.) Mailand 2000. 37

Als Beispiel vgl. Mihail Popović, Altstraßenforschung am Beispiel der Strumica bzw. Strumešnica in

spätmittelalterlicher Zeit (1259–1375/76), in: Miša Rakocija (Ed.), Niš i vizantija. Osminavcni skup, Niš, 3.– 5. Jun 2009. Zbornik radova VIII, Niš 2010, 417–432; ders., Networks of Border Zones. A Case Study of the Historical Region of Macedonia in the 14th Century AD, in: Karel Kriz/William Cartwright/Michaela Kinberger (Eds.), Understanding Different Geographies. (Lectures in Geoinformation and Cartographie.) Berlin/Heidelberg 2013, 227–241.

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nach dem Systemcharakter der straßenbaulichen Infrastruktur als „Netz(werk)“ gestellt. 38 Diese Frage nach dem infrastrukturellen Systemcharakter der vormodernen Straßennetze hat freilich auch stets die Wasserwege einzubeziehen. Für die Erforschung der wasserbaulichen Infrastruktur gilt ähnlich wie für die Altstraßenforschung, dass schon recht früh die antike römische Infrastruktur vor altlem in der Form von Aquädukten das Interesse gleich mehrerer Disziplinen gefunden hat. Fragen der Wasserver- und -entsorgung wurden und werden aber ebenso auch für die nachantike Zeit untersucht. 39 Die wasserbauliche Infrastruktur ist jedoch auch auf diesem Forschungsfeld nur einer von vielen Aspekten des viel umfassender untersuchten Umgangs mit Wasser wie zum Beispiel die Be- und Entwässerung, Meliorationsmaßnahmen, der Bau von repräsentativen Brunnenanlagen, der Betrieb von Mühlen, die Fischerei, der frühe Kanalbau und die Nutzung von Wasser zur Verteidigung. 40 Auch die junge und teilweise epochenübergreifen38 Vgl. Anm. 37 und Dietrich Denecke, Linienführung und Netzgestalt mittelalterlicher Verkehrswege, in: Schwinges (Hrsg.), Strassen- und Verkehrswesen im hohen und späten Mittelalter (wie Anm.2), 49–71, sowie weitere Beiträge in diesem Sammelband. Außerdem Thomas Szabó (Hrsg.), Die Welt der Europäischen Straßen. Von der Antike bis in die Frühe Neuzeit. Köln 2009. 39 Anstelle vieler Nachweise des archäologischen, althistorischen, altphilologischen und ingenieurwissenschaftlichen Interesses an den antiken Wasserbauten und ihr Nachleben vgl. für den deutschsprachigen Bereich nur die Publikationen der „Frontinus-Gesellschaft“, http://www.frontinus.de/publikationen/ index.html, Zugriff 14.März 2012 und der „Deutschen wasserhistorischen Gesellschaft“, http://www.dwhgev.de/index.html, Zugriff 14.März 2012. 40 Neben den Publikationen der in Anm.39 genannten Gesellschaften vgl. Paolo Squatriti (Ed.), Working with Water in Medieval Europe. Technology and Resource-Use. (Technology and Change in History, Vol.3.) Leiden/Boston/Köln 2000; ders., Water Transport and Communication in North Italy during the Early Middle Ages, in: Guy de Boe/Frans Verhaeghe (Eds.), Travel, Technology & Organisation in Medieval Europe. Papers on the „Medieval Europe Brugge 1997“ Conference. Zellik 1997, 13–20; Roberta J. Magnusson (Ed.), Water Technology in the Middle Ages. Cities, Monasteries, and Waterworks after the Roman Empire. Baltimore 2001; Jean-Pierre Leguay, L’eau dans la ville au Moyen Âge. Rennes 2002; Duccio Balestracci, L’uso delle acque interne nel Senese nel Medioevo, in: Alberto Malvolti/Giuliano Pinto (Eds.), Incolti, fiumi, paludi. Utilizzazione delle risorse naturali nella Toscana medievale e moderna. Florenz 2003, 117–141; Salvatore Ciriacono, Building on Water. Venice, Holland and the Construction of the European Landscape in Early Modern Times. New York/Oxford 2006; Christian Rohr, Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit. (Umwelthistorische Forschungen, Bd. 4.) Köln/Weimar/Wien 2007, 201–398; Martin Knoll, Von der prekären Effizienz des Wassers. Die Flüsse Donau und Regen als Transportwege der städtischen Holzversorgung Regensburgs im 18. und 19. Jahrhundert, in: Saeculum 58, 2007, 33–58; Marco Leonardi, La gestione delle acque in Sicilia e Germania tra tardo medioevo e prima età moderna, in: Archivio storico siracusano 22, 2008, 95–161; L’acqua nei secoli altomedievali. Spoleto. 12–17 aprile 2007. (Settimane di studio della fondazione Centro italiano di studi sull’alto medioevo, Vol.55/1–2.) Spoleto 2008.

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de historische Katastrophenforschung 41 thematisiert Infrastrukturen bisher nur punktuell und im Zusammenhang mit der Abwehr von Naturgefahren bzw. der Zerstörung durch Überschwemmungen (zum Beispiel von Damm- und Brückenbauten). 42 Hier und im Rahmen umweltgeschichtlicher Fragestellungen werden bisweilen auch Fragen nach dem Netzwerkcharakter der Wasserversorgung und zum Zusammenhang von soziokultureller Macht und wasserbaulichen Infrastrukturen gestellt. 43 In der seit Wittfogel geführten Diskussion um „hydraulische“ Kulturen wird auch an frühneuzeitlichen Beispielen diskutiert, inwiefern die Organisation und Administration von Wasserbauten zwischen privaten und öffentlichen Interessen einen Beitrag zur Formierung spezifischer gesellschaftlicher Strukturen und damit zur Staatswerdung leistete. 44 Vom Beispiel des „amphibious state“ Venedig und

41

Schenk/Engels, Historical Disaster Research (wie Anm.23); Monica Juneja/Franz Mauelshagen (Hrsg.),

Coping with Natural Disasters in Pre-industrial Societies. (Special Issue. The Medieval History Journal, Vol.10/1–2.) Los Angeles/London/New Delhi/Singapore 2007; Christof Mauch/Christian Pfister (Hrsg.), Natural Disasters, Cultural Responses. Case Studies toward a Global Environmental History. Lanham 2009; Andrea Janku/Gerrit Jasper Schenk/Franz Mauelshagen (Eds.), Historical Disasters in Context. Science, Religion, and Politics. (Routledge Studies in Cultural History, Vol.15.) New York/London 2012. 42

Christian Rohr, Überschwemmungen an der Traun zwischen Alltag und Katastrophe. Die Welser

Traunbrücke im Spiegel der Bruckamtsrechnungen des 15. und 16.Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Musealvereines Wels 33, 2001–2003, 281–327; Uwe Luebken, „Der große Brückentod“. Überschwemmungen als infrastrukturelle Konflikte im 19. und 20.Jahrhundert, in: Saeculum 58, 2007, 89–114; Gerrit Jasper Schenk, „Human Security“ in the Renaissance? Securitas, Infrastructure, Collective Goods and Natural Hazards in Tuscany and the Upper Rhine Valley, in: Historical Social Research 35, 2010, 209–233; ders., Meeresmacht und Menschenwerk. Die Marcellusflut an der Nordseeküste im Januar 1219, in: ders. (Hrsg.), Katastrophen. Vom Untergang Pompejis bis zum Klimawandel. Ostfildern 2009, 52–66, 231–234; ders., Managing Natural Hazards. Environment, Society, and Politics in Tuscany and the Upper Rhine Valley in the Renaissance, 1270–1570, in: Janku/Schenk/Mauelshagen (Eds.), Historical Disasters (wie Anm. 41); ders., Politik der Katastrophe? Wechselwirkungen zwischen Landschaften, gesellschaftlichen Strukturen und Infrastrukturbauten am Beispiel des Umgangs mit Naturgefahren im Florenz und Straßburg der Renaissance, in: Ulrich Wagner (Hrsg.), Stadt und Stadtverderben. 47. Arbeitstagung in Würzburg, 21.–23. November 2008. (Stadt in der Geschichte, Bd. 37.) Ostfildern 2012, 33–76; Thomas Labbé, Economic Adaptation to Risky Environment in the Late Middle Ages. The Case of the „Accrues“ of the Doubs in Chaussin (Jura, France) from c. 1370 to c. 1500, in: Schenk (Ed.), Disasters (wie Anm. 3). 43

Günter Bayerl, Wasser – Vom Netzwerk zum technologischen Habitat, in: Christoph Ohlig, (Hrsg.),

Historische Wassernutzung an Donau und Hochrhein sowie zwischen Schwarzwald und Vogesen. (Schriften der Deutschen Wasserhistorischen Gesellschaft, Bd. 10.) Siegburg 2008, 191–220; Schenk, Politik der Katastrophe (wie Anm.42). 44

Jochaim Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. 2.Aufl. München 2002, 112–

114; Franz Mauelshagen, Flood Disasters and Political Culture at the German North Sea Coast. A Long-

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der von Wasserbauten geprägten niederländischen Kulturlandschaft ausgehend strebt die jüngste Forschung hier sogar vergleichende Perspektiven über Europa hinaus an. 45 Erst in den letzten zehn Jahren fanden mittelalterliche und frühneuzeitliche Binnenwasserwege verstärkt Beachtung. 46 Ob das wasserbauliche Transportwegenetz zumindest in Ansätzen systemhaften Charakter hatte, etwa in Verbindung mit Treidelpfaden, Hafenanlagen mit Ladekranen, Umladestationen, Märkten (Stapelplätzen), Kanälen, Brücken, Straßen, Fähren und Zollstationen, wird jedoch nur gelegentlich und in anderen Kontexten gefragt. 47 Mit Blick auf Ausmaß, Rolle und Effizienz des binnenländischen Transports auf Wasserwegen bereits im Spätmittelalter wird neuerdings die Forschungsthese einer erst im 18.Jahrhundert erfolgenden ersten europäischen „Transportrevolution“ 48 kritisch hinterfragt. 49 Doch abgesehen term Historical Perspective, in: Schenk/Engels (Eds.), Historical Disaster Research (wie Anm.23), 133–144, hier 136–139; Christian Wieland, Grenze zwischen Natur und Machbarkeit. Technik und Diplomatie in der römisch-florentinischen Diskussion um die Valdichiana (17.Jahrhundert), in: Saeculum 58, 2007, 13–32. 45 Amphibious States: Ciriacono, Building on Water (wie Anm.39), 157–193. Ferner z.B. Helga S.Danner u.a. (Eds.), Polder Pioneers. The Influence of Dutch Engineers on Water Management in Europe, 1600– 2000. (Netherlands Geographical Studies, Vol.338.) Utrecht 2005; Peter Borschberg/Martin Krieger (Eds.), Water and State in Europe and Asia. New Delhi 2008; Élisabeth Crouzet-Pavan, Espaces, pouvoir et société à Venice à la fine du Moyen Âge. „Sopra le acque salse“. 2 Vols. (Nuovi studi storici, Vol.14/1–2; Collection de l’École Française de Rome, Vol.156/1–2.) Rom 1992; Bernd Roeck, Wasser und Politik. Venedig in der frühen Neuzeit, in: Die alte Stadt. Vierteljahreszeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege (Studienheft) 3, 1993, 207–220; Christian Mathieu, Inselstadt Venedig. Umweltgeschichte eines Mythos in der Frühen Neuzeit. (Beihefte zum Archiv für Kulturwissenschaft, Bd. 63.) Köln 2007. 46 Squatriti, Water Transport (wie Anm.40); Stella Patitucci Uggeri, La viabilità di terra e d’acqua nell’Italia medievale, in: dies. (Ed.), La viabilità medievale in Italia. Contributo alla carta archeologica medieval. (Quaderni di Archeologia medievale, Vol.4.) Florenz 2002, 1–72; Ralf Molkenthin, Straßen aus Wasser. Technische, wirtschaftliche und militärische Aspekte der Binnenschifffahrt im Westeuropa des frühen und hohen Mittelalters. Berlin 2006; Detlev Ellmers, Techniken und Organisationsformen zur Nutzung der Binnenwasserstraßen im hohen und späten Mittelalter, in: Schwinges (Hrsg.), Straßen- und Verkehrswesen im hohen und späten Mittelalter (wie Anm.2), 161–184; ders., Artikel „Wasserstraßen“, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 33. 2.Aufl. Berlin u.a. 2006, 295–306. 47 Dietrich Lohrmann, Wo stand die „Wiege“ des modernen Verkehrswasserbaus?, in: 30. Internationales Wasserbau-Symposium. (Mitteilungen des Lehrstuhls und Instituts für Wasserbau und Wasserwirtschaft der RWTH Aachen.) Aachen 2000, 1–17. 48 Kurt Möser, Prinzipielles zur Transportgeschichte, in: Rolf Peter Sieferle (Hrsg.), Transportgeschichte. (Der Europäische Sonderweg, Bd. 1.) Berlin 2008, 39–78. 49 Für England John Blair (Ed.), Waterways and Canal-Building in Medieval England. Oxford/New York 2007, dort auch zu den Methoden. Ferner John Langdon, Inland Water Transport in Medieval England – the View from the Mills. A Response to Jones, in: Journal of Historical Geography 26, 2000, 75–82, und ders.,

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von den skizzierten Ansätzen in der jüngsten Altstraßenforschung und der noch sehr punktuellen Erforschung der Binnenwasserwege seit der Antike ist eine systematische und umfassende Untersuchung von Wechselwirkungen zwischen Verkehrsinfrastrukturen und soziokultureller Macht in der longue durée als ein prospektives Thema der alten, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte Europas noch zu entdecken. Infrastrukturen, soviel sollte bereits bei der Durchsicht der geschichtswissenschaftlichen Forschung deutlich geworden sein, sind wegen ihrer Eigenarten notwendigerweise Untersuchungsobjekt vieler Disziplinen. Seit den 1990er Jahren wird etwa auch in den Sozialwissenschaften über die Entwicklung von großtechnischen Systemen und Gesellschaft geforscht – in Deutschland stark beeinflusst durch die Arbeiten von Renate Mayntz 50 beziehungsweise des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung 51. In diesen Fächern spielt zunehmend auch das Thema der governance von Infrastrukturen eine Rolle. Dabei geht es in der Regel weniger um die Koevolution von Macht und Infrastrukturen als um die Frage der Organisation von infrastrukturellen Leistungen sowie der Regulierung von Infrastrukturen, etwa im Zusammenspiel von öffentlicher und privater Trägerschaft 52 sowie um den Status als Gemeinschaftsgut 53. Nicht zu vernachlässigen sind die gewachsenen Kenntnisse über den Zusammenhang von Infrastrukturen und Raum Efficiency (wie Anm.9). Für die Niederlande Bruna Blondé/Raymond van Uytven, Langs land- en waterwegen in de Zuidelijke Nederlanden. Lopend onderzoek naar het prëindustriële transport, in: Bijdragen to de geschiedenis 82, 1999, 135–158. Erste Versuche für Norditalien bei Giorgio Bigatti, La provincia delle acque. Ambiente, istituzioni e tecnici in Lombardia. Mailand 1995, und Jean-François Bergier/Gauro Coppola (Eds.), Vie di terra e d’acqua. Infrastrutture viarie e sistemi di relazioni in area alpina (secoli XIII–XVI). (Annali dell’ Istituto storico italo-germanico in Trento, Quaderni, Vol.72.) Bologna 2007. 50

Renate Mayntz, Große technische Systeme und ihre gesellschaftstheoretische Bedeutung, in: Kölner

Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 45, 1993, 97–108; dies., The Changing Governance of Large Technical Infrastructure Systems, in: dies. (Hrsg.), Über Governance – Institutionen und Prozesse politischer Regelung. Frankfurt am Main 2008, 121–150. 51

Ulrich Dolata/Raymund Werle, „Bringing technology back in“. Technik als Einflussfaktor sozioökono-

mischen und institutionellen Wandels, in: dies. (Hrsg.), Gesellschaft und die Macht der Technik. Sozioökonomischer und institutioneller Wandel durch Technisierung. Frankfurt am Main/New York 2007. 52

Rolf W. Künneke/John Groenewegen/Jean-François Auger (Eds.), The Governance of Network Industries.

Institutions, Technology and Policy in Regulated Infrastructures. Cheltenham 2009; Robert Momberg, Theorie und Politik der Infrastruktur unter Berücksichtigung institutionen- und polit-ökonomischer Einflussfaktoren. Eine Analyse am Beispiel der Bereiche Eisenbahn und Hochschule. Frankfurt am Main 2000. 53

Christoph Bernhardt/Heiderose Kilpere/Timothy Moss (Hrsg.), Im Interesse des Gemeinwohls. Regionale

Gemeinschaftsgüter in Geschichte, Politik und Planung. Frankfurt am Main/New York 2009.

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(entwicklung), sowohl in der historischen wie auch sozialwissenschaftlichen Forschung. 54 In der Raum- und Infrastrukturplanungsforschung sowie der Governancedebatte dominieren bislang die Analyse institutioneller und prozeduraler Voraussetzungen von politischen beziehungsweise planerischen Problemlösungen, etwa Untersuchungen von kommunikativ-diskursiven Planungsansätzen 55 oder von institutionellen Strukturen, die das Handeln der Akteure lenken. Der „Problemlösungsbias“ dieser Forschung verkennt jedoch, dass es in der planerischen Wirklichkeit nicht immer um die Lösung kollektiver Probleme, sondern auch um Machtgewinn und Machterhalt geht. 56 Erst in wenigen Studien wurde Macht in Planungsprozessen systematisch analysiert. 57 Generell gilt: Das Thema der Machtausübung von und mit Infrastrukturen ist in den meisten historischen Publikationen und Forschungsprojekten zu Infrastrukturen präsent, allerdings wird es häufig nur implizit oder als Randphänomen mit behandelt. Einerseits findet natürlich die funktionale Instrumentalisierung von Infrastrukturen als Machtmittel im Sinne einer imperialen Durchdringung und Unterwerfung des oder der Beherrschten Beachtung. Machtausübung wird andererseits aber auch im Sinne einer Einflussnahme von öffentlichen Institutionen oder privaten Akteuren wie Unternehmen, Verbänden und Experten auf Infrastrukturbauten thematisiert. Eine systematische Beschäftigung mit Prozessen der Machtausübung im Zusammenhang mit Infrastrukturen gibt es jedoch noch nicht. 58 Insbesondere

54 Vgl. bereits Walter Christaller, Die Zentralen Orte in Süddeutschland. Eine ökonomisch-geographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischer Funktion. Jena 1933. Jüngst Timothy Moss/Matthias Naumann/Markus Wissen (Hrsg.), Infrastrukturnetze und Raumentwicklung. München 2008; Roth/Schlögel (Hrsg.), Neue Wege in ein neues Europa (wie Anm.24); Jens Ivo Engels, Kanalregionen im Frankreich der Sattelzeit. Elemente für die Erforschung der Raumwirkungen von Infrastrukturen, in: Francia 37, 2010, 149–165. 55 Vgl. stellvertretend: Patsy Healey, Transforming Governance. Challenges of Institutional Adaptation and a New Politics of Space, in: European Planning Studies 14, 2006, 299–320; dies., The Communicative Turn in Planning Theory and its Implications for Spatial Strategy Formation, in: Scott Campbell/Susan S. Fainstein (Eds.), Readings in Planning Theory. Malden/Oxford/Carlton 2003, 237–255. 56 Renate Mayntz, Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie?, in: Gunnar Folke-Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien. 2.Aufl. BadenBaden 2006, 11–20.57 Bent Flyvbjerg, Rationality and Power. Democracy in Practice. Chicago/London 1998; Wolf Reuter, Zur Komplementarität von Diskurs und Macht in der Planung, in: Dokumente und Informationen zur schweizerischen Orts-, Regional- und Landesplanung (DISP) 141, 2000, 4–16. 58 Vgl. Engels, Machtfragen (wie Anm.13).

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wurde das Phänomen der Materialität von Infrastrukturen hinsichtlich seiner Auswirkungen auf das soziokulturelle Machtgefüge noch nicht analysiert, und zwar in Zeit wie Raum. So suggeriert die Forschung trotz aller Bekenntnisse gegen teleologische Engführungen häufig immer noch, die Infrastrukturgeschichte zeichne sich durch eine einsinnige Entwicklung aus – beispielsweise durch eine von der Infrastruktur bewirkte Zunahme von Komfort, Integration, Verflechtung, Größe, Machtkonzentration, Internationalisierung etc. Dieser tendenziell affirmierenden Erfolgsgeschichte muss unserer Ansicht nach eine systematische Analyse von Ambivalenzen, Gegentendenzen, Sackgassen und Brüchen an die Seite gestellt werden. Nur so kann das Verhältnis von Infrastruktur und soziokulturellem Machtgefüge in seiner Spezifik und Dynamik angemessen bestimmt werden.

III. Gegenstandsbestimmung „Infrastrukturen“, „Macht“ und „Koevolution“ Unter Infrastrukturen werden häufig, sehr weit gefasst, alle Einrichtungen der Daseinsvorsorge verstanden. Vor allem in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts, so Dirk van Laak, geriet Infrastruktur zu einem „ubiquitären Plastikwort“, einem Sammelbegriff für „staatliche Vorleistungen im Wirtschaftlichen wie im Sozialen“. 59 Diese umfassende Klassifizierung scheint uns für Analysen der Wechselwirkungen von Macht und Infrastrukturen in systematischer Absicht kaum operationalisierbar, weil dadurch vor allem die materielle Dimension von Infrastrukturen aus dem Blick zu geraten droht. Wir raten daher dazu, die Analyse auf technische Infrastrukturen mit Netzwerkcharakter zu fokussieren, die als sozio-technische Systeme verstanden werden können. 60 Dieser Umstand ist wichtig, weil es nicht um isolierte Artefakte geht, sondern um die Verwobenheit von Gesellschaft und Infrastruktur. Das liegt beispielsweise im Bereich der Wasserversorgung doppelt auf der Hand: Wegen der materiellen Beschaffenheit dieses Stoffes ist jede infrastrukturelle Vorrichtung Teil eines komplexen Gefüges, das im Extremfall von der Quelle bis zum Ozean

59

Laak, Imperiale Infrastrukturen (wie Anm.15), 20.

60

Hughes, Networks (wie Anm.4); van der Vleuten, Network Societies (wie Anm.5). Diese Einschränkung

schließt ausdrückliche auch ältere Kulturen seit der Antike ein, auch wenn hier Quantität, Qualität und Netzwerkcharakter der Technik deutliche Unterschiede zu späteren Epochen aufweisen.

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reicht. Das Flüssige ist nur mit Kenntnissen hydraulischer Techniken beherrschbar. Zudem ist die Bedeutung des Wassers als Lebensmittel, Transportmittel und Energieträger derart hoch, dass Wasserinfrastrukturen ohne eine Verwobenheit mit politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Vorstellungen, Praktiken und Strukturen schlicht undenkbar erscheinen. Technik ist Teil eines Wirkungszusammenhangs, der in vielfältige soziale, politische, ökonomische, kulturelle und wissenschaftliche Kontexte eingebettet ist. 61 Daraus folgt: Die materielle Erscheinungsform stellt einen zentralen Ansatzpunkt dar – es interessieren allerdings in gleichem Maß die soziokulturellen Prozesse und Systeme, die solche materiellen Infrastrukturen hervorbringen, von ihnen hervorgebracht werden oder sie begleiten. Wenn von Infrastrukturen die Rede ist, sind also stets mehrere Phänomene gemeint: 1.

Einrichtungen, Bauten, Anlagen der Infrastruktur und Stofflichkeit (Stoffströme).

2.

Soziale Systeme und institutionelle Strukturen, die den ‚Lebenszyklus‘ der Infrastrukturen begleiten: Planung – Bau – Betrieb/Nutzung – Umbau/Substitution – Rückbau/Zerstörung der Infrastrukturen sowie Widerstand (wie Sabotage) gegen sie.

3.

Kognitive Prozesse, Diskurse und Handlungspraktiken, welche die sozialen Prozesse strukturieren. Dazu gehört die gesellschaftliche Reflexion über Produktion und Bestimmung von Infrastrukturen, aber auch implizites Wissen (tacit knowledge) 62 und Alltagsroutinen der Nutzer.

Wenn in diesem komplexen soziokulturellen Wirkungsgefüge, in dem Infrastrukturen eine Rolle spielen, Macht ein wesentlich bestimmender Faktor ist, gilt es, diesen wissenschaftlich adäquat zu beschreiben und zu analysieren. Dafür kann auf einschlägige ältere und jüngere Theorien über soziokulturelle Macht zurückgegriffen werden, die hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit vorgestellt werden, soweit sie für unsere Fragestellung erhellend zu sein versprechen.

61 Der zugrunde gelegte Technikbegriff ist weit und soll, ausgehend vom antiken Verständnis von téchne, bereits einfache, auf einem bestimmten Können beruhende Kenntnisse und (handwerkliche) Fähigkeiten sowie die daraus resultierenden menschengemachten Gegenstände (Geräte, Vorrichtungen, Apparate, Maschinen, Strukturen, Systeme) umfassen. 62 Zur Kritik und Differenzierung des Konzepts nach Michael Polanyi vgl. jetzt Sonja Petersen, Vom „Schwachstarktastenkasten“ und seinen Fabrikanten. Wissensräume und Klavierbau 1830–1930. Münster 2011, 14–20.

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Zu denken ist etwa an folgende in der Forschung erörterten Konzepte: Herrschaft im Sinn Max Webers 63, Herrschaft als Kräftefeld nach Alf Lüdtke (eigentlich eine Machttheorie) 64, Souveränitäts- und Disziplinarmacht im Sinne Michel Foucaults 65, Gegenmacht im Sinne Niklas Luhmanns 66, Macht als Fähigkeit, im Einvernehmen zu handeln im Sinne Hannah Arendts 67 oder Anthony Giddens’ 68, datensetzende Macht durch die Auswirkungen der Herstellung und Manipulation technischer Artefakte auf die Handelnden und Betroffenen im Sinne Heinrich Popitz’ 69, Konvergenz- und Reversibilitätsgrad von Netzwerken im Sinne von Michel Callon 70, symbolische oder kulturelle Gewalt im Sinne Pierre Bourdieus 71. Auch in der Politikwissenschaft finden sich Ansätze, die auf einen analytischen Zugang zur Macht zielen, sich gegen objektivierte Machtkonzepte wenden und konstruktivistische Theoretisierungen sowie die Vorstellung von Macht als einer abhängigen Variable ins Zentrum rücken. 72 Technische Artefakte eignen sich schließlich auch zur Untersuchung mikroskopisch wirkender Einflüsse im Sinne von „Programmen“ 73, welche das Verhalten von Menschen und nichtmenschlichen Wesen strukturieren und insofern Macht ausüben. Diese Konzeptionen und Theorien von soziokultureller Macht erlauben jeweils die Beschreibung und Analyse einzelner wichtiger Aspekte der komplexen Machtfunktionen, -wirkungen und -dynamiken von Infrastrukturen. Idealtypisch vereinfachend kann man die Theorien über das Phänomen Macht durch eine Unterschei-

63

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen 1972.

64

Alf Lüdtke, Herrschaft als soziale Praxis, in: ders. (Hrsg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und

sozial-anthropologische Studien. Göttingen 1991, 9–63. 65

Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übers. v. W. Seitter. Frankfurt

am Main 1977. 66

Niklas Luhmann, Politik der Gesellschaft. Frankfurt am Main 2000.

67

Hannah Arendt, Macht und Gewalt. München/Zürich 1970.

68

Anthony Giddens, The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration. Cambridge 1984.

69

Heinrich Popitz, Phänomene der Macht. Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik. 2. Aufl. Tübingen

1992. 70

Michel Callon, Techno-ökonomische Netzwerke und Irreversibilität, in: Andrea Belliger/David J. Krie-

ger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, 309– 342. 71

Seit Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabyli-

schen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1976, 335ff., für unterschiedliche Felder weiterentwickelt.

42

72

Alexander Wendt, Social Theory of International Politics. Cambridge 1999.

73

Bruno Latour, Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Berlin 1996.

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dung in Theorien über kausale versus modale Macht kategorisieren. Andere Terminologien unterscheiden in ungefährer Analogie dazu ‚repressiver‘ von ‚produktiver‘ beziehungsweise ‚transitiver‘ von ‚intransitiver/lateraler‘ Macht. 74 Diese Kategorisierung schließt die Verwendung vorgängiger Machtbegriffe ein und bietet zugleich ein übergreifendes Koordinatensystem zur idealtypischen Verortung von Machtphänomenen, die im Zusammenhang mit Infrastrukturen diskutiert werden oder werden können. Die Unterscheidung in kausale und modale Macht trägt zugleich der Entwicklung von Machttheorien seit der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts Rechnung. Sie erlaubt es, Macht als Wirkung von Macht als Ermöglichung abzugrenzen. Macht als Wirkung begreift Macht als die Fähigkeit zur Durchsetzung von Zielen gegen einen potenziellen Widerstand. 75 Dieses Modell beschreibt Macht mechanistisch und operiert mit dem Gegensatz von Mächtigen und Machtunterworfenen, geht also von einem Machtgefälle aus. Konzentrierung, Monopolisierung von Macht bei Personen, Institutionen, dem Staat und die Ausübung von Zwang und Gewalt (oder deren Androhung) sind entscheidende Momente in dieser Konzeption. Macht als Ermöglichung bildet eine andere Dimension ab: Statt Zwang und Drohung stehen Kommunikation und Verständigung im Mittelpunkt. Nicht Einengung, sondern Ausweitung von Handlungsoptionen kennzeichnet diese Machtkonzeption. Auch geht sie nicht von der Vorstellung aus, Macht werde von bestimmten Instanzen monopolisiert. Beide Perspektiven, die kausale wie die modale Auffassung von Macht, berücksichtigen die begriffsgeschichtliche Erkenntnis, dass Macht (dýnamis, potentia) ein relationales, dynamisches Verhältnis mehrerer Akteure beschreibt, das sich innerhalb eines – auch materiellen – Rahmens und unter Rückgriff auf spezifische Ressourcen entwickelt. Beide Perspektiven können auch für die Untersuchung nahezu aller Bereiche, in denen Infrastrukturen mit soziokultureller Macht in Wechselwirkungen treten (wie auf dem Feld von Politik und Staatsbildung, ökonomischer und sozialer Macht, kultureller Deutungsmacht) fruchtbar gemacht werden.

74 Ralf Krause/Marc Rölli (Hrsg.), Macht. Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart. Bielefeld 2008; Kurt Röttgers, Spuren der Macht. Freiburg im Breisgau 1990. 75 Max Webers berühmte Formulierung betont dagegen die Chance zur Machtausübung und ist damit erheblich differenzierter als viele seiner Exegeten, vgl. zur Diskussion bereits Isidor Wallimann/Nicholas Ch. Tatsis/George V. Zito, On Max Weber’s Definition of Power, in: Journal of Sociology 13, 1977, 231–235.

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Es besteht sicher die Gefahr, dass ein schlichtes dichotomes Konzept von modaler versus kausaler Macht nicht alle Verästelungen der sozialwissenschaftlichen Diskussionen über Macht abzubilden in der Lage ist. Doch erlaubt diese Reduktion, einer kultur- und epochenübergreifenden Forschung handhabbare und hinreichend unbestimmte Konzepte zu liefern, um nicht bereits durch die Wahl einer allzu spezifischen Machttheorie mögliche Ergebnisse vorwegzunehmen oder Untersuchungsperspektiven von vorneherein allzu sehr einzuschränken, insbesondere da viele der sozialwissenschaftlichen Arbeiten sich faktisch an den Verhältnissen westlicher industrialisierter Gesellschaften orientieren. Die Spezifik des Faktors Macht im Wirkungsgefüge mit Infrastrukturen sollte mit Hilfe des Begriffspaars auf einem Feld zwischen den beiden ‚Extremwerten‘ modaler und kausaler Macht verortet werden können. So kann bestimmt werden, ob beziehungsweise wann bestimmte Infrastruktursysteme eher mit modaler oder kausaler Machtwirkung in Verbindung stehen. Daraus lassen sich Aussagen über die inhärente Logik einzelner technischer Systeme, aber auch diejenige von Gesellschaften oder Kulturen generieren. Eine noch offene Frage ist, ob die infrastrukturgeschichtliche Perspektive zu einer Präzisierung und weiteren Differenzierung von Machtbegriff, Machtkonzept und idealerweise auch Machttheorie beitragen kann. Mit Blick auf die (räumliche, zeitliche, objektgebundene) Spezifik der Machtphänomene, die im Zusammenhang mit Infrastrukturen beobachtet werden können, ist einerseits zu erwarten, dass zeitliche und räumliche Typiken eines Zusammenhangs von Infrastrukturen und soziokulturellen Machtkonfigurationen entwickelt werden können. 76 Andererseits könnte die Beobachtung, dass die Materialität von Infrastrukturen durch den oben erwähnen Entkoppelungseffekt von einer sozialen Akteuren zuschreibbaren Handlungsmacht durch den Faktor Zeit eine Eigendynamik zu gewinnen scheint, wissenschaftlichen Mehrwert auch für die Frage nach der Dynamik und Beschaffenheit der spezifisch infrastrukturellen Macht(wirkung) generieren und so zu einer Fortentwicklung von Machtbegriff, Machtkonzept oder sogar Machttheorie beitragen. Die Frage nach der spezifischen Dynamik im wechselwirkenden Verhältnis von Infrastruktur und soziokultureller Struktur eröffnet noch einen weiteren analytischen Zugang zur genaueren Beschreibung und Bestimmung der Historizität der beobachteten Phänomene. Großtechnische Systeme und Gesellschaft, schreibt Erik 76

Um dies am Beispiel der Wittfogel-These zu konkretisieren: Sind wasserbauliche Infrastrukturen tat-

sächlich (epochen- und kulturübergreifend) mit kausaler Macht gekoppelt?

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van der Vleuten, „koevolvieren“, das heißt sie entwickeln sich in wechselseitiger Beeinflussung. 77 Dies trifft auch auf das Verhältnis von Infrastrukturen und Machtausübung zu, so unsere Annahme. Allerdings sind einige klärende Bemerkungen zum Konzept der Koevolution angebracht. 78 Besonders beliebt ist das Konzept der Koevolution im Grenzbereich von Technik- und Wirtschaftsgeschichte. Nick von Tunzelmann schlägt vor, technologische Revolutionen als das Ergebnis der „Koevolution“ von Technologie und ökonomischen Organisationsformen zu erklären. Ihm geht es dabei insbesondere um Erklärungen für nationale ökonomische Strategien, die sich etwa darin unterscheiden, ob sie auf hochpreisige Qualitätsprodukte oder Massenproduktion setzen. Schlüsselbegriffe in seiner Argumentation sind „matching“ und „network alignment“ von Ressourcen, Akteuren, Organisationsformen und Techniken. 79 Gemeint ist, dass die genannten Faktoren in einer Art suchendem Prozess aufeinander eingehen und sich ‚passend‘ machen, etwa in besonders leistungsfähigen Produktionsund Verwertungsketten. Abgesehen von der offenen Frage, ob es tatsächlich solche nationalen Wirtschaftsstile gibt, sind aus unserer Sicht vor allem die hinter diesen Begriffen stehenden Vorstellungen über historische Entwicklungen fragwürdig. Darin kommt ein funktionalistisches, ja fast mechanistisches Verständnis von historischer Entwicklung zum Ausdruck, dem wir die Überzeugung entgegensetzen, dass historische Prozesse nicht nur offen sind, sondern vor allem nicht allein auf der Basis von Effizienzkriterien verständlich werden. Raymund Werle und Ulrich Dolata operieren mit ähnlichen Begriffen („match“, „mismatch“). 80 Sie beschreiben wechselseitige Einflüsse von Technologie und so-

77 van der Vleuten, Network Societies (wie Anm.5), 292; vgl. zu diesem Begriff in der politischen Theorie Carl Böhret/Götz Konzendorf, Ko-Evolution von Gesellschaft und funktionalem Staat. Ein Beitrag zur Theorie der Politik. Opladen 1997. 78 Eine spezifisch geschichtswissenschaftliche Sichtung von Theorien sozialer Evolution findet sich bei Rainer Walz, Theorien sozialer Evolution und Geschichte, in: Frank Becker (Hrsg.), Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien. (Campus Historische Studien, Bd. 37.) Frankfurt am Main 2004, 29–75; zu Modellen ‚kultureller Evolution‘ vgl. Cornel Zwierlein, Diachrone Diskontinuitäten in der frühneuzeitlichen Informationskommunikation und das Problem von Modellen ‚kultureller Evolution‘, in: Arndt Brendecke/Susanne Friedrich/Markus Friedrich (Hrsg.), Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien. Münster 2008, 423–453, hier 429–442. 79 Nick von Tunzelmann, Historical Coevolution of Governance and Technology in the Industrial Revolutions, in: Structural Change and Economic Dynamics 14, 2003, 365–384. 80 Dolata/Werle, Technik als Einflussfaktor (wie Anm.51).

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zioökonomischen Strukturen. Phasen beschleunigten Wandels interpretieren sie als Anpassungskrisen zwischen beiden Bereichen (Phase des „mismatch“), bis sie sich wieder aufeinander eingespielt haben („match“). Insbesondere gehen sie davon aus, dass Technik Struktureffekte auf die Gesellschaft hat: Technologische Innovationen erzwingen demnach soziale Anpassungsleistungen, indem sie einerseits Optionen einschränken und andererseits neue Möglichkeitsräume eröffnen. 81 Während dieser Annahme absolut zuzustimmen ist, scheint uns die Vorstellung der Beziehung von Technik und Gesellschaft zu schematisch, wenn die gemeinsame Geschichte sich auf eine Abfolge von Harmonie und Disharmonie reduziert. Gewissermaßen auf die Spitze getrieben wird dieser Ansatz von Johann Peter Murmann. 82 Ihm geht es darum zu erklären, wie erfolgreiche ökonomische Strukturen (von Einzelunternehmen bis hin zu ganzen Volkswirtschaften) generiert werden. In seinem Konzept geht es um das Zusammenwirken von mehreren Entitäten, zu denen auch Technologien gehören können (aber nicht müssen). Diese Einheiten sind kleiner und konkreter gedacht als bei den zuvor erwähnten Autoren: Erwähnt werden soziale Gruppen, die Belegschaft einer Firma, das Bildungssystem, die chemische Wissenschaft eines Landes etc. Koevolution von zwei Einheiten ist genau dann gegeben, wenn „both have a significant causal impact on each other’s ability to persist“. Die Betonung liegt auf der Kausalbeziehung und auf dem Ergebnis, der „fitness“ bzw. der Effizienz und dem Erfolg einer Gruppe oder einer Einheit – konkret wird an Wettbewerbsvorteile gedacht. 83 Hier schimmert die aus älteren darwinistischen Theorien bekannte Vorstellung vom survival of the fittest in großer Deutlichkeit durch. Solche hochgradig determinierten Koevolutionsvorstellungen sind problematisch. Unserem Verständnis nach sind historische Prozesse grundsätzlich offen. Sie mit Kriterien wie Effizienz oder Fitness zu beschreiben bedeutet, Analyse und normative Bewertung unzulässig zu vermischen. Das gilt möglicherweise weniger für wirtschaftshistorische Überlegungen. Wenn es aber, wie im vorliegenden Fall, um soziokulturelle Macht geht, sollten diese Kategorien kein Maßstab der Analyse sein. Warum halten wir dennoch am Koevolutionsbegriff fest? Zum einen ist er in der

81

Ebd.18–20.

82

Johann Peter Murmann, Knowledge and Competitive Advantage. The Coevolution of Firms, Technolo-

gy, and National Institutions. Cambridge 2003. 83

46

Ebd.20–22, Zitate 22.

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Forschung zu großtechnischen Systemen und zu Infrastrukturen umfassend eingeführt. Zum anderen drückt er unter Fortlassung der normativen und teleologischen Konzepte eine zentrale Grundannahme aus: Es gibt kausale, wechselseitige Wirkungszusammenhänge zwischen Macht und Infrastrukturen. Beide verändern (nicht: entwickeln) sich gemeinsam und durch wechselseitige Einwirkung. Genese und Transformation von Infrastrukturen wie von soziokultureller Macht lassen sich besser in der doppelten Untersuchungsperspektive verstehen: Bau, Planung, Betrieb und Rückbau von Infrastrukturen setzen politische, soziale, ökonomische, kognitive Machtausübung voraus und generieren neue Konstellationen der Machtausübung. Sie öffnen Ermöglichungsräume, schränken aber auch Handlungsoptionen ein. Infrastrukturen erfordern Anschlusshandlungen und können dadurch Macht transformieren, steigern oder limitieren. Wir gehen daher davon aus, dass wir die historische Veränderung des Infrastrukturbaus mit sich ändernden Machtformen erklären können und dass umgekehrt neue Machttechniken und -verhältnisse eine Folge von Infrastrukturen waren und sind. In bestimmten historischen Phasen wuchsen Komplexität und Leistungsfähigkeit von Infrastruktursystemen, wobei neue Institutionen und Gruppen sowohl entstanden als auch von den Einrichtungen profitierten. Im Sinne des Konzepts kausaler Macht kann man daran die Erwartung knüpfen, dass eine Machtkonzentration erfolgte und die Urheber, Träger oder Nutznießer der Infrastrukturen an Macht gewannen. Im Sinne modaler Macht stellt sich eine andere Frage: Welche Machttechniken, welche Gelegenheiten zur Machtausübung ergeben sich aus dem Infrastrukturbau, welche Formen der (auch widerständigen) Interaktion zwischen materiellem Rahmen, Akteuren und unter den Akteuren werden generiert?

IV. Machtwirkungen von Infrastrukturen I: Speicherung und Zirkulation In den folgenden Abschnitten stellen wir einen Katalog von Machtwirkungen vor, die von Infrastrukturen ausgehen. Wir vermuten, dass diese Machtwirkungen das Spektrum charakterisieren, in dem sich interessante Fragestellungen für eine historische Infrastrukturforschung befinden können. Diese Aufzählung ist sicher nicht vollständig und ergänzungsbedürftig. Allerdings sind wir überzeugt, dass mit den hier vorgestellten Machtwirkungen die wohl interessantesten Phänomene zur

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Sprache kommen, die sich aus der materiellen Dimension und der Eigenschaft der langen Dauer (Historizität) von Infrastrukturen ergeben. Diesen Katalog möchten wir verstanden wissen als eine Art Baukasten mit Ausgangshypothesen. Infrastrukturen haben die Eigenschaft, Machtausübung zu speichern: in Infrastrukturen materialisierte Machtausübung verfügt über eine Fernwirkung. Diese hat eine räumliche und eine zeitliche Dimension. Die zeitliche Fernwirkung (Speicherung) zeigt sich darin, dass Infrastrukturen häufig eine große Trägheit besitzen, das heißt, ein einmal eingeschlagener Entwicklungspfad nur unter Aufbringung erheblicher Kosten verlassen werden kann. Zur sogenannten Pfadabhängigkeit existiert eine ausgedehnte wissenschaftliche Debatte. 84 Diese Pfadabhängigkeit ist nicht ausschließlich, aber zu einem guten Teil dem materiellen Charakter der Infrastrukturen als Artefakte geschuldet: Groß dimensionierte Anlagen erfordern einen hohen Aufwand im Sinne von Investitionen in Rohstoffe und Arbeitskraft. Sind diese einmal investiert, gibt es eine vergleichsweise geringe Neigung, von den gewählten Lösungen abzugehen. Allerdings ist das Pfadabhängigkeitskonzept mit einer Hypothek belastet. Zumeist wird es unter negativen Vorzeichen diskutiert: geringe Flexibilität, Einschränkung von Möglichkeiten durch Pfadwirkung. Die Machtspeicherung darf daher nicht auf Pfadabhängigkeit reduziert werden. Unter dem Aspekt der modalen Macht muss auch das Gegenteil von ‚Abhängigkeit‘ diskutiert werden, nämlich eine andauernde Ermöglichungs- (anstelle reiner Verhinderungs-)Wirkung. So hat etwa der antike römische Straßenbau noch viele Jahrhunderte nach dem Ende des Römischen Reiches und nach einer langen Zeit geringer oder sogar fehlender Nutzung ein Anknüpfen an die alte Wegführung erlaubt und scheint so einen wirtschaftlichen Aufstieg bestimmter Regionen ermöglicht zu haben – wie umgekehrt das Versanden von Flusshäfen und Versumpfen vormals trockengelegter und bebauter Ebenen im frühen Mittelalter zu einem Rückgang wirtschaftlicher Aktivitäten führte. 85

84

Jürgen Beyer, Pfadabhängigkeit. Über institutionelle Kontinuität, anfällige Stabilität und fundamenta-

len Wandel. Frankfurt am Main 2006; Martin V. Melosi, Path Dependence and Urban History. Is a Marriage Possible?, in: Bill Luckin/Geneviève Massard-Guilbaud/Dieter Schott (Eds.), Resources of the City. Aldershot 2005, 262–275. 85

Zur Ermöglichung des spätmittelalterlichen wirtschaftlichen Aufstiegs der Brabanter Region durch

das römische Straßensystem als eine (von mehreren) Bedingungen vgl. Uytven, Landtransport (wie Anm.2), bes. 471f., 476, 479. Zum Wandel von Straßennetz, zunehmender Versumpfung, Siedlungsmuster und Wirtschaftstätigkeit im Übergang von der Antike zum Frühmittelalter am Beispiel der Ebene von Flo-

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Es sollte unter machttheoretischen Aspekten danach gefragt werden, über welche Transmissionsriemen und Angelpunkte sich Machtausübung von der Vergangenheit in die Zukunft vermittelt. Da nicht davon auszugehen ist, dass Macht eine Substanz hat, ist ‚Speicherung‘ metaphorisch zu verstehen. Tatsächlich bedeutet Speicherung hier lediglich, dass die technische Infrastruktur gewissermaßen Verdichtungszonen für die Perpetuierung von prozessualen Machtaushandlungen bietet. In diesem Kontext kann untersucht werden, ob sich Machtausübung tatsächlich nur in der Interaktion von menschlichen Akteuren vollzieht oder ob die Artefakte nicht doch Machtfaktoren sui generis sein können. Die Speicherung kann sowohl modale wie kausale Formen der Macht betreffen. Fernwirkungen von Macht erzeugen Infrastrukturen aber auch in räumlicher Hinsicht – dies bezeichnen wir als Zirkulation von Macht. Wir gehen davon aus, dass die Zirkulation von Macht wesentlich durch die materielle Beschaffenheit der Infrastrukturen als räumlich manifestierte Netze gelenkt wird. Infrastrukturnetze durchziehen bereits in der Antike große Gebiete (Aquädukte, Straßen) und schaffen an allen Punkten des Netzes spezifische Machtverhältnisse, die mit dem Gesamtsystem verbunden sind. Der Netzwerkcharakter ermöglicht oder erzwingt ähnliche Routinen, aber auch soziale Hierarchien an unterschiedlichen Orten. Das mag ein ganz einfaches Beispiel erläutern: Typischerweise schuf der Ausbau des Eisenbahnnetzes in der Industrialisierung an allen Knotenpunkten (Bahnhöfen) ähnliche ökonomische Machtverhältnisse: die jeweiligen lokalen Märkte etwa von landwirtschaftlichen Produkten glichen sich an, weil an allen Punkten zugleich nach kurzer Zeit die exportorientierten Hersteller wettbewerbsfähiger Produkte profitierten, während rein lokal ausgerichtete Produzenten in Schwierigkeiten gerieten. Die jeweiligen Machtverhältnisse von Verbrauchern und Produzenten glichen sich an. Diejenigen Landstriche, welche (noch) nicht angeschlossen waren, blieben davon vergleichsweise unberührt. Insofern zirkulierte die Marktmacht über das Schienennetz. Die Besonderheit des Infrastrukturnetzes liegt darin, dass jeder Punkt auf seinen Maschen zugleich ein lokaler und ein überlokaler Ort ist. Im Falle der Wasserversorgung ist typischerweise das Gefälle der Zuleitungen immer mit einem Machtgefälle verbunden: Je höher ein Punkt im Relief gelegen ist, desto größer die (kausale) Macht gegenüber den darunter liegenden Stellen – so sieht jedenfalls die Ausgangssitua-

renz Daniela Poli, La piana fiorentina. Una biografia territoriale narrate dalle colline di Castello. Florenz 1999, bes. 75–80.

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tion aus. Da in den meisten Gesellschaften nicht schlicht das Recht des kurzfristig Stärkeren gilt, sind hydraulische Systeme gerade aufgrund dieses Gefälles häufig in komplexe rechtliche Regelungsapparate eingebunden, deren Ziel es ist, die Interessen möglichst vieler Anlieger in Einklang zu bringen oder zumindest Kompromisse herbeizuführen. Uns scheint es reizvoll, solche Entwicklungen im zeitlichen Verlauf auch als Machtzirkulation zu interpretieren, in deren Verlauf die Macht nicht einseitig bergwärts steigt, sondern sich auch talwärts bewegt. Intensivierung von Macht ist jedoch stets nur eine Möglichkeit. Auch das Gegenteil, nämlich ausbleibende Speicherung oder Zirkulation, muss bedacht und untersucht werden – wenn in den Aufbau eines Netzes investierte Macht sich verflüchtigt. So ist zu fragen, ob die Eigenschaften von Infrastrukturnetzen Macht auch räumlich und zeitlich begrenzen können – etwa wenn die Netze nicht mehr gepflegt werden, Häfen versanden und Rohrleitungen unterbrochen werden, wenn ein System durch ein anderes abgelöst wird oder wenn Infrastrukturen sabotiert werden. Von besonderem Interesse ist die Frage, wie sich die Überlagerung von mehreren, miteinander kompatiblen oder konkurrierenden Infrastrukturnetzen auswirkt. Auch hier sind bestimmte Gruppen in der Lage, die Vorteile aus beiden Systemen zu akkumulieren, während andere dabei verlieren.

V. Machtwirkungen von Infrastrukturen II: Perzeptibilität von Macht Die Materialität von Infrastrukturen schafft eine besondere Qualität ihrer Wahrnehmbarkeit (Perzeptibilität). Während Macht als Kategorie abstrakt und damit unsichtbar ist, zeichnen sich technische Systeme in der Regel dadurch aus, dass sie prinzipiell dem Auge zugänglich sind. Zwar sind moderne Infrastruktursysteme, darunter auch die Wasserversorgung, häufig diskret unter Straßen und hinter Wänden verborgen. Anders als Klasseninteressen oder Kommandogewalt haben sie gleichwohl immer eine materielle Struktur. Wird diese im Erdreich versteckt, so ist ihre Unsichtbarmachung sowohl ein materielles Faktum als auch zugleich ein signifikanter, analysebedürftiger Umstand. Ausgehend von dieser Beobachtung können wir feststellen, dass Macht in Infrastrukturen sichtbar ist. Dabei sind drei Möglichkeiten zu unterscheiden:

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1. Visibilität Infrastrukturen erlauben es, an ihnen Machtverhältnisse abzulesen (Indikatorfunktion) – vor allem dann, wenn jene sie bewirken oder verstärken, etwa im Fall der Verbreitung von fließendem Wasser in Wohnvierteln im späten 19.Jahrhundert. Die unterirdisch verlegten Kanalisationen sind nicht als ostentative Machtdemonstrationen gedacht. Dennoch lässt sich am Vorhandensein/Nichtvorhandensein von Wasserhähnen in Häusern und/oder öffentlichen Brunnenanlagen im Straßenraum ablesen, welchen sozialen Status die Bewohner eines Viertels beanspruchen können. Ähnliches gilt für die Wagenklassen in der Eisenbahn, wobei hier die demonstrative Funktion bereits ungleich höher ist. Infrastrukturen können also als Ergebnisse von Machtausübung analysiert werden. Da sie meistens zugleich bewirken, was sie darstellen, sind sie nicht nur Anzeichen, sondern auch gewollt oder ungewollt (Re-)Produktionsfaktoren von Machtverhältnissen: Indem ich dank fließendem Wasser einen bestimmen Hygienestandard praktizieren kann, verfüge ich unabhängig von meinen finanziellen Möglichkeiten über ein entscheidendes Distinktionsmerkmal gegenüber den Unterschichten; ja die vorhandene Wasserinfrastruktur drängt mich geradezu in ein bestimmtes hygienisches Handlungsmuster. Dieser Umstand ist zentral für unsere Annahme, dass Infrastrukturen Machtverhältnisse schaffen. 86 2. Visualisierung Infrastrukturen können auch (intentionales) Kommunikationsmittel der Macht sein: Noch wenig untersucht ist die repräsentative Inanspruchnahme von Infrastrukturen als sichtbare Symbole von Macht, Herrschaft und Gemeinschaft. Die Visualisierung der Macht kann im Materiellen der Infrastrukturen gefunden werden, man denke an Brunnenanlagen mit politisch-ikonographischem Bildprogramm. Die Visualisierung von Macht kann aber auch in der Imagination von Infrastruktur ihren Niederschlag finden. In Planungen, Zukunftsvisionen, Metaphern, Mythen

86 Das Modell von Machtvisibilität versus Machtvisualisierung lehnt sich an die Überlegungen von Herfried Münkler, Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung, in: Gerhard Göhler (Hrsg.), Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht. Baden-Baden 1995, 213–230, an. Im Unterschied zum dort entwickelten Konzept ist jedoch zu bedenken, dass die Intentionalität – wer zeigt wem Macht durch Infrastruktur? – gerade in der longue durée verblassen oder umgekehrt werden kann. Inwieweit dies auch an einer Eigendynamik der Infrastruktur selbst liegt und seinen Grund nicht in den Intentionen Einzelner, Gruppen oder ganzer Gesellschaften hat, wäre zu untersuchen.

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und technokratischen Phantasien werden bestimmten sozialen Gruppen Funktionen und Kompetenzen zugewiesen. In den letztgenannten Bereich gehört die Ideenoder Dogmengeschichte von Infrastrukturen 87, die vor allem die kognitiven und reflexiven Prozesse im Umgang mit Infrastrukturen und Macht zu analysieren erlaubt. 3. Kaschierung Neben der ostentativen Visualisierung von Macht funktionieren Infrastrukturen und die sie begleitenden politischen und administrativen Prozesse häufig auch im Sinne einer interessengeleiteten Kaschierung von Machtverhältnissen. Pierre Bourdieu spricht in anderem Kontext von einer Verlarvung von Machtverhältnissen. 88 Hierzu gehört auch das eingangs erwähnte Phänomen, dass viele Versorgungsinfrastrukturen moderner Gesellschaften unterirdisch verlegt werden. Der Kontrast zwischen der sichtbaren Oberfläche und dem verborgenen Untergrund moderner Städte führt auch dazu, dass nicht nur das komplexe Geflecht von Rohren, Leitungen, Kabeln und U-Bahn-Tunneln verborgen wird, sondern auch das dazugehörige Geflecht von administrativen Zuständigkeiten und Zwangsmaßnahmen. Welchem Hauseigentümer ist etwa der kommunale Anschlusszwang bewusst, wo die Anschlüsse seinen Blicken im Alltag doch vollkommen entzogen sind? Ein klassisches – wenn auch kontrovers diskutiertes – Beispiel für die Kaschierung von Macht sind die „Brücken des Robert Moses“, niedrige Straßenüberführungen, welche in den 1930er Jahren den Busverkehr und damit Angehörige der Unterschichten von den Stränden Long Islands fernhielten, ohne dass ein explizites Verbot ausgesprochen wurde. 89 Dieses Beispiel legt nahe, dass Infrastrukturen Machtaushandlungen von einer sichtbaren (hier: politischen) auf eine unsichtbare, nur scheinbar rein technische Ebene zu verlegen helfen.

87

Thomas Schulze, Infrastruktur als politische Aufgabe. Dogmengeschichtliche, methodologische und

theoretische Aspekte. Frankfurt am Main 1993. 88

Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main 1987, 230f.; ders.,

Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main 1998, 196f. 89

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Winner, Artifacts (wie Anm.6).

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VI. Felder der Machtausübung Jenseits der Verortung im Umfeld gängiger Machttheorien sowie unserer Hypothesen über die Machtwirkung von Infrastrukturen scheint es sinnvoll, drei Felder der Machtausübung zu identifizieren. Dabei darf nicht übersehen werden, dass es sich um sehr vage abgegrenzte Bereiche mit großen Überschneidungsbereichen handelt. 1. Politische Macht Unter Machtausübung subsumieren wir zum Ersten die hierarchieorientierte, auf Dauer gestellte politische Herrschaft, wie sie etwa in Prozessen der Staatsbildung, im Einfluss auf institutionelle Arrangements, in der Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte, in der Geltendmachung von Herrschaftsansprüchen und Entscheidungskompetenzen inklusive Partizipation, sowie in der Suche nach Regulierungsinstrumenten zum Ausdruck kommt. Zu dieser Kategorie von politischer Macht gehört spiegelbildlich auch ihre Infragestellung in Form von Umsturz und Protest. Politische Macht steht seit den Anfängen der Geschichtswissenschaft im Zentrum ihrer Untersuchungen. Für das Funktionieren (und in modernen Gesellschaften auch: die Legitimität) von politischer Macht ist entscheidend, ob und in welchem Maß Infrastrukturen vergangene Machtverhältnisse speichern. Außerdem ist zu untersuchen, ob bestimmte Formen staatlicher Organisation gewissermaßen ‚kongenial‘ zu bestimmten Infrastruktursystemen sind. Dabei sind vorschnelle Schlüsse mit großer Reserve zu betrachten. Scheint der sogenannte Absolutismus Ludwigs XIV. auf den ersten Blick größere Kanalbauprojekte ermöglicht zu haben 90, erschließen sich bei genauer Analyse derartiger Projekte die oftmals extrem zerklüfteten Machtverhältnisse vor Ort 91. Eine systematische Untersuchung von gescheiterten infrastrukturellen Großprojekten könnte Auskunft über die Grenzen einschlägiger Machtausübung geben. In Gesellschaften mit einer Trennung zwischen öffentlichen Institutionen und privaten Unternehmen stellt sich die Frage, wie die Machtverhältnisse zwischen

90 Etwa den Canal du midi, vgl. George A. Rothrock, Linking the Seas. The Canal du Languedoc, in: Proceedings of the Western Society for French History 21, 1994, 49–60. 91 Patrick Fournier, Aménagements hydrauliques et structuration de l’espace. Les métamorphoses de l’eau en Provence et Comtat, in: Dix-Septieme Siècle 55, 2003, 585–609.

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öffentlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren geregelt sind. Infrastrukturen werden einerseits häufig privatwirtschaftlich finanziert und betrieben, benötigen aufgrund ihrer Netzwerkstruktur aber in vielen Fällen öffentliche Garantien. Als Herrschaftsform ist der europäische Imperialismus eng verknüpft mit Infrastrukturvorhaben. Die Partizipation an Infrastruktur als Allmendgut (common pool resource) kann aber auch in außer- oder protostaatlichen Kontexten Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse sein. Die Frage nach der öffentlichen oder privaten Kontrolle berührt auch das zweite große Machtfeld, die ökonomische und soziale Macht. 2. Ökonomische und soziale Macht Neben der politischen Machtausübung können Formen sozialer und ökonomischer Machtausübung identifiziert werden, die nicht zwingend an staatliche oder protostaatliche Institutionen gebunden sind. Hier sollte trotz aller Überschneidungen zwischen Formen der ökonomischen und der sozialen Macht differenziert werden. Ökonomische Macht entfaltet sich in Marktgesellschaften häufig in Form von Marktmacht. Sie kann beispielsweise am Ressourcenzugang oder auch an Preisbildung abgelesen werden oder sich in der Akkumulation von Kaufkraft ausdrücken. Die ökonomische Macht einer Infrastruktur kann sich als Zirkulation niederschlagen, also etwa der Umleitung von Warenströmen durch eine Wasserstraße, was beispielweise die Ansiedlung von Handel und Gewerbe nach sich zieht oder den auf dem Wasserweg gehandelten Gütern Geschwindigkeits- und Preisvorteile verschafft. Hinsichtlich sozialer Macht liegt die wichtigste Kategorie in der relativen Positionierung von Individuen oder Gruppen zu anderen Individuen oder Gruppen. Dabei sind die wichtigsten Leitdifferenzen unten und oben sowie drinnen und draußen. Phänomene sozialer Macht lassen sich beschreiben in den Kategorien von Gleichheit/Ungleichheit, Inklusion/Exklusion, gewährtem/nicht gewährtem Zugang. Soziale Positionierungen können durch Infrastrukturen bestätigt, verstärkt oder verringert werden. Infrastrukturen können darüber hinaus integrierend oder exkludierend wirken. Vertikale soziale Strukturen, verbunden mit Segregation, bilden sich beispielsweise in unterschiedlichen Wagenklassen ab oder im Durchmesser der Hausanschlüsse von Fließendwasser in antiken Städten. Freilich beschränkt sich hier die

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Wirkung nicht auf Visibilität, sondern die sozialen Verhältnisse werden auf diese Weise auch reproduziert. Infrastrukturen legitimierten sich vor allem im 20.Jahrhundert dank ihrer sozialpolitischen Nützlichkeit und ihrer sozialintegrativen Leistungen. Dieser Hypothese ist eine ergänzende Perspektive hinzuzufügen: Da Inklusion und Integration nie umfassend sind, werden sie stets begleitet von ihrem Gegenteil, der Exklusion und Desintegration. 92 Der Ausschluss von Personen oder Gruppen aus der Reichweite von Infrastrukturen bedeutet eine große Beeinträchtigung. 3. Deutungsmacht Macht wird auch in kognitiven Prozessen und reflexiven Diskursen über und von Infrastrukturen wirksam. Die Herrschaft bestimmter Annahmen, aber auch Denkstrukturen kann man als ‚Deutungsmacht‘ bezeichnen. Aufschlussreich sind hier insbesondere die Phänomene der Legitimation und Repräsentation von Macht in und durch Infrastrukturen, also die oben erwähnte Visualisierung. Werden Machtansprüche durch die Form von Infrastrukturen visualisiert, ist dies ein besonders deutliches Beispiel für den Versuch, Deutungsmacht zu erlangen. Auch die kaschierte Infrastruktur kann einen Deutungsmachtanspruch plausibilisieren, indem auf diese Weise die Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit einer technisch-infrastrukturellen Grundversorgung zum Ausdruck gebracht wird. Die Bedeutung der Deutungsmacht geht allerdings über die materielle Gestalt von Infrastrukturen hinaus. Debatten und Diskurse über Infrastruktur bilden Machtverhältnisse ab, können sie aber auch verändern, etwa durch das Beschwören einer Bedürfnisstruktur, die den ingenieurstechnischen Zugriff auf die Entwicklungsutopien einer Gesellschaft erleichtert. So geschehen vor allem im 20.Jahrhundert, als technische Infrastrukturen sowohl im Kapitalismus als auch im Sowjetstaat zentrale Deutungsmuster für Entwicklung, Fortschritt und Gesellschaftsformung wurden. 93 Wichtig ist im Zusammenhang mit der Legitimation von Macht über oder Macht durch Infrastrukturen nicht zuletzt der Verweis auf ihre Gemeinwohlfunktionen. Sie können durch die (Über-)Formung von Metaphern (wie zum Beispiel ‚Netz‘) zentrale Bereiche gesellschaftlicher Diskurse prägen. Nicht zuletzt

92 Jens Ivo Engels, Infrastructure and Fragmentation. The Limits of the Integration Paradigm, in: Schiefelbusch/Dienel (Eds.), Linking Networks (wie Anm.22), 19–33. 93 Laak, Imperiale Infrastrukturen (wie Anm.15); Gestwa, Stalinsche Großbauten (wie Anm.19).

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generieren auch rechtlich fundierte Aushandlungsprozesse Diskurse über Infrastrukturen.

VII. Perspektiven künftiger Forschung Die oben beschriebenen Elemente sind geeignet, epochenübergreifende Fragestellungen zu verfolgen, und zwar in einer Perspektive von der Antike bis zur Gegenwart. Da die Infrastrukturgeschichte bislang stark von der Geschichte seit der Industrialisierung geprägt ist, gibt es in der Literatur eine Dominanz der Annahmen über das Verhältnis von Macht und Infrastrukturen in den letzten zweihundert Jahren. Mit dem Siegeszug der technischen Infrastrukturen seit der Neuzeit, so eine verbreitete Annahme, wuchs die Konzentration von Macht in den Händen zentraler Infrastrukturakteure: Die sogenannten „system builders“ 94 oder schlicht Experten und Planer 95. Klassischerweise können Infrastrukturen als Instrumente der Machtausübung etablierter oder sich etablierender Akteure (zum Beispiel gesellschaftliche Gruppen, Staaten, Verwaltung, etc.) interpretiert werden. Jedoch ist zu beachten, dass mit der Komplexität der Materie auch die Zahl der Beteiligten wuchs. Je mehr Akteure involviert sind, desto mehr Machtenklaven entstehen und desto mehr Vetomächte sind im Spiel. Die Vervielfältigung von Gelegenheiten trägt eben auch zur Diffusion von Macht bei. 96 Es ist außerdem wahrscheinlich, dass mit der wachsenden Komplexität von Infrastruktursystemen, ihrer fortschreitenden Anonymisierung, das Modell kausaler Machtausübung an Plausibilität verliert. Damit kommt die modale Beschreibung der Macht ins Spiel: Das sozio-technische Netzwerk der Infrastruktur entfaltet seine Macht dezentral und zunehmend ohne nachweisbare Intentionen von Akteuren. Vielmehr bietet es Ermächtigungen für Akteure auf beiden Seiten: Planer und Betreiber, aber auch Nutzer. Eine weitere Annahme der Forschung geht davon aus, dass die Konsequenzen 94

Erik van der Vleuten et al., Europe’s System Builders. The Contested Shaping of Transnational Road,

Electricity and Rail Networks, in: Contemporary European History 16, 2007, 321–347. 95

Laak, Imperiale Infrastrukturen (wie Anm.15); vgl. Mayntz, Große technische Systeme (wie Anm.49).

96

„Gegenmacht“, Jörn Brinkhus, Macht – Herrschaft – Gegenmacht. Überlegungen zur Reichweite und

Analysetiefe von Max Webers Herrschaftssoziologie, in: Martin Krol u.a. (Hrsg.), Macht – Herrschaft – Gewalt. Gesellschaftswissenschaftliche Debatten am Beginn des 21.Jahrhunderts. Münster 2005, 167–178.

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von Infrastrukturbau im Verlauf der historischen Entwicklung zunahmen. Wird also die Intensität und Ausdehnung von Machtausübung durch Infrastrukturen erhöht? Hierfür spricht, dass Infrastrukturen spezifische Machtressourcen und -techniken bereitstellen. Dazu gehören Phänomene wie der Anschlusszwang an die kommunale Wasserversorgung. Einiges spricht dafür, dass das gesellschaftliche Leben intensiver durchdrungen wird und Machtformen sich auf immer mehr Regelungsbereiche ausdehnen. Infrastrukturen prägen Alltagsroutinen und üben in diesem Zusammenhang sowohl einengend-disziplinierende (kausale) Macht aus, entlasten aber auch die Nutzer von bestimmten Problemen der alltäglichen Versorgung und öffnen dadurch neue Handlungschancen im Sinne modaler Macht. 97 Allerdings ist auch hier eine umgekehrte Wirkung möglich: Je komplexer ein Infrastruktursystem, desto größer wird das Gewicht der Nutzer. Mit der Zunahme konkurrierender Systeme steigt die Chance auf unkontrollierbare, gar widerspenstige Aneignung oder Umwidmung von Infrastrukturen. 98 Als erkenntnisleitende Hypothesen sind diese Annahmen gut operationalisierbar. Ob sie aber Bestand haben, wenn eine tiefere historische Perspektive bis in vormoderne Epochen eingenommen wird und Brüche und Transformationen auf sowohl gesellschaftlicher als auch infrastruktureller Ebene untersucht werden, bleibt abzuwarten. Die eigentliche Herausforderung liegt nach Lage der Dinge also darin, den Blick auf die Früh- und Vormoderne auszuweiten, deren Analyse mit den hier vorgeschlagenen Fragestellungen und Konzepten aber wiederum zusammenzuführen. Damit könnte etwa auch ein neuer Blick auf Periodisierungsfragen gewonnen werden. Eine erste Untersuchungsrichtung könnte sich mit der Frage nach Transformationsperioden beschäftigen, also Phasen, in denen politische, ökonomische, soziale und deutungsrelevante Machtausübung sich im Rahmen infrastruktureller Arrangements beschleunigt veränderten, in denen also die oben erwähnte Koevolution an Fahrt gewann. Diese sollte mit den etablierten Narrativen etwa über Staatsbildung, Entwicklung des Kapitalismus und Wissensgeschichte verglichen werden. Eine zweite könnte sich der Frage nach den unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Koevolution widmen und mit dem Konzept der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Bloch) unterschiedliche Entwicklungspfade von Macht und Infrastrukturen über längere Zeiträume verfolgen. Eine dritte Forschungsrichtung sollte sich mit der 97 Laak, Infrastrukturen und Macht (wie Anm.18), 109. 98 Lüdtke, Herrschaft (wie Anm.63).

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Genese spezifischer Machtformen in Verbindung mit bestimmten Infrastruktursystemen beschäftigen und die Frage beantworten, ob beziehungsweise inwiefern beispielsweise Wasserinfrastrukturen entgegen den Thesen von Wittfogel kongenial mit genossenschaftlichen Governancemodellen sind (etwa weil die materiellen Bedingungen des Flüssigen spezifische Abhängigkeiten der Anrainer untereinander generieren). Eine vierte Frage könnte sich dem Phänomen der Machtverflüchtigung widmen, insbesondere mit Blick auf den relativen Niedergang und materiellen Verfall einzelner Infrastruktursysteme, häufig verbunden mit dem Phänomen der Substitution durch ein neues System. Ausgehend von der oben angedeuteten These der Pluralisierung wäre zu klären, ob auch Netze mit geringerer Ausdehnung, wie sie typischerweise in vormodernen Gesellschaften vorherrschten, ähnliche Machtwirkungen entfalteten wie die komplexen Netzwerke der Industrialisierungsepoche. Schließlich ist zu hoffen, dass die Analyse der Wechselbeziehung zwischen Infrastruktur und Macht auch ein genaueres oder besser konzeptionalisierbares Verständnis von Macht generieren könnte, das Licht nicht nur auf die soziokulturelle, ökonomische und kognitive, sondern auch auf die dingliche Dimension der Macht wirft.

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Vormoderne

Die Macht des fließenden Wassers Hydrosysteme im kaiserzeitlichen Rom von Franziska Lang und Helge Svenshon

„Aber in römischen [Aquädukten] 1 ist beides hervorragend, daß die Baukunst bewunderungswürdig und die Gesundheit der Gewässer einzigartig ist. Wo überall nämlich Wasserströme gewissermaßen durch gebaute Berge geleitet werden, da möchte man annehmen, es handle sich um natürliche Flußbetten wegen der Festigkeit der Steine, da ja ein so großer Ansturm des Wasserstromes so viele Jahrhunderte lang ausgehalten werden konnte.“ 2 Am Ende der Antike nimmt Cassiodor melancholisch resümierend noch einmal die Hochleistungen römischer Kultur in den Fokus, für die stellvertretend das künstlich zum Fließen gebrachte Wasser und sein hierfür entwickelter Architekturtypus, der Aquädukt, beschworen wird. Dieser Ausdruck kulturellen Selbstverständnisses war jedoch nicht nur ein gefälliges literarisches Motiv, sondern reflektiert selbstbewusst einen Teil der gebauten Umwelt im Römischen Reich. Denn die mehr als 600 archäologisch erfassten Fernwasserleitungen, deren Arkadenbögen sich zum Teil über viele Kilometer erstreckten, visualisierten nicht nur den unstillbaren Durst nach ‚fließendem Wasser‘, sondern vor allem auch den immensen materiellen und personellen Aufwand, der allenthalben nötig war, um diesem kulturellen Bedürfnis Rechnung tragen zu können. Zu der materiellen Dichte der überlieferten Artefakte gesellt sich mit Frontinus’ einflussreicher Schrift de aquaeductu urbis romae eine weitere Quelle, die bei der Erforschung der römischen Hydrosysteme ein eigenes Gravitationszentrum bildet. Ihm allein verdanken wir das detailreiche Wissen über die Verwaltung des römischen Hydrosystems und darüber hinaus die erste Geschichte der römischen Wasserleitungen, die trotz der ihm teilweise entgegengebrachten Kritik bis heute kontinuierlich weitergeschrieben wird. Aufgrund dieser reichhaltigen antiken Überlieferungen haben sich vielfältige Forschungsfelder entwickelt, 1 Von den Verfassern geändert. Der Begriff „forma“ im lateinischen Text bezieht sich hier auf Aquädukte; s. a. die engl. Übersetzungen: Thomas Hodgkin, The Letters of Cassiodorus. London 1886, 324. 2 Cassiod. var. 7,6,2 zitiert nach Damir Kek, Der römische Aquädukt als Bautypus und Repräsentationsarchitektur. Münster 1996, 49.

DOI

10.1515/9783486781052.61

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von denen wir im Folgenden die stadtrömischen kaiserzeitlichen Fernwasserleitungen und Großthermen ausgewählt haben. Wegen ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und engen Bindung an die kaiserliche Macht erscheinen sie in besonderer Weise prädestiniert, die Interdependenz zwischen Infrastruktur und Macht schlaglichtartig zu beleuchten. 3

I. Infrastruktur – Akteure Über die Praxis der Wasserversorgung in republikanischer Zeit sind wir nur bruchstückhaft unterrichtet; Bau und Betreuung der frühesten Leitungen Roms lagen in der Hand von Censoren bzw. eines Prätors, also in der Verantwortung hoher Beamter der römischen Verwaltung. Die Finanzierung solcher Großprojekte wurde teilweise aus öffentlichen Mitteln oder Kriegsbeuten bestritten, aber auch private Investoren waren beteiligt. 4 Einige der frühen Wasserleitungen trugen den Namen ihrer Erbauer und werden wohl auch deren wirtschaftliche und politische Potenz eindringlich kommuniziert haben. 5 Diese Praxis änderte sich jedoch grundlegend, als nach den innenpolitischen und zugleich auch wirtschaftlichen Verwerfungen des römischen Bürgerkrieges Oktavian als Kaiser Augustus (30 v.Chr. – 14 n.Chr.) den römischen Staat tiefgreifend umgestaltete, die Machtverhältnisse neu ausbalancierte und damit dem Senat und der Nobilität neue Rollen zuwies, die von einer spürbaren Distanz zur kaiserlichen Macht geprägt waren. 6 Diese veränderte Situation spiegelte sich gerade auch in dem umfangreichen „Restaurierungs- und Neubauprogramm“ 7 für die Hauptstadt Rom,

3 Da dieser Beitrag eine übergeordnete Fragestellung behandelt, ist eine Diskussion zur Datierung der einzelnen Objekte nicht notwendig. Es sei noch angemerkt, dass der Einfluss der benachbarten Etrusker auf die römische Wasserbaukunst intensiver erforscht werden müsste, da diese bereits über ein großes Ingenieurswissen verfügt haben. 4 Gerda de Kleijn, The Water Supply of Ancient Rome. City Area, Water, and Population. Amsterdam 2001, 92–100. 5 Frontin. 5–8, vgl. auch Anm.41, 71. 6 Hierzu Peter Eich, Aristokratie und Monarchie im kaiserzeitlichen Rom, in: Hans Beck/Peter Scholz/ Uwe Walter (Hrsg.), Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und ‚edler‘ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit. (Historische Zeitschrift, Beiheft 47.) München 2008, 126, 136. 7 Anne Kolb, Die kaiserliche Bauverwaltung in der Stadt Rom. Geschichte und Aufbau der cura operum publicorum unter dem Prinzipat. Stuttgart 1993, 19–21; Frank Kolb, Rom. Die Geschichte der Stadt in der Anti-

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das als sichtbares Zeichen der Konsolidierung und des Aufbruchs in ein neues Zeitalter vor allem die gewaltigen wirtschaftlichen Potentiale der beiden neuen Akteure Agrippa und Oktavian vor Augen führte, die diese zum Wohle der Bevölkerung und des Staates einzusetzen bereit waren. In dem geschickt arrangierten Rollenspiel zwischen beiden übernahm Oktavians Schwiegersohn Agrippa, ehemaliger Konsul und Mitregent, einen bedeutenden Part, indem er in der Funktion eines Ädils, einer innerhalb der Ämterhierarchie und -laufbahn der römischen Verwaltung eher nachgeordneten Stellung, den gesamten Bereich der öffentlichen Bauten sowie die Instandsetzung und den Ausbau der Infrastruktureinrichtungen und damit auch des Fernwasserleitungsnetzes zu seiner Aufgabe machte. 8 Als einer der reichsten Männer Roms finanzierte Agrippa all diese Vorhaben aus seinem privaten Vermögen, darunter auch zwei weitere neue Fernwasserleitungen, ohne die Staatskasse damit belasten zu müssen. 1. Cura aquarum – die Verwaltung der Hydrosysteme Während seiner Ädilität – von 33 bis 12 v.Chr. – unterhielt Agrippa eine privat finanzierte Organisation von 240 Sklaven (familia publica), die für die Wasserversorgung Roms, also für Pflege und Reparatur der „Leitungen, Verteilerbauwerke und Brunnenbecken“ 9 zuständig war. Diese Einrichtung markiert den Beginn einer institutionalisierten Verwaltung des römischen Hydrosystems und zeigt zugleich die veränderte Sensibilität gegenüber solch fragilen und wartungsintensiven Infrastruktureinrichtungen – insbesondere der Fernwasserleitungen –, für deren nachhaltigen Betrieb eine systematische Betreuung zwingend notwendig erschien. Hier-

ke. München 1995, 330–369; Andrea Scheithauer, Kaiserliche Bautätigkeit in Rom. Das Echo in der antiken Literatur. Stuttgart 2000, 27–31; Lothar Haselberger, Urbem adornare. Die Stadt Rom und ihre Gestaltumwandlung unter Augustus. (Journal of Roman Archaeology, 64.) Portsmouth, RI 2007, 256–271: Liste der Bauwerke; Dietmar Kienast, Augustus. Princeps und Monarch. 4.Aufl. Darmstadt 2009, 408–439. Bereits Pompeius begann das Marsfeld zu bebauen (Pompeiustheater); diese Aktivitäten wurden unter Caesar fortgesetzt. 8 Jean-Michel Roddaz, Marcus Agrippa. Rom 1984. Agrippa hatte bereits das Amt des Consuls (33 v.Chr.) inne und war mit dem imperium ausgestattet. Als Dritter im Bunde dieses filigranen Zusammenspiels sollte noch Gaius Maecenas genannt werden, der aus altem etruskischen Adel stammte und ein loyaler Weggefährte des Kaisers war. Er förderte besonders die zeitgenössische Literatur, indem er junge aufstrebende Autoren wie Horaz und Vergil großzügig beschenkte und sie damit möglicherweise zur Panegyrik anregte, die der kaiserlichen Propaganda durchaus nützlich sein konnte. 9 Frontin. 98.

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bei wird es Agrippa wohl weniger um die Grundversorgung der Bevölkerung gegangen sein, denn Wasser spendende Tiefbrunnen und Zisternen waren reichlich vorhanden und deckten den für das Leben notwendigen Bedarf der Stadt. 10 Die immensen Investitionen in Ausbau und Sanierung der Anlagen 11 dienten in erster Linie der baulichen Verwandlung Roms zu einer luxuriösen ‚Stadt-Landschaft‘, die ihren Bewohnern durch die Steigerung der urbanen Lebensqualität eine Möglichkeit zur Akzeptanz bzw. Identifikation mit dem gleichzeitig sich vollziehenden Wandel der machtpolitischen Verhältnisse bot. 12 Doch nicht allein das Endprodukt der urbs ornata 13 mit ihren weitläufigen Freizeiteinrichtungen auf dem Marsfeld rund um die Thermen Agrippas, den zahlreichen neuen Bädern und flächendeckend installierten Laufbrunnen verschlang das nach Rom fließende Frischwasser, sondern sicher auch die gigantische Baustelle, als die sich die Metropole für viele Jahre ihren Bewohnern und Besuchern darbot. Neben der physischen Pflege der Hydrosysteme durch die familia publica bedurfte es aber auch einer internen Organisation, um einerseits die Vielzahl der unterschiedlichen Arbeitsabläufe festzulegen und andererseits die Verteilung des Wassers an „öffentliche Bauten [...], Brunnenbecken und Privatleute“ 14 zu regeln. Hierfür scheint Agrippa Richtlinien in schriftlicher Form, die commentarii aquarum, hinterlegt zu haben, deren Inhalt jedoch nicht direkt überliefert ist. 15 Nach seinem Tod im Jahre 12 v.Chr. fiel die familia und mit ihr die Verantwortung für das gesamte Hydrosystem als Erbschaft in die Hand des Kaisers, der jedoch nicht persönlich an die Stelle Agrippas trat, sondern diese Einrichtung – um den „republikanischen Schein“

10

Anna Maria Liberati Silverio/Giuseppina Pisani Sartorio (Eds.), Il trionfo dell’aqua. Acque e acquedotti a

Roma IV sec. a.C. – XX sec. Rom 1986, 28–30; Rabun Taylor, A citiore ripa aquae. Aqueduct River Crossings in the Ancient City of Rome, in: Papers of the British School at Rome 63, 1995, 75–103; ders., Public Needs and Private Pleasures. Water Distribution, the Tiber River and the Urban Development of Ancient Rome. Rom 2000, 39f.; Andrea Schmölder-Veit, Brunnen in den Städten des westlichen römischen Reichs. Wiesbaden 2009, 31–57. 11

Frontin. 9–12.

12

Harry B. Evans, Agrippa’s Water Plan, in: American Journal of Archaeology 86, 1982, 401–411.

13

Haselberger, Urbem (wie Anm.7), 308f.

14

Frontin. 98, 2.

15

Roddaz, Agrippa (wie Anm.8), 572f.; Michael Peachin, Frontinus and the curae of the curator aquarum.

Stuttgart 2004, 14–25; Kienast, Augustus (wie Anm.7), 263. Vermutlich hat Frontinus aus diesen commentarii geschöpft.

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nicht zu mindern 16 – verstaatlichte 17, sie fortan als cura aquarum weiter betrieb und damit zu einer dauerhaften Institution erhob. Für die Leitung wurde per Senatsbeschluss ein Kollegium von drei curatores aus dem senatorischen Adel benannt, die jedoch direkt vom Kaiser eingesetzt wurden. 18 Die gesetzlichen Regelungen für die Wasserversorgung – wie private Entnahme, Sicherheitsabstände zu den Trassen, Beschädigung der Leitungen, etc. 19 – wurden von Augustus in einem Edikt veröffentlicht, das einerseits umfassende Rechtsicherheit bot, andererseits aber signalisierte, dass diese ‚staatliche‘ Einrichtung der Autorität des Kaisers als ‚erstem Mann‘ der res publica unterstand. 20 Während die cura selbst aus der Staatskasse, dem fiscus, finanziert wurde, blieben die Investitionen in das stadtrömische Leitungssystem, ob Neubau oder Reparatur, auf lange Zeit Sache der Kaiser. 21 Grundlegende Veränderung erfuhr die Organisation unter Kaiser Claudius (41– 54 n.Chr.), der die alte staatliche Verwaltung anlässlich der Realisierung zweier weiterer Wasserleitungen um eine kaiserliche, 460-köpfige Mannschaft erweiterte und einen weiteren Funktionsträger, den procurator aquarum einsetzte. 22 Die zusammen auf 700 Mann angewachsene Personaldecke zeigte einerseits, wie kompliziert der Betrieb dieser Infrastruktur in den ca. 30 Jahren zwischen Augustus’ Tod und Claudius’ Amtsantritt geworden war, aber auch andererseits, welchen Aufwand man bereit war, sich für die dauerhafte Sicherstellung eines urbanen ‚life-style‘ auf hohem technischen und gesellschaftlichen Niveau zu leisten. „Aufsichtspersonal, Wärter von Verteilerbauwerken, Streckenläufer, Pflasterer, Putzer und andere Handwerker“ 23, aber auch Vermesser und Architekten waren sowohl inner- als auch außerhalb der Stadt beschäftigt, um das weit verzweigte Leitungssystem instand zu hal-

16 Werner Eck, Organisation und Administration der Wasserversorgung Roms, in: Die Wasserversorgung im antiken Rom: Sextus Iulius Frontinus, curator aquarum. Hrsg. v. der Frontinus-Gesellschaft e.V. 3.Aufl. München 1986, 63–77, hier 66. 17 Frontin. 119ff. 18 Ebd.99. 19 Ebd.126, 127: Senatsbeschluss; 129. – Taylor, Needs (wie Anm.10), 57f. Die drakonischen Strafen für Beschädigungen von Wasserleitungen reichten in manchen Provinzen bis zur Todesstrafe, s. Werner Eck, Roms Wassermanagement im Osten. Staatliche Steuerung des öffentlichen Lebens in den römischen Provinzen? (Kasseler Universitätsreden, 17.) Kassel 2008, 25. 20 Zum Edikt: Frontin. 99; Helmut Freis, Historische Inschriften zur römischen Kaiserzeit. Von Augustus bis Konstantin. Darmstadt 1984, 43, Nr.27; Eck, Organisation (wie Anm.16), 67. 21 Ebd. 22 Frontin. 105. 23 Frontin. 117.

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ten 24; außerdem sorgte ein ständig besetzter Bereitschaftsdienst an den zahlreichen Wasserschlössern dafür, dass bei Versorgungsengpässen oder Leitungsausfällen ausreichend Wasser in die betroffenen Stadtbezirke umgeleitet wurde. In ihrem vermutlich größten Ausbauzustand hatte die Behörde schließlich ein Netz von insgesamt elf Aquädukten, ca. 250 Wasserschlössern (castella) und weit über 1300 öffentlichen Brunnen zu beaufsichtigen 25 – eine hochkomplexe Infrastruktur, für deren Auf- und Ausbau, Betrieb und Wartung sicher eine große Zahl technischer Experten notwendig war. 2. Expertenwissen im Hydrosystem Infolge des enormen Ausbaus der Infrastrukturen im gesamten römischen Reich konnten sich spezifische Kompetenzgruppen formieren, ohne deren Wissen und Erfahrung gerade auch die sensiblen Hydrosysteme dauerhaft nicht hätten funktionieren können. Vom Handwerker bis zum Fachingenieur verfügten die rasch und in großer Zahl sich herausbildenden Spezialisten über ein Erfahrungswissen, das Kaiser und Staat in doppelter Weise von ihnen abhängig machte. Einerseits war man für Bau, Wartung und Reparatur auf Experten angewiesen, andererseits aber bestand die Gefahr, dass sich eben diese Experten aufgrund ihrer exklusiven Kenntnisse der Aufsicht und Kontrolle der Verwaltung entzogen und das Infrastruktursystem für ihre eigenen Zwecke instrumentalisierten oder gar missbrauchten. 26 Die gerade im Entstehen begriffene „technische Komplexität der Zivilisation“ wurde durch diese Akteure zur Gefahr für ihre „eigene politische, administrative und gesellschaftliche Kontrolle“. 27 Um einem solchen Autonomieverlust entgegenzuwirken, verfasste der von Kaiser Nerva im Jahre 97 n.Chr. als curator aquarum eingesetzte Sextus Julius Frontinus die Schrift de aquaeductu urbis romae, in der das verstreute

24

Es gab Architekten, die auf den Bau von Aquädukten spezialisiert waren, vgl. Michael Donderer, Die

Architekten der späten römischen Republik und der Kaiserzeit. Epigraphische Zeugnisse. Erlangen 1996, 87f. 25

Plin. nat. 36, 121 zu Agrippas Erfolgsbilanz; zu einer Liste von Wasserbauten aus dem 4.Jahrhundert

n.Chr.: Kolb, Rom (wie Anm.7), 542; Alexander Demandt, Die Spätantike. Römische Geschichte von Diocletian bis Justinian: 284 – 565 n.Chr. 2., überarb.Aufl. München 2007, 428; Christer Bruun, The Water Supply of Ancient Rome. A Study of Roman Imperial Administration. Helsinki 1991, 73–75, hält diese Zahl im Vergleich zur Anzahl an Bädern in Städten wie Ostia oder Pompeji für zu niedrig.

66

26

Frontin. 105, 110; Eck, Organisation (wie Anm.16), 70; Peachin, Frontinus (wie Anm.15), 161–171.

27

Burkard Meißner, Die technologische Fachliteratur der Antike. Berlin 1999, 185.

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Praxiswissen erstmals systematisch geordnet wurde und damit als verbindliche Richtlinie für ihn selbst sowie für seine Nachfolger dienen konnte. 28 Neben einer differenzierten Beschreibung der ihm anvertrauten Infrastruktur, der zahlreichen Aufgabenfelder der Behörde, juristischer Rahmenbedingungen, Mitarbeitertableau und Besoldungstarifen, spielte insbesondere die tabellenartige Zusammenschau der unterschiedlich großen Durchmesser hauptsächlich verwendeter Leitungsrohre eine zentrale Rolle, weil mit diesen Daten unter Zuhilfenahme geeichter Messrohre die Kapazitäten der einzelnen Leitungen und damit auch die Abgabemengen an öffentliche und private Konsumenten bestimmt und kontrolliert werden konnten. 29 Mit geradezu „betriebswirtschaftlicher Rationalität“ 30 evaluierte Frontinus also den gesamten Hydrokomplex und stellte einen Wissensextrakt zusammen, der nach seinem Dafürhalten die Entscheidungskompetenz und Souveränität der Administration und damit auch die Kontrolle über das System dauerhaft wiederherstellen sollte. 31 Vor allem wegen dieses ausgesprochen normativen Charakters fügt sich Frontinus’ Schrift in jene technisch ausgerichtete Handbuch- und Expertenliteratur, die sich im frühen Prinzipat rasch auszubreiten begann und beispielsweise mit Vitruvs de architecura und den Ingenieurhandbüchern des Heron von Alexandria 32 bedeu-

28 Frontin. 1–2, (1) „Für einen qualifizierten Mann ist nichts so entehrend, als sich von Untergebenen die Ausführung einer übertragenen Aufgabe vorschreiben zu lassen. Die muss aber dann eintreten, wenn ein unfähiger Vorgesetzter sich nur auf die Routine seiner Mitarbeiter stützt, die zwar für die Tätigkeit notwendig sind, aber nur Hand oder Werkzeug des Verantwortlichen […] obendrein diesen Bericht gefertigt, den ich als Richtlinie meiner Verwaltung betrachten kann.–“ (übersetzt von Gerhard Kühne), in: Wasserversorgung (wie Anm.16), 81. Zum Einstieg in die Forschungen über Frontinus vgl. etwa Werner Eck, Die Gestalt Frontins in ihrer politischen und sozialen Umwelt, in: Wasserversorgung (wie Anm.16), 47–62; Bruun, Water (wie Anm.25), 13–19; Harry B. Evans, Water Distribution in Ancient Rome. The Evidence of Frontinus. Ann Arbor 1994; Ann Olga Koloski-Ostrow, Water as a Symbol of Wealth? An Overview of the Roman Evidence, in: dies. (Ed.), Water Use and Hydraulics in the Roman City. Dubuque, Iowa 2001, 2–4; Peachin, Frontinus (wie Anm.15); ders., Frontinus and the Creation of a New Administrative Office, in: Anne Kolb (Hrsg.), Herrschaftsstrukturen und Herrschaftspraxis. Berlin 2006, 79–87. 29 Frontin. 36; Henning Fahlbusch, Über Abflußmessung und Standardisierung bei den Wasserversorgungsanlagen Roms, in: Wasserversorgung (wie Anm.16), 129–144; Taylor, Needs (wie Anm.10), 39–51; Hodge, Aqueducts (wie Anm.36), 215–245. 30 Meißner, Fachliteratur (wie Anm.27), 35. 31 Robert H.Rodgers, An Administrator’s Hydraulics. Frontinus AQ. 35–36,2, in: Alfred Trevor Hodge (Ed.), Future Currents in Aqueduct Studies. Leeds 1991, 15–20. 32 Das Wirken Heron von Alexandrias wird im Allgemeinen ins 1.Jahrhundert n.Chr. datiert, vgl. Otto Neugebauer, Über eine Methode zur Distanzbestimmung Alexandria–Rom bei Heron. Kopenhagen 1938,

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tende Beiträge zur Standardisierung und Systematisierung dieser Wissensfelder geleistet hat. Hierdurch wurde aber auch die Koevolution einer eigenen technischen Wissensinfrastruktur möglich, die eigentlich zur Effizienzsteigerung und Überprüfbarkeit der eingeforderten Leistungen beitragen sollte, zugleich aber eine zentripetale Wirkung zur ‚ursächlichen Handlungsmacht‘ entfaltete und damit Gefahr lief, dieser zu entgleiten.

II. Infrastruktur – Artefakte Die Ausdifferenzierung der Infrastrukturverwaltung war nicht allein das Ergebnis der unter Augustus konstituierten und sich konsolidierenden kaiserlichen Macht, sondern ergab sich auch zwingend aus der Entscheidung für bestimmte Formen der Wasserinstallation. Denn die technischen Artefakte stehen für verschiedene Konzeptionen der materiellen Infrastruktur, die unterschiedliche Macht- und Handlungsebenen berührten und bestimmte Handlungsabläufe vorgaben. Konzeptionell lässt sich das komplexe System der Wasserinfrastruktur im kaiserzeitlichen Rom in ein Primär-, Sekundär- und Tertiärsystem untergliedern. Dem Primärsystem sind sowohl Quellen als auch Leitungs-, Verteiler- und Speichersysteme zuzuordnen, die das Wasser von ihrem Ursprung bis zum Endverbraucher beförderten und als Fernwasserleitungen, Verteilerbauten, Tiefbrunnen, Zisternen sowie Wasserbecken, Teiche und sonstige Reservoirs 33 ihre jeweilige Funktion erfüllten. Das Sekundärsystem umfasst den Konsumentenbereich, dem die Bäder, Thermen, Nymphäen, Lauf- und Zierbrunnen, aber auch Latrinen angehörten; ebenso sind die Einrichtungen für die Feuerwehr dazu zu zählen wie auch Handwerk, Gewerbe und Landwirtschaft mit ihren Mühlen, Gärten, Fischteichen und Feldern. 34 1–26. Anders neuerdings Nathan Sidoli, Heron’s Dioptra 35 and Analemma Methods. An Astronomical Determination of the Distance between Two Cities, in: Centaurus 47, 2005, 236–258. Unter Herons Namen wurden zahlreiche technologische Schriften vom 1.Jahrhundert n.Chr. bis ins byzantinische Mittelalter veröffentlicht, die sich mit Spezialgebieten des Ingenieurwesens wie Vermessung, Mechanik, Geschützbau, Pneumatik, Katoptrik usw. beschäftigten. Ihm wird nachgesagt, eine eigene Ingenieurschule gegründet zu haben, vgl. Glanville Downey, Pappus of Alexandria on Architectural Studies, in: Isis, 38, 3–4, Feb. 1948, 197–200. 33

Begrifflich werden hier Zisterne als Sammelbehälter für natürliches Wasser (Regen, Grundwasser)

und Reservoir als Speicher für zugeführtes Wassers unterschieden. 34

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Koloski-Ostrow, Water (wie Anm.28), 7; de Kleijn, Water (wie Anm.4), 75–91; dies., The Emperor and Pub-

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Die reine Wasserentsorgung und ihr Netz von Abwasserkanälen sind dagegen Teil des Tertiärsystems. 35 Danach diente das Primärsystem der basalen Zufuhr von fließendem Wasser und umfasste die Versorgungstechnik der Stadt, die Pfadabhängigkeiten auslöste und ihr damit langfristige Verpflichtungen auferlegte. Während sich die gestalterische Varianz der Artefakte des Primärsystems vergleichsweise bescheiden ausnahm, boten die an den Konsumenten orientierten Einrichtungen des Sekundärsystems eine wesentlich größere Bandbreite an Praxisfeldern, für die unterschiedlichste Nutzungsbereiche mit entsprechend vielfältigen Bauformen entwickelt wurden. Dieser Unterschied bestimmte die Interdependenz von Infrastruktur und Macht, die daher auch im Sekundärsystem differenzierter als im Primärsystem wirksam werden konnte. Alle antiken Hydrosysteme waren grundsätzlich davon abhängig, auf welche Weise und an welchem Ort die notwendigen Wasserspender wie Quellen, wasserführende Schichten, Gewässer und Regen erschlossen werden konnten. 36 Der definierte Zweck der einzelnen Installationen bestimmte ihre Art und Größe, woraus auch die jeweils notwendigen Schritte für Planung, Maßstab und Aufwand des Primärsystems resultierten. 37 Der Bau von Tiefbrunnen erforderte einen vergleichsweise geringen Aufwand, was Personal- und Materialeinsatz betraf. An einer günstigen wasserführenden Stelle musste lediglich ein Schacht ausgehoben und gesi-

lic Works in the City of Rome, in: Lukas de Blois (Ed.), The Representation and Perception of Roman Imperial Power. Roman Empire, c. 200 B.C. – A.D. 476. (Impact of Empire, 3.) Amsterdam 2003, 212f. 35 Das Tertiärsystem könnte streng genommen auch dem Bereich Konsum subsumiert werden. In diesem Beitrag kann es nicht behandelt werden, obwohl eine der ersten Aufgaben der frühen Könige Roms im Rahmen der Wasserinfrastruktur die Anlage der („schiffbaren“) cloaca maxima war, die die marschige Gegend des späteren Forum Romanum entwässerte und so ihre Nutzung erst ermöglichte. Auch später wird Ausbau und Reparatur der cloaca maxima immer wieder als besondere Leistung der römischen Führungsriege gelobt. 36 Günther Garbrecht, Mensch und Wasser im Altertum, in: ders. (Hrsg.), Die Wasserversorgung antiker Städte. Mensch und Wasser, Mitteleuropa, Thermen, Bau/Materialien, Hygiene. Mainz 1988, 13–42; Schmölder-Veit, Brunnen (wie Anm.10), 15–20; Alfred Trevor Hodge, Roman Aqueducts and Water Supply. London 1991, 67–92. 37 Einen Überblick zu Planung, Bauablauf, Betrieb etc. aus ingenieurstechnischer Sicht bietet etwa Henning Fahlbusch, Vergleich antiker griechischer und römischer Wasserversorgungsanlagen. Braunschweig 1982; vgl. auch die Publikationen der Frontinus-Gesellschaft e.V.; siehe auch Günther Garbrecht, Die Wasserversorgung Roms, in: Wasserversorgung (wie Anm.16), 32–43.

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chert werden, um schließlich Wasser schöpfen zu können. Hierbei handelte es sich oft um private Brunnenanlagen, die im günstigen Fall direkt im Haus lagen. 38 Das Spektrum von Wassersammelbecken reichte von einfachen, in den Fels abgeteuften Zisternen bis hin zu mehreren tausend Kubikmeter fassenden Reservoirs; erinnert sei hier an die piscina mirabilis in Misenum (Italien) oder die Yerebatan Sarnıcı (Istanbul). 39 Ein erheblicher Maßstabssprung war beim Planungs- und Organisationsaufwand der großen städtischen Reservoirs notwendig. Die Bereitstellung der gewünschten Bauplätze erforderte rechtliche Entscheidungen durch die Administration; bautypologisch oder standortbedingte hohe Anforderungen an die Tragwerkstechnik setzten konstruktives Wissen voraus, das von Experten geliefert werden musste. Außerdem galt es die Finanzierung, ob privat oder aus öffentlichen Mitteln, abzusichern und den Baubetrieb mit all den notwendigen Personal- und Materialressourcen sachkundig zu organisieren. 1. Fernwasserleitungen – Planung Tiefbrunnen und Zisternen waren ortsfeste und durch lokale hydrologisch-klimatische Verhältnisse festgelegte Infrastrukturen. 40 Um sich von solchen Bindungen unabhängig zu machen und die Stadt mit fließendem Wasser zu versorgen, konnten außerhalb der Siedlung vorhandene Wasserressourcen, vornehmlich Quellen, erschlossen und ihre Distanz zum Ziel durch den Bau von Fernwasserleitungen 41 überwunden werden. Deren Konzeption war jedoch mit spezifischen Anforderungen verknüpft, die auf das Zusammenspiel von Macht und Infrastruktur 38

Wolfram Letzner, Römische Brunnen und Nymphaea in der westlichen Reichshälfte. Münster 1990,

62–98 (Terminologie), 117–225 (Typen), 217–244 (Rom); Schmölder-Veit, Brunnen (wie Anm.10), 50–51. 39

Misenum: ca. 12000 m3: Mathias Döring, Wasser für den Sinus Baianus, in: Antike Welt 33, 2002, 305–

319. – Istanbul: ca. 80000 m3: James Crow/Jonathan Bardill/Richard Bayliss, The Water Supply of Byzantine Constantinople. (The Journal of Roman Studies, Monographs, 11.) London 2008, 125–155. – Werner Brinker, Wasserspeicherung in Zisternen. Ein Beitrag zur Frage der Wasserversorgung früher Städte. Braunschweig 1990; Hodge, Aqueducts (wie Anm.36), 48–66; Schmölder-Veit, Brunnen (wie Anm.10), 51f. 40

In diesem Zusammenhang darf man den Anteil von Gefäßen (Pithoi und Dolia), mit denen in den Häu-

sern Regenwasser aufgefangen wurde, für die Sicherung der Wasserversorgung nicht unterschätzen. 41

Das Wort Aquädukt ist das lateinische Wort für Wasserleitung, wird im allgemeinen Sprachgebrauch

aber häufig auf die Arkadenbögen von Aquäduktbrücken reduziert. Die Literatur zu den römischen Aquädukten ist sehr umfangreich, als Einstieg und Überblick sei auf folgende Werke verwiesen: Esther Boise van Deman, The Building of the Roman Aqueducts. Washington 1934; Thomas Ashby, The Aqueducts of Ancient Rome. Oxford 1935; Pietrantonio Pace, Gli aquedotti di Roma e il de aquaeductu di Frontino, con testo critico versione e commento. Rom 1983; Liberati Silverio/Pisani Sartorio (Eds.), Il trionfo (wie Anm.10),

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nachhaltig wirkten, denn einerseits musste der hierfür beanspruchte Raum auf unterschiedlichen Ebenen erfasst und andererseits das Fließen des Wassers kontrolliert werden. An diesem Prozess waren drei Handlungsebenen der Macht involviert: (a) Die Nutzung einer Quelle setzte die politische Kontrolle 42 über das gesamte Territorium zwischen Ressource und Stadt voraus, um einen ungehinderten und permanenten Zugriff auf das Wasser zu garantieren und die immensen Investitionen, die für den Bau einer römischen Fernwasserleitung nötig waren, nicht zu gefährden. 43 (b) Zugleich mussten der Trassenverlauf in Absprache mit den Grundstückseigentümern abgestimmt und die notwendigen Dienstbarkeiten wie Wegerechte für Schutz und Wartung der Anlagen juristisch geregelt werden. 44 Waren diese politischen und normativen Faktoren geklärt, konnten (c) die Experten mit der physischen Raumaneignung beginnen, die ein kontrolliertes Fließen des Wassers gewährleisten sollte. Deshalb musste bereits im Planungsprozess der Endpunkt einer Leitung fixiert sein, um das Gefälle zwischen Quelle und Ziel genau berechnen und festlegen zu können. Ebenfalls notwendig war die Kenntnis des Wasserbedarfs, um die korrespondierenden Durchlaufvolumina kalkulieren und die Entscheidung für ein angemessenes und effektiv funktionierendes Leitungssystem treffen zu kön-

27–125; Lawrence Richardson, A New Topographical Dictionary of Ancient Rome. Baltimore 1992, 15–19; Hodge, Aqueducts (wie Anm.36); Kek, Aquädukt (wie Anm.2). Zu den verschiedenen rechtlichen und begrifflichen Aspekten der Aquädukte s. Taylor, Needs (wie Anm.10), 53–91; Diskussion über Kapazitäten von Wasserleitungen s. de Kleijn, Water (wie Anm.4), 81f. 42 Dabei ging es nicht nur um die Grundstücke Einzelner, sondern bisweilen durchquerte eine Fernwasserleitung mehrere Territorien. Betrachtet man die Lage der Quellgebiete der ersten Fernwasserleitungen, die nach Rom geführt wurden, so fällt auf, dass die Aqua Appia – die um 312 v.Chr. gebaut sein soll – in Latium entsprang, also in jenem Gebiet, das kurz zuvor mit Rom in Frieden getreten war. Die zweite Leitung, die Aqua Anio Vetus, um 270 v.Chr. errichtet, bezog ihr Wasser aus dem Gebiet des Flusses Anio (modern Aniene), der der Grenzfluss zwischen Latium und dem Gebiet der Sabiner war, die um 290 v.Chr. unter dem römischen Konsul M. Curius Dentatus besiegt wurden. Er war Initiator dieser Leitung. Die Koinzidenz zwischen der Ausdehnung der Gebietskontrolle durch Rom und dem Bau der Aquädukte wird kein Zufall gewesen sein. Vielmehr spiegelt sich in ihr das regionalpolitische Machtsystem. Ob die Aqua Anio Vetus ein „Triumphalmonument“ des Dentatus war, sei dahingestellt, so Kolb, Rom (wie Anm.7), 163f. Vgl. mit weiteren Beispielen Eck, Wassermanagement (wie Anm.19), 44. 43 Beispielsweise soll die Aqua Claudia und Anio Novus (1.Jahrhundert n.Chr.) 350 Millionen Sesterzen gekostet haben, s. Plin. nat. 36, 122; Philippe Leveau, Research on Roman Aqueducts in the Past Ten Years, in: Hodge (Ed.), Currents (wie Anm.31), 149–162; Fahlbusch, Vergleich (wie Anm.37), 137–139, setzt die Kosten in Zusammenhang mit dem umbauten Raum und den eingesetzten Materialien. 44 Etwa Livius 40, 51. 7: um 179 v.Chr. scheiterte die Realisierung einer Fernwasserleitung an der Verweigerung des Grundstückbesitzers. Erst um 144 v.Chr. konnte die Aqua Marcia gebaut werden.

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nen. 45 All diese Parameter bestimmten schließlich den Verlauf der Leitungstrasse, die als abstrakte räumliche Achse in die reale Topografie einer bewegten Landschaft zu integrieren war. Hierfür waren spezielle Kenntnisse von Experten notwendig: Die Landvermesser und Nivellierer (gromatici, mensores) zerlegten mit ihren Messinstrumenten den Landschaftsraum in ein abstraktes System geometrischer Figuren, durch das die Trasse ihre mathematisch exakte Position erhielt. Ingenieure und Architekten errichteten die Arkaden der Täler überspannenden Brücken, deren serielle Abfolge von Kreisbögen und vertikalen hoch aufstrebenden Pfeilern die Geometrisierung der Landschaft eindrucksvoll visualisierten. Die Stadt als Zielpunkt musste schließlich mit Verteilerbauwerken (castella) und einem feingliedrigen Leitungsnetz ausgestattet werden, um das Wasser – möglichst flächendeckend – den unterschiedlichen Konsumenten zuzuführen. 46 Gerade im Planungsprozess eines Aquäduktes offenbart sich – neben der Komplexität des eigentlichen Vorhabens – vor allem das komplizierte Geflecht der Aushandlungsprozesse mit den unterschiedlichen Machtinstanzen, ob politisch-territorial oder juristisch-administrativ, ohne die ein solches Infrastrukturprojekt nie hätte konzipiert werden können. Für seine Finanzierung war – zumindest in Rom 47 – die höchste Machtinstanz, der Kaiser als erster Mann der res publica, zuständig 48, der allein auch über die kostenpflichtige Abgabe an Privathaushalte des sonst der Allgemeinheit zur Verfügung stehenden Wassers zu entscheiden hatte.

45

Bei hohem Bedarf bevorzugte man die leistungsstärkere Freispiegelleitung anstelle von Leitungsroh-

ren oder Druckleitungen. Meistens wurden Mischsysteme installiert. Vgl. Hodge, Aqueducts (wie Anm.36), 126–214. 46

De Kleijn, Water (wie Anm.4), 32–38; Peachin, Frontinus (wie Anm.15), 173–178.

47

Auch imperiumsweit galt offiziell das kaiserliche Recht, Fernwasserleitungen zu bauen. In der tägli-

chen Praxis wird sich der Kaiser bei mehr als tausend römischen Städten jedoch nicht um jedes Aquädukt gekümmert haben. Vielmehr war seine Einflussnahme durch ein komplexes Wechselspiel mit der Provinzverwaltung geprägt, vgl. Engelbert Winter, Staatliche Baupolitik und Baufürsorge in den römischen Provinzen des kaiserzeitlichen Kleinasien. (Asia-Minor-Studien, 20.) Bonn 1996, 67–93, 148–166; Werner Eck, Organisation und Administration der Wasserversorgung Roms, in: ders. (Hrsg.), Die Verwaltung des Römischen Reiches in der Hohen Kaiserzeit. Bd. 1. (Arbeiten zur römischen Epigraphik und Altertumskunde, Bd. 1.) Basel 1995, 161–178; Marietta Horster, Bauinschriften römischer Kaiser. Untersuchungen zu Inschriftenpraxis und Bautätigkeit in Städten des westlichen Imperium Romanum in der Zeit des Prinzipats. (Historia, Einzelschriften, 157.) Stuttgart 2001. 48

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Eck, Organisation (wie Anm.16), 67.

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2. Fernwasserleitungen – Vulnerabilität Pflege und Instandhaltung waren weitere wichtige Handlungsfelder der unterschiedlichen Wasserversorgungssysteme, die durch ihre systemimmanente Anfälligkeit notwendig wurden. Verschleiß als Folge intensiver Nutzung, Beschädigungen aller Art, Zerstörung bei Bränden, Naturkatastrophen und Kriege waren eine ständige Gefahr für die Funktionstüchtigkeit der sensiblen Hydrosysteme. 49 Während kriegerischer Ereignisse waren insbesondere die außerhalb der Stadt gelegenen sichtbaren Bereiche der Fernwasserleitungen beliebte Angriffsziele, da sich die zu verteidigende Stadt an dieser Stelle in doppelter Weise verwundbar zeigte. Denn einerseits konnte durch Zerstörung der Anlagen die Wasserzufuhr unterbrochen werden, andererseits war es aber auch möglich, durch die Leitungskanäle in die Stadt einzudringen. 50 Obwohl militärische Auseinandersetzungen tiefgreifende Zerstörungen an den Infrastruktursystemen nach sich zogen, waren sie doch weit weniger bedrohlich als der an ihrer materiellen Substanz kontinuierlich nagende Gebrauch, die unvermeidlichen Bauschäden durch mangelhaft ausgeführte Arbeiten sowie die klimatischen Einflüsse, die vor allem der oberirdischen Substanz erheblichen Schaden zufügen konnten. Die Anlagen bedurften also einer intensiven Fürsorge, der man sich nur um den Preis, ein funktionierendes System zu verlieren, entziehen konnte. 51 Damit griffen diese aufwändigen und komplexen Strukturen nachhaltig in die Organisation einer Stadt ein und legten ihr – je nach Typus – für viele Generationen die Last auf, Sorge für ihren Erhalt und ihr kontinuierliches Funktionieren zu tragen. Dieser Verpflichtung war man sich bei der Planung von Aquädukten durchaus bewusst, dennoch sind uns Phasen langjähriger Vernachlässigung der Anlagen bekannt, wie beispielsweise während der Regierungszeit Neros, die aber unter Kaiser Vespasian (69–79 n.Chr.) aufwändig revisioniert worden sind. 52 Die systemimmanente Anfälligkeit der Wasserinfrastruktur bürdete der kaiserlichen Macht im Bereich des Primärsystems vor allem auch auf der juristischen

49 Schon Plin. nat. 36, 106 verwies generell auf die Gefahr herabstürzender Bauteile. 50 Prok. Bella 5, 19, 18. 51 Frontin. 120; Taylor, Needs (wie Anm.10), 30–33; Henning Fahlbusch, Maintenance Problems in Ancient Aqueducts, in: Hodge (Ed.), Currents (wie Anm.31), 7–14. 52 Rebecca R. Benefiel, The Inscriptions of the Aqueducts of Rome. The Ancient Period, in: The Water Journal, 2001, 4, http://www3.iath.virginia.edu/waters/Journal1BenefielNew.pdf (29.04.2012); Schmölder-Veit, Brunnen (wie Anm.10), 25–27.

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Ebene die Verantwortung für eine garantierte Funktionsfähigkeit auf. Darüber hinaus unterstanden aber auch die dezentralen Wassersysteme der gemeinschaftlichen Regelung und Ordnung, deren Missbrauch unter empfindliche Strafen gestellt war. 53 3. Fernwasserleitungen – soziokulturelle Wirkungen Standen bisher die planerischen und vulnerablen Aspekte des römischen Hydrosystems im Vordergrund, so werden im Folgenden die soziokulturellen Wirkungen angesprochen, die vor allem mit dem Phänomen des ‚fließenden Wassers‘ verbunden waren. Durch die Fernwasserleitungen konnte das Sekundärsystem der Stadt Rom, also der gesamte Konsumentenbereich, in großem Umfang kontinuierlich und ubiquitär mit Wasser versorgt werden. 54 Berechtigungen für den Zugriff auf fließendes Wasser wurden ausnahmslos durch den Kaiser erteilt und die Einleitung der vereinbarten Abnahmevolumina durch geeichte Messrohre kontrolliert. Das ‚fließende Wasser‘ war nicht nur ein signifikanter Machtfaktor, sondern seine kinetische Eigenschaft sowie das überreiche Angebot gaben auch den Impuls für die Diversifizierung kultureller Einrichtungen im Sekundärsystem, die Einfluss auf die soziale Distinktion der Bewohner Roms nahmen. Zunächst hatte das fließende Wasser den Vorteil, dass es von den städtischen Verteilerbauten über ein Netz von Leitungen aus Ton oder Blei den verschiedenen Nutzungen im Sekundärsystem, wie etwa Laufbrunnen, Bädern oder Thermen, zugeführt werden konnte. Diese tendenziell frei wählbaren Orte – einzig die Topographie legte dem Grenzen auf – ermöglichte es der kaiserlichen Handlungsmacht, gezielt in die städtische Sozialstruktur einzugreifen. Durch die Installation von Laufbrunnen konnte die Zahl der öffentlichen Abgabestellen unabhängig von den ortsfesten Tiefbrunnen und Zisternen deutlich erhöht und damit auch bislang benachteiligte Quartiere ausreichend mit Wasser versorgt und ihre sozialen wie auch hygienischen Verhältnisse verbessert werden. Das Wasser in den Becken der Laufbrunnen war prinzipiell öffentlich zugänglich. 55

53

Ausführliche Regelungen hierzu finden sich bereits in der hellenistischen Astynomeninschrift von

Pergamon, s. Günther Klaffenbach, Die Astynomeninschrift von Pergamon. Berlin 1954; s. oben Anm.19. 54

In gewisser Weise war auch der Wasserverkäufer eine ubiquitäre Erscheinung. Zu diesem Berufsfeld

s. Schmölder-Veit, Brunnen (wie Anm.10), 28. 55

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Peachin, Frontinus (wie Anm.15), 173–178. Über bisweilen tumultartige Zustände beim Wasserschöp-

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Außerdem wurde das Wasser durch eigens verlegte Leitungen auch direkt in den kaiserlichen Palast oder in die Häuser und Villen privilegierter Personen geführt, wo es aber anscheinend weniger deren individuelle Grundbedürfnisse zu befriedigen hatte, sondern vielmehr als Bestandteil eines luxuriösen Ambientes, z.B. als Zieroder Springbrunnen, durch sein überreiches Vorhandensein den hohen Lebensstandard der Bewohner repräsentierten sollte. 56 Diese privaten Zuleitungen verwiesen gleichermaßen auf die soziale Distanz 57 zu jenen, die ihr Wasser an den Laufbrunnen holen mussten, und andererseits auf das Machtgefälle zum Kaiser 58, denn ausschließlich er verfügte über das Recht, Konzessionen zur privaten Entnahme der öffentlichen Wasserleitungen – das auch die Entnahme extra urbem einschloss – zu vergeben. 59 So wurde der Stadt durch die gezielte Distribution der Laufbrunnen in den Quartieren und Bezirken sowie die kaiserlich erteilten Privatanschlüsse ein sozialtopo-

fen berichten antike Autoren, s. Sen. epist. 56, 3–4; Libanius, orat. 11, 244, 1–7; 246, 1–247,7, aus: Claudia Dorl-Klingenschmid, Prunkbrunnen in kleinasiatischen Städten. Funktion im Kontext. München 2001, 11. 56 Die zunehmende Bedeutung von großen Gärten in den innerstädtischen Häusern machte deren Bewässerung erforderlich: Koloski-Ostrow, Water (wie Anm.28), 1–15. Auch im Umland von Rom mussten die zahlreichen Gärten bewässert werden, s. Plin. nat. 36, 123; Diane Favro, The Urban Image of Augustan Rome. Cambridge 1996, 176–180; Peachin, Frontinus (wie Anm.15), 129; Geoff W. Adams, Rome and the Social Role of élite Villas in its Suburbs. Oxford 2008. 57 Die Verfügungsmacht über fließendes Wasser wirkte sich ebenfalls im Wirtschaftsbereich aus, da Handwerksbetriebe, die über selbiges verfügten, in anderen Dimensionen produzieren und entsprechend zur Wirtschaftskraft beitragen konnten, vgl. etwa zu Ziegeleien am Tiber Robert B. Lloyd, The Aqua Virgo, Euripus and Pons Agrippae, in: American Journal of Archaeology 83, 1979, 193–204. Zu Gewerbegebieten in Rom vgl. Jean-Paul Morel, La topographie de l’artisanat et du commerce dans la Rome antique, in: L’Urbs, espace urbain et histoire (Ier siècle av. J.-C.-IIIe siècle ap. J.-C.) Rom/Paris 1987, 127–155. 58 Werner Eck, Die fistulae aquariae der Stadt Rom. Zum Einfluß des sozialen Status auf administratives Handeln, in: ders. (Hrsg.), Die Verwaltung des Römischen Reiches in der Hohen Kaiserzeit. Bd. 2. (Arbeiten zur römischen Epigraphik und Altertumskunde, Bd. 3.) Basel 1998, 245–247, betont das unbedingte Nahverhältnis der Privilegierten zum Kaiser. 59 Frontin. 74,4. 88,2. 99,3. 103,2. 105,1; Bruun, Water (wie Anm.25); Eck, Organisation (wie Anm.16), 73; Eck, fistulae (wie Anm.58), 245–277; de Kleijn, Water (wie Anm.4), 115–146. Dabei handelte es sich u.a. um Bleirohre (fistulae), die mit Namensstempeln (Kaiser, Baubehörde, Spengler oder Privatpersonen) versehen waren. Diese Rohre waren der Nachweis dafür, wer berechtigt war, Wasser zu beziehen. Sie wurden in den Leitungsnetzen verbaut und traditioneller Interpretation nach verweisen sie auf die Besitzer etwa eines Hauses oder Gartens: de Kleijn, Water (wie Anm.4), 82, 143–146; Taylor, Needs (wie Anm.10), 23f., 69–72. Ob die Tatsache, dass diese Stempel sichtbar eingebaut wurden, auf die Exklusivität des Besitzers verweist, wie de Kleijn, Water (wie Anm.4), 145, meint, oder vielmehr der Kontrolle diente, müsste in einer umfassenden Studie geklärt werden.

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graphisches Relief aufgeprägt, das zugleich auch die soziale Positionierung der beteiligten Akteure nachhaltig verfestigte. 60 4. Thermen Die Artefakte des Sekundärsystems, wie Bäder, Thermen und Nymphäen, zeigen sowohl typologisch als auch in ihrer konstruktiven, gestalterischen und räumlichen Konfiguration eine außerordentlich große Variationsbreite. Viele dieser Einrichtungen, allen voran aber Thermen und Nymphäen benötigten für ihren Betrieb vorwiegend ‚fließendes Wasser‘, das in zum Teil gewaltigen Mengen zugeführt werden musste. Hierbei kristallisierte sich ein Bereich heraus, der wiederum einzig dem kaiserlichen Zugriff unterstand. Die römische Badekultur 61 hatte mit den balnea und ther-

60

Mittels der fistulae ließe sich allerdings eine sozialtopographische Kartierung Roms nach privilegier-

ten, wohlhabenden oder armen Häusern nur dann erstellen, wenn die Bleirohre im ursprünglichen Verbauungskontext gefunden worden wären, was sehr selten der Fall war. Vgl. de Kleijn, Water (wie Anm.4), 115–146, und Carlos F. Norena, Water Distribution and the Residential Topography of Augustan Rome, in: Lothar Haselberger (Ed.), Imaging Ancient Rome. Documentation – Visualization – Imagination. (Journal of Roman Archaeology, Supplementary Series, 61.) Portsmouth, RI 2006, 91–105, bes. 99; de Kleijn, Emperor (wie Anm.34), 207–214; Glenn R. Storey, Regionaries-Type Insulae 2: Architectural/Residential Units at Rome, in: American Journal of Archaeology 106, 2002, 411–434; Andrea Schmölder-Veit, Öffentliche Brunnen und Nymphäen in Ostia, in: Gemma C. M. Jansen (Ed.), Cura aquarum in Sicilia. Leiden 2000, 255–263; Hans Eschebach, Die innerstädtische Gebrauchswasserversorgung dargestellt am Beispiel Pompejis, in: Jean-Paul Boucher (Ed.), Journées d’Études sur les Aqueducs Romains. Lyon (26. – 28. mai 1977). Paris 1983, 81–132. Zur Bedeutung senatorischer Häuser in Rom: Henner von Hesberg, Die Häuser der Senatoren in Rom. Gesellschaftliche und politische Funktion, in: Werner Eck/Matthäus Heil (Hrsg.), Senatores populi Romani. Realität und mediale Präsentation einer Führungsschicht. Stuttgart 2005, 22–32; Werner Eck, Cum dignitate otium. Senatorische Häuser im kaiserzeitlichen Rom, in: ders. (Hrsg.), Monument und Inschrift. Gesammelte Aufsätze zur senatorischen Repräsentation in der Kaiserzeit. Berlin 2010, 207–239. 61

Einen Überblick liefern Daniel Krencker/Emil Krüger (Hrsg.), Die Trierer Kaiserthermen. Ausgrabungs-

bericht und grundsätzliche Untersuchungen römischer Thermen. Augsburg 1929; Hans Wachtler, Literarische Quellen zu römischen Thermen, in: Krencker/Krüger (Hrsg.), Kaiserthermen, 320–337; Inge Nielsen, Thermae et balnea. The Architecture and Cultural History of Roman Public Baths. Aarhus 1990; Günther Garbrecht/Hubertus Manderscheid, Die Wasserbewirtschaftung römischer Thermen. Archäologische und hydrotechnische Untersuchungen. Braunschweig 1994; Marga Weber, Antike Badekultur. München 1996; Garrett G. Fagan, Bathing in Public in the Roman World. Ann Arbor 1999; Fikret K. Yegül, Baths and Bathing in Classical Antiquity. Cambridge, Mass. 1992; ders., Bathing in the Roman World. Cambridge 2010; zu den Thermen in Rom: Richardson, Rome (wie Anm.41), 385–399. Die Bedeutung des Badens für die römische Kultur findet sich allenthalten in antiken Schriftquellen: etwa Martial ep. 7, 34; Tacitus, Agricola 21,3; Plinius ep. 10, 37–38; 10, 98–99; Rutilius Namatianus 97. Herodes Atticus war über das Fehlen einer Therme und Fernwasserleitung in Alexandria Troas überrascht, vgl. Eck, Wassermanagement, (wiest Anm.19), 33.

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mae in langer Tradition eine funktional ausdifferenzierte Architekturgattung hervorgebracht, deren Palette von kleinen Anlagen mit wenigen Räumen bis zu den ins riesenhafte skalierten Großthermen reichte, wie sie durch die verschiedenen Kaiser in Rom ab dem 2.Jahrhundert erbaut worden sind. 62 Während die kleineren Bäder durchaus auch mit gespeichertem Wasser aus Zisternen betrieben werden konnten, war mit der Konzeption dieser monumentalen Einrichtungen zugleich auch immer die Planung eines Anschlusses an das Primärsystem des Leitungsnetzes verbunden. 63 5. Thermen als Großhauswelt Das erste signifikante Beispiel für einen solchen architektonischen Maßstabssprung ist die große, auf dem Marsfeld errichtete Thermenanlage des Agrippa, die ihr Wasser von einer eigens für sie gebauten neuen Fernleitung, der Aqua Virgo, bezog. 64 Als integraler Bestandteil dieses zu einem multifunktionalen ‚Landschaftsund Freizeitpark‘ umgewandelten Areals zeichnete sich bei diesem Bau bereits eine konzeptionelle Veränderung ab, die gerade für die späteren Kaiserthermen evident wurde. Der Überlieferung nach scheint es sich um die erste öffentliche, also für die gesamte Bevölkerung Roms kostenlos zugängliche Anlage gehandelt zu haben 65, die mit ihrer luxuriösen Ausgestaltung und dem Arrangement exquisiter Kunstwerke nicht mehr nur die Körperpflege allein in den Vordergrund stellte, sondern den Besuchern durch besondere visuelle Eindrücke und Teilhabe am kulturellen Reichtum der Stadt das Gefühl einer gesteigerten Lebensqualität vermittelte. Dieses von Agrippa gesetzte Grundmotiv einer öffentlich zugänglichen, repräsentativen Monumentalarchitektur wurde später von Kaiser Nero aufgegriffen und spätestens seit Trajan zum Typus einer Großhauswelt transformiert, deren gewaltige Dimensionen, konstruktive Virtuosität, raffinierteste Haustechnik und künstle-

Die Folgen der Kappung der Fernwasserleitungen bei der Gotenbelagerung von Rom 537 schildert Prok. Bella 5, 19, 27: „Auf Bäder freilich mußten sie bei dem Wassermangel verzichten…“; 5, 20, 5: „Das Volk von Rom aber, […] empfand das Fehlen der gewohnten Bäder […] sehr bitter […]“; s. auch Fagan, Bathing, 40–74. 62 Nielsen, Thermae (wie Anm.61), Bd. 2, 7; Weber, Badekultur (wie Anm.61), 34–39. 63 Bruun, Water (wie Anm.25), 73; Frontin. 107f.; Fagan, Bathing (wie Anm.61), 69–74. 64 Ashby, Aqueducts (wie Anm.41), 167–182; Richardson, Rome (wie Anm.41), 19; Fagan, Bathing (wie Anm.61), 107–110. 65 Wilhelm Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. Leipzig 1900, 18–20; Fagan, Bathing (wie Anm.61), 108; Weber, Badekultur (wie Anm.61), 174 Anm.145.

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risch aufwändige Ausstattung der Bevölkerung Roms deutlich vor Augen führte, welche ‚Wohltaten‘ der Kaiser ihr zu erweisen bereit war. 66 Durch die Arrondierung der bis zu 40000 m2 großen Gebäudekomplexe mit weitläufigen Garten- und Parkanlagen scheint der kolossale Flächenbedarf so sprichwörtlich gewesen zu sein, dass man ihn bisweilen mit der Ausdehnung römischer Provinzen verglich. 67 Allein das Investitionsvolumen, dass solche Unternehmungen erforderten, überstieg die Möglichkeiten privater Stifter, so dass – zumindest in Rom – der Bau dieser monumentalen Anlagen allein den Kaisern vorbehalten blieb. 68 Vor allem aber die damit verbundenen massiven Eingriffe, mit der die Stadtstruktur nachhaltig verändert wurde, konnten sicher nur durch die Interventionen des kaiserlichen Machtapparates durchgesetzt werden. Abgesehen von der schieren Größe dieser Projekte handelte es sich bei ihnen um die technisch komplexesten Bauwerke, die von der römischen Ingenieurskunst entwickelt worden sind. Denn ihre Konstruktion 69 diente bei weitem nicht nur als architektonisch veredelte Hülle für ihre Funktionen, sondern war als eine Art Hybridsystem konzipiert, das auf der einen Seite die Energie für seinen Betrieb selbst erzeugen musste, um dann entweder die erwärmte Luft über ein kompliziertes Gefüge doppelschaliger Böden und Wände durch das weitläufige Gebäude zirkulieren zu lassen oder das auf unterschiedliche Temperaturen erhitzte Wasser über ein verzweigtes Leitungsnetz den zahlreichen Becken zuzuführen. 70

66

Hubertus Manderscheid, Römische Thermen. Aspekte von Architektur, Technik und Ausstattung, in:

Garbrecht (Hrsg.), Wasserversorgung (wie Anm.36), 117–125, ders., Die Skulpturenausstattung der kaiserzeitlichen Thermenanlagen. Berlin 1981; Weber, Badekultur (wie Anm.61), 145–147. Die Aufstellung von Ehrenstatuen musste in keinem Zusammenhang mit dem Erbauer oder Stifter eines Bades stehen, vgl. Nielsen, Thermae (wie Anm.61), 5. 67

Ammianus Marcellinus, res gestae 16,10, 14.

68

Janet DeLaine, The Baths of Caracalla. A Study in the Design, Construction, and Economics of Large-

Scale Building Projects in Imperial Rome. (Journal of Roman Archaeology, Supplementary Series, 25.) Rhode Island 1997, 207–224; dies., Benefactions and Urban Renewal. Bath Buildings in Roman Italy, in: Janet DeLaine/David E. Johnston (Eds.), Roman Baths and Bathing. Part 1: Bathing and Society. (Journal of Roman Archaeology, Supplementary Series, 37.) Portsmouth, RI 1999, 67–74; Christer Bruun, Ownership of Baths in Rome and the Evidence from Lead Pipe Installations, in: DeLaine/Johnston (Eds.), Baths, 75–85; Fagan, Bathing (wie Anm.61), 110–127; Yegül, Baths (wie Anm.61), 43–46; ders., Bathing (wie Anm.61), 118. 69

Heinz-Otto Lamprecht, Bau- und Materialtechnik bei antiken Wasserversorgungsanlagen, in: Gar-

brecht (Hrsg.), Wasserversorgung (wie Anm.36), 129–155; Yegül, Baths (wie Anm.61), 356–395; DeLaine, Caracalla (wie Anm.68), 131–174. 70

78

Dieser glanzvollen Großhauswelt stand die elende ‚Unterwelt‘ entgegen, wo eine Heerschar an Perso-

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Zur Aufrechterhaltung dieser äußerst wirkmächtigen und technisch außerordentlich sensiblen ‚Wellness-Aggregate‘ waren aufwändige Bedienungs- und Instandhaltungsmaßnahmen notwendig 71, deren Kosten- und Personalintensität sich vermutlich kaum von denen unterschieden haben werden, die für die Pflege und Wartung der Leitungssysteme eingesetzt werden mussten. Die unverzichtbare Grundvoraussetzung für das erfolgreiche Funktionieren des Gesamtsystems aber war die Bereitstellung fließenden Wassers, das in ungeheuren Mengen vorgehalten werden musste 72, wie Rutilius Namatianus es bildhaft geschildert hat: „In deinen Mauern werden Ströme aufgefangen und gespeichert, deine hochragenden Thermen verbrauchen ganze Seen“. 73 6. Thermen als sozialer Ort Der gewaltige Aufwand, mit dem diese ‚High-Tech‘-Anlagen errichtet, betrieben und unterhalten wurden, stand nun im Dienst eines gewandelten, über das reine Baden weit hinausgehenden Nutzungsszenarios 74, in dem sich multiple Funktionen vereinigten, die von sportlicher Ertüchtigung, Schönheits- und Gesundheitspflege, kultureller Unterhaltung, Gastronomie bis hin zum Service auch im erotischen Gewerbe reichten und hierfür ein ausdifferenziertes Raumprogramm beanspruchten. 75 Im Gegensatz zu den zahlreichen anderen Bädern der Stadt, deren Zutritt wohl

nal für das Funktionieren des Badebetriebes unter teils unzumutbaren Umständen arbeitete (z.B. Reinigung der kaum einen Meter hohen Hypokausten; Rauch- und Hitzeentwicklung). 71 Verwaltung: Sen. epist. 86, 6–9; Yegül, Baths (wie Anm.61), 46f. Die Realität des Badens aus Sicht der Hygiene entspricht nicht nur dem positiven gezeichneten Bild: Wachtler, Quellen (wie Anm.61), 334f.; Otto Winkelmann, Hygienische Aspekte der Wasserversorgung antiker Städte, in: Garbrecht (Hrsg.), Wasserversorgung (wie Anm.36), 157–170; Fagan, Bathing (wie Anm.61), 85–103; ders., Hygienic Conditions in Roman Public Baths, in: Jansen (Hrsg.), Cura (wie Anm.60), 281–287. 72 Deshalb waren die Thermenprojekte mit der Errichtung von Fernwasserleitungen verknüpft, wie etwa die bereits erwähnte Aqua Virgo für die Agrippathermen, die Aqua Traiana für die Trajansthermen und die Aqua Alexandrina für die Caracallathermen, vgl. Ashby, Aqueducts (wie Anm.41), 167–182, 299– 315; Kek, Aquädukt (wie Anm.2), 125–209; Weber, Badekultur (wie Anm.61), 73–96. 73 Rutilius Namatianus 1, 101–102. 74 Kolb, Rom (wie Anm.7), 568–587. Vgl. Sen. epist. 56 , 1 zu Personen, die sich professionell in Bädern aufhielten; Yegül, Baths (wie Anm.61), 32f. Zur Terminologie der einzelnen Funktionsräume vgl. Nielsen, Thermae (wie Anm.61), 3f.; Manderscheid, Römische Thermen (wie Anm.66), 112–117. 75 Übersicht der vielfältigen Raumtypen in Krencker/Krüger (Hrsg.), Kaiserthermen (wie Anm.61), 175– 187. Zur Prostitution: Yegül, Bathing (wie Anm.61), 31f.

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durch unterschiedliche Regelungen sozial kanalisiert wurde, beruhte die hohe Attraktivität der kaiserlichen Großthermen gerade auf ihrer explizit öffentlichen und damit kostenlosen Zugänglichkeit 76, wodurch sie – zumindest theoretisch – zu einem Begegnungsraum aller Bevölkerungsschichten werden konnten. 77 Obwohl auch andere kaiserliche Großveranstaltungen, wie sie in den Circi und Amphitheatern stattfanden, ebenfalls allen sozialen Schichten offenstanden, wurde dort der unmittelbare Kontakt mit Hilfe ausgeklügelter Lenkmechanismen, wie z.B. Wegeführungen (Kolosseum), durch die man die einzelnen Zuschauergruppen zu den für sie bestimmten Sitzplätzen leitete, weitgehend vermieden. In den Thermen hingegen war eine solche, durch physische Eingriffe wirkende Distinktion scheinbar aufgehoben, so dass die Illusion einer sozialen Barrierefreiheit entstehen konnte, die zumindest den weniger privilegierten Bevölkerungsgruppen vielleicht das Gefühl einer Teilhabe an für sie nicht erreichbaren gesellschaftlichen Sphären vermittelte. Mit dieser gezielt eingesetzten Bedürfnissteuerung war es der kaiserlichen Macht möglich, breite Bevölkerungsgruppen kontinuierlich und bis in den Alltag hinein durch ihre ‚Wohltaten‘ (beneficia) für sich einzunehmen, ohne Gefahr zu laufen, die soziale Tektonik damit zu destabilisieren. Denn letztlich wurden diese egalitären Tendenzen in der Scheinwelt der großen Badegesellschaft durch jene ‚feinen Unterschiede‘ außer Kraft gesetzt, die als soziokulturelle Abgrenzungsmechanismen zwischen den gesellschaftlichen Ebenen wirksam sind. 78

76

Fagan, Bathing (wie Anm.61), 108 diskutiert die Frage nach dem freien Zutritt.

77

Ebd.189–219; Yegül, Bathing (wie Anm.61), 34–39, bezeichnet die Bäder als „social levelers“, in der die

gesellschaftlichen Hierarchien im Gegensatz zu den anderen öffentlichen Institutionen aufgelöst sind, da alle ungeachtet ihres Geschlechts, Alters, Herkunft, Religion Zutritt hatten, sofern sie – falls gefordert – ihren Eintritt gezahlt hatten. Dies mag bis zu einem gewissen Grade zutreffen. In der Praxis fand man sicherlich geeignete Mechanismen, die soziale Hierarchie aufrecht zu halten (hohe Eintrittspreise, ‚Clubmitgliedschaft‘, vorgeschriebene Badezeiten, exzeptionelle Kleidung, Dienerschaft etc.). Wollte man z.B. ein nach Geschlechtern getrenntes Baden umsetzen, so gab es eine simple Lösung, indem man den männlichen und weiblichen Badebetrieb über die Zugangszeiten regelte usw. Generell hierzu: Weber, Badekultur (wie Anm.61), 150–158; Fagan, Bathing (wie Anm.61), 24–29; Yegül, Bathing (wie Anm.61), 32. 78

Auch die Standorte der Thermen könnten auf soziale Unterschiede verweisen, wie man etwa bei Mar-

tial, ep. 3,36; 7,34 liest; s. Weber, Badekultur (wie Anm.61), 76, 78, 102f.

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III. Schlussbemerkungen Am Beispiel der stadtrömischen Fernwasserleitungen (Primärsystem) und kaiserlichen Großthermen (Sekundärsystem) wurden pars pro toto die vielgestaltigen Interdependenzen zwischen Infrastruktur und Macht auf ihren unterschiedlichen Praxisfeldern illustriert. Beide Komponenten repräsentieren technische Großsysteme, in denen sich Höchstleistungen römischer Handwerks- und Ingenieurskunst manifestierten. Für Planung, Bau und Instandhaltung war eine beträchtliche Zahl spezialisierter Experten notwendig, die ihrerseits als Nutznießer und Akteure bei der Herausbildung einer ausgeprägten Wissensinfrastruktur beteiligt waren. Beide Systeme waren Figurationen kaiserlicher ‚Handlungsmacht‘ und basierten ursächlich auf anthropogen kontrolliertem ‚fließenden Wasser‘, das gerade in seiner Überfülle jenseits der reinen Daseinsvorsorge von dieser Macht ubiquitär zur Verfügung gestellt wurde. Durch die gegenseitige symbiotische Abhängigkeit von Fernleitung, Großtherme und fließendem Wasser 79 konnten diese zu einer Art soziotechnischem Hyper-System aggregieren, das eine äußerst langlebige und stabile Eigenmacht herausbildete. Sie resultierte aus einer gerade durch dieses ‚System‘ angestoßenen soziokulturellen Eigendynamik, die – jenseits der politischen Machtkonfigurationen im römischen Kaiserreich – Aquädukt und Baden zum Synonym römischer Kulturleistung schlechthin machte und damit die permanente Erneuerung und Reproduktion dieses ‚Systems‘ durch die ursprüngliche Handlungsmacht erzwang. Bereits ab dem frühen Prinzipat manifestierte sich dieses Sinnbild als literarischer Topos, der als Deutungsmacht die nahezu formelhafte Versprachlichung dieses kulturellen Phänomens bis in die Spätantike prägte – und dem sich auch die moderne Rezeption offensichtlich nicht zu entziehen vermag.

79 Vgl. etwa die parallele Zunahme von Bädern (Fagan, Bathing [wie Anm.61], 350–356) und von Aquädukten in Italien im 1. nachchristlichen Jahrhundert (Lavinia de Rosa, De Acellum a Volsinii: Gli acquedotti romani in Italia. Committenza, finanziamento, gestione. Tesi de Dottorato Napoli 2008, http://www.fedoa.unina.it/3543/1/TESI_Lavinia_DE_ROSA.pdf [03.05.2012]). In den Provinzen steigt die Zahl von Bädern im 2.Jahrhundert n.Chr., vgl. Fagan, Bathing (wie Anm.61), 43 Anm.11.

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Macht und Wohlfahrt Wasser und Infrastruktur im Imperium Romanum von Helmuth Schneider

I. Die römische Infrastruktur in der Zeit der Republik und des Principats Mit der über Mittelitalien hinausgreifenden expansiven Politik der römischen Republik und mit dem Wachstum der Stadt Rom stiegen auch die Anforderungen an die städtische Infrastruktur sowie an die Infrastruktur Italiens. Es ist ein signifikanter Tatbestand, dass der planmäßige Ausbau sowohl der römischen Straßen als auch der Anlagen für die Wasserversorgung Roms im späten 4.Jahrhundert v.Chr. einsetzte, in einer Zeit, in der Rom Kriege gegen die Samniten und Etrusker um die Hegemonie in Mittelitalien führte und gleichzeitig Bündnisse mit griechischen Städten am Golf von Neapel schloss: Im Jahr 312 v.Chr. veranlasste der Censor Appius Claudius den Bau einer Straße von Rom nach Capua und einer ca. 16 Kilometer langen Wasserleitung, die das Wasser von Quellen, die östlich von Rom gelegen waren, in die Stadt leitete. Frontinus hat im Rückblick die historische Bedeutung der Errichtung dieser Leitung betont, wenn er schreibt, bis zu diesem Zeitpunkt hätten die Römer Wasser dem Tiber, Schöpfbrunnen oder Quellen entnommen. 1 Die Anlagen für die Wasserversorgung der Stadt Rom wurden nach 312 v.Chr. noch in republikanischer Zeit durch den Bau weiterer Fernleitungen (Anio Vetus, aqua Marcia, aqua Tepula) erweitert. In der Principatszeit fand die Bautätigkeit für die Wasserversorgung der Stadt Rom ihre Fortsetzung unter Augustus (aqua Iulia, aqua Virgo) und Claudius (Anio Novus, aqua Claudia). 2 Einige der Wasserleitungen der Stadt Rom

1 Frontin. aqu. 4. 2 Eine knappe Übersicht über die Leitungen Roms bietet Lawrence Richardson, jr, A New Topographical Dictionary of Ancient Rome. Baltimore 1992, 15–19. Vgl. weiterhin Renate Tölle-Kastenbein, Antike Wasserkultur. München 1990; A. Trevor Hodge, Roman Aqueducts and Water Supply. London 1992; Werner Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches in der Hohen Kaiserzeit. Ausgewählte und erweiterte Beiträge. 2 Bde. (Arbeiten zur römischen Epigraphik und Altertumskunde, Bd. 1 u. 3.) Basel 1995. 1997; Örjan Wikander (Ed.), Handbook of Ancient Water Technology. (Technology and Change in History, 2.) Leiden 2000. Zum

82

DOI

10.1515/9783486781052.82

waren über 50 Kilometer lang. 3 Damit das Wasser auch in die höher gelegenen Stadtteile geleitet werden konnte, errichtete man in der Ebene vor Rom für mehrere Leitungen über eine Strecke von ca. 10 Kilometern hohe Bogenkonstruktionen, auf denen das Wasser in einem Freispiegelkanal mit einem Gefälle nach Rom floss. 4 Gleichzeitig setzte auch der Bau von Fernleitungen in Italien und in den Provinzen ein, in denen spektakuläre Aquädukte errichtet wurden, so für die Leitungen von Segovia in Spanien oder von Nemausus (Nîmes) in Südfrankreich (Pont du Gard). Neben den Anlagen für die Wasserversorgung der Städte gab es – wenn man vom Landverkehr und den Straßen einmal absieht – im Imperium Romanum noch weitere Bereiche, die wesentliche Merkmale der Infrastruktur aufweisen, den Hochwasserschutz einerseits und den Hafenbau andererseits, der für den Gütertransport auf dem Seeweg von nicht geringer Bedeutung war. Um die Umgebung und das Stadtgebiet von Rom vor den häufigen Überschwemmungen zu schützen, wurden an den Ufern des Tiber Deiche gebaut; so konnte Plinius die Meinung äußern, der Tiber sei von allen Flüssen durch Deiche an beiden Ufern am stärksten reguliert worden. 5 Die steigende Abhängigkeit der Stadt Rom von Importen aus den Provinzen sowie die zunehmenden Handelsaktivitäten im Mittelmeerraum führten seit der augusteischen Zeit zu einem forcierten Ausbau der Häfen. Der Hafen von Puteoli, in dem die großen aus Ägypten kommenden Getreideschiffe anlegten, erhielt eine monumentale Mole 6, und nach einer Getreideknappheit in Rom, die zu Unruhen führte, ließ Claudius einen Hafen an der Tibermündung anlegen; auf diese Weise sollte die Getreideversorgung Roms verbessert werden. 7 Unter Traianus wurde landeinwärts ein zweites großes Hafenbecken gebaut, das bei weitem mehr Schiffen als zuvor Anlegeplätze bot. 8 Neben Puteoli und Ostia hatten auch die Hafenstädte in den anderen Regionen Italiens und in den Provinzen eine erhebliche wirtschaftliche Bedeutung; umfang-

Zusammenhang zwischen Infrastruktur und Politik vgl. Helmuth Schneider, Infrastruktur und politische Legitimation im frühen Principat, in: Opus 5, 1986, 23–51. 3 Anio Vetus: 63 km; aqua Marcia 80 km; aqua Claudia 53 km; Anio Novus 72 km. 4 Die Bogenkonstruktion: aqua Marcia 10,25 km; aqua Iulia 9,5 km; aqua Claudia 14 km; Anio Novus 10 km. 5 Plin. nat. 3,55. 6 Strab. 5,4,6. Anth. Gr. 7,379. 9,708. Zu Puteoli vgl. Martin Frederiksen, Campania. Rom 1984, 319–349, bes. 334. 7 Suet. Claud. 20,3. Cass. Dio 60,11,1–4. 8 Russell Meiggs, Roman Ostia. 2nd Ed. Oxford 1973, 149–171 u. 591–593. Die Leistung des Traianus charakterisiert Meiggs wie folgt: „By increasing and substantially improving Rome’s harbour capacity he had

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reiche Baumaßnahmen dienten der Förderung des Handels. Eine eher geringe Rolle spielte demgegenüber der Bau von Kanälen, die der Hochsee- und Binnenschifffahrt dienen sollten; hier sind vor allem Planungen erwähnt, nur wenige Vorhaben wurden tatsächlich begonnen und auch vollendet. 9 Überblickt man den Ausbau der römischen Infrastruktur, so wird deutlich, dass nach den Anfängen in der Zeit der Republik der Bau von Anlagen für die Wasserversorgung und von Häfen in der Principatszeit sowohl in Italien als auch in den Provinzen entschieden vorangetrieben wurde.

II. Die Finanzierung der Wasserleitungen und die bürokratische Organisation der Wasserversorgung Eine Untersuchung der Interdependenzen von Infrastruktur und politischer Macht kann sich nicht allein darauf beschränken, die politischen Intentionen und Ziele bei der Errichtung von Bauwerken oder Anlagen der Infrastruktur zu beschreiben oder die Funktion der Infrastruktur für Politik und Wirtschaft zu analysieren, vielmehr kommt es auch darauf an zu klären, unter welchen institutionellen und finanzpolitischen Voraussetzungen komplexe Anlagen der Infrastruktur überhaupt erstellt werden konnten. Es handelte sich normalerweise um monumentale Bauwerke, deren Errichtung eine große technische Kompetenz, die Bereitstellung erheblicher finanzieller Mittel und den Einsatz zahlreicher Arbeitskräfte erforderte. Die Instandhaltung von Anlagen der Infrastruktur und die Nutzung des Wassers bedurften rechtlicher Regelungen und einer Aufsicht, die über hinreichend Macht verfügen musste, um gegen Schädigung und Missbrauch einzuschreiten zu können. Zur Finanzierung der Wasserleitungen der Stadt Rom liegen zwei Angaben über die Kosten vor; für den Bau der aqua Marcia im 2.Jahrhundert v.Chr. soll der Senat 180 Mio. Sesterzen bereitgestellt haben 10, und die beiden unter Claudius errichteten Leitungen haben nach Plinius 350 Mio. Sesterzen gekostet 11. Um die genannten Bemade it possible to maintain regular supplies to the capital and had removed a potential source of insecurity to the emperors that succeeded him“ (ebd.166). 9 Kenneth Douglas White, Greek and Roman Technology. London 1984, 227–229 (Table 6); Örjan Wikander, Canals, in: ders. (Ed.), Water Technology (wie Anm.2), 321–330, bes. 328–330.

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10

Frontin. aqu. 7.

11

Plin. nat. 36,122.

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träge richtig bewerten zu können, ist ein Vergleich mit den Ausgaben für die römische Armee sinnvoll: Für den Sold der Legionssoldaten mussten im 2.Jahrhundert v.Chr. im Jahr zwischen 14 und 26 Mio. Sesterzen, seit der Zeit des Augustus ca. 120 Mio. Sesterzen aufgewendet werden. 12 Die Baukosten der großen Leitungen waren also beträchtlich höher als der jährlich gezahlte Sold der Fußsoldaten sämtlicher Legionen. Dies zeigt einerseits, welche Bedeutung der Senat und später die Principes der stadtrömischen Wasserversorgung beimaßen, und andererseits, dass die römische Republik über die Finanzkraft verfügte, um neben den Ausgaben für das Militärwesen noch hohe Geldbeträge für den Ausbau der Infrastruktur bereitzustellen. Die finanziellen Ressourcen Roms beruhten in dieser Zeit entscheidend auf den militärischen Erfolgen und der Expansion im Mittelmeerraum. Dieser Zusammenhang wurde schon von Frontinus gesehen: Er berichtet, dass im Jahr 272 v.Chr. die Beute aus dem Krieg gegen Pyrrhos dazu verwendet wurde, die später als Anio Vetus bezeichnete Leitung zu finanzieren. 13 Der Anio Vetus, der das Wasser des Anio über eine Entfernung von mehr als 60 Kilometern in die Stadt leitete und damit wesentlich länger als die einige Jahrzehnte zuvor gebaute aqua Appia war, kostete ohne Zweifel erheblich mehr als die ältere Leitung des Censors Appius Claudius. Als der Senat im Jahr 144 v.Chr. dem Praetor Q. Marcius Rex den Auftrag erteilte, die bestehenden Leitungen (aqua Appia und Anio) zu reparieren und eine neue Leitung (aqua Marcia) zu bauen 14, besaß Rom nach Errichtung der römischen Provinzen auf der Iberischen Halbinsel den direkten Zugang zu den dortigen Edelmetallvorkommen, die bereits von den Karthagern ausgebeutet worden waren. Der Reichtum Spaniens an Edelmetallen wurde von antiken Autoren wie Diodoros, Strabon und Plinius betont. 15 Einem Bericht Strabons zufolge sollen im 2.Jahrhundert v.Chr. allein im Bergwerksdistrikt von Carthago Nova 40000 Menschen gearbeitet haben; jeden Tag soll hier Silber im Wert von 25000 Drachmen gewonnen worden sein, im 12 Die Soldaten erhielten in der späten römischen Republik 480 Sesterzen im Jahr (Polyb. 6,39), bei einer Sollstärke der Legion von 5000 Soldaten zu Fuß betrug der Sold einer Legion ca. 2,4 Mio. Sesterzen im Jahr. Im 2.Jahrhundert v.Chr. standen je nach militärischer Lage zwischen sechs und elf Legionen im Dienst; vgl. Peter Astbury Brunt, Italian Manpower 225 B.C. – A.D. 14. Oxford 1971, 426–434. Caesar erhöhte den Sold auf 960 Sesterzen im Jahr; unter Augustus gab es 25 Legionen, dementsprechend stiegen die Kosten für den Sold. Vgl. Suet. Iul. 26,3. Cass. Dio 55,23. J. B. Campbell, in: Der Neue Pauly 7, 1999, 7–22 s. v. legio; Richard Alston, Roman Military Pay from Caesar to Diocletian, in: JRS 84, 1994, 113–123. 13 Frontin. aqu. 6. 14 Frontin. aqu. 7. 15 Diod. 5,35–38; Strab. 3,2,3. 3,2,8–11; Plin. nat. 3,30.

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Jahr wurden hier also etwa 34 Tonnen Silber gefördert. 16 Die spanischen Bergwerke lieferten das Silber, das es Rom ermöglichte, in steigendem Umfang Silbermünzen zu prägen und so die Geldmenge stark auszuweiten; auf diese Weise wurde es möglich, im 2. und 1.Jahrhundert v.Chr. öffentliche Bauvorhaben in Rom – und darunter eben die aqua Marcia – zu finanzieren. Von Bedeutung für die römischen Finanzen waren neben den Erträgen der Bergwerke auch die hohen Zahlungen, die Rom nach dem Zweiten Punischen Krieg besiegten Gegnern in den Friedensverträgen auferlegte. Karthago hatte nach dem Zweiten Punischen Krieg entsprechend den Bestimmungen des Friedensvertrages 50 Jahre lang 16000 Pfund Silber (etwa 5,2 Tonnen) im Jahr an Rom zu zahlen. 17 Rom forderte von Philipp V. nach dem Zweiten Makedonischen Krieg 1000 Talente, zahlbar zu einer Hälfte sofort und zur anderen Hälfte in zehn Jahresraten 18, und im Friedensvertrag von Apameia (188 v.Chr.) war festgelegt, dass Antiochos III. 12000 Talente in zwölf Jahresraten an Rom zahlen sollte. 19 Der König musste also jedes Jahr einen deutlich höheren Betrag als Karthago aufbringen; immerhin entsprach die jährliche Zahlung von 1000 Talenten nicht einmal dem Ertrag eines einzigen Bergwerks in Spanien. 20 Die Finanzierung stellt nicht das einzige Problem bei der Errichtung von Anlagen der Infrastruktur dar. Die Baumaßnahmen und Planungen müssen gegenüber anderen rechtlich begründeten Ansprüchen oder gegenüber politisch oder religiös moti-

16

Strab. 3,2,10. Strabon folgt an dieser Stelle der Darstellung des Polybios, dessen historisches Werk eine

– nicht überlieferte – Landeskunde der Iberischen Halbinsel enthielt; damit beziehen sich die Angaben auf die Verhältnisse im 2.Jahrhundert v.Chr.; 25000 Drachmen entsprechen etwa 95 Kilogramm Silber; im Jahr wären damit allein im Bergwerksdistrikt von Carthago Nova rund 34,675 Tonnen Silber gefördert worden, eine ausreichende Menge, um ca. 9,125 Mio. Denare zu prägen. Plinius erwähnt ein Bergwerk in Spanien, das den Karthagern zur Zeit Hannibals 300 Pfund Silber pro Tag geliefert haben soll. 300 römische Pfund (327,45 gr.) sind etwa 98 Kilogramm gleichzusetzen. Damit hätte dieses Bergwerk gegen Ende des 3.Jahrhunderts v.Chr. etwa dieselbe Menge Silber erbracht wie der Bergwerksdistrikt von Carthago Nova; vgl. Plin. nat. 33,97. 17

Plin. nat. 33,51. Vgl. Liv. 30,37,5 (10000 Talente, also ca. 60 Mio. Denare oder 228 Tonnen Silber, im Jahr

folglich 200 Talente, ca. 1,2 Mio. Denare oder 4,5 Tonnen Silber). 18

Liv. 33,30,7 (500 Talente: 3 Mio. Denare oder 11,4 Tonnen Silber; die folgenden Jahresraten betrugen

demnach 50 Talente oder 300000 Denare). 19

Liv. 38,38,13. Das Gewicht eines Talentes wurde im Vertrag auf 80 römische Pfund festgesetzt (26,196

Kilogramm), das Talent hätte auf diese Weise 6 893 Denaren entsprochen. 20

Antiochos: 1000 Talente mit einem Gewicht von jeweils 80 röm. Pfund = ca. 26,196 Kilogramm Silber;

Carthago Nova: 34 675 Kilogramm im Jahr; vgl. Anm.16.

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vierten Bedenken durchgesetzt werden. Dies galt auch für die römische Politik; es gibt mehrere Beispiele dafür, dass Pläne zum Ausbau der Infrastruktur auf Widerstand stießen. Als die Censoren im Jahr 179 v.Chr. den Bau einer Wasserleitung planten, ließ M. Licinius Crassus, Angehöriger einer einflussreichen Nobilitätsfamilie, es nicht zu, dass die Leitung seine Ländereien durchquerte; das Vorhaben konnte deswegen nicht realisiert werden. 21 In den Jahren 143 und 140 v.Chr. wurde im Senat eine Debatte darüber geführt, ob es statthaft sei, das Wasser der aqua Marcia auf das Capitol zu leiten. Gegen diesen Plan hatten die decemviri sacris faciundis religiöse Bedenken geltend gemacht, konnten sich im Senat aber nicht gegen gegen Q. Marcius Rex durchsetzen. 22 Um die Wasserversorgung der Bevölkerung Roms zu sichern, war es notwendig geworden, gegen die missbräuchliche Nutzung des Wassers aus öffentlichen Leitungen vorzugehen. Im Jahr 184 v.Chr. unterbanden die Censoren L. Valerius Flaccus und M. Porcius Cato die Ableitung von öffentlichem Wasser in private Gebäude oder Gärten. 23 Wahrscheinlich während der Censur hielt Cato die Rede gegen L. Furius, dem er vorwarf, Ländereien mit der Absicht gekauft zu haben, diese durch Ableitung aus den öffentlichen Wasserleitungen zu bewässern. 24 In späterer Zeit wurden Felder, die gesetzwidrig bewässert worden waren, konfisziert. 25 Wie aus zahlreichen Bemerkungen des Frontinus hervorgeht, erwies sich die Instandhaltung der großen Fernleitungen als schwierig; die Republik verfügte nicht über die Institutionen mit hinreichenden Machtbefugnissen, um die Leitungen wirklich vor Schäden zu bewahren. 26 Im Jahr 144 v.Chr. waren die bestehenden Leitungen (aqua Appia, Anio vetus) baufällig 27, und nach den Bürgerkriegen waren die Fernleitungen (aqua Appia, Anio Vetus, aqua Marcia) nahezu völlig verfallen; M. Ag-

21 Liv. 40,51,7. 22 Frontin. aqu. 7. 23 Liv. 39,34,4. Plut. Cato maior 19,1. Frontin. aqu. 7. Vgl. Robert H.Rodgers (Ed.), Frontinus: De aquaeductu urbis Romae. (Cambridge Classical Texts and Commentaries, 42.) Cambridge 2004, 159. 24 Cato, ORF 99–105. Vgl. Alan E. Astin, Cato the Censor, Oxford 1978, 84. 25 Frontin. aqu. 97. 26 In der Republik wurde die Instandhaltung der Wasserleitungen an Pächter (redemptores) vergeben, die verpflichtet waren, für diese Aufgabe eine bestimmte Zahl an unfreien Handwerkern bereitzustellen. Für die Kontrolle der redemptores bestanden wechselnde Zuständigkeiten; Censoren, Aedilen oder Quaestoren nahmen diese Aufgabe wahr; vgl. Frontin, aqu. 96. 27 Frontin. aqu. 7: vetustate quassati.

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rippa ließ sie im Jahr 33 v.Chr. wiederherstellen. 28 In seinem Tatenbericht führt Augustus dann die Reparatur der an vielen Stellen zerstörten Wasserleitungen als seine eigene Leistung auf. 29 Die Situation veränderte sich grundlegend, als Augustus ein neues Herrschaftssystem in Rom durchsetzte. Das politische System des Principats, in dem der Herrscher nicht allein über eine große Machtfülle, sondern auch über eine eigene Finanzkasse, den fiscus, verfügte, begünstigte ohne Zweifel den Ausbau der Infrastruktur. Große Bauvorhaben in Italien sind auf die Initiative einzelner Principes wie Claudius und Traianus zurückzuführen. In diesem Rahmen wurden auch wichtige Projekte im Bereich der Wasserversorgung und des Hafenbaus realisiert. Neben den unter Claudius vollendeten Wasserleitungen ist die aqua Traiana, die Wasser vor allem in die jenseits des Tiber gelegenen Stadtviertel leitete 30, und neben dem Bau eines zweiten Hafenbeckens in Ostia der Bau des Hafens von Centumcellae 31 oder der Mole in Ancona 32 zu nennen. Erwähnenswert sind außerdem die monumentalen Anlagen zur Trockenlegung des Fucinersees, durch die in Mittelitalien neues Ackerland gewonnen werden sollte. 33 Dem Hochwasserschutz diente ein Kanal, der unter Claudius am Unterlauf des Tiber die Wassermassen ableiten sollte. 34 Das politische System des Principats bot auch die Voraussetzung für die Schaffung neuer Institutionen, die sämtliche mit der Infrastruktur verbundenen Aufgaben wahrzunehmen hatten, so vor allem die Führung des Personals sowie die Aufsicht über die Anlagen und über die Arbeiten zur Instandhaltung. Gerade die Wasserversorgung erforderte einen sehr hohen verwaltungstechnischen Aufwand. 35 Nach dem Tod des M. Agrippa, der als Privatmann für die Wasserversorgung Roms zuständig gewesen war und diese auch mit eigenen Mitteln finanziert hatte, schuf Augustus für den Bereich der Wasserversorgung die cura aquarum und setzte curato-

28

Frontin. aqu. 9: paene dilapsos.

29

R. Gest. div. Aug. 20,2: rivos aquarum compluribus locis vetustate labentes refeci.

30

Richardson, jr, Topographical Dictionary of Ancient Rome (wie Anm.2), 18f.

31

Plin. epist. 6,31,15–17.

32

ILS 298.

33

Pin. nat. 36,124. Suet. Claud. 20,1–2. 21,6. 32. Tac. ann. 12,56–57. Dio 60,1,5. 60,33,3–5. Vgl. Klaus Grewe,

Licht am Ende des Tunnels. Planung und Trassierung im antiken Tunnelbau. Mainz 1998, 91–98. 34

ILS 207.

35

Dies zeigt auch die Inschrift mit den Vorschriften zur Wasserleitung von Venafrum: ILS 5743 (edic-

tum Augusti de aquaeductu Venafro).

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res als Leiter dieser „Wasserbehörde“ 36 ein. Die Ausstattung der Amtsträger, ihre Aufgaben und Pflichten, die Rechte der curatores gegenüber Grundstückseigentümern bei der Durchführung von Reparaturen sowie die Errichtung einer Schutzzone an den Leitungen, die nicht bebaut werden durfte, wurden durch Senatsbeschlüsse genau geregelt. 37 Als Vorbild dienten dabei entsprechende Bestimmungen über die curatores viarum und die curatores frumenti. 38 Auf diese Weise entstand unter Augustus eine leistungsfähige Verwaltung für den Bereich der Wasserversorgung. Welche politische Relevanz die cura aquarum für Augustus und die nachfolgenden Principes besaß, zeigt die Tatsache, dass das Amt des curator aquarum normalerweise von hochrangigen Senatoren ausgeübt wurde, die zudem nicht an das für die traditionellen Ämter geltende Prinzip der Annuität gebunden waren, sondern mehrere Jahre, in manchen Fällen sogar länger als ein Jahrzehnt, tätig waren. 39 Ein weiterer Amtsbereich wurde mit der cura riparum et alvei Tiberis geschaffen; zentrale Aufgabe der für diese cura zuständigen Amtsträger war der Schutz der Stadt Rom vor Hochwasser 40; die curatores sind durch eine Vielzahl von Inschriften bezeugt 41. Wie einzelne Inschriften belegen, existierte die cura alvei Tiberis noch in der Zeit des Diocletianus und in der Mitte des 4.Jahrhunderts n.Chr.; die Schaffung der neuen Amtsbereiche für die Wasserversorgung und den Hochwasserschutz durch Augustus war demnach außerordentlich erfolgreich. 42

36 Jochen Bleicken, Verfassungs- und Sozialgeschichte des römischen Kaiserreiches. Paderborn 1978, 162, 212. 37 Frontin. aqu. 98–130. Frontinus bietet den Wortlaut der Senatsbeschlüsse des Jahres 11 v.Chr.: Frontin. aqu. 100. 104. 106. 108. 125. 127. 38 Frontin aqu. 101. 39 Eine Liste der curatores aquarum bietet Frontin. aqu. 102. 40 Suet. Aug. 37. Vgl. Suet. Aug 30,1. 41 Curatores alvei Tiberis et riparum auf Inschriften von Senatoren: ILS 989, 1029, 1047, 1092, 1139, 1182, 1186, 1217, 1223, 1225, 2927 (Plinius), 8969, 8979. Curatores: ILS 5893, 5894. Inschriften auf Grenzsteinen: ILS 5922c, 5923d, 5924d, 5925–5928, 5930–5934.

42 ILS 1217, 1223, 5894.

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III. Der Ausbau der Infrastruktur in den Provinzen: Wohlfahrt und machtpolitische Interessen In den Provinzen waren es oft die römischen Statthalter, die aufgrund ihrer genauen Kenntnis der lokalen Verhältnisse Baumaßnahmen im Bereich der Infrastruktur empfohlen haben. 43 Es ist ein Glücksfall der Überlieferungsgeschichte, dass der Briefwechsel zwischen Traianus und Plinius erhalten ist; Plinius war im Jahr 109 von Traianus als legatus pro praetore consulari potestate in die Provinz Pontus et Bithynia entsandt worden 44, um die zerrütteten Finanzen der Städte zu sanieren. Tatsächlich ging seine Tätigkeit weit über diesen Auftrag hinaus, und in dem Briefwechsel zwischen Statthalter und Princeps werden auch solche Projekte erörtert, die den Bereich der städtischen Infrastruktur betrafen. In einem der Briefe bittet Plinius den Princeps darum, den Bau einer Wasserleitung für die Stadt Sinope an der Nordküste Kleinasiens zu genehmigen; die Stadt leide an Wassermangel, schreibt Plinius, Wasser könne aus einer 16 Meilen (ca. 23 Kilometer) entfernten Quelle herangeführt werden, er habe den Boden in der Nähe der Quelle auf seine Tragfähigkeit überprüfen lassen und das Geld für den Bau könne unter seiner Aufsicht beschafft werden. Explizit wird dieses Vorhaben mit Gesundheit und Annehmlichkeit (salubritas und amoenitas) in Verbindung gebracht. In seiner Antwort greift Traianus die Formulierung des Plinius auf, wenn er schreibt, dass die Wasserversorgung zu Gesundheit und Wohlbefinden (salubritas und voluptas) beitragen werde. 45 Ähnlich gelagert war der Fall der Stadt Amastris an der Küste des Schwarzen Meeres; Plinius empfiehlt im Brief an Traianus, einen Fluss, der durch die Stadt führt, abdecken zu lassen. Bemerkenswert ist bereits die Beschreibung des Zustandes, den Plinius zu ändern gedenkt: „Die elegante und reich geschmückte Stadt Amastris, Herr, besitzt neben anderen hervorragenden Bauwerken eine sehr schöne und sehr lange Promenade, doch auf der einen Seite wird sie in ihrer ganzen Länge von etwas begleitet, was dem Namen nach ein Fluss ist, in Wirklichkeit aber eine abscheuliche cloaca,

43

Für die Provinzen im Osten vgl. Werner Eck, Roms Wassermanagement im Osten. Staatliche Steue-

rung des öffentlichen Lebens in den römischen Provinzen? (Kasseler Universitätsreden, 17.) Kassel 2008. 44

ILS 2927.

45

Plin. epist. 10,90. 10,91. Vgl. auch Plin. epist. 10,37 und 10,38 zum Bau einer Wasserleitung für die Stadt

Nicomedia.

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schändlich durch ihren schmutzigen Anblick und ungesund wegen ihres ekelhaften Gestanks“. Wiederum werden Gesundheit und Schönheit (in diesem Fall salubritas und decor) als Argument für eine Baumaßnahme angeführt, und der Princeps antwortet mit der Feststellung, es sei vernünftig, das Gewässer abzudecken, das durch Amastris fließe, wenn es der Gesundheit schade. 46 In beiden Fällen geht es Plinius also um Wohlfahrtseffekte, wobei das Ziel der empfohlenen Maßnahmen die Förderung oder der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung ist. Eine ökonomische Argumentation findet sich hingegen in einem Brief über den Bau eines Kanals im Gebiet von Nicomedia. Der Text weist eine Lücke auf, der Gedankengang lässt sich aber gut rekonstruieren; Plinius beschreibt die Situation im Westen von Bithynia mit folgenden Worten: „Im Gebiet von Nicomedia befindet sich ein großer See. Über ihn werden Marmorblöcke, Früchte, Bau- und Brennholz ziemlich billig und ohne große Mühen mit Schiffen zur Straße gebracht, von dort mit erheblichen Mühen und noch höheren Kosten auf Wagen zum Meer gefahren.“ Das Ziel des Projektes wird noch einmal in einem zweiten Brief erläutert, in dem Plinius auf die bereits in der Planungsphase aufgetretenen Probleme eingeht. Um zu verhindern, dass der See über den Kanal, der in einen Fluss einmünden soll, einfach abfließt, unterbreitet Plinius folgenden Vorschlag: „Der See lässt sich nämlich durch einen Kanal bis an den Fluss heranführen, ohne dass er sich in den Fluss ergießt, indem man eine Trennwand stehen lässt, die ihn gleichermaßen festhält und vom Fluss trennt. So werden wir erreichen, dass das Wasser sich nicht in den Fluss entleert und der Kanal sich so mit dem Fluss vermischt. Leicht wird man die über den Kanal herangeführten Lasten über den sehr schmalen Damm zum Fluss schaffen.“ Der geplante Kanal sollte den Arbeits- und Kostenaufwand beim Transport von Gütern aus dem Binnenland zum Meer erheblich reduzieren. Das Motiv des Plinius liegt in einer Verbesserung einer regionalen Verkehrsinfrastruktur, wobei der Nutzen der Bevölkerung der Provinz im Vordergrund steht. 47 Machtausübung und Stärkung der römischen Machtposition werden in diesen Briefen des Plinius nicht thematisiert; allerdings ist auch zu konstatieren, dass eine Politik, die den Interessen der Provinzialbevölkerung entsprach, für das Imperium Romanum eine stabilisierende Funktion besaß. 48

46 Plin. epist. 10,98. 10,99. Zu Amastris vgl. Christian Marek, Pontus et Bithynia. Die römischen Provinzen im Norden Kleinasiens. Mainz 2003, 93. 47 Plin. epist. 10,41. 10,42. 10,61. 10,62. Vgl. Marek, Pontus et Bithynia (wie Anm.46), 59. 48 Die ablehnende Antwort des Traianus auf den Vorschlag, in Nicomedia ein collegium fabrorum für die

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Für die Zeit des Hadrianus ist ein Vorgang bezeugt, der viele Ähnlichkeiten mit den Initiativen des Plinius aufweist. Als Herodes Atticus, der als Legat nach Kleinasien entsandt worden war, feststellte, dass die Stadt Alexandria Troas nur wenige Bäder besaß und unzureichend mit Wasser versorgt wurde, bat er den Princeps, 3 Millionen Drachmen für den Bau einer Wasserleitung zu Verfügung zu stellen. Die Kosten der Leitung stiegen aber auf 7 Millionen Drachmen an, was schließlich zu Protesten der Prokuratoren, die mit der Finanzverwaltung der Provinz beauftragt waren, und zur Verärgerung des Princeps führte. In dieser Situation sah Herodes Atticus sich gezwungen, den Betrag, der die ursprünglich vorgesehene Summe von 3 Millionen Drachmen überstieg, selbst aufzubringen. 49 Wie der Briefwechsel des Plinius und der Bericht über Herodes Atticus zeigen, war der Ausbau der Anlagen für die städtische Infrastruktur in den Provinzen keineswegs das Ergebnis einer gezielten Politik der Principes, sondern eher von den Initiativen einzelner Legaten und Statthalter abhängig. Für die westlichen Provinzen des Imperium Romanum sind weitere Aspekte der Herrschaftssicherung durch Maßnahmen im Bereich der Infrastruktur zu nennen. Zunächst ist an die Bauten für die Wasserversorgung zahlreicher Städte vor allem auf der Iberischen Halbinsel und in Gallia Narbonnensis zu erinnern. In vielen dieser Städte waren Veteranen der römischen Legionen angesiedelt worden, und damit waren sie Zentren römischer Kultur und römischen Lebensstils; von ihnen ging die Romanisierung der Provinzen und besonders der einheimischen Oberschicht aus, und deswegen kam ihnen auch eine herausragende Bedeutung für die Stabilisierung der römischen Herrschaft in den Provinzen zu. Die Infrastruktur, und ganz besonders die Versorgung mit Trinkwasser von hoher Qualität waren unabdingbares Element der römischen Zivilisation und Kultur; unter diesen Voraussetzungen erhielten die Städte des Westens in relativ kurzer Zeit alle Bauten und Anlagen, die für die römische Stadt charakteristisch waren: ein Forum, Tempel, ein Theater sowie ein Amphitheater und nicht zuletzt Anlagen für eine leistungsfähige Wasserversorgung. Es gab auch Baumaßnahmen, bei denen machtpolitische Interessen eindeutig im Vordergrund standen; vor allem spielten sie bei der Planung oder dem Bau von Ka-

Brandbekämpfung einzurichten, zeigt, dass es Ziel der Politik des Princeps war, innere Unruhen und Konflikte in den Städten zu verhindern; vgl. Plin. epist. 10,33. 10,34. 49 Philostr. soph. 548. Vgl. Eck, Wassermanagement (wie Anm.43), 33f.

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nälen eine nicht unwichtige Rolle. Für Gallien und die germanischen Provinzen erwähnt Tacitus Kanalbauprojekte der römischen Armee; durch den von dem Legaten L. Antistius Vetus geplanten Kanal zwischen Saône und Mosel sollte ein Binnenschifffahrtsweg geschaffen werden, auf dem der Nachschub für die Legionen am Rhein und in Britannien zwischen dem Mittelmeer und der Nordsee leichter als auf dem Landweg hätte transportiert werden können. Antistius Vetus gab das Projekt allerdings auf, als politische Bedenken gegen das Vorhaben geäußert wurden. 50 Der von Traianus 101 n.Chr. an den Katarakten der Donau erbaute Kanal, der es Schiffen ermöglichte, die Stromschnellen des Flusses zu umfahren, diente ebenso wie die Donaubrücke des Architekten Apollodoros und die entlang der Donau errichtete Straße militärischen Zwecken; während der Dakerkriege sollten Brücke, Straße und Kanal die Operationen der römischen Legionen erleichtern und den Nachschub für die Armee sichern. 51 In diesen Kontext gehört auch der Ausbau des Hafens von Ancona; in dieser Stadt brach Traianus zu Beginn des 2. Dakerfeldzuges auf, um über die Adria den Kriegsschauplatz im unteren Donauraum zu erreichen. 52 Es ist in diesem Zusammenhang übrigens bezeichnend, dass Plinius in einem Brief an einen Dichter, der ein Epos über die Dakerkriege schreiben wollte, besonders die technischen Leistungen der Römer in diesem Krieg betont hat. 53

50 Planung des Kanals zwischen Mosel und Saône 58 n.Chr., Tac. ann. 13,53. Vgl. außerdem zum Kanal zwischen Rhein und Maas (47 n.Chr.) Tac. ann. 11,20,2. 51 Zur Inschrift am Kanal (AE 1973,475) vgl. Karl Strobel, Untersuchungen zu den Dakerkriegen Trajans. Studien zur Geschichte des mittleren und unteren Donauraumes in der Hohen Kaiserzeit. (Antiquitas, Rh.1, 33.) Bonn 1984, 159–161; Miroslava Mircović, Moesia Superior. Eine Provinz an der mittleren Donau, Mainz 2007, 37; Anne Kolb, Technik und Innovation des Imperium Romanum im Spiegel der epigraphischen Denkmäler, in: Björn Onken/Dorothea Rohde (Hrsg.), In omni historia curiosus. Studien zur Geschichte von der Antike bis zur Neuzeit. FS Helmuth Schneider. (Philippika, 47.) Wiesbaden 2011, 31–42, bes. 41. 52 Vgl. Strobel, Dakerkriege Trajans (wie Anm.51), 206f. Darstellung auf der Trajanssäule Bild 79. Dass ein Zusammenhang zwischen Aktivitäten im Bereich der Infrastruktur Italiens und auswärtigen Kriegen bestehen konnte, zeigt auch die Bemerkung von Cassius Dio über die von Augustus veranlassten Reparaturarbeiten an der via Flaminia : Cass. Dio 53,22,1. 53 Zur Donaubrücke vgl. Colin O’Connor, Roman Bridges. Oxford 1993, 142–145; Plin. epist. 8,4,2: dices immissa terris nova flumina, novos pontes fluminibus iniectos ...

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IV. Strategien der Legitimierung politischer Macht und sozialer Rangordnung Wie aus den Briefen des Plinius hervorgeht, war der Bau von Anlagen der Infrastruktur untrennbar mit dem Ruhm des Princeps verbunden. Am Anfang des Briefes, in dem Plinius den Bau des Kanals bei Nikomedia vorschlägt, betont Plinius, er empfehle dem Princeps solche Projekte, die der Unsterblichkeit seines Namens und seines Ruhmes würdig seien, und am Schluss erwähnt er einen Kanal, den ein König begonnen habe, aber nicht vollenden konnte; es ging Plinius nach seinen eigenen Worten darum, von Traianus „zu Ende geführt zu sehen, was Könige nur begonnen haben“. 54 Der Verweis auf den Ruhm des Princeps (gloria) und der Vergleich mit hellenistischen Königen waren nicht ohne Funktion; es ging darum, die Zustimmung des Herrschers für eine ungewöhnliche Baumaßnahme zu erlangen. Es gab verschiedene Möglichkeiten, die Errichtung eines Bauwerks mit der Person des Princeps zu verbinden. In seinem Bericht über den Bau des Hafens von Centumcellae (heute: Civitavecchia) erwähnt Plinius, der Hafen werde den Namen seines Erbauers tragen. 55 Noch präziser ist eine ähnliche Bemerkung von Frontinus; in dem Abschnitt über Maßnahmen zur Verbesserung der Wasserqualität des Anio Novus, einer der beiden unter Claudius erbauten Leitungen, heißt es: Eine Inschrift wird als neuen Urheber Imperator Caesar Nerva Traianus Augustus nennen. 56 Beide Texte beschreiben eine in der Principatszeit gängige Praxis, die auf die Zeit der Republik zurückging: Die Bauten des Censors Appius Claudius, die von Rom zum Golf von Neapel führende Straße und die Wasserleitung für Rom, wurden nach ihrem Erbauer via Appia und aqua Appia genannt. 57 Nach dem Vorbild des Appius Claudius wurde es in den folgenden Jahrhunderten üblich, dass Straßen, Brücken und Wasserleitungen nach den Senatoren benannt wurden, die für den Bau verantwortlich waren. Als die Principes die Aufsicht über die Infrastruktur, vor allem über die Straßen zunächst in Italien, dann auch in den Provinzen und über die Wasserleitungen in Rom 58 übernahmen, wurden die republikanischen Handlungsmuster bei-

94

54

Plin. epist. 10,41,1. 10,41,4f.

55

Plin. epist. 6,31,17: habebit hic portus et iam habet nomen auctoris eritque vel maxime salutaris.

56

Frontin. aqu. 93: novum auctorem imperatorem Caesarem Nervam Traianum Augustum praescribente titulo.

57

Frontin. aqu. 5. Vgl. Liv. 9,29,5–8; ILS 54 (Elogium aus augusteischer Zeit).

58

Für Italien vgl. das Edictum Augusti de Aquaeductu Venafrano, ILS 5743.

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behalten: Insbesondere Wasserleitungen erhielten mit wenigen Ausnahmen ihren Namen nach dem jeweiligen Princeps. Diese Entwicklung begann bereits mit der von M. Agrippa während seiner Ädilität errichteten Wasserleitung, die er nach dem Triumvirn C. Iulius Caesar, der den Namen seines Adoptivvaters trug, aqua Iulia nannte. 59 Eine der beiden unter Claudius gebauten Wasserleitungen hieß aqua Claudia 60, und der ebenfalls unter Claudius begonnene und unter Nero vollendete Hafen an der Tibermündung trug den Namen Portus Ostiensis Augusti, wie eine Münze der Zeit Neros belegt 61. Auch unter Traianus wurde der Benennung von Bauten der Infrastruktur eine große Bedeutung beigemessen; dies zeigen nicht allein die Bemerkungen von Plinius und Frontinus, sondern auch die Namen der aqua Traiana und der via Traiana. Ein Bauwerk der Infrastruktur vermag durch Monumentalität oder eine technisch anspruchsvolle Konstruktion zu beeindrucken, aber auf diese Weise wird noch kein Bezug zur politischen Macht hergestellt. Die Principes hatten deswegen ein Interesse daran, auf ihre Leistungen durch Inschriften hinzuweisen. Der epigraphische Befund der frühen Principatszeit besitzt in dieser Hinsicht überaus große Aussagekraft. Bereits Augustus wies in seinem großen Tatenbericht, der als Inschrift vor seinem Mausoleum aufgestellt werden sollte, auf die Instandsetzung und Reparatur sowohl von Wasserleitungen als auch der via Flaminia zwischen Rom und Ariminum (heute: Rimini) hin. 62 Eine Inschrift des Augustus an der Porta Tiburtina erwähnt ebenfalls die Reparaturarbeiten an den Wasserleitungen Roms. 63 Die eindrucksvollsten Inschriften dieser Art finden sich an der Porta Praenestina in Rom. 64 Das Tor stand an zwei stark frequentierten Straßen, an der via Praenestina und der via Labicana, die hier von der aqua Claudia und dem Anio novus überquert werden. Die

59 Frontin. aqu. 9. 60 ILS 218; Frontin. aqu. 13–14. 61 Sesterz aus dem Jahr 64 n.Chr. Vgl. Meiggs, Roman Ostia (wie Anm.8), plate XVIII (BMC Nero 130); John P. C. Kent/Bernhard Overbeck/Armin U. Stylow, Die römische Münze. München 1973, Nr.193 (RIC Nero 74). 62 R. Gest. div. Aug. 20,2: Rivos aquarum compluribis locis vestustate labentes refeci, et aquam quae Marcia appellatur duplicavi fonte novo in rivum eius inmisso. Zur via Flaminia vgl. R. Gest. div. Aug. 20,5. 63 ILS 98. 64 Heute die Porta Maggiore; vgl. Richardson, jr, Topographical Dictionary of Ancient Rome (wie Anm.2), 306f.; Henner von Hesberg, Bogenmonumente und Stadttore in claudischer Zeit, in: Volker Michael Strocka (Hrsg.), Die Regierungszeit des Kaisers Claudius (41–54 n.Chr.). Umbruch oder Episode? Mainz 1994, 245– 260. Die Inschriften: vgl. ILS 218. Die beste Abbildung der Porta Maggiore ist bis heute die Vedute Piranesis: John Wilton-Ely, Piranesi, Vision und Werk. München 1978, Nr.119.

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erste Inschrift stammt von Claudius, der die Leistung, die mit dem Bau der beiden Leitungen verbunden war, dadurch kennzeichnet, dass er die Länge der Leitungen mit 45 beziehungsweise 62 Meilen präzise angibt; ferner betont Claudius, diese Leitungen auch aus eigenen Mitteln (sua impensa) finanziert zu haben. Die beiden folgenden Inschriften von Vespasianus und Titus verweisen in ähnlicher Weise, auch mit Betonung der Finanzierung durch den Princeps, auf die Reparaturarbeiten an den Leitungen. 65 Auffallend ist dabei, dass der Name aqua Claudia auf diesen Inschriften durch die Namen der Quellen Curtius und Caeruleus ersetzt worden ist; dass es sich hierbei nicht um einen Zufall handelt, zeigt eine Erwähnung der von Claudius errichteten Wasserleitungen bei Plinius in der unter Vespasianus (vor 79 n.Chr.) verfassten naturalis historia 66; an dieser Stelle folgt Plinius der Sprachregelung der Inschriften, während Frontinus später wieder von der aqua Claudia spricht 67. Dies belegt sehr anschaulich, dass die Benennung eines Bauwerks durchaus ein Politikum sein konnte. Neben den Meilensteinen an den Straßen und neben den Stadttoren kam als Träger von Inschriften gerade auch dem Ehrenbogen, der die Leistung des Princeps für die Öffentlichkeit deutlich sichtbar machen sollte, eine besondere Bedeutung zu. Das früheste Beispiel hierfür stammt wiederum aus der augusteischen Zeit: An den beiden Endpunkten der von Augustus wiederhergestellten via Flaminia, in Rom und in Ariminum, stand jeweils ein Ehrenbogen, auf dem eine Statue des Princeps aufgestellt war. 68 Auch in der Zeit des Traianus wurden solche Ehrenbögen für den Princeps errichtet, so in Beneventum am Anfang der via Traiana. Der Bogen erwies sich auch als geeigneter Träger für Reliefs, die den Princeps und seine Aktivitäten zeigen. Der Ehrenbogen von Benevent ist geradezu ein Tatenbericht des Princeps in Bildform. 69 Für den Bau der Mole von Ancona wurde Traianus ebenfalls durch die Errichtung eines im Hafen weithin sichtbaren Ehrenbogens durch Senat und Volk von Rom geehrt. 70 Die Inschrift auf dem Bogen begründet dies damit, dass der Princeps 65 Vgl. auch die Inschrift des Titus an der Porta Tiburtina ILS 98. 66 Plin. nat. 36,122: influxere Curtius et Caeruleus fontes et Anien novus. 67 Frontin. aqu. 13–14. 68 ILS 84. Cass. Dio 53,22,2. 69 Niels Hannestad, Roman Art and Imperial Policy. (Jutland Archeological Society Publications, 19.) Aarhus 1988, 177–186. Abbildungen der Reliefs bei Bernard Andreae, Römische Kunst. Freiburg im Breisgau 1973, Abb.406–420. 70 Hannestad, Roman Art (wie Anm.69), 174f.; Abb.bei John B. Ward-Perkins, Architektur der Römer. Stuttgart 1975, 88.

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den Zugang nach Italien durch den Bau der Hafenmole von Ancona für die Seeleute sicherer gemacht habe. 71 Portus, der Hafen bei Ostia, bietet ein besonders eindrucksvolles Beispiel der Inszenierung politischer Macht; am großen, unter Traianus errichteten zweiten Hafenbecken, das als portus Traiani felicis bezeichnet wurde, stand eine monumentale Statue des Princeps, deren Standort so gewählt war, dass Schiffe, die in den Hafen einfuhren, direkt auf dieses Standbild zusteuerten. 72 Eine gute Vorstellung von der Präsenz der Principes im Hafen von Ostia vermittelt das Relief im Museo Torlonia in Rom. 73 Auf dem vorletzten Absatz des Leuchtturms steht eine Statue, die einen Princeps darstellt 74, und deutlich ist ein Ehrenbogen mit einer Elefantenquadriga zu erkennen. Der Princeps im Wagen dieser Quadriga ist mit großer Wahrscheinlichkeit Domitianus, von dem man weiß, dass er solche von Elefanten gezogene Quadrigen aufstellen ließ. 75 Eine ähnliche Funktion wie der Ehrenbogen hatte das Nymphaeum; die ästhetische und zugleich monumentale Gestaltung dieser Schauwände am Ende eines Aquädukts wies auf die Wasserleitung hin und ehrte in der Inschrift den Princeps, unter dem das Bauwerk errichtet worden ist. In den Nischen an den Wänden standen Statuen von Göttern, des Princeps und von Angehörigen seiner Familie sowie des städtischen Euergeten. In Argos war eine Statue des Hadrianus, in Ephesos ein Standbild des Traianus am Nymphaeum aufgestellt. Ein monumentales Nymphaeum hat Herodes Atticus um 150 n.Chr. in Olympia errichten lassen. Mit den Statuen des Princeps ist der Bezug zur römischen Herrschaft deutlich gegeben. Solche Nymphäen sind vor allem für die Städte der östlichen Provinzen nachzuweisen, so

71 ILS 298: quod accessum Italiae hoc etiam addito ex pecunia sua portu tutiorem navigantibus reddiderit. 72 Meiggs, Roman Ostia (wie Anm.8), 165f. 73 Ebd.158f.; Abb.mit ausführlichem Kommentar: ebd.Plate XX. Vgl. Lionel Casson, Ships and Seamanship in the Ancient World. Princeton 1971, fig. 144. 74 Meiggs, Roman Ostia (wie Anm.8), Kommentar zu Plate XX. Nach Vermutung von Meiggs handelt es sich um Claudius, den Erbauer des Hafens, oder um Nero, der den Hafen nach seiner Vollendung einweihte. Nero ließ aus diesem Anlass einen Sesterz mit einem Bild des Hafens prägen. Vgl. oben Anm.57. Für die Annahme, Claudius sei auf dem Relief dargestellt, spricht vor allem die Tatsache, dass der Typus der Statue einem Standbild des Claudius aus Herculaneum stark ähnelt. Vgl. Andreae, Römische Kunst (wie Anm.69), Abb.321. 75 Mart. 8,65. Sesterz des Domitianus mit zwei Elefantenquadrigen: Vgl. Kent/Overbeck/Stylow, Die römische Münze (wie Anm.61), Nr.252 (RIC Domitianus 416).

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etwa für Ephesos, Milet, Aspendos, Perge, Side und Antiocheia. 76 Ehrenbogen, Nymphaeum und Inschrift stellen eine enge Verbindung zwischen Infrastruktur und Herrschaft her mit dem Ziel, Herrschaft als positiv für die Bevölkerung zu erweisen und auf diese Weise das politische System des Principats zu legitimieren. Angehörige der städtischen Oberschicht sind dem Vorbild des Princeps gefolgt und haben auf ihre Bauten oder die Übernahme von Kosten für die Errichtung einzelner Bauwerke in Inschriften hingewiesen und auf diese Weise versucht, politische Reputation zu gewinnen. Bei Ephesos ist die repräsentative Bogenkonstruktion, auf der eine Wasserleitung eine Straße überquert, mit einer zweisprachigen Inschrift des C. Sextilius Pollio versehen, der das Bauwerk der Artemis von Ephesos, den beiden Principes Augustus und Tiberius sowie der Bürgerschaft von Ephesus weiht und gleichzeitig erklärt, er habe die Aquädukt-Brücke selbst finanziert. 77 Zu Beginn des 2.Jahrhunderts n.Chr. hat Claudius Aristio eine etwa 38 Kilometer lange Wasserleitung für Ephesos und am Endpunkt der Leitung ein eindrucksvolles, zweistöckiges Nymphaeum errichten lassen. Auch in diesem Fall wird der Princeps geehrt und der Erbauer der Leitung – zusammen mit seiner Frau – genannt. 78 Das finanzielle Engagement städtischer Oberschichten in Italien und in den Provinzen für den Bau von Wasserleitungen ist auch sonst durch Inschriften gut bezeugt, die eine ähnliche Funktion hatten wie die Inschriften der Principes. 79 Es ging den städtischen Wohltätern darum, ihre politische und gesellschaftliche Stellung durch den Nachweis ihrer Verdienste um die Wohlfahrt der städtischen Bevölkerung zu festigen. Die Vollendung von Bauwerken der Infrastruktur wurde als politisches Ereignis in Szene gesetzt; für den Abschluss der Arbeiten an dem Ableitungskanal des Fuciner Sees liegen einige Zeugnisse vor, da es bei den Feierlichkeiten fast zu einer Katastrophe gekommen wäre. Als die Wehre des Abflusskanals geöffnet wurden, ström76

Tölle-Kastenbein, Wasserkultur (wie Anm.2), 190–198; Franz Glaser, Fountains and Nymphea, in: Wi-

kander (Ed.), Water Technology (wie Anm.2), 413–451, bes. 439–447. Das am Palatin in Rom unter Septimius Severus errichtete Septizodium hatte hingegen keine Funktion für die Wasserversorgung; vgl. Richardson, jr, Topographical Dictionary of Ancient Rome (wie Anm.2), 350. 77

ILS 111. Eck, Wassermanagement (wie Anm.43), 39. Abb.des Aquaeducts von Ephesos: Jean-Pierre

Adam, La construction romaine. Materiaux et techniques. Paris 1984, Abb.561. Die Wasserversorgung antiker Städte. Bd. 2: Pergamon, Recht, Verwaltung, Brunnen, Nymphäen, Bauelemente. (Geschichte der Wasserversorgung, 2.) Mainz 1987, 182, Abb.3.

98

78

Eck, Wassermanagement (wie Anm.43), 39f.

79

ILS 5754–5759, 5761–5785, 5788.

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te das Wasser mit einer solchen Wucht in den Kanal, dass es Landflächen am Ufer des Sees mit sich riss und Claudius zusammen mit seiner Familie fast ertrunken wäre. 80 Bemerkenswert ist das Motiv, das Tacitus für die Veranstaltung eines Schiffskampfes auf dem See angibt: Demnach ging es Claudius darum, dass die Monumentalität der Anlage, die in den Abruzzen fern von Rom liegt, von möglichst vielen Menschen wahrgenommen werden sollte. Nach weiteren Arbeiten an der Anlage ließ Claudius aus demselben Motiv heraus Gladiatorenspiele veranstalten. 81 Diese Feierlichkeiten zogen viele Menschen aus den umliegenden Städten und selbst aus Rom an, wie Tacitus ausdrücklich feststellt. 82

V. Macht, soziale Rangordnung und die Verteilung des Wassers in Rom Die politischen und sozialen Machtverhältnisse finden ihren Ausdruck nicht nur bei der Planung, Errichtung und Finanzierung von Anlagen der Infrastruktur, sondern wesentlich auch in der Nutzung der Anlagen. Dies trifft in besonderem Maße für die Systeme der Wasserversorgung zu. Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Verteilung des Wassers in der Stadt Rom zu analysieren: Da die fistulae aquariae, die Zuleitungsrohre zu Privathäusern und zu privaten Grundstücken, oft mit Namen versehen waren, besteht die Möglichkeit, den sozialen Status derer, die über einen privaten Anschluss verfügten, zu klären. In einer neueren Studie gibt Werner Eck die Zahl der auf den fistulae genannten Personen mit 299 an; für 182 Personen kann der soziale Status festgestellt werden. 83 Dabei kommt Eck zu folgendem Ergebnis: 139 Personen gehörten dem ordo senatorius an, 20 Personen waren Angehörige des ordo equester, und ferner werden auf den fistulae 22 Freigelassene des Princeps sowie drei Ärzte und nichtkaiserliche Freigelassene genannt. 84 Unter den Senatoren waren 68

80 Tac. ann. 12,57. Suet. Claud. 32. 81 Tac. ann. 12,56,1: quo magnificentia operis a pluribus viseretur. Vgl. Tac. ann. 12,57,1: et contrahendae rursum multitudini gladiatorum spectaculum editur. 82 Tac. ann. 12,56,3. 83 Werner Eck, Die fistulae aquariae der Stadt Rom. Zum Einfluss des sozialen Status auf administratives Handeln, in: ders., Verwaltung (wie Anm.2), Bd.2, 245–277 (mit einer vollständigen Liste der Personen, die über einen Anschluss an die öffentlichen Leitungen verfügten). 84 Ebd.251.

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selbst Consuln, 15 stammten aus consularen Familien, sind also zur Führungsschicht innerhalb des Senates zu rechnen. 25 der insgesamt 34 Frauen aus dem ordo senatorius waren Angehörige consularer Familien. 85 Nach Eck war „das spezifische Nahverhältnis zum Kaiser“ 86 ausschlaggebend für die Erlaubnis einer Wasserzuleitung aus den öffentlichen Leitungen, und hier hatten hochrangige Senatoren und die Freigelassenen des Princeps einen entscheidenden Vorteil vor anderen Bevölkerungskreisen. Eine andere Möglichkeit, die Wasserverteilung in Rom zu analysieren, bieten die Angaben von Frontinus zur Aufteilung des Wassers der einzelnen Leitungen. 87 Zum Verständnis seiner Ausführungen ist es notwendig, das System der römischen Wasserversorgung kurz zu skizzieren: Im Gegensatz zu den Häusern der Senatoren, die eine hohe Chance hatten, die Genehmigung für eine eigene Zuleitung zu erhalten, besaßen die Wohnungen in den Mietshäusern keinen eigenen Wasseranschluss. Die Mehrzahl der Bewohner Roms war damit auf die Wasserversorgung durch öffentliche Laufbrunnen (lacus) angewiesen. Die große Zahl solcher Laufbrunnen, die über das ganze Stadtgebiet verteilt waren, war die Voraussetzung dafür, dass die Bevölkerung in relativer Nähe zur Wohnung Wasser für den eigenen Bedarf holen konnte. Immerhin erleichtert der Laufbrunnen gegenüber dem eigentlichen Brunnen das Wasserholen erheblich, denn das mit Wasser gefüllte Gefäß musste nicht aus größerer Tiefe emporgezogen werden. 88 Frontinus gibt die Wassermenge jeweils in den Größen des Querschnitts von Kanälen und Leitungen an, die Einheit ist dabei die quinaria. 89 Da es hier auf die Relationen zwischen den verschiedenen Nutzern ankommt, ist es nicht notwendig, die

85

Ebd.256f.

86

Ebd.258.

87

Frontin. aqu. 79–86; Rabun Taylor, Public Needs and Private Pleasures. Water Distribution, the Tiber

River and the Urban Development of Ancient Rome. (Studia archaeologica, 109.) Rom 2000. 88

Vgl. allgemein Tölle-Kastenbein, Wasserkultur (wie Anm.2), 143–154. Zu den Laufbrunnen: Frontin.

aqu. 104. Die Wasserversorgung in römischen Städten kann sehr gut am Beispiel von Pompeii analysiert werden. Vgl. Liselotte Eschebach, Pompeji, in: Wasserversorgung antiker Städte, Bd. 2 (wie Anm.77), 202– 205; Gemma Jansen, The Water System: Supply and Drainage, in: John J. Dobbins/Peddar W. Foss (Eds.), The World of Pompeii. London 2007, 257–266. 89

Die quinaria entspricht etwa 6,7 cm2: Tölle-Kastenbein, Wasserkultur (wie Anm.2), 150. Mit der quinaria

wurde der Durchmesser von Rohren und der Querschnitt der Freispiegelkanäle gemessen, wobei die Fließgeschwindigkeit des Wassers nicht berücksichtigt wurde; dass die Fließgeschwindigkeit Einfluss auf die Wassermenge besaß, war Frontinus durchaus bewusst: Frontin. aqu. 35–36.

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quinariae in Wassermengen umzurechnen. 90 Frontinus differenziert zunächst zwischen der Ableitung des Wassers außerhalb von Rom und dem Wasserangebot in Rom; außerhalb von Rom gibt es nur zwei Nutzer bzw. Nutzergruppen, den Princeps und die privati (Privatleute). In Rom wird die jeweils verteilte Wassermenge genau aufgelistet: er nennt den Princeps, die privati und das Wasser für den öffentlichen Verbrauch (usus publici); darunter werden auch die Laufbrunnen (lacus) aufgeführt. Das Zahlenmaterial, das Frontinus bietet, bezieht sich auf die Zeit, in der er das Amt des curator aquarum übernahm, die Maßnahmen des Frontinus unter Traianus sind folglich noch nicht berücksichtigt. Da immer wieder Veränderungen an den Leitungen vorgenommen worden sind, geben die Angaben auch nicht den Zustand nach der Fertigstellung der einzelnen Leitungen wieder, es handelt sich vielmehr um eine Art Momentaufnahme der Wasserverteilung in der Zeit Nervas (96–98 n.Chr.). Dabei ist allerdings kein Anzeichen für eine grundlegende Änderung in der Wasserverteilung nach Agrippa und Augustus festzustellen; damit können die Angaben des Frontinus als symptomatisch für die Zeit des frühen Principats gewertet werden. Das dem Princeps zur Verfügung stehende Wasser diente wahrscheinlich verschiedenen Zwecken, es war nicht allein für den Palast, sondern auch für alle Gebäude und Ämter unter der Kontrolle des Princeps bestimmt. 91 Entscheidend für die Frage nach den gesellschaftlichen Dimensionen der Wasserverteilung sind somit zwei Angaben, die Zahl der quinaria für die privati und für die lacus, die für die Wasserversorgung der großen Mehrheit der Bevölkerung von entscheidender Bedeutung waren. Eine Übersicht über die Angaben bei Frontinus ergibt folgendes Bild: Abgesehen von der aqua Appia erhalten privati von allen Leitungen deutlich mehr Wasser als die lacus; in einigen Fällen steht den privati mehr als das Fünffache der Wassermenge zu, die den lacus zugeleitet wird. Die Zahlenangaben für die einzelnen Leitungen machen die Disparitäten sehr deutlich. Der Anteil der privati und der lacus liegt gemessen an der gesamten Wassermenge der jeweiligen Leitung prozentual für den Anio Vetus bei 42,9 % und 10,4 %, für die aqua Marcia bei 31,3 % und 14,7 %, für die aqua Tepula bei 65,8 % und 7,1 %, für die aqua Iulia bei 42 % und 8,6 %, für die Virgo bei

90 Vgl. auch Eck, Die fistulae aquariae (wie Anm.83), 246 Anm.7; Tölle-Kastenbein, Wasserkultur (wie Anm.2), 150; Taylor, Public Needs (wie Anm. 87), 33–39. 91 Ebd.44.

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13,4 % und 2 % und schließlich für die aqua Claudia und den Anio Novus, die von Frontinus zusammen aufgelistet werden, bei 30,6 % und 9,8 %. 92 Auffallend ist die hohe Wassermenge, die von der Virgo in den Euripus Virginis, ein großes Wasserbecken im Zentrum des von M. Agrippa neu gestalteten Marsfeldes, eingeleitet wurde. 93 In der Zusammenfassung der Wasserverteilung in Rom 94 bei Frontinus sind erwartungsgemäß ähnliche Verhältnisse zu konstatieren; der Anteil der privati an der Wassermenge der aquae liegt bei 44,1 %, während auf die lacus 9,5 % der Wassermenge entfallen. Wenn auch die Angaben bei Frontinus in mancher Hinsicht nicht exakt sind 95, bieten sie doch einen wichtigen Anhaltspunkt für die wirkliche Wasserverteilung in Rom und für die Sicht des curator aquarum. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die Politik des Traianus; der Princeps hatte Maßnahmen ergriffen, um die Wasserzuleitung zu den Laufbrunnen zu gewährleisten, und die Zahl der lacus wurde erhöht 96, was eindeutig im Interesse der Bevölkerung Roms war, aber gleichzeitig wurden auch mehr Bewilligungen für private Zuleitungen gewährt. Die privati, die zuvor illegal Wasser abgeleitet hatten und eine Strafe befürchten mussten, erhielten auf diese Weise das Wasser als beneficium des Princeps. 97 Die Wasserverteilung in Rom spiegelt demnach sehr deutlich die sozialen Machtverhältnisse in der Zeit des Principats wider. Obgleich die Bevölkerung der Stadt allgemein von dem Bau der Wasserleitungen profitierte, existierte doch ein klarer Vorrang der privati, die eine Erlaubnis zur Ableitung von Wasser aus den öffentlichen Leitungen erhalten hatten. Wie die Inschriften auf den fistulae aquariae zeigen, gehörten diese privati vor allem der politischen Führungsschicht und den Freigelassenen des Princeps an. Wasser wurde von den Angehörigen dieser Funktionseliten

92

Frontin. aqu. 80–86. Vgl. auch die Aufstellung bei Tölle-Kastenbein, Wasserkultur (wie Anm.2), 150f.

Im Anhang ist die Wassermenge für privati und lacus in quinariae aufgelistet. Das Wasser der Alsietina wurde nicht nach Rom geleitet, sondern außerhalb der Stadt verbraucht. Frontinus nimmt an, dass Augustus die Leitung baute, um Wasser für die Naumachie am rechten Tiberufer bereitzustellen. Frontin. aqu. 85 und 11. 22. Vgl. Richardson, jr, Topographical Dictionary of Ancient Rome (wie Anm.2), 15 und 265. 93

460 quinariae, also immerhin ca. 18,3 % der Gesamtmenge des Wassers der Virgo. Vgl. Frontin. aqu. 84;

Richardson, jr, Topographical Dictionary of Ancient Rome (wie Anm.2), 147. 94

Frontin. aqu. 78.

95

Zu den Ungenauigkeiten bei Frontinus vgl. Taylor, Public Needs (wie Anm.87), 43.

96

Frontin. aqu. 87. 88.

97

Frontin. aqu. 88: Nec minus ad privatos commodum ex incremento beneficiorum eius diffunditur; illi quoque

qui timidi inlicitam aquam ducebant, securi nunc ex beneficiis fruuntur.

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aber keineswegs nur als Trinkwasser benötigt, sondern es speiste auch Springbrunnen, Kaskaden und Wasserspiele in den Gärten. 98 Es war in den Oberschichten eine Garten- und Wasserkultur entstanden, die einen hohen Wasserverbrauch zur Folge hatte. Der Bau der Wasserleitungen entsprach damit vorrangig den sozialen und kulturellen Interessen einer reichen Oberschicht, die allerdings bereit war, die grundlegenden Bedürfnisse der städtischen Bevölkerung bei dem Ausbau der Infrastruktur so weit zu berücksichtigen, dass diese Politik die Akzeptanz der Bevölkerung fand.

Anhang: Die Wasserverteilung in Rom bei Frontinus Überblick (Frontin. aqu. 78): Gesamtmenge des Wassers: 14018 quinariae privati außerhalb von Rom und in Rom: 6192 quinariae (44,1 %) 591 Brunnen: 1335 quinariae (9,5 %) Aqua Appia (Frontin. aqu. 79): Gesamtmenge des Wassers: 704 quinariae privati in Rom: 194 quinariae (27,5 %) 92 Brunnen: 226 quinariae (32,1 %) Anio vetus (Frontin. aqu. 80): Gesamtmenge des Wassers: 2081 quinariae privati außerhalb von Rom und in Rom: 894 quinariae (42,9 %) 94 Brunnen: 218 quinariae (10,4 %) Aqua Marcia (Frontin. aqu. 81): Gesamtmenge des Wassers: 1733 quinariae privati in Rom: 543 quinariae (31,3 %) 113 Brunnen: 256 quinariae (14,7 %) Aqua Tepula (Frontin. aqu. 82): Gesamtmenge des Wassers: 445 quinariae privati außerhalb von Rom und in Rom: 293 quinariae (65,8 %)

98 Cic. ad Q. fr., 3,1,1. 3,1,3. Sen. epist. 55,6. Plin. epist. 5,6,36f. Zu den Stadthäusern vgl. für Pompeii Paul Zanker, Pompeji, Stadtbild und Wohngeschmack. (Kulturgeschichte der antiken Welt, 61.) Mainz 1995, 150–210.

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13 Brunnen: 32 quinariae (7,1 %) Aqua Iulia (Frontin. aqu. 83): Gesamtmenge des Wassers: 754 quinariae privati in Rom: 317 quinariae (42 %) 28 Brunnen: 65 quinariae (8,6 %) Virgo (Frontin. aqu. 84): Gesamtmenge des Wassers: 2504 quinariae privati außerhalb von Rom und in Rom: 338 quinariae (13,4 %) 25 Brunnen: 51 quinariae (2 %) Aqua Alsietina (Frontin. aqu. 85; vgl. 11): Gesamtmenge des Wassers: 392 quinariae privati außerhalb von Rom: 138 quinariae Aqua Claudia und Anio novus (Frontin. aqu. 86): Gesamtmenge des Wassers: 4911 quinariae privati außerhalb von Rom und in Rom: 1506 quinariae (30,6 %) 226 Brunnen: 482 quinariae (9,8 %)

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„Aqua curanda est“ Wasserinfrastrukturen als Streitfaktor in der Stadt Catania von Kaiser Friedrich II. bis zu Alfons V. „dem Großmütigen“ (1220–1458) von Marco Leonardi

I. Zur Einführung: die Etymologie Catanias als indirekte „Wasserspur“ Die große Bedeutung des Elements Wasser in der Entwicklung der Stadt Catania lässt sich bis zu deren Gründung zurückverfolgen: selbst die Etymologie ist von der Rolle, die das Wasser im Gründungsprozess der Stadt am Ätna entfaltet, beeinflusst, und sei es auch nur indirekt. Wie der Historiker Thukydides aus Athen berichtete 1, war es vom Ionischen Meer her, dass die Chalkesen von Naxos im Jahr 729/28 v.Chr. das Land vor sich als Kατάνη, also als „Reibeisen“ bezeichneten, um auf die Felsenspitzen aus Lava hinzuweisen, welche die Landung der Schiffe behinderten. 2 Der für diesen Aufsatz gewählte Zeitbogen, ausgehend von der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts bis zur zweiten Hälfte des 16.Jahrhunderts, erlaubt aus einer historischen Perspektive zu beobachten, wie die heute sowohl in der Wissenschaft als auch im „gebildeten“ Alltagsdiskurs viel diskutierten Konzepte wie umweltfreundliche Was-

1 Thuk., VI,3. 2 Über die Etymologie und Auslegung des Namens Kατάνη vgl. Vito Maria Amico, Catania illustrata, sive sacra et civilis urbis Catanae Historia. A prima eiusdem origine in praesens usque deducta, ac per Annales digesta. Catanae 1740, 17; Sebastiana Lagona, Catania antica, in: Nino Muzzio (Ed.), Catania. La città, la provincia, le culture. Vol.1. Catania 2005, 97–106, hier 97; Rocco Pirri, Sicilia Sacra disquisitionibus et notitiis illustrata. Tomus Primus. Panormi 1733, 514; Lorenzo Rocci, Vocabolario Greco–Italiano. 39.Aufl. Rom 1998, 994. Für ein Gesamtbild über die geographischen Merkmale Catanias im 8.Jahrhundert v.Chr. vgl. David Ascheri, La colonizzazione greca, in: Rosario Romeo (Ed.), Storia della Sicilia. Vol.1. Neapel 1979, 89–142, hier 105–111; Natalia Di Bartolo, Catania: storia di una città, in: Nino Muzzio (Ed.), Catania. La città, la provincia, le culture, Vol.1, 21–24; Dieter Girgensohn, Art.„Catania“, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 2. München 2003, 1572f.; Santo Privitera, Lo sviluppo urbano di Catania dalla fondazione dell’ Apoikia alla fine del V secolo d. C., in: Lina Scalisi (Ed.), Catania. L’identità urbana dall’Antichità al Settecento. Catania 2009, 37–71, hier 37; Francesco Renda, Storia della Sicilia dalle origini ai giorni nostri. Vol.2. Palermo 2003, 25f.

DOI

10.1515/9783486781052.105

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serinfrastrukturen und nachhaltige Wassernutzung mit ihren Wurzeln auch in diesen historischen Zeitraum zurückreichen. 3

II. Die Stadt Catania und ihre Gewässer. Merkmale eines geographischen und historiographischen „Sonderfalles“ Der erste Aspekt einer wissenschaftlichen Analyse der Infrastrukturgeschichte Catanias vom 13. bis zum 17.Jahrhundert betrifft die Quantität und Qualität der historischen Quellen, die wir über die sizilische Gemeinde besitzen. Die wenigen Quellen, die die wiederholten Naturkatastrophen überlebt hatten – im Besonderen die Eruption von 1669, die allein ausreichte, um den äußeren Teil der Stadt zu zerstören, und das Erdbeben von 1693, das im buchstäblichen Sinne das gesamte bewohnte Zentrum und damit die architektonische Struktur der spätmittelalterlichen Stadt zerstörte 4 –, wurden am 14.Dezember 1944 den Flammen übergeben, als Universitätsstudenten das Rathaus der Stadt Catania, in dessen Archiv die Originaldokumente aufbewahrt wurden, in Brand setzten, um gegen den Einzug zum Wehrdienst zu protestieren, der zu diesem Zeitpunkt die Jahrgänge 1922–1924 betraf. 5 Das zweite Kennzeichen betrifft die Besonderheit der geographischen Lage einer „Stadt am Meer“ wie Catania: der Mangel an (wie in ganz Sizilien) befahrbaren Flüssen – wenn man die auf einige Monate im Jahr begrenzte Möglichkeit ausschließt, kleine Barken zum Fischen oder zum Transport kleiner Warenmengen zu nutzen –, das Vorhandensein des Meeres vor den Stadtmauern und die Positionierung der Stadt in der

3 Als Untersuchungsbeispiel für das norditalienische Gebiet vgl. Duccio Balestracci, Die Entwicklung der städtischen Wasserversorgung in Italien vom 12. bis 15.Jahrhundert, in: Die Wasserversorgung in der Renaissancezeit. Hrsg. v. der Frontinus-Gesellschaft. (Geschichte der Wasserversorgung, 5.) Mainz 2000, 63–98. Für das Gebiet der Stadt am Ätna vgl. Ministero per i beni e le attività culturali della Repubblica Italiana/ Dipartimento per i beni archivistici e librari della Repubblica Italiana/ Direzione generale degli archivi della Repubblica Italiana (Ed.), Agenda degli Archivi di Stato 2005 [Ausgewähltes Thema für das Jahr 2005: die zivile Wassernutzung in der Geschichte Italiens aus den archivalischen Beständen der italienischen Staatsarchive]. Rom 2004, 5–6, 9–14, bes. Tafelverzeichnis Nr.1/b, 20/a u. 33/a. 4 Vgl. Carlo Gemmellaro, Saggio di storia fisica di Catania, in: Atti dell’Accademia Gioenia di scienze naturali di Catania, Serie seconda, Tomo V, Catania 1848, 91–268, hier 150–155; Paolo Militello/Giannantonio Scaglione, Gli uomini, la città. Catania tra XV e XVII secolo, in: Scalisi (Ed.), Catania (wie Anm.2), 113–131, hier 115f. 5 Vgl. Biagio Saitta, Catania nel Medioevo. 2.Aufl. Catania 2008, 5f.

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Mitte der Ostküste der Insel, gaben seit der Gründungszeit den Einwohnern über die Jahrhunderte Anlass, mit dem Aufbau unterschiedlicher Infrastrukturen die zwei „Wasserarten“, Süß- und Salzwasser, im Laufe der Jahrhunderte zu beherrschen. Schon fünf Jahrhunderte vor den oben genannten Naturkatastrophen betonten die historischen Quellen bezüglich der am südlichen Abhang des Ätna liegenden Stadt das Vorhandensein eines reichen Wasservorkommens, das die Entwicklung der städtischen Aktivitäten und Gewerbe in Verbindung mit der Wassernutzung begünstigte. Um 1154 beschreibt der muslimische Geograph Idrisi (ca. 1099–1164), der als Gelehrter aus Cordoba in Palermo als Gast am Hof des normannischen Herrschers Roger II. von Altavilla eintraf, in seiner berühmten, 1154 vollendeten geographischen Abhandlung „Das Buch des Ruggero“ den Reichtum des Wasserlaufs, der Catania umspült. Er beschreibt die Stadt, „die überreich an Gärten ist, Quell- und Flusswasser sind in Fülle vorhanden und einer ihrer Flüsse weist wahrhaft einzigartige Charakteristika auf“. 6 Mit „einer ihrer Flüsse“ meinte der aus dem nordafrikanischen Ceuta stammende Geograph den Fluss Amenano. Die schon erwähnten Gründer der Stadt, die Chalkesen von Naxos, wählten als Symbol von Kατάνη den Flussgott Amenanos, dargestellt als Figur mit einem menschlichen Körper und einem Stierkopf auf den Münzen des 5.Jahrhunderts v.Chr. 7 Sie schrieben diesen Namen Amenano dem Fluss zu, der das gesamte Stadtzentrum durchquerte und im Hafen mündete, und das seit den Ursprüngen bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Der ursprüngliche Lauf des Flusses wurde dann vor den Lavaeruptionen von 496 v.Chr., von 1381 und besonders von jener in den Stadtchroniken wegen ihrer zerstörerischen Kräfte vermerkten Eruption von 1669, die den Fluss begrub, grundlegend verändert. Noch heute ist es möglich, die Abbildungen des Gottes Amenano zu bewundern, der als Symbol des Reichtums und der Fruchtbarkeit aufgrund der Fülle des Wassers in den Reliefs am Sockel des Elefantenbrunnens auf dem Domplatz dargestellt ist und auch auf dem nur wenige Meter entfernten auf demselben Platz am Eingang zum Fischmarkt gelegenen Brunnen, der den Namen des Gottes Amenano trägt. 8 Weitere Nachweise des reichen Wasservorkommens der Stadt am

6 Idrisi, Il libro di Ruggero. Ed. Umberto Rizzitano. Palermo 1966, 42f. 7 Vgl. Amico, Catania illustrata (wie Anm.2), 316. 8 Vgl. Pietro Carrera, Delle memorie historiche della città di Catania spiegate in tre volumi. Vol 1. Catania 1639, 129–132. – F. Thomae Fazelli, De Rebus Siculis. Decas Prima, Lib. III. Catanae 1749, 138; Ofelia Guadagnino, Le acque di Catania nel divenire dei secoli. Catania 2001, 13, 21 (Text) u. 126 –129 (Abb.); Edoardo Tor-

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Ätna lassen sich der Topographie entnehmen, die auch in der Epoche des Spätmittelalters von den griechischen Wurzeln der Stadt beeinflusst wurde: vom Namen „Cibali“, ein aus dem griechischen Kephalè abgeleitetes Wort mit der Bedeutung „Kopf des Wassers“, mit dem eines der ältesten Viertel Catanias bezeichnet wird, in dem der Fluss Lòngane floss (und noch fließt) 9, bis zum Hafen namens Ognina, so benannt nach dem Fluss Lognina, der dort, seinen Ursprung aus Quellen an den Abhängen des Ätnas nehmend, ins Meer mündet. 10 Lòngane ist ein vom griechischen Longon oder Longones hergeleitetes Wort, mit dem ein an Spalten reiches Gelände bezeichnet wurde: der Name des Hafens Lognina wurde vom griechischen Historiker Diodorus Siculus auf die Göttin Ongia zurückgeführt. 11 Die Verfügbarkeit reicher Süßwasserressourcen reicht allein nicht, um die Entwicklung der mittelalterlichen Stadt zu erklären. Das Eingangstor zum Notostal (einer der drei Verwaltungsbezirke samt den Demones- und Mazarastälern, in die Sizilien seit dem normannischen König Roger II. bis 812 geteilt wurde) 12 wäre ohne den Hafen nicht denkbar gewesen. Die exakte Ortsbestimmung einer (oder mehrerer) natürlicher Anlegestellen, die seit der griechischen Siedlung im 6.–5.Jahrhundert v.Chr. zum ersten Mal die Grundzüge einer Infrastruktur darstellte, ist noch heute umstritten. Gemäß der letzten Funde, die von 1990 bis 2002 durch Unterwasserarchäologen erbracht wurden, bot die Küste in Richtung Nordosten von Catania bis zum kleinen Fischerdorf Capo Mulini sechs mögliche Anlegestellen an, die auch den Bedürfnissen des dortigen Kleinhandels (meist aus der Fischerei) gedient haben könnten. 13 Die Archäologen und Historiker nehmen auf Basis der letzten Forschungsergebnisse an, dass Catania bis 1381 über drei natürliche Hafenbecken verfügte, die als Anlegestellen verwendet wurden. 14 Ein epigraphisches Fragment aus der spätkaiserlichen Zeit der römischen Herrschaft über Catania lässt aber in den letzten Jahrzehnten die Mehrheit der Forscher die Lokalisation einer Infrastruktur, die als Hafen zu betrachten war, an die

torici, Il porto di Catania in età greca e romana, in: Antonio Coco/Enrico Iachello (Eds.), Il porto di Catania. Storia e prospettive. Syracus 2003, 31–44, hier 35–38. 9 Vgl. Guadagnino, Le acque di Catania (wie Anm.8), 90. 10

Vgl. Antonio Tempio, Note storiche, in: Giuseppe Anfuso, C’era una volta Ognina. Catania 2009, I–VIII.

11

Diod., Bibliotheca Historica, XXIV, 6.

12

Vgl. Vincenzo Epifanio, I valli della Sicilia nel Medio Evo e la loro importanza nella vita dello Stato.

Neapel 1938, hier 9–14.

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13

Tortorici, Il porto di Catania (wie Anm.8), hier 33.

14

Ebd.37, Abb.1.

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Mündung des Flusses Amenano verlegen, wo heute die seit 1861 errichtete Villa Pacini zu finden ist. Das Fragment, in der Nähe von Villa Pacini ausgegraben, berichtet über Instandsetzungsarbeiten „operibus tuendis“ und lässt mit Recht das Vorhandensein einer Infrastruktur vermuten, wie die Worte „pila“ (Poller),und „molem“ (Hafenmole) verraten. Sie sollten entscheidend dazu beitragen, die von der Flutwelle „procella“ bedrohten Schiffe ohne große Hindernisse anlegen zu lassen: „navigis adpulsis scabro litori“. 15 Die strategische Relevanz der Küste Catanias wurde auch indirekt mit der Bau einer ganz anderen Infrastruktur unter staufischer Herrschaft auf Catania bewiesen: der Festung Ursino. Sie wurde auf Wunsch des staufischen Kaisers Friedrich II. zwischen 1239 und 1250 auf einem Felsvorsprung direkt am Meer errichtet und beherrschte gleichermaßen die Siedlung, die sich zum Norden hin ausbreitete, der vermutlich dem Hafen vorgelagert war, und den Schiffsverkehr entlang der Küste 16; eine Rampe vom „Salztor“ ausgehend, eine Benennung, die eine klare Verknüpfung der Lebensmittelversorgung mit dem Bau nahelegt, erlaubte bis 1669 einen direkten Zugang zum Meer. 17 So hatte die Festung, im 14.Jahrhundert als Sitz der aragonesischen Könige in Catania genutzt, auch im Fall von politischen Unruhen in der Stadt einen Nebenausgang. Der imposante Lavafluss im Jahr 1669 erreichte das Territorium der Stadt in der Gegend des Klosters San Nicolò l’Arena und umfloss die Festung auf drei Seiten, deren gewaltige Mauern hielten jedoch dem Druck des Magmas stand. Dieses floss in östlicher Richtung einige hundert Meter weiter ins Meer und veränderte somit auch den Küstenverlauf. Die Lavaberge um die Anlage, die nun nicht mehr am Meer lag, wurden eingeebnet, wodurch der Boden im Verhältnis zu den Ringmauern höher lag. Somit hatte die Burg ihre strategische Lage eingebüßt. 18

15 Ebd.32. 16 Vgl. Ferdinando Maurici, Federico II e la Sicilia: i castelli dell’imperatore. Catania 1997, 221–283. 17 Vgl. Lucia Arcifa, La città nel Medioevo: sviluppo urbano e sviluppo territoriale, in: Scalisi (Ed.), Catania (wie Anm.2), 73–111, hier 88, Abb.19. 18 Vgl. Lutz Beckmann, Kastell Ursino in Catania, in: Mamoun Fansa/Karen Ermete (Hrsg.), Kaiser Friedrich II. 1194–1250. Welt und Kultur des Mittelmeerraumes. Mainz 2008, 481–483, hier 481f.; Francesco Gangemi, Die Kastelle als Regierungsinstrument im Königreich Sizilien, in: Alfried Wieczorek/Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter (Hrsg.), Die Staufer und Italien. Drei Innovationsregionen im mittelalterlichen Europa. Bd.1: Essays. Mannheim/Darmstadt 2010, 189–197, hier 196, Abb.8; Lina Scalisi, Tra distruzioni e rinascite: il primato di Catania (secoli XVI–XVIII), in: Scalisi (Ed.), Catania (wie Anm.2), 187–243, hier 210–216, bes. Abb.232f.

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III. Formen, Infrastrukturen und Streitformen der Süßwassernutzung Auf die Notwendigkeit, das große, von den Hängen des Ätna ausgehende Zentrum mit einem effizienten Wasserversorgungssystem auszustatten, wird seit der augusteischen Epoche hingewiesen. Tatsächlich geht der Bau eines imposanten Aquädukts durch die Römer auf das erste Jahrhundert vor Christus zurück. Die Urheberschaft wird heute einem nicht näher spezifizierten curator aquarum (Wasserverwalter) zugeschrieben, wie eine Widmung mit dem Namen Q. Macul, Abkürzung für Maculnius, überliefert. 19 Der Lauf und das Ausmaß des Aquädukts spiegeln in ihrer Konkretheit die Nutzung dieser Struktur wider. Eine große Zisterne sammelt das aus vier Quellen stammende Wasser im Viertel Paratore oder Butta, nahe dem Dorf S. Maria di Licodia im Südwesten des Ätna auf einer Höhe von 400 Metern über dem Meeresspiegel liegend. Das Aquädukt, bestehend aus über- und unterirdisch liegenden Leitungen, erstreckt sich über eine Länge von 23 Kilometern mit einer täglichen Durchleitung von 30000 m3. 20 Vom äußeren Rand des Sammelbeckens ausgehend überquert das Aquädukt die südlichen Hänge des Ätna, vorbei an Paternò bis Motta S.Anastasia, und wenn es endlich den südlichen Teil Misterbiancos erreicht, gelangt das Aquädukt von Nordwesten ins Innere der Stadt, um dann Dank des Einsatzes eines castellum aquae (Wasserschlosses) das Wasser zu verteilen. Dieses castellum aquae lag am Scheitel des Hügels Montevergine, im Norden des ehemaligen Benedektinerklosters und stellte eine zweite Zisterne dar, in der das Wasser gesammelt wurde, um dann durch Kanäle in die angrenzenden Gebiete geleitet zu werden. 21 Das Fragment Nummer IX der Chronicon Urbis Catinae des Catanier Gelehrten des 16.Jahrhunderts, Lorenzo Bolano, und die in den letzten Jahren durchge19

Vgl. Amico, Catania illustrata (wie Anm.2), 46.; Guadagnino, Le acque di Catania (wie Anm.8), 22.

20

Ebd.22f. Zum Bau und den technischen Merkmalen der Aquädukte im griechisch-römischen Sizilien

vgl. Nathalie de Haan/Gemma C. M. Jansen/Gerda de Klein, Cura Aquarum in Sicilia: an introduction, in: Gemma C. M. Jansen (Ed.), Cura Aquarum in Sicilia. Proceedings of the Tenth International Congress on the History of Water Management and Hydraulic Engineering in the Mediterranean Region. Syracuse, May 16–22, 1998. Leiden 2000, 1–4. 21

Vgl. Maria Grazia Branciforti, Le Terme della Rotonda. Notizie preliminari degli interventi negli anni

2004–2008, in: Maria Grazia Branciforti/Claudia Guastella (Eds.), Le Terme della Rotonda di Catania. (Palermo: Regione Siciliana, Assessorato dei beni culturali, ambientali e della pubblica istruzione, Dipartimento dei beni culturali, ambientali e dell’educazione permanente, 2008. Collana d’area, Quaderni, 12.) Syracus 2008, 15–70, hier 18–25.

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führten archäologischen Grabungen, welche die römisch-byzantinischen Reste der antiken Stadt ans Licht brachten, und die aktuelle Toponomastik, welche diesem Gebiet den Namen „via botte dell’acqua“ (Straße der Wasserfässer) zuwies, bestätigen die Existenz des Wasserbeckens. 22 Das letzte castellum aquae bestimmt den Zielort des Aquädukts: Von diesem Wasserbecken aus wurde das Wasser in drei Armen kanalisiert, die parallel abwärts bis in die tiefer gelegene Stadt führten und das Wasser in drei innerhalb der Einfriedungsmauern liegende Stadtviertel verteilten. 23 Von diesen drei Hauptarmen gingen zum Teil zahlreiche Nebenzweige aus, welche das Wasser in die verschiedenen Stadtviertel verteilten. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung verfügen wir nicht über Quellen, die uns erlauben, die Struktur des Wasserverteilernetzes mit Präzision zu bestimmen. Nicht zu vernachlässigen ist, dass das Aquädukt in seinem Verlauf von Santa Maria di Licodia bis zur Stadt Catania an zahlreiche Unebenheiten des Geländes angepasst wurde, mal durch unterirdische Führung, mal durch Anhebung vermittels Brückenbögen; die Errichtung von putei – kleinen Brunnen zur Inspektion – entlang der Leitung, diente der Durchführung von Kontrollen der Wasserqualität und erlaubte relativ schnell mögliche Verunreinigungen oder Brüche des Kanals zu bestimmen. 24 Das für das Aquädukt verwendete Material bestand aus leicht erhältlichem und besonders gegen die Unbilden des Wetters resistentem Lavagestein. Die Brückenbögen aus Terracottaziegeln und Lavasteinen, mit einer Breite von über einem halben Meter und einer Höhe von über eineinhalb Metern, die im Innern durch einen Verputz, bestehend aus Mörtel, Porzellan und Terracottafragmenten, wasserundurchlässig gemacht wurden, stützten die Wasserführung. 25 Vom Aquädukt sind jetzt nur noch spärliche Spuren entlang der Landschaft von Paternò geblieben; infolge des Vulkanausbruchs von 253 mit Lava bedeckt, wurde die Struktur nicht wiederhergestellt. 26 Im Jahr 1552 wurden die von der Naturkatastrophe verschonten Brückenbögen infolge der Verfügung des Vizekönigs Juan de Vega (1547–1557), Repräsentant des spani-

22 Francesca Buscemi, Odei e romanizzazione nella Sicilia di età imperiale. Questioni di topografia e tecniche edilizie, in: Lorenzo Quilici/Stefania Quilici Gigli (Eds.), La forma della città e del territorio. Vol.3. Rom 2006, 157–176, hier 159, bes. Anm.13, 17 u. 20. 23 Vgl. Guadagnino, Le acque di Catania (wie Anm.8), 22. 24 Vgl. Amico, Catania illustrata (wie Anm.2), 46–49. 25 Vgl. Carrera, Delle memorie historiche della città di Catania (wie Anm.8), 99; Pinella Marchese, Tra Tardo-antico e Medioevo in: Provincia Regionale di Catania (Ed.), Etna, mito d’Europa. Catania 1997, 108. 26 Vgl. Guadagnino, Le acque di Catania (wie Anm.8), 22.

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schen Königs Karl V. auf Sizilien, wiederverwendet, um die Stadtmauer zu verstärken. Danach befahl Francesco Lanario, Herzog von Carpignano und Capitano delle Armi (Hauptmann der Waffen) der Stadt Catania, im Jahr 1697, die Reste des Aquädukts zu entfernen, die nun als Hindernis für die Wiederaufbauarbeiten der Stadt nach dem Erdbeben von 1693 betrachtet wurden. 27 Aber wie erfolgte die tägliche Wasserversorgung der Bewohner Catanias, deren Zahl in der zweiten Hälfte des 16.Jahrhunderts auf ca. 28000 Einwohner geschätzt wird? 28 Auch in diesem Fall sind wir nicht im Besitz sicherer Daten: die spärlichen Angaben, die uns zur Verfügung stehen, sind meist Ergebnisse allgemeiner Abhandlungen über die Geschichte der Stadt am Ätna oder von Untersuchungen von Gelehrten aus der Zeit, die dem Bau des benediktinischen Aquädukts durch den Abt Mauro Caprera vom Ende des 16. bis zum ersten Hälfte des 17.Jahrhunderts vorangeht; sie deuten lediglich die Existenz nicht näher beschriebener Brunnen und Zisternen an. Die Aussagekraft städtischer Bodendenkmale kommt uns ein weiteres Mal zu Hilfe, sie liefern wertvolle Indizien über die Existenz von Schächten, Zisternen und Brunnen und erhellen zugleich die untrennbare Verbindung zwischen dem Element Wasser, der Betrachtung des Wassers als Monopol der Machtinhaber und den Ereignissen der Stadtgeschichte sowie dem religiösen und folkloristischen Empfinden. Als erhellendes Beispiel der vielfältigen Verbindung zwischen materieller und symbolischer Nutzung von Süßwasser im spätmittelalterlichen Catania gilt die Geschichte von Gammazita. 29 Auf dem Universitätsplatz erinnert ein Kandelaber des Bildhauers Mimì Maria Lazzaro aus dem Jahre 1957 an den Aufstand gegen die Dynastie der Anjou in der sizilianischen Vesper von 1282. Der bronzene Kandelaber stellt Gammazita dar, eine junge Catanierin, die es vorzog, sich in einen Brunnenschacht zu stürzen als den Belästigungen eines französischen Soldaten nachzugeben (Abb.1). Noch heute enthält der Hof Gammazita im Herzen des südlichen Teils der alten Stadt, im Süden der Mauer Karls V., in der Via San Calogero, die die Zurria-Straße mit dem „Platz Friedrichs von Hohenstaufen“ verbindet, die Reste des Brunnens, in den sich, der Überlieferung nach, die junge Frau kopfüber stürzte. Die Wahrnehmung der Wasserinfrastrukturen seitens der heimischen Bevölkerung war jedoch nicht nur

27

Ebd.; Domenico Ligresti, Catania dalla conquista dell’autonomia alla fine del regno di Carlo V, in: Scalisi

(Ed.), Catania (wie Anm.2), 133–175, hier 172–175.

112

28

Vgl. Ligresti, Catania dalla conquista dell’autonomia (wie Anm.27), 133.

29

Vgl. zur Geschichte Gammazitas Salvatore Lo Presti, Fatti e leggende catanesi. Catania 1938, 117–130.

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Abbildung 1: Mimì Maria Lazzaro, Kandelaber Gammazita (1957); Foto: Marco Leonardi.

mit der Gewaltausübung von Besatzern verbunden. Nach Süden weitergehend, in Richtung des Tors Uzeda, ruft ein aus den ersten Jahren des 17.Jahrhunderts stammender und der Schutzheiligen der Stadt Catania – der heiligen Agata – gewidmeter Brunnen die Wahrnehmung des Wassers als Symbol der geistigen Erneuerung in Erinnerung: Genau an dem Punkt, an dem im Jahre 1621 der Brunnen nach der Verfügung des bereits erwähnten Francesco Lanario errichtet wurde, standen die Catanier im Jahr 1040 unter Tränen angesichts der auf Anordnung des byzantinischen Flottengenerals Giorgio Maniace nach Konstantinopel auslaufenden Schiffe mit den Reliquien ihrer Schutzpatronin. Die legendarischen Quellen erzählen, wie drei Tage lang starke Winde die byzantinischen Schiffe mit den sterblichen Überresten der Heiligen am Auslaufen hinderten und wie sie dann im August 1126 von zwei ihr ergebenen Soldaten, dem Provenzalen Gisliberto und dem Apulier Goselmo, zurückgebracht wurde. 30 Seit den Jahren seiner Errichtung unweit des alten Hafens bis heute ist der Brunnen der Heiligen Agata ein Gegenstand der Verehrung seitens der Einwohner – insbesondere der Jungverheirateten, die üblicherweise weiße Rosenknospen in dem kleinen muschelförmigen Becken, wo sich das Wasser des

30 Vgl. Adolfo Longhitano, Il rispristino del culto agatino, in: Ufficio per i Beni Culturali dell’Arcidiocesi di Catania (Ed.), Il culto di Sant’Agata e il barocco catanese. Catania 2008, 32–34.

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Amenano sammelt, ablegen. Seinem praktischen Zweck gehorchend, wie z.B. der Süßwasserversorgung der Einwohner des Stadtviertels „La Marina“ mittels Terrakotta-Röhren für häusliche Zwecke, ist hingegen der Charakter des „Brunnens der sieben Kanäle“ auf dem Platz Alonzo di Benedetto gelegen, dem Sitz des Fischmarkts. Im Jahre 1612 fertiggestellt, lieferten seine sieben Arme (im Dialekt „Kanäle“ genannt) der städtischen Bevölkerung Süßwasser, auch dieses aus dem Fluss Amenano kanalisiert. Wer aber übte das Monopol auf die Nutzung des Süßwassers in Catania und der angrenzenden Umgebung aus? Die den Zweiten Weltkrieg „überlebenden“ und uns zur Verfügung stehenden Quellen berichten von der ständigen Nutzung der Wasserressourcen für die Landwirtschaft (z.B. zur Bewässerung der Felder oder die Instandsetzung von Mühlen betreffend), innerhalb und außerhalb der Stadtmauer seitens der kirchlichen Einrichtungen, insbesondere des Bischofs und des Benediktinerordens. Zum Beispiel genehmigte ein am 20.Februar 1440 unter der Billigung des aragonischen Königs Alfons V. des „Großmütigen“ verabschiedetes Pergament dem Benediktinerkloster von San Nicolò l’Arena, einem Zönobium im Südwesten des Ätnas, die uneingeschränkte und abgabenfreie Nutzung der Gewässer, die das Gebiet Aci (im Spätmittelalter wie heute der Sammelbegriff für eine Gruppe kleiner Siedlungen am südlichen Hang des Ätnas, die eine Art Kette entlang der ionischen Küste bildeten und bilden) durchquerten und deren Mühlen in Betrieb setzten, um seine eigenen Äcker in der Reitana-Ebene, einem Teil des Aci-Gebietes, zu bewässern. 31 Ein im Historischen Diözesanarchiv Catanias aufbewahrtes Dokument vom 28.April 1463 berichtet über die Bewilligung des Bischofs von Catania, Guglielmo Bellomo, an den Adligen Raimondo Moncada, das Wasser des Amenano (auch „Iudicello“ genannt) zu nutzen, um die in der Nähe des „della Consaria“ genannten Tors gelegene Güter zu bewässern, die der Bischof dem adligen Catanier zu Erbpacht überlassen hatte. 32 Nicht zu vernachlässigen ist, dass das Wasser des Flusses Amenano auch dem Transport der Jauche diente, die dann vermittels unterirdischer Kanäle in das Meer entladen wurde. 33 Die fragmentarischen Dokumente erlauben bis heute leider nicht, eine detaillierte Beschreibung 31

Vgl. Saro Bella, Acque, ruote e mulini nella terra di Aci. Le lotte per il dominio delle acque 1300/1900.

Catania 1999, 17–42. 32

Catania, Archivio Storico Diocesano, Fondo Mensa Vescovile, Abt.Curia, Ordner Nr.1: Libro rosso

delle giurisdizioni del Rettore della Chiesa Maggiore Vescovale di Catania e delle Concessioni e privilegij della Chiesa (ohne Foliierung). 33

114

Vgl. Carrera, Delle memorie historiche della città di Catania (wie Anm.8), 100.

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des Laufs der Abwässer zu bestimmen. Im Jahr 1619 vermerkte der Begründer der historischen Geographie, Philipp Klüver, im neunten Kapitel seiner Siciliae Antiquae libri duo wie der Fluss Amenano „omnis per aliquot annos evanescit, rursumque subito aestu erumpens crassiorem, pestilentemque“, um zu betonen, wie die Wasser des Amenano getrübt von Jauche und verschiedenartigem Abfall die Stadt entlang fließen. In der Geschichte Catanias erfüllte das Wasser nicht nur die Aufgabe eines Arbeitsinstruments oder diente der Trinkwasserversorgung der Bevölkerung, sondern es hatte auch sehr wichtige therapeutische und soziale Aufgaben für die Einwohner, wie die Verbreitung von Thermen bis zum 5.Jahrhundert n.Chr. bezeugt. In der Stadt am Ätna blieb der Besuch des Bades im Spätmittelalter begrenzt auf die im römischen Zeitalter errichteten Strukturen der Therme. Der Adlige Ignazio Paternò Castello Fürst von Biscari, der Archäologe, Gönner und Urheber einer Reihe von Grabungen in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts war, brachte bei seinen Grabungen Teile der antiken, beim Erdbeben zerstörten Stadt ans Licht. Wie wir beim Studium seines 1781 veröffentlichten Werks „Reise zu allen Altertümern Siziliens“ erfahren, reicht der Zeitraum der Errichtung von Thermen vom 2. bis zum 5. Jahrhundert nach Christus. 34 Das Funktionssystem der Therme entwickelte sich in diesen drei Jahrhunderten und war zur Fortdauer in den folgenden Jahrhunderten bestimmt – wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg. Ursprünglich war es eng an die Wasserverteilung durch das Aquädukt geknüpft. Wie man auf der Luftaufnahme erkennen kann (Abb.2), die den Siedlungskomplex der römischen Zeit zeigt, musste sich am mit der Nummer 1 bezeichneten Punkt, in der heutigen „Via Botte dell’acqua“, das bereits genannte castellum aquae befinden, das große Speicherbecken, in dem das Wasser des Aquädukts zusammenfloss und von dem Nebenarme ausgingen, die auch die umliegenden Thermen mit Wasser versorgten. Eine Inschrift, heute in der „Via Biblioteca“ (Nr.2) befindlich, erinnert an die Existenz der Therme von Santa Maria dell’Idria; möglicherweise wurde der monumentale öffentliche Brunnen des Nymphäum (Nr.3) in Verbindung mit dem Wasserbecken zwischen dem 1. und dem 2.Jahrhundert errichtet. Eine Tafel mit griechischer und lateinischer Inschrift, die Dank archäologischer Grabungen des bereits genannten

34 Vgl. Ignazio Paternò Castello Principe di Biscari, Viaggio per tutte le antichità di Sicilia. Neapel 1871, 31f. Zum Fürsten Biscari als Archäologe, Gönner und Urheber von Grabungen siehe Domenico Sestini, Descrizione del museo d’antiquaria e del gabinetto d’istoria naturale di Sua Eccellenza il Sig.re Principe di Biscari Ignazio Paternò Castello Patrizio Catanese. Florenz 1776.

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Abbildung 2: Luftaufnahme des Hügels „Montevergine“, die den Siedlungskomplex der römischen Zeit zeigt, in: Maria Grazia Branciforti / Claudia Guastella (Eds.), Le Terme della Rotonda di Catania (Palermo: Regione Siciliana, Assessorato dei beni culturali, ambientali e della pubblica istruzione, Dipartimento dei beni culturali, ambientali e dell’educazione permanente, 2008. Collana d’area, Quaderni, 12.) Syracus 2008, hier 20 f.

Biscari im Jahre 1771 wieder aufgetaucht ist, enthüllt die Bedeutung dieser Struktur für die Stadt: Im Auftrag des Flavius Arsinus, römischer Konsul für die Provinz Sizilien um 350, wird die Inschrift am Brunnen im Auftrag des Ambrosius, „viro perfectissimo decurionum decreto“, in der 2. Hälfte des 4.Jahrhunderts angebracht. Spuren von Thermen sind auch im gegenüberliegenden Bereich des Benediktinerklosters (Nr.4) wieder aufgetaucht. Unter den Thermen, die im Bereich des Hügels Montevergine in der antiken Stadt errichtet wurden, ist die faszinierendste ohne Zweifel die Rotonda (Nr.7). Die Thermen der Rotonda, die in ihrer Gesamtheit die Naturkatastrophen und die Zerstörungswut des letzten Weltkriegs überlebten, bieten sowohl dem Gelehrten als auch dem einfachen Besucher ein Beispiel an Ablagerungsstrukturen, architektonischen und Malstilen, verschiedenen Funktionen, die das Ergebnis der aufeinanderfolgenden Herrschaften und der sich daraus ergebenden, völlig unterschiedlichen Lebensstile sind. Jede einzelne Phase ist klar in diesem unter dem Namen Santa Maria della Rotonda bekannten Bau erkennbar: Die im Jahr 2008 beendeten archäologischen Grabungen haben das Vorhandensein eines calida-

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rium bewiesen, das in zwei Phasen zwischen dem 2. und dem 3.Jahrhundert n.Chr. errichtet wurde und nachträglich im 6.Jahrhundert, im Zeitalter Justinians, von den Byzantinern in eine Kirche umgewandelt wurde, die dem Heimgang Mariens oder der Himmelfahrt Mariens gewidmet ist. 35 Die schnelle Beschreibung, die bis hier den Aufbau der Thermen wiedergibt, die auch im Mittelalter funktionstüchtig waren, darf nicht die Thermen im Süden des hügeligen und von den Wassern des Flusses Amenano umspülten Gebiets vergessen, auch sie sind namentlich bekannt unter den aus römischer Zeit stammenden Namen „Terme dell’Indirizzo“ und „Terme Achilliane“. Trotz allem lassen die bis hier durchgeführten Untersuchungen 36 noch eine ganze Reihe von Fragen offen: Welcher Kundentypus besuchte welche Thermen, welche Thermen boten eine höhere Wasserqualität (die durch das Speicherbecken in der „Via botte dell’acqua“ oder die vom Amenano gespeisten)? Unklar ist auch, ob der schrittweise Übergang Catanias – mit all den damit verbundenen Aspekten – vom Heidentum zum Christentum zu einer unterschiedlichen Nutzung der Thermen geführt hat, ob es einen Gewohnheitswechsel in der Nutzung der Thermen zwischen der frühen Phase des Mittelalters und dem 15.Jahrhundert gab, oder was, in juristischen und ökonomischen Begriffen, die Leitung eines Bades in der Stadt am Ätna bedingte.

IV. Formen, Infrastrukturen und Streitformen der Salzwassernutzung Die Geschichte, die Entwicklung der städtischen Identität und die Beziehung der Einwohner Catanias zum Wasser wäre ohne das Meer nicht jene, die wir kennen. 37 Die Stadt, die sich an der südlichen Seite des Ionisches Meeres erhebt, hat im Verlauf der Jahrhunderte eine wechselhafte Beziehung zum Meer entwickelt, ein Element, dessen Präsenz schon immer mit der politischen und soziokulturellen Entwicklung der Stadt verflochten war und beinahe jeden Aspekt des städtischen Lebens beeinflusst, von der politischen Wahl bis zu den Formen religiöser Kulte und

35 Vgl. Claudia Guastella, Ecclesia Sancta Maria de Rotunda: vicende e prime ricognizioni, in: Branciforti/ Guastella (Eds.), Le Terme della Rotonda di Catania (wie Anm.21), 71–120, hier 111–119. 36 Als Beispiel vgl. Tempio, Note storiche (wie Anm.10), hier VIII. 37 Vgl. Anfuso, Ognina (wie Anm.10), 63–85.

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zur künstlerisch-literarischen Produktion, von der architektonischen Struktur bis zur Kleidung und zu den Essgewohnheiten. 38 Im Zeitraum vom Ende des 13. bis zum 16.Jahrhundert ist die Beziehung der Stadt am Ätna zum Meer stark beeinflusst durch die politischen Unternehmungen der Herrscherhäuser Siziliens und durch die Naturereignisse: Von der Herrschaft Friedrichs von Hohenstaufen, König Siziliens und Kaiser von 1198 bis 1250, bis zu Philipp II. von Spanien, König von Sizilien und Neapel von 1554 bis 1598, blieb Messina das bevorzugte Hafenzentrum der Insel. 39 Die Stadt an der Meerenge hatte – dank ihrer geographischen Position – die Rolle eines Scharniers des Warenflusses eingenommen, der aus dem Orient und der aus Kontinentaleuropa in Sizilien eintraf: Im Jahr 1591 erteilte Philipp II. von Habsburg ihr das Handelsmonopol über die von Termini (ein kleines Dorf in der Nähe von Palermo) bis Syrakus produzierte Seide, die ihr das Recht garantierte, mehr als 2000 Pfund Seide pro Jahr zu verkaufen. 40 Dies verhinderte jedoch nicht, dass die Stadt Catania im Spätmittelalter einen florierenden und für die Entwicklung des Stadtzentrums einträglichen Hafen entwickelte. 41 Nachdem die schon erwähnte Anlegestelle von Ognina, den Hafen des Odysseus, vom Lavastrom des Jahres 1381 bedeckt war, wurde in den folgenden Jahrhunderten der am stärksten genutzte Hafen jener, der etwa in dem Gebiet liegt, das der heutigen Villa Pacini entspricht, wenige hundert Meter entfernt von der Kathedrale des Erzbischofs. 42

38

Vgl. Tino Vittorio, Storia del mare. Questione meridionale come questione mediterranea. Mailand 2005,

124–129. 39

Vgl. David Abulafia, I regni del Mediterraneo occidentale dal 1200 al 1500. La lotta per il dominio. Bari

1999, 74–79; Mario Sanfilippo, Le città siciliane dal VI al XIII secolo: note per una storia urbanistica, in: Rosario Romeo (Ed.), Storia della Sicilia. Vol.3. Neapel 1980, 449–463, hier 462f.; Carmen Salvo, Una realtà urbana nella Sicilia medievale. La società messinese dal Vespro ai Martini. Rom 1997, 15–24; Daniela Santoro, Messina l’indomita. Strategie familiari del patriziato urbano tra XIV e XV secolo. Caltanissetta 2003, 48–51; Salvatore Tramontana, Gli anni del Vespro. L’immaginario, la cronaca, la storia. Bari 1989, 51–58. 40

Vgl. Mario Siracusa, Quando la via della seta passava per Messina, in: www.messinaierieoggi.it/in-

dex.php.; Carmelo E. Tavilla, La controversia del 1630 sullo Studium: politica e amministrazione della giustizia a Messina tra Cinque e Seicento, in: www.societamessinesedistoriapatria.it/archivio/59/tavilla_ 59.pdf, 21. 41

Vgl. Domenico Ligresti, Insediamenti e territorio nella Sicilia moderna, in: Enrico Iachello/Paolo Mili-

tello (Eds.), L’insediamento nella Sicilia moderna e contemporanea. Atti del convegno internazionale. Catania, 20 settembre 2007. (Quaderni di Mediterranea. Materiali per un atlante storico del Mezzogiorno, 5.) Bari 2008, 29–40, hier 38f. 42

Vgl. Arcifa, La città nel Medioevo (wie Anm.17), 88, Abb.17; Tortorici, Il porto di Catania (wie Anm.8),

hier 32.

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Diese stellte seit der zweiten Hälfte des 13.Jahrhunderts eine Institution dar, die anstelle der städtischen Magistraturen die Kontrolle des Zugangs zum Meer monopolisieren wollte. „Piscatores omnes iure/ piscationis tenentur sol/ vere Ecclesiae Catanensis/ tamquam dominam maris/ quinti piscium singulis piscationibus captorum/ Ex Archivio ab immemorabili“ („Alle Fischer sind nach Fischereirecht verpflichtet, der Kirche von Catania als der Herrin des Meeres von jedem Fischfang den fünften von den gefangenen Fischen zu entrichten. Aus dem Archiv aus Zeiten jenseits der Erinnerung“). 43 Diese aus dem 15.Jahrhundert stammende Inschrift, die heute auf dem Balkon des erzbischöflichen Palastes aufgestellt und symbolisch in Richtung des Hafens gerichtet ist, erinnerte den Kathedralklerus Catanias an das Recht, täglich von den Fischern ein Fünftel des Fangs einzutreiben. Die eingeforderte Menge diente der Versorgung des bischöflichen Tafelguts (als Mensa Episcopalis Curiensis in der kirchenrechtlichen Sprache auch gegenwärtig bekannt), ein Vorteil, der dem Bischof die Einkünfte sicherte, die er zur Ausübung seines Amtes brauchte. 44 Dank eines alten Privilegs, offiziell vom normannischen Grafen und Feudalherrn von Catania, Roger I. von Altavilla, am 9.Dezember 1092 erlassen, wurden der Bischof und seine Nachfolger mit dem Privileg der custodia portus (Hafenwacht) versehen, das die Befugnis einschloss, ein Drittel der Zölle einzufordern. 45 Die kirchliche Institution war sicher nicht die einzige, die ihre ökonomischen Vorteile aus den auf dem Meer durchgeführten Aktivitäten zog. Am 1.Dezember 1400 traten auf Anweisung des aragonischen Königs Martins I. des Jüngeren rechtliche Verfügungen in Kraft, die für die Stadt Catania die Rolle des Acatapano festlegten, eines königlichen Beauftragten, der zur Überwachung der Märkte und der Preise sowie der Gewichte der Waren vorgesehen war. Diese Rolle bedeutete den Empfang zweier Rollen Fisch vom täglichen Fang jeder Barke (was ungefähr 1600 Gramm entspricht). 46 Im Jahr 1444, zehn Jahre nach der Gründung des Studium Generale, wies der aragonische König Alfons V. „der Großmütige“ für den Betrieb desselben eine jährliche Finanzierung von 1500 Golddukaten an, die den Tributen zu entneh-

43 Vgl. Gaetano Zito, Chiesa di Catania „Signora del Mare“ e Marinai devoti, in: Coco/Iachello (Eds.), Il porto di Catania (wie Anm.8), 45–67, hier 45. 44 Ebd. 45 Ebd.46. 46 Vgl. Saitta, Catania nel Medioevo (wie Anm.5), 153–159; ders., Martino il Giovane e il territorio catanese, in: Iachello/Militello (Eds.), L’insediamento nella Sicilia moderna e contemporanea (wie Anm.41), 23–28, hier 26f.

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men waren, die der Stadt Catania aufgrund der Waren zustanden, die den Hafen passierten. 47 Der Wechsel des geopolitischen Szenarios ließ auch das Catania des 16.Jahrhunderts sehr bald seine Auswirkungen spüren und veränderte das Verhältnis der Stadt zum Meer. Der Kampf um die Vorherrschaft im europäischen Raum zwischen dem spanischen Imperium Karls V. und Franz’ I. von Frankreich zusammen mit dem neuen, vom türkisch-osmanischen Imperium ausgehenden Expansionsschub 48 trieben den Vizekönig Ferrante Gonzaga dazu, den bergamaskischen Militäringenieur Antonio Ferramolino Ende der ersten Hälfte des 16.Jahrhunderts mit der Realisierung eines Befestigungssystems zu beauftragen 49, das die Stadt mittels zehn Bastionen zum Meer hin abschloss. 50 Die anonyme „Sizilianische Chronik“ des 16.Jahrhunderts berichtet von den großen Behinderungen, die die neue Stadtbefestigung der Bevölkerung verursachte. Am 5.Februar 1553, anlässlich der Prozession zu Ehren der Heiligen Agatha, der Schutzpatronin Catanias, als die Gläubigen die Reliquienbüste der Schutzpatronin durch das enge und kleine, am westlichen Stadtrand gelegene Stadttor „porta del porto portone“ tragen wollten, bog sich plötzlich die Büste und die Krone der Heiligen fiel unter großen Schreien und Tränen der Catanier zu Boden. 51 Es genügt die topographischen Pläne Catanias von Georg Braun und Franz Hogenberg aus 1575 52 (Abb.3) und die 1592 gedruckte Stadtansicht von Nicolaus van Aelst nochmals zu zitieren 53 oder einen Abschnitt aus einer topographischen Karte Catanias von 1584 zu betrachten, um zu sehen, wie

47

Vgl. Domenico Ligresti, Il sistema del privilegio. La formazione dell’identità urbana e i processi di auto-

nomia dei ceti dirigenti locali nella Catania del Quattrocento, in: Francesco Migliorino/Lisania Giordano (Eds.), La memoria ritrovata. Pietro Geremia e le carte della storia. Catania 2006, 275–305, hier 282; Salvatore Consoli, L’ Università degli Studi di Catania, in: Nino Muzzio/Carmelo Russo (Eds.), Catania. La città, la provincia, le culture. Vol.2. Catania 2008, 109–130, hier 114. 48

Vgl. Diarmaid MacCulloch, Die Reformation. 1490–1700. München 2008, 89–108.

49

Vgl. Fernand Braudel, Civiltà e imperi del Mediterraneo nell’età di Filippo II. 5.Aufl. Turin 1996, Vol.2,

903; Lina Scalisi, Tra distruzioni e rinascite: il primato di Catania (secoli XVII–XVIII), in: dies. (Ed.), Catania (wie Anm.2), 187–244, hier 208. 50

Vgl. Militello/Scaglione, Gli uomini, la città (wie Anm.4), 119, Abb.3.

51

Vgl. Lina Scalisi, Il magnifico porto (secc. XV–XVIII), in: Coco/Iachello (Eds.), Il porto di Catania (wie

Anm.8), 69–82, hier 73f. 52

Georg Braun/Franz Hogenberg, Catana Urbs Clarissima Patria Scte Agathae Virginis et Marttyris, in:

dies., Städte der Welt (Civitates Orbis Terrarum). Hrsg. v. Stephan Füssel. Nach dem Original des Historischen Museums Frankfurt (Civitates Orbis Terrarum, 6 Bde., hrsg. v. P. Brachel. Köln 1612–1618). Hongkong/Köln/London 2008, 428f. 53

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Vgl. Branciforti, Le Terme della Rotonda (wie Anm.21), 28, Abb.

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Abbildung 3: Georg Braun/Franz Hogenberg, Catana Urbs Clarissima Patria Scte Agathae Virginis et Marttyris, in: dies., Städte der Welt (Civitates Orbis Terrarum). Hrsg. v. Stephan Füssel. Nach dem Original des Historischen Museums Frankfurt (Civitates Orbis Terrarum, 6 Bde., hrsg. v. P. Brachel, Köln 1612–1618). Hongkong / Köln / London 2008, 428 f.

sehr der Zugang zum Meer begrenzt wurde, wodurch sich die städtische Entwicklung in Richtung Norden verstärkte. Der tägliche Kontakt zahlreicher Bevölkerungsgruppen zum Meer beeinflusste die Art der Sozialisation und des Zusammenlebens grundlegend. Die zahlreichen Arbeitsunfälle und ein politisches Klima der Instabilität führten schon 1570 zur spontanen Gründung der „Gesellschaft der Seemänner“ („compagnia dei marinai“) durch Seefahrer und Fischer, die im Hafen Catanias bei der Kirche „Sacramentale die San Tommaso“ im Viertel der Civita tätig waren. Diese Gesellschaft, am 16.Juli 1671 zu Ehren der Mutter Gottes auf den Namen „Gesellschaft unserer Herrin des sicheren Hafens“ („Compagnia di Nostra Signora di Porto Salvo“) umgetauft, nahm nur Seefahrer und Fischer auf, um Unstimmigkeiten und Zusammenstöße zu vermeiden, die sich aus der sozialen Verschiedenheit der Mitglieder ergeben könnten. Die Gesellschaft verfolgte religiöse und karitative Zwecke, indem sie Messen für die verstorbenen Mitglieder lesen ließ oder

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denjenigen beistand, die in Ausübung ihres Berufs Verletzungen erlitten hatten, für arbeitsunfähig gewordene Mitglieder sorgte und in minimaler Form Witwen mit Kindern unterstützte. Nach dem heutigen Forschungsstand sind zwei Arten von Unterstützungsquellen der Gesellschaft zu unterscheiden: die wöchentliche Kollekte, die im Wechsel zwei Mitgliedern der Gesellschaft anvertraut wurde, und die Zahlungen aller eingeschriebenen Mitglieder, beim ersten Mal ein Tari, dann in der Folge ein Gran in der Woche. 54

V. Zum Schluss: Eine kurze Bestandsaufnahme der Forschung Die historische Forschung über das weite Thema, das man als „Wasserinfrastrukturen und Wassernutzung in Catania seit der Antike bis heute“ zusammenfassen könnte, hat in den letzten Jahrzehnten neue Impulse bekommen: Das wachsende Interesse der gelehrten Öffentlichkeit für die Ressource Wasser als bedeutendstes Element der nachhaltigen Energien im alltäglichen Leben bezeugt es ebenso wie die Wiedereröffnung 2006 und Vollendung der Restaurierungsarbeiten 2008 der schon zitierten Thermenkomplexe „Achilliane“ und „della Rotonda“. 55 Trotz des erneuten Interesses an diesem Forschungsfeld bleiben noch viele Fragen offen, sowohl auf Seiten der Infrastrukturgeschichte als auch in Beziehung auf das materielle Leben mit dem Wasser. In einem Aufsatz aus dem Jahre 2009 über die Beziehung zwischen der städtebaulichen Entwicklung und der Herrschaft im Gebiet Catanias im Mittelalter verwies die Mediävistin Lucia Arcifa indirekt auf das Fehlen einer detaillierten Studie über das System der Wasserversorgung und der Abwasserkanäle. 56 Ein vollkommen offenes Forschungsfeld der Beziehung Mensch–Salzwasser in Catania bleibt das der Ernährung, wenn man die Existenz einiger Rezepte der Benediktiner ausnimmt. Es bleibt noch festzustellen, in welcher Größenordnung Fisch, der in jenen Jahrhunderten noch nicht als Delikatesse betrachtet wurde wie in unseren Tagen, Eingang in die tägliche Versorgung der Bevölkerung gefunden hat und welche sozialen Schichten davon größere Mengen konsumierten. Dieser Aufsatz hat als Hauptziel die tiefen Spuren in der Verwaltung und der Wahrnehmung des Elementes

122

54

Vgl. Zito, Chiesa di Catania (wie Anm.43), 61f.

55

Vgl. Branciforti, Le Terme della Rotonda (wie Anm.21), 15–69.

56

Vgl. Arcifa, La città nel Medioevo (wie Anm.17), 99–103.

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Wasser in der Stadt Catania vom 13. bis zum 16.Jahrhundert darzulegen, die heute noch erkennbar sind. In dem Bewusstsein, dass die Infrastrukturgeschichte, die insbesondere den Fokus auf ein entscheidendes Element für das Leben der Menschen wie das Wasser richtet, verbindende Aspekte wie die Analyse des alltäglichen Leben mit dem Element Wasser nicht vernachlässigen kann, wird das Ziel der laufenden und kommenden Recherchen sein, ein zuverlässiges Bild jeder einzelnen Wasserinfrastruktur der Stadt am Ätna zu liefern, das uns in mancher Hinsicht noch lückenhaft und fragmentarisch erscheint.

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Les infrastructures fluviales et les pouvoirs dans la vallée de la Meuse, des origines à la fin du XVIe siècle von Marc Suttor

Il va de soi que l’étude des infrastructures doit dépasser le seul cadre technique. Ainsi, il existe des relations étroites entre les aménagements réalisés et les pouvoirs, qu’il importe d’analyser. C’est d’ailleurs pour cette raison que beaucoup de ces équipements restent omniprésents dans l’espace et le temps. Nous proposons d’examiner ces liens entre les infrastructures le long de la Meuse des origines à la fin du XVIe siècle. Toutefois, à la lecture des réflexions des professeurs Engels et Schenk sur ce sujet, nous avons constaté tout d’abord que les aménagements fluviaux relevés présentent souvent une dimension technique qui s’impose à l’homme en général, et donc aux pouvoirs, ensuite que nos sources ne permettent de répondre avec précision qu’à un nombre limité de questions. Ainsi, on observe que certaines installations trahissent une volonté politique, mais que les aspects sociaux n’apparaissent pas. La légitimité et la représentation du pouvoir, la visualisation et la perceptibilité de la puissance s’expriment par les infrastructures dans l’iconographie et dans quelques textes, surtout lorsque surgissent des conflits. Par contre, les relations entre les aspects techniques et socio-culturels, les modifications concomitantes des équipements et des rapports entre les pouvoirs, l’intégration ou la ségrégation sociale par l’accès ou non à certaines constructions, le concept de puissance ou la théorie des pouvoirs au travers des aménagements, les infrastructures techniques „à caractère réseau“ constituent autant de thèmes à propos desquels notre documentation reste muette. Le résultat de nos recherches: une étude menée sur les rivières dans la longue durée où voit les pouvoirs se sont modifiés d’une manière radicale, et sur les témoignages recueillis, nous amènent à tout d’abord en quoi consiste un certain „déterminisme technique“ qui entraîne la permanence (ou l’absence) de nombreux équipements, puis d’exposer les principales évolutions des pouvoirs en rapport avec les infrastructures, et à donner enfin quelques réponses aux questions proposées.

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DOI

10.1515/9783486781052.124

Il faut tout d’abord préciser que l’une des qualités essentielles des bateaux fluviaux – la faculté d’échouage – leur permet d’aborder à n’importe quel „rivage“, et ce sans aucun aménagement. Il subsiste encore d’importants débarcadères à l’état naturel au début du XVIe siècle à Liège, jusqu’à la fin de ce siècle en amont du pont de Maastricht, à la fin du XVIIe siècle à Huy et à Namur, et à la fin du XIXe siècle à Dinant, même si, à l’inverse, quelques rares équipements sont parfois réalisés, de manière très précoce, comme nous le verrons. 1 Aussi, l’existence d’une activité économique, comme la perception d’un tonlieu à Huy et à Dinant dès 743–747, sous le règne de Childéric III, laisse supposer celle d’un port. 2 L’étude du cours d’eau fait aussi apparaître Dinant comme la seule ville de la vallée dont les berges se trouvent du côté opposé au chenal navigable. Cette situation empêchera la construction de toute installation facilitant manœuvres et manutentions jusqu’à la canalisation au milieu du XIXe siècle. 3

La remontée des bâtiments est assurée essentiellement grâce au halage. Ce mode de propulsion apparaît dans nos régions dès l’antiquité, le long de la Moselle. 4 Il nécessite un chemin assez large et dégagé des nombreux obstacles – haies, souches, pieux, arbres – qui l’encombrent le plus souvent. 5 On constate qu’il ne s’agit pas là

1 Marc Suttor, Vie et dynamique d’un fleuve. La Meuse de Sedan à Maastricht (des origines à 1600). Bruxelles 2006, 183–184, 202. Pour de plus nombreuses comparaisons avec d’autres fleuves et rivières, on consultera id., Fleuves et rivières de l’ouest européen, en cours de publication. – Aménagements: infra. 2 Diplôme de Childéric III pour Stavelot-Malmedy: J. Halkin/C. G. Roland (Eds.), Recueil des chartes de l’abbaye de Stavelot-Malmedy. (Commission royale d’Histoire. Publications in-4°.) Bruxelles 1909, 1, n° 16, 45. Cette relation entre le portus, le contrôle du commerce, la surveillance et la perception du tonlieu est déjà notée sur la Loire entre 792 et 814 (O. Holder-Egger [Ed.], Ex Adrevaldi Floriacensis miraculis S.Benedicti. [MGH SS, 151.] Hannover 1887, 487, et pour la Meuse en 814 (Halkin/Roland [Eds.], Recueil, n° 26, 68–69; Marc Suttor, L’infrastructure fluviale et le développement des villes de la Meuse des origines à 1400, dans: Michel Pauly [Ed.], Les petites villes en Lotharingie. Actes des 6es Journées Lotharingiennes. [Publications de la Section historique de l’Institut Grand-Ducal du Luxembourg, 109.] Luxembourg 1993, 85–116, 90–91, 96). 3 Suttor, Vie et dynamique d’un fleuve (n. 1), 185; id., Les ports de la Meuse moyenne (Mézières, Dinant, Namur, Huy, Liège et Maastricht), dans: Ports maritimes et ports fluviaux au Moyen Age. (Publications de la Sorbonne. Série Histoire ancienne et médiévale, 81.) Paris 2005, 149–169, 154. 4 Ausone décrit une scène de halage qui se déroule sur la Moselle au IVe siècle et cette technique apparaît aussi sur la colonne d’Igel, près de Trèves: François de Izarra, Hommes et fleuves en Gaule romaine. Paris 1993, 126–127, 164–166; Stéphane Lebecq, „En barque sur le Rhin“. Pour une étude des conditions matérielles de la circulation fluviale dans le bassin du Rhin au cours du premier Moyen Age, dans: Tonlieux, foires et marchés avant 1300 en Lotharingie. (Publications de la Section historique de l’Institut Grand-Ducal du Luxembourg, 104.) Luxembourg 1988, 33–59, 53. 5 Témoignages de bateliers, XVIe siècle: Archives de l’Etat à Namur, Métiers de Namur, reg. 20.

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non plus d’infrastructures complexes, mais leur importance détermine des mentions assez précoces dans les textes. 6 C’est toujours le détenteur des pouvoirs régaliens ou ses délégués, sous son autorité, qui interviennent, tel le comte de Namur dans un règlement de la fin du XIIIe siècle pour la Meuse. 7 Cela engendre des conflits, nous le verrons. Quant aux moulins à eau, leur implantation se voit, bien entendu, conditionnée par d’impératives nécessités techniques: la recherche du meilleur rendement hydraulique. Ainsi, on ne construit jamais ces roues en bordure du fleuve lui-même, à l’exception de quatre machines installées sur de petits canaux de dérivation artificiels, à Mézières, Dinant, Bouvignes et Liège. 8 La seule infrastructure de ce type qui se trouve vraiment „en rivière“, sur le cours principal de la Meuse, est une variété de moulins très caractéristiques, des engins flottants, montés sur barques, présents à Liège dès le début du XIVe siècle et à Maastricht au début du XVe siècle. 9 En réalité, grâce à un système hydrographique très riche et malgré leur faible rendement, c’est par leur nombre que les moulins de la vallée constituent une source d’énergie dispo6 Ainsi, un diplôme de 558, donné par Childebert Ier en faveur de l’abbaye de Saint-Germain-des-Prés, forgé ou falsifié au IXe siècle, définit la largeur du chemin le long de la Seine: Theo Kölzer (Hrsg.), Diplomata regum Francorum e stirpe Merovingica. Die Urkunden der Merowinger. (MGH, DD Mer.) Hannover 2001, n° 13, 45. – Georges Huisman, La juridiction de la municipalité parisienne de Saint Louis à Charles VII. Paris 1912, 85, de Izarra, Hommes et fleuve (n. 4), 167. 7 Meuse: Marc Suttor, Sources et méthodes pour l’histoire de la navigation fluviale. L’exemple de la Meuse, dans: Le Moyen Age 96, 1990, 5–24, 15. – Philippe le Bel et le Parloir aux Bourgeois en 1309 pour la Seine aux environs de Paris (René Cazelles, De la fin du règne de Philippe Auguste à la mort de Charles V. 1223–1380. [Nouvelle Histoire de Paris, 2.] Paris 1972, 210, 367; Huisman, La juridiction [n. 6], 81, 85). La „Communauté des Marchands“ en 1498 pour la Loire: Philippe Mantellier, Histoire de la communauté des marchands fréquentant la rivière de Loire et fleuves descendant en icelle. (Mémoires de la Société Archéologique de l’Orléanais, 7, 10.) 3 Vols. Orléans 1867–1869, Ndr. Denis Jeanson (Ed.), 2 Vols. Tours 1987, 208– 209, 220, 223; Joëlle Burnouf/Nathalie Carcaud, Le val de Loire en Anjou Touraine: un cours forcé par les sociétés riveraines, dans: Médiévales 36, 1999 (Le fleuve), 17–36, 27. 8 Mézières, 1233: Marie-Hélène Carret, Vie économique à Mézières au Moyen Age (jusqu’en 1521). Diss. Reims 1987, 99, 146 et le plan dressé par Rigault: Archives départementales des Ardennes, Plans, KM 10C. – Dinant, 1249: Cécile Léonard/Pascal Saint-Amand, La Meuse dans la région de Dinant et Bouvignes. Aspects paysagers d’un cours d’eau, du Moyen Age au XIXe siècle, dans: La Meuse. Les hommes. Bouvignes/Dinant 2012, 67. – Bouvignes, 1265: ibid. 69; 1541–1542 et 1591–1592: Archives générales du Royaume à Bruxelles, Chambre des comptes, reg. 10573, f° 51 v°, reg. 10618, f° 72. – Liège, milieu du XIVe siècle: Marc Suttor, La diversité des moulins mosans et l’usage intensif de l’énergie hydraulique (des origines au XVIe siècle), dans: Paola Galetti/Pierre Racine (Eds.), I mulini nell’Europa medievale. Atti del convegno di San Quirico d’Orcia, 21–23 settembre 2000. (Biblioteca di storia agraria medievale, 21.) Bologna 2003, 55–86, 57, 64. 9 Ibid. 60–61.

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nible à volonté et presque en permanence pour des activités extrêmement diversifiées, notamment l’industrie sidérurgique. En effet, les agglomérations mosanes, qui se développent presque toutes sur un confluent, en tirent le meilleur parti: les cours d’eau font tourner de multiples roues. 10 En aucun cas, on ne doit opérer un choix entre énergie hydraulique et navigation, comme dans les régions de plaine, sur l’Escaut, la Somme ou la Scarpe, où il faut effectuer des travaux hydrauliques considérables afin d’obtenir une pente suffisante pour entraîner les moulins. 11 Ces divers équipements constituent aussi des facteurs de continuité topographique intéressants. Il conviendrait d’ailleurs d’intégrer ces aménagements au „faisceau de critères“ utilisé pour définir et classifier les villes. Une typologie adéquate à décrire le phénomène urbain devrait tenir compte de l’accès à l’eau. 12 L’étude des pouvoirs et de leur évolution s’avère très lacunaire jusqu’à l’époque

10 Ibid. 57–58, 68–70; Marc Suttor, Les évolutions des moulins sidérurgiques dans le bassin mosan au bas moyen âge et à l’époque moderne, dans: Sylvie Caucanas/Rémy Cazals (Eds.), Du moulin à l’usine. Implantations industrielles, du Xe au XXe siècle. Toulouse 2005, 49–60, 50–51, 57–58. 11 Travaux hydrauliques sur la Scarpe et la Somme: Dietrich Lohrmann, Entre Arras et Douai: les moulins de la Scarpe au XIe siècle et les détournements de la Satis, dans: Revue du Nord 66, 1984, 1023–1050, 1025– 1028, 1041–1042, 1045–1046; id., Le moulin à eau dans le cadre de l’économie rurale de la Neustrie (VIIe–IXe siècles), dans: Helmut Atsma (Ed.), La Neustrie. Les pays au nord de la Loire de 650 à 850. (Beihefte der Francia, 16/1.) Paris 1989, 367, 386, 389; Dietrich Lohrmann, Barrages et moulins sur la Somme au temps des chanoines réguliers (XIIe–XIIIe siècles), dans: Paul Benoît/Léon Pressouyre (Eds.), L’hydraulique monastique, milieux, réseaux, usages. Grâne 1996, 337–347, 338; Catherine Dhérent/Dietrich Lohrmann, Fonctionnement et difficultés des moulins de Douai au bas Moyen Age, dans: Villes et campagnes au moyen âge. Mélanges Georges Despy. Liège 1991, 283–296, 284; sur l’Escaut: Christian Dury, Equipements et environnement urbain: les moulins de Tournai, dans: Moulins en Hainaut. Bruxelles 1987, 163–178, 165. Choix nécessaire sur l’Escaut: ibid. 175; sur la Scarpe, à Arras: Lohrmann, Entre Arras et Douai, 1045–1046; sur la Lys: Alain Derville, Rivières et canaux du Nord/Pas-de-Calais aux époques médiévale et moderne, dans: Revue du Nord 72, 1990, 5–22, 8–9, 13, 20; sur certains affluents de la Loire: Raoul Guichané, Les moulins hydrauliques en Touraine, dans: Patrice Beck (Ed.), L’innovation technique au moyen âge. Actes du VIe congrès international d’archéologie médiévale, 1–5 octobre 1996. Paris 1998, 73–76, 73. Difficultés pour la navigation sur la Marne: Virginie Serna, Administrer, visiter et expertiser la rivière: l’exemple de la boucle de Marne (XVe s.– XVIIIe s.), dans: Raymond Regrain/Etienne Auphan (Eds.), L’Eau et la Ville. Actes de 121e congrès nationaux

des sociétés savantes, Nice 1996. Paris 1999, 91–106, 96; sur la Scarpe: Chloé Deligne, La vallée de la Scarpe inférieure aux XIIe et XIIIe siècles. Gestion et aménagement des eaux. (Archaelogica Duacensis, 13.) Douai 1998, 27, 33, 35, 52, 55–56. Conflits, entre autres: Burnouf/Carcaud, Val de Loire (n. 7), 28; Jean-Pierre Leguay, L’eau dans la ville au Moyen Age. Rennes 2002, 435; Suttor, La diversité (n. 8), 68–70. – En certains endroits de la France du Nord, on a atteint la limite des possibilités d’installer des roues dès le XIe siècle: Lohrmann, Le moulin à eau, 367. 12 Continuité: Suttor, L’infrastructure fluviale (n. 2), 116; id., Vie et dynamique d’un fleuve (n. 1), 214. Agglomérations situées dans des régions où l’eau est rare ou abondante, où l’on dispose d’une énergie hydrau-

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carolingienne. Tout au plus dispose-t-on de quelques informations générales. Ainsi sait-on que la plupart des fleuves et rivières navigables sont publics. Le Digeste contient une série de clauses qui déterminent l’usage des cours d’eau et assurent le libre service ou la protection de la navigation, il mentionne l’existence de servitudes de halage. 13 Un fonctionnaire impérial perçoit un impôt indirect sur la circulation des marchandises, les uectigalia, dans l’intérêt public, pour l’entretien ou l’amélioration de la voie fluviale. 14 Cette situation persiste pendant toute la période mérovingienne: les rivières relèvent encore en principe du pouvoir du souverain et des bureaux de tonlieu fonctionnent aux débarcadères de Dinant et de Huy dès 743– 747. 15 A l’époque carolingienne, l’usage du fleuve ou les droits qui s’y rattachent constituent toujours des prérogatives royales. 16 La disposition de la Meuse appartient bel et bien au souverain: une charte de 824 mentionne d’ailleurs le ponto publico à Dinant. 17 Le tonlieu reste un impôt régalien, levé par les agents royaux, pour et au nom du monarque. 18 Sur la rivière, on mentionne le bureau de Maastricht en

lique commode ou difficile à exploiter, où les diverses activités liées à la rivière apparaissent concurrentes ou non (ibid., L’infrastructure fluviale [n. 2], 87–88, 116). 13

Theodor Mommsen (Hrsg.), Justiniani Digesta. 10.Aufl. (Corpus iuris civilis, 1.) Berlin 1905, XLIII, XII–

XV, 686–688. Cf. aussi Louis Bonnard, La navigation intérieure de la Gaule à l’époque gallo-romaine. Paris

1913, 42–46. – Reinhard Schneider, Mittelalterliche Verträge auf Brücken und Flüssen (und zur Problematik von Grenzgewässern), dans: Archiv für Diplomatik 23, 1977, 1–24, 6–7. 14

Dans les constitutions impériales du Ve siècle, le mot teloneum apparaît pour désigner ces péages: Fran-

çois Louis Ganshof, A propos du tonlieu sous les mérovingiens, dans: Studi in onore di A. Fanfani. Milano 1962, 291–315, 293. 15

Seine: [diplôme de 558] supra, n. 6. Meuse: Ganshof, A propos du tonlieu (n. 14), 301–302 et supra, n. 2.

Le tonlieu de Huy reste aux mains du roi (André Joris, Huy et sa charte de franchise. 1066. Antécédents. Signification. Problèmes. [Pro Civitate, Série in 4°, 3.] Bruxelles 1966, 10). 16

Capitulaire De villis: Alfred Boretius (Hrsg.), Capitularia regum Francorum I. (MGH Capit, 1.) Hannover

1883, n° 32, art. 10, 84; art. 62, 89. – On sait le côté théorique de ce type de document, mais on a montré aussi leur valeur dans la description de l’organisation carolingienne: Ulrich Nonn, Pagus und Comitatus in Niederlothringen. Untersuchungen zur politischen Raumgliederung im früheren Mittelalter. (Bonner historische Forschungen, 49.) Bonn 1983, 253. 17

Diplôme de 824: Halkin/Roland (Eds.), Recueil (n. 2), n° 27, 71. Voir aussi Jean Mesqui, Le pont en France

avant le temps des ingénieurs. Paris 1986, 12–13, 20. 18

En général: Armin Braunholtz, Das deutsche Reichszollwesen während der Regierung der Hohen-

staufen und des Interregnums. Berlin 1890, 4; Ganshof, Recueil (n. 2), 491–492, 494–495, 503–508; Georges Despy, Les tarifs de tonlieux. (Typologie des sources du Moyen Age occidental, 19.) Turnhout 1976, 17; Reinhold Kaiser, Teloneum episcopi. Du tonlieu royal au tonlieu épiscopal dans les civitates de la Gaule (VIe–XIIe

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779. 19 Par contre, l’abandon du tonlieu semble accordé très rarement: le seul cas connu sur le fleuve concerne le poste de Maastricht, cédé à l'église de Liège avant 908. 20 A l’époque ottonienne et post-ottonienne s’installe la féodalité. La disposition des rives, l’édification de ponts et l’installation de bacs, entre autres, relèvent des regalia. Mais très tôt, dès l’instauration à Liège de l’„Eglise impériale“, à la fin du Xe siècle, l’empereur délègue ces droits à l’église liégeoise, qui perçoit une taxe sur la statio navium dans ses domaines et sur le pont de Maastricht. 21 Il apparaît par la suite, au XIe siècle, que l’exercice de telles prérogatives se trouve entre les mains de ceux qui détiennent de facto l’autorité locale, ce qui illustre les progrès de la féodalisation. 22 L’évolution des pouvoirs à Dinant et la longue lutte qui y oppose l’évêque de Liège et le comte de Namur pour se rendre maître de la ville en fournissent une bonne illustration. En 1070, Henri IV reprend le tonlieu de Dinant au comte de Namur pour le

siècles), dans: Werner Paravicini/Karl-Ferdinand Werner (Eds.), Histoire comparée de l’administration (IVe–XVIIIe siècles). (Beihefte der Francia, 9.) München 1980, 469–485, 472. 19 Hartmut Atsma/Jean Vezin (Eds.), Chartae Latinae Antiquiores. 164. Dietikon/Zürich 1986, n° 625, 38– 41; André Joris, Der Handel der Maasstädte im Mittelalter, dans: Hansische Geschichtsblätter 79, 1961, 15– 33, 17; Marie-Louise Fanchamps, Etude sur les tonlieux de la Meuse moyenne du VIIIe au milieu du XIVe siècle, dans: Le Moyen Age 70, 1964, 205–264, 207. 20 Theodor Schieffer (Hrsg.), Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum, 4: Zwentiboldi et Ludowici Infantis. (MGH DD.) Berlin 1960, n° 57, 183–185; Kaiser, Teloneum episcopi (n. 18), 472, 480 ; Alain J. Stoclet, Immunes ab omni teloneo. Etude de diplomatique, de philologie et d’histoire sur l’exemption de tonlieux au haut Moyen Age et spécialement sur la Praeceptio de navibus. (Bibliothèque de l’Institut Historique Belge de Rome, 45.) Bruxelles/Rome 1999 ; Robert-Henri Bautier, La circulation fluviale dans la France médiévale, dans: Recherches sur l’économie de la France médiévale. Les voies fluviales. La draperie. (Actes du Congrès National des Sociétés Savantes. Section d’histoire médiévale et de philologie, 112.) Paris 1989, 7– 36, 15, 18. 21 Diplôme d’Otton II, 980: Theodor Sickel (Hrsg.), Diplomata regum et imperatorum Germaniae, 21: Ottonis II. (MGH DD.) Hannover 1888, n° 210, 238–239; un acte d’Otton III précise en 985 que ce privilège concerne notamment Dinant, Namur, Huy et Maastricht: ibid. 22, n° 16, 413–414. – En 908, Louis l’Enfant confirme la donation à l’église de Liège du poste de tonlieu de Maastricht (Schieffer [Hrsg.], Diplomata, n° 53, 183–185) et en [987–988], Otton III confirme à Notger „quicquid regalis jus fisci exigere poterat [...] in teloneo [...], tam in navibus et ponte [...]“, c’est-à-dire à la fois sur le trafic fluvial et sur le passage du pont (Sickel [Hrsg.], Diplomata 22, n° 45, 445–446). Voir infra. 22 A Liège, l’évêque Réginard finance lui-même la construction du pont, menée à bien sous son épiscopat (1025–1037): Rudolf Köpke (Hrsg.), Anselm von Lüttich, Gesta episcoporum Tungrensium, Traiectensium et Leodiensium. (MGH SS, 7.) Hannover 1846, 210; ce chroniqueur est contemporain des événements: JeanLouis Kupper, Episcopus, ingenui, cives et rustici. La chronique d’Anselme et la vie économique du pays mosan aux Xe–XIe siècles, dans: Villes et campagnes au moyen âge (n. 11), 405–414, 406, 413–414.

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donner à l’église liégeoise. 23 En 1080 encore, les deux seigneurs interviennent ensemble dans la décision de lancer un nouvel édifice sur le cours d’eau, mais il s’agit là de la dernière manifestation de la présence namuroise dans cette agglomération. 24 On constate donc que le tonlieu constitue toujours sous les Ottoniens une prérogative royale, mais que les souverains privilégient très tôt et de manière exclusive les „évêques impériaux“ liégeois. Entre 983 et 988, ceux-ci se voient concéder ou confirmer les postes de Huy et de Maastricht, puis celui de Dinant en 1070. 25 En fait, les princes territoriaux commencent à disposer pleinement des tonlieux situés dans leurs domaines dès le second quart du XIe siècle. 26 Au XIIe siècle, l’aliénation de ces droits se poursuit. 27 A l’époque des principautés, la double évolution constatée depuis le XIe siècle se perpétue. Le nombre de détenteurs de privilèges sur la rivière, tels les droits sur les berges ou sur les bacs, croît sans cesse, tout comme la fragmentation de ceux-ci. 28 Ce-

23

Dietrich von Gladiss (Hrsg.), Diplomata regum et imperatorum Germaniae, 61: Heinrici IV. (MGH DD.)

Berlin 1941, n° 234, 295–296; Kaiser, Teloneum episcopi (n. 18), 480–481, 484–485. 24

Félix Rousseau (Ed.), Actes des comtes de Namur de la première race (946–1196). Bruxelles 1936, n° III2,

94–95. – Marc Suttor, L’affermissement du pouvoir des évêques de Liège dans la vallée de la Meuse moyenne, dans: Marie-Caroline Florani/André Joris (Eds.), Le Temps des Saliens en Lotharingie (1024–1125). Colloque du Centre d’Études historiques. Monastère de Malmedy (12–14 septembre 1993). Malmedy 1993, 101–124, 103, 107. 25

983: Sickel (Hrsg.), MGH DD O II (n. 22), 21, n° 308, 365. L’église liégeoise obtient, avant 985, le tonlieu

de Huy (voir n. 21; André Joris, La ville de Huy au moyen âge. Des origines à la fin du XIVe siècle. Paris 1959, 97–98, 291). A Maastricht, Otton III confirme en [987–988] à l’évêque le tonlieu de transit levé sur les bateaux (voir n. 21); 1070: voir n. 23. 26

Despy, Les tarifs de tonlieux (n. 18), 17–18; Fanchamps, Etude sur les tonlieux (n. 19), 236. – La chrono-

logie de ces aliénations correspond grosso modo à celle de l’apparition des consuetudines dans le pays mosan. Les cessions correspondent aux possibilités de chaque seigneur. Au fur et à mesure que le XIIe siècle s’écoule, que la féodalité progresse, les donations se rapportent à des droits de plus en plus fragmentés. Ces prérogatives traduisent l’importance de leur possesseur, car le tonlieu permet à son détenteur de délimiter une aire de pouvoir à l’intérieur de laquelle il prend théoriquement en charge le maintien de la paix publique en échange du paiement de la taxe. Suttor, L’affermissement (n. 24), 108 et n. 57; pour le royaume de Francie occidentale Bautier, La circulation fluviale (n. 20), 19–20, 22. 27

Suttor, Vie et dynamique d’un fleuve (n. 1), 243.

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Il en existe de nombreux exemples, entre autres dans les censiers namurois de 1265, 1289 et 1294 (Dieu-

donné Bouwers, L’administration et les finances du comté de Namur du XIIIe au XVe siècle. Vol.1: Cens et rentes du comté de Namur au XIIIe siècle. Namur 1910–1926, 1, 22); Marc Suttor, Métrologie et pouvoirs souverains dans la vallée de la Meuse à la fin du moyen âge, dans: Jean-Claude Hoquet (Ed.), La diversité locale des poids et mesures dans l’ancienne France. IIe congrès international du Comité français de métrologie historique. (Cahiers de métrologie, 14–15.) Caen 1996, 241–254, 245–247.

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pendant, les princes se réservent quelques-unes de ces prérogatives parmi les plus importantes, comme la construction des ponts. 29 Bien plus, ils se font reconnaître un droit de regard supérieur, qui leur permet d’intervenir dans la réglementation de ces multiples privilèges et dans les nombreux conflits les concernant. 30 L’exercice de la justice, lié au maintien de l’ordre public, paraît essentiel, puisqu’il procure à la fois pouvoir et revenus. 31 En 1293, Bouvignois et Dinantais précisent les limites entre les justices de leurs seigneurs respectifs. On notera avec intérêt que la disposition de la partie navigable du fleuve appartient au comte, la rive et les eaux qui la bordent, c’est-à-dire le halage, à l’évêque. 32 Le plus souvent, les princes cèdent les revenus de leurs tonlieux en fief, ou plutôt en fiefs-rentes relevées à partir du XIVe siècle par des officiers, des bourgeois, voire des gens de métiers. Toutefois, ils n’aliènent pas complètement leurs droits sur ces péages et conservent, en fait, le contrôle de la plupart des tonlieux mosans. 33 En outre, si le caractère seigneurial de ces prérogatives ne fait aucun doute, il apparaît qu’elles sont liées à l’exercice de la haute justice et du conduit, à cette „souveraineté“ qui commence à se manifester. 34 Enfin, quand com-

29 Les ponts représentent un intérêt politique et économique considérable: point de passage obligé, ils constituent pour l’axe routier un endroit privilégié où l’on peut lever les taxes de transit. C’est là, sur le tablier ou au débouché de l'édifice, que l’on exige le paiement du pontenage ou du winage. Suttor, L’infrastructure (n. 2), 106. – Pour la Moselle, à Metz: Jean-Louis Fray, Ponts et bacs attestés avant 1300 en Haute-Lorraine, dans: Tonlieux, foires et marchés (n. 4), 83. 30 L’évêque de Liège demeure „sire [...] de l’eau, du pays“. Il exerce sa juridiction sur le cours d’eau, supérieure à celle des seigneurs (enquête de 1278, Denise Van Derveeghde, N. sur le droit de pêche dans la Meuse liégeoise au XIIIe siècle, dans: Etudes sur l’histoire du pays mosan au moyen âge. Mélanges Félix Rousseau. Bruxelles 1958, 641–645, 643–645). Ceci paraît très proche de la „définition“ quasi contemporaine de la „souveraineté“ du comte de Namur (censier de 1289): Suttor, Métrologie et pouvoirs souverains (n. 28), 246. 31 En général: Jean Lejeune, Liège et son Pays. Naissance d’une patrie (XIIIe–XIVe siècles). (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège, 112.) Liège 1948, 314–317, et Alain Marchandisse, La fonction épiscopale à Liège aux XIIIe et XIVe siècles. Etude de politologie historique. (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège, 272.) Liège/Genève 1998, 246–247, 421–427. 32 Jules Borgnet (Ed.), Cartulaire de la commune de Bouvignes. Namur 1862, 1, n° 8, 20; Marc Suttor, Le rôle d’un fleuve comme limite ou frontière au Moyen Age. La Meuse, de Sedan à Maastricht, dans: Le Moyen Age 116, 2010, 335–367, 361. 33 Acte de 1362 du comte de Rethel: Léon-Honoré Labande (Ed.), Trésor des chartes du comté de Rethel. Monaco/Paris 1916, Vol.4, n° 15, 327–328. Evêque de Liège, à la fin du XIVe siècle: Camille de Borman/ Alphonse Bayot/Edouard Poncelet (Eds.), Jacques de Hemricourt, Œuvres. 3: Le traité des guerres d’Awans et de Waroux. Le patron de la temporalité. (Commission royale d’histoire. Publications in 4°.) Bruxelles 1931, n° 98, 106. Acte de 1419 du comte Jean III de Namur: Jules Borgnet/Stanislas Bormans (Eds.), Cartulaire de la commune de Namur. Namur 1873, 2, n° 147, 344–346. 34 Joris, La ville de Huy (n. 25), 293. En 1328, Jean Ier de Namur estime qu’il „ait a droiturier le cour de

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mencent à se constituer des Etats, aux XVe et XVIe siècles, les princes affirment régulièrement leur prééminence en matière de justice, considèrent que la disposition des rivières fait partie de leurs régales et continuent à assurer leur suzeraineté – ou leur souveraineté – sur les tonlieux inféodés. 35 La première question à laquelle nos textes permettent de répondre concerne la capacité d’action des pouvoirs à une époque donnée. 36 A Maastricht, à la fin du XIe siècle selon toute vraisemblance, l’empereur décide de jeter un nouveau pont une centaine de mètres en aval de l’ancien, tombé en ruine. Il semble que ce soit un objectif politique qui motive cette décision. En effet, le souverain a cédé, dès avant 987– 988, ses droits sur l’ancien ouvrage à l’église de Liège. Le nouvel édifice sera érigé sur le domaine impérial, vers la fin du XIe siècle, ce qui permettra par la suite au roi Conrad III d’en disposer à sa guise. 37 La mention tardive du pont de Namur, au milieu

Meuze“ et „a wardeir le rivière“ quand „ons formainent les marchans a winaiges“, car „ilh astoit li soverains a cuy on se devoit radrechier“ (Archives de l’Etat à Namur, Chartrier des comtes de Namur, n° 486. – Suttor, Métrologie et pouvoirs souverains (n. 28), 242–249. 35 En 1451, des échevins notent que l’„eawe de Moese“ appartient à „Monseigneur de Liège [...] de toute haulteur et seignoirie et nulz autres seigneurs marchissant a ladicte eawe de Moese ny at droit ny calenge“ (Archives de l’Etat à Liège, Chambre des comtes, reg. 71, fos 178 v°–179). Le juriste liégeois Charles de Méan note au milieu du XVIIe siècle que „proprietas [...] et jurisdictio fluminis est Domini [...], si non recognoscat Superiorem qui est de regalibus“ (Charles de Méan, Observationes et res judicatae ad jus canonicum, commune, seu civile Romanorum, Leodiensium, Mosae-Trajectensium, et feudale. 3ième ed. Liège 1740, art. 5– 7, 59). Voir encore deux documents namurois de 1502 (Jacques Stiennon, Les tonlieux de transit et le droit de pêche sur la Meuse namuroise au Moyen Age à la lumière de deux documents cartographiques de 1502, dans: Villes et campagnes au moyen âge [n. 11], 653–675, 670–675) et des ordonnances de Charles Quint au XVIe siècle (Suttor, Vie et dynamique d’un fleuve [n. 1], 257–258). – Dans le royaume de France aux XVe et XVIe siècles: Bautier, La circulation fluviale (n. 20), 26–27; Serna, Administrer (n. 11), 94; Mesqui, Le pont en

France (n. 17), 14. 36

L’archéologie vient de nous révéler des vestiges probables d’une jetée du IIe siècle à Maastricht (Jean

Loicq, La civitas Tungrorum sous la paix romaine, dans: Cahiers de Clio 82–83, 1985, 31–76, 50 et n. 41) et l’existence à Namur de très précoces plans inclinés pour la mise à flot d’embarcations, réalisés à la fin du VIe siècle puis dans la seconde moitié du VIIe siècle. Malheureusement, on ignore quelle autorité a entrepris

ces constructions, même si, très probablement, cette décision doit provenir de l’entourage du souverain. – Sur ces infrastructures, voir Suttor, Les ports de la Meuse moyenne (n. 3), 160. 37

Voir supra et n. 21; Suttor, L’infrastructure (n. 2), 101. – Le nouvel édifice existe en 1139, lorsque le roi

Conrad III offre au chapitre de Saint-Servais les droits qui y sont levés (Friedrich Hausmann [Hrsg.], Diplomata regum et imperatorum, 9: Conradi III. (MGH DD.) Wien/Köln/Graz 1969, n° 31, 49–50). L’ouvrage a peut-être été construit à la fin du XIe ou au début du XIIe siècle (Joachim Deeters, Servatiusstift und Stadt Maastricht. Untersuchungen zu Entstehung und Verfassung. [Rheinisches Archiv, 73.] Bonn 1970, 137), dans la juridiction impériale (Suttor, Vie et dynamique d’un fleuve [n. 1], 246); Titus A.S.M. Panhuysen/Piet Henri Dé Leupen, Maastricht in het eerste millenium. De vroegste stadsontwikkeling in Nederland, dans: La

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du XIIIe siècle, provient probablement de l’évolution du rapport de force entre le comte et l’évêque. En effet, au siècle précédent, ce dernier détient encore la collégiale Notre-Dame et contrôle donc toujours les deux berges. Toutefois, la position épiscopale s’avère dès cette époque très affaiblie au sein de la ville. En fait, aucun des deux seigneurs ne semble à même de se lancer dans une longue et coûteuse entreprise de construction, avant que le comte ne l’emporte définitivement sur son rival au XIIIe siècle, précisément lorsque l’ouvrage apparaît dans les textes. 38 Pour faciliter les manœuvres de chargement et de déchargement, le comte Gui de Dampierre dispose à Namur de quelques „nacelles d’appleitage“, barques pontées et fixées à la rive, à la fin du XIIIe siècle. 39 Les princes feront ensuite édifier des digues, qui fixent les berges à proximité du chenal navigable et permettent d’aborder dans de meilleures conditions de sécurité, qui protègent en outre quelque peu des crues. Les premières d’entre elles apparaissent en 1387 à Mézières et avant 1487–1488 à Namur. Le prince-évêque de Liège fait construire une digue en pierre en 1545–1548 dans sa cité, en aval du pont. On en installe une autre à Maastricht avant 1575. 40 Dans la seconde moitié du XVIe siècle, on établira des quais, chaussées empierrées et pavées, en appui sur ces digues, à Maastricht, à Namur et à Liège. Ici, au début du XVIIe siècle, on ménagera en outre de larges ouvertures, qui autorisent en tout temps l’accostage des bateaux. 41 Des raisons d’ordre politique permettent d’expliquer encore quelques particulagenèse et les premiers siècles des villes médiévales dans les Pays-Bas méridionaux. Un problème archéologique et historique. (Collection histoire pro civitate, Série in-8°, 83.) Bruxelles 1990, 411–449, 436–437. – Suttor, Vie et dynamique d’un fleuve (n. 1), annexe 7 F, 648. 38 1264: Dieudonné Brouwers (Ed.), L’administration et les finances du comté de Namur du XIIIe au XVe siècle, II, Chartes et règlements. Namur 1913, 1, 130; Suttor, L’infrastructure (n. 2), 102 et n. 62. 39 Marc Suttor, La navigation sur la Meuse moyenne des origines à 1650. (Centre belge d’Histoire rurale, 86.) Liège/Louvain 1986, 75 et n. 217. 40 Mézières: Paul Laurent (Ed.), Statuts et coutumes de l’échevinage de Mézières (XIe–XVIIe siècle). Paris/ Mézières/Charleville 1889, n° 8, 22. – Namur: Jules Borgnet, Troubles du comté de Namur en 1488, dans: Annales de la Société archéologique de Namur 2, 1851, 43–56, 50. – Liège: Sylvain Balau/Emile Fairon (Eds.), Chroniques du XVIe siècle. Règne de Georges d’Autriche, Chroniques liégeoises. (Commission royale d’Histoire, Publications in-4°.) Bruxelles 1931, Vol.2, 416. – Henri Michelant (Ed.), Voyage de Philippe de Hurges à Liège et à Maastricht en 1615. Liège 1872, 133, 304. – Maastricht, dessin de Bril, vers 1575: Miscellanea Trajectensia. Werken uitgegeven door Limburgs geschieden oudheidkundige genootschap. Vol.4. Maastricht 1962, pl. XI. – De telles digues existent à Rouen dès le XIIe siècle (Leguay, L’eau dans la ville [n. 11], 325). 41 Maastricht, 1575 et vers 1575: Willem Hendrik Schukking (Ed.), Het beleg van Maastricht door Parma in 1579, dans: Publications de la Société historique et archéologique dans le Limbourg 88/89, 1952/53, fig. 3, supra, n. 40. – H.Michelant (Ed.), Voyage de Philippe de Hurges (n. 40), 257. Namur, 1575: Annales de la Société archéologique de Namur 2, 1851, planche 33, p. 2. – A Rouen dès 122: Leguay, L’eau dans la ville (n. 11),

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rités. Lorsque l’évêque de Liège parvient en 1070 à évincer le comte de Namur, éternel rival, à Dinant, ce dernier domine toujours la rive opposée, où il fonde, au XIIe siècle, Bouvignes. Dès lors et au prix de longues hostilités, les Dinantais n’auront de cesse d’établir une „tête de pont“, absolument nécessaire pour contrôler le fleuve, puisque le chenal navigable longe cette berge du cours d’eau. Mais ce faubourg restera toujours contesté et menacé par les Bouvignois, tout proches. Pour cette raison, probablement, les Dinantais n’y établiront jamais un port, contrairement aux autres villes de la vallée. A Namur, c’est le comte qui chasse l’évêque, mais celui-ci garde pied outre Meuse, de l’autre côté du pont, et les Namurois ne pourront pas y disposer de débarcadère. 42 Les conflits s’avèrent aussi d’excellents révélateurs dans les rapports des pouvoirs avec les infrastructures. Ainsi, à Liège, une querelle oppose pendant près de deux siècles les métiers des bateliers et des charpentiers. Depuis le milieu du XIVe siècle, ces derniers encombrent avec troncs d’arbres et pièces de bois le halage et le port situé en amont du pont; ils y rendent toute circulation impossible. Dès 1481, les autorités de la ville prescrivent aux marchands de bois de laisser libre un espace de 4,8 m de large le long du rivage. Cette décision de justice et d’autres restent sans effet. Aussi, après avoir épuisé toutes les instances de recours liégeoises, les bateliers portent l’affaire devant la Chambre impériale de Spire, qui confirme les jugements précédents en 1554. Cela nous vaudra deux magnifiques dessins qui illustrent la situation (Ill. 1). 43 Par ailleurs, les chemins de halage se dégradent régulièrement en raison des crues et, en outre, arbres, arbustes, pierres, haies ou fossés gênent le passage. 44 Aussi les souverains se préoccupent-ils de ces problèmes. Le comte de Namur ordonne à ses officiers, dans la seconde moitié du XVIe siècle, „que y ait affaire le chemin bon [...] et de faire coper les saux et aultres arbre“. 45 Les autorités prononcent encore des

325. – 1575 et 1595–1606: Suttor, La navigation (n. 39), 117, n. 410. – 1615: Michelant (Ed.), Voyage de Philippe de Hurges (n. 40), 133, 304. – Voir aussi Leguay, L’eau dans la ville (n. 11), 331. 42 Suttor, Vie et dynamique d’un fleuve (n. 1), 185, 187; id., Les ports de la Meuse moyenne (n. 3), 156; voir n. 23. 43

1481: Edouard Poncelet/Emile Fairon, Liste chronologique d’actes concernant les métiers et confréries de

la cité de Liège. XVIII. Le bon métier des naiveurs, dans: Annuaire d’Histoire liégeoise 3, 1943, 17–45, n° 9, 20; voir encore Edouard Poncelet, Paysages mosans du XVIe siècle. Le quai sur Meuse à Liège en 1553, la Meuse à Leuth en 1561, la terre libre de Leuth. Liège 1939, 14–15; Suttor, La navigation (n. 39), 116 et n. 406; id., Vie et dynamique d’un fleuve (n. 1), 599.

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Suttor, La navigation (n. 39), 115, n. 399.

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Archives de l’Etat à Namur, Métiers de Namur, reg. 20. – Marc Suttor, Pour une histoire de la navigation

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Ill. 1: Dessin anonyme dressé en 1553, représentant le débarcadère de „Sur Meuse“ à Liège (Archives de l’Etat à Liège, Cartes et plans, n° 6 de la salle d’exposition). Ce dessin a été dressé à la demande de la Chambre impériale de Spire, suite à une querelle opposant pendant près de deux siècles les métiers des bateliers et des charpentiers.

ordonnances pour préserver l'affectation exclusive de ces chemins au halage. 46 Mais le nombre même de ces sentences atteste leur peu d’efficacité 47. Dès le XIIIe siècle, les communautés urbaines se voient associées à l’entretien des ponts, qui engloutit une part importante du budget municipal, et obtiennent, en

fluviale: l’exemple de la Meuse, dans: Cahiers de Clio 90/91, 1987, 37–75, 63. – On entretient aussi le halage, avec l’autorisation du roi, le long des rives de l’Eure au début du XVe siècle: Claudine Billot, Chartres et la navigation sur l’Eure à la fin du moyen âge, dans: Les transports au moyen âge. Actes du VIIe Congrès de la Société des historiens médiévistes de l’enseignement supérieur public. (Annales de Bretagne et des Pays de l’Ouest, 85/2.) Rennes 1978, 245–259, 252. 46 Suttor, La navigation (n. 39), 116–117. 47 Mantellier, Communauté des marchands (n. 7), 108–109, 208–209; Florent Godelaine, Les conditions de navigation sur la Loire et la Mayenne de la fin du XVIIe siècle à la Révolution, dans: Archives d’Anjou 4, 2000, 47–64, 52–53; Hugues Courant/Christian Cussonneau, Les sites de la meunerie hydraulique sur la Loire et la Maine, du XIe au XIXe siècle, dans: Archives d’Anjou 4, 2000, 7–45, 12.

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échange, la faculté d’y percevoir une redevance. 48 Toutefois, les villes ne peuvent pas supporter les coûts de réparations importantes, et encore moins subvenir à la construction d’un nouvel édifice, qui excède leurs capacités financières. Ici se manifestent encore le droit et l’appui des princes. 49 Mais les efforts déployés par les communautés urbaines pour rebâtir leur pont, quand celui-ci vient à être détruit (Dinant après 1466 et Liège en 1477), illustrent le rôle primordial que joue un tel ouvrage et la légitimité revendiquée par les villes sur ces infrastructures. Le pont constitue pour elles un objet de fierté: ainsi figure-t-il sur le sceau scabinal de Dinant (Ill. 2) de 1255 à 1374 et apparaît-il en bonne place dans l’iconographie urbaine. 50 Ces édifices facilitent, bien entendu, le contrôle du trafic, aussi bien fluvial que routier. En cas de nécessité, on ôte des éléments en bois du tablier pour interdire le franchissement de la rivière, comme à Maastricht en 1214. Il suffit alors à l’évêque de Liège, Hugues de Pierrepont, allié du roi de France Philippe Auguste, d’ôter des solives qui forment le tablier de l’ouvrage pour empêcher le passage de l’armée d’Otton IV. Les poutres seront remises en place peu après et les troupes impériales franchi-

ront alors le cours d’eau pour se diriger vers Bouvines. 51 En 1119, les Hutois soutiennent l’évêque Frédéric de Namur, qui assiège son compétiteur Alexandre de Juliers, retranché dans le donjon. Ils détruisent le pont pour interdire au duc de Bra-

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Les princes se réservent encore l’édification des ouvrages: voir supra et n. 29. – Huy, peut-être dès 1149,

mais certainement en 1262: Joris, La ville de Huy (n. 25), 295–296. – Dinant, 1278 et vers 1293: Jules Borgnet/ Stanislas Bormans (Eds.), Cartulaire de la commune de Dinant. Namur 1880, Vol.1, n° 26, 79. – Edouard Poncelet, La guerre dite „de la vache de Ciney“, dans: Bulletin de la Commission royale d’Histoire, 5e série 3, 1893, 275–395, 302. – Namur, après 1265: Michel Godinas, Les ponts de la Meuse moyenne du Ve à la fin du XVe siècle. Diss. Liège 1976–1977, 37, n. 97, 128 et n. 7. 49

Ibid. 47 et n. 132, 129–130; Suttor, L’infrastructure (n. 2), 106, n. 79.

50

Godinas, Les ponts (n. 48), 22; Arlette Higounet, Le financement des travaux publics à Périgueux au

Moyen Age, dans: Les constructions civiles d’intérêt public dans les villes d’Europe au Moyen Age et sous l’Ancien Régime et leur financement. (Collection histoire pro civitate, série in-8°, 26.) Bruxelles 1971, 155– 175, 157–158; Jean-Pierre Sosson, A propos des „travaux publics“ de quelques villes de Flandre aux XIVe et XVe siècles: impact budgétaire, importance relative des investissements, technostructures, politiques économiques, dans: L’initiative publique des communes en Belgique. Fondements historiques (Ancien Régime). Bruxelles 1984, 279–400, 381; Philippe Wolff, Pouvoir et investissements urbains en Europe occidentale et centrale du treizième au dix-septième siècle, dans: Revue historique 2582, 1977, 277–311, 278, 287; Iconographie: Suttor, Vie et dynamique d’un fleuve (n. 1), annexe 6, 635–641. 51

J. Alexandre/Ludwig Conrad Bethmann (Eds.), Renier de Saint-Jacques, Annales. (Société des Biblio-

philes liégeois, 12.) Liège 1874, 115–116; Jean-Louis Kupper, L’évêché de Liège dans le contexte politique et militaire de la bataille de Bouvines, dans: Bulletin de la Société nationale des Antiquaires de France 1993, 199–208.

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bant de venir prêter main-forte à ce dernier. 52 L’édifice de Liège se termine, du côté du faubourg d’Outremeuse, par un pont de bois, démontable, dont l’existence est attestée pour la première fois lors d’une sédition populaire en 1256. 53 Le passage sous l’ouvrage peut aussi être facilement empêché: on établit des palissades ou l’on tend des chaînes entre les piles. Cela se pratique à Dinant en 1293 et en 1451, à Namur en 1465, à Maastricht en 1508–1509, à Liège dans la seconde moitié du XVIe siècle et à Huy au XVIIe siècle. 54 Au vrai, l’intérêt stratégique de ces édifices s’avère considérable. 55

52 Wilhelm Wattenbach (Hrsg.), Vita Friderici episcopi Leodiensis. (MGH SS, 12.) Hannover 1856, 501–508, 504–505; Claude Gaier, Art et organisation militaires dans la principauté de Liège et dans le comté de Looz au moyen âge. (Mémoire de la Classe des Lettres, collection in-8°; Académie Royale de Belgique, 2/59,3.) Bruxelles 1968, annexe II, 234–237; André Joris, A propos de „burgus“ à Huy et à Namur, dans: Werner Besch u.a. (Hrsg.), Die Stadt in der Europäischen Geschichte. Festschrift Edith Ennen. Bonn 1972, 192–199, 196, ainsi que Jean-Louis Kupper, Liège et l’Eglise impériale. XIe–XIIe siècles. (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège, 228.) Paris 1981, 143–153, 157–160. 53 Godinas, Les ponts (n. 48), 60, et Jean Lejeune, Les Van Eyck, peintres de Liège et de sa cathédrale. Liège 1956, 130; cela se voit confirmé au XIVe siècle par Jacques de Hemricourt, 1: Le miroir des nobles de Hesbaye (Commission royale d’histoire, publications in-4°, 38/1.) Bruxelles 1910, 303. Le deuxième pont des Arches sera conçu de la même manière (Michelant [Ed.], Voyage de Philippe de Hurges [n. 40], 154–157). Au XVIe siècle, les deux ouvrages de Mézières sont pourvus de ponts-levis: Paul Laurent, Les anciennes rues de Mézières, dans: Revue de Champagne et de Brie 24, 1888, 5–18, 15, et Archives départementales des Ardennes, Plans, KM 10C. A Namur, le pont-levis sera, en outre, protégé par un mâchicoulis; on y installera aussi parfois une arme de trait lourde et une réserve de projectiles (Godinas, Les ponts [n. 48], 34, 121). Pour Huy: Suttor, L’infrastructure (n. 2), 105 et n. 71. – Au pont Valentré de Cahors existent deux châtelets et trois tours, qui permettent le contrôle de la traversée du Lot (Leguay, L’eau dans la ville [n. 11], 335). 54 Dinant, 1293: Borgnet (Ed.), Cartulaire (n. 32), n° 8, 17; 1451: Dieudonné Brouwers et al. (Eds.), Cartulaire de la commune de Dinant. (Documents inédits relatifs à l'histoire de la province de Namur, 7.) Namur 1907, n° 950, 316–317. – Namur: Jules Borgnet, Promenades dans Namur. Namur 1851–1859, 153 et n. 1. – Maastricht: Edmond Reusens (Ed.), Jean de Brusthem, Chronique [1506–1538]. Erard de la Marck, prince-évêque de Liège. Extrait de la chronique de Jean de Brusthem (1506–1538), dans: Bulletin de l’Institut archéologique liégeois 8, 1866, 9–104, 29. – Liège: Sylvain Balau/Emile Fairon (Eds.), Chroniques du XVIe siècle. Règne de Gérard de Groesbeeck, Chroniques liégeoises. (Commission royale d’Histoire, publications in-4°.) Bruxelles 1931, 2, 507–606, 539–540. – Paul Harsin, Etudes critiques sur l’histoire de la principauté de Liège 1477–1795. 3: Politique extérieure et défense nationale au XVIe siècle (1538–1610). Liège 1959, 205. – Huy: Suttor, La navigation (n. 39), 115 et n. 402. – De telles pratiques s’observent sur d’autres rivières: on plante des pieux et on tend une chaîne au travers du cours de l’Eure au XVe siècle (Billot, Chartres [n. 45], 254), on barre le pont par des poutres de chêne au Pont-Saint-Esprit, sur le Rhône, en 1474 (Alain Girard, L’entretien du pont de Pont-Saint-Esprit et du cours du Rhône de 1473 à 1476, dans: Recherches sur l’économie de la France médiévale [n. 20], 65–73, 72). 55 Suttor, L’infrastructure (n. 2), 105; id., Vie et dynamique d’un fleuve (n. 1), 199–200.

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Ill. 2: Détail du sceau scabinal de Dinant, montrant le pont de la ville (original sur parchemin, 1255, mai, Archives de l’Etat à Liège, Abbaye du Val-Saint-Lambert, chartrier, n° 214).

D’autre part, au plus tard dès le XIVe siècle, les débarcadères permettent aux princes de surveiller le marché des vivres ou de certaines matières premières, afin d’assurer le ravitaillement des villes et de prévenir toute spéculation. Le moyen par excellence d’assurer ce contrôle consiste en effet à établir une étape obligatoire pour les différentes denrées et marchandises en des endroits précis. Cette étape se voit, le plus souvent, fixée aux ports. C’est là une des raisons pour lesquelles chaque „rivage“ se voit assigner une affectation déterminée. 56 Ainsi, des conditions d’ordre technique s’imposent aux hommes et déterminent la permanence ou l’absence d’aménagements en certains lieux. C’est le cas pour les ports, les chemins de halage et les moulins hydrauliques. D’un autre côté, malgré une documentation très lacuneuse, on observe que, pendant des siècles, la Meuse provoque l’intérêt des détenteurs du pouvoir, forme une composante majeure de la 56

Id., L’infrastructure (n. 2), 95, n. 30–31; id., Le contrôle du trafic fluvial: la Meuse, des origines à 1600,

dans: Revue du Nord 76, 1994, 7–23, 12–13; id., Vie et dynamique d’un fleuve (n. 1), 197–198, 270–272. – A Paris, Rouen, Mâcon, Lyon, Nantes: Leguay, L’eau dans la ville (n. 11), 326–329.

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puissance politique et économique, tantôt disputée, tantôt fractionnée, bref constitue un enjeu à tous les égards. 57 C’est que la disposition des débarcadères et des ponts permet à la fois de lever les taxes de transit sur le trafic routier et fluvial. La capacité d’action des pouvoirs à une époque donnée montre en outre quels sont les rapports de force. Mais la souveraineté donnera toujours aux princes un droit de regard sur la rivière. Rappelons combien les conflits facilitent l’analyse de ces phénomènes. La place occupée par les ponts tant dans les finances urbaines que dans la représentation, la visualisation et l’imaginaire du pouvoir des villes traduit le rôle primordial de ces infrastructures pour celles-ci. Enfin, le contrôle aussi bien politique et stratégique qu’économique exercé grâce à ces ouvrages et aux ports s’avère essentiel. Dans la prolongation de cette étude, il convient de souligner le rôle de ces équipements comme témoins de la croissance des agglomérations mosanes. En 779, le port de Maastricht abrite un des six principaux tonlieux du royaume carolingien. 58 Ensuite, aux XIe et XIIe siècles, l’extension du débarcadère de Huy coïncide avec la remarquable expansion de cette ville et avec les débuts de sa participation au commerce „à longue distance“. Aux XIIIe et XIVe siècles enfin, on observe à la fois une multiplication des „rivages“, leurs premiers aménagements et l’apparition des étapes obligatoires, à une époque où le trafic ne cesse d’augmenter. 59 Il en va de même pour les ponts, fierté des agglomérations et élément essentiel de leur infrastructure, au croisement des itinéraires terrestre et fluvial. La substitution d’édifices en pierre aux ponts de bois à Maastricht et à Huy à la fin du XIIIe siècle coïncide avec une croissance économique remarquable de ces deux villes. Ceci constitue une

57 En dehors de la vallée mosane, voir, entre autres, ibid. 431–437. 58 Sur le dynamisme mosan aux VIIIe–IXe siècles en général et de Maastricht en particulier: Stéphane Lebecq, Pour une histoire parallèle de Quentovic et Dorestad, dans: Villes et campagnes au moyen âge (n. 11), 415–428, 415–417, 422, 428; Joris, Der Handel der Maasstädte (n. 19), 17; J.-P. Devroey/C. Zoller, Villes, campagnes, croissance agraire dans le pays mosan avant l’an mil vingt ans après..., dans: Villes et campagnes au moyen âge (n. 11), 223–260, 251; Suttor, Vie et dynamique d’un fleuve (n. 1), 516–523. 59 Huy obtient en 1066 la première charte d’affranchissement connue dans l’Empire. L’extraordinaire sacrifice financier ainsi consenti révèle une richesse fondée sur les échanges commerciaux „à longue distance“, auxquels participent également les autres villes mosanes aux XIe–XIIe siècles: ibid. 523–527; Lebecq, Pour une histoire parallèle (n. 58), 428. – Les XIIIe et XIVe siècles constituent l’apogée du commerce actif de ces villes: André Joris, Les villes de la Meuse et leur commerce au moyen âge, dans: Studia Historiae Oeconomicae 6, 1971, 3–20, 14–19. En outre, on constate alors à la fois un accroissement du trafic local et régional sur le fleuve et l’affermissement du pouvoir des princes, qui se manifeste, entre autres, par le contrôle de l’approvisionnement urbain (Suttor, Vie et dynamique d’un fleuve [n. 1], 255, 270–273, 527–532).

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/ LES INFRASTRUCTURES FLUVIALES

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preuve du parallélisme existant entre progrès des communications et développement urbain. 60 Ainsi l’histoire des ponts et des débarcadères, mais aussi des moulins, se révèle-t-elle intéressante comme „thermomètre“ de la prospérité d’une ville tout autant qu’elle révèle les réalités du pouvoir.

60

Sosson, A propos des „travaux publics“ (n. 50), 381–390;Walter Prevenier, Henri Pirenne et les villes des

anciens Pays-Bas au bas Moyen Age (XIVe–XVe siècles), dans: Georges Despy (Ed.), La fortune historiographique des thèses d’Henri Pirenne. Bruxelles 1986, 27–50, 30, et, pour les villes mosanes, Suttor, L’infrastructure (n. 2), 113–116.

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Zwischen Brandenburg, Pommern und Dänemark Mittelalterliche Wasserwege- und Infrastrukturplanung am Beispiel der uckermärkischen Stadt Prenzlau von Sascha Bütow

I. Zur Einleitung: Die märkischen Wasserläufe und ihr Nutzen für die Binnenschifffahrt In der binnenschifffahrtsgeschichtlichen Forschung gelten Flüsse allgemein als „natürliche Verkehrswege“, die sich dem Menschen zur Umsetzung seiner Transportbedürfnisse in vorzüglicher Weise noch vor dem Landweg anbieten. 1 Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass dem Verkehr zu Wasser ähnlich wie dem zu Lande ein hohes Maß an vorheriger Planung innewohnt. Somit müssen Flüsse als Wasserstraßen organisiert, geplant und ihre Nutzung unter Umständen gegen fremde Ansprüche durchgesetzt werden. Mitunter zwingen solche Aktivitäten die auf den Flüssen reisenden Schiffsfahrer dazu, bestimmte vorher definierte Punkte bzw. Etappenorte anzulaufen, weshalb davon auszugehen ist, dass auch Flüsse sowie die mit ihnen einhergehenden infrastrukturellen Maßnahmen Einfluss auf die Nutzer dieses Verkehrsweges ausüben. Auf diese Weise kristallisierten sich während des Mittelalters verschiedene Träger der Binnenschifffahrt heraus, die ein hohes Interesse an freien sowie auf lange Sicht hin nutzbaren Flüssen und Wasserläufen hatten. 1 Vgl. Hildegard Adam, Das Zollwesen im fränkischen Reich und das spätkarolingische Wirtschaftsleben. Ein Überblick über Zoll, Handel und Verkehr im 9.Jahrhundert. (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beih. 126.), Stuttgart 1996, 87f.; Martin Eckoldt, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Flüsse und Kanäle. Die Geschichte der deutschen Wasserstraßen. Textband. Hamburg 1998, 10–38, hier 10; Heinrich Konen, Die Bedeutung und Funktion von Wasserwegen für die römische Heeresversorgung an Rhein und Donau in der frühen und hohen Kaiserzeit, in: Johann Sebastian Kühlborn (Hrsg.), Rom auf dem Weg nach Germanien. Geostrategie, Vormarschtrassen und Logistik. (Bodenaltertümer Westfalens, 45.) Mainz 2008, 303–322, hier 303; Oscar Montelius, Der Handel in der Vorzeit, in: Prähistorische Zeitschrift 2, 1911, 249– 291, bes. 274; Oskar Teuber, Die Binnenschiffahrt. Ein Handbuch für alle Beteiligten. Leipzig 1932, 28; Gernot Tromnau, Wasserwege und Schiffahrt, in: Ferdinand Seibt (Hrsg.), Vergessene Zeiten. Mittelalter im Ruhrgebiet. Bd. 2. Essen 2000, 68–71, hier 68.

DOI

10.1515/9783486781052.141

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Hinzu kommt, dass sie dieses Vorhaben oft durch vielfältigste Mittel zu verteidigen beabsichtigten. In der mittelalterlichen Mark Brandenburg sind in erster Linie die Städte, dahinter auch vereinzelt Klöster als solche Träger der Binnenschifffahrt anzusehen. Diese interessierten sich besonders nachhaltig für die Nutzung der märkischen Binnengewässer – nicht nur zum Fischfang, sondern eben auch zu Zwecken der Schifffahrt. Die Attraktivität der Flüsse wurde insbesondere dadurch bestimmt, dass sie eine Verbindung in den hansischen Handelsraum hinein ermöglichten. So wurde von märkischen Kaufleuten über das Flusssystem der Elbe und ihrer Nebenläufe vor allem die Hansestadt Hamburg angelaufen, worüber z.B. das aus dem letzten Drittel des 13.Jahrhunderts stammende Hamburgische Schuldbuch 2 in anschaulicher Weise Auskunft gibt. Über die Oder und deren Nebenflüsse war demgegenüber allen voran das pommersche Stettin ein Zielpunkt märkischer Schifffahrt. So verwundert es nicht, dass zahlreiche brandenburgische Städte nachweislich seit der zweiten Hälfte des 13.Jahrhunderts eine rege Schifffahrt auf den größeren Flüssen Elbe, Oder, Havel und Spree, aber auch auf kleineren Flüssen wie Finow, Stepenitz, Dosse oder Jägelitz und deren Nebenläufen betrieben. Vor allem Massengüter wie verschiedene Arten von Getreide wurden auf dem Wasserweg transportiert. 3 Aber auch Baumaterial wie Holz kam eine hohe Stellung zu. Darunter fiel auch das wertvolle Eichenholz, das zum Schiffbau benötigt wurde, wofür etwa die in der Prignitz gelegene Stadt Lenzen ein prominentes Beispiel abgibt. 4 Nicht zuletzt verdient auch der in einem etwas bescheideneren Maße über Berlin-Cölln vermittelte Rüdersdorfer Kalkstein Erwähnung, dessen Bedeutung nicht allein innerhalb Brandenburgs vor allem seit dem 16.Jahrhundert unter der Regierungszeit des Kurfürsten Joachims II. anwuchs. 5

2 Erich von Lehe (Bearb.), Das hamburgische Schuldbuch von 1288. Hamburg 1956. 3 Vgl. Herbert Helbig, Gesellschaft und Wirtschaft der Mark Brandenburg im Mittelalter. (Veröffentlichung der Historischen Kommission zu Berlin, 14.) Berlin/New York 1973, 94–98; Winfried Schich/Gerd Heinrich, Land und Städte in Brandenburg und Berlin, in: Evamaria Engel/Lieselott Enders/Gerd Heinrich/ Winfried Schich (Hrsg.), Städtebuch Brandenburg und Berlin. (Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte, 2.) Stuttgart/Berlin/Köln 2000, XXVII– LII, hier XXXIII. 4 Vgl. Sascha Bütow, Die Brandenburgische Binnenschifffahrt auf Klein- und Nebenflüssen im 13. und 14.Jahrhundert, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Prignitz 11, 2011, 5–92, hier 78–84. 5 Vgl. Felix Escher, Berlin-Cölln als Hafen- und Handelsstadt im Mittelalter und der frühen Neuzeit, in: Helmut Engel (Hrsg.), Geschichtswerkstatt Spree-Insel. Historische Topographie, Stadtarchäologie, Stadtentwicklung. Potsdam 1998, 86–98.

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II. Die Planung eines Wasserweges So naheliegend die Vorteile des Wasserweges während der Schiffszeit 6 auch waren, mussten sich die Träger der Binnenschifffahrt doch zunächst einmal die über ihren unmittelbaren Rechtsraum hinausgehenden Privilegien zur Ausübung der Schifffahrt aneignen. Aber auch im eigenen städtischen Weichbild waren mitunter wichtige infrastrukturelle Fragen zu klären, was beispielsweise die Errichtung von Wassermühlen, Wehranlagen oder Fischernetzen anging. Denn durch solche Anlagen innerhalb des Wasserlaufes konnte es nicht selten zu Konflikten mit der Schifffahrt kommen. Neben diesen wichtigen Fragen wurde es unter Umständen nötig, auch in anderer Hinsicht Kontrolle bzw. Macht auf die Flüsse auszuüben, wenn es beispielsweise darum ging, zu verhindern, dass der auf dem Wasser abgewickelte Verkehr vorzeitig stoppte, sich andere Umschlagplätze suchte und somit das eigene städtische Zentrum mied. Im Folgenden soll die Planung eines mittelalterlichen Wasserweges am Beispiel der Stadt Prenzlau in der Uckermark, die im Mittelalter zwischen Brandenburg und Pommern stark umstrittenen war 7, anhand verschiedener Problemfelder genauer nachvollzogen werden. Dabei soll die Frage im Mittelpunkt stehen, unter welchen organisatorischen und infrastrukturellen Bedingungen die Nutzung der bei Prenzlau fließenden Ucker zu Schifffahrtszwecken gewährleistet werden konnte. In diesem Zusammenhang interessieren besonders die rechtlichen wie auch technischen Mittel der Stadt Prenzlau zur Durchsetzung ihrer Interessen. Hinzu kommt, dass durch die folgende Analyse ein „kleiner“ Fluss in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt wird, was innerhalb der binnenschifffahrtsgeschichtlichen Forschung eher zu den Seltenheiten gehört. 8

6 Die Schiffszeit erstreckte sich gewöhnlich etwa von Frühjahr (April/Mai) bis in den Herbst hinein (September/Oktober). Im Hamburgischen Schuldbuch werden demzufolge oft erste Zahlungstermine eines Jahres für die erste Schiffsfahrt nach dem Eisgang bzw. nach dem Winter vereinbart. Ausgedrückt wurde dies durch Begrifflichkeiten wie „in prima reysa“, „cum primis navibus“ oder „ad primam reysam post hyemem“. Vgl. von Lehe (Bearb.), Das hamburgische Schuldbuch (wie Anm.2), 40. Nr.305, 76. Nr.586, 109f. Nr.851. 7 Zum herrschaftspolitischen Hintergrund vgl. Lieselott Enders, Die Uckermark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18.Jahrhundert. (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Potsdam, 28.) Weimar 1992, 104–114. 8 Die bisherige Binnenschifffahrtsforschung ging davon aus, dass insbesondere die kleinen Flüsse aufgrund des enormen „Energiehungers“ seit dem Hochmittelalter und vor allem im Rahmen der Ostsiedlung

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Der zeitliche Rahmen dieser Untersuchung wird sich grob auf den Zeitraum zwischen der zweiten Hälfte des 13. und der zweiten Hälfte des 14.Jahrhunderts konzentrieren. Abschließend sollen die Bemühungen zur Wiederschiffbarmachung der Ucker im 18.Jahrhundert sowie die damit verbundene Wertschätzung der im Mittelalter vorhandenen Planung und Infrastruktur durch die örtliche Geschichtsschreibung zur Sprache kommen.

III. Das Beispiel Prenzlau 1. Zur topografischen und verkehrsgeschichtlichen Lage Prenzlaus Die Stadt Prenzlau liegt inmitten eines moorigen und gewässerreichen Gebietes. Von Bedeutung ist dabei der Umstand, dass sich bei Prenzlau entgegen der ansonsten eher verkehrsungünstigen Verhältnisse in der engeren Umgebung eine Furt über die Ucker befand und sich hier demzufolge mehrere wichtige Verkehrswege kreuzten. Bereits 1237 wird die via regia zwischen Stettin und Prenzlau erwähnt 9, die ihre Fortsetzung in die Mark Brandenburg hinein über Zehdenick sowie Berlin und von dort aus weiter nach Tangermünde bzw. Magdeburg nahm. 10 Die zweite wichtige, über Neubrandenburg und Prenzlau verlaufende Landstraße verband die Hansestadt Rostock mit dem brandenburgischen Schwedt an der Oder. 11 Daneben wird noch eine weitere allerdings erst in der Frühen Neuzeit wohl relevanter werdende

zu den Zwecken der Wassermühlenwirtschaft angestaut und genutzt worden sind. Dies hätte – so die Forschung – dazu geführt, dass die Schifffahrt gerade von den kleinen Flüssen vertrieben worden sei. Vgl. hierzu Detlev Ellmers, Die Rolle der Binnenschiffahrt für die Entstehung der mittelalterlichen Städte, in: Hansjürgen Brachmann/Joachim Herrmann (Hrsg.), Frühgeschichte der europäischen Stadt. Voraussetzungen, Grundlagen. (Schriften zur Ur- und Frühgeschichte, 44.) Berlin 1991, 137–147; ders., Art.„Handelsschif-fahrt“, in: Heinrich Beck u.a. (Hrsg.), Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 13. 2., neu bearb.Aufl. Berlin/New York 1999, 595–609, hier 597. In jüngerer Zeit konnte nachgewiesen werden, dass bei dieser These durchaus landschaftliche und territoriale Unterschiede geltend gemacht werden müssen. Vgl. hierzu Bütow, Brandenburgische Binnenschifffahrt (wie Anm.4), 84–88. 9 Pommersches Urkundenbuch. Bd. 1. Bearb. v. Klaus Conrad. 2., neu bearb.Aufl. Köln/Wien 1970, Nr.348, 419f.: „regie vie versus Premizlawe.“ 10

Zum Verlauf dieser Straße und weiteren Quellennachweisen vgl. Friedrich Bruns/Hugo Weczerka (Be-

arb.), Hansische Handelsstraßen. Textband. (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte, NF., Bd. 13/2.) Weimar 1967, 215f. 11

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Vgl. ebd.613f.

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Straße nach Pasewalk, „östlich der alten Ucker-Niederung“ verlaufend, erwähnt. 12 Sie ermöglichte über Pasewalk hinaus auch eine Verbindung hin zum pommerschen Anklam. Die verkehrsgünstige Lage Prenzlaus war zudem dadurch geprägt, dass sich über den Küstenfluss Ucker eine Verbindung zum Stettiner Haff bot. Nicht grundlos wird daher Herzog Barnim I. von Pommern-Stettin den Ort Prenzlau im Jahr 1234 mit magdeburgischem Recht nebst 300 Hufen beiderseits der Ucker ausgestattet haben. 13 Ihm dürften bei dieser Privilegierung die Vorteile des nahegelegenen Flusses sehr wohl vor Augen gestanden haben. 14 2. Problemfeld I: Schifffahrt und Wassermühlen in Konkurrenz? Bevor jedoch die Schifffahrt für Prenzlau relevant wurde, stand zunächst die Errichtung von Wassermühlen im Vordergrund, die von der bereits erwähnten herzöglichen Urkunde in besonderer Weise berücksichtigt wurde. Sie hielt fest: „adiecimus […] aquam ad molendinorum, quibus carere non poterunt, exstructionem.“ 15 Unmissverständlich wird dadurch die Wichtigkeit der Wassermühlen zum Ausdruck gebracht, ohne die das Wohlergehen der neu gegründeten Stadt Prenzlau offenbar nicht zu gewährleisten war. Gleichwohl damit die auch innerhalb der Forschung betonte fundamentale Bedeutung von Wassermühlen im Mittelalter unterstrichen ist, so steht doch zugleich fest, dass diese die Schifffahrt massiv beeinträchtigten. 16 So war es mitunter nötig, die Mühlenstandorte so zu organisieren, dass diese der Schifffahrt nicht im Wege standen. Solche bewussten Planungen lassen sich 12 Ebd.214f. 13 Vgl. Pommersches Urkundenbuch (wie Anm.9), Bd. 1, Nr.308a, 374–376. 14 Vgl. Heidelore Böcker, Prenzlau in Pommern – Prenzlau und Pommern: Phasen der Kommunikation und Konfrontation bis zum Ausgang des Mittelalters, in: Mitteilungen des Uckermärkischen Geschichtsvereins zu Prenzlau 16, 2010, 26–53, hier 36. 15 „Wir haben hinzugefügt … das Wasser, um Mühlen zu errichten, die sie [die Prenzlauer] nicht werden entbehren können.“ Pommersches Urkundenbuch (wie Anm.9), , Bd. 1, Nr.308a, 375. 16 Aus Sicht der Mühlenforschung vgl. exemplarisch Dietrich Lohrmann, Antrieb von Getreidemühlen, in: Uta Lindgren (Hrsg.), Europäische Technik im Mittelalter 800–1400. Tradition und Innovation. Ein Handbuch. 3.Aufl. Berlin 1998, 221–232, zur „Energiehungerthese“ bes. 229f.; Für die binnenschifffahrtsgeschichtliche Forschung vgl. Helmut Pemsel, Weltgeschichte der Seefahrt. Bd. 1: Geschichte der zivilen Schiffahrt. Von den Anfängen der Seefahrt bis zum Ende des Mittelalters. Wien 2000, 342f.; Detlev Ellmers, Die Archäologie der Binnenschiffahrt in Europa nördlich der Alpen, in: Herbert Jankuhn/Wolfgang Kimmig/Else Ebel (Hrsg.), Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nordeuropa. T.5: Der Verkehr. Verkehrswege, Verkehrsmittel, Organisation. (Abhandlun-

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im mittelalterlichen Brandenburg vielerorts beobachten, so etwa in den Städten Brandenburg an der Havel, Berlin-Cölln oder Perleberg. 17 Auch für Prenzlau lässt sich eine solche Organisation, wenngleich etwas aufwendiger, nachweisen. Dies hängt nicht unwesentlich damit zusammen, dass die Prenzlauer Mühlenstandorte anhand der Ortsangaben in den mittelalterlichen Urkunden kaum zu bestimmen sind, wie bereits der Prenzlauer Stadthistoriker Emil Schwartz in den 1920er Jahren feststellte. 18 Zudem ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sich die Wasserläufe und die Verhältnisse des Wasserstaus in Prenzlau über die Jahrhunderte mehrfach veränderten. 19 Dennoch lässt sich ein ungefähres Bild der mittelalterlichen Verhältnisse rekonstruieren (vgl. Abb.1). Demnach war der durch die Prenzlauer Altstadt fließende Mittelgraben für den Antrieb von Wassermühlen bestimmt. Dem gleichen Zweck diente der aus Boitzenburg kommende und durch die Neustadt verlaufende sogenannte Strom. Der Bereich jenseits der sogenannten Binnenmühle war nicht von Wassermühlen verbaut. Insofern konnte hier die Ucker, die sich an dieser Stelle in Strom und Schnelle aufteilte, mit Schiffen befahren werden. 20 Eine Besonderheit stellt der sogenannte Ravitgraben dar. Er war vermutlich der ursprüngliche Ausfluss der Ucker aus dem Unteruckersee und liegt von allen Wasserläufen am tiefsten. Mühlenstandorte sind hier im Mittelalter nicht überliefert. Aus diesem Grund liegt es nahe, dass sich hier auch Schiffe bewegten. Diese Vermutung wird zusätzlich dadurch gestützt, dass die Stadt Prenzlau, wie noch zu zeigen sein wird, Schifffahrt sowohl auf der Ucker wie auch auf den mit diesem Fluss verbundenen Seen betrieb. lungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse, 3. Folge, 180.) Göttingen 1989, 291–350, zur Verdrängung der Schifffahrt von den kleinen Flüssen, 323. 17

Vgl. Winfried Schich, Die Havel als Wasserstraße im Mittelalter. Brücken, Dämme, Mühlen, Flutrin-

nen, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 45, 1994, 31–55; Sascha Bütow, Kampf um freie Wasserstraßen. Die Binnenschifffahrt im spätmittelalterlichen Brandenburg am Beispiel der Stadt Perleberg in der Prignitz, in: Clemens Bergstedt/Heinz-Dieter Heimann/Knut Kiesant u.a. (Hrsg.), Im Dialog mit Raubrittern und schönen Madonnen. Die Mark Brandenburg im späten Mittelalter. (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, 6.) Berlin 2011, 250–253. 18

Vgl. Emil Schwartz, Das Prenzlauer Mühlenwesen vom Mittelalter bis zur Neuzeit. (Arbeiten des

Uckermärkischen Museums- und Geschichtsvereins zu Prenzlau, 8.) Prenzlau 1923, 12. 19

Vgl. Hans Ulrich Walzer, Ausgrabungen an der „Mühlenpforte“ in Prenzlau. Neue Dendrodaten zur

Frühgeschichte Prenzlaus, in: Mitteilungen des Uckermärkischen Geschichtsvereins zu Prenzlau 10, 2001, 11–22. 20

Vgl. Harry Methling, Schiffahrt auf der Ucker, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 1,

1950, 65–68, hier 67.

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Abbildung 1: Kartengrundlage: Ernst Dobbert, Prenzlaus Straßennamen, in: Mitteilungen des Uckermärkischen Geschichtsvereins zu Prenzlau 2, 1907, 171–172. Bearb. v. Sascha Bütow.

Obwohl der Wassermühlenwirtschaft innerhalb der städtischen Infrastruktur eine hohe Bedeutung zukam, störte sie die Prenzlauer Schifffahrt nicht. Im Gegenteil: Es zeigt sich ein dichtes Nebeneinander beider Arten der Flussnutzung. Dies dürfte auf eine bewusste Organisation des Prenzlauer Rates zurückzuführen sein, da dieser während des Mittelalters einen entscheidenden Einfluss auf den Neubau von Mühlen ausübte. Dies lässt sich exemplarisch anhand einer herzoglich-pommerschen Urkunde aus dem Jahr 1320 nachvollziehen. In ihr haben die Herzöge Otto und Wartislaw den Prenzlauer Bürgern „gelaten vnd gegeuen de Vryheit vnd den eigendum ober all de mölen, dy to der seluen Stat lieghen, vnd [sie] mogen nye molen buwen, so wor id en euen kumt, binnen erer Marke vnd in erer Stadt“. 21 Damit konnte Prenzlau nach eigenem Ermessen die Standorte künftiger Wassermühlen innerhalb des städtischen Zugriffsraumes bestimmen. Zudem unterstreicht die Urkunde 21 Adolph Friedrich Riedel (Bearb.), Codex diplomaticus Brandenburgensis, Rh.A, Bd. 21. Berlin 1861, Nr. XLIV, 121.

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die bedeutende herrschaftliche Stellung der Stadt, die hier ein Recht wahrnahm, das ursprünglich allein dem Reichsoberhaupt bzw. im Rahmen der Fürstenprivilegierungen Kaiser Friedrichs II. später den Landesherren zustand. 22 In diesem Sinne spiegeln sich in der von Prenzlau durchgeführten Wasserwege- und Mühlenbauplanung die zu dieser Zeit dominierenden herrschaftsrechtlichen Verhältnisse. So beabsichtigten die pommerschen Herzöge zweifellos durch ihre umfangreiche Privilegierung, die auch den Mühlenbau und damit die städtische Infrastruktur betraf, für die einst von ihnen gegründete Stadt Prenzlau genug Anreize zu bieten, sie nach dem Aussterben der brandenburgischen Askanier 1319/20 als neue Landesherrn anzuerkennen. 23 3. Problemfeld II: Fremde Wassermühlen Außerhalb des städtischen Zugriffsraumes verhielten sich die Dinge allerdings anders. Hier stieß die Stadt Prenzlau mit ihrer Schifffahrt auf konkurrierende Ansprüche. Denn die Ucker und ihre Nebenflüsse dienten auch oberhalb von Prenzlau verschiedentlich dem Antrieb von Mühlen. 24 Wollte Prenzlau hier Schifffahrt betreiben, so musste die Stadt entsprechenden Einfluss auf einen Teil dieser Wassermühlen erlangen. Konkret betraf dieses Bemühen die Wassermühlen in Nieden, einem Ort unweit von Prenzlau, und in Pasewalk. Beide Orte wurden von den Prenzlauer Schiffen passiert (vgl. Abb.2). Denn deren Ziel lag in der „terra Pazewalck“, wo die Prenzlauer in der Torgelower Heide Holz und Kohle gewannen und über die Ucker „absque Ungeldo“ (= ohne Abgaben) nach Hause verschifften, wie ein entsprechendes Privileg der Markgrafen Otto und Konrad aus dem Jahr 1282 deutlich macht. 25 Diese Rechte, an denen Prenzlau von keinem markgräflichen Gefolgsmann

22

Ludwig Weiland (Hrsg.), Legum Sectio IV. Constitutiones et acta publicum imperatorum. Tomus 1.

Inde ab DCCCCXI. usque ad MCXCVII. (MGH Const., 1.) Hannover 1893, Nr.175, 244f.: „Hec itaque regalia esse dicitur: […] molendina.“ 23

Dieses große Entgegenkommen der pommerschen Herzöge gegenüber der Stadt Prenzlau spricht

auch an Winfried Schich, Prenzlau von der Stadtwerdung bis zum Ende der Askanierherrschaft (von der zweiten Hälfte des 12.Jahrhunderts bis 1320), in: Klaus Neitmann/Winfried Schich (Hrsg.), Geschichte der Stadt Prenzlau. (Einzelveröffentlichungen der brandenburgischen Historischen Kommission, 16.) Horb am Neckar 2009, 27–62, hier 49. 24

Seit dem Mittelalter ist z.B. eine Mühle auf dem Fluss Quillow überliefert, der sich nördlich von Prenz-

lau mit der Ucker vereinigt. Zur Geschichte dieser Mühlenstätte vgl. Ute Blich, Zur Geschichte der Dochower Mühle, in: Mitteilungen des Uckermärkischen Geschichtsvereins zu Prenzlau 13, 2006, 84–94. 25

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Codex Diplomaticus Brandenburgensis (wie Anm.21), Rh.A, Bd. 21, Nr. IX, 95.

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Abbildung 2: Flüsse und Wasserwege im Herzogtum Pommern. Bearb. v. Sascha Bütow.

gehindert werden durfte 26, übte die Stadt sehr wahrscheinlich bereits unmittelbar nach der brandenburgischen Inbesitznahme der Uckermark im Zuge des Vertrages von Hohen Landin 1250 aus. 27 Zu dieser Zeit waren vermutlich auch bereits die nötigen technischen Anlagen vorhanden, mit deren Hilfe die Wassermühlen in Nieden und in Pasewalk umgangen werden konnten. Worum es sich dabei genau handelte, wird abermals anhand der markgräflichen Urkunde aus dem Jahr 1282 ersichtlich. Demnach wird ein „aqueductus in Nedam, nominatus teuthonice eine Vlüt26 „Nec advocatus, Officiales aut nuncii nostri impedient in eisdem.“ Ebd.95. 27 Aus dem Jahr 1251 stammt eine Urkunde des brandenburgischen Markgrafen Johann I., in der er der Stadt Prenzlau Folgendes zubilligt: „Ligna qvoque suis necessitatibus oportuna Secare licenter et afferre poterunt ubicunque in partibus illis attingere ea possunt.“ Codex Diplomaticus Brandenburgensis (wie Anm. 21), Rh.A, Bd. 21, Nr. III, 89. Die Örtlichkeit, an der dieser Holzeinschlag stattfand, bleibt im Urkundentext verborgen. Erst die unter Anm.25 zitierte Urkunde aus dem Jahr 1282 gibt genauer die „terra Pazewalck“

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renne“ und ein ähnlicher „aqueductus in Pasewalck“ erwähnt. 28 Diese „Flutrinnen“ waren wohl vergleichsweise junge Konstruktionen, was sich daraus erklärt, dass der Urkundenschreiber eine deutsche Begrifflichkeit bei der Beschreibung der Anlage zur Hilfe nimmt. 29 Offenbar vermochte der lateinische Begriff aquaeductus die Konstruktion nicht hinreichend zu umschreiben. Gleichwohl bot sie die nötigen Voraussetzungen dafür, die Mühlenstaue auf der Ucker mit Schiffen zu umgehen. Diese wasserbaulichen Anlagen hatten denn auch für die Stadt Prenzlau eine hohe Bedeutung, die sich vor allem in der diesbezüglichen rechtlichen Ausgestaltung niederschlug. So wurde festgehalten, dass die Mühlenbesitzer verpflichtet waren, ihre jeweilige Flutrinne instand zu setzen, „wenn die Prenzlauer beschließen werden, dieselbe zu reparieren“. 30 Zur Durchführung dieser wohl häufiger erforderlichen Baumaßnahmen durften die Mühlenbesitzer von den Schiffern, die die Flutrinnen passierten, Gelder einnehmen. Diese Bestimmungen zeigen deutlich ein hohes Maß an organisatorischer Tätigkeit zur Umsetzung der Schifffahrt auf der Ucker. Dabei liefen alle Fäden bei der Stadt Prenzlau zusammen. Diese überwachte den Zustand der Flutrinnen, initiierte im Bedarfsfall deren Reparatur und ließ sich deren Besitz auch später bestätigen. 31 Demzufolge lagen die Sicherheit des Schifffahrtsweges und die garantierte Befahrung der Flutrinnen im Interesse der städtischen Politik. In diesem Sinne waren die technischen Möglichkeiten der Flutrinne und die mit ihr verbundenen rechtlichen Bestimmungen wichtige Maßnahmen zur Durchsetzung der Uckerschifffahrt. Verdinglicht und damit für jeden Nutzer sichtbar wurden diese infrastrukturelle Planung und Einflussnahme auf den Uckerfluss in Gestalt der an den

an, wobei sich der laufende Urkundentext auf die Rechtszustände zurückbezieht, die zur Zeit des verstorbenen Markgrafen Johann I. herrschten. Aus diesem Grund ist es sehr wahrscheinlich, dass sich auch die 1251 ausgestellte Urkunde auf die „terra Pazewalck“ bezog. Diese Vermutung liegt auch aus dem Grund sehr nahe, da Markgraf Johann durch den Vertrag von Hohen Landin auch das Land zwischen den Flüssen Randow und Löcknitz zugesprochen bekam, also auf ein Gebiet zurückgriff, dass auch die Torgelower Heide umfasste. Zu den Herrschaftsverhältnissen unter Berücksichtigung der Stadt Prenzlau vgl. jüngst: Heidelore Böcker, Prenzlau unter wechselnden Dynastien (1320–1500), in: Neitmann/Schich (Hrsg.), Geschichte der Stadt Prenzlau (wie Anm.23), 63–97. 28

Codex Diplomaticus Brandenburgensis (wie Anm.21), Rh.A, Bd. 21, Nr. IX, 95.

29

Zu diesem Sachverhalt vgl. auch Schich, Die Havel als Wasserstraße (wie Anm.17), 46f.

30

„… si prefati Burgenses [die Prenzlauer, S.B.] ipsum reparare decreverint“. Codex Diplomaticus Bran-

denburgensis (wie Anm.21), Rh.A, Bd. 21, Nr. IX, 95. 31

150

Vgl. ebd.Nr. XLIV, 121 u. Nr. XLVIII, 124.

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Flutrinnen zu erbringenden Geldzahlungen. Diese finanziellen Abgaben sind daher nicht nur als Instrumente zur Umsetzung nötiger Reparaturen, sondern auch als machtvolle Instrumente zur Einhaltung und Gewährleistung der von der Stadt Prenzlau angestrebten Wasserwegeplanung zu verstehen. 4. Problemfeld III: Ausschalten eines Konkurrenten Ähnliche Bemühungen sind auch in einer anderen Hinsicht zu beobachten. So konnte der Ort Nieden der Prenzlauer Schifffahrt nicht nur aufgrund der dortigen Wassermühle gefährlich werden. Vielmehr bot sich hier ähnlich wie in Prenzlau die Möglichkeit, die Ucker zu überqueren. Insofern konnte der einstige Burgort Nieden auch diesbezüglich für Prenzlau eine ernstzunehmende Konkurrenz darstellen. Dies jedenfalls mussten die Stadtväter deutlich erkannt haben. Denn die schon erwähnte herzögliche Urkunde aus dem Jahr 1320 hielt unmissverständlich fest, dass „tuschen Premlslow vnd Pasewalck[…] nen weg mer gan [soll] ouer de Ukere“. 32 Demnach war beabsichtigt worden, den Landverkehr ausschließlich über Prenzlau bzw. Pasewalk zu lenken. Diese Bestimmung wirkte sich auch auf den Schiffsverkehr der Ucker aus. Hinzu trat nämlich, dass der Umschlag vom Land- zum Wassertransport allein in Pasewalk und Prenzlau stattfinden sollte. Entsprechend gibt die Urkunde zum Ausdruck: „Vortmer en schal niman inschepen oder utschepen in der Ukere tuschen Premlslow vnd Pasewalck mer de Stede bwyde.“ 33 Hierin spiegelt sich deutlich das Bemühen Prenzlaus wider, jedwede nahe gelegene Konkurrenz der eigenen Handels- und Verkehrsinteressen auszuschalten und den Land- wie auch Wasserverkehr von sich abhängig zu machen. Für die Schifffahrt auf der Ucker waren die mit der 1320 ausgestellten Urkunde einhergehenden Privilegien zu Ungunsten des Ortes Nieden von zentraler Bedeutung. Es zeigt sich einerseits, dass die Wasserwegeplanung in einer ganz spezifischen Weise die Schifffahrt auf der Ucker zu gestalten suchte, nämlich so, dass sie dem eigenen städtischen Markt diente. Andererseits lässt sich auch ein bewusstes Ausschließen konkurrierender Interessen beobachten, das jeden möglichen Umschlagplatz am Ufer zwischen Prenzlau und Pasewalk von vornherein verhindert wissen wollte. Die Möglichkeiten Niedens wurden dadurch enorm gehemmt. 34

32 Ebd.Nr. XLIV, 121. 33 Ebd. 34 Ein starkes Interesse der Stadt Prenzlau am Ort Nieden lässt sich auch an anderer Stelle beobachten.

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5. Problemfeld IV: Die Steigerung der Attraktivität der Uckerschifffahrt Während die Privilegien der brandenburgischen Askanier zugunsten der Prenzlauer Uckerschifffahrt die Holzgewinnung in der „terra Pazewalck“ erwähnen, lässt sich nach dem Übergang der Stadt an das Herzogtum Pommern eine weitere Attraktivitätssteigerung beobachten. Demnach endeten die Interessen der Prenzlauer nicht in der Torgelower Heide, sondern gingen weit darüber hinaus. Der Stadt Prenzlau war offenbar sehr daran gelegen, ihre Schifffahrt bis in das Stettiner Haff auszudehnen. Damit waren die Bemühungen auf Ückermünde und den dortigen Ausfluss der Ucker in das Stettiner Haff gerichtet (vgl. Abb.2). Hier war ein wichtiger Umschlagplatz zwischen Binnen- und Hochseeschiffen gegeben, an den auch Prenzlau Anschluss gewinnen wollte. 35 Ückermünde bildete wohl zudem den wichtigsten Absatzort der Stadt Prenzlau für ihr „Korn vnd ere Kopenschap“. Zu den Hauptabnehmern der Prenzlauer Handelsartikel, die ihren Weg über die Ucker nahmen, zählten u.a. Stettiner und Lübecker Kaufleute. Gerade die Lübecker Händler genossen seit dem 13.Jahrhundert Privilegien, die ihnen den Einkauf von Getreide in Pommern zubilligten. In diesem Sinne gelangten wohl auch die argarischen Produkte aus Prenzlau in den Lübecker Handel. 36 Dies wiederum unterstreicht die Bedeutung der Ucker als Schifffahrtsweg insofern, als er es seefahrenden Kaufleuten wie denjenigen aus Lübeck ermöglichte, bereits in Ückermünde und nicht zwangsläufig in Stettin Getreide und andere Handelswaren einzukaufen. Vor diesem Hintergrund konnte die Ucker prinzipiell dazu genutzt werden, den Handel an der aufstrebenden pommerschen Stadt Stettin vorbei zu betreiben. 37 Aus Sicht der Oderstadt, die beabsichtigte, den Getreidehandel von sich abhängig zu machen, sollte diese Gefahr dauSo billigten die pommerschen Herzöge den Prenzlauern zu: „das hus to Nedam dat schal in stan na allen Sönen to der Borger handt.“ Codex Diplomaticus Brandenburgensis (wie Anm.21), Rh.A, Bd. 21, Nr. XLIV, 121. Damit stand die in Nieden befindliche Burg den Prenzlauer Bürgern etwa im Rahmen militärischer Auseinandersetzungen stets offen. Auch das Interesse an der Niedener Wassermühle verlor Prenzlau nicht aus den Augen. So erwarb die Stadt gemeinsam mit Pasewalk die Wassermühle bei Nieden „by der Vker“ im Jahr 1422. Ebd.Nr. CCCLXXV, 417. 35 Vgl. Benedykt Zientara/Evamaria Engel, Feudalstruktur, Lehnbürgertum und Fernhandel im spätmittelalterlichen Brandenburg. (Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte, 7.) Weimar 1967, 255–273. 36

Vgl. ebd.262.

37

Zur hervorgehobenen Stellung Stettins vgl. Walter Kehn, Der Handel im Oderraum im 13. und

14.Jahrhundert. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, 16.) Köln/Graz 1968, 194–197; ebenso Horst Wernicke, Die Hansestädte an der Oder – ein Vergleich: Stettin (Szczecin) – Frankfurt – Breslau (Wrocław), in: Karl Schlögel/Beata Halicka (Hrsg.), Oder – Odra. Blicke auf einen europäischen Strom. Frankfurt am Main u.a. 2007, 137–148.

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erhaft gebannt werden. In diesem Zusammenhang erwirkte Stettin von Herzog Otto I. von Pommern-Stettin im Jahr 1312 ein Privileg, das die Verladung von Getreide und Mehl zwischen Stettin und Ückermünde untersagte: „[…] inter dictam civitatem Stetyn et oppidum Ukermunde nusquam in Odera vel in Iasniz aut in recenti mari annona sive farina aliqua debet innavari, quod schepen vulgari vocabulo nuncupatur“. 38 Darin war auch die Uckerschifffahrt einbezogen. Das von dem Verbot betroffene Getreide und das Mehl durften einzig nach Stettin hin ausgeführt werden. 39 Eine ähnliche Bestimmung betraf das zwischen Stettin und Altdamm verladene Brennholz sowie die hier verschiffte Holzkohle. 40 Obwohl damit eine gezielte Lenkung und beabsichtigte Wegeplanung der betroffenen Handelsgüter auf Stettin hin zu beobachten ist, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass dies auch in allen Fällen eingehalten worden ist. Demgegenüber belegen gerade die Prenzlauer Urkunden der Jahre 1320 und 1321 auf den Wasserweg gestützte alternative Interessen und Handelsrichtungen. So wurde den Prenzlauer Bürgern von Seiten des dänischen Königs Christoph II. auch das Recht zuteil, ihre Waren zollfrei nach „dennemarken“ mit Ausnahme von Schonen (Sconorn) und Falsterbo (Valsterbode) auszuführen. 41 Auch wenn sich von dieser deutlich über Ückermünde hinausgehenden Schifffahrt keine weiteren Hinweise feststellen lassen und das Privileg schon ein Jahr später keinerlei Erwähnung mehr findet, so blieben der Stadt Prenzlau immer noch wichtige Rechte innerhalb Pommerns. Demnach mochten deren Bürger ihre Handelswaren „vry vtfören, wor se willen, to watere vnd to lande“. Die Abwicklung dieses Handelsverkehrs wurde jedoch erst durch die freie Benutzung und die Offenhaltung der Ucker ermöglicht. Die pommerschen Herzöge versprachen dementsprechend: „vnde de Vkere scolen wy vryen den Borgern vnde Gesten bis in dat Haff“. 42 Allerdings, so gibt die Urkunde weiter zu erkennen, reichten diese rechtlichen Zugeständnisse allein nicht aus. Die nötigen technischen Voraussetzungen dieser Schifffahrt wurden – wie bereits erwähnt – durch die Flutrinnen in Nieden und Pasewalk geschaffen. In dieser Hinsicht wurde der uckermärkischen Stadt herzoglicherseits auch der Besitz einer „Vlutarken twischen 38 Pommersches Urkundenbuch. Bd. 5. Bearb. v. Otto Heinemann. Stettin 1905, Nr.2720, 46. 39 „nisi forte ad eandem civitatem Stetyn talis annona vel farina fuerit devehenda“ Ebd.46. 40 Ebd.49. 41 „Vortmer scolen die Borgere tollen vry wesen in dennemarken, Sunder to Sconorn vndt to Valsterbode“. Codex Diplomaticus Brandenburgensis (wie Anm.21), Rh.A, Bd. 21, Nr. XLIV, 121. 42 Ebd.Nr. XLVIII, 125.

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Premsslow vnde Pasewalck“ bestätigt. 43 Für den Fall der Baufälligkeit und Wiederinstandsetzung dieser Anlage wurde den Prenzlauern abermals zugesichert, dass sie „holthawen“ dürfen „in der Heyde to Torgelow“. 44 Vor diesem Hintergrund lassen sich deutlich die Spuren dieser zwischen Prenzlau und Ückermünde verlaufenden mittelalterlichen Wasserwegeplanung fassen. 6. Problemfeld V: Schifffahrt unter allen Umständen Die Planungstätigkeiten machten auch vor dem Mittel der Urkundenfälschung keinen Halt. Dies beweist die Prenzlauer Schifffahrt auf dem anderen, in Richtung der Markgrafschaft Brandenburg führenden Abschnitt der Ucker. Eine als Fälschung identifizierte 45 und angeblich in das Jahr 1324 datierte Urkunde des brandenburgischen Markgrafen Ludwig des Älteren billigt den Prenzlauern „unum liberum transitum Pramorum et Vazelorum intra Primpslaw et Stegelitze“ zu. 46 Auffällig ist, dass an dieser Stelle der Ort Stegelitz in der Nähe des Oberuckersees als Ziel der Schifffahrt genannt wird. Dieser gut 30 km südlich von Prenzlau gelegene Ort konnte über den Unterucker-, den Möllen- und den Oberuckersee, die die Ucker allesamt durchfließt, erreicht werden. Die Fahrt wurde offenbar in erster Linie mit kleineren Schiffen (Vazelorum) und Prahmen (Pramorum) 47 bewerkstelligt, was besondere Beachtung verdient, da hier der seltene Fall gegeben ist, dass die auf den brandenburgischen Flüssen verkehrenden Schiffstypen erwähnt werden. Die Frage, weshalb die Prenzlauer Schiffe den Oberuckersee anpeilten, wird von der gefälschten Urkunde ebenfalls geklärt. Demnach spricht die Urkunde von „nostra merica, que teutonice dicitur die Werbelinische Heyde“ als Zielpunkt der Prenzlau-

43

Ebd.124.

44

Ebd.

45

Bezüglich der Fälschung vgl. Hermann Bier, Märkische Siegel. Abt.1: Die Siegel der Markgrafen und

Kurfürsten von Brandenburg. T.2: Die Siegel der Markgrafen von Brandenburg aus dem Hause Wittelsbach. 1323–1373. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin, 6.) Berlin 1933, 127f. 46

Codex Diplomaticus Brandenburgensis (wie Anm.21), Rh.A, Bd. 21, Nr. LXI, 134.

47

Prahme waren breite und flache Boote mit sehr geringem Tiefgang. Durch ihre besondere Bauform,

die sich durch einen breiten Plattboden und niedrige Seiten auszeichnete, waren sie besonders dazu geeignet, auch flache Gewässer zu befahren. Mittels dieser Eigenschaft kamen die Prahme auch beim Warenumschlag zwischen großen Hochseeschiffen und dem Land zum Einsatz. Vgl. Detelv Ellmers, Art.„Prahm“, in: Heinrich Beck u.a. (Hrsg.), Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 23. 2., neu bearb.Aufl. Berlin/New York 2003, 363–367.

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er Interessen. 48 So wurde der Stadt zugebilligt, hier Holz zu schlagen und es zum Zweck eigener Bauvorhaben abzutransportieren. Keine markgräflichen Gefolgsleute durften die Stadt daran hindern. 49 Mit diesen Bestimmungen verwies die gefälschte Urkunde auf frühere bereits durch die Stadt Prenzlau ausgeübte Rechte. Diese finden ihren ältesten Ursprung bereits in den vom brandenburgischen Markgraf Johann I. ausgestellten Privilegien für Prenzlau aus dem Jahr 1251. Hierunter fielen auch der Besitz des Unteruckersees sowie die Hälfte des Möllensees zum Nutzen Prenzlaus. Damit hatte die Stadt ihren Einfluss uckeraufwärts entscheidend ausbauen können. Zugleich war damit die Aufmerksamkeit auf einen Raum gerichtet, der für die künftigen Absichten Prenzlaus besonders relevant werden sollte. Denn die Stadt erhielt von Markgraf Woldemar 1316 aufgrund bisher nicht gezahlter Schulden anteilige Holzrechte „in nostro vkerensi nemore“ zeitweilig für 6 Jahre zugebilligt. 50 Eine ähnliche Entscheidung traf der Markgraf 1319, indem er Prenzlau nunmehr für 10 Jahre („per decem annos“) die Holzrechte „in nostro Ukerensi nemore“ gegen eine Schuldenlast von „centum marcis argenti Brandenburgensis“ einräumte. 51 Benedykt Zientara vermutete, dass die Begrifflichkeit „Ukerensi nemore“ auf die Ückermünder Heide schließen lässt, wo die Prenzlauer uckerabwärts das entsprechende Holz schlugen. 52 Tatsächlich jedoch dürfte das Gegenteil der Fall und damit wohl eher der uckeraufwärts liegende sowie stark „urwaldähnliche“ und von Sümpfen durchzogene „Uckersche Wald“ gemeint gewesen sein. 53 Dieses in der südlichen Uckermark befindliche Waldgebiet wurde seit der zweiten Hälfte des 13.Jahrhunderts Teil umfänglicher Rodungs- und Kolonisierungstätigkeiten. 54 Das bedeutsame Waldgebiet erstreckte sich von Mecklenburg über die Orte „Boitzenburg, Gerswalde und Fredenwalde, mit vielen Seitenzweigen

48 Ebd.134. 49 „nostro et nostrorum omnium fidelium Vasallorum et Officialium sine impendimento“. Ebd. 50 „per sex annos“. Codex Diplomaticus Brandenburgensis (wie Anm.21), Rh.A, Bd. 21, Nr. XXXVII, 115. 51 Hermann Krabbo (Hrsg.), Ungedruckte Urkunden der Markgrafen von Brandenburg aus askanischem Hause, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 25/1, 1912, 1–27, hier Nr.19, 26. 52 Vgl. Zientara/Engel, Feudalstruktur (wie Anm.35), 259. 53 Werner Lippert, Die Flurnamen der Uckermark. (Beiträge zur deutschen Philologie, 8.) Gießen 1970, 217. 54 Vgl. Wolfgang Schauer, Untersuchungen zur Waldflächenveränderung im Bereich des Großblattes Templin-Schwedt-Freienwalde bis zur Mitte des 18.Jahrhunderts, in: Archiv für Forstwesen 15, 1966, 3–25, 17.

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über die hiesige Gegend bis zur Oder“. 55 Die Nennung dieser Ortschaften richtet den Blick wiederum auf das in unmittelbarer Nähe gelegene Dorf Stegelitz beim Oberuckersee, das in der bereits oben erwähnten, gefälschten Prenzlauer Urkunde auftaucht. Es ist davon auszugehen, dass Prenzlau durch die Urkundenfälschung sein zeitweilig ausgeübtes Holzrecht im Uckerwald dauerhaft fixieren und nutzbar machen wollte. Dabei überrascht es nicht, wenn in der Fälschung streng genommen nur die Werbelliner Heide Erwähnung findet. Dieses ebenfalls bedeutsame Wald- und Jagdgebiet wurde grob durch die Orte Liebenwalde, Zehdenick und Grimnitz begrenzt und schloss damit an den „Uckerschen Wolt“ an. Es ist durchaus denkbar, dass die Prenzlauer beide Waldgebiete als ein geschlossenes betrachteten und es bei der Urkundenfälschung nicht sehr genau nahmen. Dessen ungeachtet ist ohnehin der genannte Schiffsverkehr zwischen Prenzlau und Stegelitz entscheidend. Dieser verweist nämlich eindeutig auf die Holzinteressen der Prenzlauer im Uckerschen Wald, der in unmittelbarer Nähe des Dorfes Stegelitz lag. Inwieweit die Prenzlauer Bürger auch die Werbelliner Heide besuchten, ist nicht mit Gewissheit zu klären. Immerhin lag sie bereits inmitten des Barnim, was eine große Entfernung zum Oberuckersee und damit auch zur Stadt Prenzlau bedeutete. Zur Gewinnung des dortigen Holzes wäre auf jeden Fall ein kombinierter Transport zwischen Land- und Wasserfahrzeugen nötig gewesen, über den sich in den vorhandenen Urkunden aber keinerlei Belege finden lassen. Demgegenüber spricht einiges dafür, dass von den Prenzlauern eher der Uckerwald anvisiert worden ist, von wo sich auch eine bequeme Verbindung über die Ucker und deren Seen nach Prenzlau ergab. Insgesamt betrachtet, ergibt sich ein recht deutliches Bild davon, wie vielfältig eine mittelalterliche Wasserwegeplanung ausfallen konnte. In jedem Fall waren dazu Privilegien nötig, die entsprechende Nutzungsrechte an den Flüssen garantierten. Hierzu war vielfach eine Rückbindung an die jeweilige Landesherrschaft erforderlich. Wie das Beispiel Prenzlau deutlich werden lässt, konnten solche Rechte aber auch aus eigener Kraft im Bedarfsfall durch Fälschungen generiert werden, was die hohe Bedeutung der Schifffahrt und deren Wertschätzung unterstreicht. Nicht zuletzt durch diese Fälschungstätigkeiten lässt sich unter Einbezug der anderen für Prenzlau herangezogenen binnenschifffahrtsgeschichtlichen Quellen ein auf den

55

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Karl Friedrich Ferdinand Lösener, Chronik der Kreisstadt Neu-Angermünde. Schwedt 1846, 31.

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Verlauf der Ucker fußender Schiffsverkehr rekonstruieren, der von Stegelitz am Oberuckersee bis zur Einmündung dieses Flusses ins Stettiner Haff bei Ückermünde reichte. An dieser Wegstrecke verlor der Prenzlauer Rat auch in der zweiten Hälfte des 14.Jahrhunderts keineswegs sein Interesse. Dies zeigt sich z.B. vor dem Hintergrund der Ereignisse um den falschen Markgrafen Waldemar der Jahre 1348 bis 1350 in der Mark Brandenburg. 56 Um sich ihre Unterstützung zu sichern, hatte dieser nämlich verschiedene brandenburgische Städte recht umfänglich mit Privilegien beschenkt. Hiervon war auch die uckermärkische Stadt Prenzlau betroffen. In einer 1348 von Waldemar ausgestellten Urkunde wurde indirekt auch die Prenzlauer Schifffahrt berührt. So versprach der Markgraf, dass die „Borgere alles tolles vry wesen to Pasewalck vnd to der Locnitz“. 57 Während das zuletzt genannte Löcknitz „tu Lande“ angelaufen wurde, um von dort weiter nach Stettin zu kommen, ist das Zollprivileg in Pasewalk wohl vor allem auf das „water“ und damit auf die Ucker zu beziehen. 58 Die Zollfreiheit in diesen beiden Orten wurde im Übrigen auch von dem späteren brandenburgischen Markgrafen, dem römisch-deutschen König Karl IV., 1351 auf Bitten des vom Rat entsandten Bürgers Hartwig Cremer nochmals bestätigt. 59 7. Zeitliche Begrenzung von Infrastrukturen Mit den beiden zuletzt genannten Quellen verflüchtigen sich auch allmählich die Nachrichten über die von Prenzlau betriebene Schifffahrt auf der Ucker in Richtung des Stettiner Haffs. Zwar befuhren auch im 16.Jahrhundert nach wie vor Kähne den Fluss und die südlich von Prenzlau liegenden Seen, jedoch geschah dies vorrangig zum Zweck der Fischerei. 60 So wird man behaupten dürfen, dass sich die Haupt-

56 Zu den Hintergründen dieses zeitweilig gegen die Ansprüche der bayerischen Wittelsbacher konkurrierenden Markgrafen vgl. jüngst Heinz-Dieter Heimann, Unter den Kronensammlern. Die Mark Brandenburg im Herrschaftsgefüge der Dynastien der Wittelsbacher und Luxemburger, in: Bergstedt/Heimann/ Kiesant u.a. (Hrsg.), Im Dialog (wie Anm.17), 50–62, hier 54; vgl. ferner Jan Winkelmann, Die Mark Brandenburg des 14.Jahrhunderts. Markgräfliche Herrschaft zwischen räumlicher „Ferne“ und politischer „Krise“. (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, 5.) Berlin 2011, 71–75. 57 Codex Diplomaticus Brandenburgensis (wie Anm.21), Rh.A, Bd. 21, Nr. XCIX, 163. 58 Ebd. 59 Ebd.Nr. CVI, 169. 60 Eine auf die Quellen gestützte Studie der Prenzlauer Fischerei liefert Ernst Dobbert, Die Prenzlauer Fischereiverhältnisse und das Fischergewerk zu Prenzlau, in: Archiv für Fischereigeschichte 4, 1914, 123– 170.

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phase des Schiffsverkehrs auf der Ucker größtenteils auf den bereits eingangs erwähnten Zeitraum von der Mitte des 13. bis zur Mitte des 14.Jahrhunderts konzentriert hat. Die Gründe, die in der Übergangszeit vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit zur Aufgabe dieses für das mittelalterliche Prenzlau so wichtigen Verkehrsweges führten, sind nicht monokausal zu erklären. Dies zeigt sich vor allem an der Begründung des Prenzlauer Rates selbst, die er einem kurbrandenburgischen Gesandten gab, als sich jener 1682 nach der Schifffahrt auf der Ucker erkundigte. 61 Der Rat gab zu verstehen, dass diese Schifffahrt bereits seit mehr als 200 Jahren nicht ausgeübt worden sei, was zu der Annahme führt, dass die Uckerschifffahrt während der Mitte des 15.Jahrhunderts nach und nach zum Erliegen gekommen sein muss. Die Gründe dafür sind vielfältig. Der Prenzlauer Rat selbst führte die inzwischen zahlreich im Fluss installierten Wehre an, die insbesondere dem Aalfang dienten. Zudem war die Ucker stark verkrautet und nur mangelhaft geräumt, so dass es kaum mehr möglich war, darauf mit Schiffen zu verkehren. Außerdem wurde festgestellt, dass die alte Flutarche in Pasewalk nicht mehr vorhanden war und sich an ihrer Stelle nunmehr ein Aalkasten befand. Erst ab Pasewalk stellten sich die Verhältnisse etwas besser dar. Ende des 18.Jahrhunderts fiel der Befund ganz ähnlich aus, wie der Pasewalker Bürgermeister Ruhedorff in einem Schreiben zum Ausdruck brachte: „Verschiedene an diesen Fluß [die Ucker, S.B.] stossende Amtsdörffer und neuerlich angelegte kleine Holländereyen 62 haben durch Verzäunungen und Zustellung des Flusses aus Eigennutz des kleinen Vortheils von Fischen den Ablauf des Wassers mehr und mehr gehemmt, ihren eigenen, den Städtschen und oberwärts in der Uckermarck liegenden Uckerwiesen, besonders in nassen Jahren beständige Ueberschwemmungen zugezogen.“ 63 Anhand dieser Äußerungen bezüglich des Zustandes des Uckerflusses zeigt sich deutlich, dass inzwischen die nötigen infrastrukturellen Voraussetzungen zur Durchführung der Schifffahrt verloren gegangen waren. Hinzu kommt auch der Umstand, dass Prenzlau während des 15.Jahrhunderts immer stärker in die Mark Brandenburg eingebunden worden ist, so dass es nun eine Grenzstadt nach Pommern hin 61

Die Korrespondenz ist überliefert bei Johann Samuel Seckt, Versuch einer Geschichte der Uckermärki-

schen Hauptstadt Prenzlau. T.2. Prenzlau 1787, 116f. 62

Der Begriff Holländerei, eigentlich Hauländer Wirtschaft, bezeichnete ein Landgut bzw. Grundstück,

das gegen einen jährlichen Zins als Eigentum zu erwerben war. Vgl. Heinrich August Pierer (Hrsg.), Pierers Konversations-Lexikon. Bd. 8. 4., umgearb. u. stark verm.Aufl. Altenburg 1859, 479. 63

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Seckt, Versuch einer Geschichte (wie Anm. 61), 194.

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bildete. 64 Diese herrschaftsrechtliche Entwicklung führte zu einer allmählichen Trennung von der Stadt Pasewalk, mit der durchaus eine gemeinsame Wasserwegepolitik betrieben und organisiert worden war. 65 Insofern ist deutlich erkennbar, wie sehr der Wandel innerhalb der herrschaftlichen Verhältnisse auf die Ausgestaltung der Verkehrswege und die Infrastruktur einwirkte. Ein weiteres Argument, das im 18.Jahrhundert gegen die Uckerschifffahrt erhoben worden ist, wird von Seckt zitiert. Demnach sah er einen „Haupteinwurf“ gegen die Wiederschiffbarmachung darin begründet, dass „Stettin […] dadurch zu sehr leiden [würde]“. 66 Damit kam ein Problem zur Sprache, das bereits im Mittelalter zu Auseinandersetzungen führte. 8. Wiederaneignungsversuche – ideelle Langzeitwirkungen mittelalterlicher Wasserinfrastrukturen Trotz des offenkundigen Rückganges der Uckerschifffahrt seit dem ausgehenden Mittelalter kam es in den folgenden Jahrhunderten zu gelegentlichen Initiativen,

64 Vgl. Böcker, Prenzlau unter wechselnden Dynastien (wie Anm.27), 84–87. 65 Zumindest für den zwischen Pasewalk und dem Stettiner Haff befindlichen Teil der Ucker ist davon auszugehen, dass beide Städte in Eintracht handelten. Dies zeigt sich sehr deutlich in den bereits angeführten herzoglich-pommerschen Privilegien des Jahres 1320. In jeweiligen Urkunden, die beide am gleichen Tag in Pasewalk ausgestellt worden waren, erhielten sowohl Prenzlau als auch Pasewalk dieselben Flussund Schifffahrtsprivilegien von den Herzögen Otto und Wartislaw im Namen des dänischen Königs Christoph II. verliehen. Das übereinstimmende Datum, der gleiche Ausstellungsort wie auch der ähnlich klingende Wortlaut beider Urkunden lassen vermuten, dass sich Prenzlau und Pasewalk in ihrem Auftreten gegenüber den pommerschen Herzögen und bezüglich ihrer Interessen miteinander abstimmten. Ähnliches ist im Falle der ebenfalls schon erwähnten Prenzlauer Urkunde vom 24.August 1321 zu beobachten. Nur einen Tag später erhielt auch die Stadt Pasewalk in einer gleichlautenden herzoglichen Urkunde dieselben Fluss- und Schifffahrtsrechte wie Prenzlau bestätigt. – Für dieses gemeinsame Agieren beider Städte spricht im Übrigen auch die Tatsache, dass sich Prenzlau und Pasewalk im Verbund mit der Stadt Templin nach dem Aussterben der brandenburgischen Askanier 1319/20 gegenüber potentiellen Anwärtern auf die nun vakante Markgrafschaft Brandenburg bzw. die Uckermark zusammenschlossen. Während sich die drei Städte zeitweilig dem mecklenburgischen Fürsten Heinrich II. anschlossen, orientierten sie sich im August 1320 zu den pommerschen Herzögen hin. Dem folgte eine ebenfalls am 23.August 1320 in Pasewalk ausgestellte Urkunde, in der sich die Stadt Anklam gegenüber Prenzlau, Pasewalk und Templin dafür verbürgte, dass sich die Herzöge von Pommern an ihre Vereinigung mit den drei uckermärkischen Städten halten würden. Zu den Schifffahrtsprivilegien Pasewalks vgl. Georg Winter (Bearb.), Regesten der Markgrafen von Brandenburg aus Askanischem Hause. Lief. 9–11. (Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg, 8.) Berlin 1933, Nr.2823, 839f. u. Nr.2879, 860. Zur Erklärung der Stadt Anklam vgl. Codex Diplomaticus Brandenburgensis (wie Anm.21), Rh.A, Bd. 21, Nr.XLV, 122. 66 Seckt, Versuch einer Geschichte (wie Anm.61), 117.

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um die Wiederbelebung derselben herbeizuführen, wie die eben kurz dargelegten Ereignisse um das Jahr 1682 deutlich machen. Recht intensive Diskussionen diesbezüglich sind in der Mitte des 18.Jahrhunderts in Prenzlau zu verzeichnen. Als ein bedeutender Befürworter der Wiederschiffbarmachung des Uckerflusses tat sich der Rektor der Prenzlauer Lateinschule, Georg Venzky, hervor. Auszüge aus einem von ihm veröffentlichten Aufsatz zur Schiffbarmachung der Ucker nebst weiteren diesbezüglichen Meinungsäußerungen nahm auch Johann Samuel Seckt in seiner 1785–1787 veröffentlichten Geschichte der Stadt Prenzlau auf. 67 Als das mit Abstand wichtigste Argument gilt bei Venzky der Rückgriff auf die mittelalterliche Geschichte Prenzlaus. So muss er seine Leser „zuförderst“ daran erinnern, „dass ehedem die Ucker schiffbar, und Prenzlau eine Handelsstadt gewesen, ja mit den Hansestädten in einer Verbindung gestanden: wobey sie sich so wohl befunden, daß sie weit blühender, volkreicher und ansehnlicher gewesen ist.“ Weiterhin gibt er zu bedenken, dass „in St. Marien […] zu dieser Zeit jährlich 900. Communicanten [waren], jetzo etwa 300. Es starben an die 600. Jetzo kaum 100.“ Aufgrund dieser Fakten fragte Venzky schließlich: „Kann man nicht von diesem Umstande auf den Vortheil künftiger Zeiten schliessen?“ 68 Es ist deutlich erkennbar, welch große Wertschätzung hier den mittelalterlichen Stadtvätern Prenzlaus in ihrem Bemühen zur Umsetzung der Schifffahrt auf der Ucker entgegen gebracht wurde. Mehr noch: Diese Planung mitsamt ihren infrastrukturellen Maßnahmen schien dem Zeitgenossen aus dem 18.Jahrhundert gar als ein Ideal, das es wiederaufzurichten galt. In diesem Sinne ist auch sein Plädoyer zu verstehen, dass die Prenzlauer Kaufleute durch die erneute Schifffahrt auf der Ucker „die fremden Waaren wohlfeiler kaufen, geschwinder erhalten und reiche Kaufleute in ihren Gränzen zählen können!“ In ähnlicher Weise gibt auch Seckt zu bedenken: „Da übrigens vor diesem die Handlung auf der Ucker geblühet, so kann sie auch itzund an sich nicht unmöglich sein.“ An anderer Stelle seines Werkes hielt er fest: „Uebrigens würde es für Prenzlau schon sehr profitabel seyn, wenn die Uker vors erste auch nur bis ins Haff wieder schifbar wäre.“ 69 In der Geschichte sah der Stadtgeschichtsschreiber also eine praktische Handlungsanleitung für die Gegenwart. Demnach war er dafür, zu „untersuchen, was man“ früher auf der Ucker „eigentlich

160

67

Vgl. ebd.192f.

68

Ebd.192.

69

Ebd.118f.

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aus und eingeführet hat.“ Diese geschichtliche Untersuchung sollte dann ihrerseits dazu führen, den Zeitgenossen, „die etwas unternehmen wollen, die Mittel, eben dieses oder dergleichen zu thun, [zu] erleichtern und ihnen auch einen eigenen Vortheil [zu] gönnen.“ Ganz ähnlich äußerte sich der bereits oben erwähnte Bürgermeister der Stadt Pasewalk. Auch er lobte die mittelalterlichen Verhältnisse, indem er vor Augen führte, dass „die Vorfahren daselbst […] den Vortheil [gar wohl einsahen], welchen ihnen die Handlung zu Wasser brachte, […] wenn sie einen schiffbaren Canal, die Krümmen der Ucker zu vermeiden, über eine Meile, so weit das Städtische Gebiete gehet, ausfertigen liessen.“ Worauf er sich hierbei genau bezieht, bleibt zweifelhaft. Anzunehmen ist, dass der Bürgermeister mit dem von ihm angesprochenen „Canal“ auf eine der mittelalterlichen Flutrinnen verweist. Unstrittig aber ist, dass ihm die verkehrsinfrastrukturellen Maßnahmen des Mittelalters ähnlich wie seinen beiden anderen Befürwortern als äußert positiv erschienen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch seine bereits oben zitierte Ansicht, wonach zu seiner Zeit zahlreiche Anlieger der Ucker „aus Eigennutz des kleinen Vortheils“ den Fluss nutzten. Offenbar fehlte ihnen die Einsicht in höhere, gleichsam übergeordnete gemeinsame Ziele. Scheinbar sah Ruhedorff dies für das Mittelalter als erfüllt an, was wiederum als eine Art Vorbild für seine Zeitgenossen gelten konnte. Auch wenn die mittelalterliche Infrastruktur zur Durchführung der Uckerschifffahrt längst schon nicht mehr vorhanden war, so entfaltete sie doch im 18. Jahrhundert eine eigentümliche Aktualität. Mit ihrem Bestreben, die Schifffahrt auf der Ucker zu planen und umzusetzen, erscheint die mittelalterliche Stadt Prenzlau folglich als Vorbild sowie Richtmaß für die Zeitgenossen des 18.Jahrhunderts und deren Pläne zur Wiederherstellung der Uckerschifffahrt. Jenseits des damit verbunden lokalen Forschungsinteresses ist dieses Beispiel ebenso für die allgemeine Infrastrukturgeschichtsforschung von großer Bedeutung, zeigen sich hier doch deutliche Formen ideeller Langzeitwirkungen von Infrastrukturen. Obwohl also die materiellen Spuren der mittelalterlichen Wasserwegeplanung größtenteils verschwunden waren, verfügten sie dennoch über eine zeitliche Fernwirkung in Form einer Pfadabhängigkeit 70, die sich im Diskurs über Handelsverbesserungen im 18. Jahrhundert widerspiegelte. 70 Zu diesem Begriff und den damit verbundenen Diskursen innerhalb der Forschung vgl. den einführenden Beitrag von Jens Ivo Engels und Gerrit Jasper Schenk in diesem Band.

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IV. Fazit Dass der Wasserweg auf der Ucker nicht ohne weiteres von Natur aus vorhanden war, sondern in hohem Maße auf die Organisation und Planung durch die Stadt Prenzlau zurückging, sollten die vorgestellten Problemfelder veranschaulicht haben. Ebenso zeigten sich die vielfältigen Mittel technischer, organisatorischer und infrastruktureller Art, mit deren Hilfe der Anspruch Prenzlaus auf den Wasserweg untermauert und gesichert werden sollte. Ein wichtiges Prinzip bildete dabei die Absicht, den Wasserverkehr gezielt auf Prenzlau zu lenken und jedweden Umschlagplatz zwischen dieser Stadt und Pasewalk zu verhindern. Die so geplante Wasserwegeinfrastruktur trug demnach deutliche Spuren ökonomischer Machtausübung, die dem eigenen städtischen Markt dienen sollte. Wie zu sehen war, wirkte dies keineswegs nur integrierend, sondern sehr bewusst auch exkludierend, wie beispielsweise der bei Prenzlau liegende Burgort Nieden belegt. Als möglicher Warenumschlagplatz profitierte er jedenfalls vom Verkehr auf der Ucker durch dementsprechende Prenzlauer Vorkehrungen in keiner Weise. Das vorliegende mittelalterliche Urkundenmaterial Prenzlaus zeigt ebenso deutlich einen organisierten Wasserweg, der vom Oberuckersee bis ins Stettiner Haff reichte. Der bedeutende Einfluss, den die Stadt auf diesen Verkehrsweg ausübte, offenbarte sich dabei an bestimmten Schnittstellen, an denen Wasserinfrastrukturen – allgemein betrachtet – als soziale, wirtschaftliche und politische Konfliktlinien fassbar sind. Einerseits betraf dies im Stadtraum gelegene Wassermühlen, die die Schifffahrt möglicherweise gefährden konnten, was entsprechende infrastrukturelle Maßnahmen erforderlich machte. Deutlicher noch galt diese Tatsache andererseits im Falle von nichtstädtischen Mühlen auf der Ucker. Die an diesen Orten in der Mitte des 13.Jahrhunderts eingerichteten Flutrinnen bildeten gleichsam materielle Spuren der von Prenzlau auf der Ucker organisierten Wasserinfrastruktur. Finanziell spürbare Auswirkungen hinterließ diese aber ebenso in Form der Geldabgaben, die ein jeder Schiffer an den Mühlen in Nieden und Pasewalk zu entrichteten hatte. Sie sind als ein wesentlicher Teil zur Umsetzung der Schifffahrtsinteressen und der dauerhaften Nutzung des Wasserweges zu verstehen. Sie wirkten daher in hohem Maße integrierend, was damit zu erklären ist, dass sich die dauerhafte Schifffahrt auf der Ucker nicht ohne die Nutzer selbst, die regelmäßig ihre Abgaben entrichteten, durchsetzen ließ. Diese hatten somit ihren Anteil an der Befahrbarkeit der Ucker und der Flutrinnen zu leisten, was freilich auch bedeutete, dass sie sich der infra-

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strukturellen Planung der Stadt Prenzlau zugunsten der Uckerschifffahrt fügten bzw. die vorhandenen Organisationsformen akzeptierten. Folglich lässt sich resümieren, dass die Stadt Prenzlau dem kleinen Uckerfluss während des hier im Zentrum stehenden Untersuchungszeitraumes ein hohes Interesse entgegengebracht hat. Wie gezeigt benötigte die Stadt zur Ausübung ihres Einflusses auf die Ucker allerdings die nötigen Zugriffsrechte aus den Händen der jeweiligen Landesherrn. Für die Bedeutung der Uckerschifffahrt im Mittelalter spricht aber gerade der Umstand, dass solche Rechte von der Stadt Prenzlau durch entsprechende Fälschungstätigkeiten auch selbst generiert wurden. Dies gibt einmal mehr einen wichtigen Hinweis darauf, wie vielfältig mittelalterliche Wasserwegeplanungen ausgestaltet werden konnten. Wie der knappe Ausblick in die kommenden Jahrhunderte zeigt, wurde gerade das dahin gehende Vorgehen der mittelalterlichen Stadt als vorbildhaft für die eigenen wirtschaftlichen Vorhaben empfunden. Auf diese Weise zeigte sich in den öffentlichen Diskursen der Prenzlauer und Pasewalker Autoren des 18.Jahrhunderts, die den Schiffsverkehr auf der Ucker wieder zu etablieren beabsichtigten, eine ideelle Form von Langzeitwirkungen der längst verschwundenen mittelalterlichen Wasserinfrastruktur.

S . BÜTOW

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Die umstrittene Kompetenz der geschworenen Müller in Prag Böhmische Wasserbauexperten vom Mittelalter bis in die Neuzeit von Martina Maříková

Als der bekannte böhmische Humanist Pavel Stránský von Zápy (1583–1657) sein enzyklopädisches Werk „Respublica Bojema“ (erschienen im Jahre 1634) verfasste, reihte er dort unter den wichtigsten Landesgerichten – dem Landtag, der Böhmischen Kammer und dem Landesgericht – auch die Prager geschworenen Müller ein. Er bezeichnete sie als „Müllergericht“, welches über alle Schäden richtete, die durch Flüsse, Mühlen, Mühlgräben, Wehre, Brücken, Wasserleitungen, Wasserwerke und andere Wasserbauten in Böhmen verursacht wurden. 1 Diese kurze Charakteristik war für Jahrhunderte die einzige Abhandlung über dieses Amt und Stránský begründete dadurch unbewusst die „Legende“ über die Verwaltung der Wasserinfrastrukturen, die in der tschechischen Historiographie bis heute fortlebt. 2 Konfrontiert man aber diese These mit den erhaltenen Quellen, zeigt sich, dass eine solche Auffassung zumindest für das Mittelalter als übertrieben anzusehen ist. Trotz dieser Tatsache stellt das der Prager Altstadt unterstellte Amt im Rahmen der tschechischen Geschichte einen einzigartigen Fall dar – nicht nur wegen seiner außergewöhnlichen Position auf der Grenze zwischen Stadt-, Zunft- und Landesverwaltung, sondern auch angesichts der machtpolitischen Umstände, von denen seine mehr als vier Jahrhunderte lange Existenz begleitet wurde. Es ist kaum möglich die-

1 Emanuel Tonner (Ed.), Mistra Pavla Stránského ze Zápské Stránky poopravené i rozmnožené vypsání vší obce království českého. [Berichtigte und vermehrte Beschreibung der ganzen Gemeinde des böhmischen Königreichs von Meister Pavel Stránský von Zapy]. Prag 1893, 261. 2 Auf diese Art ist die Kompetenz des Amtes auch in der unpublizierten Diplomarbeit von Jarmila Jílková interpretiert: Pražští zemští přísežní mlynáři a jejich pamětní kniha z let 1593–1628. [Die geschworenen Prager Landesmüller und ihr Gedenkbuch aus den Jahren 1593–1628]. Magisterarbeit der Philosophischen Fakultät Karls-Universität Prag 1988. Es handelt sich um die einzige Studie, die sich mit diesem Thema beschäftigt. Jüngst auch Karel Malý u.a., Dějiny českého a československého práva do roku 1945. [Geschichte des tschechischen und tschechoslowakischen Rechts bis zum Jahr 1945]. 3.Aufl. Prag 2003, 113.

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DOI

10.1515/9783486781052.164

se Institution aus dem Kontext der vorherigen Entwicklung von Wassermühlen und Wasserrecht im Böhmen zu lösen. Da zu beiden Themen bisher nur einige tschechische Einzelstudien existieren, soll hier diese Problematik mindestens in groben Zügen angedeutet werden: Die ersten Wassermühlen waren im Fürstentum Böhmen höchstwahrscheinlich bereits seit Ende des 10.Jahrhunderts in Betrieb. 3 Bis zum Ende des 12.Jahrhunderts waren sie jedoch größtenteils im Besitz des Fürsten, der diese Objekte den neu gegründeten kirchlichen Institutionen schenkte. 4 Wassermühlen wurden in diesem Zeitraum zwar nur selten erwähnt, und doch ergibt sich daraus eine Sache ganz eindeutig: Die Nutzung der Wasserkraft für den Antrieb verschiedener handwerklicher Betriebe war zusammen mit Fischfang und Schiffsverkehr Bestandteil des sogenannten Wasserregals. 5 Das heißt der Herrscher hatte die alleinige Kontrolle der Wasserläufe und er beanspruchte die Einkünfte daraus sowie aus den verschiedenen mit den Gewässern verbundenen wirtschaftlichen Aktivitäten. An das Wasserregal war demnach auch der Bau von Mühlen gebunden, der nur durch eine besondere Bewilligung, durch eine Schenkung oder durch das Zahlen von Abgaben möglich war. Deshalb begegnet man in den ältesten Urkunden auch ausdrücklichen Schenkungen bestimmter Abschnitte eines Wasserlaufes, an dem die Mühle arbeitete bzw. gebaut werden sollte. 6 Ein weiteres Indiz für das herrschaftliche Regal sind Erteilungen von Bewilligungen, an einem festgelegten Abschnitt eines Flusses eine Mühle zu errichten oder Fischfang zu betreiben. 7 Ähnliche Belege gibt es nur bis

3 Die älteste Erwähnung einer Wassermühle stammt aus der sogenannten Gründungsurkunde des Břevnov-Klosters in Prag, die auf das Jahr 993 datiert ist. Vgl. Gustav Friedrich (Ed.), Codex diplomaticus et epistolaris regni Bohemiae. Vol.1. Prag 1904–1907, 348, Nr.375. Diese Quelle ist zwar viel jünger, eine Textanalyse weist aber darauf hin, dass die Aufzählung von Gütern, Menschen und Einkünften wahrscheinlich nur die ursprüngliche Schenkung des Fürsten Boleslavs II. enthält. Vgl. Jiří Pražák, Privilegium pervetustum Boleslai, in: Karel Malý (Ed.), Milénium břevnovského kláštera (993–1993). [Tausend Jahre Kloster Břevnov (993–1993)]. Prag 1993, 13–24. 4 Martina Maříková, Středověké mlýny v českých zemích (archeologické a písemné prameny). [Mittelalterliche Mühlen in den böhmischen Ländern (archäologische und schriftliche Quellen)], in: Mediaevalia Historica Bohemica 10, 2005, 106–109. 5 Zdeňka Hledíková/Jan Janák, Dějiny správy v českých zemích do r. 1945. [Verwaltunsgeschichte der böhmischen Länder bis zum Jahr 1945]. Prag 1989, 71. 6 Codex diplomaticius Bohemiae, Vol.1 (wie Anm.3), 217, Nr.246; 286, Nr.313; 353, Nr.379; 418, Nr.402; 424, Nr.404; 445, Nr.411; Gustav Friedrich (Ed.), Codex diplomaticus et epistolaris regni Bohemiae. Vol.2. Prag 1912, 392, Nr.363. 7 Codex diplomaticius Bohemiae, Vol.1 (wie Anm.3), 217, Nr.246; 252, Nr.287; 286, Nr.313; 397, Nr.390;

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zum Beginn des 13.Jahrhunderts, als dieses Recht definitiv auf lokale Adelige überging. Die Wassernutzung im Königreich Böhmen scheint kurz vor der Mitte des 13.Jahrhunderts bereits so intensiv gewesen zu sein, dass es sogar zu einer Gefährdung der anliegenden Grundstücke oder zur Benachteiligung anderer Nutzer kam, vor allem der Fischer. Von der wachsenden Zahl von Wasserbauten zeugen seit dem Jahre 1236 die ersten Erwähnungen von Streitigkeiten über Wehre an Wasserläufen 8 und verschiedenen durch Mühlen bzw. Mühlgräben verursachten Schäden (1244). 9 Ein beredtes Beispiel dafür ist die in der Lokationsurkunde von 1256 enthaltene Bedingung, dass die geplante Mühle keine Schäden an den anliegenden Grundstücken verursachen dürfe. 10 Noch häufiger waren die Auseinandersetzungen zwischen Müllern und Fischern über den Fischfang in der Umgebung der Mühlen bzw. der Mühldämme. Die Lösung solcher Streitfälle wurde in dieser Zeit meistens mittels der von den beteiligten Parteien bestimmten Schiedsrichter gefunden. 11

I. Entstehung und Aufgaben der geschworenen Müller in der Prager Altstadt Mit der wachsenden wirtschaftlichen Nutzung von Wassermühlen zu Beginn des 14.Jahrhunderts stieg ihre Zahl entlang der böhmischen Flüsse rasch an. Indem sie sich Wasser „wegnahmen“, behinderten sie sich, besonders in den großen Städten, nicht nur gegenseitig, sondern bedrohten auch die an den Flussufern lebenden

424, Nr.404; 430, Nr.405; Codex diplomaticus Bohemiae, Vol.2 (wie Anm.6), 305, Nr.304; 328, Nr.324; 367, Nr.352; 413, Nr.376. 8 Friedrich Gustav/Zdeněk Kristen (Eds.), Codex diplomaticus et epistolaris regni Bohemiae. Vol.3. Prag 1942, 177, Nr.142; Jindřich Šebánek/Sáša Dušková (Eds.), Codex diplomaticus et epistolaris regni Bohemiae. Vol.4. Prag 1962–1965, 95, Nr.21; Jindřich Šebánek/Sáša Dušková/Vladimír Vašků (Eds.), Codex diplomaticus et epistolaris regni Bohemiae. Vol.5. Prag 1974–1992, 517, Nr.347; 537, Nr.361. 9 Codex diplomaticus Bohemiae, Vol.4 (wie Anm.8), 141, Nr.56; Codex diplomaticus Bohemiae, Vol.5 (wie Anm.8), 107, Nr.52; 137, Nr.72; 482, Nr.796; 611, Nr.875. 10

„Preterea debet habere unum molendinum pro servitio [...], dummodo non noceat aliis molendinis

adiacentibus bonis nostris“, Codex diplomaticus Bohemiae, Vol.5 (wie Anm.8), 137, Nr.72. 11

Codex diplomaticus Bohemiae, Vol.3 (wie Anm.8), 177, Nr.142; Codex diplomaticus Bohemiae, Vol.4

(wie Anm.8), 95, Nr.21; 141–142, Nr.56; Codex diplomaticus Bohemiae, Vol.5 (wie Anm.8), 517, Nr.347; 529, Nr.828; 194, Nr.599.

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Menschen. Die Wehre trugen nämlich zu einer schnelleren Versandung der Flussbette bei und vergrößerten die Überschwemmungsgebiete der Flüsse. Es ist verständlich, dass in dieser Situation der mit der Verwendung von Wehren verbundene Betrieb von Mühlen die Einhaltung gewisser Regeln erforderte, um die gegenseitige Beschädigung von Mühlen und eine Bedrohung des Gemeinwohls zu vermeiden. Es kann zwar vorausgesetzt werden, dass solch eine Situation schon am Ende des 13.Jahrhunderts bestand, die passenden Umstände für die Gründung einer regulierenden Institution entstanden jedoch erst einige Jahrzehnte später. Der entscheidende Faktor war dabei wahrscheinlich der Aufschwung des Wasserverkehrs und der Flößerei im Königreich 12 und die Bemühung, die Wasserwege für die Händler durchlässiger zu gestalten. Am 19.Mai 1340 befahl deshalb der spätere Kaiser Karl IV., damals noch Markgraf von Mähren, in der Prager Altstadt ein besonderes Amt einzurichten, das mit einer qualifizierten Aufsicht über die Wehre in den Prager Städten beauftragt wurde. 13 Sechs Monate später erließ der Altstädter Rat eine Urkunde, in der ausführlich beschrieben wurde, wie die neue Behörde arbeiten sollte. 14 Das Amt bestand aus vier Altstädter Schöffen, die ihrerseits vier beliebige Müllermeister als Fachberater wählten. Ihre Aufgabe war es, die Prager Wehre zu besichtigen und für alle Mühlen „ein einheitliches allgemeines Maß“ 15 festzulegen, das diese zu Ungunsten einer anderen Mühle unter Androhung von Geldstrafe und Mahlverbot 16 nicht überschreiten durften. Würde jemandem durch die Wassernutzung ein Schaden entstehen, sollte er sich an den Altstädter Rat wenden. Dieser entsandte dann zwei Müllermeister, die die Beschwerde untersuchten und dem Verursacher eine Geldstrafe auferlegten. Aufgrund der in der Urkunde enthaltenen Instruktion kann zwar vorausgesetzt

12 Vladimír Scheufler, Počátky voroplavby v Čechách. [Die Anfänge der Flößerei in Böhmen], in: Český lid 49, 1962, 9–15; František Holec, Obchod s dřívím v Praze ve 14.–17. století. [Holzhandel in Prag im 14.– 17.Jahrhundert], in: Pražský sborník historický 6, 1971, 5–100, 9. 13 Josef Emler (Ed.), Regesta diplomatica nec non epistolaria Bohemiae et Moraviae. Vol.4. Prag 1892, 309, Nr.782. 14 Ebd.327, Nr.839. 15 Im Original steht „derselben mazz“, in Karls Urkunde „unam mensuram communem“. 16 Im 14.Jahrhundert war es zum ersten Mal 10 Schock Groschen, zum zweiten Mal 20 Schock Groschen, zum dritten Mal 30 Schock Groschen, und gleichzeitig durfte der Müller ein Jahr nicht mahlen. Später kam noch eine Beschlagnahme von Mühlengesellen und Mühleisen hinzu; Archiv hlavního města Prahy, Handschriftensammlung, Sign. 3012, fol.6r–7v; Sign. 7802, fol.37r–39v. Ein ausführliches Strafenverzeichnis ist erst aus dem Jahre 1594 erhalten; ebd., Sign. 3469, fol.5v–9r.

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werden, dass die Amtsgründer die Aufsicht über die Prager Wehre nicht als einen einmaligen Akt begriffen. Dennoch scheint das neue Aufsichtsorgan nach Erfüllung seiner ersten Aufgabe für verhältnismäßig lange Zeit untätig gewesen zu sein. Darauf deutet die Tatsache, dass es bis zum Jahre 1364 keine weitere Erwähnung der geschworenen Müllermeister gibt. 17 Auch in den nächsten Jahrzehnten scheint die Tätigkeit des Amtes ziemlich unregelmäßig gewesen zu sein. 18 Eine Teilantwort auf die Frage, warum die Behörde in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens so geringe Aktivitäten an den Tag legte, könnte die Tatsache sein, dass nicht alle Mühlen im Gebiet der damaligen Prager Städte den Altstädter Bürgern gehörten. Obwohl wir für diesen Zeitraum nicht über ein vollständiges Mühlenverzeichnis verfügen, steht es außer Zweifel, dass manche Objekte an der Moldau den Klöstern und Kapiteln gehörten, die diese einst zusammen mit einem bestimmten Teil des Wasserlaufes vom Herrscher bekamen. 19 Im Fall der Altstädter Bürger war die Gerichtsbarkeit der Altstädter Gemeinde und ihrer Ämter selbstverständlich – was dagegen die anderen Bewohner der Prager Städte betraf, konnte es zu Kompetenzstreitigkeiten kommen. Die neue Behörde stellte nämlich eine Rechtsbeschränkung für die Mühlenbesitzer dar. Aus diesem Blickwinkel betrachtet bedeutete die Gründung des Amtes, das für alle Prager Mühlen ein einheitliches allgemeines Maß festlegen sollte, einen unerwünschten Eingriff in die Rechte der Adeligen und kirchlichen Institutionen, die im damaligen Prag Mühlen besaßen. Gerade dies ist offenbar eine der Ursachen für die unregelmäßige Tätigkeit der geschworenen Müllermeister im Mittelalter.

17

Vgl. den Bericht über Untersuchung der Schiffsmühlen in Prag vom 8.November 1364; ebd., Hand-

schriftensammlung, Sign. 3012, fol.238v. Der Befehl des Altstädter Rates vom 15.November 1364, für alle Prager Mühlen ein Maß festzulegen, ist zweifellos eine Abschrift der Urkunde vom 17.November 1340, in der der Schreiber nur das Datum änderte; ebd., Sign. 993, Pag. 70. 18

Nächste Untersuchungsberichte kommen erst aus dem Jahre 1465; ebd., Handschriftensammlung,

Sign. 3012, fol.252v, Sign. 2133, fol.382r–v. Außerdem ist das Amt in den sogenannten Sobieslawschen Rechten aus den 1440er Jahren erwähnt; Rudolph Schranil, Die sogenannten Sobieslawschen Rechte. München/Leipzig 1916, Nr.69, 71. 19

Jílková, Pražští zemští přísežní mlynáři (wie Anm.2), 21–25; Jiří Soukup, Pražské jezy, mlýny, vodárny

a nábřeží. [Prager Wehre, Mühlen, Wasserwerke und Quais]. Prag 1905, 12–43.

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II. Mögliche Gründe der Entstehung In diesem Zusammenhang stellt sich also die Frage, aus welchen Gründen das Amt eigentlich eingerichtet wurde, wenn es zunächst wahrscheinlich fast untätig blieb. Aus einem Mangel an relevanten Quellen lassen sich leider nur einige Hypothesen formulieren: Zum ersten ging es um die Folgen der zunehmenden Schäden, die durch eine große Mühlenkonzentration und immer intensivere Wasserverwendung in den Prager Städten verursacht wurden. Außer der oben beschriebenen Entwicklung weist darauf auch die Narratio beider Urkunden hin, in der über die „in der Stadtgemeinde erlittenen Schäden“ gesprochen wird. 20 Zum zweiten sprechen für eine eigene Initiative des Altstädter Rates die in der Urkunde beschriebene Zuständigkeit des Amtes, die außerordentliche Position der Stadt und des dortigen Patriziates im Königreich 21 sowie die Tatsache, dass gerade die Prager Altstadt dem mährischen Markgrafen nach seinem Eintreffen in Böhmen erhebliche Geldmittel zur Verfügung stellen musste. 22 Drittens und letztens kann im Zusammenhang mit der späteren Wirtschaftspolitik Karls IV. 23 auch nicht ausgeschlossen werden, dass dieser damit eigene Ziele verfolgte, die jedoch offenbar nicht verwirklicht wurden. Wenn dies der Fall war, so ist es jedoch befremdlich, dass er sich an das von ihm geschaffene Amt nie mehr erinnerte – weder während der Schiffbarmachung der Elbe und Moldau 24,

20 In Karls Urkunde steht: „cives vestre dicte civitatis molendina tenentes defectus et dampna pluries sint perpessi pro eo, quod ipsa vestra civitas Pragensis nullam determinatam hucusque habebat mensuram, per quam unum molendinum vestre civitatis sine dispendio alterius molendini debebat et poterat debito modo et proporcionabiliter elevari.“ In der deutsch geschriebenen Urkunde der Prager Altstadt steht fast dasselbe: „vnser stat grozzen gebrechen leidet vnd geliden hat“. 21 Jaroslav Mezník, Der ökonomische Charakter Prags im 14.Jahrhundert, in: Historica 17, 1969, 47–64. 22 Lenka Bobková, Velké dějiny zemí Koruny české 4a. [Große Geschichte der Länder der böhmischen Krone, Bd. 4a.] Prag/Litomyšl 2003, 183. 23 Wolfgang von Stromer, Der kaiserliche Kaufmann – Wirtschaftspolitik unter Karl IV., in: Ferdinand Seibt (Hrsg.), Kaiser Karl IV. Staatsmann und Mäzen. München 1978, 63–73; František Kavka, Místo Prahy v politicko-hospodářském konceptu vlády Karla IV. [Der Platz Prags im politisch-ökonomischen Konzept der Regierung Karls IV.], in: Numismatické listy 41/5–6, 1986, 129–146. 24 František Psota, Doprava [Verkehr], in: Luboš Nový u.a. (Eds.), Dějiny techniky v Československu (do konce 18. století). [Technikgeschichte der Tschechoslowakei (bis zum Ende des 18.Jahrhunderts)]. Prag 1974, 306; Miroslav Hubert, Dějiny plavby v Čechách 1. [Geschichte der Schifffahrt in Böhmen, Bd. 1.] Děčín 1996, 24–30.

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noch als er im Jahre 1366 befahl, die Wehre an allen wichtigen böhmischen Flüssen mit standardisierten Durchlässen zu versehen. 25 Es scheint höchstwahrscheinlich zu sein, dass das Amt aus mehreren Gründen entstand. Eine entscheidende Rolle spielten dabei die Intensität der Wassernutzung 26 im damaligen Prag sowie das wachsende Selbstbewusstsein der sich seit Ende des 13.Jahrhunderts emanzipierenden Prager Altstadt, ihre Bereitschaft, dem in Stellvertretung seines Vaters königsgleich agierenden Karl IV. Geld zu gewähren und die daraus resultierende Notwendigkeit, sie dafür angemessen zu entschädigen.

III. Tätigkeit der Prager geschworenen Müller im Mittelalter Ursprünglich bestand die Tätigkeit des Amtes zweifellos nur in der Aufsicht über die Einhaltung einer bestimmten Wehrhöhe in den Prager Städten. Zu diesem Zweck führten die Müllermeister im Auftrag des Altstädter Rats oder des Herrschers 27 wiederholt Besichtigungen durch, bei denen sie die früher festgelegten „Zeichen“ – das heißt Höhenmarken auf den Wehren und an den Flussufern 28 – kontrollierten und beobachteten, ob es nicht zur Versandung des Flussbettes

25

Jaroslav Čelakovský (Ed.), Codex juris municipalis regni Bohemiae 1. Privilegia civitatum Pragensium.

Prag 1886, 134, Nr.86. Eine ähnliche Regelung gab er auch schon am 8.Oktober 1355 für den Oderabschnitt zwischen Wrocław und Krosno Odrzańskie heraus: Bedřich Mendl (Ed.), Regesta diplomatica nec non epistolaria Bohemiae et Moraviae. Vol.6. Prag 1928–1954, 84–85, Nr.147. 26

Es scheint, dass im Gegensatz zu Florenz und zum Elsass (siehe unten) die Gründung der geschwore-

nen Müller durch kein zerstörendes Hochwasser motiviert wurde. Die extremen Überschwemmungen geschahen im mittelalterlichen Böhmen und Mähren in den Jahren 1118, 1180, 1272, 1342, 1481 und 1501. Während derer im Jahre 1342 (d.h. zwei Jahre nach Gründung der geschworenen Müller) war die JudithBrücke in Prag zerstört worden; Václav Ledvinka/Jiří Pešek, Prag. Prag 2001, 168; Ladislav Hrdlička, Jak se měnila a rostla středověká Praha. [Wie änderte sich und wuchs das mittelalterliche Prag], in: Jiří Kovanda u.a. (Eds.), Neživá příroda Prahy a jejího okolí. [Die unbelebte Natur von Prag und seine Umgebung]. Prag 2001, 201–212. 27

In diesem Zusammenhang ist besonders beachtenswert, wie viele Untersuchungen auf Befehl des

Herrschers durchgeführt wurden, obgleich diese Aufgabe von Anfang an voll zum Kompetenzbereich des Altstädter Rates gehörte. Während des 15.Jahrhunderts geschah dies sogar so oft, dass es fast die Regel gewesen zu sein scheint. Im 15.Jahrhundert waren es fünf von sechs Untersuchungen, im ganzen Mittelalter fünf von zwölf Untersuchungen. 28

Vgl. dazu den Bericht über Zeichenlegung aus dem Jahre 1629 mit der Abbildung des Zeichens; Archiv

hlavního města Prahy, Handschriftensammlung, Sign. 1833, fol.74rv.

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kam. 29 Die Untersuchungsberichte, die sogenannten Relationen, legten sie dem Stadtrat vor, der sie dann in den Stadtbüchern niederschreiben ließ. 30 Außerdem führten die geschworenen Müllermeister seit Ende des 16.Jahrhunderts für diesen Zweck noch eigene Gedenkbücher, um darin empfangene Anträge sowie Berichte über vorgenommene Besichtigungen und Berufungen gegen ihre Urteile zu sammeln. Die Sammlung besteht aus 27 Handschriften 31, die heutzutage die Hauptquelle für die Geschichte dieses Amtes darstellen. Von der gewaltigen Menge einiger Hundert erhaltener Berichte bilden jedoch die mittelalterlichen nur einen kleinen Bruchteil. Insgesamt handelt sich um 17 Stücke bis zum Jahre 1526. Leider fassen sie meistens nur das Wichtigste der heutzutage nicht mehr existierenden Schriftstücke zusammen, das heißt Ort, Zeit und Gegenstand der Besichtigung. Der eigentliche Untersuchungsverlauf lässt sich nur aufgrund einiger vollständiger Abschriften der ursprünglichen, umfangreichen Berichte rekonstruieren: Den ersten Impuls für eine Besichtigung gab meistens ein Gesuch um Entsendung von geschworenen Müllern. Ein häufiges Motiv dafür war eine unangemessene Wehrhöhe oder Streit über die Nutzung des Wehres. Nachdem der Altstädter Rat so einen Anlass bekommen hatte, berief er einige erfahrene Müllermeister aus den Prager Städten und der Umgebung. 32 Gemäß der Schwierigkeit der Besichtigung konnten es zwischen zwei und dreizehn Personen sein, meistens reichten jedoch zwei bis vier. Wenn sich die Müllermeister im Rathaus einfanden, legten zuerst diejenigen den Eid 33 ab, die an solcher Untersuchung zum ersten Mal teilnahmen. 34 Sie schworen, jeden mit gleichem Maß zu messen, ungeachtet der Umstände oder des

29 Untersuchungen aller Prager Mühlen wurden in den Jahren 1517, 1530, 1567, 1571, 1572 und 1594 durchgeführt; vgl. Jílková, Pražští zemští přísežní mlynáři (wie Anm.2), 38–41. 30 Ebd.51. Nachdem die Mehrheit der mittelalterlichen Stadtbücher im Jahre 1945 verbrannte, sind die ältesten Relationen meistens nur als Abschriften in neuzeitlichen Gedenkbüchern (vgl. dazu nächste Anm.) erhalten. Auf die ursprünglichen Bücher weisen heutzutage nur die Anmerkungen hin. 31 Archiv hlavního města Prahy, Handschriftensammlung, Sign. 1832, 1833, 2068, 3011–3017, 3019– 3026, 3026a, 3027, 3028, 3030, 3045, 3050, 3469, 7802, 8365 und Sign. 1831, wo die ausgewählten Einträge aus älteren Gedenkbüchern abgeschrieben wurden. 32 Ebd., Handschriftensammlung, Sign. 60, fol.8rv. 33 Derjenige, den Müllermeister vor dem Altstädter Rat in der zweiten Hälfte des 16.Jahrhunderts ablegten, ist in ihren Gedenkbüchern mehrmals aufgeschrieben, vgl. ebd., Handschriftensammlung, Sign. 1833, fol.66v; Sign. 2133, fol.511r; Sign. 3469, fol.77v–78r. 34 Ebd., Handschriftensammlung, Sign. 3012, fol.253r.

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Bestechungsgeldes. 35 Danach gingen sie zusammen mit den Vertretern der Stadtverwaltung, den streitenden Parteien und anderen Zeugen 36 zum Fluss. Dort hörten sie die Streitparteien an, besichtigten die früher angebrachten Zeichen und verglichen sie mit der Wehrhöhe. 37 Nach der gründlichen Untersuchung des Konfliktortes 38 entschieden sie über die notwendigen Maßnahmen und Geldstrafen. 39 Dann gaben sie ihre Entscheidung 40 dem Altstädter Rat bekannt, ursprünglich nur mündlich, später auch schriftlich. 41 Dieser verhandelte ihren Spruch, ließ ihn in die Stadtbücher niederschreiben und informierte die Streitparteien darüber. Es war auch seine Aufgabe, die Durchführung der angeordneten Maßnahmen zu beaufsichtigen 42 und die Berufungen der unzufriedenen Parteien 43 entgegenzunehmen. Im Vergleich mit späteren Berichten scheint der Untersuchungsverlauf in der Neuzeit mehr oder weniger gleich zu bleiben. Wesentliche Änderungen ergaben

35

Solch ein Fall ist im Jahre 1595 belegt. Damals beschuldigte einer der geschworenen Müller einige an-

dere, dass sie wegen eines Bestechungsgeldes die neue Schwelle bei der Mühle von Waczlaw Wodiczka in Prager Neustadt schlecht gelegt hatten. Darüber hinaus gab der Kläger zu, selbst ungefähr 2 Schock Groschen von demselben Mühlenbetreiber bekommen zu haben; ebd., Handschriftensammlung, Sign. 3469, fol.69r–72r. 36

Ebd., Handschriftensammlung, Sign. 3012, fol.253r.

37

Z.B. ebd., Sign. 2133, fol.382r.

38

In der Neuzeit beriefen sich Müllermeister sehr oft auch auf die älteren Berichte, die über den gleichen

Ort ihre Amtsvorgänger geschrieben hatten. 39

Der in Anm.35 erwähnte Korruptionsfall beweist, dass die geschworenen Müller nicht immer die glei-

che Ansicht teilten. 40

Vom rechtlichen Gesichtspunkt aus wurde die Tätigkeit der geschworenen Müller noch nicht er-

forscht. Sie schienen jedoch vor allem aufgrund der technischen Bedingungen und im engen Zusammenhang mit dem vorherigen Zustand zu beurteilen. Der Spruch konnte eventuell vom Altstädter Rat nach dem städtischen Recht korrigiert werden. Die Ratsherren beachteten jedoch meistens auch ganz vorsichtig den ursprünglichen Zustand. 41

Gerade die Tatsache, dass die Untersuchungsberichte von Müllermeistern geschrieben wurden,

scheint der Hauptgrund zu sein, warum fast alle Berichte sowie die Einträge in ihren Gedenkbüchern nur auf tschechisch sind. Die neuzeitlichen Stücke enthalten auch Namen der Personen, die um eine Besichtigung baten, und die der geschworenen Müller, die daran teilnahmen. In den Originalberichten gibt es neben dem Amtsiegel auch ihre Unterschriften. 42

Es gelang nicht immer, die Entscheidungen in die Praxis umzusetzen. Eindeutig beweisen es z.B. an-

dauernde Probleme in der Umgebung der Schiffsmühlen in Prag (siehe unten). Dasselbe gilt auch für die Einforderung der Geldstrafen und Untersuchungskosten, die sehr schwierig und langwierig sein konnte. Vgl. dazu den Fall aus der Stadt Žatec/Saaz, wo der Altstädter Rat zusammen mit den geschworenen Müllern mehr als drei Jahre lang ergebnislos mit Martin Hošek wegen seines Wehres stritten; Archiv hlavního města Prahy, Handschriftensammlung, Sign. 3012, fol.43v–168v [!]. 43

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Ebd., Handschriftensammlung, Sign. 60, fol.8r–v.

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sich jedoch im Zuständigkeitsbereich des Amtes, sowohl in territorialer als auch in sachlicher Hinsicht. Die ersten Untersuchungen der geschworenen Müller außerhalb der Prager Städte sind übrigens schon während des Spätmittelalters belegt. 44 Zum ersten Mal geschah es im Jahre 1465, und zwar einzig auf Initiative des Königs hin. Damals handelte es sich um den Streit zwischen zwei Adeligen um Fischfang und Wehr im Dorf Opočín. 45 Eine nächste derartige Besichtigung fand erst im Jahre 1523 in Mladá Boleslav/Jungbunzlau statt, dieses Mal aufgrund des Gesuchs des Mühlenbesitzers Ritter Jan von Vraty und zu Toušeň und des Oberstlandkämmerers und Hauptmanns des Bunzlauer Kreises Kundrat von Krajek und zu Mladá Boleslav. 46 Vom Verlauf dieser Untersuchungen sind leider keine genaueren Angaben erhalten. Beiden gingen jedoch ziemlich ungewöhnliche Umstände voran, die darauf hinweisen, dass solche Besichtigungen wahrscheinlich an keine ältere Tradition anschlossen: Im Jahre 1465 mussten sich die beiden Adeligen beim König im Voraus verpflichten, die Entscheidung der Landesmüller zu beachten. Im Jahre 1523 stattete der Altstädter Rat die gesandten Müllermeister mit einem besiegelten Begleitschreiben aus. Wie konnte es aber eigentlich passieren, dass das städtische Amt über die wasserwirtschaftlichen Angelegenheiten außerhalb des Stadtgebietes urteilte? Auf diese Frage geben die erhaltenen Quellen leider keine eindeutige Antwort. Jedenfalls scheint es sehr wahrscheinlich zu sein, dass die Besichtigung in Opočno durch die ungeordneten Zustände im Land beeinflusst war. Die Regierung Georgs von Poděbrady war nämlich vom Konflikt zwischen der geschwächten königlichen Macht und den Landständen geprägt. Von dieser Situation profitierten die Städte mit der Prager Altstadt an der Spitze, die während des 15.Jahrhunderts eine ziemlich starke Position im Land gewannen. Es scheint also nicht zufällig zu sein, dass die erste Untersuchung außerhalb von Prag gerade in dieser Zeit geschah. Unter den beschriebenen Umständen konnte eine Vorladung von Experten 47 (wenn auch aus dem städtischen Milieu) zur Lösung eines wasserwirtschaftlichen Streitfalls ein akzeptabler Kom-

44 Mit Bezug auf ihre Initiatoren – der böhmische König und ein Landesbeamter – ist es jedoch fraglich, ob diese Fälle im Sinne einer territorialen Erweiterung der Kompetenz des Amtes interpretiert werden können. 45 Ebd., Handschriftensammlung, Sign. 3012, fol.252v; Sign. 3469, fol.75r–v. 46 Ebd.fol.253r–v. 47 In Anbetracht der Tatsache, dass es in Prag wahrscheinlich die größte Konzentration von Mühlen – Schiffsmühlen inbegriffen – im Königreich Böhmen gab, scheinen die Prager Müllermeister die wohl er-

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promiss sein. Ungeachtet der unbekannten Motivation zur Besichtigung in Opočín war diese von großer Bedeutung für die Verfestigung der Autorität des Amtes sowie der Stadt. Obwohl sich die Tätigkeit der geschworenen Müller in den nächsten Jahrzehnten wieder nur auf Prag beschränkte, stellte dies einen wichtigen Präzedenzfall für die Zukunft dar. Während des 16.Jahrhunderts wurde nämlich die Zuständigkeit der Altstädter Behörde auch für Streitigkeiten außerhalb des Stadtgebietes zu einer fast allgemein anerkannten Tatsache.

IV. Tätigkeit der Prager geschworenen Landesmüller in der Neuzeit Die spätmittelalterliche Tendenz zur Erweiterung der Amtskompetenz setzte sich erst in der Frühen Neuzeit stärker durch. Neben den erhaltenen Berichten über vorgenommene Besichtigungen auf dem Lande weist darauf auch die Namensänderung des Amtes hin: Schon vor der Mitte des 16.Jahrhunderts erschien der Titel „ältere geschworene Müller des Königreichs Böhmen“, im Jahre 1556 dann „geschworene Landesmüller im Königreich Böhmen“, was später auch die offizielle Bezeichnung des Amtes wurde. 48 Diese Entwicklung kam 1600 zu ihrem Ende, als der Landtag die Inkorporation der Behörde in eine neue Landesordnung diskutierte. Damals wurden die Alt- und Neustädter Räte aufgefordert, die sich auf die geschworenen Müller beziehenden Schriftstücke vorzulegen, um den Zuständigkeitsbereich des Amtes feststellen zu können. 49 Der Artikel über das „Müllergericht“ wurde jedoch nie in die böhmische Landesordnung aufgenommen. Die Prager Altstadt empfand nämlich die geplante Einordnung dieses Amtes unter die Landesgerichte als unerwünschten Eingriff in ihre Kompetenz. Deshalb gab sie am 26.Juli 1601 die Ord-

fahrensten Fachleute für diesen Bereich gewesen zu sein. Von diesem Blickwinkel ist die weitere Entwicklung des Amtes nicht so überraschend. 48

Jílková, Pražští zemští přísežní mlynáři (wie Anm.2), 53 f.

49

František Dvorský (Ed.), Sněmy české od léta 1526 až po naši dobu 10, 1600–1604. [Böhmische Landtage

vom Jahr 1526 bis in unsere Zeit.] Prag 1900, 3, 45; Archiv hlavního města Prahy, Handschriftensammlung, Sign. 1831, fol.18v. Bei diesem Anlass entstanden wahrscheinlich auch die ältesten Gedenkbücher der Prager geschworenen Müller, die u.a. auch ein Verzeichnis der Relationen aus den Jahren 1364–1583 enthalten; ebd., Handschriftensammlung, Sign. 3469, fol.4r.

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nung der älteren geschworenen Landesmüller im Königreich Böhmen heraus 50, in der ihre Unterstellung unter den Altstädter Rat betont wurde. Es ist also fraglich, ob von einer landesweiten Kompetenz des Amtes gesprochen werden kann. Einerseits entwickelte sich die Behörde während des 16.Jahrhunderts zu einer angesehenen Institution, deren Zuständigkeit sich sowohl in territorialer als auch in sachlicher Hinsicht erweiterte. An der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert umfasste ihre Agenda auch Angelegenheiten, die mit ihrer ursprünglichen Aufgabe gar nichts zu tun hatten 51, wie eine Beurteilung der Mühlenumbauten 52, Kostenvoranschläge für Mühlen- und Wehrreparaturen 53, Brückenuntersuchungen 54 sowie verschiedene Gutachten für die Böhmische Kammer 55. Außerhalb Prags sind in dieser Zeit auch Untersuchungen im Einzugsgebiet der wichtigsten böhmischen Flüsse nachgewiesen. Andererseits wurden diese Änderungen nie rechtlich verankert. Die Erkenntnisse der geschworenen Müller waren also nur soweit bindend, wie alle beteiligten Parteien gewillt waren, sie zu beachten. Dies belegen übrigens verschiedene Gesuche und Berufungen, die die unzufriedenen Parteien an das Landesgericht oder gar den Herrscher selbst richteten. 56 Die Zuständigkeitskonflikte und Zweifel an der Kompetenz der geschworenen Müller betrafen dabei nicht nur die Besichtigungen außerhalb von Prag. Ein Beispiel dafür ist der Streit um das durchgeschlagene Wehr unterhalb des Neustädter Wasserwerkes im Jahre 1610: Aufgrund eines Gesuches der Besitzer der Šerlink-Schiffsmühlen entsandte der Altstädter Rat vier geschworene Müller, damit sie die entstandenen Schäden begutachteten und eine passende Lösung vorschlugen. Die streitenden Par-

50 Ebd., Handschriftensammlung, Sign. 3012, fol.239r–246r. 51 Unter anderem trugen die geschworenen Müller auch einen Streit über Brunnenbesitz in der Stadt Slaný/Schlan aus; ebd., Handschriftensammlung, Sign. 7802, fol.12v–13v. 52 Ebd., Handschriftensammlung, Sign. 2133, fol.515v; Sign. 3012, fol.12r, 176v–177r; Sign. 7802, fol.13v–14r, 15v–16r, 117v–124r; Sign. 8365, fol.69v–72r. 53 Ebd., Handschriftensammlung, Sign. 3012, fol.9r–10r, 13rv, 19r–25r; Sign. 7802, fol.178r–181v, 190r– 195r, 241v–243r. 54 Ebd., Handschriftensammlung, Sign. 7802, fol.77v–79r. 55 Ebd., Handschriftensammlung, Sign. 3012, fol.4r–v, 8r–v, 25r–v, 30v–32v; Sign. 7802, fol.42r–43v. 56 Vgl. dazu die Beschwerden der Prager geschworenen Müller gegen das Landesgericht, dass es ihre Entscheidung nicht beachtete (ebd., Handschriftensammlung, Sign. 3012, fol.258v–259r, 259v–260r), oder den langwierigen Streit um das Mühlwehr zwischen Martin Hošek und dem Saazer Stadtrat, mit dem sich neben den geschworenen Müllern auch der Kaiser, das Saazer Stadtgericht, der Altstädter Rat und das Landesgericht beschäftigten (ebd.fol.43v–168v).

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teien erkannten jedoch ihr Urteil nicht an, weil sie damit nicht zufrieden waren. Kurz danach wandten sich die verzweifelten Schiffsmüller an den Kaiser, der eine besondere Kommission vor Ort schickte. Dagegen legte aber der Neustädter Rat Berufung ein, weil nach dessen Meinung nur die geschworenen Landesmüller zuständig waren. Nachdem sie zehn Monate lang Eingaben und gegenseitige Unterstellungen versandt hatten, schlossen beide Seiten endlich einen Schiedsvertrag, der den genauen Fortgang bei der Sanierung des Schadens und die Kostenbeteiligung regelte. 57 Erst eine gründliche Analyse der Gedenkbücher wird zeigen, ob es sich in der Neuzeit wirklich um qualitative oder nur um quantitative Änderungen der Kompetenzen der geschworenen Müller handelte. Das bisherige Studium der Untersuchungsberichte aus dem 16.Jahrhundert und der ersten Hälfte des 17.Jahrhunderts zeigt, dass Gesuche um Besichtigungen der geschworenen Müller vor allem aus königlichen Städten kamen. 58 Manchmal nahmen auch zur Kammer gehörige 59, adelige 60 und kirchliche 61 Güter in der Nähe von Prag die Dienste der Müller in Anspruch. In keinem einzigen Fall ist dabei völlig klar, ob diese Besichtigungen für einen Nachweis der landesweiten Kompetenz des Amtes gehalten werden können. Das gilt vor allem für die königlichen Städte. Das Altstädter Gericht wurde nämlich bereits im 14.Jahrhundert zum obersten Berufungsgericht für einen großen Teil derjenigen böhmischen Städte, deren Recht auf süddeutschen Rechtsquellen basierte. Während des 15.Jahrhunderts wuchs seine Bedeutung weiter an, denn das Prager Recht wurde allmählich von fast allen Städten in Böhmen übernommen. 62 Es ist also fraglich, wie weit die Gesuche um Besichtigungen aus königlichen Städten aus die-

57

Ebd., Handschriftensammlung, Sign. 3469, fol.11v–40v. Vgl. auch Martina Maříková, Vom Streit um

das Neustädter Wehr, in: Mitropa. Jahresheft des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas 2, 2011, 55–56. 58

Beroun/Beraun, Hradec Králové/Königgrätz, Chrudim, Kouřim/Kaurzim, Klatovy/Klattau, Litomě-

řice/Leitmeritz, Louny/Laun, Nový Bydžov/Neubidschow, Rokycany/Rokytzan, Slaný/Schlan, Stříbro/ Mies, Tábor/Tabor, Týn nad Vltavou/Moldauthein. Die Königgrätzer Gemeinde mahnte der Altstädter Rat sogar aus eigener Initiative, dass dortige Müllermeister und Mühlengesellen sich nach der Ordnung der Prager Müller, genauso wie andere Müller im Königreich Böhmen, richten sollten; Archiv hlavního města Prahy, Handschriftensammlung, Sign. 2068, Nr.11; Sign. 3012, fol.256r–257r. 59

Hradec Králové/Königgrätz, Litol (Bez. Nymburk).

60

Mikovice (Bez. Kralupy nad Vltavou), im Gebiet des heutigen Prag waren es Bubeneč, Modřany, Nusle,

Zbraslav/Königsaal und Zlíchov.

176

61

Nenačovice (Bez. Beroun), Štěchovice (Bez. Praha-západ), Běloky (Bez. Kladno).

62

Ledvinka/Pešek, Prag (wie Anm.26), 113.

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ser Tradition heraus entsprungen waren. 63 Zu den Kammergütern wurden dagegen die geschworenen Müllermeister immer nur auf Befehl des Herrschers oder der böhmischen Kammer eingeladen. Die Kompetenz des Amtes außerhalb von Prag scheint sich also nur sehr langsam durchgesetzt zu haben, und zwar vor allem durch die Initiative der königlichen Städte, des Herrschers und seines mit der Verwaltung des Kammergutes beauftragten Amtes, das heißt eigentlich unabhängig vom Altstädter Rat oder gar den Müllermeistern allein. Dessen ungeachtet deutet eine erdrückende Mehrheit der Berichte über die Prager Städte darauf hin, dass die Bezeichnung „Landesmüller“ eher Anspruch als Realität war.

V. Teilnahme der Prager geschworenen Müller an der Schiffbarmachung Ein weiterer Faktor, der den mutmaßlichen territorialen Zuständigkeitsbereich des Amtes vor allem im 17.Jahrhundert wesentlich erweiterte, war die Beteiligung der Müller an der Schiffbarmachung der böhmischen Flüsse. Die Entscheidung Ferdinands I. und seiner Nachfolger, unter anderem auch die geschworenen Müller in diese Arbeiten einzubeziehen, war wahrscheinlich von grundsätzlicher Bedeutung für den plötzlichen Anstieg ihrer Autorität während des 16.Jahrhunderts. Als Mitglieder der zu diesem Zweck eingerichteten Kommissionen unternahmen die Müllermeister zusammen mit anderen Experten Probeschifffahrten und legten anschließend Regulierungsvorschläge vor. 64 So entstanden damals nicht nur ausführliche Berichte über die Schiffbarkeit einzelner Flussabschnitte 65 und Wehrumbauten 66, sondern auch einige Karten 67 und Pläne mit verschiedenen technischen Angaben.

63 Eine Klärung dieser Frage könnten wohl weitere Untersuchungen der Urteilsbücher des Altstädter Berufungsgerichtes bringen. 64 Josef Hons, Vodní cesta vltavskolabská v nejstarších náčrtech, mapách a plánech. Údobí přísežných mlynářů zemských. [Der Moldau-Elbe-Wasserweg in den ältesten Entwürfen, Karten und Pläne. Zeit der sog. Landesmüller], in: Dějiny věd a techniky 5, 1972, 134–153. 65 Archiv hlavního města Prahy, Handschriftensammlung, Sign. 1833, fol.83v–85r, 123r–148r; Sign. 3012, fol.4r–v; Sign. 7802, fol.186r–189v. 66 Ebd., Handschriftensammlung, Sign. 7802, fol.224v–227r, 290v–292v, 319r–320v, 323r–324r. Meistens enthalten diese Berichte auch einen Kostenvoranschlag und ein Verzeichnis des Baumaterials,

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Primäre Motivation Ferdinands I. war jedoch nicht die Bemühung, die Wasserwege für die Schiffe durchlässiger zu gestalten. Das Hauptziel des im Jahre 1548 begonnenen Projekts war es, das sogenannte Kaisersalz 68 aus dem Salzkammergut billig und schnell nach Böhmen zu transportieren. Das Salzregal bildete nämlich in der zweiten Hälfte des 16.Jahrhunderts ein wichtiges Einkommen der Staatskasse. Aus dem Ertrag der Salzsteuer wurde unter anderem auch die Erneuerung der kirchlichen Verwaltung während der Gegenreformation finanziert. 69 Eine möglichst schnelle Schiffbarmachung der Moldau wurde also zum erstrangigen Staatsinteresse. Die Ausführung der vorgeschlagenen Maßnahmen stieß jedoch wiederholt auf zwei kaum zu lösende Probleme – der Unwille der böhmischen Stände, das erforderliche Geld bereitzustellen, und der Widerstand der adeligen Grundbesitzer gegen Umbauten der Wehre. Hier zeigten weder der Ruf und die Erfahrungen der beteiligten Wasserbauexperten noch die Autorität des Kaisers Wirkung. Die gesetzten Ziele wurden wenigstens teilweise erst dann erreicht, als sich der Herrscher zur Finanzierung des Projekts bereitfand. 70 Für eine Zeit, die immer größeren Wert auf ein gelehrtes Beamtentum legte, war es signifikant, dass die Schiffbarmachung vom Zentralamt – der Böhmischen Kammer – koordinierte wurde, während den eigentlichen Arbeitsablauf oft die technisch ausgebildete Personen leiteten. Dieses Modell wurde im Laufe der Zeit üblich, und die Zunftmeister kamen immer mehr nur als Berater zur Geltung. Als in der ersten

manchmal sogar Umbaupläne. Der wohl interessanteste darunter zeigt das Wehr in Roztoky/Rostok (1642) mit einer neuen Schiffsschleuse und einer Winde am Ufer, mit der die Schiffe flussaufwärts gezogen werden sollten; Národní archiv Praha, Premonstráti – Strahov, inv. Nr.130, Sign. 9a, Karton 323. 67 Die älteste darunter ist die undatierte Moldaukarte von Prag bis zum Zusammenfluss mit der Elbe bei Mělník/Melnik aus dem Jahre 1599 oder 1600. Sie basiert auf der Probeschifffahrt und stellt ungefähr 50 km des Flusses dar, alle Mühlen, Wehre, Schleusen, Fähren, Eisabweiser und Inseln inbegriffen, oft gibt es darin sogar Angaben zur Wassertiefe; ebd., Kartensammlung, inv. Nr.471. Dazu vgl. auch den Untersuchungsbericht der geschworenen Müller A. Wopat und L. Zielywsky vom 21.April 1600; Archiv hlavního města Prahy, Handschriftensammlung, Sign. 3012, fol.4r–v. 68

Salzgewinnung war nämlich seit dem frühen Mittelalter ein Regal, und die Salzlager im Salzkammer-

gut gehörten dem Kaiser. 69

Nach dem Vertrag, den im Jahre 1630 Kaiser und Papst abgeschlossen hatten, sollte das Prager Erzbis-

tum 15 Kreuzer von jedem Salzfass bekommen. Vgl. Hynek Kollmann, O vlivu Propagandy na vznik tak řečené pokladny solní (cassa salis). [Über den Einfluß der Propaganda auf die Entstehung der sogenannten Salzkasse (cassa salis)], in: Časopis Muzea Království českého 72, 1898, 139–157; Hledíková/Janák, Dějiny správy v českých zemích do r. 1945 (wie Anm.5), 127, 143, 225. 70

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Hubert, Dějiny plavby v Čechách, Vol.1 (wie Anm.24), 32–51.

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Hälfte des 18.Jahrhunderts die Wissenschaft in das Wasserbauwesen Einzug hielt, wurden die Aufgaben der geschworenen Müller allmählich von den Landvermessern und Ingenieuren übernommen. Diese fertigten ihre Pläne bereits auf der Basis von geometrischen Messungen an, und dank ihrer theoretischen Kenntnisse meisterten sie auch jene Aufgaben, die die Müllermeister aufgrund ihrer lediglich praktischen Erfahrungen nicht erfüllen konnten. 71 Die Bedeutung des Amtes begann so in den Hintergrund rücken, bis es in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts durch die neu gegründeten Staatsbehörden ersetzt wurde. Von der Beteiligung an der Schiffbarmachung wurden die Müller endgültig im Jahre 1764 bzw. 1770 verdrängt, als die Navigationskommission und die Direktion der Wasserbauten gegründet wurden. 72 Die Prager Behörde wurde zwar durch diese neuen Zentralämter de facto ersetzt, sie erlosch jedoch erst nach der Vereinigung der Prager Städte im Jahre 1784. 73 In der Struktur des vereinigten Magistrats war es dann nur der sogenannte Hydraulikus, der an die einstige Berühmtheit der geschworenen Müller erinnerte. 74

VI. Analogien im spätmittelalterlichen Europa Konkurrierende Interessen im Umgang mit den Wasserläufen waren natürlich nicht nur in Prag ein dauerhaftes Problem. Auch in anderen europäischen Städten formierten sich als Reaktion auf verschiedene Probleme mit Wasser spezialisierte Administrationen, deren Mitglieder die Flüsse im öffentlichen Interesse beaufsichtigten. Ein auf den ersten Blick sehr ähnliches System der Expertenkommissionen

71 Als Beispiel kann der erste Direktor der Navigationskommission, Jan Ferdinand Schor (1686–1767), genannt werden, der in den Jahren 1726–1733 die Regulierung der Mittelmoldau leitete und im Jahre 1729 bei Županovice die erste Schleusenkammer in Böhmen errichtete. Vgl. ebd., 49. 72 Eva Semotanová, Historická geografie Českých zemí. [Historische Geographie der böhmischen Länder.] (Práce HÚAVČR, Rh.A: Monographia, Vol.16.) 2.Aufl. Prag 2006, 114; Josef Hons, Vodní cesta vltavská v mapách a pláncích. Údobí nástupu vědy v 18. století. [Der Moldau-Wasserweg auf Karten und Plänen. Zeit des wissenschaftlichen Fortschritts im 18.Jahrhundert], in: Dějiny věd a techniky 5, 1972, 207. 73 Vgl. Archiv hlavního města Prahy, Handschriftensammlung, Sign. 1831, fol.88v–130r; Sign. 8365, fol.92v–215r und die erhaltenen originalen Untersuchungsberichte aus den Jahren 1772–1781: ebd., Sammlung der Papierurkunden, Sign. PPL I–502/1, 6b, 8; PPL I–571/50–60; PPL I–608/28–30. 74 Ebd., Magistrát hlavního města Prahy I., Stadtamt 1802–1818, Sign. 2, Karton 1; ebd., Hlavní spisovna, Abteilung A, Sign. A 47/259, Karton 86; Sign. A 47/3271, Karton 109; Sign. A 47/3387, Karton 111; Sign. A 47/3753, Karton 115.

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setzte sich auch im mittelalterlichen Brno/Brünn, Olomouc/Olmütz, Florenz und im Elsass durch. Die vielleicht beste Analogie zum Prager Modell stellt die Art der Aufsicht über die Mühlen in der Markgrafschaft Mähren dar. Auch die Brünner und Olmützer Müllermeister unternahmen Begehungen der Flüsse, die ihre Städte umflossen. Wann diese Organisationen entstanden und unter welchen Umständen, wissen wir leider nicht. Die wenigen erhaltenen Quellen weisen aber darauf hin, dass es sich eigentlich um kein Stadt- oder Landesamt, sondern eher um eine zünftige Selbstverwaltungsform handelte. Die „Instruktion“, dass der Zustand der Mühlen und Mühlgräben jeden Monat von zwei beauftragten Müllermeistern kontrolliert werden sollte, bildet nämlich einen Bestandteil der Landesordnung der Brünner und Olmützer Müllerzünfte aus dem Jahre 1480. 75 Aus dem einzigen bekannten Untersuchungsprotokoll 76 folgt, dass der Verlauf der Generaluntersuchungen den Prager Besichtigungen sehr ähnlich war. Im Unterschied zu Prag scheinen jedoch die mährischen Müllermeister nicht dem Stadtrat unterstellt gewesen zu sein. Auch im mittelalterlichen Florenz und im Elsass 77 führten die von den Gemeinden beauftragten Fachleute die Begehungen entlang der Wasserläufe durch und beschlossen verschiedene Maßnahmen zugunsten der Öffentlichkeit. Entstehungsgründe, Zuständigkeit und Arbeitsformen dieser Ämter unterschieden sich jedoch von jenem in Prag erheblich: Die Hauptmotivation ihrer Tätigkeit war in beiden Fällen die Bemühung, die wiederholten Überschwemmungsschäden zu vermeiden bzw. die Durchlässigkeit des Transportwegs sicherzustellen. Keines dieser Ziele konnte dabei ohne langfristige Planung und Zusammenarbeit mehrerer Teilnehmer erreicht werden. Deshalb umfasste die Tätigkeit des Florentiner Ufficio di Torre und

75

Einmal pro Jahr sollte unter Teilnahme von Bürgern eine Generaluntersuchung aller Mühlen der

Stadt stattfinden. Außerdem schrieb die Ordnung vor, das Wasser gemäß dem „ham“ zu halten und die Mühlgräben zweimal pro Woche zu reinigen. Vgl. [Vincenc Prasek], Náš nejstarší mlynářský řád. [Unsere älteste Müllerordnung], in: Selský archiv 2, 1903, 35–37. 76

Die Begehung fand in Brünn auf Befehl des mährischen Unterkämmerers und unter Teilnahme von

Mühlenbesitzern (Vertreter der Stadt und dortiger Klöster) und 21 Müllermeistern aus Brünn und Umgebung statt (Archiv města Brna, Bestand A 1/1 Archiv města Brna, Sammlung von Urkunden, Mandaten und Briefen, Juli 1466). Vgl. dazu auch Miroslav Flodr, Brněnské městské právo na konci středověku (1389– konec 15. století). [Das Brünner städtische Recht am Ende des Mittelalters (1389–Ende 15.Jahrhundert).] Brünn 2008, 125–129. 77

Für den Hinweis auf diese zwei Institutionen bin ich Herrn Professor G. J. Schenk (Technische Univer-

sität Darmstadt) dankbar.

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der elsässischen Flussgenossenschaft der Illsassen alle möglichen mit den Flüssen zusammenhängenden Bereiche und hatte in gewissem Maße einen präventiven Charakter. Dieser Aspekt beeinflusste auch die Struktur der eigenen Administrationen und ihrer Kommissionen, in denen die Wasserexperten im breiten Sinne des Wortes und im Elsass sogar die Vertreter der dortigen Souveräne und Gemeinden herangezogen wurden. 78 Beide Organisationen unterschieden sich von den Prager geschworenen Müllern deutlich durch ihre aktive Einstellung zu ihren Aufgaben: durch langfristige Planung verschiedener Maßnahmen und vor allem durch die Fähigkeit, diese Infrastrukturbauten auf eigene Kosten auszuführen. Gerade das war offensichtlich ein Hauptgrund, warum die Florentiner und Elsässer in ihren Bemühungen viel erfolgreicher waren. Während sie unterschiedliche Arbeiten in ihrem Territorium nicht nur vorschlugen, sondern auch realisierten, konnte die Prager Altstadt zwar jede beliebige Entscheidung treffen, die Ausführung hing jedoch letztlich immer vom Willen des Mühlenbetreibers ab. Dieser grundsätzliche Unterschied zwischen der gezielten Aktivität und einer bloßen Aufsicht war einerseits durch verschiedene machtpolitische Umstände, andererseits durch ein stärkeres öffentliches Interesse an der Instandhaltung der Wasserinfrastruktur verursacht. Die erhöhte Bedrohung der Gesellschaft, die die Haupttriebkraft der beiden Administrationen in Florenz und im Elsass war, trug so wesentlich zur erforderlichen überregionalen Zusammenarbeit bei. In Böhmen wurden dagegen ähnliche Vorhaben nur selten in die Tat umgesetzt. Scheinbarer Höhepunkt der Aktivität der geschworenen Müller waren die präventiven Inspektionsgänge bei Prager Mühlen. Auch in diesem Bereich waren sie aber auf die Unterstützung des Herrschers und auf den guten Willen aller beteiligten Interessengruppen angewiesen.

Der Beitrag entstand im Rahmen des Projekts „Wassernutzung und Mühlenbau im mittelalterlichen Böhmen und Mähren“, das im Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig von der Autorin und Magistra Lucie Galusová bearbeitet wird.

78 Jüngst Gerrit Jasper Schenk, Politik der Katastrophe? Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Strukturen und dem Umgang mit Naturrisiken am Beispiel von Florenz und Straßburg in der Renaissance, in: Ulrich Wagner (Hrsg.), Stadt und Verderben. 47. Arbeitstagung in Würzburg 21.–23.November 2008. (Stadt in der Geschichte, Bd. 37.) Ostfildern 2012, 39–65.

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Abb.1: Höhenmarke als Instrument der Visualisierung der Macht. Die Metallplatte, die auf dem Oberteil des Zeichens angeschlagen wurde, war neben dem Symbol des Herrschers auch mit dem Wappen der Prager Altstadt und dem Namen des Bürgermeisters versehen worden. Auf ihrer Unterseite sollten Namen der Stadtbeamten (u.a. auch der geschworenen Müller) stehen. Abbildung aus dem Jahre 1629 im Gedenkbuch der Prager geschworenen Müller; Archiv hlavního města Prahy, Handschriftensammlung, Sign. 1833, fol. 74v.

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Abb.2: Šítka- und Šerlink-Mühlen in der Prager Neustadt im Jahre 1610. Die schwarzen Punkte Nr.2, 8, 16 und 17 stellen die Höhenmarken dar. Einer der von den geschworenen Müllern angefertigten Situationspläne, welche im Zusammenhang mit Besichtigung des beschädigten Neustädter Wehres entstanden; Národní archiv Praha, Stará manipulace, inv. Nr.2723, Sign. P 125/1, Karton 1876.

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Abb.3: Vorschlag zum Umbau der Schleuse in Nelahozeves/Mühlhausen (Bez. Mělník) aus dem Jahr 1736, angefertigt von dem Prager geschworenen Müller und Landmesser Jakub Lyskowetz. A Wehrtor, B und C bestehende Schleuse, D und E neue Schleuse, X Beobachtungsort des Berichterstatters; Národní archiv Praha, Stará manipulace, inv. Nr.2449, Sign. N 40/1, Karton 1548.

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Moderne

Höfische Repräsentation, soziale Exklusion und die (symbolische) Beherrschung des Landes Zur Funktion von Infrastrukturen in der Frühen Neuzeit von Christian Wieland

Der fundamentale Prozess des „Wachstums der Staatsgewalt“ 1, der sich in der Frühen Neuzeit verstärkte und beschleunigte, wurde von einer deutlichen Intensivierung des höfischen Lebens begleitet. Dabei stellte die auf den Fürsten und seine Familie konzentrierte repräsentative Kultur ihrerseits ein essentielles Medium frühneuzeitlichen Politik-Machens dar, ja sie bildete einen wesentlichen Faktor der Herstellung, Verdichtung und Zentralisierung von Staatlichkeit, und zwar sowohl nach außen, auf die europäische Fürstengesellschaft gerichtetes Instrument der Diplomatie als auch nach innen als Mittel der vornehmlich auf die aristokratische Elite gerichteten Gesellschaftspolitik. 2 Höfe waren jedoch nicht nur soziale Kristallisationspunkte, sie bildeten auch Zentren der technischen Avantgarde; für die Zwecke der Herstellung des höfischen Theaters 3 umgaben sich die Fürsten mit Ingenieuren, deren Schöpfungen die Gäste überwältigen und damit von der Macht ihrer Auftraggeber Zeugnis ablegen sollten. Es handelte sich dabei nicht nur um die Macht, die gesuchtesten und teuersten Künstler und Architekten der Zeit zu verpflichten, sondern ebenso um Macht über die Natur, die im höfischen Kosmos gebändigt und veredelt erschien. Es wäre für die Bedingungen der Vormoderne anachronistisch, die im strikten

1 Wolfgang Reinhard, Das Wachstum der Staatsgewalt. Historische Reflexionen, in: Der Staat 3, 1992, 59– 75; ders., Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999. 2 Zur gesellschaftspolitischen Deutung der frühneuzeitlichen Hofkultur vgl. Ronald G. Asch, Hof, Adel und Monarchie: Norbert Elias’ Höfische Gesellschaft im Lichte der neueren Forschung, in: Claudia Opitz (Hrsg.), Höfische Gesellschaft und Zivilisationstheorie. Norbert Elias’ Werk in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Köln/Weimar/Wien 2005, 119–142. 3 Der Begriff nach: Mario Biagioli, The Social Status of Italian Mathematicians, 1450 – 1600, in: History of Science 28, 1989, 41–95, 47f.

DOI

10.1515/9783486781052.187

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Sinne nützliche Technik, die Überformung der natürlichen Umwelt durch auf die ‚Allgemeinheit‘ ausgerichtete Infrastrukturen, gegen die auf Repräsentation ausgerichteten Formen des Umgangs mit den Elementen oder ihre Indienstnahme für die Zwecke der höfischen Gesellschaft auszuspielen; der Schmuck fürstlicher Gärten mit künstlichen Seen, Kanälen, Kaskaden, Brunnen, Grotten oder durch Wasserkraft angetriebenen Automaten galt im gleichen Sinne als Ausweis der Herrschaft des Fürsten über die Natur wie der Bau eines Schutzdammes gegen Hochwasser, und es war, zumindest im Sinne der Darstellung einer fürstlichen Identität, zunächst unerheblich, ob diese Unterwerfung der Elemente das Leben, die Sicherheit und die Prosperität der Untertanen oder die Rekreation und das divertissement des Fürsten und der höfischen Gesellschaft zum Ziel hatte. In beiden Fällen wurden mit den Techniken der Naturbeherrschung Herrschaftstechniken erprobt und der Anspruch auf Macht demonstriert. Beide Formen dieser repräsentativen Darstellungen von Macht – oder Machtansprüchen – basierten auf politischer, wirtschaftlicher und Deutungsmacht: Die Transformation und Indienstnahme der Natur war nur möglich, weil den Herrschenden die notwendigen ökonomischen und technischen Mittel zur Verfügung standen und sie die mit diesen ‚infrastrukturellen‘ Maßnahmen verbundenen Grundannahmen in Bezug auf den Zweck der natürlichen Umwelt für die Gesellschaft sowie die Leitwerte des politischen Handelns durchzusetzen vermochten. 4 Zugleich ermöglichten diese Eingriffe in die Natur bestimmte Formen der Machtausübung, indem sie einerseits – im Sinne eines „impersonal rule“ 5 – die Lebens- und Arbeitsbedingungen großer Teile der Bevölkerung nachhaltig prägten und sie andererseits die „Vortrefflichkeit“, die „Aristokratie“ der fürstlichen Familie und der höfischen Gesellschaft, die allein von der repräsentativen und kultivierten Natur der Residenzen profitierte, unmissverständlich und dauerhaft sichtbar machte. Macht wurde auf diese Weise sowohl demonstrativ visualisiert als auch – weniger plakativ – sichtbar.

4 Diese Überlegungen zum Machtbegriff und zum Verhältnis von Infrastrukturen und Macht beziehen sich auf die einleitenden Überlegungen von Jens Ivo Engels und Gerrit Jasper Schenk in diesem Band. 5 Vgl. dazu und zum Zusammenhang von Technologie und Staatsmacht: Chandra Mukerji, Intelligent Uses of Engineering and the Legitimacy of State Power, in: Technology and Culture 44, 2003, 655–676.

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I. Naturvorstellungen und Infrastrukturen in der Frühen Neuzeit Die Naturwahrnehmung der Frühen Neuzeit war sowohl ambivalent als auch höchst dynamisch, und sie unterschied sich maßgeblich nach sozialem Status und lebensweltlicher Prägung: Der Blick der bäuerlichen Bevölkerung auf die Natur war demjenigen der städtischen Eliten in vieler Hinsicht entgegengesetzt, religiös konturierte Naturkonzeptionen scheinen mit denjenigen der Ingenieure und Architekten kaum in Einklang zu bringen zu sein, die Maßnahmen der Obrigkeiten zur Zähmung und Indienstnahme der Natur stießen häufig auf den zähen Widerstand der Mehrheitsbevölkerung. 6 ‚Natur‘ war zunächst das dem Menschen beziehungsweise der menschlichen Kultur Entgegengesetzte, das ganz Andere, das man sich möglichst vom Leibe zu halten hatte: Der Gegensatz zwischen der umhegten Ordnung der Stadt und der sie umgebenden bedrohlichen Unordnung der Natur gehörte zu den Grundlagen des Selbstverständnisses frühneuzeitlicher Eliten. 7 Zugleich jedoch wurden der natürlichen Umwelt Eigenschaften zugeschrieben, die sie als unmittelbaren Ausdruck der gött-

6 Dies war eine der prägenden Erfahrungen bzw. Wahrnehmungen der Ingenieure und Bürokraten des 18.Jahrhunderts; ihre Sicht auf die „Starrköpfigkeit und Rückwärtsgewandtheit“ der Landbevölkerung wurde zu einer der zentralen Kategorien nicht nur der Aufklärer, sondern auch der aufgeklärten Wissenschaft der Moderne; vgl. Günter Beyerl, Die Natur als Warenhaus. Der technisch-ökonomische Blick auf die Natur in der Frühen Neuzeit, in: Sylvia Hahn/Reinhold Reith (Hrsg.), Umwelt-Geschichte. Arbeitsfelder – Forschungsansätze – Perspektiven. (Querschnitte, Bd. 8.) Wien/München 2001, 33–52, hier 48f. Beispiele für diese Konfrontation zwischen Bürokraten und Ingenieuren auf der einen, der ländlichen Bevölkerung auf der anderen Seite bei: Christian Wieland, Fürsten, Freunde, Diplomaten. Die römisch-florentinischen Beziehungen unter Paul V. (1605–1621). (Norm und Struktur, Bd. 20.) Köln/Weimar/Wien 2004, 273–300; ders., Grenzbewusstsein? Politiker und Bevölkerung in den römisch-florentinischen Auseinandersetzungen um das Chianatal unter Paul V., in: Innsbrucker Historische Studien 23/24, 2004, 379–401. Eine Darstellung aktueller Trends der deutschen Umweltgeschichte bei Nils Freytag, Deutsche Umweltgeschichte – Umweltgeschichte in Deutschland. Erträge und Perspektiven, in: HZ 283, 2006, 383–407. 7 Vgl. dazu Suzanne B. Butters, Christine of Lorraine and Cultural Exchanges in the Countryside: International Customs in Local Settings, in: Christina Strunck (Ed.), Medici Women as Cultural Mediators (1533– 1743). (Biblioteca d’arte, Vol.35.) Mailand 2011, 111–147, hier 111. Auch in der deutschen Aufklärung galt die konkret vorgefundene Umwelt gemeinhin als „scheußliche Natur“; allein die landwirtschaftlich genutzte Fläche wurde als „schöne Landschaft“ wahrgenommen; vgl. Ulf Küster, Natur ordnen. Landschaftserfahrung im 18.Jahrhundert, in: Richard Saage/Eva-Maria Seng (Hrsg.), Von der Geometrie zur Naturalisierung. Utopisches Denken im 18.Jahrhundert zwischen literarischer Fiktion und frühneuzeitlicher Gartenkunst. (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung, Bd. 10.) Tübingen 1999, 109–116, hier 112.

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lichen Schöpfung – im Gegensatz zur degenerierten Zivilisation – zum musterhaften Vorbild machten. 8 So begriffen die Architekten der italienischen Renaissance ihr Tun als Nachahmung der Natur, insofern sie als Schöpfer und im Nachvollzug des göttlichen Schöpfungsaktes selbst eine zweite Natur, un’altra natura, schufen, die den Menschen eine sowohl genuine als auch sublimierte und zudem didaktische Naturerfahrung vermittelte. 9 Die frühneuzeitlichen Modi des Sprechens über Natur und des Umgangs mit ihr waren bestimmt von der Spannung – oder vielleicht besser: unverbundenen Koexistenz – von durch die Nähe zum Göttlichen (und damit Ursprünglichen) vermittelter Vorbildhaftigkeit und Unverfügbarkeit einerseits, der expliziten Indienstnahme und Unterwerfung unter aktuelle Bedürfnisse andererseits. 10 Im Gefolge der Aufklärung verschwand der Gottesbezug zunehmend aus den theoretischen Schriften über die Natur und ihr ökonomisch verwertbares Potential, und auch die Begründungen für Eingriffe in die Natur sowie für Schutzmechanismen gegen Naturkatastrophen mussten sich zunehmend weniger gegen den Vorwurf verteidigen, sie stellten eine Konkurrenz zu Gott dar, der mithilfe der Natur mit den Menschen kommunizierte und durch sie Segen und Strafe vermittelte. 11 Die Vorstellung von der „Natur als Warenhaus“, aus dem der Mensch sich ohne Rücksicht auf die Zwänge der Religion und der Tradition bedienen durfte, war in dieser Explizitheit ein Produkt des 18.Jahrhunderts. 12 Diese Beobachtung sollte jedoch den Blick für vergleichbare Umgangsformen mit der Natur in der früheren Frühen Neuzeit nicht verstellen: Im Rahmen ihrer technischen Möglichkeiten formten Obrig-

8 Vgl. Gerhard Jaritz/Verena Winniwarter, On the Perception of Nature in a Renaissance Society, in: Mikuláš Teich/Roy Porter/Bo Gustafsson (Eds.), Nature and Society in Historical Context. Cambridge 1997, 91–111. 9 Dazu Marcus Frings, „Un’altra natura“. Das Naturvorbild in der Architekturtheorie der italienischen Renaissance, in: Hartmut Laufhütte (Hrsg.), Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 35.) Wiesbaden 2000, 301–307; vgl. auch Ansgar M. Cordie, Mimesis bei Aristoteles und in der Frühen Neuzeit, in: ebd.277–288. 10

Vgl. dazu Ernst Schubert, Scheu vor Natur – Ausbeutung der Natur – Formen und Wandlungen des Um-

weltbewußtseins im Mittelalter, in: ders./Bernd Hermann (Hrsg.), Von der Angst zur Ausbeutung. Umwelterfahrung zwischen Mittelalter und Neuzeit. Frankfurt am Main 1994, 13–58, 16–21. 11

Zur religiösen Dimension der frühneuzeitlichen Naturwahrnehmung: Jaritz/Winniwarter, Perception

(wie Anm.8), 99–102. 12

Beyerl, Natur (wie Anm.6); zur Wahrnehmung der Natur als das ‚Andere‘, das ‚Feindliche‘ vor dem

18.Jahrhundert ebd.34.

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keiten, gemeinsam mit einer wachsenden Zahl von Ingenieuren, die Umwelt nachhaltig um, doch sie sahen sich dabei einem größeren Zwang zur religiösen und kulturellen Rechtfertigung ausgesetzt als ihre aufgeklärten Nachfolger. 13 Insofern erscheinen das Sprechen über die Natur und das Handeln mit ihr, wie sie sich in der Sattelzeit entwickelten, eher als ein Prozess der Vereindeutigung der Diskurse als der Transformation der Praktiken. 14 Die historische, soziologische und politikwissenschaftliche Betrachtung von Infrastrukturen ist durch ihre enge Verknüpfung mit dem modernen Staat gekennzeichnet: Staaten gelten als die zentralen Akteure für die Organisation, Durchführung und Instandhaltung von Infrastrukturen, und die Kategorie der ‚Planung‘ spielt für diesen Aspekt der Selbstbeschreibung der Staaten und der durch sie monopolisierten Handlungsfelder eine entscheidende Rolle. 15 Die Anwendung des Begriffs ‚Infrastrukturen‘ auf vormoderne Zustände impliziert daher gewisse Modifizierungen: Die entstehenden Territorialstaaten überführten zwar Infrastrukturaufgaben in steigendem Maße aus der Verantwortlichkeit traditioneller, autonomer und korporativ verfasster Einheiten in ihre eigene und erwarben auf diese Weise sowohl realen Machtzuwachs als auch neuartige Formen der Legitimation und Repräsentation, doch diese frühstaatlichen Infrastrukturmaßnahmen blieben nicht nur regional begrenzt, ihnen fehlte auch das Pathos der mit dem Begriff der Planung verbundenen Zukunftsgestaltung. 16 Dennoch lässt sich im Zusammenhang mit dem

13 Beispiele für einen am ökonomischen Nutzen orientierten Umgang mit der Natur im Italien des 16.Jahrhunderts: Giuseppina Carla Romby, Descrizioni della Val di Chiana dal XVI al XVIII secolo, in: Bonifica della Val di Chiana. Mostra documentaria. Florenz 1981, 15–19, hier 15; Giovanni Casali, Annotazioni archivistiche sulle bonifiche nella Val di Chiana nel periodo mediceo, in: ebd.47–53, hier 47, 52. 14 Beyerl, Natur (wie Anm.6), 50. 15 Wegweisend für die historische Analyse von Infrastrukturen: Dirk van Laak, Infra-Strukturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001, 367–393. Vgl. auch ders., Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte im 20.Jahrhundert. Stuttgart 1999. Für die Verknüpfung von Staatlichkeit mit der Planung, Durchführung und Pflege von Infrastrukturen siehe Alexander Jäger, Der Zusammenhang von Staat und Infrastruktur und die Privatisierung von Infrastrukturen aus staatstheoretischer Perspektive, in: Volker Schneider/Marc Tenbrücken (Hrsg.), Der Staat auf dem Rückzug. Die Privatisierung staatlicher Infrastrukturen. Frankfurt am Main/New York 2004, 29–52. 16 Zum Aufstieg des Planungsdenkens im Zusammenhang mit Eingriffen staatlicher Behörden in die natürliche Umwelt in der Epoche der Aufklärung: Beyerl, Natur (wie Anm.6), 44. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Gerhard Zweckbronner, Mensch, Natur, Maschinen im Spiegel dreier Jahrhundertwenden. Ein Vergleich, in: Mythos Jahrhundertwende. Mensch, Natur, Maschine in Zukunftsbildern. 1800 – 1900 – 2000. Baden-Baden 2000, 320–343, vor allem 321–330.

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Wachstum der Staatsgewalt in der Frühen Neuzeit eine quantitative und qualitative Steigerung von Infrastrukturprojekten verzeichnen, die sich aus verschiedenen Quellen speiste: militärischen Ansprüchen, ökonomischen Erwägungen und den Bedürfnissen einer stetig ausgreifenden höfischen Repräsentation. 17 Einer der wesentlichen Aspekte moderner Infrastrukturen, nämlich jener der Integration, war mit ihren vormodernen Vorläufern nicht – oder nur am Rande – intendiert, doch in Teilen geriet dieses Medium der Herstellung und Darstellung von Herrschaft zu einem Mechanismus der Integration des Territoriums und der Untertanen. 18 Was jedoch den Bereich der im Zusammenhang mit der höfischen Lebensweise geschaffenen Infrastrukturen angeht – und um diesen soll es im Folgenden gehen –, lässt sich sogar von gegenteiligen Absichten ausgehen: Sie dienten dazu, die Grenze zwischen der Elite und den Beherrschten eindeutig zu markieren und somit Herrschaft gerade durch das Element der Exklusion zu repräsentieren. 19 Eine für die Zustände der Frühen Neuzeit angemessene Definition von Infrastrukturen muss diese Spezifika berücksichtigen: Es handelt sich um Medien, die sich zwischen der natürlichen Umwelt und der menschlichen Lebenswelt befinden; sie ermöglichen den Zugriff auf die Ressourcen der Natur und ihre Nutzung für die Gestaltung und die Erleichterung des Alltags – sie bringen die Natur der Gesellschaft also auf zivilisierte Weise nahe und machen sie ihr verfügbar und fungieren gleich17

Ein Beispiel für den ausgeprägten Gestaltungswillen frühneuzeitlicher Fürsten, Bürokraten und Inge-

nieure im Blick auf die natürliche Umwelt stellt das Herzogtum Florenz beziehungsweise Großherzogtum Toskana der Medici dar; vgl. Butters, Christine of Lorraine (wie Anm.7), 114. Zum Zusammenhang des politischen Umgangs mit der Natur – von „Infrastrukturpolitik“ – mit dem Ausbau bürokratischer Institutionen, mithin der Intensivierung von Staatlichkeit, vgl. beispielsweise Birgit Emich, Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit. Ferrara und der Kirchenstaat. Köln/Weimar/Wien 2005, 177–225 u. öfter. 18

van Laak, Infra-Strukturgeschichte (wie Anm.15), 368.

19

Die Herstellung eines Lebensraums für die höfische Gesellschaft war gleichbedeutend mit der Einhe-

gung und Verfügbarmachung der Natur und der eindeutigen Markierung der Grenze zwischen dem fürstlichen Hof einerseits, dem Gros der Untertanenschaft andererseits; vgl. dazu Martin Knoll, Hunting in the Eighteenth Century. An Environmental History Perspective, in: Historcial Social Research 29, 2004, 9–36. Ausführlich zu den technikgeschichtlichen und v.a. hydraulischen Dimensionen der frühneuzeitlichen höfischen Kultur: Albert Bauer, Wasser für Schlösser und Gärten, in: Albrecht Hoffmann (Red.), Die Wasserversorgung in der Renaissancezeit. (Geschichte der Wasserversorgung, Bd. 5.) Mainz 2000, 145–194. Einzelbeispiele für die Wasserversorgung von Fürstengärten im Europa des 16. und 17.Jahrhunderts sowie die Zusammenhänge zwischen Ingenieurskunst, Infrastrukturen und höfischer Repräsentation: José Antonio García-Diego, Juanelo Turrianos Wasserkunst in Toledo, in: ebd.270–276; Piet Lombaerde, Die Wasserkünste des Coudenbergparks in Brüssel, in: ebd.277–284; Albert Bauer, Die Wasserkünste des Schlosses Hellbrunn, in: ebd.285–293.

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zeitig als Mechanismen der Distanzierung zwischen Natur und Gesellschaft. Sie dienen ferner dazu, Kommunikation zwischen voneinander entfernten Menschen und Gruppen zu ermöglichen und auf Dauer zu stellen. 20 Die Infrastrukturen, die im Zusammenhang mit der Errichtung neuer Residenzen und dem Ausbau vorhandener Wohnsitze der Fürstenfamilien in den Zentren und Peripherien der neuen Territorialstaaten ins Werk gesetzt wurden, erscheinen in dieser Perspektive als zunächst nicht intendierte Nebenprodukte eines zentralen Elements monarchischer Herrschaft.

II. Höfische Kultur als Motor der Entwicklung von Infrastrukturen: Beispiele Fürst Johann Josef Khevenhüller-Metsch war als Obersthofmeister Maria Theresias einer der unmittelbarsten ‚teilnehmenden Beobachter‘ des Wiener höfischen Alltags in der Mitte des 18.Jahrhunderts – und insofern handelt es sich bei seinen Tagebuchaufzeichnungen um eine zentrale Quelle für die höfischen Netzwerke und zeremoniellen Gepflogenheiten im Umfeld der Habsburgermonarchie. 21 Khevenhüllers Amt machte ihn im Kontext des höfischen Lebens eher zu einem gestaltenden Akteur als zu einem partizipierenden Teilnehmer oder gar passiven Zuschauer; seine Tagebücher sind ein Dokument der kulturellen und ständischen Selbstvergewisserung, geprägt durch die Gunst der Monarchin und die familiäre und gesellschaftliche Integration in die Spitzenränge des erbländischen Adels – beides bedurfte der regelmäßigen Aktualisierung durch Nähe her- und darstellende Praktiken. Beschreibungen der Ausflüge und Reisen des Wiener Hofes machen einen großen Teil der Tagebücher Khevenhüllers aus: Immer wieder wechselte der Hof seinen Aufenthalt zwischen Wien und Schönbrunn, oder die kaiserliche Familie und ihre Dienerschaft begaben sich nach Klosterneuburg und Laxenburg in der unmittelbaren Um-

20 Zur Begriffsbestimmung vgl. van Laak, Infra-Strukturgeschichte (wie Anm.15), 370–372. Vgl. auch Christian Wieland, Grenze zwischen Natur und Machbarkeit. Technik und Diplomatie in der römisch-florentinischen Diskussion um die Valdichiana (17.Jahrhundert), in: Saeculum 58, 2007, 13–32, hier 13. 21 Eine Edition der Tagebücher des Fürsten Khevenhüller-Metsch: Theater, Feste und Feiern zur Zeit Maria Theresias 1742–1776. Nach den Tagebuchaufzeichnungen des Fürsten Johann Joseph KhevenhüllerMetsch, Obersthofmeister der Kaiserin, hrsg. v. Elisabeth Grossegger. (Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Bd. 476.) Wien 1987.

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gebung der Hauptstadt. Doch auch zeitlich und räumlich ausgedehntere Reisen prägten den politischen Stil und die Alltagskultur des Habsburger Hofes, beispielsweise nach Oberösterreich und durch Böhmen. Im Licht dieser peripatetischen Praxis ist es durchaus irreführend, von einem „Wiener Hof“ zu sprechen, der sich viel eher als gesamt-erbländischer Hof realisierte, sowohl in Bezug auf die landsmannschaftliche Zusammensetzung seiner Mitglieder als auch in Bezug auf seine wechselnden Orte. 22 Im Sommer des Jahres 1743 begab sich der Hof auf eine Reise durch Böhmen und Oberösterreich; einen Teil der Rückreise legte man auf dem Wasserweg zurück, auf prächtigen Staatsschiffen, die eigens für die Donauschifffahrt konstruiert worden waren. Nach einem Aufenthalt im Stift Melk unternahm man einen Abstecher nach Zwentendorf, dem Sitz des Oberststallmeisters Grafen Althann. An der Mündung des Kanals, der das Gutsareal von Zwentendorf mit der Donau verband, stieg man von den Staatsschiffen auf die „Lustyacht“ des Hausherrn um – denn das Schiff wäre „zu schwär gewesen, um in den gar zu seichten Canal einlauffen zu können“ –, fuhr bis zum Schloss, wo man das Mittagsmahl einnahm, und kehrte danach auf dem selben Wege wieder zur Donau zurück. Diese geriet bei der sich anschließenden Einfahrt nach Wien zur Bühne monarchischer Selbstdarstellung sowie zeremonieller Interaktion zwischen der Monarchin und der hauptstädtischen Bevölkerung. An beiden Ufern der Donau stand, wie es bei Khevenhüller heißt, eine „solche Menge Volcks“, das immer wieder den Ruf „Vivat Maria Theresia“ ausstieß, dass die kürzlich zur Königin von Böhmen Gekrönte ihrer Rührung kaum Herr zu werden vermochte. 23 Die zahlreichen Reisen des Hofes hatten für die Erschließung des habsburgischen Herrschaftsgebiets mit Infrastrukturen gegebenenfalls keine unmittelbaren praktischen Auswirkungen; sie trugen jedoch zu einer Neuinterpretation vorhandener Infrastrukturen – vor allem des Netzes aus Straßen und Wasserwegen – bei, indem sie als Grundlage der Realisierung und Repräsentation einer gesamtösterreichischen Herrschaft genutzt wurden. Dabei spielten Flüsse, spielte besonders die Donau als

22

Zum kontinuierlichen Ortswechsel als Strukturprinzip der frühneuzeitlichen Höfe vgl. Butters, Chris-

tine of Lorraine (wie Anm.7), 134. Allgemein zum Wiener Hof in der Frühen Neuzeit: Jeroen Duindam, Vienna and Versailles. The Courts of Europe’s Dynastic Rivals, 1550–1780. Cambridge 2003; Andreas Pečar, Die Ökonomie der Ehre. Höfischer Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711–1740). Darmstadt 2003. Zur Festkultur am Hof Maria Theresias: Monika Fink, Tanzveranstaltungen und Tanzformen am Hofe und zur Zeit von Kaiserin Maria Theresia, in: Innsbrucker Historische Studien 14, 1994, 65–76. 23

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Khevenhüller-Metsch, Theater (wie Anm.21), 12.

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der Fluss der Habsburgermonarchie, eine kaum zu überschätzende Rolle. 24 Die Umstände des Zusammentreffens Maria Theresias und ihres Hofes mit der Familie Althann verdeutlichen zudem, dass sich die Erschließung des Landes mit Infrastrukturen, ihre Nutzung und symbolische Vereinnahmung als Gemeinschaftsaktion der Monarchie und des höfischen Adels verstehen lassen: Der gräfliche Kanal stellt sich in der geschilderten Episode als Fortsetzung der kaiserlich-königlichen Donau dar, doch flacher, dadurch untergeordnet, nicht als Konkurrenz, sondern als bescheidene Ergänzung. Dieudonné Thiébault war Friedrich II. von Preußen durch d’Alembert als Sprachlehrer für die Académie militaire in Berlin empfohlen worden; der Gelehrte wurde nicht nur in die Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen, er gehörte auch von 1765 an für zwanzig Jahre zur engeren Hofgesellschaft – als Vertrauter des Königs und als Lehrer und Gesprächspartner der Prinzen und Prinzessinnen des königlichen Hauses. Nach seiner Rückkehr nach Paris verfasste Thiébault Memoiren, die von der friederikomanen deutschen Öffentlichkeit des 19.Jahrhunderts als Zeugnisse der unmittelbaren Anschauung des borussischen Genies gefeiert wurden – was sie, als mit großem zeitlichen Abstand verfasste und den genreinternen Regeln verpflichtete Selbstzeugnisse, selbstverständlich nicht sind. 25 Aus ihnen lässt sich jedoch die Wahrnehmung der preußischen Hofkultur aus der Perspektive eines kulturell und sozial Fremden herauspräparieren, was Rückschlüsse auf ihre Rezeption und Wirkung erlaubt. Thiébault widmet einen längeren Abschnitt seiner Erinnerungen der Person des Prinzen Heinrich, des nächstjüngeren Bruders des Königs. Nach seiner Verheiratung erhielt der Prinz die Mittel zu einer selbständigen Hofhaltung in Rheinsberg. 26 Eine Besonderheit des Rheinsberger Hofes war, dass die höfische Gesellschaft sich im Sommer in den Wald begab, „wo jeder sein einfach aber geschmackvoll eingerichtetes Borkenhäuschen hatte. […] Der große Wald bot schöne Partieen, man fand in ihm

24 Ähnlich zu bewerten sind die aufwändig inszenierten Reisen der Medici auf dem Arno; vgl. Butters, Christine of Lorraine (wie Anm.7), 122. 25 Dieudonné Thiébault, Friedrich der Große und sein Hof. Persönliche Erinnerungen an einen 20jährigen Aufenthalt in Berlin. Bearb. v. Heinrich Conrad. 2 Bde. 3.Aufl. Stuttgart 1901. 26 Zur Dynastiepolitik Friedrichs des Großen vgl. Daniel Schönpflug, Friedrich der Große als Ehestifter: Matrimoniale Strategien im Haus Hohenzollern 1740–1786, in: Friederisiko – Friedrich der Große. Die Essays. München 2012, 72–83.

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auch Blumengärten und verschiedenartige Alleen; außerdem umschloß er zwei ziemlich große Seen, die zu mancherlei Vergnügungen Anlaß boten; […].“ 27 Hinsichtlich der Frage nach den Folgen der höfischen Lebensweise für die Entwicklung von Infrastrukturen liefert diese Episode verschiedene Anhaltspunkte. Zunächst wird deutlich, dass die Dynastie in ihrer Gesamtheit daran mitwirkte, das Territorium an verschiedenen Punkten zu erschließen, und zwar in konzentrischen Kreisen um die Hauptstadt. Es ist bemerkenswert, dass es weniger die Hauptstadt selbst war, sondern vielmehr ihr weiteres Umland, das unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. von Preußen als Bühne monarchisch-dynastischer Repräsentation diente. Damit wurden in Orten wie Königs-Wusterhausen, Potsdam oder Rheinsberg noch deutlicher, als dies in Berlin selbst möglich gewesen wäre, mit den verschiedenen königlichen und prinzlichen Hofhaltungen geschlossene Parallelwelten geschaffen, die soziale Distanz und kulturelle Exklusivität kommunizierten: Die Lebenswelten der Dynastie und ihrer engsten Vertrauten und Diener auf der einen, die der großen Mehrheit der Bevölkerung auf der anderen Seite waren deutlich voneinander abgesetzt. 28 Zweitens lässt sich erkennen, dass die Etablierung einer höfischen Welt wesentlich auf der Interaktion mit der natürlichen Umwelt basierte. Die zeitweise Transformation des preußischen Prinzen und seiner Hofchargen zu Waldmenschen – Robin Hood- oder Faerie Queene-Assoziationen drängen sich auf – erscheint als Spiel, in dem die Grenze zwischen Kultur und Natur aufgehoben ist und das doch wesentlich von der Unterwerfung der Natur unter den Gestaltungswillen der Mächtigen lebt. Die Erschließung der Natur – des Waldes und der Seen – durch Infrastrukturen – Straßen und Wege sowie Entwässerungsanlagen und Kanäle – war Voraussetzung der höfischen Existenz, doch handelte es sich bei diesen Infrastrukturen eben nicht um Maßnahmen, die dem Gemeinwohl verpflichtet waren, sondern um Medien der Überhöhung der Dynastie, der es gelungen war, das Land durch die Indienstnahme der Natur zu beherrschen und an entscheidenden Punkten zu markieren. 29

27

Thiébault, Friedrich der Große (wie Anm.25), 200.

28

Vergleichbare Entwicklungen lassen sich mit der Anlage von Villen und Gärten in der Umgebung

Roms für die päpstliche Herrschaft des 16. und 17.Jahrhunderts beobachten: Bauer, Wasser (wie Anm.19), 150, 154f. 29

Thiébault, Friedrich der Große (wie Anm.25), 128f., berichtet, dass Friedrich II. von Preußen auch in

den Wintermonaten Früchte für seine Tafel orderte und für diese, Kirschen, Pflaumen oder Ananas, höchste Preise zahlte. Thiébault interpretiert diese Essgewohnheit zwar als „für das Gemeinwohl sehr nützlich“,

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Das, was die fürstlichen Dynastien und die Elite des Adels mit dem Ausbau von auf die höfische Lebensform ausgerichteten Infrastrukturen intendierten, scheint auf dem Hintergrund dieser Beispiele deutlich: Durch die ostentative Beherrschung der Natur und ihre Nutzung für die Gestaltung des höfischen Alltags wurden Anspruch und Praxis einer aus monarchischen und aristokratischen Elementen gemischten Herrschaft über Land und Leute hergestellt und dargestellt. Infrastrukturen fungierten als Medium der Integration der höfischen Gesellschaft, der internen Kommunikation zwischen der regierenden Familie und ihren vornehmsten Dienern, und sie stellten eine Bühne der zeremoniellen Selbstdarstellung der Monarchie vor der Bevölkerung sowie ihrer ritualisierten Interaktion bereit. Die Art und Weise, wie der Umgang mit diesen auf die Umwelt bezogenen Einrichtungen funktional und symbolisch zwischen Fürsten und Adel sowie zwischen der Hauptstadt und den Peripherien des Landes aufgeteilt und zugeordnet wurde, lässt Rückschlüsse auf die je unterschiedlichen Anteile an der Ausübung der Herrschaft und damit den Charakter der jeweiligen Monarchien zu, die in höchst unterschiedlichem Maße auf die Kooperation mit den traditionellen Oberschichten setzten. Die mit dem Mittel der Infrastrukturen geschaffene beziehungsweise intensivierte Rechtfertigung und Stabilisierung von Herrschaft bot jedoch immer auch ein Einfallstor für Kritik, die zwar nicht unbedingt grundsätzlich antimonarchisch ausfallen musste, die sich jedoch häufig auf den konkreten Regierungsstil eines Monarchen oder die von einer bestimmten Dynastie gepflegten Muster der Repräsentation und des Politik-Machens richtete. Indem die frühneuzeitlichen Könige gewissermaßen die Verantwortung für die Natur übernahmen – die Bonifikation von Sümpfen ebenso wie die demonstrative Wohltätigkeit nach harten Wintern oder Überschwemmungen erscheinen in dieser Perspektive als Aspekte von durch die Beherrschung der Natur charakterisierter monarchischer Herrschaft, die in der Anlage von Infrastrukturen gipfelte 30 –, konnte man sie auch für das Nicht-Funktionieren der Natur unmittelbar zur Rechenschaft ziehen und die Kritik an ihrer Regierungsweise und Person in

tatsächlich handelte es sich jedoch um ein außerordentlich wirksames Medium der Distanzierung des Monarchen von der Mehrheitsbevölkerung und zugleich um ein Instrument der Darstellung von Macht: Der Geschmack des Fürsten diktiert der Natur, ja er überwindet ihre Grenzen. Zur Hofkultur unter Friedrich dem Großen vgl. Thomas Biskup, Eines Großen würdig? Hof und Zeremoniell bei Friedrich II., in: Friederisiko (wie Anm.26), 96–113. 30 Suzanne B. Butters, Princely Waters: An Elemental Look at the Medici Dukes, in: Arturo Calzona (Ed.), La civiltà delle acque. Vol.1. Florenz 2010, 389–410, 389–395, 398–401, 406f.

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die Kritik an gescheiterten, gefährdeten oder unvollendet gebliebenen Infrastrukturen kleiden. Für Ludwig XIV. bedeutete die mit höchstem Aufwand durchgeführte Umgestaltung der Landschaft um Versailles, die zum Teil im Widerstreit mit den dort ursprünglich vorgefundenen naturräumlichen Bedingungen lag, nicht nur eine auf den umgrenzten Raum des Hofes bezogene Darstellung von Macht – die Fähigkeit zur Unterwerfung der Natur als Ausweis der Fähigkeit zur Herrschaft über die Gesellschaft –, sondern Versailles war gleichsam das Modell für das gesamte Königreich: Wie der Sonnenkönig sich die Wälder, Gewässer und den Boden in Versailles unterwarf, so auch Frankreich insgesamt, das zum Garten des Königs werden sollte. 31 Es handelte sich bei dieser Idee um eine ursprünglich im Italien des 16.Jahrhunderts entwickelte Vorstellung, die im Zusammenhang mit den dynastischen Eheschließungen zwischen der französischen Königsfamilie und den Fürstenfamilien der italienischen Territorialstaaten nach Frankreich exportiert worden war 32; die eindeutige Grenze zwischen dem Raum des Hofes und dem Raum der Mehrheitsbevölkerung wurde auf diese Weise zwar nicht zur Gänze aufgehoben, wohl aber in der Art verschoben, dass der Hof sich gleichsam in das Land hinein ausdehnte, es überformte und integrierte. Die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon sind eine stilistisch meisterhafte Abrechnung mit der Regentschaft Ludwigs XIV. – die späte Rache eines duc et pair, der als einer der wenigen Angehörigen der Spitzenränge des französischen Adels nicht von der Neuausrichtung des monarchischen Stils unter dem Sonnenkönig profitierte und dem daher dessen Epoche als eine der nie zuvor gekannten sozialen Umwälzung und Missachtung naturgegebener Hierarchien erschien. 33 Es musste SaintSimon darum zu tun sein, die Situation des als persönliche Demütigung empfun-

31

Chandra Mukerji, Territorial Ambitions and the Garden of Versailles. Cambridge 1997; zum Zusam-

menhang von Gartenarchitektur und Gesellschaftspolitik vgl. v.a. 198–247. Vergleichbare Zusammenhänge – wenn auch unter gänzlich anderen machtpolitischen und kulturellen Bedingungen – gelten für die Herrschaftsauffassung des Fürsten Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau und sein „Wörlitzer Gartenreich“; vgl. Eva-Maria Seng, Die Wörlitzer Anlagen zwischen Englischem Landschaftsgarten und BonSauvage-Utopie, in: Saage/dies., Geometrie (wie Anm.7), 117–150. Vgl. dazu auch: Erhard Hirsch, Utopia realisata. Utopie und Umsetzung: Aufgeklärt-humanistische Gartengestaltung in Anhalt-Dessau, in: ebd.151–179; Michael Niedermeier, Wörlitz als höfische Veranstaltung? Eros zwischen höfischer Selbstreflexion, pädagogischer Kontrolle und naturalisierter Utopie, in: ebd.180–208.

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32

Butters, Christine of Lorraine (wie Anm.7), 111–119.

33

Zur Adelspolitik Ludwigs XIV. sowie zu den Handlungsfeldern des französischen Hoch- und Hofadels

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denen sozialen Ausschlusses – gerade weil sie ein Ausnahmefall war – als allgemeines Strukturelement des ludovizianischen Königtums erscheinen zu lassen; in diesem Sinne geriet denn auch seine Charakterisierung der Parkanlagen von Versailles zu einer Metapher für den rücksichtslosen Umgang Ludwigs XIV. mit der französischen Adelsgesellschaft, mit der Tradition, ja mit Frankreich überhaupt. In den Erinnerungen heißt es: „Die Gärten, die durch ihren prächtigen Anblick zunächst verblüffen, enttäuschen, sobald man sie betritt, und bezeugen […] wenig Geschmack. Will man kühlen Schatten genießen, muß man erst eine weite, dürre und heiße Fläche überqueren, der Kies brennt an den Sohlen, aber ohne diesen Kies würde man entweder im Sand oder im schwärzesten Morast versinken. Die Vergewaltigung, die der Natur hier überall angetan wird, wirkt abstoßend und erfüllt einen unwillkürlich mit Widerwillen. Das Wasser, das in Mengen von allen Seiten mühsam herbeigeleitet und aufgestaut werden muß, ist grünlich, dickflüssig, modrig und schleimig; es verbreitet eine höchst ungesunde, lästige Feuchtigkeit und einen nicht minder ungesunden faulen, üblen Geruch. Der Anblick der Wasserspiele, die immerhin Beachtung verdienen, ist unvergleichlich, aber die Umstände bewirken, daß man bewundernd die Flucht ergreift.“ 34

Viel Schein und wenig Sein, Repräsentation ohne Nutzen, der gescheiterte Versuch, eine Natur gegen die Natur zu schaffen, die Nichtbeachtung der in der Natur angelegten Prinzipien, und damit ihre vollkommene Pervertierung – gerade die auf Außendarstellung abzielenden Infrastrukturen waren in hohem Maße auf den technischen Erfolg angewiesen; ansonsten steigerten sie nicht die Autorität ihres Urhebers, sondern unterhöhlten sie.

vgl. Leonhard Horowski, Die Belagerung des Thrones. Machtstrukturen und Karrieremechanismen am Hof von Frankreich 1661–1789. (Beihefte der Francia, Bd. 74.) Ostfildern 2012. 34 Die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon. Hrsg. u. übers. v. Sigrid von Massenbach. Bd. 3: 1710–1715. Frankfurt am Main 1977, 295.

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III. Höfische Infrastrukturen zwischen Erfolg und Misserfolg: Die Repräsentation der Medici-Herrschaft in Pratolino Die mit höfischen Infrastrukturen verbundenen Elemente monarchisch-aristokratischer Herrschaft – ihre Legitimation, Herstellung und Darstellung, ihre Kommunikation sowie die Möglichkeit ihrer Kritik –, die ich anhand von österreichischen, preußischen und französischen Beispielen aus dem 18.Jahrhundert ermittelt habe, möchte ich nun abschließend anhand eines italienischen Beispiels aus dem 16.Jahrhundert sowohl zusammenfassen als auch erweitern. 35 Ab 1568 ließ Francesco de’ Medici, der zukünftige Großherzog von Toskana, im Gebiet zwischen Florenz und Cafaggiolo die Villa Pratolino errichten. Es handelte sich hierbei um einen Ort, der ausdrücklich den ‚Freunden‘ des Prinzen vorbehalten war, also um einen Raum der binnenhöfischen Kommunikation, der für die Nichtbeteiligten zwar sicht- und spürbar war, doch im Sinne der Unterordnung unter die Herrschaft, nicht in der Partizipation. 36 In Pratolino war die dialogische Struktur des Zusammenhangs von Park und Haus besonders ausgeprägt; besonders hoch war auch der Aufwand, den man bei der Umgestaltung der ursprünglich vorgefundenen geobotanischen Zustände betrieb, beim Bau von Straßen und Wällen, und nochmals bemerkenswerter war das Gewicht, das ‚Wasser‘ in diesem Zusammenhang spielte. Um einen künstlichen See herzustellen, der als Quelle für die Kanäle, Brunnenanlagen und Wasserspiele des weitläufigen Gartens sowie als Fischreservoir dienen sollte, wurde der Fluss Mugnone umgeleitet, ein Unterfangen, das die Expertise niederländischer Ingenieure erforderte. 37 Francesco de’ Medici beabsichtigte mit Pratolino die Herstellung einer kleinen Welt, die die Ideale der guten Herrschaft abbilden sollte; dazu gehörte in besonderem Maße die Umformung und Unterwerfung der Natur – und diese Zähmung der

35

Zur Hydraulik im Italien des Mittelalters und der Renaissance vgl. Roberta Magnusson/Paolo Squatriti,

The Technologies of Water in Medieval Italy, in: Paolo Squatriti (Ed.), Working with Water in Medieval Europe. Technology and Ressource-Use. (Technology and Change in History, Vol.3.) Leiden/Boston/Köln 2000, 217–266. 36

Butters, Princely Waters (wie Anm.30), 403–406; Bauer, Wasser (wie Anm.19), 174.

37

Zu den kulturellen und gesellschaftspolitischen Implikationen des Gartens von Pratolino vgl. vor al-

lem: Suzanne B. Butters, Pressed Labor and Pratolino. Social Imagery and Social Reality at a Medici Garden, in: Mirka Beneš/Dianne Harris (Eds.), Villas and Gardens in Early Modern Italy and France. Cambridge 2001, 61–87.

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ungezähmten Wildheit wurde als Symbol der Herrschaft über Land und Leute begriffen. 38 Diese Unterwerfung der Menschen unter den Willen eines schöpferischen Herrschers – in expliziter Parallelisierung von Gott und Monarch – wurde nicht lediglich behauptet und symbolisch dargestellt: Für den Bau von Pratolino und seine Wasseranlagen wurden in noch nie dagewesenem Aufwand Bauern aus der Umgebung zwangsverpflichtet; die Bedingungen, unter denen sie ihre Arbeit zu verrichten hatten, galten auch nach den Maßstäben des späten 16.Jahrhunderts als außergewöhnlich hart und forderten zahlreiche Opfer an Menschenleben. Es scheint jedoch so, als sei auch dieser Aspekt der hydraulischen Arbeiten bewusst durch Francesco einkalkuliert worden, als Element einer Herrschaft, die nur wenig Rücksicht zu nehmen hatte, die bedingungslos und unbegrenzt war, durch die Umstände der Natur oder der Gewohnheit kaum beschränkt. Zahlreiche Teile des Bildprogramms im Garten von Pratolino scheinen diese Deutung einer die Grenze des Tyrannischen streifenden fürstlichen Herrschaftspraxis zu bestätigen: So befindet sich in einem der künstlichen Seen die Figur eines Schilf schneidenden Bauern, die Skulptur eines Bauern, wie er aus einem Fass Wasser gießt – das Sinnbild der leeren Natur des Anfangs, die zu gestalten dann Aufgabe des fürstlichen Herrn ist –, oder die Statue einer Wäscherin, denn die Reinigung der Untertanen wie auch der Natur von Unrat und Schmutz gehörte zu den wesentlichen Leitbildern fürstlicher Existenz. 39 Wenn man Infrastrukturen als Instrumente der Ermöglichung einer repräsentativen höfischen Existenz betrachtet, dann erscheint deren ästhetische und symbolische Überhöhung, ihre demonstrative Darstellung im Sinne der Repräsentation und Legitimation fürstlicher Herrschaft gleichsam als zwingende Folge ihrer Herstellung; Infrastrukturen wurden hergestellt, um im höfischen Kontext dargestellt zu werden. Das große Gewicht der Symbolisierung von Infrastrukturprojekten in der Frühen Neuzeit beschränkte sich jedoch nicht auf diejenigen, die der Integration der höfischen Binnengesellschaft dienten; auch Brücken 40 oder Brunnen 41 in den Städ-

38 Butters, Pressed Labor (wie Anm.37), 64. 39 Ebd.67–70. Zur Darstellung von „arbeitenden Untertanen“ an den Wasserkünsten fürstlicher Parks vgl. auch Bauer, Wasser (wie Anm.19), 183. 40 Vgl. beispielsweise Brigitta Röh, Studien zur politischen Ikonographie des Brückenbaus in Ober- und Mittelitalien vom 12. bis zum 15.Jahrhundert. (Kunstgeschichte, Bd. 63.) Münster/Hamburg/London 1999. 41 Vgl. Schubert, Scheu (wie Anm.10), 36–41. Besonders die römischen Brunnen des Barock wurden zu

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ten der werdenden Territorialstaaten wurden aufwendig mit Hinweisen auf die Dynastie, ihre Majestät und ihre Leistungen zum Wohl der Untertanen versehen, und zwar in einem solchen Maße, dass die repräsentative Funktion der Infrastrukturen ihren unmittelbaren praktischen Nutzen zu überwiegen schien. Tatsächlich waren ja die Infrastrukturmaßnahmen der Monarchen des 16. und 17.Jahrhunderts nicht sehr umfassend, sie erreichten ihre Territorien und Untertanen immer nur teilweise und punktuell, und gerade deswegen waren sie auf die symbolische Dimension in besonderem Maße angewiesen; die Behauptung von Nutzen ersetzte Nutzen. 42 Auch im Fall von Pratolino bot die Herstellung von höfischen Infrastrukturen Anlass zu einer grundsätzlichen Kritik an Herrschaft und Herrscher; so schrieb der erbitterte Medici-Gegner Bastiano Arditi 1579 in seinem „Diario di Firenze“ von der „[…] Verderbtheit derjenigen, die über Menschen herrschen wollen, wie man unter der Regierung des Herzogs Francesco Maria sehen kann, der der Meinung war, dass ein See sich in der Nähe seiner Villa Pratolino gut ausmachen würde. Ohne wirkliche Kenntnis gab er seine Konstruktion in Auftrag und setzte an dessen Spitze einen grausamen Holländer, der weder Gottesfurcht noch Liebe kannte; und ebenso war der Provveditore der Capitani di Parte, Benedetto Uguccioni, beteiligt, […]. Diejenigen, die ihm nicht gehorchten, wurden mit Geldbußen oder durch körperliche Züchtigung bestraft. […]; und, was noch schlimmer war, all die Landleute mussten den ganzen Tag bis zu den Knien in Wasser und Matsch stehend arbeiten, und schließlich, am Abend, war nichts vorbereitet, dass sie etwas Ruhe und Schlaf genießen konnten.“ 43

Trägern der gesellschafts- und kulturpolitischen Ambitionen der Päpste und der dynastischen Memoria ihrer Nachfahren; anschaulich finden sich diese Zusammenhänge in zeitgenössischen Stadtbeschreibungen, z.B.: Descrizione di Roma moderna formata nuovamente con le auttorità, del Card. Baronio […] Vol.2. Rom 1728, 43, 55–58, 115f., 180f., 194, 395, 490, 615, 618 u. passim. Vgl. Richard Krautheimer, The Rome of Alexander VII, 1655–1667. Princeton, N. J. 1985, 53–55, 88, 96. 42 Dazu Krautheimer, Rome (wie Anm.41), 131–147. Eine Ausnahme stellt der zwischen 1661 und 1694 im Auftrag Ludwigs XIV. angelegte „Canal du Midi“ dar, dessen Dimensionen, Kosten und schließlich auch Erfolg (sowohl als technisches Projekt als auch in politischer, wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht) als unerhörte Großtat des Königs gefeiert wurden. Vgl. dazu die bahnbrechende Studie von Chandra Mukerji, Impossible Engineering. Technology and Territoriality on the Canal du Midi. Princeton, N. J./Oxford 2009. Mukerji interpretiert den Kanal als Medium eines neuen Politikstils, als ein Instrument von „unpersönlicher Herrschaft“, mit dessen Hilfe der Sonnenkönig bzw. der werdende französische Staat nachhaltig in die Peripherie vordrangen und ihre Bewohner damit unmittelbar auf die Zentralmacht bezogen. 43

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Vgl. Butters, Pressed Labor (wie Anm.37), 70f.

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Die Kritik an der Regierungsweise der Medici, wie sie sich in der Produktion von Wasserinfrastrukturen um Pratolino niederschlug, beschränkte sich jedoch nicht auf ewig gestrige Republikaner und die schriftliche Form. Kurz nach der Vollendung von Villa und Park drangen Unbekannte in das Gelände ein und hinterließen eine Spur der Zerstörung. Von zahlreichen Statuen waren die Nasen abgebrochen worden, die Brunnenröhren waren beschädigt, das Wildgehege geöffnet. An zwei Eichen des Parks hingen Schilder mit der weithin lesbaren Aufschrift: „Dies ist der Weg, wohin erzwungene Fuhrdienste führen!“ 44 Die über das Medium der Infrastrukturen stattfindende Kommunikation zwischen Herrschern und Beherrschten war alles andere als gleichgewichtig oder gar ‚herrschaftsfrei‘; doch es handelte sich dabei keineswegs um einen ausschließlich in den Kategorien von Befehl und Gehorsam verlaufenden Monolog von ‚oben‘ nach ‚unten‘. Die symbolische Aufladung von Infrastrukturen durch die Obrigkeiten machte sie in hohem Maße angreifbar beziehungsweise prädestinierte sie geradezu als Objekte der Sabotage und Kritik; symbolische Beanspruchung von Macht und ihre symbolische Infragestellung bedingten einander wechselseitig. Die hier untersuchten Phänomene lassen sich nur teilweise als „Infrastrukturen“ im strengen Sinne beschreiben: Es handelte sich um die Indienstnahme natürlicher und naturräumlicher Gegebenheiten für die Zwecke der monarchischen Repräsentation (in der Umgebung Wiens), die Nutzung der Umwelt im Sinne einer hybriden höfischen Zivilisation, die sich als naturverbunden und ‚ursprünglich‘ repräsentierte (in Rheinsberg), oder die demonstrative Unterwerfung der Landschaft und ihre radikale Umgestaltung mit dem Ziel der Imagination monarchischer Allmacht (in Versailles). Dabei ist – gerade für die technisch und ästhetisch ambitionierteren Hofhaltungen und Residenzen – die Unterscheidung zwischen den, naiv gesprochen, Verwirklichungen und ihren medial und propagandistisch mit großem Aufwand verbreiteten Planungen und – von den faktisch auffindbaren Zuständen häufig weit entfernten – Idealzuständen insofern nicht leicht zu treffen, als beide Aspekte, die Visualisierung von Technik und die Visualisierung der Imagination von Technik 45, der Demonstration von Macht und dem Anspruch auf Herrschaft dienen konnten. Die von André Le Nôtre gezeichneten Pläne des Parks von Versailles oder die Kata-

44 Ebd.87. 45 Diese Unterscheidung bezieht sich auf die Überlegungen zur „Perzeptibilität“ von Macht von Jens Ivo Engels und Gerrit Jasper Schenk in der Einleitung zu diesem Band.

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loge der Statuten und Brunnenanlagen im Garten des Sonnenkönigs 46 beschworen, unabhängig von der unmittelbaren Erfahrung und persönlichen Anschauung der europäischen Zeitgenossen, eine bestimmte Idee des Monarchischen, die langfristig gegebenenfalls wirkmächtiger war als die königliche Residenz (bzw. ihr von Ludwig XIV. kanonisierter Zustand) selbst. Auch die von Justus Utens geschaffenen Lunet-

ten der Medici-Villen trugen dazu bei, die Vorstellung einer von der fürstlichen Familie gestalteten und dominierten Landschaft – und damit eines ‚Landes‘ im politischen Sinn – zu verbreiten, die dauerhafter war als die jeweiligen Landhäuser und ihre Nutzung und Pflege durch die toskanischen Großherzöge. 47 Zugleich basierten diese Wohnstätten der Monarchen und die eigens für ihre Belange hergestellten Umwelten – wenn man so will: die fürstlichen Parallelwelten – auf Infrastrukturen wie Land- und Wasserstraßen, sie hatten die infrastrukturelle Erschließung des Landes gleichermaßen zur Grundlage wie zur Folge 48, und sie standen in direktem Zusammenhang mit technischen Maßnahmen, die nicht allein auf die Bedürfnisse der fürstlichen Familie, sondern auf die Gesundheit und Bequemlichkeit der Untertanen, das „Allgemeinwohl“, ausgerichtet waren. Diese Beziehung wurde durch die Monarchen und die in ihren Diensten beschäftigten Künstler und Panegyriker explizit hergestellt. So galt in der Toskana der Medici eine Wasserleitung, die aus den Boboli-Gärten des Palazzo Pitti nach Florenz verlegt werden sollte, als Ausweis der Wohltätigkeit des Herzogs und der herzoglichen Dynastie gegenüber der hauptstädtischen Bevölkerung 49; eine ähnliche propagandistische Behand-

46

Vgl. beispielsweise Simon Thomassin, Recueil des statues, groupes, fontaines, termes, vases, et autres

magnifiques ornemens du chateau [sic!] & parc de Versailles. Den Haag 1723. Dieser viersprachige Katalog (auf französisch, italienisch, niederländisch und lateinisch) war eindeutig auf ein europäisches, nicht durch das Herrschaftsgebiet der französischen Monarchie begrenztes Publikum ausgerichtet. 47

Vgl. Butters, Christine of Lorraine (wie Anm.7), 127. Zur Gestaltung der Landschaft als Instrument des

fürstlichen Absolutismus vgl. auch Martin Knoll, Absolutist Landscapes. Shaping Woodlands and Managing Wildlife for the Requirements of the Baroque Hunting Culture. The Example of the 17th and 18th Century Bavarian Electors, in: News of Forest History 3/36 – 37, 2005, 135–141. 48

So zum Beispiel im Münchner Raum im Zusammenhang mit dem Ausbau der Residenzen Nymphen-

burg und Schleißheim im frühen 18.Jahrhundert; vgl. Josef Ponten, Die kurfürstlichen Kanalbauten in der Münchner Landschaft, in: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in München 21, 1928, 305–339. 49

Vgl. Bruce Edelstein, Acqua viva e corrente. Private Display and Public Distribution of Fresh Water at

the Neapolitan Villa of Poggioreale as a Hydraulic Model for Sixteenth-Century Medici Gardens, in: Stephen J. Campbell/Stephen J. Milner (Eds.), Artistic Exchange and Cultural Translation in the Italian Renaissance City, Cambridge 2004, 187–220.

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lung erfuhr der Aquädukt, der von Versailles nach Paris führte. 50 Unabhängig davon, welche Schwerpunkte Monarchen in der Zuordnung knapper Ressourcen setzten – und meist rangierten die Ansprüche der fürstlichen Haushaltung vor den Bedürfnissen der Mehrheitsbevölkerung –, mussten technologische Neuerungen und Infrastrukturprojekte sich zumindest auch mit dem Maßstab des bonum commune messen lassen. Das wiederum hieß, dass die Erschließung des Landes zwar häufig von den – anachronistisch gesprochen: „privaten“ – Wohnstätten der Fürsten ihren Ausgang nahm, sich jedoch nicht auf diese beschränkte, sondern, gleichsam in konzentrischen Kreisen, in das Land insgesamt vordrang. Diese Veränderungen der Landschaft durch Infrastrukturen lassen sich als Ausdruck monarchischer Macht deuten, und sie wurden von den Fürsten auch so beschrieben und repräsentativ überhöht; sie waren jedoch auch das Resultat einer Macht, die auf Kommunikation und Verständigung angewiesen war, ja die durch solche Prozesse des „Aushandelns“ 51 erst konstituiert wurde. Damit wären Infrastrukturen das Resultat nichtintendierter Nebenwirkungen fürstlichen Handelns – einer vom Diskurs der Nützlichkeit und Allgemeinheit sowie den Spielräumen der Kritik und Opposition der verschiedenen Bevölkerungsgruppen mehr oder weniger subtil erzwungenen „Totalaristokratisierung“.

50 Mukerji, Territorial Ambitions (wie Anm.31), 154. 51 Vgl. zu diesem Konzept André Holenstein, Kommunikatives Handeln im Umgang mit Policeyordnungen. Die Markgrafschaft Baden im 18.Jahrhundert, in: Ronald G. Asch/Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln/ Weimar/Wien 2005, 191–208, sowie kritisch dazu: Wolfgang Reinhard, Zusammenfassung: Staatsbildung durch „Aushandeln“?, in: ebd.429–438.

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Water as a Commodity? Debates and Conflicts on the (De)regulation of Water Infrastructures in Istanbul, 1885–1937 von Noyan Dinçkal

What is the best way to organize the generation, transmission and distribution of urban environmental resources? This issue rose in various cities worldwide in discussion by the end of both the nineteenth and twentieth century. One of the most difficult and controversial questions has been and still is how to organize the water markets. The increasing need for water in combination with its constantly growing lack is causing a „water crisis“ in numerous cities. 1 Many governments as well as international organizations favour solutions in accordance with the „Washington Consensus“, which means privatization of water supply. Both the United Nations and the World Bank define access to water as one of the basic a human needs, however, they do not specifically define it as a human right. 2 This distinction is not a mere rhetorical one. Human needs can be satisfied in many ways, for instance by purchase, but human rights are inalienable. 3 To conceptualize water as a human need rather than a human right seems to meet with general approval at state level: Government representatives did not object when water was defined as a commodity on the Second World Water Forum in The Hague in

1 See for example Peter H.Gleick, Water in Crisis. A Guide to the World’s Fresh Water Resources. New York/Oxford 2003; Kofi A. Annan, Foreword, in: UNESCO (Ed.), Water for the People. Water for Life. The United Nations World Water Development Report. Barcelona 2003, XI; Jessica Budds/Gordon McGranahan, Are the Debates on Water Privatization Missing the Point? Experiences from Africa, Asia and Latin America, in: Environment & Urbanization 15, 2003, 87–113. – My article has benefited from the useful and stimulating comments and suggestions of Birte Förster and, in an earlier draft, from those of Mikael Hård and Bernard Barraqué. Some parts of this article have already been published otherwise: see Noyan Dinçkal, Reluctant Modernization: The Cultural Dynamics of Water Supply in Istanbul, 1885–1950, in: Technology & Culture 49, 2008, 675–700, and Noyan Dinçkal, Arenas of Experimentation: Modernizing Istanbul in the Late Ottoman Empire, in: Mikael Hård/Thomas J. Misa (Eds.), Urban Machinery. Inside Modern European Cities. Cambridge, Mass. 2008, 49–69. 2 Kai Wegerich/Jeroen Warner (Eds.), The Politics of Water. A Survey. London/New York 2010. 3 Silke Ruth Laskowski, Das Menschenrecht auf Wasser. Tübingen 2010.

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10.1515/9783486781052.206

2000. 4 Nine years later, on the Fifth World Water Forum in Istanbul (2009) this issue was still an acute one. 5 Current debates on urban water distribution repeat many motives and arguments, that were already intensively discussed during the erection and operation of the central waterworks around 1900, such as Berlin, London, Paris, Barcelona or the Ruhr district. 6 At that time, many cities delegated the operation of waterworks and the distribution of water to private companies. Modernity and power of innovation were attributed to private investors rather than communal or state authorities. Similar to present ideas, the ,powers of the market‘ were expected to square the circle: to meet the quantitative and qualitative demands of the water consumers at low costs by means of large investments and without negative repercussions on both human being and environment. 7 The tendencies in current debates illustrated configurations on urban infrastructure and also on sociocultural and economical power relations. A historical perspective might foster our understanding of the various cultural, economic, and technological aspects of recent debates on the deregulation of the water markets. Furthermore, it may help to recognize the long-term dynamics in the connection of power and infrastructure. The mid-nineteenth century marks the beginning of Istanbul’s thoroughgoing transformation. Framed by reforms known as the Tanzimat (1839–1876), this period of far-reaching modernization profoundly affected the Ottoman capital, in its urban

2002, 10; Bernard Barraqué, Water Management in Europe: Beyond the Privatization Debate, in: Flux 8, 1992, 7–26; David Hall/Emanuele Lobina, The Private Sector in Water 2009. Public Services International Re4search Maude Barlow/Tony Clark, Blue Gold. The Battle against Corporate Theft of the World’s Water. Toronto Unit– PSIRU. March 2009 (http://www. psiru.org/publications). 5 An Istanbul Perspective on Regional Water Problems and Search for Solutions. Outcomes of the 2nd Istanbul International Water Forum. Istanbul 2011. 6 See for example Joel A. Tarr/Charles Jacobson, No Single Path: Public and Private Ownership and Financing of Infrastructure in the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: Ashoka Mody (Ed.), Infrastructure Delivery. Private Initiative and the Public Good. Washington, D. C. 1996, 1–36; Maureen Ogle, Water Supply, Waste Disposal, and the Culture of Privatism in the Mid-Nineteenth Century American City, in: Journal of Urban History 25, 1999, 321–348; Christian Eiden, Versorgungswirtschaft als regionale Organisation. Die Wasserversorgung Berlins und des Ruhrgebiets zwischen 1850 und 1930. Essen 2006; John Hassan, A History of Water in Modern England and Wales. Manchester 1998; Martin V. Melosi, Precious Commodity. Providing Water for America’s Cities. Pittsburgh 2011. 7 Thomas Kluge/Engelbert Schramm, Zwischen Kommune, Versorgungsunternehmen und Kundschaft: Herausbildung und Transformation der industriegesellschaftlichen Wasserinfrastruktur, in: Reinhard Loske/Roland Schäffer (Hrsg.), Die Zukunft der Infrastrukturen. Intelligente Netzwerke für eine nachhaltige Entwicklung. Marburg 2005, 319–346.

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structure and with its many representative functions. Modern technical networks such as gas, electricity, telegraph lines, sewage systems and centralized water supply were built. Within this framework, the establishment of Istanbul’s modern water supply followed in many respects West-European trends in building and managing its urban infrastructures. Like many European cities, Istanbul’s modern waterworks had been constructed and were operated by private water-supply companies in the late nineteenth century. 8 Until the 1930s, the water supply remained in the hands of French and German joint-stock companies for fifty years. 9 This era was influenced by various conflicts between the water companies and the municipal respective state organs. Drawing on Istanbul as a case study, this article deals with the debates on and the results of the (de)regulation of water supply. It focuses on multiple conflicts between the water companies and the municipal and national authorities, covering a period of time from the 1880s, when the first central water works was put into operation, to 1937, when the last of Istanbul’s waterworks was nationalized. Especially in the early twentieth century, the responsible authorities argued that the water companies did not fulfill their tasks. This charges, together with the radical ideological and economic changes that came with the foundation of the Turkish Republic, led to a change in the perspectives of the municipal and state organs. The nationalization in the 1930s was not only due to the insufficient supplying situation and the equally insufficient technological equipment. One the one hand, the extensive regulation measures of the republic were also meant as a way out of the political and economic influence of the European powers 10; on the other hand, to take responsibility for the urban water infrastructure was a matter of public welfare and consequently an es-

8 See generally Robert Millward, Private and Public Enterprise in Europe. Energy, Telecommunications and Transport, 1830–1990. Cambridge 2005, 33–58. 9 Both companies are still global players on the international water market. The historical parent company of the „Compagnie des eaux de Constantinople“, the French „Compagnie Générale des eaux“, nowadays trades under the name of Veolia (formerly Vivendi) and is one of the giants on the international water market. And Suez, one of the biggest companies these days, is the former „Suez-Lyonnaise des eaux“, another French and parent company to the „Compagnie des eaux de Scutari et Kadi-Keui“ since 1918. Suez is currently present in about 130 countries, Veolia in more than 90. See Barlow/Clark, Blue Gold (note 4), 116f. 10

Şevket Pamuk, The Ottoman Economy in World War I, in: Stephen Broadberry/Mark Harrison (Eds.),

The Economics of World War I. Cambridge 2005, 112–136; Edhem Eldem, Ottoman Financial Integration with Europe: Foreign Loans, the Ottoman Bank and the Ottoman Public Debt, in: European Review 13, 2005, 431–445.

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sential issue of legitimizing political power. In this regard, the implementation of the modern, centralized water supply in Istanbul was both reason and result of social and political conflicts 11, that were always connected with the negotiation of power relations between public entities and private enterprises.

I. Istanbul’s Water Supply and Reform in Urban Administration Supplying sufficient drinking water was a problem that Istanbul had struggled with throughout its history. From the middle of the fifteenth century to the beginning of the nineteenth, many waterworks were built in and around Istanbul, thus providing enough water for the empire’s capital. These large, complex, centuries-old systems consisted of aqueducts, dams, mains, water intake towers, filters, settling basins, and a city-wide distribution network with public fountains. 12 From these early stages onwards Istanbul’s water supply required a highly developed technology and sophisticated social regulation. Communal services were usually provided by charitable endowments (waqf) as acts and philanthropy. Within this framework the use of architecture as a means for manifesting power and social prestige was a characteristic of Ottoman urban culture. 13 Apart from schools, soup kitchens, libraries, and dervish convents, the charitable endowments also financed mains, dams, public bathhouses, and fountains. The mains were mostly promoted by endowments from sultans, members of the ruling dynasty, and high officeholders like grand viziers, whereas fountains were also established by wealthy citizens. 14 Fountains were a recurrent and decisive element of

11 See Mikael Hård, Beyond Harmony and Consensus: A Social Conflict Approach to Technology, in: Science, Technology, and Human Values 18, 1993, 408–432. 12 Kazım Çeçen, Istanbul’un Osmanlı Dönemi Suyolları. Istanbul 1999. 13 See for example Gülru Necipoğlu, Architecture, Ceremonial, and Power: The Topkapı Palace in the Fifteenth and Sixteenth Centuries. Cambridge/Mass. 1991, 22–28. 14 With respect to their sources, public fountains were of two types. The first were from sources harnessed or privately owned by individuals, and the second were fed from the system of mains. Maintenance and management of the charitably endowed mains were administered according to the endowments’ charters. In cases where already existing mains were extended with new ones (katma), which led to different endowments, contractual stipulations defined the quantity of water drawn from each respective main.

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Ottoman urban space. They provided water, and, like public baths and coffeehouses, they also provided an urban public space for commerce, exchanging of news, and social interactions. Furthermore, they were an important part of the city and its quarters, often a symbol of Istanbul’s prosperity and wealth. 15 The relevance and highly developed social regulation of water infrastructures in the Ottoman capital was also underscored by the establishment of the Directorate of Waterworks (Suyolu Nazırlığı) in the middle of the sixteenth century. 16 Growing economic and commercial relations with Europe, changing urban conditions, and the limits of modernization provoked questions about the responsibility for Istanbul’s water supply. In 1837, the waterworks of the capital were entrusted to the management of the Ministry of Royal Pious Foundations (Evkaf-ı Hümâyün Nezareti), since these were considered the work of the charitable endowments. One year later, this ministry became part of the Council of Ministers (Meclis-i Hass-ı Vükela). 17 By the 1850s, the value of Istanbul’s partially centuries-old water supply systems was regarded in an increasingly negative way. The traditional Ottoman supply systems, with their aqueducts and fountains, were more and more considered – especially by engineers and physicians – as beautiful though inadequate for modern use or even as archaeological relics. 18 The second half of the century marks also the beginning of an intensive debate over the possibilities and limitations of the existing forms of water supply and over feasible means of replacing them with a new centralized system. This change of assessment had various reasons which cannot solely be attributed 15

Munir Maurice Cerasi, Open Space, Water, and Trees in Ottoman Urban Culture in the XVIIIth–XIXth

Centuries, in: Environmental Design. Journal of the Islamic Environmental Design Research Centre (Rome) 2, 1985, 36–49, esp. 43–46; Shirine Hamadeh, Public Spaces and the Garden Culture in Istanbul in the Eighteenth Century, in: Virginia H.Aksan/Daniel Goffman (Eds.), The Early Modern Ottomans: Remapping the Empire. New York 2007, 295–297. 16

On endowments in the Ottoman urban society and economics, see John Robert Barnes, An Introduction

to Religious Foundations in the Ottoman Empire. Leiden 1987; Halil Inalcık, Istanbul: An Islamic City, in: Journal of Islamic Studies 1, 1990, 14–15; Faruk Bilici (Ed.), Le waqf dans le monde musulman contemporain (XIXe–XXe siècles). Fonctions sociales, économiques et politiques – Actes de la table Ronde d’Istanbul 13– 14 Novembre 1992. Istanbul 1994. On the Ottoman water supply from the perspective of the endowments’ founding documents, see Hasan Güneri, Vakıf Sular ve Su Vakıfları, in: Vakıflar Dergisi 9, 1971, 67–79. 17

Ilhan Tekeli, The Development of the Istanbul Metropolitan Area: Urban Administration and Plan-

ning. Istanbul 1994, 14–15. 18

See for example David Pardo, Sur les eaux potables et la disette à Constantinople, in: Gazette Médicale

d’Orient. Publiée par La Société Impérial de Médecine de Constantinople 7, 1863, 1:1–5, 2:17–20, here 1:3.

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to the existing deficiencies or technical necessities. Firstly, the rapid growth of the city’s population had reached previously unknown dimensions: The total population increased from roughly 350,000 inhabitants in 1844 to 500,000 in the late 1850s, and, twenty years later, it had risen to 870,000. At the turn of the twentieth century, the city’s population exceeded a million. 19 The coexistence of so many people required a highly developed technical infrastructure and modern urban services able to satisfy basic needs like providing a sufficient quantity of hygienically clean water. Secondly, the disastrous economic situation of the Ottoman Empire has to be taken into account. The state had to declare national bankruptcy in October 1875, and, in 1881, the Public Dept Administration, directed by European financiers, stepped in. 20 Because of the lack of means for maintenance and extension, the traditional water supply systems were no longer able to meet the needs of the increasing population. Finally, the introduction of such technologies was a symbol of modernization: The extension of infrastructures was meant to indicate the progressiveness of the Ottoman Empire’s capital. Securing sufficient water supply, tap water, and water that met the hygienic standards was supposedly an indicator of this progress and brought modernity at least to the inhabitants of the wealthy quarters. 21 The efforts of modernization recast long-established urban policies and replaced the urban administration and related institutions with new ones adopted from European precedents. In the process, other technical grids such as telegraph lines, gas pipes, and trams were introduced. The centralized water supply system was an important part of these networked urban technologies. The changing urban conditions and the measures of modernization challenged the municipal administration in various ways. One of them was the question of responsibility for and administration of the capital’s water supply. Several Ottoman reforms in urban administration during the second half of the nineteenth century reflect these issues. When a modern urban administration (Şehremanet) was established by the government in 1855, its duties revolved around the provision of basic

19 Alan Duben/Cem Behar, Istanbul Households. Marriage, Family and Fertility 1880–1940. Cambridge 1991; Kemal H.Karpat, Ottoman Population 1830–1914. Demographic and Social Characteristics. Madison 1985; Stanford Shaw, The Population of Istanbul in the Nineteenth Century, in: International Journal of Middle East Studies 10, 1979, 265–277. 20 Donald C. Blaisdell, European Financial Control in the Ottoman Empire. A Study of the Establishment, Activities and Significance of the Administration of the Public Dept. New York 1966, 90–92. 21 Dinçkal, Reluctant Modernization (note 1), 675–700.

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needs and urban services like taxes, foodstuff, construction of roads, control of markets and cleaning and embellishment of the city. 22 A Commission for the Order of the City (Intizam-ı Şehir Komisyonu) began its work in the same year. The commission’s founding rationale explicitly stated that if Istanbul wanted to compete with the capitals of the leading European countries, it urgently needed to be embellished, cleaned and regulated, its roads had to be illuminated and extended, and the building methods had to be improved. Against this background the construction of water lines was suggested. 23 In the late 1860s the communal administration of Pera, Istanbul’s sixth district, appointed a water committee that had been initiated by the mayor Server Efendi. Its mission was to work out suggestions how to overcome the recurring water shortage. Further members of the committee, apart from the Ottoman experts, were Eugene Henri Gavand, a french engineer, Leval Efendi, chief engineer of the sixth district, Victor Tridon, an engineer working for the Ottoman administration, and Giovanni Battista Barborini, an architect and urban planner. For a long time, the debates revolved around an extension of the traditional Ottoman supply systems or the implementation of artesian wells. But on a closer look, the changing conditions in Istanbul obviously needed a highly developed technological system. As a result, the water committee proposed a plan for the implementation of a modern, central water supply in 1869. 24 In the context of a projected new municipal law (Dersaadet Belediye Kanunu), the issue of responsibility caused debates in the Ottoman Chamber of Deputies (Meclisi Mebusan) in 1877. 25 The subject was again who was to be responsible for the urban

22

Michael R. Reimer, Urban Regulation and Planning Agencies in Mid-Nineteenth Alexandria and Istan-

bul, in: The Turkish Studies Association Bulletin 19, 1995, 1–27; Stephane Yerasimos, Occidentalisation de l’espace urbain: Istanbul 1839–1871. Les textes réglementaires comme sources d’histoire urbaine, in: Daniel Panzac (Ed.), Les villes de l’Empire Ottoman: activités et sociétés. Vol.1. Marseille 1992, 97–120. See also Murat Gül/Richard Lamb, Mapping, Regularizing and Modernizing Ottoman Istanbul. Aspects of the Genesis of the 1839 Development Policy, in: Urban History 31, 2004, 420–436. 23

Dinçkal, Arenas of Experimentation (note 1), 49–69; Zeynep Çelik, The Remaking of Istanbul. Portrait of

an Ottoman City in the Nineteenth Century. Berkeley/Seattle/London 1993, 42–48. 24

Eugene Henri Gavand, Projet de distribution d’eau de Galata, de Péra, des faubourgs et des villages de la

côte d’Europe du Bosphore, Exécuté par ordre de S.Exc. Server Efendi, Préfet de Constantinople. Constantinople 1869. For more details Burhan Oğuz, Bizans’tan Günümüze Istanbul Suları. Istanbul 1998, 90–107. 25

Ilber Ortaylı, Osmanlı Belediyeleri ve Kent Hizmetleri, in: Vecdi Akyüz/Seyfettin Ünlü (Eds.), Islam

Geleneğinden Günümüze Şehir ve Yerel Yönetimler. Vol.1. Istanbul 1996, 399.

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infrastructure and services. The duties of the municipality were defined in the municipal law, they encompassed the basic fields of infrastructure and urban services, including water supply. In these debates infrastructures functioned as interfaces of the power negotiations between local elites. As a matter of fact there was a mix of responsibilities. In spite of the new municipal law, around 1900 the older water supply systems of Istanbul were chiefly under the control of the charitable endowments. 26 But the Hamidiye supply system, built in 1902 27, was under the jurisdiction of the municipality and the Office of Technical Affairs, established after the Young Turk Revolution. 28 Generally, the jurisdiction of the municipality and the charitable endowments were related to the more or less traditional water supply systems. Regarding a modern, centralized water system, a far-reaching decision had already been taken in 1874, three years before the municipal law, when the first concession agreement for the implementation of a central water supply system with tap water for the inhabitants was signed by the representatives of the Ministry of Public Works and of a French company. 29 Due to the disastrous economic situation of the Ottoman Empire, the establishment and extension of urban infrastructures required the acquisition of loans and credits as well as the involvement of foreign enterprises. The Ottoman state had to declare bankruptcy in 1875, and in 1881 the international Public Debt Administration, directed by European financiers, stepped in. The private companies involved in urban engineering projects were mainly foreign firms that tried to explore new markets, exploiting the wave of urban modernization and the common euphoria for technology. 30 For the national and municipal authorities, especially the Ministry for Public Works, the question was whether they should build and operate the infrastructure facilities themselves or instead grant concessions to private companies, and if so, what the terms and conditions were to be. In Istanbul, as in many other European cities, the urban infrastructures that promised 26 Bilal Eryılmaz, Osmanlı Yerel Yönetiminde Istanbul Şehremaneti, in: Akyüz/Ünlü (Eds.), Islam Geleneğinden (note 25), 347. 27 Kazım Çeçen, Taksim ve Hamidiye Sulari. Istanbul 1992. 28 Kemal H.Karpat, The Social and Economic Transformation of Istanbul, in: Bulletin de l’Association Internationale d’Études du Sud-Est Européen 12, 1974, 267–308, here 306. 29 All the mentioned contracts in this paper are published in: Mecmua-i Mukavelat. 4 Vols. Istanbul 1895–1901, and Osman Nuri Ergin, Mecelle-i Umur-u Belediye. 5 Vols. Istanbul 1914–1922. 30 Ilhan Tekeli/Ilkin Selim, The Public Works Program and the Development of Technology in the Ottoman Empire in the Second Half of the Nineteenth Century, in: Turcica. Revue d’études turques 28, 1996, 220–224.

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sufficient profits (gas, water, and streetcars) were built and operated by private companies, while the city more or less took charge of unprofitable services such as sewage. In other words, the Istanbul municipality played only a tangential role during the last decades of the Ottoman Empire as far as the implementation of modern urban technology and infrastructures was concerned. 31

II. The Commissioning of the Water Companies Concerning the introduction of such a complex supply facility, the Ottoman state depended on the transfer of knowledge, technology, and capital. The implementation and operation of the water works was assigned to private supply companies by the end of the nineteenth century, namely the consortium „Compagnie des eaux de Constantinople“ and the joint-stock „Compagnie des eaux de Scutari et Kadi-Keui“. While the „Compagnie des eaux de Constantinople“ implemented the Terkos waterworks in 1885 and supplied Istanbul’s European side with water, the Elmalı waterworks of the „Compagnie des eaux de Constantinople“ supplied the Asian side from 1893 on. The French consortium „Compagnie des eaux de Constantinople“ was a subsidiary of the „Compagnie Générale des eaux pour l’Etrangere“, a company of high reputation on the international water market. In Paris the „Compagnie Générale“ had assumed the administration for the water supply together with the municipal authorities from the 1860s on having other branches in Naples, Venice, Porto, and Trieste. 32 The German joint-stock „Compagnie des eaux de Scutari et Kadi-Keui“ was taken over by French financiers after World War I. 33 The decision to convey the erection of central waterworks to foreign companies was influenced by programmatic governmental reforms. In 1880, the minister for Public Works, Hasan Fehmi Paşa, introduced an extensive programme to attract po-

31

Ortaylı, Osmanlı Belediyeleri (note 25), 400.

32

Meanwhile the city of Paris was responsible for the water supply and the implementation and main-

tenance of the main network of water mains, the Compagnie Générale was to connect the individual houses with it and to demand the customers to pay the water fee. The Compagnie received about 25% of the gains and the city received 75%, the lion’s share, that is. See Jean-Pierre Goubert, The Conquest of Water. The Advent of Health in the Industrial Age. Princeton/New Jersey 1989, 172–180. 33

Noyan Dinçkal, Istanbul und das Wasser. Zur Geschichte der Wasserversorgung und Abwasserent-

sorgung von der Mitte des 19.Jahrhunderts bis 1966. München 2004, 87–91, 111–113.

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tential investors. 34 From that time it was possible to subscribe to government bonds and to make large private investments in municipal facilities. Since there was a lack of technological know-how as well as a lack of capital due to the disastrous economic situation after the state bankruptcy, the minister realized that there was only way out: to promote urban remodelling projects, infrastructural development, and to introduce new technologies. And he was willing to grant extensive advantages in order to make these projects attractive for potential investors. In a certain way his report was a call for tenders and contained drafts for concessions for projects of street building, railways, ports, and water supply. In 1908, Gabriel Noradounghian, then minister for Commerce and Public Works, published a similar programme. 35 These programmes induced a significant progress concerning the infrastructural development and urban modernization of the Ottoman Empire within the three decades before World War I. The authorities thought there was a relatively small danger from the capital owners’ part to take any political or economical influence, a risk they sought to minimize even further by dispersing the concessions among investors from different countries. 36 The concession for building a centrally managed water supply system in Beirut, for instance, was given to the English „Compagnie des eaux de Beyrouth“, while the Belgian „Compagnie Ottomane des eaux de Salonique“ and the „Compagnie Ottomane des eaux de Smyrne“ were engaged to the water supply in Salonika and Izmir. 37 There were several reasons that made Istanbul attractive for foreign companies. Firstly, Istanbul was geographically well connected to Europe. Secondly, there was a rapid increase in the town’s trade volume from the 1830s on. 38 Furthermore, there were the political interests and rivalries of the European powers in the Eastern Mediterranean as well as the politicians and civil servants who had their own political and material interests at heart. And finally, there were the state’s efforts to modern34 Hassan Fehmi, Rapport Adressé à S.A. le Premier Ministre par S.Exc. Le Ministre des Travaux Publics sur les Travaux Publics à Exécuter dans la Turquie d’Asie. Constantinople 1880. 35 Programme du Ministère des Travaux publics, Empire Ottoman. Constantinople 1909; Tekeli/Selim, The Public Works Program (note 30), 220–224. 36 Haydar Kazgan, Osmanlı’dan Cumhuriyet’e Şirketleşme. Istanbul 1991; Zafer Toprak, Türkiye’de Millî Iktisat (1908–1918). Ankara 1982. 37 Ali Akyıldız, Osmanlı Dönemi Tahvil ve Hisse Senetleri. Istanbul 2001, 108–109, 126–127, 160–161; Jean Ducruet, Les Capitaux Européens au Proche-Orient. Paris 1964, 330–332. 38 Christopher Clay, Gold for the Sultan. Western Bankers and Ottoman Finance, 1856–1881. London 2000.

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ize large parts of the social and political life, which required urban remodelling and quick infrastructural development. The waterworks attracted foreign investors for several reasons. By the last decades of the nineteenth century, central waterworks had already been introduced in many European metropolitan cities. Many of these had assigned the erection and operation of the waterworks to private companies. By the end of the nineteenth century, however, many companies were under the supervision of local authorities again, which substantially limited the water companies’ fields of activity. Many companies had started to produce technical equipment for waterworks like water taps, mains, pumps etc. instead. But in eastern Mediterranean cities like Beirut, Salonika, Izmir, and for the aforementioned reasons particularly in Istanbul, new markets and fields of activity were to be found. This was reinforced by the fact that these cities depended politically and economically on the European powers. With its high need for water Istanbul appeared to be a promising market for European water companies. 39

III. Areas of Conflict It is hardly surprising, that there were multiple conflicts between the private companies and the national and municipal authorities. The latter complained continuously about the ,deficiencies‘ regarding the services facilitated by the private companies. The following chapters explore three main aspects of this long-standing controversy. The first aspect concerns the water companies’ supply strategy, which was in many ways a source of complaints and conflicts. The second one regards the public use of water, which was the crucial point of the dispute – both in terms of its political significance and its social awareness. The third issue were the debates on the water quality and its supposed lack – an argument that provoked verbal attacks on the water companies and was effectively used to promote the nationalization of water supply systems.

39

Haydar Kazgan/Sami Önal, Istanbul’da Suyun Tarihi. Istanbul’un Su Sorununun Tarihsel Kökenleri

ve Osmanlı’da Yabancı Su Şirketleri. Istanbul 1999, 84.

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1. The supply strategy The agreements negotiated in 1874 and 1882 with the „Compagnie des Eaux de Constantinople“ prescribed neither the extent of the main system nor the number of households to be connected to the water pipes. There were, however, detailed instructions concerning the districts of the city that were to be provided with taps. 40 Although the entire city of Istanbul was affected by the lack of water in the nineteenth century, only the highly populated district of Pera and parts of the Bosporus’ European side (especially Beşiktaş) were chosen as supply areas. 41 Choosing this part of the city was advantageous to the company for several reasons. In 1857, reforms of the administrative structures divided the city into 14 districts, and explicitly labelled Beyoğlu as a laboratory for urban reform. New models of communal administration and novel urban technologies were introduced and tested in this district. In demographic terms Beyoğlu was hardly representative of the whole city. The census of 1885 showed that in the sixth district 47 percent of the inhabitants were European settlers. The fourth district – Beşiktaş and the settlements on the European side of the Bosporus – ranked second with 10 per cent of its residents being foreigners. 42 Along with the economic and political influence of the European settlers, these preconditions made the district a preferred area for experiments with modern infrastructure, among others the creation of a centrally managed waterworks. Beyoğlu promised to be an extraordinary profitable market because of the potentially high consumption of water. Moreover, the many banks, shops, hotels and other related businesses located there were potential customers and the financial strength accredited the potential clients played an important part in the company’s preference for Beyoğlu. Especially at the beginning of central water supply in Istanbul the supply strategy of the company overlapped with the demand of the population in the supply area. At least in the initial stages, primarily wealthy customers were provided with tap water. Accordingly, two years before the works were put into operation, the only premises designated for connection to the supply system were embassies, the German and the Italian hospital, hotels, shopping ar-

40 The Compagnie des eaux de Constantinople was the first operating water company in Istanbul. Terkos Su Şirketi Mukavelenamesi 1874 and Dersaadet Osmanlı Su Şirketi Nizamname-i Dahilisi 1882. 41 Terkos Su Şirketi Mukavelenamesi 1874, section 1. 42 On Pera see Steven Rosenthal, The Politics of Dependency. Urban Reform in Istanbul. Westport, Conn. 1980; Mustafa Cezar, XIX Yüzyıl Beyoğlusu. Istanbul 1991.

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cades, and churches; furthermore, the municipal administration building of the district, a mosque, and a palace. 43 As late as 1887, the consumers of tap water were still predominantly hotels, embassies, and the Sultan’s palace. 44 The introduction of new water supply infrastructures may be construed as the result of the dissemination of the above-mentioned cultural and consumption patterns, with European settlers being the agents of change. 45 Nevertheless, this interpretation neglects the existing interest by the Ottoman elites for introducing a central supply facility. Moreover, by the end of the nineteenth century, wealthy Ottoman families took up residence in the newly erected apartment buildings in Beyoğlu and Beşiktaş, and the new neighbourhoods of Şişli and Nişantaşı. These moves were partly due to the captivating new technologies and municipal services like street lighting or tap water. 46 Therefore, at first the centralized water supply evolved new forms of social segregation. Apparently during this period of the central water supply, providing European citizens and the Ottoman upper classes within the wealthier districts was given priority over a fair distribution of water. Hence, the distribution of modern water infrastructures clearly indicates urban power constellations and socio-structural patterns. 47 As time passed after the implementation of central waterworks, the partial supply of the urban area was, however, losing its importance. In the revised contract between the French consortium and the Ministry for Public Works in 1887, the supply

43

Archive of the Istanbul Water and Sewerage Administration, ISKI-Istanbul (hereafter ISKI-Archive):

Compagnie des Eaux de Constantinople, 2e division (1883). Profiles en long de la distribution en ville sur la rive européen du Bosphore (Vu et vérifie, Pera le 1er Mai 1883, l’Ingénieur de la 2e division P. Letalle; presse par le soussigné, Pera le 1er Mai 1883, le chef du service de la distribution Yvon; vu et approuvé, Pera la 4 Aout. 1883, l’Ingénieur en chef, directeur des travaux P. Boutan). 44

Adolf Schwarz, Die Wasserversorgung Constantinopels, in: Wochenschrift des Österreichischen Inge-

nieur- und Architekten-Vereins 32, 1887, 235–236. 45

Çağlar Keyder/Eyüp Özveren/Donald Quataert, Port Cities in the Ottoman Empire. Some Theoretical

and Historical Perspectives, in: Review (Fernand Braudel Center) 16, 1993, 519–58. 46

Mübeccel Kıray, Apartmanlaşma ve Modern Orta Tabakalar, in: Çevre 4, 1979, 78. See also Uğur Tanyeli,

Osmanlı Barinma Kültüründe Batılaşma-Modernleşme. Yeni Bir Simgeler Dizginin Oluşumu/ Westernization-Modernization in the Ottoman Wohnkultur. The Evolution of a new Set of Symbols, and Atilla Yücel, Istanbul’da 19. Yüzyıl Kentsel Konut Biçimleri/Typology of Urban Housing in the 19th Century Istanbul, both essays in: Yıldız Sey (Ed.), Tarihten Günümüze Anadolu’da Konut ve Yerleşme/Housing and Settlement in Anatolia. A Historical Perspective (Bilingual Edition). Istanbul 1996, 284–298 and 298– 313. 47

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For more information, see Dinçkal, Arenas of Experimentation (note 1).

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area was extended on the whole European side of Istanbul. 48 The „Compagnie des eaux de Scutari et Kadi-Keui“, the second water-consortium of the city, supplied Istanbul’s Asian side from 1893 on, extended as far as the periphery in 1914. 49 Within the first decades of the twentieth century, the whole area of the city was successively provided with water mains. But the central grid’s extension to places outside the contractually fixed area led to conflicts between the municipal administration and the water companies. The extension of the supply grid was closely related to the contract conditions as both the assignment of new concessions and revisions of already existing ones were necessary. Since an extended water supply required not only additional water mains but also plants to increase the pressure in the mains, there was no economic incentive for the shareholders to bear the expenses, unless the prolongation of a concession promised a surplus. Not surprisingly, the companies showed little interest in the extension of the supply grid that covered the whole city without being granted these prolongations. The remaining period of their concessions, they argued, was too short to amortize new investment; moreover they had to assume the water mains would become national property at the end of the concession’s term. By acting thus, the companies did not violate their respective contracts, since it had neither been specified which additional districts nor how many households were to be connected to the supply grid per annum. Instead, the extension of supply areas went ahead according to the companies’ potential profits granted by the authorities in charge. The concession’s prolongations were eventually granted. The extension of the supply area of the „Compagnie des eaux de Constantinople“ in 1887, for instance, was linked to a prolongation from originally 40 to 75 years 50, that of the supply area of the „Compagnie des eaux de Scutari et Kadi-Keui“ in 1914 to one from originally 65 to 99 years. 51 By the beginning of the twentieth century, almost all urban areas were connected to the grid of the modern waterworks. The example illustrates particularly that infrastructural inclusion and exclusion depended on negotiations und constellations of power between public entities and private enterprises. 52 48 Terkos Gölü Suyunun Dersaadete Celp ve Tevzii Imtiyazına dair Mukavelename 1887/88, section 3. 49 Ergin, Mecelle-i Umur-u Belediye (note 29), Vol.3, 786f. 50 Terkos Gölü Suyunun Dersaadet’e Celp ve Tevzii Imtiyazına dair Mukavelename 1887/88, section 1 and 3. 51 Ergin, Mecelle-i Umur-u Belediye (note 29), Vol.3, 786f. 52 See Engels and Schenk, Infrastrukturen der Macht in this volume.

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2. Public use of water Closely connected to the supply strategy of the water companies was the controversy relating to the public use of water. The water of the waterworks was not exclusively consumed by connected households. According to their concessions, the companies were obliged to provide free water for public purposes, including schools, hospitals, military facilities, and fire hydrants as well as public fountains. Especially the Ministry for Public Works put pressure on the foreign companies to build a precise number of public fountains fed by the centralized supply systems at selected places in accordance with the contractual obligations. 53 The story of these fountains illustrates how modern water technologies were acquired and perceived in different ways. Besides, they were subject to many changes and permutations. The example of the public water supply demonstrates that a distinct local adaptation and cultural appropriation took place. The private companies built Istanbul’s waterworks predominately for domestic consumption. Adopting modern technologies and hygiene standards, the Ministry of Public Works at the same time secured (in analogy to the partly centuries-old system of Ottoman fountains) the continued existence of the culturally and socially important public water supply and therefore the supply for the majority of the population which lived in strained circumstance – much to the water companies’ regret because they were required to supply this water for free. The quantity of water to be provided, however, had not been specified in the relevant paragraphs of the contracts. In the period following, the municipal administration and the Ministry for Public Works intended to fix the relevant points in greater detail, again negotiating with the water companies. In 1913, the municipal administration succeeded in concluding a supplementary contract which determined the quantity of water that the „Compagnie des eaux de Scutari et Kadi-Keui“ had to supply for public purposes. This supplementary contract obliged the companies to supply the detention facilities of the police, the gendarmerie, or the military with 30 l/d (liters per day) per capita. Furthermore, they had to supply the hospitals with 200 l/d per bed, secondary schools with 10 l/d per pupil, and boarding schools with

53

For the European side twelve fountains in 1874 see Terkos Su Şirketi Mukavelenamesi 1874, section

1. Furthermore additional twenty fountains in 1888 for the same side, see Terkos Gölü Suyunun Dersaadete Celp ve Tevzii Imtiyazına dair Mukavelename 1887/88; for the Asiatic side also twenty in 1888 see Elmalı (Üsküdar-Kadıköy) Su Şirketi Mukavelenamesi.

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between 30 and 50 l/d per pupil. Even the horses of the military educational institutions were listed in this catalogue with 100 l/d. 54 At first sight, this accuracy seems rather pedantic. The distrust towards the „Compagnie des eaux de Scutari et Kadi-Keui“ that can be read between the lines was rooted in the bad experiences Istanbul’s administration had already made. Conflicts about the free water supply for public purposes were characteristic for the relation between the private suppliers and the municipal authorities up to the 1930s. The water companies argued there were too many consumers of free water, which was detrimental to their business interests. The municipal administration complained the companies did not meet their contractual commitments in this respect because they failed to secure the free water supply they had agreed upon. 55 The need for a detailed supplementary contract (from the municipal administration’s point of view) was further fuelled by the fact that the water companies did not confine themselves to complaining, but from time to time refused to supply newly erected hospitals with free water. 56 Or, like the „Compagnie des eaux de Constantinople“, they intended to keep the quantity of free water low by trying to refuse the usage of tap water for the sanitation system of the Gülhane hospital. 57 The supply of the fire hydrants was a particularly serious subject in these conflicts. The aim to increase the efficiency of fire fighting had been a crucial argument within debates on the installation of a central water supply. It was severely questioned by the water companies’ practise to use pipes of such narrow diameters that in case of fire the hydrants would not be supplied with a sufficient amount of water. 58 For this reason there were some disastrous fires in Istanbul even after the implementation of the central waterworks. 59 Apart from conflicts with Istanbul’s authorities, this also led to attacks by the city’s press, which became especially bitter after the great fire of 1918. In June 1919, the paper Tasvîr-I Efkâr stated that „our 54 Ergin, Mecelle-i Umur-u Belediye (note 29), Vol.5, 738–745. 55 Oğuz, Bizans’tan Günümüze (note 24), 278. 56 Ergin, Mecelle-i Umur-u Belediye (note 29), Vol.5, 562–563. 57 Georg Deycke/Reschad Effendi, Die Dysenterie in Konstantinopel. Ätiologische, experimentelle und anatomische Studien, in: Robert Rieder (Hrsg.), Für die Türkei. Selbstgelebtes und Gewolltes. Bd. 2. Jena 1904, 210f. 58 ISKI-Archive, ISKI Faaliyet Raporu 1933, 7. 59 The fire of 1889 in Üsküdar destroyed approximately 1,000 buildings, 1890 in Pendik 1,200, 1903 in Maltepe 1,121, 1908 in Çırçır (Fatih) 1,500, 1911 in Aksaray 2,400, 1915 in Tophane-Cihangir 1,325 and 1918 in Cibali-Fatih 7,500. See Tekeli, The Development (note 17), 51.

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beautiful Istanbul has fallen victim to the company [Compagnie des eaux de Constantinople]“ because of the fires. 60 These sweeping accusations indeed concealed the main reasons for the fire: most houses were built of wood and fire broke out easily. The fire brigades were not only hindered by the lack of water but also by the many narrow lanes which made it more or less impossible to reach the source of the blaze. The municipal administration had issued building codes that prescribed the use of stone and brick materials, but had proven almost incapable to enforce these codes. 61 This is why the reproaches of the administration were probably also due to the wish to shift the blame from the administration to the companies. Both water companies intended to keep the free water supply for public purposes as low as possible. One reason may have been the high percentage of water supplied for public use. Figures given in the first statistical yearbook of the Ottoman Empire in 1897 prove that the quantity of free water in Istanbul for public purposes had reached considerable proportions. 62 The quantity of free water almost matched the quantity of water supplied to, and paid for, by private households. 63 In 1897, 55% of all tap water in Istanbul was consumed by the connected households which paid for the water, and 45% of all water funnelled to the city was consumed for public purposes: the main share was used by the hospitals, the educational institutions, and the military facilities. What remained was used for the 55 public fountains and 603 fire hydrants that were operated by the water companies. 64 By the end of the nineteenth century private households consumed only half of Istanbul’s central water supply. Right from the start, a similarly significant function had been the supply of public facilities and fountains. Since the water companies could not amortize this cost-free water this went sourly against their grain. However, one must not jump to conclusions by considering the quantity of water for public purposes disproportionally large. Despite the low number of paying customers,

60

Quoted in Oğuz, Bizans’tan Günümüze (note 24), 161–163.

61

Sedat Azaklı/Hüseyin Özgür, Osmanlı’da Yangınlar ve Itfaiye Hizmetleri, in: Gazi Üniversitesi Iktisadi

ve Idari Bilimler Fakültesi Dergisi 3/1, 2001, 22f.; Tekeli, The Development (note 17), 27–29. 62

T.C. Başbakanlık Devlet Istatistik Enstitüsü (Ed.), Osmanlı Devleti’nin ilk Istatistik Yıllığı 1897. Nezaret-

i Umūr-u Ticaret ve Nafia, Istatistik Umūmi Idaresi, Devlet-i Aliyye-i Osmaniyye’nin Bin Üçyüz Onüç Senesine Mahsus Istatistik-i Umūmîsi, Istanbul, 1316/1900. (Tarihi Istatistikler Dizisi, Vol.5). Ankara 1997. 63

Ibid. 273f.

64

Ibid. 273, and Jacques Thobie, Intérêts et impérialisme français dans l’Empire Ottoman (1895–1914).

Paris 1977, 141–143, 440.

222

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the water companies still regarded Istanbul as offering market opportunities and continued to invest in its water supply system. Table 1: Water companies and the use of water in Istanbul 1897 Water companies

Public use of water (cost-free)

Private use of water (against payment)

Fire hydrants, fountains

Connected households, public baths, gardens

Military facilities, schools, hospitals

Complete [m3/year]

[m3/year]

[%]

[m3/year]

[%]

[m3/year]

[%]

Comp. des eaux de Constantinople

428,145

15

856,290

30

1,569,865

55

2,854,300

Comp. des eaux de Scutari et Kadi-Keui

94,300

19

120,000

25

280,000

56

494,300

522,445

15

976,290

30

1,849,865

55

3,348,600

Istanbul complete

Data Source: T.C. Başbakanlık Devlet Istatistik Enstitüsü 1997, T.212, 1313/1897, 273.

Their strategy seems to have been successful. In 1932, Istanbul’s population had amounted to nearly 800,000 inhabitants, by this time only about 21% of the water in Istanbul was used for public purposes and 79% was funnelled to the connected households, which included hotels and public baths. 65 Although the share of free water for public purposes remained relatively high, the function of central water supply had undergone a crucial change. Compared with the initial phases, the supply of public facilities and fountains now played a minor role, and the use of tap water in private households increased continuously. 3. Questions of water quality A mode of legitimizing the modernisation of the water supply system was the bad reputation of the well water. The water companies placed full-page advertisements in the Istanbul Press propagating the advantages of tap water in respect to hygiene and taste. 66 But the claimed superiority of the tap water was soon called into question. Around 1900, the „Compagnie des eaux de Constantinople“ was accused of not meeting the requirements of the concession contract, which demanded the water to be „drinkable“. According to the concession contract (1887/88), the water had to fulfil the following contemporary standards of water quality, in order to be declared as

65 Istanbul Şehri Istatistik Yıllıgı, Istanbul, 1930/31 (1932) and 1934/35 (1936). 66 Kazgan/Önal, Istanbul’da Suyun Tarihi (note 39), 92f.

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drinkable: it had to be clear, colourless, free of clouding, it should contain no more than 15 mg/l of chlorine and „no organic particles of a quantity that is harmful to health“. In addition to this, the hardness of water should not exceed „15 degrees of hardness“, using the French measuring system. 67 It is conspicuous that the concession did not prescribe the installation of filters, since established contemporary technical guiding principles suggested that surface water in particular had to be submitted to artificial cleaning in order to be appropriate for human use and household consumption. Until the end of the nineteenth century this lack of filters was a common feature, even though engineers and medical practitioners had already recommended introducing them. The ministry’s negotiations with the water companies however did not aim at an optimum of quality but at an optimal compromise that covered questions of costs, quantity, and quality. Favouring expenditure control resulted in lower standards of water quality. 68 Questions of quality were obviously not the ministry’s priority. According to a water analysis conducted in 1903, there were two reasons why the water of the central supply works was not rated as good drinking water. Firstly, the tap water warmed up in the pipes, in August up to 26 degrees centigrade. This did not only affect the convenience but also the quality of the water considerably. 69 It also went against consecutive contemporary standards, which demanded the temperature being no less than 7 and no more than 11 degrees Celsius. 70 Secondly, the water of the Terkos mains („Compagnie des eaux de Constantinople“) often seemed to be grossly polluted. The water analysis stated smell and colour, describing the tap water as clouded and of brownish-yellow colour. This impurity was put down to the lack of sand filters. 71 Furthermore, the results indicated a considerable pollution with organic particles. In short, the water from the waterworks did not meet any of the contemporary quality standards. It was contaminated, too warm, and clouded. Never-

67

Terkos Gölü Suyunun Dersaadete Celp ve Tevvzii Imtiyazına dair Mukavelename 1887/88, section 5.

On the standards see Joseph Brix, Hygienisch-technische Maßnahmen zur Verhütung und Beseitigung von Ansteckenden Krankheiten, die mit Wasser und dem Boden in Verbindung stehen. Die Bekämpfung der Infektionskrankheiten. Hygienischer Teil. Leipzig 1894, 7–9. 68

Christopher Hamlin, A Science of Impurity: Water Analysis in Nineteenth Century Britain. Berkeley

1990.

224

69

Deycke/Reschad, Die Dysenterie (note 57), 206–208.

70

Brix, Hygienisch-technische Maßnahmen (note 67), 9.

71

Deycke/Reschad, Die Dysenterie (note 57), 206–208.

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theless contemporary bacteriological tests came to the conclusion that despite the contamination there were no harmful chemical substances in the tap water. In other words, there was no danger of a spreading of diarrhoea or typhoid through the tap water, quite in contrast to the water from the wells, fountains and cisterns. 72 From the bacteriological point of view, tap water had proven to be safe but this circumstance had little repercussion on the public’s confidence. The topic of ,drinking water quality‘ remained prominent in the local press. The reports and articles focused on the poor quality of the tap water and particularly on the fact that the „Compagnie des eaux de Constantinople“ refused to install sand filters for a long time. Despite unceasing reproaches it was not until 1926 when the operating company felt compelled to install sand filters – more than forty years after the waterworks had been put into operation, when the Ottoman Empire had ceased to exist, the Turkish Republic had already been founded, and Istanbul was no longer the capital of the country. 73

IV. The Road to Nationalization Since the beginning of the twentieth century and particularly after the foundation of the Turkish Republic in 1923, the municipal authorities had the impression that the operating companies were not properly coping with their tasks. This dissatisfaction increased over the course of the following years and resulted in a change in the attitudes of the state and municipal organs, which led to the conviction that a nationalization of the water supply was inevitable. Yet, it would be lopsided to attribute the nationalization of the central water supply to the operating companies’ real or supposed deficiencies only. The transition of the central water supply from private to public ownership in the 1930s was closely linked to the ideological and economic orientation of the newly founded Republic. The guidelines for the economic reconstruction after a decade of wars (Balkan Wars 1912/13, World War I, War of Independence 1919–1923) were debated at the Turkish Economic Congress in Izmir in February and March 1923. These discussions basically led to the conclusion that the future national economic policy was to target on the 72 Ibid. 208, 212f. 73 Saadi N. Nirven, Istanbul Suları. Istanbul 1946, 201.

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nationalization of possibly all branches of economic activity. Building the necessary infrastructure would mainly be the task of the state and the municipalities. 74 In 1930, the Law of Municipalities was issued which abrogated the municipal laws of the ottoman period. The main feature of this law was the number of public services and responsibilities given to the municipalities, including the water supply. This allocation was linked to the Republican policy of nationalizing foreign companies. 75 The nationalization, almost completed by 1939 and finished by 1944 76, was regarded as being crucial to the economic and political independence. This attitude was a radical dissociation from the Ottoman era, in which foreign companies had owned the country’s railways, ports, tramways, gasworks, and waterworks. Ali Cetinkaya, then Minister of Public Works, made a public statement explaining the Turkish government’s efforts at nationalization, which was published in „The Financial Times“ special issue on Turkey in 1937. Cetinkaya’s statement points to the ideological motives behind the nationalization: „In former times, companies of public services were founded because of political intentions and considerations in Turkey. Their main task was not to serve the public but to obtain maximal profit. […] We bought the water company, the telephone company, and the quay company from the foreign companies. We are furthermore negotiating the purchase of the port company of Izmir and the water company of Kadıköy. It has been clear from the beginning that the Turkish Republic would certainly not neglect the people’s interests and needs concerning public services like the Sultans did. It is thus self-evident that those companies be nationalised.“ 77

The efforts at nationalization were accompanied by serious reproaches that concentrated on the poor quality of the water from the Terkos waterworks and contradicted the operating companies’ stance of having improved the municipal water supply. The companies’ reluctance to cooperate and the private suppliers’ lack of commitment were the main arguments to delegitimize the private joint-stock companies and to justify the nationalization of the waterworks in the 1930s. Besides these reproaches there were other severe accusations. From about 1926

74

Gündüz Ökçün (Ed.), Türkiye Iktisat Kongresi 1923, Izmir. Haberler, Belgeler, Yorumlar. Ankara 1971,

251; Yahya S.Tezel, Cumhuriyet Döneminin Iktisadi Tarihi (1923–1950). Istanbul 1994.

226

75

Tekeli, The Development (note 17), 70f.; Eryılmaz, Osmanlı Yerel Yönetiminde (note 26), 351.

76

Tezel, Cumhuriyet Döneminin Iktisadi Tarihi (note 74), 184–187.

77

Quoted in: Türkische Post, Halbmonatliche Wirtschaftsausgabe, 15 February 1937.

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on, the water companies were continuously accused in Turkish newspapers of not having contributed anything fundamental to the improvement of Istanbul’s water supply. 78 The drought of 1926 was used as an example for the long-standing neglect of the water supply’s extensions. This subject was also covered by foreign papers published in Istanbul focussing on the „Compagnie des eaux de Constantinople“. The „Türkische Post“, a Turkish newspaper published in German, wrote: „Der seit vielen Wochen in den meisten Teilen Peras herrschende Wassermangel wird allmählich zur Katastrophe. Es entstehen dadurch Zustände, die den Anforderungen selbst der primitivsten Hygiene ins Gesicht schlagen, sodass die Frage an die Wasserversorgungsgesellschaft gestellt werden muss, wann und wie sie den unwürdigen Zuständen endlich ein Ende bereiten will. Die Kraft der Zuleitung reicht meist nur bis in den ersten Stock und vielfach meist nicht einmal soweit. Eine Spülung der Klosetts ist nur durch dauerndes Heranschleppen von Wasser aus den öffentlichen Brunnen möglich, eine Arbeit, die die meisten Familien über Gebühr belastet und zur schwersten Plage wird […]. Von anderer Seite wurde noch auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die der ständige Wassermangel im Falle eines Brandes birgt, und der auch die beste Feuerwehr zum Misserfolg verdammt.“ 79

The essence of all these reservations can be read in „Terkos Meselesi“ (The Terkos Problem), an angry article by the well-known Turkish journalist Yunus Nadi in 1929. Nadi even accused the „Compagnie des eaux de Constantinople“ to be responsible for the disastrous consequences of the fire in Tatalva in 1928, because contrary to the contractual regulations the company-operated fire hydrants hardly provided any water to fight the fire. „If there was a fire, has there ever been Terkos water? So why should there have been any at the blaze of Tatalva?,“ he asked rhetorically. According to Nadi, the continually appearing summer droughts had proven that the companies’ central waterworks had not contributed to a fundamental improvement of the problematic situation of water supply. Especially the higher floors of the buildings did not benefit from the services of the waterworks, for the pressure built up in the mains was not high enough. The only option to improve the situation was, he concluded, to nationalise the „vile and dishonourable company that has nothing in mind but its own profits“. 80

78 Ali Suat, Belediyeler ve Şehircilik Fenni, in: Istanbul Şehremaneti Mecmuası 60, 1929, 397–399. 79 „Der Wassermangel in Pera“, in: Türkische Post, 20.September 1926, 3. 80 Yunus Nadi, Terkos Meselesi, in: Cumhuriyet, 31 January 1929.

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The nationalization of the waterworks was quite a dramatic process. Since all French companies in Turkey were affected from the general course of nationalization, this process also put a strain on the relationship between France and the Turkish Republic. Beginning by the end of the 1920s, a nationalization of both waterworks before the end of their contractually fixed term of concession was subject of negotiations. The French Foreign Office, which was involved, tried to emphasize the improvements of the water supply in Istanbul the companies had brought about, and concentrated on achieving a consensual compensation between the companies and the Turkish government. Yet, the unyielding position of the Turkish authorities left little room to the companies for negotiations. Maintaining the terms of concession as contractually agreed was out of the question. As early as 1926, two members of Istanbul’s city council, the plenipotentiary of the Republic People’s Party (CHP, Cumhuriyet Halk Partisi) and Istanbul’s MP, already agreed to ask the authorities in charge to take the necessary steps towards an imminent nationalization of the Terkos waterworks. 81 Two years later, the readers of the daily paper „Cumhuriyet“ learned that the assembly of the city council forcibly demanded that the contract with the „Compagnie des eaux de Constantinople“ was to be terminated. 82 The pressure from the municipal authorities and the Turkish state together with the pressure from the public opinion resulted in the signing of a sales contract in 1932, the fiftieth year of the concession term. The Turkish state offered only a rather small amount of compensation payments, which, in addition, should be paid in instalments scheduled for a long period of time. After lengthy negotiations, the „Compagnie des eaux de Constantinople“ finally had to accept a price of 864,000 Turkish Liras, which were to be paid in annual instalments up to the year 1954. 83 The operation of the Terkos waterworks was put into the hands of the Istanbul Water Administration (ISI, Istanbul Su Idaresi) in 1933. 84 The ISI, established in the same year, was the first municipal water administration in republican Turkey. Since the city had no experience in this sector yet, the ISI also took over the company’s employees. 85 This scenario repeated itself in a more drastic way during the negotiations with 81

Cumhuriyet, 12 July 1926.

82

Cumhuriyet, 17 September 1928.

83

ISI (Ed.), Istanbul Sular Idaresi 1933–1947 Yıllarındaki Çalışması. Istanbul 1947/48, 35.

84

Resmî Gazete, 20 May 1933, no. 2411.

85

Kerim Esmer, Tarih Boyunca Istanbul Suları ve Istanbul Su ve Kanalizasyon Sorunu. Istanbul 1983,

168–171.

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the „Compagnie des eaux des Scutari et Kadi-Keui“ a few years later. The government’s pressure increased in 1935. While the company asked a purchase price of almost three million Turkish Liras that were to be paid in instalments of 109,000 Turkish Liras over a term of 27 years, the Turkish government offered them a mere 400,000 Turkish Liras, to be paid in ten annual instalments. To add weight to its offer, the government blocked the release and transfer of 250,000 Turkish Liras that the company had deposited at the Ottoman Bank. Furthermore, the company was accused of a breach of contract, since the quality of the water provided did not meet the requirements stipulated in the concession. This even led to prosecutions against the company’s director Mr de Vitry. The company finally had to give in to the government’s pressure. Similar to the case of the „Compagnie des eaux des Constantinople“, the „Compagnie des eaux des Scutari et Kadi-Keui“ had to sell the waterworks of Elmalı to the government in the fiftieth year of concession. In June 1937, a corresponding contract was signed by two representatives of both the „Compagnie des eaux des Scutari et Kadi-Keui“ and the Ministry of Public Works. As a countermove to this, the criminal proceedings against director de Vitry were not pursued and the blocked money was released. The Turkish government paid the 400,000 Turkish Liras it had originally offered which were paid in instalments up to 1947. 86 Before finally setting the purchase price, the city’s administration had the plants thoroughly estimated. According to the estimation the mains grid alone was about 500,000 Turkish Liras worth, which means the compensation of 400,000 was a bargain. 87 Nevertheless, the French business attaché Lorant described this process as follows: „At first sight, the agreements may seem absolutely inadequate, yet they are not half bad, considering the given circumstances, and compared to other French companies in Turkey.“ 88

After the treaty had been ratified by the National Assembly in April 1938, the Istanbul Water Administration took over the ownership and operation of the waterworks, i.e. the dam, supply mains, filters, machinery, etc., in June. 89 Now, both Is86 Ibid. 45–47. 87 Türkische Post, Halbmonatliche Wirtschaftsausgabe, 15 February 1937. 88 Quoted in Jacques Thobie, Un contexte de crise: les relations économico-financières entre la Turquie et la France de 1929 à 1944, in: Heath W. Lowry/Ralph S.Hattox (Eds.), IIIrd Congress on the Economic and Social History of Turkey, Princeton University 24–26 August 1983, Proceedings. Istanbul 1990, 160. 89 Resmî Gazete, 19 April 1938, no. 3886.

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tanbul’s waterworks were nationalised. Taking over the water supply in the 1930s was not a financial or technical risk for the city any more. Thanks to the already gathered experience, the extension of the existing water infrastructure was less difficult than constructing and installing the system in the first place. Water supply was now considered a central public task and this change of function was an important step towards a modern urban management. Due to the influence of the republican Istanbul, the municipal authorities took over the charge of this central part of urban infrastructure, which was also part of the new republic’s political legitimation.

V. Conclusion The era of private-operated waterworks in Istanbul was influenced by various conflicts between the water companies and the municipal organs, and state organizations, respectively. As the private companies made the economic power of potential subscribers their main criteria for the extension of the mains grid in the initial phases, only certain quarters of the city were supplied with water. Though this did not directly juxtapose the contractual regulations, it still meant that the city’s original intention to supply the whole city and the contractually stipulated area, respectively, was not met. The general discontentment with the water supply in both cities did not only result from the poor performance of the private suppliers. The low quality of their water – it was not before 1926 that sand filters for the European side of the city were introduced – was another mayor reason. Furthermore, the companies had been granted far-reaching rights, which meant that urban and national authorities had almost no opportunity to intervene or to adapt the water supply to changing conditions. Long after the nationalization, the inadequacy of the water supply was still attributed to the deficiencies of the water companies whereas the achievements of Istanbul’s administration were highlighted. For many years, both the Istanbul Water Administration and the municipal administration of Istanbul rarely failed to hint to the supply deficiencies that originated from the time of the private companies, and up to the 1950s, the details of the technical equipment of the works, or the amount of water supplied, served as a kind of comparative parameter to display the achieve-

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ments obtained by the local administration. 90 In 1934, one year after the take-over, the Istanbul Water Administration summed up their justification as follows: „Our administration has taken over the dilapidated works that had been operated for 50 years by a merely profit-orientated foreign water company, [...] we, nevertheless, will be able to solve the water problem of the city finally and in near future.“ 91

This somewhat naive, but enthusiastic observation should illustrate one thing in particular: A fundamental improvement of Istanbul’s waters supply could only be achieved under the rule of a municipal administration whose very own task would not be to amortize water but to serve the public benefit. This was not merely a response to the supply situation and the technical equipment of the waterworks, both of which were considered as insufficient. Between the lines, this also shows the political and ideological aspects behind extensive measures of regulation, too. Only when the dissatisfaction joined with ideological and economic changes that came with the foundation of the new Turkish Republic in 1923 did the national and municipal authorities change their attitude, which finally led to the conclusion that a nationalization of the waterworks would be absolutely necessary.

90 Dinçkal, Istanbul und das Wasser (note 33), 195. 91 ISKI-Archive, ISKI Faaliyet Raporu 1934, 6.

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Karrieren, Patronage und „Infrastrukturpoesie“ Dimensionen der Infrastrukturgeschichte am Beispiel des russländischen und sowjetischen Zentralasien von Julia Obertreis

Im Dezember 1950 schrieb die sowjetische Parteizeitung „Pravda“, durch den Turkmenischen Hauptkanal, der eine neue Industrie- und Landwirtschaftszone entstehen lassen sollte, nach Stalins Tod 1953 aber nicht realisiert wurde, werde „in der Karakumwüste ein neues Land geschaffen werden, eine neue, blühende Natur. Dies wird ein Land des Glücks und der Freude sein.“ 1 Wie hier der Turkmenische Hauptkanal zu einer Hochzeit der sowjetischen Naturtransformationsrhetorik im Spätstalinismus, so waren auch weitere, tatsächlich realisierte Bewässerungsbauten in Zentralasien sowohl vor als auch nach der Oktoberrevolution als historische und heroische Errungenschaften, als Ausweise des zivilisatorischen Fortschritts, als Manifestationen von Produktivität sowie als Träger von Zukunftsvisionen von Bedeutung. Eine poetisch anmutende Beschreibung solcher Infrastrukturbauten wie im obigen Zitat war keine Seltenheit. Am Beispiel von Bewässerungsbauten und Baumwollanbauflächen in Zentralasien sollen im Folgenden vor allem zwei Aspekte der Verflechtung von Infrastrukturen und Macht untersucht werden: Zunächst wird das Personal in Augenschein genommen, das die Kanäle, Wehre und Staumauern plante, bauen ließ und für deren Funktionieren verantwortlich war, vor allem Ingenieure, Planer, Leiter von Bauorganisationen und Beamte beziehungsweise Funktionäre. Dabei interessieren vor allem personale Netzwerke, die diese Akteure untereinander und über regionale und Republikgrenzen hinweg verbanden. Anschließend wird die „Infrastrukturpoesie“ dieser Akteursgruppen untersucht. Dieser Begriff wird hier erstmals eingeführt. Er bezeichnet poetische Textteile in Publikationen zu Infrastrukturbauten und Erschließungsmaßnahmen, die eine Funktion sowohl hinsicht-

1 Pravda, 4.12.1950, Nr.338, 2.

232

DOI

10.1515/9783486781052.232

lich der transportierten Inhalte als auch der Selbstverortung der Autoren erfüllten. Ziel der Ausführungen ist, zu zeigen, wie diese beiden Aspekte – die „Kader“ und die „Poesie“ – das Verhältnis von Infrastrukturen und Macht in einer konkreten historischen Situation bestimmten und wie sie miteinander interagierten. Zentralasien wird hier als Peripherie zunächst des Russländischen Reiches (seit den 1860er Jahren) und anschließend der Sowjetunion (bis 1991) untersucht. Der Schwerpunkt wird auf der sowjetischen Zeit liegen, besonders auf den Nachkriegsjahrzehnten, als der Ausbau der Bewässerungssysteme mit großer Dynamik vorangetrieben wurde. 2 Die Bedeutung technischer Infrastrukturen in der Sowjetunion in den Bereichen Verkehr, Wasserwirtschaft, Hydroenergie und Rohstofftransport ist bereits Gegenstand der Betrachtung von Historikern geworden, und es liegen eine Reihe von Einzelstudien vor, etwa zu Wasserkraftwerken oder Bahnbauprojekten. 3 Für das Russländische Reich fehlen bislang umfangreichere Synthesen zu Infrastrukturen im Allgemeinen. 4 Allerdings sind einschlägige Arbeiten vor allem im Bereich der Verkehrsinfrastruktur erschienen, besonders zur Eisenbahn, die Verbindungen zwischen einer eher technisch- und politikgeschichtlich orientierten Infrastrukturgeschichte und einer sozial- und kulturgeschichtlichen schaffen sowie dem spatial turn Rechnung tragen. 5 Die Geschichte der Bewässerungssysteme Zentralasiens ist derzeit ein boomendes Thema, sie wird jedoch nicht allein aus der Perspektive der In-

2 Zugrunde liegt diesem Aufsatz meine noch unveröffentlichte Habilitationsschrift, die den Titel trägt „Imperial Desert Dreams. Cotton Growing and Irrigation in Uzbekistan and Turkmenistan, 1860s–1991.“ 3 Klaus Gestwa/Johannes Grützenmacher, XIII. Infrastrukturen, in: Stefan Plaggenborg (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Russlands. Bd. 5.2: Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Stuttgart 2003, 1089–1152; Klaus Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967. (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 30.) München 2010; Johannes Grützmacher, Die Baikal-Amur-Magistrale. Vom stalinistischen Lager zum Mobilisierungsprojekt unter Brežnev. München 2012; Matthew J. Payne, Stalin’s Railroad. Turksib and the Building of Socialism. Pittsburgh 2001. 4 Siehe aber: Andreas Helmedach, Technik, Verkehr, Umwelt, in: Thomas M. Bohn/Dietmar Neutatz, (Hrsg.), Studienhandbuch östliches Europa. Bd. 2: Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion. Köln/Weimar/Wien 2009, 79–88. 5 Roland Cvetkovski, Modernisierung durch Beschleunigung. Raum und Mobilität im Zarenreich. Frankfurt am Main 2006; Walter Sperling, Der Aufbruch der Provinz. Die Eisenbahn und die Neuordnung der Räume im Zarenreich. Frankfurt am Main 2011; Frithjof Benjamin Schenk, Russlands Fahrt in die Moderne. Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter. (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 82.) Stuttgart 2014. Zum Kanalbau siehe u.a.: Guido Hausmann, Die Unterwerfung der Natur als imperi-

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/ KARRIEREN , PATRONAGE UND „ INFRASTRUKTURPOESIE “

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frastrukturgeschichte diskutiert. 6 Auch dieser Beitrag strebt deren Verknüpfung mit politik-, sozial-, kultur- und umweltgeschichtlichen Dimensionen an, um das Verhältnis von Wasserinfrastrukturen und Macht in Zentralasien aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Dazu werden zunächst grob der historische Rahmen und die naturräumlichen Gegebenheiten skizziert. Der sich anschließende Abschnitt gibt Einblicke in Karriereoptionen, die sich durch die Arbeit an der zentralasiatischen Peripherie eröffneten und behandelt das Phänomen der Patronage am Beispiel der Hungersteppe für die 1950er und 1960er Jahre. Der Hauptteil dieses Beitrages ist der „Infrastrukturpoesie“ gewidmet, die an Beispielen aus dem zarischen und dem sowjetischen Kontext aufgezeigt wird, bevor abschließend im Fazit die beiden Themenstränge aufeinander bezogen und Ergebnisse zur Frage des Verhältnisses von Macht und Infrastrukturen präsentiert werden.

I. Das historische und naturräumliche Setting Im 19.Jahrhundert kam die Region Zentralasien, die über Handelswege und Expeditionen immer wieder einmal mit Russland in Berührung gekommen war, ins Visier der Eliten des Russländischen Reiches. Während die weiten Steppengebiete Kasachstans im Norden schon um die Mitte des Jahrhunderts eingenommen wurden, begann die Eroberung des südlichen Zentralasiens in den 1860er Jahren und war in den 1890er Jahren abgeschlossen. Sie war von geopolitischen und militärischen Erwägungen motiviert und diente St. Petersburg als Kompensation für die Verluste, die es während des Krimkrieges im Westen erlitten hatte. 7 Gegen Ende des Jahrhunderts beherrschte eine russländische Militärverwaltung das neu geschaffene Generalgouvernement „Turkestan“ mit einer überwiegend muslimischen Bevölale Veranstaltung. Bau und Eröffnung des Ladoga-Kanals in Russland im frühen 18.Jahrhundert, in: Frühneuzeit-Info 19, 2008, 59–71. 6 Siehe die noch laufenden Projekte von Maya Peterson, Christian Teichmann und Christine Bichsel. Veröffentlicht wurden daraus u.a.: Christian Teichmann, Canals, Cotton, and the Limits of De-Colonization in Soviet Uzbekistan, 1924–1941, in: Central Asian Survey 26, 2007, 499–519; Christine Bichsel, „The drought does not cause fear“. Irrigation History in Central Asia through James C. Scott’s Lenses, in: Revue d’études comparatives Est-Ouest (RECEO) 44, 2012, 73–108. 7 Mit dieser gängigen Interpretation bereits: Dietrich Geyer, Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1860–1914. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 27.) Göttingen 1977, 71–82.

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kerung. Im Gegensatz zum späteren Kasachstan und der Region Semireč’e, die durch weite Steppen und nomadische Viehwirtschaft geprägt war und in die viele ostslawische (russische, ukrainische) Siedler zuwanderten, blieb der slawische Bevölkerungsanteil weiter südlich in Turkestan und in der an das Kaspische Meer grenzenden Provinz Transkaspien gering und konzentrierte sich auf die Städte. 8 Im Fokus der Betrachtung steht mit dem heutigen Usbekistan und Turkmenistan eine Region, die zu weiten Teilen von Steppen und Wüsten eingenommen wird; darunter in Turkmenistan die Karakum-Wüste mit einer Fläche von etwa 350000 bis 380000 km2. Siedlung und Landbau sind aufgrund dieser naturräumlichen Gegebenheiten von jeher auf Oasen konzentriert, die an den großen Strömen und Flüssen liegen. Letztere entspringen in den Hochgebirgen des Tian Shan und des Hindukusch, welche die Region nach Süden und Südosten hin abgrenzen. Von besonderer Bedeutung sind der Syr-Darja und der Amu-Darja, die beide den Aralsee im Norden speisten, bevor sie ihn seit etwa den 1970er Jahren aufgrund sinkender Wasserpegel und des Rückganges der Küstenlinien des Sees nicht mehr erreichten. Sie transportieren über tausende Kilometer Wasser vom Gebirge in die Ebene. Ihr Wasserstand schwankt erheblich nach Jahreszeit, wobei sie im Frühsommer und Sommer aufgrund der Schnee- und Eisschmelze anschwellen. Von diesen beiden und weiteren größeren Flüssen werden in einem mehrstufigen System die Bewässerungskanäle abgezweigt, da in der Ebene Ackerbau wegen der geringen Niederschlagsmengen ohne künstliche Bewässerung kaum möglich ist. Bewässerungslandbau hat in dieser Region eine lange Tradition, die bis in vorchristliche Zeit zurückreicht. Noch im 19.Jahrhundert, als die russländische Eroberung der Region begann, wurden von den zentralasiatischen Herrschern, etwa dem Khan von Chiva, größere Kanäle eingeweiht, waren also politische Macht und Bewässerung sinnfällig verbunden. Die Kanäle können als komplexes System gesehen werden, denn ihre Pflege nahm umfangreiche Ressourcen in Anspruch: Sie mussten jedes Jahr aufwändig gereinigt und neu in Betrieb genommen werden, da durch den hohen Schwemmstoffgehalt des Flusswassers die Kanäle rasch verschlammten; zudem war Erosion

8 Siehe als knappe deutschsprachige Einführung in die Geschichte des russländischen Zentralasiens: Andreas Kappeler, Russlands zentralasiatische Kolonien bis 1917, in: Bert Georg Fragner/Andreas Kappeler (Hrsg.), Zentralasien. 13. bis 20.Jahrhundert. Geschichte und Gesellschaft. (Edition Weltregionen, 13.) Wien 2006, 139–160.

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der Ufer verbreitet, und die aus Reisig, Erde und anderen organischen Materialien gebauten Dämme hielten oft nur eine Saison lang. 9 Neben Reis, Gemüse, Melonen und anderen Produkten wurde auf den Bewässerungsfeldern Baumwolle angebaut, zunächst nur als eines unter vielen landwirtschaftlichen Produkten. Die Baumwolle erlangte allerdings im Laufe des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung weltweit eine große Bedeutung. Globale Netze verbanden Anbauregionen und Produzenten mit Händlern, Abnehmern, Banken und den immer größer werdenden Textilfabriken in Europa und Nordamerika. 10 Auch im Russländischen Reich träumten Minister und Wirtschaftsexperten seit den 1870er Jahren davon, die boomende Textilindustrie mit Baumwolle aus der neu erworbenen Kolonie Turkestan zu versorgen und starteten verschiedene Initiativen, zum Beispiel die Einführung amerikanischer Baumwollsamen, um den Anbau in Turkestan auszuweiten. 11 Dass die Baumwollfelder Wasser brauchten und die Bewässerung intensiviert werden musste, lag auf der Hand, und so war es eines der Anliegen russländischer Herrschaft in Turkestan, alte Bewässerungssysteme instand zu setzen und neue zu errichten. Sie sollten, ganz im Gegensatz zu den ‚primitiven‘ existierenden Anlagen, vom höheren Zivilisationsgrad der imperialen Machthaber zeugen, und zwar durch angewandte „Ingenieurskunst“ und durch Baumaterialien wie Stein und Zement anstelle der bisher verwendeten organischen. Der Konnex zwischen imperialer Herrschaft und Zivilisierungsmission kam in Bezug auf die Bewässerung auch hinsichtlich der schöpferischen Kraft, die dem Wasser zugeschrieben wurde, sehr deutlich zum Ausdruck: Wasser werde die als rückständig wahrgenommene Region beleben und im doppelten Sinne kultivieren – so die immer wieder geäußerte Vorstellung der „men of the empire.“ 12 Dieses Doppelinteresse der Vertreter Petersburgs an der zivilisatorischen und ökonomischen Funktion

9 Als Einführungen in den Naturraum und die Geographie Zentralasiens: Peter Sinnott, The Physical Geography of Soviet Central Asia and the Aral Sea Problem, in: Robert A. Lewis (Ed.), Geographic Perspectives on Soviet Central Asia. London 1992, 74–97; Jörg Stadelbauer, Zwischen Hochgebirge und Wüste. Der Naturraum Zentralasien, in: Osteuropa 57, 2007, 9–26. Zur Bewässerung in einer Perspektive der longue durée: Jürgen Paul, Herrscher, Gemeinwesen, Vermittler: Ostiran und Transoxanien in vormongolischer Zeit. (Beiruter Texte und Studien, 59.) Stuttgart 1996. 10

Sven Beckert, Emancipation and Empire. Reconstructing the Worldwide Web of Cotton Production in

the Age of the American Civil War, in: American Historical Review 109, 2004, 1405–1438. 11

Siehe als einen frühen westlichen Beitrag dazu: John Whitman, Turkestan Cotton in Imperial Russia,

in: American Slavic and East European Review 15, 1956, 190–205. 12

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Als Ausdruck dieser Wünsche am Vorabend des Ersten Weltkrieges: E. E. Skornjakov, Iskusstvennoe

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von Bewässerung wurde nach 1917 von deren Nachfolgern, den Bolschewiki, übernommen. Durch die gesamte sowjetische Ära hindurch lag der Fokus der sowjetischen Wirtschafts- und Entwicklungspolitik vor allem für Usbekistan auf Baumwollanbau und, damit eng verbunden, auf Bewässerung. Usbekistan wurde als „Baumwollbasis“ der Sowjetunion installiert, und bis in die späte sowjetische Ära hinein genossen hier die Nachrichten über die Baumwollernte höchste Priorität. 13

II. Karrieren und Patronage Der in der sowjetischen Ära anhaltende Enthusiasmus im politischen Zentrum für die Modernisierung der Bewässerungssysteme und die Ausweitung des Baumwollanbaus in Zentralasien beförderte und ermöglichte Karrieren von Forschenden, Ingenieuren sowie mit infrastrukturellen Baumaßnahmen betrauten Organisatoren. In diesem Abschnitt werden die großen Entwicklungen bis in die späten 1930er Jahre nur angedeutet, bevor detaillierter auf eine Fallstudie zur Nachkriegszeit eingegangen wird. Obwohl die Erfolge der zarischen Bewässerungspolitik insgesamt begrenzt blieben, gab es eine Reihe ausgewiesener Experten, die gerade oder zumindest zum Teil durch ihre Arbeit in Turkestan bekannt wurden. Dazu zählen etwa der Ingenieur Georgij Konstantinovič Rizenkampf (1886–1943), der Ingenieur und Allround-Forscher Vladimir Vladimirovič Cinzerling (1884–1954) oder der Agrarexperte und Bodenkundler Nikolaj Aleksandrovič Dimo (1873–1959). Nach der Oktoberrevolution stellten sie ihre Arbeit und Expertise in den Dienst des neu entstehenden sowjetischen Staates und versprachen sich angesichts der Technikbegeisterung der Kommunisten und deren Transformationsdrang eine schnelle Umsetzung der Projekte, orošenie v Aziatskoj Rossii, in: Aziatskaja Rossija. Izdanie Pereselenčeskago upravlenija Glavnago upravlenija zemleustrojstva i zemledelija. Vol.2: Zemlja i chozjajstvo. St. Petersburg 1914, 219–255. 13 Diese Thematik wird in den wenigen vorliegenden Studien zu den zentralasiatischen Sowjetrepubliken sowie in Beiträgen zur Wirtschaftsgeschichte der Sowjetunion meist behandelt, allerdings oft recht oberflächlich oder einseitig. Daher hier der Verweis auf zwei gehaltvolle Beiträge, auch wenn sie älteren Datums sind: Grey Hodnett, Technology and Social Change in Soviet Central Asia: The Politics of Growing Cotton, in: Henry W. Morton/Rudolf L. Tökes (Eds.), Soviet Politics and Society in the 1970s. New York 1974, 60–117; Gregory William Gleason, Between Moscow and Tashkent: The Politics of the Uzbek Cotton Production and Complex. University of California, Davis Ph.D. (UMI). Davis, Cal. 1984. In Turkmenistan war neben dem Baumwollanbau die Viehzucht sehr bedeutend.

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die im Zarenreich nur schleppend zu realisieren gewesen waren. 14 Rizenkampf und Dimo waren zudem daran beteiligt, zwischen etwa 1918 und 1930 akademische Institutionen in Zentralasien aufzubauen und führten ihre Forschungen vor Ort fort. 15 Gleichzeitig wurden aus Turkestan und den nördlich angrenzenden, ehemals zarischen Verwaltungsgebieten seit Mitte der 1920er Jahre unter der Überschrift „nationale Aufteilung“ (nacional’noe razmeževanie) sowjetische Unionsrepubliken geformt, benannt nach der jeweils dominierenden Ethnie und ausgestattet mit einer je eigenen Nationalsprache, -literatur und -geschichte. Bis Mitte der 1930er Jahre entstanden auf diese Weise die Usbekische, Turkmenische, Kirgisische, Kasachische und Tadschikische Unionsrepublik, aus denen nach 1991 ohne größere Grenzveränderungen die heutigen unabhängigen Staaten hervorgingen. 16 Mitte der 1920er Jahre begannen in Zentralasien (und erneut mit dem sowjetunionweiten „großen Umbruch“ ab 1929) die radikalen Transformationskampagnen für die Landwirtschaft. Die unter den Stichworten „Land-Wasser-Reform“ und „Kollektivierung“ bekannt gewordenen Maßnahmen zielten darauf, die angebliche Herrschaft der Reichen und Privilegierten in den Dörfern zu beenden, die Unterschichten (Kleinbauern, Landlose) zu stärken und die Besitz- und Nutzungsrechte umzuverteilen. Die Ausweitung des Baumwollanbaus für das südliche Zentralasien war dabei ein zentrales Anliegen Moskaus, und während der Kollektivierung wurden viele Bauern gezwungen, von Getreide- auf Baumwollanbau umzustellen. Die Kollektivierung der Landwirtschaft stieß in Zentralasien auf massiven Wi-

14

In der deutschsprachigen Forschungsliteratur grundlegend zum Verhältnis der Bolschewiki zu Tech-

nik anhand der Elektrifizierungspläne für die Sowjetunion: Karl Schlögel, Jenseits des Großen Oktober. Das Laboratorium der Moderne. Petersburg 1909–1921. Berlin 1988, 277–313. Siehe auch: Klaus Gestwa, Technik als Kultur der Zukunft. Der Kult um die „Stalinschen Großbauten des Kommunismus“, in: Geschichte und Gesellschaft 30, 2004, 37–73, sowie weitere Publikationen dieses Autors. Als Beispiele für zur sowjetischen Zeit erschienene Publikationen der oben genannten Experten: G. Rizenkampf, Osnovy irrigacii. Leningrad 1925; V. V. Cinzerling, Orošenie na Amu-Dar’e. Moskau 1927; N. A Dimo, Nabljudenija i issledovanija po faune počv. Sbornik rabot. Kischinew 1955. 15

Zu Dimo siehe den russischsprachigen Wikipedia-Artikel zu ihm: „Dimo, Nikolaj Aleksandrovič“ (Zu-

griff 16.3.2013); seine Tätigkeit in Turkestan ist beispielsweise erwähnt in: A. Mamedov, Russkie učenye i razvitie irrigacii Srednej Azii. Taschkent 1968, 45–48. Zu Rizenkampf siehe Rizenkampf Georgij Konstantinovič (1886–1943): Inžener, rukovoditel’, http://www.energymuseum.ru/whois/?item=103 (Zugriff 15.3.2013). 16

Francine Hirsch, Toward an Empire of Nations: Border-Making and the Formation of Soviet National

Identities, in: Russian Review 59, 2000, 201–226; Arne Haugen, The Establishment of National Republics in Soviet Central Asia. New York 2003. Zu Turkmenistan: Adrienne Lynn Edgar, Tribal Nation. The Making of Soviet Turkmenistan. Princeton 2004.

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derstand sowohl der nomadischen als auch der sesshaften Bevölkerung und kostete zahlreichen Menschen und Tieren das Leben. Die radikalen, gewalttätigen Kampagnen der Kommunisten führten zu Chaos und sozioökonomischem Niedergang und verzögerten die geplante Modernisierung von Bewässerung und Landwirtschaft anstatt sie zu befördern. 17 Die Jahre von 1929 an markierten zudem einen neuen Höhepunkt der Repressionen gegen als „bürgerliche Spezialisten“ bezeichnete Wissenschaftler und Ingenieure. Ziel der Politik Stalins war es, die des falschen Klassenstandpunktes und der übermäßigen Unabhängigkeit beschuldigten alten Facheliten durch „rote Ingenieure“ zu ersetzen, wozu junge Leute massenhaft und im Eilverfahren durch technische Hochschulen geschleust wurden. 18 Zu diesem Zeitpunkt, um 1930, hatten die vorrevolutionären Experten Zentralasien zum Teil verlassen und waren ins Zentrum zurückgekehrt. Dies gilt wenigstens für Rizenkampf, der später, 1943, im Gulag umkam. 19 Dimo wurde bereits 1930 verhaftet und blieb bis 1932 in Haft. Die Verfolgung der „bürgerlichen Spezialisten“ betraf also auch die Peripherie. Welche Wirkungen dies in Zentralasien hatte, muss jedoch noch genauer untersucht werden. 1939 begann in Usbekistan und Turkmenistan eine von oben gelenkte Kampagne zur Ausweitung der Bewässerungskanäle, die unter dem Schlagwort „Volksbauen“ (narodnoe stroitel’stvo) bekannt wurde. Tatsächlich war es das Volk, sprich: die Bauern selbst, das jetzt Kanäle aushob – allerdings nicht, wie die Bolschewiki immer verheißen hatten, mit moderner Technik, sondern ganz überwiegend von Hand und mit den in der Region seit Langem verwendeten breiten Hacken, den ketmeny. Die Kampagne des „Volksbauens“, in deren Zuge als größter Kanal der „Große Ferghanakanal“ entstand, ermöglichte einen öffentlich zelebrierten Karriereschub für die Verantwortlichen, begünstigt durch die Leerstellen, die der „Große Terror“ der Jahre 1936–1938 hinterlassen hatte. Im politischen Bereich war das an prominenter Stelle Usman Jusupov (1900–1966), der als Erster Sekretär der Kommunistischen Partei

17 Zu Turkmenistan: Edgar, Tribal Nation (wie Anm.16), 175–220. Als aufschlussreicher Quellenband: D. A. Alimova et al. (Eds.), Tragedija sredneaziatskogo kišlaka: Kollektivizacija, raskulačivanie, ssylka, 1929– 1955 gg.: Dokumenty i materialy. Vol.1–3. Taschkent 2006. 18 Zu den Repressionen kulturgeschichtlich: Susanne Schattenberg, Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren. (Ordnungssysteme, Bd. 11.) München 2002, 85–107. Zu Stalins Projekt der „roten Ingenieure“ ein klassischer Beitrag: Sheila Fitzpatrick, Stalin and the Making of a New Elite, 1928–1939, in: Slavic Review 38, 1979, 377–402. 19 Rizenkampf Georgij Konstantinovič (wie Anm.15).

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Usbekistans Akmal Ikramov (auch Ikromov, 1898–1938) beerbte, welcher im Dritten Moskauer Schauprozess verurteilt und hingerichtet worden war. 20 Von Seiten der Experten war dies beispielsweise A. N. Askočenskij (1898–1973), der seit dem Ende der 1920er Jahre die Rationalisierung des Bewässerungsbaus in Zentralasien vorantrieb und sich, offenbar auch im Zusammenhang mit der allgemeinen Stimmung gegen die ‚alten Experten‘, für radikale Beschleunigungsmaßnahmen aussprach wie etwa, dass ein Hauptkanal bereits gebaut werden könne, noch bevor die Projektplanung für das gesamte Bewässerungssystem fertiggestellt sei. 21 Askočenskij war leitender Ingenieur in einem für Zentralasien zuständigen Planungsinstitut und leitete einen Lehrstuhl am Taschkenter Ingenieursinstitut für Bewässerung und Mechanisierung der Landwirtschaft (TIIIMSKh). Im Zuge des „Volksbauens“ konnte er mit seiner Begeisterung für die „Rationalisierung“ von Planung und Bau punkten. Der Große Ferghanakanal wurde in nur vier Monaten geplant – ein Vorgang, der normalerweise ein Jahr gedauert hätte. Typischerweise beförderte ein solches Prestigeprojekt die Karriere: 1940 wurde Askočenskij unter anderem Direktor eines neu gegründeten Instituts für Fragen der Wasserverwaltung an der usbekischen Filiale der Akademie der Wissenschaften. 22 Spätestens mit dem „Volksbauen“ war in Zentralasien die fortan bestehende sowjetische Tradition etabliert, dass die Teilnehmer an Prestigeprojekten für ihre Leistungen öffentlich mit Orden und Auszeichnungen geehrt wurden, ihre Namen Eingang in die Fach- und Geschichtsbücher fanden und sie zum Teil deutliche Karrieresprünge machen konnten. Hintergrund war zum einen der angedeutete Elitenwechsel, von höchster Stelle verordnet und vom Terror befördert. Zum anderen herrschte gerade an der südöstlichen Peripherie der Sowjetunion in den technischen Bereichen eklatanter Mangel an Fachkräften, so dass rascher beruflicher Aufstieg möglich war. 20

Vgl. Donald S.Carlisle, The Uzbek Power Elite: Politburo and Secretariat (1938–83), in: Central Asian

Survey 5, 1986, 91–132. 21

Rezoljucii soveščanija po melkomu irrigacionnomu stroitel’stvu pri Glavnom Chlopkovom Komite-

te. 29 ijunja–4 ijulja 1930 g. G. Tashkent. Taschkent 1930, 16–18. 22

Nach dem Krieg brachte er es bis nach Moskau und wurde unter anderem Vizeminister und langjäh-

riger Leiter einer Abteilung an der zentralen Landwirtschaftsakademie (VASKhNIL); Tashkentskij Ordena Trudovogo Krasnogo Znameni Institut Inženerov Irrigacii i Mechanizacii Sel’skogo Chozjajstva, 1934– 1984. Taschkent 1984, 32; Zentrales Staatliches Archiv der Republik Usbekistan (CGA Ruz), 837, op. 32, d. 2294, ll. 10ob.–11. Siehe auch seine Biographie in dem Nachruf: Akademik Aleksandr Nikolaevič Askočhenskij, in: Gidrotechnika i Melioracija, 1973, Nr.4, letzte Seite.

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Dies galt zunehmend auch für indigene Experten, also Usbeken, Turkmenen, Tadschiken und andere. Während bis in die 1930er Jahre die technischen Spezialisten meist Vertreter slawischer Ethnien waren (vor allem Russen und Ukrainer), die für kürzere oder längere Zeit in Turkestan lebten, sorgte die sowjetische Politik dafür, dass auch Zentralasiaten der Zugang in diese Bereiche geöffnet wurde. Dahinter stand der explizite Anspruch, Bildung inklusive technischer (Aus-)Bildung allen in der Sowjetunion vertretenen Nationalitäten und beiden Geschlechtern zukommen zu lassen, und besonders bezog sich die davon abgeleitete affirmative action auf die Titularnationen der Unionsrepubliken, also beispielsweise auf die Usbeken in der Usbekischen Republik. Die sowjetischen Machthaber warben geradezu um die Vertreter der einheimischen Bevölkerungsgruppen, die insgesamt eher den künstlerischen Berufen und Lehrberufen zugetan waren als den technischen. 23 Ein weiteres sowjetisches Groß- und Prestigeprojekt der Nachkriegszeit war die Erschließung der Hungersteppe, die zwischen Taschkent und Samarkand liegt und deren Bewässerung und Besiedelung schon in zarischer Zeit anvisiert worden war. 24 Mit einem Regierungsdekret der Zentrale vom August 1956 begann, wenige Jahre nach dem Start der großen „Neuland“-Kampagne in Kasachstan, eine breit angelegte Erschließungsmaßnahme. Es galt, Hunderttausende von Hektar Land zu bewässern, auf deren Großteil Baumwollfelder entstehen sollten. 25 Neu gegründete Sowchosen sollten dies bewerkstelligen, und es war ein umfassender Infrastrukturaufbau geplant. 26 Die ganze Verve der Transformationsrhetorik der Bolschewiki fand auf die Hungersteppe Anwendung; davon wird weiter unten noch die Rede sein. Das Motiv der „Eroberung der Natur“ – prominent (wieder-)eingeführt im Spätstalinismus Ende der 1940er Jahre und unter Chruščev weiter propagiert – war auch in Bezug auf die Hungersteppe allgegenwärtig, hier speziell als „Angriff auf die Wüste“. Das Erschließungsprojekt wurde von Moskau und von Taschkent, der Hauptstadt Usbe23 Hier mit Bezug zu den späten 1930er Jahren: Terry Martin, The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939. Ithaca, NY 2001, 379–387. Für die späte Sowjetunion diskutiert die heikle Frage der beruflichen Präferenzen der Zentralasiaten: Nancy Lubin, Labour and Nationality in Soviet Central Asia. London 1984. 24 Ian M. Matley, The Golodnaya Steppe. A Russian Irrigation Venture in Central Asia, in: Geographical Review 60, 1970, 328–346. 25 Irrigacija Uzbekistana: v četyrech tomach. Vol.1: Razvitie irrigacii v komplekse proizvoditel’nych sil Uzbekistana. Taschkent 1975, 205. 26 Vgl. Matley, The Golodnaya Steppe (wie Anm.24); R. S.Igamberdyev/A. A. Razzakov, Istorija melioracii v Uzbekistane (na materialach Golodnoj stepi). Taschkent 1978.

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kistans, großzügig gefördert und mit Personal und vor allem Geld und Materialien ausgestattet. Es war nicht nur innerhalb Usbekistans von Bedeutung, sondern auch für andere zentralasiatische Republiken und sogar auf internationaler Ebene, da die Hungersteppe ausländischen Studierenden und Staatsgästen bei ihren Besuchen präsentiert wurde. 27 Für die Umsetzung der ehrgeizigen Bau- und Bewässerungsmaßnahmen war vor Ort der „Hungersteppebautrust“ (Golodnostepstroj) zuständig, der 1956 oder 1957 gegründet wurde. Er unterstand seit 1958 der Hauptverwaltung für Wasserwirtschaft des Unionsministeriums für Landwirtschaft und hatte mit diesem Unionsstatus eine privilegierte Position inne. Während vorher über ein Dutzend Behörden in den Planungsprozess für die Hungersteppe involviert gewesen waren, erfolgte durch die Gründung des Trusts nun eine Macht- und Ressourcenbündelung. 28 Mit Golodnostepstroj war eine Vielzahl von Karrieren verbunden, die durch das Erschließungsprojekt befördert wurden oder mit ihm erst begannen. Einer der prominentesten Aufsteiger war der Armenier Akop Abramovič Sarkisov (1907–1971), erster Leiter und maßgeblicher Mitgestalter des Trusts. Laut Memoirenliteratur konnte er durch sein Charisma in der Frühphase junge Absolventen technischer Hochschulen in die Hungersteppe locken. Ein weiterer war der aus einer jüdischen Familie in der Ukraine stammende, unermüdliche Organisator Viktor Abramovič Duchovnyj (geb. 1934), der ab 1962 oder 1963 eine Unterorganisation des Trusts leitete und später selbst einer der Leiter von Golodnostepstroj wurde. Auch Zentralasiaten konnten in leitende Positionen aufsteigen, auch wenn dies zum Teil möglicherweise der affirmative action-Politik geschuldet war. Beispiele sind hier Iksan Nizamovič Nizamov (1917–1984), der in den frühen 1960er Jahren Leiter des Trusts war, nachdem er in der Nachkriegszeit zunächst verschiedene hohe Ministerialämter in Usbekistan bekleidet hatte, sowie Tuchtamyš Bajmirov, der 1968 sein Nachfolger als Kopf von Golodnostepstroj wurde. Die Hungersteppe wurde, wie auch andere Großprojekte, in der Propaganda als Ort der „Völkerfreundschaft“, als „multiethnische Baustelle“ und ähnlich dargestellt – dieser Mythos ist auch in den nach dem Ende der sowjetischen Ära erschienenen Memoiren lebendig. So berichten die ehemaligen Aktiven, die Hungersteppe sei eine „Baustelle aller Völker“ ge-

27

Obertreis, Imperial Desert Dreams (wie Anm.2), Kapitel 3.

28

Irrigacija Uzbekistana, Vol.1 (wie Anm.25), 299; Igamberdyev/Razzakov, Istorija melioracii (wie

Anm.26), 107f.

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wesen und „ein großes, gemeinsames Haus für alle“ und habe „alle Nationalitäten vereint und befreundet“. 29 Bezüglich der Kader des Trusts scheint dieser Mythos auch ein Stück weit Realität gewesen zu sein, angesichts etwa der Freundschaften, die sich zwischen Vertretern verschiedener Nationalitäten ergaben. Anders verhielt es sich allerdings bei den Deportierten, welche die Hungersteppe zwangsweise besiedelten. 30 Die Verbindung zwischen Golodnostepstroj in Usbekistan und den zentralen Behörden und Entscheidungsträgern in Taschkent und Moskau bestand nicht nur auf formalen Wegen, sondern auch (und ganz ausschlaggebend) über persönliche Bekanntschaften und auf informelle Weise. Dies lässt sich aus einer im Umfang begrenzten, aber in der Gesamtschau sehr dichten Memoirenliteratur herauslesen. Šaraf Rašidov, der von 1959 bis 1982 Erster Parteisekretär in Usbekistan war, diente den „Hungerstepplern“, wie sie sich selbst nannten, als Patron und Garant für Unterstützung in Taschkent. In Moskau waren vor allem das Landwirtschafts- und das Wasserwirtschaftsministerium wichtige Adressen sowie natürlich der jeweilige Erste Parteisekretär und seine Umgebung. Neben Telefonaten waren Besuche der Parteiführer in der Hungersteppe von großer Bedeutung für die Pflege der Netzwerke sowie für schnell zustande kommende Entscheidungen abseits der oft langwierigen behördlichen Wege. Sarkisov hatte laut der Erinnerungen seiner Untergebenen einen direkten Draht zu verschiedenen politischen Größen Usbekistans, die er jederzeit anrufen konnte. Er brüstete sich vor seinen Mitarbeitern damit, sogar während der gern von ihm einberufenen nächtlichen Dienstbesprechungen den Leiter des us-

29 Nikolaj Churanov, Dostojnye syny otečestva, in: Oživšaja legenda. Vospominanija veteranov osvoenija Golodnoj Stepi. Gulistan 2002, 81–91, hier 85; Valerij Dumler, Avtotransport rabotal besperebojno, in: ebd.103–123, hier 106. 30 Die Existenz von zwangsweise in die Hungersteppe Deportierten aus anderen Gegenden Usbekistans oder aus anderen Teilen der Sowjetunion sowie die Konflikte zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen werden in den Memoiren der „Hungersteppler“ nur am Rande erwähnt: Akbar Azimov, Nočnoj zvonok, in: Oživšaja legenda (wie Anm.29), 137–142, hier 137f.; Viktor Duchovnyi, Zov vody. Moscow 2006, 107, 149. Generell ist für die Baumwollwirtschaft in Usbekistan ein beachtlicher Anteil von sogenannten „Zwangssiedlern“, in der Regel Angehörige nationaler Minderheiten, festzustellen, die im Zuge der großen Deportationen ethnischer Minderheiten vor und während des Zweiten Weltkrieges nach Zentralasien kamen. Viele von ihnen wurden zwangsweise auf Baumwollwirtschaften beschäftigt. J. Otto Pohl, A Caste of Helot Labourers. Special Settlers and the Cultivation of Cotton in Soviet Central Asia, 1944–1956, in: Deniz Kandiyoti (Ed.), The Cotton Sector in Central Asia. Economic Policy and Development Challenges. Proceedings of a Conference Held at SOAS University of London, 3–4 November 2005. London 2007, 12–28, hier 12f.

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bekischen Ministerrates, Rachmankul Kurbanov, anrufen zu können, um eine Arbeitsangelegenheit zu beraten. 31 Zudem verfügte er, zumindest in der Zeit um 1963, über direkten Kontakt zu Chruščev, durch den er in einem spektakulären Fall die Absetzung des Vorsitzenden einer Vorzeigesowchose verhindern konnte. 32 Was die Besuche von Parteiführern in der Hungersteppe betrifft, so waren neben den regelmäßigen Visiten Rašidovs vor allem jene der Moskauer Parteichefs für die „Hungersteppler“ eindrücklich. Als Chruščev 1962 die Hungersteppe besuchte, geriet dies zu einem Triumph für Rašidov und Sarkisov, die stolz ‚ihre‘ Errungenschaften präsentierten. Größere und kleinere anstehende Entscheidungen bezüglich der Organisation der Arbeiten in der Hungersteppe wurden während des Besuches mit Chruščev besprochen und vorweggenommen. Neben institutionellen Neuordnungen, von denen Sarkisov profitieren konnte – namentlich die Einrichtung einer neuen, größeren Entwicklungs- und Bewässerungsbauorganisation, die er im Folgenden leitete –, konnte er bei Chruščev auch durchsetzen, dass Gehaltszuschläge für die Arbeit in der Hungersteppe nicht nur an Arbeiter, sondern auch an Ärzte, Lehrer und Vertreter anderer Intelligenzberufe gezahlt werden sollten, um die personelle Ausstattung zu stärken. 33 1966 kamen der seit 1964 amtierende neue Moskauer Parteichef Brežnev sowie der Vorsitzende des Ministerrates der UdSSR, Aleksej Kosygin, nach Taschkent, das im April von einem schweren Erdbeben heimgesucht worden war, und besuchten in diesem Zusammenhang auch die Hungersteppe. Auch diesmal wurden wichtige Fragen erörtert, nämlich die Auswahl und Einführung neuer Drainagesysteme sowie die zu präferierende Form von Wohnhäusern, die in den neu errichteten Sowchosen zu bauen seien. 34 Nicht nur die Formen der Kommunikation sind für die Betrachtung der Netzwerke zwischen Golodnostepstroj, Taschkent und Moskau von Belang, sondern auch die Qualität und Wahrnehmung der persönlichen Beziehungen. Es bestanden PatronKlienten-Verhältnisse, die es auch im Russländischen Reich zwischen imperialen

31

Bronislav Zažitskij, Vtoroj front, in: Oživšaja legenda (wie Anm.29), 94–102, hier 100. In einem anderen

Fall beriet sich Sarkisov in einer dringenden organisatorischen Angelegenheit telefonisch mit Rašidov (ebd.). 32

Zažitskij, Vtoroj front (wie Anm.31), 95f.; Duchovnyi, Zov vody (wie Anm.30), 184f.

33

Duchovnyi, Zov vody (wie Anm.30), 136f., 176f. Zur neuen Organisation auf regionalem Level: Irriga-

cija Uzbekistana, Vol.1 (wie Anm.25), 207, 299. 34

Hintergrund war ein Streit, der zu dieser Zeit in Usbekistan entbrannt war, und in dem es um die Ge-

wichtung von Chruščevs Agrostadt-Konzept ging; Duchovnyi, Zov vody (wie Anm.30), 251–257.

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Beamten auf verschiedenen Verwaltungsebenen gegeben hatte und die in der sowjetischen Zeit, nicht nur in Zentralasien, fortlebten und unter anderem Parteifunktionäre im Zentrum mit denen an den Peripherien verbanden. 35 Der „Hungersteppler“, der am deutlichsten über seine Klientelverbindungen schreibt, Tuchtamyš Bajmirov, benutzt die Ausdrücke „Berater“ (kurator), „Erzieher“ (nastavnik) und „Schutzengel“ (angel-chranitel‘), um seine Patrone zu bezeichnen. Dabei handelte es sich unter anderen um Miloslav Bureš, Erster Stellvertretender Minister für Wasserwirtschaft Usbekistans, der später zum Assistenten Rašidovs wurde. 36 Bezüglich der Hungersteppe ist zudem festzustellen, dass Patronage in Form einer Vater-Sohn-Beziehung ein gängiges Muster war. Sarkisov war für viele eine väterliche Autoritätsfigur. Typisch war wohl die Aussage eines von ihm Geförderten: „Akop Abramovič [Sarkisov] schätzte die Kader [von Golodnostepstroj] wie seine eigenen Kinder. Er ließ nicht zu, dass ihnen etwas zustieß.“ 37 Das innig-patriarchale Verhältnis Sarkisovs zu seinen Untergebenen, vor allem den deutlich jüngeren, mag vor allem für diejenigen ansprechend gewesen sein, die, wie Duchovnyj, während des Zweiten Weltkrieges ihren Vater verloren hatten oder in anderer Weise durch den Krieg entwurzelt worden waren. Der Parteifunktionär und Kriegsveteran Bronislav Zažitskij unterstrich etwa, dass Sarkisov ihm dabei half, sich wieder ins zivile Leben zu integrieren. Er beschrieb ihn als eine der beiden wichtigsten Personen in seinem Leben neben seinem Vater. 38 Dieses Beispiel des Nachkriegskontexts zeigt, dass die Patronagebeziehungen nicht losgelöst vom jeweiligen zeithistorischen Hintergrund betrachtet werden können.

35 Zu den niederen Beamten im Russland des 19.Jahrhunderts: Susanne Schattenberg, Die korrupte Provinz? Russische Beamte im 19.Jahrhundert. (Campus Historische Studien, 45.) Frankfurt am Main 2008; zum Zarenreich im langen 19.Jahrhundert: Jörg Baberowski, Vertrauen durch Anwesenheit. Vormoderne Herrschaft im späten Zarenreich, in: ders./David Feest/Christoph Gumb (Hrsg.), Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich. (Eigene und fremde Welten, 11.) Frankfurt am Main 2008, 17–37; zur Brežnevzeit: Andreas Oberender, Die Partei der Patrone und Klienten. Formen personaler Herrschaft unter Leonid Brežnev, in: Annette Schuhmann (Hrsg.), Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR. (Zeithistorische Studien, 42.) Köln 2008, 57–76. 36 Tuchtamyš Bajmirov, Byl osobyj duševnyj pod-em, in: Oživšaja legenda (wie Anm.29), 22–38, hier 29– 31. 37 Erkabaj Islamov, Vsesojuznaia laboratorija osvoenija, in: Oživšaja legenda (wie Anm.29), 39–42, hier 40. 38 Zažitskij, Vtoroj front (wie Anm.31), 94–95.

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Auch Rašidov, der usbekische Parteichef, war ein wichtiger Patron und wurde in den Memoiren als „Verteidiger der Erschließung“ (zaščitnik osvoenija) bezeichnet. 39 Er hatte ebenfalls ein patriarchales Verhältnis zu den „Hungerstepplern“. Dies reichte soweit, dass er viele beim Namen kannte und ihnen Ratschläge für ihr Privatleben gab, wie etwa Duchovnyj nach dessen Scheidung 1969, zu der er in einem extra angesetzten Gespräch unter vier Augen offenbar seine Zustimmung gab. 40 Typisch ist dabei, dass die Grenze zwischen Berufs- und Privatleben verschwamm. Gerade die Ratschläge bezüglich Eheschließungen und -scheidungen, aber auch die permanente Verfügbarkeit des Klienten für den Patron verweisen darauf. 41 Die personalen Netzwerke, die auf Patronage-Klientelbeziehungen sowie auf väterlich-erzieherischer Obhut basierten und als deren wichtige Kommunikationsformen informelle (Telefon-)Gespräche und Begegnungen bei offiziellen Besuchen auszumachen sind, verbanden die Hungersteppe mit der Republikhauptstadt Taschkent sowie mit dem politischen Zentrum der Sowjetunion, den höchsten Behörden und Entscheidungsträgern in Moskau. Zum einen beförderten und realisierten sie die Anbindung der Peripherie an das Zentrum im pseudoföderalen System der Sowjetunion. Zum anderen sicherten sie einem groß angelegten Infrastrukturprojekt schnelle Entscheidungswege und Unterstützung von ‚ganz oben‘. Sehr wahrscheinlich war dieser direkte Draht zu den Obrigkeiten ein Privileg der Infrastrukturprojekte ersten Ranges, wie die Hungersteppe es zweifellos war. Damit verfestigte sich die Vorzugsbehandlung und privilegierte Ausstattung dieser ‚Lieblingsprojekte‘ der Machthaber und Propagandisten, die zu Lasten einer flächendeckenden Infrastrukturentwicklung gingen. Die personalen Netzwerke waren auch für das Zustandekommen der Gruppenidentität der „Hungersteppler“ wichtig. Im relativ kleinen Rahmen entwickelte sich hier ein Teil der Großgruppe der sogenannten „Wasserwirtschaftler“ (vodniki), die sowjetunionweit für die großen Bewässerungs- und hydroenergetischen Bauten verantwortlich waren und sich im Laufe der sowjetischen

39

Churanov, Dostojnye syny (wie Anm.29), 90.

40

Duchovnyi, Zov vody (wie Anm.30), 289. Die Wertschätzung für Rašidov, wie sie in den Memoiren aus-

gedrückt wird, hängt eng mit dem Personenkult zusammen, der um diesen langjährigen usbekischen Parteiführer entstanden ist. Bis heute wird er in Usbekistan verehrt. 41

Zu Sarkisov als Ehestifter: Viktor Orlov, Ženit'ba po-golodnostepski, in: Oživšaja legenda (wie Anm.29),

130–136, hier 131. Zu seinen nächtlichen Anrufen: Azimov, Nočnoj zvonok (wie Anm.30), 138; Zažitskij, Vtoroj front (wie Anm.31), 96f.

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Periode zu einer starken Lobby entwickelten, die mit dem Unions-Wasserwirtschaftsministerium ein mächtiges institutionelles Zentrum hatte. 42 Das Beispiel Zentralasiens zeigt, dass Infrastrukturexperten besonders viel Macht im Sinne der Durchsetzung von Zielen erlangen konnten, wenn ihre Organisationen in der Hierarchie der Institutionen hoch angesiedelt waren und wenn sie den politischen Machtträgern nahe kommen konnten. Umgekehrt waren aber auch die Politiker beziehungsweise Funktionäre auf die Experten mit ihrem Fachwissen angewiesen, wollten sie ihre Macht durch erfolgreiche Infrastrukturprojekte befestigen. Insofern waren Aushandlungsprozesse zwischen diesen beiden Gruppen vonnöten. 43 Die Macht der sowjetischen Experten war an der Schnittstelle zwischen offiziellen und inoffiziellen Strukturen konzentriert. Beides wird besonders am Beispiel des Besuches von Chruščev in der Hungersteppe deutlich, bei dem durch Vertreter formaler Organisationen in informeller Weise konkrete Fragen verhandelt wurden.

III. Infrastrukturpoesie Diesen Begriff möchte ich hiermit in die Fachdiskussionen einführen, um sprachliche und diskursive Dimensionen der Infrastrukturgeschichte stärker zu berücksichtigen. „Infrastrukturpoesie“ bezeichnet einen bestimmten Stil in schriftlichen Texten (der sicher leicht auch in Reden nachzuweisen wäre), der sich durch eine bildreiche Sprache auszeichnet und besondere Funktionen in der Vermittlung und Darstellung von (laufenden) Infrastrukturbauvorhaben hat. Es ist eine Art Kitt, der zum einen die Infrastrukturexperten und -verantwortlichen untereinander, zum anderen diese mit der allgemeinen Regimepolitik diskursiv verbindet. Zu finden ist diese „Poesie“ sowohl in Veröffentlichungen, die an ein breiteres Publikum gerichtet sind, als auch in meist von Funktionären, Ingenieuren und Bauverantwortlichen verfassten Fachartikeln in Zeitschriften. Dabei sind selbstverständ-

42 Ulrich Weißenburger, Der Umweltschutz in der Sowjetunion: Zwang zum Handeln, in: Helmut Schreiber (Hrsg.), Umweltprobleme in Mittel- und Osteuropa. Frankfurt am Main 1989, 184–196, hier 192f. Ein weiteres institutionelles Zentrum war die Projektierungsbehörde Gidroprojekt. Dazu: Gestwa, Die Stalinschen Großbauten (wie Anm.3), passim. 43 Vgl. zum Aushandeln von Machtverhältnissen, das durch Infrastrukturen erzwungen wird: Jens Ivo Engels/Gerrit Jasper Schenk, Infrastrukturen der Macht – Macht der Infrastrukturen. Überlegungen zu einem Forschungsfeld (in diesem Heft), 22–57, hier 24.

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lich die jeweiligen Textsorten und Gattungen zu berücksichtigen; sie immer säuberlich nach Publikationsorgan voneinander zu trennen, ist allerdings kaum möglich, da auch in den hier untersuchten Zeitschriften wie etwa „Landwirtschaft Turkmenistans“ (Sel’skoe Chozjajstvo Turkmenistana) die Fachartikel im engeren Sinne ebenso ihren Platz haben wie an ein breiteres Publikum adressierte Reportagen und Porträts sowie Partei- und Regierungsbeschlüsse. Auch innerhalb eines einzigen Textes werden häufig verschiedene Textsorten kombiniert, ohne dass die Übergänge zwischen den verschiedenen Teilen gestaltet wären, so dass der Eindruck eines Flickenteppichs entsteht. So gibt es die Absätze, die nüchtern (technische) Sach- und Fachinformationen vermitteln und von Fachausdrücken und Passivkonstruktionen geprägt sind. Weiterhin finden sich Absätze, die im Stile der in den staatssozialistischen Systemen verbreiteten Mischung aus Propaganda- und Informationsvermittlung eine additive Aufzählung von Errungenschaften vornehmen, die durch den häufigen Gebrauch von Zahlen gekennzeichnet ist. Bezogen auf die Bewässerungsbauten in Zentralasien werden beispielsweise gern die Anzahl der ausgehobenen Kubikmeter Erde angegeben, die Anzahl der errichteten Anlagen im Rahmen eines bestimmten Bewässerungssystems, die Kilometer verlegten Kanalbodens etc. 44 Und drittens – dies ist natürlich eine zu vervollständigende Aufzählung – sind Absätze zu entdecken, die in besonderer Weise mit Tropen und Sprachbildern geschmückt sind, sich damit deutlich von den nüchternen und oft recht hölzernen Informations- und Propagandasequenzen abheben und hier im engeren Sinne als „Poesie“ bezeichnet werden. Ein wichtiges Stilelement ist dabei die Metapher. Metaphern sind bereits verschiedentlich für bestimmte historische Kontexte untersucht worden, besonders prominent und umfassend von Alexander Demandt in seinem Werk zur Geschichtsmetaphorik von der Antike bis ins 20.Jahrhundert, in dem er auch klassische marxistische Schriften berücksichtigt. 45 Neuere Untersuchungen

44

Exemplarisch, in Bezug auf verschiedene Projekte im Rahmen des „Volksbauens“: G. Ja. Dzevenskij, Za-

mečatel'noe narodnoe dviženie, in: Socialističeskoe Sel’skoe Chozjajstvo Uzbekistana, 1939, Nr.11–12, 26– 38, hier 34f. In anderen, allgemeineren Kontexten war gern von einer großen Zahl von Betrieben, Studienplätzen, Klubhäusern etc. als Belege für das Gedeihen von Wirtschaft und Kultur im Sozialismus die Rede. 45

Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politi-

schen Denken. München 1978. Ein weiteres Beispiel sind Reinhart Kosellecks Ausführungen zu organischen Metaphern im Rahmen von: Art.„Staat und Souveränität“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Hrsg. v. Otto

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widmen sich etwa der frühneuzeitlichen Metaphorik in wissenschaftlichen Diskursen oder in der Philosophie. 46 Inzwischen hat sich in Abgrenzung von oder in Bezug auf Aristoteles ein konstruktives Metaphernverständnis durchgesetzt, welches dieses Sprachbild als aussagekräftig für dahinter stehende Denkmuster betrachtet. Demandt bemerkt in diesem Sinne: „Metaphern sind eben nicht nur Sprachbilder, sondern auch Denkbilder.“ 47 Der Gebrauch von Metaphern ist nach dem Germanisten Gerhard Kurz „eine konstruktive Bedeutungserzeugung“. 48 Die Metapher ersetzt demzufolge nicht einfach ein Wort durch ein anderes zum Ziele der Veranschaulichung oder als sprachliches Ornament, denn der ‚eigentliche‘ Ausdruck beziehungsweise das ‚richtige Wort‘ für das, was die Metapher beschreibt, existiert nicht. Zwischen Metapher und sprachlichem Kontext besteht eine semantische Inkongruenz, die einen wechselseitigen Interpretationsprozess nach sich zieht, in dem sich die Deutung der Metapher vollzieht. 49 Wie Demandt und Kurz übereinstimmend feststellen, sind in der politischen Rhetorik und der Geschichtsmetaphorik bestimmte Elementarmetaphern beziehungsweise Metaphernfelder seit der Antike etabliert und werden immer wieder bemüht. Dazu zählt die Organismusmetaphorik mit ihrer Variante der Krankheits-

Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck. Bd. 6. Stuttgart 1990, 1–154, hier Teil III (25–64), besonders 63f. 46 Elena Agazzi (Hrsg.), Tropen und Metaphern im Gelehrtendiskurs des 18.Jahrhunderts. Hamburg 2011; Vanessa Albus, Weltbild und Metapher. Untersuchungen zur Philosophie im 18.Jahrhundert. Würzburg 2001. 47 Demandt, Metaphern (wie Anm.45), 447. 48 Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol. 6.Aufl. Göttingen 2009, 19. Einflussreich für die Entkräftung der Jahrhunderte anhaltenden Metaphernkritik, für die Öffnung der Metaphernanalyse hin zur Alltagssprache sowie für die Betonung der Bedeutung der Metapher für das Denken, die Kognition war George Lakoff/Mark Johnson, Metaphors We Live by. Chicago 1980, dt. Übersetzung: George Lakoff/Mark Johnson, Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. 5.Aufl. Heidelberg 2007. Ein historischer Abriss der Kritik und „Verdächtigung“ der Metapher ist zu finden bei Harald Weinrich, Metapher, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5. Darmstadt 1980, Sp.1179–1186. Katrin Kohl weist darauf hin, dass allerdings auch die „kognitive Dimension“ der Metapher nicht erst im 20.Jahrhundert entdeckt wurde und man frühere Debatten dazu einfach vergessen habe; Katrin Kohl, Die Metapher im wissenschaftlichen Diskurs des 18.Jahrhunderts. Theoretische Ansätze, in: Agazzi (Hrsg.), Tropen und Metaphern (wie Anm.46), 13–24, hier 24. 49 Einfluss auf die Deutung haben zudem die Sprechsituation und der Sprechakt, die auch darüber entscheiden, ob eine Äußerung überhaupt metaphorisch verstanden wird oder nicht; Kurz, Metapher (wie Anm.48), 8f., zum Kontext auch 14, 18.

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und Parasitenbilder. 50 Auch bezüglich der Infrastrukturen spielen organische Metaphern eine besondere Rolle. Im Folgenden werden Beispiele der „Infrastrukturpoesie“ aus den mir zur Verfügung stehenden Quellen chronologisch vorgestellt und eingeordnet. Dabei ist ein Vergleich zwischen der zarischen und der sowjetischen Ära implizit. 1. Erblühen-Metaphorik: tote Steppen und blühende Oasen Schon recht früh wurde im imperialen Turkestandiskurs von russischsprachigen Autoren der Gegensatz zwischen „toten“ (mertvye) Steppen- oder Wüstengebieten und „blühenden Oasen“ (cvetuščie oazisy) aufgemacht, etwa wenn ein zarischer Forscher 1893 schrieb: „Die unüberschaubaren toten Steppen Zentralasiens werden bekanntermaßen von räumlich kleinen, aber blühenden und fruchtbaren Oasen belebt. Der Gesamteindruck der Oberfläche des Landes im Hinblick auf die Kultur kann in wenigen Worten umrissen werden: ungeheure Fruchtbarkeit (strašnoe plodorodie) auf der einen Seite, absolute Unfruchtbarkeit (absoljutnoe bezplodie) auf der anderen.“ 51

Dies ist eine ganz grundlegende Gegenüberstellung, die sehr charakteristisch für die Vorstellungen der zarischen Eroberer – hier verstanden im weiteren Sinne inklusive Beamte, Reisende und Autoren – von der neu erworbenen Kolonie war und die sich bis in die späte sowjetische Zeit und vermutlich darüber hinaus als höchst wirkmächtig erweisen sollte: tote Landschaft versus blühende Oase und damit verbunden Fruchtbarkeit versus Unfruchtbarkeit. Dazu gehört die belebende Wirkung von Wasser: Wo Wasser ist, ist Leben, und wo es fehlt, ist die Gegend „leblos“ und „tot“. Es handelt sich damit um einen radikalen Antagonismus, gewissermaßen einen Gegensatz auf Leben und Tod, der zum Ausgangspunkt der Transformationsbemühungen der neuen Obrigkeiten wird. Der Kontext, in dem diese Äußerungen gemacht werden, ist folgendermaßen zu beschreiben: Die Eroberer beklagen die Eintönigkeit der Landschaft und die Absenz von Bäumen außerhalb der Oasen. 52 Das

50

Ebd., 27ff.; Demandt, Metaphern (wie Anm.45), 436.

51

Nikolaj Dingel'štedt, Opyt izučenija irrigacii Turkestanskago kraja. Syr-Dar'inskaja oblast’. (1.). St. Pe-

tersburg 1893, 3. Als ein weiteres Beispiel: N. Petrov, Ob irrigacii v Turkestanskom krae. Taschkent 1894, 2. 52

Lev Kostenko, Srednjaja Azija i vodvorenie v nei russkoj graždanstvennosti. S kartoju Srednej Azii. St.

Petersburg 1871, 2; Daniel R. Brower, Turkestan and the Fate of the Russian Empire. (Central Asian Studies Series, Vol.2.) London 2003, 42. Vgl. auch: Klaus Gestwa, Der Blick auf Land und Leute. Eine historische To-

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Grün der Bäume und Vegetation wird dagegen sehr positiv bewertet und – über die Vergleichsstufe der Landwirtschaft – mit Kultur gleichgesetzt. Wo Grün ist, ist Kultur, und das nicht nur in landwirtschaftlicher, sondern auch in allgemein-zivilisatorischer Hinsicht. 53 Demandt weist darauf hin, dass generell die Pflanzenmetaphorik bevorzugt dem Bereich der Kultur in der Geschichte galt und „Kultur“ als Begriff selbst im Sinne der Kultivierung ursprünglich eine Metapher war. Gewöhnlich wird mit dieser Metaphorik Hoffnung und das Stiften von Ordnung vermittelt, und zwar über ein Naturbild, „das durch unsere Wünsche geschönt und beschnitten ist.“ 54 Die kultivierende und belebende Wirkung von Wasser im Turkestandiskurs bezieht sich nicht nur auf die Böden, sondern auch auf die jeweilige ganze Region im Allgemeinen und speziell im ökonomischen Sinne. Durch die Neugestaltung der Bewässerungssysteme wird Turkestan, das den Eroberern als rückständig und von der Weltwirtschaft isoliert erscheint, belebt oder auch „aufgeweckt“. Die bisher „brachliegenden“ (pustuiuščie, pustovat‘) Flächen und Böden werden mit Anlagen und Nutzen erfüllt. Die neuen Herren bringen die Moderne mit, die von Dynamik und Aufschwung begleitet ist. Der Region wird zu Produktivität verholfen. 55 Im Folgenden bildete sich im zarischen Diskurs eine charakteristische ErblühenMetaphorik heraus. Dabei zeigt sich der „emotionale Effekt [der Metapher], auf den es doch häufig gerade ankommt“. Er kommt zustande, indem der „emotionale Gehalt der Bildebene auf die Sachebene übertragen [wird]. Blüte und Aufstieg sind immer erfreulich, Welken und Zusammenbruch immer betrüblich.“ 56 Das Blühen der Oasen kommt auch in Bezug auf die Geschichtsvorstellungen der zarischen Eroberer zum Ausdruck. Man ging davon aus, dass die Blütezeit der Kultur und Zivilisation Turkestans vor mehreren Jahrhunderten anzusetzen war, als einige Städte wie Buchara tatsächlich Zentren von Handel, Kultur und Religion von überregionaler Bedeutung waren (9./10. und 16./17.Jahrhundert). Aus Sicht der zarischen Autoren war diese Blüte aber lange vorbei, und ein Prozess des Absterbens war im Gange, wel-

pographie russischer Landschaften im Zeitalter von Absolutismus, Aufklärung und Romantik, in: Historische Zeitschrift 279, 2004, 63–125. 53 Ein weiteres Beispiel: Petrov, Ob irigacii (wie Anm.51), 2. 54 Demandt, Metaphern (wie Anm.45), 113. 55 Exemplarisch für verschiedene Aspekte: N. Severcov, Zametka o našich Sredneaziatskich vladenijach, in: Slovo. Naučnyj, literaturnyj i političeskij žurnal 3, 1880, 96–103. 56 Demandt, Metaphern (wie Anm.45), Zitate 448 und 447.

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chen die zarische Herrschaft nun umkehren sollte. 57 Insofern hatte das Blühen der Oasen nicht nur eine aktuelle, sondern auch eine historische Dimension. Neben der bereits geschilderten Metaphorik des Erblühens der Region durch Bewässerung ist, zumindest in einem Fall, eine weitere organische Metapher zu finden, wenn Wasser als „Blut“ bezeichnet wird, das einen „toten Körper“ wiederbeleben könne. Hier, in einer Notiz zum Delta des Amu-Darja am Aralsee von 1875, zeigt sich auch noch einmal die typische Gegenüberstellung von „toten“ Böden versus Landwirtschaft, Grün und Kultur: „Der Reisende sieht jede Minute verschiedene Anzeichen dieses endlosen Kampfes der Hände des Bauern mit der Natur vor sich: dort gewinnt die eine Seite, – hier gewinnt die andere; – dort hat sich ein ganzes Kanalsystem in den Sand erstreckt, diese Kanäle durchfloss das Wasser, wie frisches Blut, das in die Adern eines sterbenden Körpers injiziert wird, – dieses Wasser hat die Gegend belebt, – der gelbe monotone Grund ist durch das Grün bunt geworden, im Grün haben die Vögel zu zwitschern begonnen, der sterbende Körper ist wieder lebendig geworden (ozhilo).“ 58

Das Bewässerungswasser hat also eine ganze Region zum Leben erweckt. Charakteristisch ist hier auch die Auffassung vom Kampf des Menschen mit der Natur, indem er der Wüste oder Steppe Ackerfläche abtrotzt. 2. Schöpfungsmetaphorik: „Ingenieurskunst“ und Verwandlung Was die einheimische Bevölkerung aus Sicht der russländischen Verwalter nicht leisten konnte, nämlich eine zeitgemäße Modernisierung der Bewässerungsanlagen, sollte nun durch die imperialen Eliten möglich werden, und zwar vor allem in Gestalt des Ingenieurs. Wie in westlichen Ländern stieg der Ingenieur im 19. Jahrhundert zur Leitfigur der technischen Moderne und zum gesellschaftlichen Vorbild auf. Allerdings hinkte das Russische Reich hinter Westeuropa her, und erst seit den 1860er Jahren wurden Ingenieure in größerer Zahl ausgebildet und entstammten nun auch den nicht-adeligen Bevölkerungsschichten. 59 Aber gerade dieses Manko

57

Kostenko, Srednjaja Azija (wie Anm.52), 8f. Häufiger war von einer vage als „Altertum“ (drevnost‘) be-

zeichneten Epoche die Rede. 58

N. Karazin, Amu-Dar’inskaja učenaja ekspedicija. Priroda i tipy Amu-Dar’inskoj del’ty, in: Niva, 1875,

3, 35–39, http://zerrspiegel.orientphil.uni-halle.de/t291.html (Zugriff 12.3.2013). Der „gelbe [...] Grund“ bezieht sich auf die lehmhaltigen charakteristischen Böden der Region. 59

252

Vgl. zum Ingenieur als Leitbild: Dirk van Laak, Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technischer

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konnte an der südöstlichen Peripherie des Reiches, in Turkestan, kompensiert werden, denn hier schien der Ingenieur im Dienste des Imperiums eindeutig die europäische Moderne einführen zu können. Im Bezug auf das Wirken der Ingenieure war häufig von „Ingenieurskunst“ die Rede, was ihre Arbeit veredelte. 60 Alle bisher beleuchteten Aspekte – der Gegensatz zwischen toter Landschaft und blühenden Oasen, die Gleichsetzung von Bewässerung und Kultur, die allgemein sowie ökonomisch belebende Wirkung der Bewässerung sowie die Hervorhebung der Ingenieurstätigkeit – finden Ausdruck in der Rede, die F. F. Tolmačev, Bauleiter des „Romanovkanals“ in der Hungersteppe, zur Kanaleinweihung 1913 hielt: „Heute ist ein Festtag der Kultur, ein Festtag des Ingenieurswissens und der Ingenieurskunst, die diesmal einem Anliegen von ungewöhnlicher, seltener, ich würde sagen magischer Schönheit dienen, dem Anliegen der Belebung der Hungersteppe, dem Anliegen der Verwandlung der toten Wüste in eine blühende Oase der reichsten Kornkammer in allernächster Zukunft.“ 61

Der Ingenieur ist es hier, der die wundersame Verwandlung der öden Landschaft in die fruchtbare Oase vornimmt beziehungsweise vornehmen wird. Damit war die Transformationsvorstellung am Ende der zarischen Periode voll ausgebildet, und sie sollte sich im sowjetischen Kontext erhalten. Während 1913 noch Getreideanbau für die Hungersteppe geplant war, sollten sich die „blühenden Oasen“ in der sowjetischen Folgezeit meist auf Baumwollfelder beziehen. 3. Metaphern gesellschaftlicher Transformation: die zarische Vergangenheit begraben Nach 1917 wurden mehrere der vorgestellten Elemente der zarischen „Infrastrukturpoesie“ übernommen beziehungsweise in den staatssozialistischen, sowjetischen Kontext übersetzt. Symbolisch steht dafür ein Zitat Lenins von 1921, das vor allem wegen der mythologischen Erhöhung von Interesse ist, die es in den folgenden Jahrzehnten im Kosmos der sowjetischen Autoren erfuhr. In praktisch jede Veröffentlichung von Rang und von Interesse für ein breiteres Publikum wurde dieses Zitat aufgenommen und gehörte damit zum festen Kanon der offiziellen Deutung der Bewässerungsprojekte in Zentralasien. Es bezieht sich auf Turkestan und lautet:

Großprojekte im 20.Jahrhundert. Stuttgart 1999, 38–44. Zu den Ingenieuren im Russischen Reich: Alfred J. Rieber, The Rise of Engineers in Russia, in: Cahiers du Monde russe et soviétique 31, 1990, 539–568. 60 Der Ausdruck „Ingenieurskunst“ war und ist auch im deutschsprachigen Raum in Gebrauch. 61 Turkestanskie Vedomosti, 5.10.1913, zitiert nach: Mamedov, Russkie učenye (wie Anm.15), 33.

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„Die Bewässerung ist dringender als alles andere und wird die Region am stärksten umgestalten, sie wiederbeleben (ganz wörtlich: neu gebären, vozrodit), die Vergangenheit begraben und den Übergang zum Sozialismus festigen.“ 62 Damit war die Transformationskraft der Bewässerung gewissermaßen von einer vage als halb-kapitalistisch charakterisierten Moderne im zarischen Kontext auf den Sozialismus als neues Referenzsystem hin umgeleitet. Die Region neu gebären und die Vergangenheit begraben – das sind Metaphern, welche die historische Mission der Bolschewiki kennzeichnen. Die Kommunisten meinten, von einer tabula rasa aus beginnen beziehungsweise das Neue vom Alten chirurgisch sauber trennen zu können. 63 Die für marxistische Schriften charakteristische organische und speziell die Geburtsmetaphorik hat offenbar auch in allgemeineren sowjetischen Publikationen ihren Niederschlag gefunden. 64 Der aus dem vorrevolutionären Turkestandiskurs übernommene Zusammenhang zwischen Bewässerung und genereller kultureller und ökonomischer Transformation, der vor allem in den 1930er Jahren fest etabliert wurde, zeigt sich in einem Ausstellungsführer von 1939. Es handelte sich nicht um eine beliebige Ausstellung, sondern um eine neu geschaffene Dauerausstellung mit hohem Symbolcharakter in Moskau, dem politischen Zentrum der Sowjetunion, die „AllunionsLandwirtschafts-Ausstellung“. Zu den Feierlichkeiten anlässlich von Stalins 60. Geburtstag (1939), mit dem sie dem Stalinkult Auftrieb verlieh, wartete sie mit fast 50 Pavillons auf, die sowohl einer Unionsrepublik als auch einem Thema gewidmet sein konnten. Auch die zentralasiatischen Unionsrepubliken waren jeweils vertreten. 65 Die Führer, die zu jedem Pavillon erschienen und etwa 50 bis 60 Seiten umfassten, stellen ein spezifisches Genre dar, das zwischen Vermittlung von technischökonomischer Sachinformation, blumiger politischer Propaganda und populärer

62

Als Beispiel für die kanonische Verwendung: Irrigacija Uzbekistana, Vol.1 (wie Anm.25), 173.

63

Stefan Plaggenborg, Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrussland zwi-

schen Oktoberrevolution und Stalinismus. (Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 21.) Köln 1996. 64

So erscheinen Gesellschaftsformationen bei Marx und Trotzki als Organismen, und überkommene

Produktionsweisen bei Marx als etwas Absterbendes. Stalin spricht vom ‚Absterben des alten und [...] Heranwachsen des Neuen‘ als ‚Entwicklungsgesetz‘, usw.; Demandt, Metaphern (wie Anm.45), 87–89, Zitate 58. In Marxens Schriften ist die Geburtsmetaphorik häufig anzutreffen, etwa wenn es um die Geburt neuer Gesellschaftssysteme geht, s. ebd.90–93. 65

Vsesojuznaja Sel’skochozjajstvennaja Vystavka. Pod redakciej P.N. Pospelova, A. V. Gricenko i N. V. Ci-

cina. Moskau 1939. Aus der „Allunions-Landwirtschafts-Ausstellung“ wurde später die berühmte „Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft“ (Vystavka Dostiženij Narodnogo Chozjajstva).

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Geschichtsschreibung oszillierte. Im Folgenden werden Zitate aus den Ausstellungsführern zum usbekischen Pavillon vorgestellt. Auch an dieser Stelle war davon die Rede, dass die sowjetische Umgestaltung der Bewässerungssysteme – die sich bis dahin unter anderem infolge des Kollektivierungs- und Terrorchaos tatsächlich in sehr überschaubarem Rahmen hielt – eine Verwandlung bewirkt habe. „Das Wasser hat die toten Steppen belebt, sie in blühende Gärten verwandelt, in wunderbare Baumwollfelder, die eine hohe und beständige Baumwollernte hervorbringen.“ 66 Während in der oben zitierten Festrede von 1913 das Erblühen noch für die Zukunft versprochen wurde, wird es hier als bereits realisiert dargestellt. Hier ist zudem die Verbindung von Belebung und Erblühen durch Bewässerung mit der Baumwolle zu beachten, denn die Bolschewiki hatten ja ihre Landwirtschaftspolitik in Usbekistan und Turkmenistan weitgehend der Baumwollförderung verschrieben. Das kurze Zitat zeigt zudem, wie die „Infrastrukturpoesie“ die Verbindung zwischen zivilisatorischer Entwicklung (jetzt im Rahmen des viel zitierten Aufbaus des Sozialismus) und konkreten ökonomischen Belangen schafft. Daneben werden im Ausstellungsführer Metaphern verwendet, die aus dem semantischen Feld wertvoller Materialien stammen und damit Überfluss suggerieren. 67 Bei der Beschreibung eines Exponats, einer großen, als Holzrelief aufwändig gestalteten Karte der Usbekischen Republik, werden die Bewässerungsflächen als „überfließende Perlen“ (perelivajuščiesja žemčužiny) bezeichnet, die für die Produktion des „weißen Goldes“ (beloe zoloto), der Baumwolle, genutzt würden. 68 Während die erste Metapher recht ungewöhnlich war, hatte sich das „weiße Gold“ als fester Bestandteil sowjetischer Texte etabliert und stellte eine konventionalisierte Metapher dar. 69 In einem weiteren Zitat aus dem gleichen Ausstellungsführer wird ein anderes semantisches Feld sichtbar, das durch Wasser, Gärten, Reichtum und Produktivität be-

66 Pavil’on „Uzbekskaja SSR“. Putevoditel’. (Vsesojuznaja Sel’skochozjajstvennaja Vystavka.) Moskau 1939, 34. 67 Vgl. zur Präsentation von Überfluss auf der Ausstellung, die realen Überfluss in der Landwirtschaft hervorbringen sollte: Evgeny Dobrenko, The Soviet Spectacle. The All-Union Agricultural Exhibition, in: Valerie A. Kivelson/Joan Neuberger (Eds.), Picturing Russia. Explorations in Visual Culture. New Haven, Conn. 2008, 189–195, besonders 189. 68 Pavil’on „Uzbekskaja SSR“ (wie Anm.66), 12. 69 Zur konventionalisierten, lexikalisierten sowie kreativen Metapher vergleiche einführend: Kurz, Metapher (wie Anm.48), 19f.

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stimmt ist. Es bezieht sich wiederum auf ein Exponat, ein Panoramabild mit dem Titel „Das blühende Ferghanatal“. Das Bild vermittelt „ein malerisches Panorama eines schneeweißen Ozeans aus Baumwollfeldern, durchzogen von Kanälen reich an Wasser. In Gärten ertrinkend schauen hier und dort die wundervollen Häuser der Kolchosbauern im europäischen Stil hervor. Die Arbeit auf den Feldern ist in vollem Gange, die Baumwollernte geht voran.“ 70 Hier ist wieder, diesmal im sowjetischen Kontext, der Zusammenhang zwischen Bewässerung und Produktivität hergestellt. Der „europäische Stil“ der Häuser in der Kolchose erscheint als Teil eines kolonialen Diskurses, der „europäisch“ als Ausweis der zivilisatorischen Überlegenheit der Vertreter des Zentrums gegenüber „einheimisch“ ins Feld führte. Noch in den 1930er Jahren war dies in Schriften zu Zentralasien üblich. 4. „Nationale“ Rahmungen und blühende Landschaften In der Nachkriegszeit erhielten sich zentrale Elemente der Metaphorik vom Erblühen und Beleben der Region. Allerdings änderten sich nun zum Teil die Rahmungen, die nicht mehr nur „sowjetisch“ und „sozialistisch“, sondern zuweilen auch „national“ sein konnten. Dies zeigt das Beispiel des Karakumkanals, dessen Bau 1954 begann. Der Kanal war ein gigantisches Projekt: Hunderte Kilometer durch die Sandwüste sollte er verlaufen, um zum einen die turkmenische Hauptstadt Aşgabat mit zusätzlichem Wasser aus dem Amu-Darja zu versorgen und zum anderen an seinen Ufern neue Bewässerungsflächen entstehen zu lassen. Aufschlussreich bezüglich der „Infrastrukturpoesie“ sind zwei stilistisch unterschiedliche Aufsätze des Stellvertretenden Ministers für Wasserwirtschaft der Turkmenischen Republik, L. M. Grinberg, von 1958 zum Karakumkanal. Grinbergs Artikel zeigen, dass die Absätze mit „Infrastrukturpoesie“ in Texten eingestreut sein konnten, sich aber auch nicht selten am Anfang oder Ende fanden. Damit entsteht eine Parallele zu Absätzen, die auf die führende Rolle der Kommunistischen Partei Bezug nehmen, auf die wegweisenden Beschlüsse der Parteitage oder die historische Entwicklung im Allgemeinen und die häufig zu Beginn oder am Schluss von Texten stehen. Grinbergs Ausführungen wechseln zwischen sachlich-ökonomisch-technischer Beschreibung und poeti-

70

Pavil’on „Uzbekskaja SSR“ (wie Anm.66), 10. Das Bild des Exponats ist im Ausstellungsführer leider

nicht abgebildet. Generell wäre für die hier untersuchten Zusammenhänge neben der Analyse von Texten auch eine von Bildern und von Text-Bild-Verhältnissen von Nutzen.

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schen Absätzen, in denen er die historische Bedeutung des Projektes hervorhebt, bei dem erstmals „in der weltweiten hydrotechnischen Praxis“ Wasser „durch eine tote Sandwüste“ umgeleitet werde. 71 Während der erste seiner beiden in „Landwirtschaft Turkmenistans“ erschienenen Aufsätze vorrangig der Informationsvermittlung galt, stand der zweite, einige Monate später publizierte, ganz im Zeichen des Jubels über die Errungenschaften anlässlich des Jahrestages der Oktoberrevolution. Hier tritt ein Motiv deutlich hervor, das auch im ersten Aufsatz Grinbergs sowie in anderen ähnlichen Publikationen zu finden ist: Die Errungenschaften werden nicht nur den „sowjetischen Menschen“ zugeschrieben, sondern auch und insbesondere auf das „sowjetische Turkmenistan“ bezogen, also für die Unionsrepublik und im quasi-nationalen Sinne verbucht: „Dies ist ein denkwürdiges, frohes Ereignis im Leben des sowjetischen Turkmenistan. Ungeachtet der gewaltigen Schwierigkeiten mit der Arbeit in der glühend heißen Wüste und der fehlenden Erfahrung durchzog die heroische Arbeit der sowjetischen Menschen die uralte Karakumwüste mit dem silbernen Band eines Kanals und erfüllte die jahrhundertealten Hoffnungen des turkmenischen Volkes von der Vereinigung der Wasser des Amu-Darja und des Murgab, um die neuen fruchtbaren Böden mit der kostbaren Feuchte zu tränken.“ 72

Wie auch in vorigen Beispielen schafft die Poesie hier die Verbindung zwischen Infrastrukturausbau und historischer Entwicklung. Als Handelnde beziehungsweise Schaffende erscheinen typischerweise nicht (mehr) nur die Ingenieure, sondern die „sowjetischen Menschen“ und das „turkmenische Volk“. 73 Dabei wird über die „jahrhundertelangen Träume des turkmenischen Volkes“ das sowjetische Projekt in eine allgemeine Menschheitsgeschichte eingeschrieben, in der die Turkmenen wie selbstverständlich ihren Platz haben, obwohl doch die kommunistische Ideologie ursprünglich supranational war und obwohl die Turkmenen als Volk erst im Zuge des sowjetischen nation building kreiert werden mussten. Charakteristisch für die aus 71 L. M. Grinberg, Kara-Kumskij Kanal, in: Sel’skoe Chozjajstvo Turkmenistana [im Folgenden SChT] 1958, Nr.1, 39–51, hier 39. 72 L. M. Grinberg, Sbyvaetsja vekovečnaja mečta turkmenskogo naroda, in: SChT 1958, Nr.5, 6f., hier: 6. Als poetische Substantive und Wortverbindungen, die üblicherweise nicht in den Texten zum Infrastrukturausbau zu finden waren, sind „silbernes Band“ (serebrennaja lenta) sowie und vor allem „Feuchte“ (vlaga) hervorzuheben. Letzteres wurde in diesem sowie weiteren Texten häufiger verwendet. 73 Es ist auch von „erfahrenen Ingenieuren, Technikern und Mechanikern“ die Rede sowie an anderer Stelle vom „sowjetischen Volk“, s. ebd.6f.

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ideologischen Widersprüchen lebende sowjetische Nationalitätenpolitik war die Konzentration auf die Titularnationen der Unionsrepubliken, die hier ebenfalls zum Ausdruck kommt. Die nationale Rahmung der Infrastrukturträume ist wohl nicht als Ausdruck eines besonders starken turkmenischen Nationaldiskurses in sowjetischer Zeit überzubewerten. Allerdings verweist die Inanspruchnahme des Großprojektes für die Republik bereits auf bestehende Rivalitäten zwischen den Sowjetrepubliken, die nach 1991 zu bis heute kaum gelösten offenen Konflikten um die Nutzung der Wasserressourcen in der Region führten. 74 Angesichts dessen, dass der Karakumkanal ein besonders großes und gewagtes Bauprojekt war und die Ressourcen Turkmenistans im Bereich der Wasserwirtschaft auf sich konzentrierte, ist es nicht verwunderlich, dass viel Poesie zu seiner Würdigung gedichtet wurde. Der Leiter des Bautrusts „Karakumbau“ (Karakumstroj), B. Annanijazov, verwendete in einem dreiseitigen Artikel vom Dezember 1972 besonders viele große, lobpreisende Worte. Auch er sprach von den sowjetischen Menschen, die den Kanal errichtet hätten und dem turkmenischen Volk, welches das Wasser so lange erwartet habe. „Und nun ist der jahrhundertealte Traum wahr geworden, das große Wasser ist auf die unüberschaubaren Weiten des fruchtbaren Neulands getroffen.“ 75 Der Ausdruck „großes Wasser“ (bol’šaja voda) war etabliert und wurde zum Beispiel noch 1981 von einem Ingenieur des turkmenischen Wasserwirtschaftsministeriums benutzt, um die Bewässerungssysteme in den historischen Kontext des Sieges des Sozialismus einzuordnen. 76 Das Zitat vermittelt die Magie des Moments, in dem das Wasser auf das „fruchtbare Neuland“ trifft – eine Magie, die sich bereits in Schriften aus dem Zarenreich finden lässt. Dieser Moment kann als Empfängnis gedeutet werden, eine Empfängnis, der die Geburt des Neuen folgt. Dabei ist zu beachten, dass das russische Wort für „Neuland“, celina, ein weibliches Substantiv ist, das mit dem Wort für „unversehrt“ oder „ganz“ zusammenhängt (celyj). Die Wasserbauer nehmen, folgt man dieser Interpretation, die Rolle der Befruchtenden ein. Das Wasser als Lebensspender findet sich auch in dem Ausdruck „Fluss des Lebens“ (reka

74

Ernst Giese/Jenniver Sehring, Konflikte ums Wasser. Nutzungskonkurrenz in Zentralasien, in: Macht-

mosaik Zentralasien. Traditionen, Restriktionen, Aspirationen. [= Osteuropa 57, No.9] 2007, 483–496. 75

B. Annanijazov, Simvol družby sovetskogo naroda, in: SChT 1972, Nr.12, S.20–22, hier 20.

76

A. Ovezov, Umen’šit‘ potery polivnoj vody, in: SChT 1981, Nr.6, S.20f., hier 20. Möglicherweise handelt

es sich bei dem Begriff „großes Wasser“ um eine Übersetzung aus dem Turkmenischen.

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žizni), den laut Annanijazov die Bevölkerung „liebevoll“ (ljubovno) für den Kanal verwendet. Annanijazovs Artikel endet mit einigen weiteren poetischen Absätzen. Wenn auch nicht so weitreichend wie im eingangs zitierten Pravda-Artikel von 1950 auf ein ganzes „Land“ und „die Natur“ bezogen, so erfasst hier die Oasen- und Erblühenmetapher doch die Zivilisation, so dass eine blühende Landschaft entsteht: „Wenn man heute nachts über die Karakumwüste fliegt, sieht man eine Vielzahl leuchtender Glasperlenfäden, die sich in verschiedene Richtungen bewegen. Das sind die LKW-Kolonnen, die Baumwolle, Gemüse, Wolle, Baumaterialien und Industriewaren transportieren. Der ‚schwarze Sand‘ [Karakum, turksprachig] erscheint aus der Höhe des Nachts wie ein umgedrehter Himmel – so viele Siedlungen sind hier während der Jahre der Sowjetmacht geboren. Und jede Siedlung ist eine Oase. Tagsüber sieht man sie im Grün der Gärten und Felder, mit ihren wunderbaren Bauten: den Schulen, Klubs, Kulturpalästen, Krankenhäusern, Parks und Stadien. Der Sowjetmensch hat die Karakumwüste rund ums Jahr zum Blühen gebracht.“ 77

5. Kritische Umkehrung der Metaphern und die „vodniki“ in der Defensive Wie hängen nun die „Poesie“ und die „Kader“ zusammen? Als Zwischenfazit ist festzuhalten, dass die Infrastrukturpoesie im Bereich der Bewässerung und des Baumwollanbaus in Zentralasien ein fest etabliertes Genre war, das sich über die Zäsur von 1917 hinweg aus dem imperialen und kolonialen Kontext der zarischen Herrschaft entwickelt hatte und von verschiedenen Autorengruppen (Funktionäre, Ingenieure, Bauleiter) genutzt wurde. Sie kann als Teil des Transformationsdiskurses verstanden werden, welcher die Herrschaft in und über das russisch-sowjetische Zentralasien legitimierte. In der sowjetischen Nachkriegszeit waren die Autoren der lose umrissenen Gruppe der „Wasserwirtschaftler“ (vodniki) zuzurechnen – so eine umgangssprachliche Bezeichnung –, die für den staatlichen Ausbau der Bewässerungssysteme und für große Infrastrukturbauten zuständig und verantwortlich waren. Dass sie von außen mit dieser Poesie assoziiert wurden, zeigte sich spätestens in den 1980er Jahren während der Perestrojka, als ihre Taten und ihre Rhetorik unter Beschuss kamen. Hintergrund waren vielerorts steigende Grundwasserpegel, das um sich greifende Problem der Versalzung von Böden und Gewässern sowie eine

77 Annanijazov, Simvol družby (wie Anm.75), 22.

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sich seit Mitte der 1970er Jahre zuspitzende Wasserknappheit bei gleichzeitiger Entstehung von Abwasserseen und -sümpfen. All dies war durch die rasche Ausweitung der Bewässerungssysteme bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Drainage sowie durch den Bau von Staudämmen hervorgerufen worden. Die beginnende Verlandung des Aralsees, die heute beinahe abgeschlossen ist, war eine der spektakulären, Mitte der 1970er Jahre aber noch weitgehend tabuisierten Folgen dieser Infrastrukturpolitik. 78 Mit Vorläufern seit den späten 1950er Jahren und besonders seit den 1970er Jahren im Zusammenhang mit aufkommenden Umweltdiskursen wurden in Usbekistan während der Perestrojka nicht nur die massive Wasserverschwendung kritisiert, sondern auch das Regime Brežnevs und des usbekischen Parteiführers der Brežnevjahre, Rašidovs. 1983 hatte es, kurz nach dem Tod Rašidovs, eine große Antikorruptions- und Repressionskampagne in Usbekistan und weiteren Republiken gegeben, nachdem im sogenannten „Baumwollskandal“ Korruption und Manipulationen rund um die Baumwollwirtschaft sowie in anderen Wirtschaftszweigen angeprangert worden waren. 79 Mit den vodniki ging während der Perestrojka eine Journalistin und Publizistin namens Irina Al’iabeva besonders hart ins Gericht, die in der Zeitschrift „Stern des Ostens“ (Zvezda Vostoka) publizierte. Die in den letzten Jahrzehnten von der Wasserwirtschaftsfraktion häufig bemühten Metaphern verkehrte sie ins Negative, als sie schrieb: „Usbekistan. Gewärmt von der großzügigen Sonne und gefesselt vom Schüttelfrost der Korruption. Das Heimatland der blühenden Gärten und der sterbenden Böden, der natürlichen Wüsten und der von Menschen gemachten Sümpfe.“ 80

Nicht nur Rašidov, der die großen Bewässerungsbauprojekte immer unterstützt hatte, wurde posthum zur Zielscheibe der Kritik, sondern auch noch lebende vodniki, darunter diejenigen, welche die Hungersteppe „erobert“ hatten wie Duchovnyj. Sie mussten sich nun unbequeme Fragen stellen lassen über die wirtschaft-

78

Früh haben auf diesen Komplex von Umweltproblemen hingewiesen: René Létolle/Monique Mainguet,

Der Aralsee. Eine ökologische Katastrophe. Übersetzt v. Matthias Reichmuth. Berlin 1996; Original: Aral. Paris 1993. 79

James Critchlow, Nationalism in Uzbekistan. A Soviet Republic’s Road to Sovereignty. Boulder, Col.

1991, 39–54. 80

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I. Aljab’eva, Bez prava na ošibku, in: Zvezda Vostoka 1989, Nr.12, S.8–22, hier 11.

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lichen, ökologischen und sozialen Kosten ihrer Großprojekte und gerieten in die Defensive. Unionsweit kam auch das institutionelle Zentrum der vodniki, das Wasserwirtschaftsministerium (bekannt als Minvodchoz), in die Kritik, dem Verschwendung von Geldern und eine unverantwortliche, nur auf schnelle Erfolge ausgerichtete Erschließungs- und Baupolitik vorgeworfen wurden. Das mächtige Ministerium wurde auf der Unionsebene 1990 aufgelöst, blieb allerdings in Usbekistan bestehen. 81 Hier waren die politischen Folgen der Perestrojkadiskussionen begrenzt: Bereits im Juni 1989 kam mit Islam Karimov ein Vertreter der kommunistischen Kader an die Macht, der die gesellschaftliche Debatte einschränkte, nichtstaatliche politische Gruppen in ihrer Tätigkeit unterdrückte und den Wechsel zu einer autoritären, auf ihn als Präsidenten zugeschnittenen Staatsform des unabhängigen Usbekistan einleitete. Im Zuge der Politik Karimovs wurde auch Rašidov rehabilitiert. 82 Die „Hungersteppler“ in Usbekistan haben seit Anfang der 1990er Jahre allen Grund, die Sowjetunion zu vermissen, denn ohne die Unterstützung Moskaus musste die Bewässerungspolitik sich in viel bescheidenerem Rahmen weiterentwickeln. An ihren Memoiren, die nach dem Jahr 2000 erschienen, wird deutlich, wie sehr sie sich auch nach dem Zerfall des Imperiums mit der in der sowjetischen Zeit propagierten Eroberermentalität und dem Transformationsmythos identifizierten. Die unkritische Identifikation damit drückt zum Beispiel Bronislav Zažickij aus, wenn er in Bezug auf die 1950er Jahre schreibt: „Für uns, die Hungersteppler, wurde die Losung ‚Lasst uns die Hungersteppe in einen blühenden Garten verwandeln‘ zu einem Befehl zum Handeln und zu unserem Leitstern.“ 83 So überlebten die „blühenden

81 Weißenburger, Der Umweltschutz (wie Anm.42), 192f.; Bo Libert, The Environmental Heritage of Soviet Agriculture. Wallingford 1995, 49. Zu Duchovnyj und den vodniki in der Defensive exemplarisch: Grigorij Rezničenko, Aral’skaja katastrofa. Dnevnik ekspedicii (s otstuplenijami i kommentarijami). Moskau 1992, 15. 82 William Fierman, Political Development in Uzbekistan: Democratization?, in: Karen Dawisha (Ed.), Conflict, Cleavage, and Change in Central Asia and the Caucasus. (Democratization and Authoritarianism in Postcommunist Societies, Vol.4.) Cambridge 1997, 360–408, hier 368f., 375f.; Henry E. Hale, The Foundations of Ethnic Politics. Separatism of States and Nations in Eurasia and the World. Cambridge 2008, 167; Adeeb Khalid, Islam after Communism. Religion and Politics in Central Asia. Berkeley 2007, 154. Zu vergleichbaren Prozessen in Turkmenistan: Michael Ochs, Turkmenistan: the Quest for Stability and Control, in: Dawisha (Ed.), Conflict (wie Anm.82), 312–359. 83 Zažitskij, Vtoroj front (wie Anm.31), 94.

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Gärten“ auch die sowjetische Zeit, und das vermutlich nicht nur in den Memoiren der vodniki. 84

IV. Fazit Die Oasen- und Gartenmetaphorik liegt in einer Region, die von Oasenwirtschaft geprägt ist, selbstverständlich nahe, und die hier vorgestellte „Infrastrukturpoesie“ ging von der halb geographischen Beschreibung des Gegensatzes zwischen Oasen und Wüsten- beziehungsweise Steppengebieten in Turkestan aus. Hinzu kommt, viel universaler und schwerer zu fassen, ein kultureller Hintergrund: Das Erblühen der toten Wüste oder Steppe lässt sich als Wunschbild in religiösen Überlieferungen finden und war somit als vorgegebenes Motiv präsent und leicht aufzurufen. 85 Im Kontext des zarischen Turkestandiskurses und später von sowjetischen Autoren wurden neu erschlossene Bewässerungsflächen und Baumwollfelder als Oasen und Gärten bezeichnet, und zwar in einer zunehmend metaphorischen Bedeutung. Zugleich aber konnte das Bild auch zu blühenden Landschaften erweitert werden, etwa wenn vom „blühenden Ferganatal“ die Rede war oder in dem oben zitierten Text von Annanijazov bezüglich der Karakumwüste. Bekanntermaßen wurden Bilder von blühenden Landschaften auch in anderen Zusammenhängen benutzt, wie von Helmut Kohl in einer Fernsehansprache vom Juli 1990 bezüglich seiner Vorstellungen für die Transformation der DDR. 86 Vermutlich sind sie kulturell übergreifend etabliert – in der „Infrastrukturpoesie“ wie in der politischen Rhetorik allgemein. Demandt merkt dazu an, dass der metaphorische, emotional positiv konnotierte Gehalt von „blühen“ in verschiedenen europäischen Sprachen derselbe ist, er also nicht mit dem jeweiligen Wort, sondern mit der Vorstellung verbunden ist. 87 Auch die Be84

Eine Analyse postsowjetischer usbekisch- und russischsprachiger Publikationen zu vergangenen und

neuen Bewässerungsbauprojekten wäre in diesem Zusammenhang interessant. 85

Als nur ein kleiner Hinweis siehe die Bibelstelle Jesaja 35, 1–7. Für den Verweis auf diese Stelle danke

ich Birte Förster. Weiter in Betracht zu ziehen wären hier Bilder vom Erblühen der Wüste nicht nur aus christlich-jüdischer, sondern auch aus islamischer Tradition. Zudem wären bei intensiverer Betrachtung die literarischen, poetischen Überlieferungen der zentralasiatischen Ethnien zu berücksichtigen. 86

Die Rede galt der Einführung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der DDR und

der Bundesrepublik. Ihr Text ist zu finden auf: http://helmut-kohl.kas.de/index.php?msg=555 (Zugriff 16.3.2013). 87

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Demandt, Metaphern (wie Anm.45), 444.

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lebung von Wüsten- und Steppenregionen durch Wasser als zivilisatorisches Anliegen ist sicher keine russisch-sowjetisch-zentralasiatische Spezialität. Zugleich lässt es sich aber im hier vorgestellten Fall als koloniales Motiv verstehen, indem die Bewässerungsbauten von der Zentralmacht bereitgestellt werden, um eine rückständige Region zu modernisieren und zu zivilisieren. Die „Infrastrukturpoesie“ hatte eine wichtige Funktion für die Legitimierung der Bauprojekte und der gewaltigen dafür getätigten Investitionen, denn sie stellte zwischen technischen Details und konkreten Baumaßnahmen auf der einen Seite und zivilisatorischem Projekt und allgemeinem Wohlstand auf der anderen eine Verbindung her. Dieses Phänomen lässt sich sicher auch in anderen Kontexten als dem sowjetischen beobachten. Vermutlich ist für den sowjetischen Fall besonders, dass die Infrastrukturpoesie direkt an das viel besungene Transformationspotential des Kommunismus und des ‚sowjetischen Menschen‘ anschließen konnte. Die Verfasser machten mit den poetischen Absätzen ihre Texte attraktiver für breitere Leserschichten und konnten durch sie den Bezug zum Gemeinwohl herstellen. Die üppigen blühenden Landschaften erschienen in zarischer Zeit noch als Zukunftsvision, in sowjetischer häufig schon als Beschreibung des vermeintlichen Ist-Zustandes. Ob der Ingenieurskunst oder dem Schaffen der sowjetischen Menschen zugeschrieben, die Bauten und Investitionen wurden durch die Poesie in direkten Zusammenhang mit der zivilisatorischen Entwicklung gebracht und mit Fruchtbarkeit beziehungsweise Produktivität. Damit wurden sie über die Diskussionswürdigkeit konkreter Maßnahmen erhoben. Infrastrukturpoesie konnte also legitimieren, Zusammenhänge herstellen und auch, wie für die „Hungersteppler“, Aufruf zum Handeln sein. 88 Für die sowjetischen Wasserwirtschaftskader war die Verwendung der „Infrastrukturpoesie“ eine Möglichkeit, sich in die Erbauer-Gemeinschaft einzuschreiben: Durch die Rede von der Transformation der toten Wüsten und von blühenden Oasen und Gärten verwob man die eigenen Taten mit der sowjetisch-zivilisatorischen Erfolgsgeschichte, deren diskursive Grundlagen in den 1930er Jahren festgelegt wurden. So luden die vodniki ihre Ausführungen mit historisch-politischer Bedeutung auf und erhöhten dadurch ihren eigenen Status – eine natürlich nicht spezifisch sowjetische Strategie. Es ist vor dem Hintergrund der in der Literatur häufigen

88 Vgl. ebd.447f.

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Betonung ethnischer Differenz und Konflikte in der Sowjetunion bemerkenswert, dass die ethnische Zugehörigkeit der Verfasser der hier untersuchten Beiträge nicht ausschlaggebend gewesen zu sein scheint – „Infrastrukturpoesie“ wurde gleichermaßen von aus der Region stammenden wie von außerhalb stammenden Autoren gebraucht. Es könnte allerdings sein, dass gerade die Vertreter der indigenen Ethnien die Poesie als Strategie des Sich-Einschreibens gern nutzten. Auch abgesehen von der ethnisch-nationalen Frage kann aber die Verwendung der Infrastrukturpoesie als Ausweis der Zugehörigkeit für die vodniki gelten. Festzuhalten ist also auch, dass sowohl durch die Poesie als auch durch die Infrastruktur-Erbauer eine integrative Wirkung von Infrastrukturen zustande kam, und zwar in Hinsicht auf das Imperium, dessen Peripherien durch die beschriebenen Sprachbilder, Diskurse und Identitäten eingegliedert wurden, als auch in sozialer Hinsicht, wenn Entwurzelte und Vertreter nationaler Minderheiten Aufstiegschancen hatten. 89 Wie auch im Allgemeinen, so ist im sowjetischen Fall der Zusammenhang zwischen Infrastrukturausbau und Macht ambivalent: Einerseits befestigten Infrastrukturprojekte Machtverhältnisse, indem sie die Modernisierungstätigkeit der Regierenden demonstrierten und Fortschrittlichkeit materiell werden ließen. Die Mitwirkung an ihnen beförderte den Aufstieg in Machtpositionen, vor allem wenn es sich um viel beworbene, kostenintensive Prestigeprojekte handelte. Die Organisationen, die zur Durchführung von größeren Infrastrukturprojekten entstanden, konnten, wie am Beispiel des Trustes „Hungersteppebau“ (Golodnostepstroj) gezeigt, zu Knoten in Netzwerken der Macht werden, und die Verantwortlichen vor Ort waren durch Klientelbeziehungen mit den übergeordneten politischen Zentren der Macht verbunden. Andererseits aber konnten Infrastrukturmaßnahmen, wenn sie scheiterten oder zu scheitern drohten, bestehende Machtverhältnisse auch herausfordern, wie im Falle der massiven Kritik der 1980er Jahre an der Erschließung der Hungersteppe und am politischen Wirken des usbekischen Parteichefs Rašidov. Nun waren die Grenzen der Machtausübung erreicht, und hieran zeigt sich einmal mehr, dass Infrastrukturen und Macht gemeinsam aufsteigen, aber auch gemeinsam in die Krise kommen können. 90 Die „Infrastrukturpoesie“ erwies sich als wunder Punkt, als der Nutzen der realisierten Infrastrukturprojekte offensichtlich von

89

Vgl. Engels/Schenk, Infrastrukturen (wie Anm. 43), 30 f.

90

Zu ihrem Verständnis von Koevolution und zum Scheitern infrastruktureller Großprojekte, das an

die „Grenzen einschlägiger Machtausübung“ führt, vgl. ebd. 53.

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deren Kosten und durch sie hervorgerufene Schäden überwogen wurde. Wie den vodniki in Usbekistan, so erging es Altbundeskanzler Helmut Kohl, der seine „blühenden Landschaften“ in den neuen Bundesländern als Satiremotiv gegen sich und die Regierungspolitik gewendet sah. 91 Die vodniki und die „Hungersteppler“ sind hier als spezifische Gruppen von Akteuren mit eigener politischer Lobby und Identität vorgestellt worden. In der bisher geleisteten historischen Forschung zu Infrastrukturen sind menschliche Akteure häufig zu wenig oder zu einseitig beleuchtet worden, etwa wenn sie im Vergleich zu Organisationen und Sozialstrukturen blass bleiben oder wenn die Ideen einzelner Ingenieure in den Vordergrund gestellt werden, womit man sich in gefährliche Nähe der von großen Männern gemachten Technikgeschichte älterer Provenienz begeben kann. Es gilt, die handelnden Personen verstärkt auch unter sozial-, kulturund politikgeschichtlichen Fragestellungen in den Blick zu nehmen, soweit das möglich ist, und nach ihren Biographien vor zeitgenössischem Hintergrund sowie ihren institutionellen und personalen Bindungen zu fragen. Patronagebeziehungen und personale Netzwerke sollten mehr Beachtung finden, um das tatsächliche Funktionieren von Infrastrukturprojekten und die mit ihnen verbundenen Machtstrukturen weiter zu ergründen.

91 Siehe den Wikipedia-Artikel „Blühende Landschaften“ (16.3.2013) sowie die satirischen Beiträge in: Peter Richter, Blühende Landschaften. Eine Heimatkunde. München 2004.

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„Whose Power?“ Energie und Entwicklung in der Spätkolonialzeit am Beispiel des KaribaStaudamms in der Zentralafrikanischen Föderation von Julia Tischler

I. Einleitung In einer feierlichen Zeremonie eröffnete die Queen Mother im Mai 1960 eine der größten Talsperren des britischen Empires. Der Kariba-Staudamm am SambesiFluss zwischen dem damaligen Nord- und Südrhodesien würde Zentralafrika mit 700, später sogar 1320 Megawatt versorgen und ist nach wie vor ein unverzichtbarer Energielieferant in der Region. Wer die Staumauer, heute ein Grenzposten zwischen Sambia und Simbabwe, besichtigt und den Blick über den riesigen Stausee sowie die umliegenden Gebiete schweifen lässt, bekommt schnell einen Eindruck vom engen Zusammenhang zwischen Infrastrukturen und Machtbeziehungen. Während Hochspannungsmasten die produzierte Energie in die fernen Industriezentren tragen, sind die meisten Menschen in den nahegelegenen, größtenteils verarmten Dörfern noch nie in den Genuss einer Stromversorgung gekommen. Tote Äste, die an den Rändern des über 5000 Quadratkilometer großen Reservoirs herausragen, erinnern daran, dass die Wassermassen ganze Lebenswelten unter sich begruben. So sehr das Kariba-Projekt für seine technischen Errungenschaften gefeiert wurde, so berüchtigt ist es für die chaotische Zwangsumsiedlung von 57000 Gwembe TongaKleinbauern aus dem Flusstal. 1 Dermaßen eindeutig waren die Rollen der Gewinner und Verlierer in den 1950er Jahren jedoch nicht verteilt. Denn ein solches Großprojekt ist – wie in den programmatischen Ausführungen von Jens Ivo Engels und Gerrit Jasper Schenk erläutert –

1 Alle Zahlen in diesem Abschnitt sind entnommen aus: Soils Inc. and Chalo Environmental and Sustainable Development Consultants, WCD Case Study. Kariba Dam. Input to the World Commission on Dams. Cape Town 2000, 10. Im Folgenden beziehe ich mich auf die Ergebnisse meiner Dissertation, veröffentlicht als Julia Tischler, Light and Power for a Multiracial Nation. The Kariba Dam Scheme in the Central African Federation. Basingstoke/New York 2013. Ich danke Birte Förster für ihre umsichtige und hilfreiche Bearbeitung des vorliegenden Beitrags.

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DOI

10.1515/9783486781052.266

stets das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen einer Vielzahl von Akteuren. Im Folgenden werden diese Prozesse auf verschiedenen Ebenen, von der obersten Planungsstufe bis zur lokalen Umsetzung, nachgezeichnet. Macht begegnet uns hier als repressive, aber auch als produktive Kraft und bezieht sich auf Politik, das soziale Gefüge sowie die Durchsetzung bestimmter Deutungsmuster von ‚Entwicklung‘. Der Kariba-Staudamm war untrennbar mit einem vielbeachteten Staatsbildungsexperiment verbunden: Die 1953 ins Leben gerufene Zentralafrikanische Föderation 2, bestehend aus der semi-autonomen Siedlerkolonie Südrhodesien sowie den britischen Protektoraten Nordrhodesien und Njassaland, wurde als ‚dritter Weg‘ zwischen weißen und schwarzen 3 Unabhängigkeitsbestrebungen deklariert, war jedoch hochumstritten und sollte nur zehn Jahre nach ihrer Gründung wieder zerbrechen. 4 Die Kariba-Talsperre ist ein Paradebeispiel für die von Engels und Schenk beschriebene Koevolution von politisch-ökonomischen und technischen Systemen. Ohne den wirtschaftlich zunächst erfolgreichen Zusammenschluss der drei Gebiete wäre das kostspielige Projekt nicht realisierbar gewesen. Umgekehrt waren seine Befürworter überzeugt, dass der Staudamm als Lieferant großer Mengen billigen Stroms, der für den nordrhodesischen Kupfergürtel und industrielle Zentren in Südrhodesien bestimmt war, der gesamten Föderation den ökonomischen take-off bescheren würde. Wirtschaftliches Wachstum wiederum war in den Augen der Planer der beste Weg, bestehende soziale Spannungen zwischen den privilegierten weißen Siedlern und der schwarzen Bevölkerungsmehrheit aufzulösen. 5 Wie die ‚multirassische Nation‘ beschaffen sein und auf welche Weise sie aufge-

2 Oder auch: „Föderation von Rhodesien und Njassaland“. 3 Mit ‚schwarz‘ oder ‚afrikanisch‘ ist hier die zumeist indigene Mehrheit gemeint; weiß‘ oder ‚europäisch‘ bezeichnet die zugewanderten Minderheiten, darunter dauerhafte Siedler (deren Familien teilweise schon seit Generationen in Zentralafrika beheimatet waren), Geschäftspersonen und Mitglieder der Kolonialadministration. Damit folge ich der Terminologie der 1950er Jahre, setze zugunsten der Lesbarkeit aber keine Anführungszeichen. 4 Ein konzise Zusammenfassung der Geschichte der Föderation ist: Philip Murphy, Introduction, in: ders. (Ed.), British Documents on the End of Empire. Central Africa. (Series B, Vol.9, Part 1.) London 2005, xxvii– cxvi. 5 Vergleiche zum Beispiel die Aussage des britischen Hochkomissars: „taking a long view […] Kariba would be of the greatest possible assistance in promoting the economic advancement of the Africans and partnership generally“; UK High Commissioner, Salisbury, an Rumbold, 16.3.1956, The National Archives, Kew (TNA) DO 35/5700.

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baut werden sollte, darüber waren sich die Verantwortlichen – hauptsächlich die Regierung der Föderation 6, die britischen Kolonialbehörden und die Weltbank als wichtigster Geldgeber – keinesfalls einig. Die hitzigen Kontroversen, welche die Planung des Mammutprojektes begleiteten, werden hier erstens im Hinblick auf die Rolle der Wissenschaften und zweitens im Lichte ihrer politischen Dimensionen umrissen. Wie sich das auf der höchsten Planungsebene ausgehandelte Konzept von Entwicklung und nation building lokal niederschlug, wird im zweiten Teil dieses Beitrages erörtert.

II. ‚Rationale‘ Planung? In vielerlei Hinsicht erscheint Kariba als Sinnbild des high modernism, nach James C. Scott „a strong, one might even say muscle-bound, version of the self-confidence about scientific and technical progress, the expansion of production, the growing satisfaction of human needs, the mastery of nature (including human nature), and above all, the rational design of social order commensurate with the scientific understanding of natural laws“ 7, der auch den „Entwicklungskolonialismus“ 8 der Nachkriegszeit maßgeblich prägte. Unter dem Druck wachsenden anti-kolonialen Protestes sowohl innerhalb der Kolonien als auch in den Industrienationen erhöhte die britische Kolonialmacht ihren finanziellen und personellen Einsatz auf ein bislang unbekanntes Niveau, um die Überseegebiete planvoll zu ‚entwickeln‘ und langfristig ihre Unabhängigkeit vorzubereiten. 9 Auf wissenschaftlichen Fakten basie-

6 Die Verwaltung der Zentralafrikanischen Föderation war ein äußerst komplexes Gebilde, das sich aus fünf Zweigen – den drei Territorien, der britischen Kolonialadministration sowie dem föderalen ‚Überbau‘ – zusammensetzte. Treibende Kraft im Kariba-Planungsprozess waren vor allem aus der ansässigen Siedlergemeinschaft rekrutierte Politiker, allen voran der Premierminister der Föderation, Godfrey Huggins. 7 James C. Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed. New Haven/London 1998, 4. 8 Andreas Eckert, Spätkoloniale Herrschaft, Dekolonisation und internationale Ordnung. Einführende Bemerkungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 48, 3–20, Zitat 6. 9 Aus der Fülle an Literatur beispielsweise: Eckert, Spätkoloniale Herrschaft (wie Anm.8); D. A. Low/John Lonsdale, Introduction: Towards the New Order, in: D. A. Low/Alison Smith (Eds.), History of East Africa. Vol.3. Oxford 1976, 1–64; Frederick Cooper, Modernizing Bureaucrats, Backward Africans, and the Development Concept, in: ders./Randall M. Packard (Eds.), International Development and the Social Sciences. Essays on the History and Politics of Knowledge. Berkeley 1997, 64–92. Obwohl die koloniale Entwicklungs-

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rende, vermeintlich unpolitische Maßnahmen im Bereich Infrastruktur und Technik sollten – allzumal in der umstrittenen Föderation – komplizierteren politischen Fragen vorausgehen. Der Eindruck eines technokratisch-rationalen Planungsprozesses verflüchtigt sich bei einem Blick hinter die Kulissen der Kariba-Verhandlungen allerdings schnell. Zwar setzte die Regierung der Zentralafrikanischen Föderation ganz auf wissenschaftliche Expertise, jedoch wurden die beteiligten Experten tief in eine bittere Auseinandersetzung um den richtigen Standort des Staudamms verwickelt. Während die Meinungsführer im Norden – (ehemalige) Angehörige der Kolonialverwaltung, Geschäftspersonen und europäische Einwanderer – eine kleinere Anlage am nordrhodesischen Kafue-Fluss bevorzugten, war die südrhodesische Siedler-Lobby nicht von der Vision eines Großprojektes am Sambesi-Fluss, also an der Grenze zwischen beiden Territorien abzubringen. Statt kühler Analysen lieferten die verschiedenen beteiligten Experten Munition für einen Konflikt, in dem beide Seiten die wissenschaftlichen Daten der jeweils anderen anzweifelten und den neuen Staat an den Rand des Scheiterns trieben. 10 Fast alle Nordrhodesier, so alarmierte der nordrhodesische Gouverneur Arthur Benson im April 1955 das Londoner Kolonialbüro (Colonial Office), befürworteten mittlerweile eine Auflösung der Föderation. 11 Um den Gordischen Knoten zu durchtrennen, beauftragte die Föderalregierung schließlich sogar ein Team von ‚unabhängigen‘ französischen Experten. Doch auch der in der lokalen Presse als „world expert“ 12 umjubelte Ingenieur André Coyne lieferte nicht die erwünschten eindeutigen Fakten. Beide Projekte seien technisch überzeugend, schrieb er in seinem Abschlussgutachten. Ob die Föderation das Mammutvorhaben Kariba wagen oder sich lieber mit dem Konkurrenzprojekt am Kafue bescheiden sollte, sei eine Glaubensfrage. Den zukünftigen Strombedarf des jungen Staates und die Geschwindigkeit

euphorie Mitte der 1950er Jahre schon deutlich abgekühlt war (Cooper, ebd.76), überwog bei Kariba der Optimismus beziehungsweise der politische Druck, wie im Folgenden ausgeführt wird. 10 Vgl. Treasury Memorandum „History of the Kafue and Kariba Projects”, circa Januar 1955, TNA CO 1015/952. Siehe auch JoAnn McGregor, Crossing the Zambezi. The Politics of Landscape on a Central African Frontier. Oxford/Harare 2009, 107 f. 11 Benson an Gorell Barnes, 1.April 1955, TNA CO 1015/946. Damit meinte Benson nur die weiße Bevölkerung; die afrikanische Mehrheit – deren Meinung bei der Entscheidungsfindung keinerlei Rolle spielte – hatte die Föderation ohnehin stets abgelehnt. 12 „M. Coyne’s Kariba Dam Proposals are ,Brilliant‘“, Rhodesia Herald, 20.Mai 1955.

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seiner industriellen Expansion im Voraus zu berechnen, käme einem „Glücksspiel“ (gamble) gleich. 13 Das Kariba-Projekt würde einen Großteil der verfügbaren Ressourcen – öffentliche Gelder, Kredite, Transportkapazitäten, Arbeitskräfte – dauerhaft binden. Dass damit andere Entwicklungsvorhaben verlangsamt oder sogar vereitelt würden, dämmerte den Verantwortlichen spätestens Ende 1955, als neue Kostenberechnungen vorgelegt wurden. 14 Die korrigierten Zahlen überstiegen die bisherigen Berechnungen um 40 Prozent und sorgten erneut für Debatten darüber, wie die neue Nation zu entwickeln sei, was ‚Entwicklung‘ überhaupt beinhalte und wem sie zugutekommen sollte. Gouverneur Benson warnte, das Prestigeprojekt der Siedler-Lobby werde die nördlichen Protektorate über Gebühr belasten und sei zu einseitig auf Wirtschaft und Industrie ausgerichtet. 15 Auch im Parlament der Zentralafrikanischen Föderation äußerten kritische Mitglieder Zweifel an der Strategie der Regierung, alle Karten allein auf industrielle Expansion und Kupferförderung zu setzen. 16 Die nordrhodesische Zeitung „Northern News“ brachte die Bedenken auf den Punkt: „Can the young Federation, with the multitude of other urgent demands on the limited finance available to it, afford to divert so large a portion to one project? Will there still be enough money left over to build the schools and hospitals so badly needed, make roads, improve and develop the railways, and provide essential social services?“ 17

Auch Beamte des Colonial Office, offiziell für das Wohlergehen der indigenen Bevölkerung verantwortlich, waren besorgt über den drohenden Entwicklungsstillstand in den Protektoraten Nordrhodesien und Njassaland. Schnell erkannten sie, dass das entstehende Gefälle zwischen Süd und Nord, zwischen industrieller Expansion und breiter angelegten Sozialprogrammen, zwischen urbanen und ländlichen Interventionen, einem Ungleichgewicht zwischen schwarzen und weißen Interes-

13

Coyne an Huggins (Premierminister der Föderation), 5.Januar 1955, Rhodes House Library, Oxford

(RHL) MSS Welensky 338/4 (Zitat); Bericht von A. Coyne, „Kariba Gorge and Kafue Gorge Hydro-Electric Projects”, November/Dezember 1954, TNA CO 1015/944. 14

Die erwarteten Kosten beliefen sich nun auf 78 Millionen statt 56 Millionen Britische Pfund; vgl. „Ka-

riba Power Scheme cost. Much more than estimated“, Financial Times, 6.Januar 1956. 15

Benson an Gorell Barnes, 23.Dezember 1955, TNA CO 1015/943.

16

Vgl. Extract Federal Hansard, 21.Februar 1956, TNA DO 35/4603; Extract Federal Hansard, 27.Februar

1956, TNA DO 35/4603. 17

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„Ever-dizzier heights of Kariba“, Northern News, 20.Dezember 1955.

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sen gleichkam. 18 Die Tatsache, dass der Stausee zehntausende Kleinbauern aus dem verarmten Gwembetal vertreiben würde, verdeutlichte diese Schieflage einmal mehr. Die Gwembe Tonga, die „from time immemorial“ im Sambesi-Flusstal lebten, daran erinnerte Governor Benson seine Vorgesetzten im Kolonialbüro, müssten in „scattered places at least a thousand feet higher“ umgesiedelt werden. „Frankly“, fuhr er fort, „we none of us know where we are going to put them, and, frankly, I […] believe that a number of them will die.“ 19 Dies war in den Augen des Gouverneurs jedoch weniger ein humanitäres als ein politisches Problem. Die Zwangsumsiedlung spielte in die Hände des organisierten afrikanischen Widerstands in Gestalt des Northern Rhodesian African National Congress (NRANC), der lautstark gegen die Errichtung der Zentralafrikanischen Föderation protestiert hatte. Die Zwangsumsiedlung bestätige die Warnungen des NRANC, so Benson, versinnbildlichte sie doch die Machtübernahme der landhung-

rigen weißen Siedler und die Unfähigkeit der britischen Kolonialbehörden, die afrikanische Bevölkerung zu schützen. 20 In der Tat erscheint es aus heutiger Sicht erklärungsbedürftig, dass die Kolonialbehörden grünes Licht für ein Projekt gaben, das keinen direkten Nutzen für die afrikanische Bevölkerungsmehrheit vorzuweisen hatte, Zehntausenden sogar Schaden zufügen würde. Schließlich war racial reconciliation die Existenzberechtigung der Föderation – nur aufgrund der Hoffnung auf ein friedliches ‚multirassisches‘ Miteinander hatte das koloniale Mutterland nach langem Zögern dem Zusammenschluss der drei Territorien zugestimmt. 21 Dass das Kariba-Projekt trotz Geburtsfehlern und möglichen Alternativen zustande kam, erklärt sich aus einer Überlagerung von Interessen und Denkmustern zwischen den verschiedenen Akteuren, die – von der Perspektive der Gwembe Tonga aus betrachtet – repressive Macht entfaltete. Das Kariba-Projekt war zentraler Bestandteil des Siedler-Nationalismus, dem wachsenden Bestreben vieler weißer Siedler, vor allem in Südrhodesien, nach Unabhängigkeit und einem souveränen Staat unter weißer Oberhand. Neben dem sym-

18 Vgl. etwa: Aktennotiz von Poynton, 4.Mai 1956, TNA CO 1015/948; „Brief for discussions with Mr. Taylor“, Treasury, 27.April 1956, TNA CO 1015/948. 19 Benson an Gorell Barnes, 31.Dezember 1954, TNA CO 1015/944. 20 Ebd. 21 Vgl. etwa: Murphy, Introduction (wie Anm.4); Ronald Hyam, The Geopolitical Origins of the Central African Federation. Britain, Rhodesia and South Africa 1948–1953, in: The Historical Journal 30/1, 1987, 145–172.

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bolischen Wert des prestigeträchtigen Großprojektes, das große internationale Aufmerksamkeit versprach, sahen rhodesische Politiker in Kariba den Motor für wirtschaftliches Wachstum und damit einen wichtigen Schritt in Richtung sowohl ökonomischer als auch politischer Autonomie. Anti-imperiale Ressentiments seitens der Siedlercommunity wurden Mitte der 1950er Jahre derartig stark, dass die britischen Kolonialbehörden einen rechten Umschwung und einen zweiten Apartheid-Staat fürchteten. 22 Die Föderation als erhoffter Mittelweg zwischen den Belangen der Siedler einerseits und denen der indigenen Mehrheit andererseits musste funktionieren. In dieser als explosiv empfundenen Lage wollten britische Beamte die – relativ betrachtet – gemäßigte Regierung vor Ort, die sich zu einer weiteren Kooperation mit Großbritannien sowie einer gewissen Wahrung afrikanischer Interessen bereit zeigte, nicht verprellen und unterstützten das Staudammprojekt mit dem expliziten Ziel, „that the Federation should get off to a good start“. 23 Die erst wenige Jahre alte Föderation war eine fragile ‚geplante Gemeinschaft‘, deren Zusammenhalt permanent neu hergestellt werden musste. Bei Kariba rückte die Frage nach dem Zusammenleben von Schwarz und Weiß allerdings zunächst in den Hintergrund; vielmehr galt es, Einigkeit zwischen den verschiedenen weißen Gruppen – Einwanderer unterschiedlichster Provenienz, Kolonialbeamte, Angehörige der internationalen Unternehmen – herzustellen, sie unter einer gemeinsamen weißen Identität zu vereinen und damit die seit langem bestehende Rivalität zwischen Nord- und Südrhodesien zu beenden. Dazu passte der symbolträchtige Standort des Projektes an der Grenze zwischen beiden Territorien. Wenn die Weißen auf beiden Seiten des Sambesis schon keine „bonds of affection“ füreinander entwickelten, so merkte ein kritischer Zeitgenosse an, dann sollten sie wenigstens durch „economic bonds“ – ein gemeinsames Entwicklungsprojekt – verbunden werden. 24 In der regierungsnahen Presse, im Radio, in PR-Broschüren und Wochenschauen wurde das Staudammprojekt in den folgenden Jahren als „binding factor“ 25 und

22

John Darwin, Britain and Decolonisation. The Retreat from Empire in the Post-War World. Hound-

mills/London 1988, 197. 23

Treasury Brief „Federation of Rhodesia and Nyasaland. Hydro-Electric Schemes”, circa Januar 1955,

TNA CO 1015/952. Darüber hinaus hatte Großbritannien ein erhebliches Eigeninteresse an einer funktio-

nierenden Kupferindustrie (ebd.). 24

Memorandum „The Kariba Evictions“, Thomas Fox-Pitt, Mai 1959, RHL MSS Brit. Emp. S 22 Vol. II.

25

Principal Private Secretary an den Premierminister der Föderation, 19.12.1958, RHL MSS Welensky

341/1.

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Ausdruck des Siedlerstolzes präsentiert. 26 Dabei ging es um inneren Zusammenhalt genauso wie um Abgrenzung: zum einen vom kolonialen Mutterland Großbritannien, da die Verheißung von wirtschaftlichem Wachstum unmittelbar mit dem Gedanken an die nationale Emanzipation der Siedlungskolonie verknüpft war. Zum anderen ging es um Abgrenzung von der zahlenmäßig weit überlegenen, aber benachteiligten schwarzen Bevölkerung, passte Kariba doch in den langgehegten Siedlertraum von Rhodesien als „white man’s country“ – als unabhängige ‚weiße‘ Nation. 27 Die beschleunigte ökonomische Entwicklung, so hoffte die Regierung, würde mehr und mehr europäische Einwanderer nach Zentralafrika ziehen. 28 Auch die Umsiedlung der Gwembe Tonga, die im öffentlichen Diskurs als Untergang des ‚Primitiven‘ angesichts der Fortschrittsleistungen der Weißen interpretiert wurde 29, entsprach der dem Siedlerkolonialismus inhärenten Verdrängungslogik, der physischen wie symbolischen Beseitigung der indigenen Bevölkerung. 30 Dies waren freilich nicht die Beweggründe, aus denen die Weltbank das KaribaProjekt mit einem Rekorddarlehen unterstützte. 31 Vielmehr sahen die Experten in den angespannten „race relations“ einen zentralen Unsicherheitsfaktor und forderten, Kariba müsse zu einer größeren Teilhabe der Afrikaner am Wohlstand der Fö-

26 Dieses Bild zeichneten zahlreiche Artikel in den lokalen Zeitungen, wie etwa dem Rhodesia Herald und den Northern News zwischen circa 1954–1961. Vgl. auch beispielsweise: South African News Agencies, Lake Kariba. The Story of the World’s Biggest Man-Made Lake. Bloemfontein: 1959; „Kariba. Dam nears completion“, Pathé News, 1958, British Pathé ID 1563.07; „Harnessing the waters“, Pathé News, 18.9.1957; British Pathé ID 1488.13 (http://www.britishpathe.com, letzter Zugriff 24.Mai 2012). 27 Alois Mlambo, White Immigration into Rhodesia. From Occupation to Federation. Harare 2002, 7. 28 Vgl. etwa: Redebeitrag Huggins, Parlamentsdebatte, Federal Hansard, 7.März 1955, TNA CO 1015/946; Radioansprache Huggins, 13.März 1955, TNA CO 1015/946. Kariba als Prestigeprojekt des Siedler-Nationalismus wird auch diskutiert von: McGregor, Crossing (wie Anm.10), 105–110. 29 Einige von zahlreichen Beispielen: „Kariba project displaces 50,000“, Scotsman, 30.Juli 1956; „Africans’ enforced migration begins“, Observer, 22.Juli 1956; „Moving a tribe to make way for the Kariba Lake“, The Times, 21.Oktober 1955; „How the Batonkas are being moved to make way for the white man’s dam“, Rhodesia Herald, 20.September 1956; siehe auch: McGregor, Crossing (wie Anm.10), 120–123. 30 Da der Siedlerkolonialismus „per definition a history of indigenous replacement“ sei, wie Veracini und andere argumentieren, bedeutete eine Emanzipation der Weißen immer auch eine weitere Unterdrückung der indigenen Bevölkerung; Lorenzo Veracini, Settler Colonialism and Decolonisation, in: Borderlands 6/2, 2007, 5. 31 Die Weltbank (damals offiziell „International Bank for Reconstruction and Development“, IBRD) steuerte fast 29 Millionen Britische Pfund zum Unternehmen bei – das zum damaligen Zeitpunkt höchste Darlehen der Bank; vgl. Thayer Scudder, The Kariba Case Study. (California Institute of Technology Working Papers, Vol.1227.) Pasadena 2005, I.

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deration beitragen. 32 Nach einem ausführlichen Begutachtungs- und Verhandlungsprozess überwog jedoch der Optimismus, dass die Zweiteilung der zentralafrikanischen Wirtschaft in eine „European money economy“ und eine „African tribal subsistence economy“ – der vermeintliche Kern allen Übels – aufgelöst werden könne. Der Weg dorthin liege einzig und allein in Industrialisierung und ökonomischer Expansion; nur so könnte Afrikanern ein besserer Lebensstandard gewährt werden, ohne den der Weißen zu beschneiden. Dieser Prozess werde notwendigerweise von den ‚fortschrittlicheren‘ Mitgliedern der Gesellschaft – also der weißen Industrie – angeführt. 33 Ähnlich überzeugt, dass der „enthusiasm, drive, humanity and foresight“ der ansässigen Unternehmer dem „advancement of the native“ dienen würde, zeigten sich auch Beamte des britischen Finanzministeriums. 34 Auf diese Weise überschnitten sich im internationalen Modernisierungsdiskurs verbreitete universalistische (Industrialisierung nach westlichem Vorbild) und dualistische (Entwicklung als Weg von der ‚Tradition‘ zur ‚Moderne‘) Konzepte 35 mit den Vorstellungen einer Siedlergesellschaft, die von einer naturgegebenen Führungsrolle der Weißen ausging. Damit wurden die Benachteiligungen, die Kariba für die Gwembe Tonga und die afrikanische Bevölkerung insgesamt mit sich brachte, als notwendige Prioritätensetzung umgedeutet, von der letztlich alle profitieren würden. Zuerst müsse in „power and transport“, investiert werden, argumentierte der Premierminister der Föderation; diese seien „the keys to economic development“, welches wiederum weitaus geeigneter sei „to advance the African than franchise laws or cries for social equality“. 36 Als jedoch die neuen Kostenkalkulationen bekannt wurden, trübte sich der anfängliche Optimismus schlagartig. Nachdem sie die Situation der nördlichen Protektorate eingehender studiert hatten, zeigten sich Berater der Weltbank über die „imbalance of the Federal economy“ 37 besorgt und warnten vor überhöhten Staats-

32

„Enabled to play their part“, Rhodesia Herald, 16.März 1956.

33

IBRD-Gutachten, Anhang „The economy of the Federation of Rhodesia and Nyasaland“, 13.Juni 1956,

TNA DO 35/5702.

34

Rowan, „Note on visit to Federation of Rhodesia and Nyasaland“, 12.Juli 1954, TNA CO 1015/944.

35

Vgl. etwa: Frederick Cooper/Randall Packard, The History and Politics of Development Knowledge, in:

Marc Edelman/Angelique Haugerud (Eds.), The Anthropology of Development and Globalization. From Classical Political Economy to Contemporary Neoliberalism. Malden/Oxford/Victoria 2005, 126–139.

274

36

Extract Federal Hansard, 12.März 1956, TNA DO 35/4603.

37

Morgan an Gorell Barnes, 20.Februar 1956, TNA CO 1015/943.

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ausgaben. Nach monatelangen Verhandlungen, Untersuchungen und harten Auflagen hinsichtlich des öffentlichen Haushaltes wurde Kariba schließlich grünes Licht gegeben – „by the skin of its teeth“. 38 Hinter den Kulissen war vom emanzipatorischen Nationalstolz der Siedlerregierung nicht mehr allzu viel übrig; vielmehr beschwerten sich deren Politiker „that the Federation’s lot is at the hands of the Bank worse than a British Protectorate under Treasury control!“ 39 Einerseits war das Infrastrukturprojekt Kariba also ein vielschichtiger Verhandlungsprozess, der unterschiedliche Akteure involvierte und eine Vielzahl von Kontroversen auslöste. 40 Statt ‚kraftstrotzender‘ wissenschaftlicher Expertise lieferten die beteiligten Wissenschaftler strittige Daten, persönliche Meinungen und ungesicherte Empfehlungen. Die wichtigsten Geldgeber und Verantwortlichen bildeten keinen Monolith, sondern mussten ihre Interessen untereinander austarieren. Andererseits war das Ergebnis dieser Debatten nicht willkürlich. So halfen die herangezogenen Experten, trotz aller Umstrittenheit, das Kariba-Projekt politisch zu legitimieren, während Politiker, Geldgeber und lokale Meinungsführer sich auf ein bestimmtes Entwicklungskonzept einigten. Aus ihren verschiedenen Motivationen heraus verständigten sie sich darauf, dass die notwendigen Veränderungen von der weißen Elite und Industrie auszugehen hatten. Ländliche Kleinbauerngemeinschaften wie die der Gwembe Tonga nahmen den untersten Rang auf der ausgehandelten Modernisierungshierarchie ein. 41

III. Lokale Interventionen Afrikanische Bauern ans Ende von Entwicklungsbemühungen zu stellen, war kaum mit dem Ethos des britischen Colonial Service vereinbar. In den Kolonien sta-

38 Ebd.(Zitat); Diskussionsnotiz, IBRD-Mission im Commonwealth Relations Office (CRO), 16.Februar 1956, TNA DO 35/4603. 39 Reed an Curson, 10.Februar 1956, TNA CO 1015/948. 40 Nur einige dieser Kontroversen konnten hier geschildert werden. Eine weitere hitzige Debatte entzündete sich etwa an der Erteilung der Bauaufträge, die Großbritannien bevorzugt an britische Unternehmen vergeben wollte, während die Weltbank auf einer freien Ausschreibung bestand. 41 Zur Benachteiligung der Landbevölkerung in Weltbank geförderten Projekten in den 1950er Jahren siehe Devesh Kapur/John Lewis/Richard Webb, The World Bank. Its First Half Century. Washington 1997, 115.

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tionierte Beamte, wie vorige Studien gezeigt haben, nahmen sich selbst als väterliche Beschützer der indigenen Bevölkerung wahr, deren Interessen gemäß der Prinzipien von trusteeship und native paramountcy Vorrang vor denen der zugewanderten Siedler zu genießen hatten. 42 Im Folgenden wird die Perspektive der lokalen Kolonialbeamten im Gwembetal auf nordrhodesischer Seite 43 nachgezeichnet. Zwar trugen sie die Hauptverantwortung für die Umsetzung der Zwangsumsiedlung, jedoch waren sie zu keinem Zeitpunkt während der Planungen konsultiert worden. Fest im lokalen Tagesgeschäft des Kolonialismus verankert, waren die Beamten nicht bloß Ausführende der Direktiven aus der Metropole. 44 Vielmehr standen sie – in Gwembe wie auch in anderen Kontexten – der ‚modernen Industriegesellschaft‘ äußerst skeptisch gegenüber 45 und versuchten folglich, dem Umsiedlungsprogramm ihren ganz eigenen Stempel aufzudrücken. Sozialer Wandel kam nicht erst mit Kariba ins Gwembetal; schon im Rahmen des ‚Entwicklungsfiebers‘ der Nachkriegszeit waren zahlreiche Maßnahmen initiiert worden. Im Rückblick entwarf die lokale Verwaltung ein äußerst romantisches Bild der Prä-Kariba-Ära, während der‚Fortschritt‘ von innen heraus gekommen, behutsam gediehen und dem angeblichen Wesen der Gwembe Tonga als „a profoundly agricultural society“ gerecht geworden sei. Eine „series of small measures“ – wie Brunnenbau, Verbesserung des Saatgutes, Errichtung von Mustergärten – hätte sehr viel bewirkt. 46 In der Wahrnehmung der lokalen Beamten brach das Staudammprojekt förmlich über „den slow but peaceful progress“ im Gwembetal herein. 47

42

Vgl. etwa: Ronald Hyam, Bureaucracy and ,Trusteeship‘ in the Colonial Empire, in: Judith Brown/

William Roger Louis (Eds.), The Oxford History of the British Empire. The Twentieth Century. Oxford/ New York 1999, 255–279. In der Föderation wurde native paramountcy durch multiracial partnership, ein vage definiertes Prinzip, das jedoch – jedenfalls theoretisch –von einer Gleichberechtigung indigener und Siedlerinteressen ausging, ersetzt; vgl. etwa: A. J. Hanna, The Story of the Rhodesias and Nyasaland. London 1965, 194–196. 43

Die Umsiedlung fand auf beiden Seiten des Sambesi-Flusses, also in Nord- und Südrhodesien, statt.

Hier konzentriere ich mich auf die nordrhodesische Seite. Zur etwas anders gelagerten Situation im Siedler-Territorium im Süden, siehe: McGregor, Crossing (wie Anm.10), 111f. 44

Bruce Berman/John Lonsdale, Unhappy Valley. Conflict in Kenya and Africa. Book Two: Violence and

Ethnicity. Oxford/Nairobi/Athens 1992, 233f. 45

Ebd.234.

46

Nordrhodesische Kolonialregierung, „Statement of the grounds on which the claim on the Federal Po-

wer Board is based“, circa April 1960, National Archives of Malawi, Zomba (NAM) Federal Files, 51/1/1, 528B. 47

Broschüre des nordrhodesischen Information Department, „Gwembe Valley Resettlement in

Northern Rhodesia“, circa 1958, TNA CO 1015/1486.

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In der Tat: Wie ethnologische Studien herausgestellt haben, war die Umsiedlung von vorneherein dazu verdammt, ein traumatisierendes „crash program“ zu werden. 48 Die Entscheidung für Kariba war gefällt worden, ohne dass je Untersuchungen zur Durchführbarkeit der Evakuation stattgefunden hatten. Nachträglich erstellte Gutachten zeichneten dann ein düsteres Bild: Die verfügbare Agrarfläche auf den höher gelegenen Gebieten im Gwembetal reichte nicht aus. Um sich und ihre Familien ernähren zu können, würden die geschätzten 30000 Gwembe Tonga sowohl ihre bisherigen Agrarpraktiken ändern als auch neue Möglichkeiten der Existenzsicherung finden müssen. 49 Landknappheit und Zeitdruck verschärften sich noch, als die Föderalregierung Mitte 1956 verkündete, die Staumauer werde höher als ursprünglich geplant, und damit alle bisherigen Umsiedlungspläne zunichtemachte. Zwei aufeinander folgende Rekord-Hochwasser am Sambesi in den Jahren 1957 und 1958 bedeuteten weitere Rückschläge. 50 Zudem litt die Verwaltung unter akutem Personalmangel; Gouverneur Bensons dringende Forderungen nach mehr Mitarbeitern blieben zu großen Teilen unerfüllt. 51 Die Langzeitstudien der Ethnologen Elizabeth Colson und Thayer Scudder, die die Umsiedlung und ihre Folgen über Jahrzehnte begleiteten, zeigen das ehrliche Bemühen der Kolonialbeamten um die Gwembe Tonga. 52 Mit steigendem Zeitdruck schwanden jedoch die Möglichkeiten, die Bevölkerung aktiv an den Umsiedlungsplänen zu beteiligen. Im Dorf Chisamu im Gebiet von Chief Chipepo eskalierte die Situation schließlich. Als sich eine Gruppe von Dorfbewohnern hartnäckig weigerte, ihr Land zu verlassen, kam es im September 1958 zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit der nordrhodesischen Polizei mit acht Toten – allesamt auf Seiten der Gwembe Tonga. 53 Dieser Vorfall war ein fundamentaler Verstoß gegen das zu-

48 Thayer Scudder, A History of Development and Downturn in Zambia’s Gwembe Valley, 1901–2002, in: Chet Lancaster/Kenneth Vickery (Eds.), The Tonga-Speaking Peoples of Zambia and Zimbabwe. Essays in Honor of Elizabeth Colson. Lanham 2007, 307–343, Zitat 311. 49 Agricultural Officer, „Report on the agricultural conditions in the proposed resettlement areas“, Dezember 1956, National Archives of Zambia, Lusaka (NAZ) SP 4/1/65. 50 Elizabeth Colson, The Social Consequences of Resettlement. The Impact of Kariba Resettlement upon the Gwembe Tonga. Manchester 1971, 34–36. 51 Benson an Kolonialminister, 23.September 1955, TNA CO 1015/952; Benson an Morgan, 23.Januar 1956, TNA CO 1015/952. 52 Scudder, Kariba Case Study (wie Anm.31), 30; Colson, Social Consequences (wie Anm.50), 35–37. 53 Zu diesem Vorfall gibt es eine Fülle an Quellenmaterial. Besonders detailliert ist der Bericht der anschließenden Untersuchungskommission: Nordrhodesische Kolonialregierung, „Report of the Commis-

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vor gemachte Versprechen der Regierung, keinerlei Zwang bei der Umsiedlungsaktion anzuwenden. 54 Auch in ihren neuen Gebieten kamen die Umsiedler nicht zur Ruhe. Dutzende Frauen und Kinder starben in der Folgezeit an Masern, bakterieller Ruhr und einer ‚mysteriösen‘ Krankheit, deren Ursache nicht ermittelt werden konnte. 55 Ähnlich desaströs verlief die Evakuierung einer Gruppe unter Chief Mwemba, die auf derartig ungeeignetes Land angesiedelt wurde, dass sie kurze Zeit später erneut verlegt werden musste. Die chaotische Aktion war mit erheblichem Leid verbunden – Hunger, Wassermangel, Verlust von Tieren, Krankheiten und sogar Todesfälle –, was auch der Presse nicht verborgen blieb. 56 Diese Rückschläge machten die völlige Überforderung der Lokalverwaltung öffentlich sichtbar und zerstörten das letzte Vertrauen der Gwembe Tonga. Die Beamten, wie Colson feststellte, wurden zunehmend als Lügner und Agenten landgieriger Siedler angesehen. 57 In einem ‚Rehabilitationsprogramm‘ versuchten die Kolonialbeamten anschließend, die Fehler des drastischen Modernisierungseingriffs „dictated by an outside cause“ 58 zu korrigieren. So erstritt die nordrhodesische Regierung Kompensationsgelder von der Föderalregierung, um den Gwembe Tonga durch eine umfassende social engineering-Initiative neue Existenzgrundlagen zu erschließen. Statt auf universalistische Formeln zu setzen und anzunehmen, dass die Industrialisierung automatisch auch afrikanische Kleinbauern erreichen würde, ersannen die Beamten ein spezifisches Maßnahmenbündel. Hierzu zählten Bemühungen im Bereich Bildung, Tsetsefliegen-Bekämpfung, Agrarentwicklung und insbesondere die Errichtung eines Fischereigewerbes am entstehenden Stausee. Mit diesen Eingriffen ‚rehabilitierten‘ die Beamten nicht nur die Gwembe Tonga, sondern auch ihr eigenes Rollen-

sion appointed to inquire into the circumstances leading up to and surrounding the recent deaths and injuries … in the Gwembe District“, TNA CO 1015/1485. Siehe auch: Colson, Social Consequences (wie Anm.50), 40–42. 54

So hatte der Provincial Commissioner ursprünglich verlauten lassen, dass widerständige Umsiedler

sich selbst überlassen würden: „if people refuse to move I am not prepared to agree to compulsion in moving them, as the rising water will, of course, effect removal sooner or later“; Clay an District Commissioner Gwembe, 3.Januar 1957, NAZ SP 4/1/65. 55

Colson, Social Consequences (wie Anm.50), 54f.

56

„Resettled Tonga face starvation“, Central African Post, 1.Juli 1959; siehe auch: Gwembe Tour Report

6/1959, Gebiet von Chief Mwemba, August 1959, NAZ SP 1/3/8.

278

57

Colson, Social Consequences (wie Anm.50), 30.

58

Tour Report 1/1958, Gebiet von Chief Sinazongwe, 2.Juni 1958, NAZ SP 1/3/20.

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verständnis und Entwicklungskonzept. Das Programm, so war in lokalen Berichten zu lesen, würde den sozialen Wandel entschleunigen, „existing tribal structures“ intakt halten und Fortschritt von innen heraus generieren. Unter den Fittichen der weißen Kolonialbeamten lernten die Gwembe Tonga angeblich, sich selbst zu helfen. 59 In diesen Aussagen fand der für die britische indirect rule-Politik typische Gradualismus seinen Widerhall ebenso wie deren essentialisierende Grundannahme, dass Afrikaner sich „along their own lines“ entwickeln und keine „Europeanised Africans“ werden sollten. 60 Dass die Gwembe Tonga schließlich Kompensationszahlungen und technische Unterstützung erhielten und am Kariba-Stausee ein phasenweise profitables Fischereigewerbe aufbauen konnten 61, verdankten sie nicht allein den paternalistischen Kolonialbeamten. Hinter dieser – sehr begrenzten – Teilhabe der Bevölkerung an Karibas Modernisierung standen vor allem die hartnäckigen Verhandlungen der Gwembe Tonga Native Authority (GTNA), der in die lokale Kolonialverwaltung einbezogenen ‚traditionellen‘ Elite. Kurz nachdem sie von der Kariba-Entscheidung erfuhren, verfassten die Chiefs und Berater der GTNA eine Liste mit Forderungen, an die sie ihre Kooperation knüpften. 62 Diese sogenannten „24 Points“ wurden dem Gouverneur zur Unterschrift vorgelegt und dienten in den Folgejahren immer wieder als Erinnerung an die Versprechen, die seitens der Regierung gemacht worden waren. 63 Einige der Punkte zielten darauf ab, bessere Konditionen für die Umsiedlung selbst auszuhandeln. Auf lange Sicht entscheidend aber waren vor allem die Folgezeit betreffende Zugeständnisse, wie etwa das Recht, dass sich die Gwembe Tonga am Rande des zukünftigen Stausees niederlassen, das fruchtbare Schwemm-

59 Vgl. beispielsweise: Tour Report 1/1958, Gebiet von Chief Sinazongwe, 2.Juni 1958, NAZ SP 1/3/20 (Zitat); Tour Report 8/1959, Gebiet von Chief Sinazongwe, Dezember 1958, NAZ SP 1/3/8; Tour Report 5/1959, Gebiet von Chief Mwemba, Oktober 1960, NAZ SP 1/3/24. 60 Michael Crowder, Indirect Rule – French and British Style, in: Africa. Journal of the International African Institute 34/3, 1964, 197–205, Zitate 203. Der Verwaltungsstil der „indirekten Herrschaft“ war jedoch angesichts der dramatischen Veränderungen der Dekolonisationszeit auf dem Rückzug; vgl. Cooper, Modernizing Bureaucrats (wie Anm.9), 75. 61 In den ersten Jahren nach der Umsiedlung bot die Fischerei einer beträchtlichen Anzahl an Familien eine Existenzgrundlage. Dies änderte sich, als Kenneth Kaunda, der erste Präsident des unabhängigen Sambias, den See für Unternehmer von außerhalb öffnete; Scudder, Kariba Case Study (wie Anm.31), 13–15. 62 „Questions asked by the GTNA“, Protokoll GTNA-Besprechung, 26./27.Juli 1955, NAZ SP 4/1/61. 63 Siehe zum Beispiel: Protokoll, Besprechung des Provincial Development Team, 16.August 1955, NAZ SP 4/4/11; Protokoll, Besprechung des District Team, 9.Februar 1962, NAZ SP 1/4/22.

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land nutzen und Fischereibetriebe aufbauen durften. Ihren Leidensgenossen auf der südrhodesischen Seite blieb der Zutritt zum See und seinen ökonomischen Möglichkeiten hingegen dauerhaft verwehrt. 64 Auch während der laufenden Umsiedlung intervenierten Mitglieder der GTNA. In Besprechungen und Briefwechseln mit der britischen Verwaltung machten sie Verbesserungsvorschläge, brachten die „hopelessness and frustration“ der Bevölkerung zum Ausdruck und hielten mit Kritik nicht zurück. 65 Ein weiteres Verdienst der GTNA war, dass auf ihr Drängen das Bildungsangebot in der Region erheblich verbessert wurde. 66 Auch konnten sie verhindern, dass die touristische und kommerzielle Erschließung des nördlichen Seegebietes 67 einer parastaatlichen Firma übertragen wurde, an der Südrhodesien und die Föderation beteiligt gewesen wären. Um zu verhindern, dass vor allem Privatinvestoren und die beiden Siedler-Regierungen, denen sie zutiefst misstrauten 68, von der Entwicklung des Sees profitierten, setzten die Chiefs und Berater durch, dass die Initiative maßgeblich in den eigenen Händen beziehungsweise in denen der britischen Kolonialverwaltung blieb. 69 Besonders durchsetzungsstark war der Chief Councillor der Native Authority, Hezekiah Habanyama. Als erster Universitätsabsolvent in Gwembe und erfahrener Verwaltungsmitarbeiter genoss Habanyama den Respekt der britischen Beamten und sicherte sich durch eine Mischung von Kollaboration und vorsichtigem Protest nicht unerhebliche Mitsprachemöglichkeiten. 70 Das Kariba-Projekt nahm er einer-

64

Scudder, Kariba Case Study (wie Anm.31), 15, 32.

65

GTNA Jahresbericht 1956, NAZ SP 4/2/118 (Zitat). Häufige Kritikpunkte waren etwa die schlechte Was-

serversorgung, Personalmangel oder fehlende Schulen; vgl. beispielsweise: GTNA Chief Councillor, „Tour of Sinazongwe Area“, 12.Februar 1959, NAZ SP 4/4/27; GTNA Chief Councillor, „Tour of Chief Simamba’s area“, 22.–24.Juli 1958, NAZ SP 4/12/82; Vermerk über ein Treffen des District Commissioner und der GTNA, 2.Oktober 1955, NAZ SP 4/4/11. 66

Scudder, Kariba Case Study (wie Anm.31), 34f.

67

Dieses Land war zum großen Teil als Native Trust und Native Reserve für die Nutzung durch die indi-

gene Bevölkerung ausgewiesen; vgl. „Memorandum on the development and utilisation of the Kariba Lake“, 21.3.1958, NAZ SP 4/1/73. 68

Die föderale und die südrhodesische Regierung seien „completely unacceptable to us“; GTNA an d’Av-

ray, Rechtsministerium, 10.März 1960, NAZ SP 4/7/16. 69

Zu dieser Auseinandersetzung gibt es eine Vielzahl von Quellen, etwa in den Akten: NAZ SP 4/1/73, SP

4/1/75, 4/1/80, 4/1/81, 4/1/90, 4/1/91, 4/2/146 4/3/13; TNA DO 35/4606, 35/4609. 70

Diese und die folgenden Überlegungen habe ich teilweise schon an anderer Stelle publiziert: Julia

Tischler, Resisting Modernisation? Two African Responses to the Kariba Dam Scheme in the Central Afri-

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seits als Bedrohung war; andererseits erkannte er aber auch die Chancen, die sich eröffneten, schließlich stand das einst vernachlässigte Gwembetal nun im Zentrum staatlicher Aufmerksamkeit. Karibas Modernisierung brachte neue Straßen, Brunnen, technische Unterstützung und finanzielle Ressourcen, konnte aber auch Chaos und Destabilisierung hervorrufen. Einst sei Gwembe ein „hidden spot on the map of the world“ gewesen; nun schwärmten Menschen unterschiedlichster Herkunft durch das Tal – Experten, Verwalter und Unternehmer, aber eben auch „loose men and women“, die von der Baustelle und der Arbeitersiedlung angezogen wurden. 71 Diesen Wendepunkt in der Geschichte der Gwembe Tonga betrachtete der Chief Councillor mit gemischten Gefühlen, wie er in seinen Berichten an die Kolonialverwaltung schilderte: „May I end this report by saying that there are people coming into Gwembe from many parts of Africa and from abroad. They bring with them good and bad habits. Roads are getting excellent which will mean easy travelling and easy transport. Cash economy is gaining its way at a terrific speed. All those suggest changes in our social pattern and changes which will come very quickly. Social changes will be made more complicated by the change of old homes into new. Social changes have proved to be very difficult to direct in some countries of the world.“ 72

Habanyamas Vorstellung, wie der soziale Wandel am besten zu kanalisieren sei, hatte nichts mit Strom, Industrialisierung oder einem wirtschaftlichen take-off zu tun. Ähnlich wie die Kolonialbeamten setzte er auf einen behutsameren Entwicklungsprozess, der landwirtschaftliche Maßnahmen, Bildung, Brunnenbau oder Kleinfischerei umfasste. Und er versuchte, ebenfalls wie seine britischen Kollegen, die durch Kariba entstehenden Chancen dementsprechend zu nutzen. Diese Haltung brachte ihn jedoch in Konflikt mit der Bevölkerung, die Habanyama zunehmend als Verbündeten der weißen Regierung wahrnahm. 73 Misstrauen war überhaupt eine verbreitete Reaktion der Gwembe Tonga, die nach einer langen

can Federation, in: Angelika Epple/Olaf Kaltmeier/Ulrike Lindner (Eds.), Reflecting on Concepts of Coloniality and Postcoloniality. Comparativ 21/1, 2011, 60–75. 71 Habanyama, Begrüßungsrede für den Secretary for Native Affairs, 25.Oktober 1956, PRO CO 1015/1484 (erstes Zitat); GTNA Jahresbericht 1959, NAZ SP 4/2/151 (zweites Zitat). 72 GTNA Jahresbericht 1956, NAZ SP 4/2/118. 73 Siehe etwa: GTNA Chief Councillor, „Tour of Chief Simamba’s area“, 22.–24.Juli 1958, NAZ SP 4/12/82; vergleiche auch Colson, Social Consequences (wie Anm.50), 76.

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Geschichte von Landenteignungen in der Region 74 hinter der Umsiedlung eine Siedler-Landnahme im großen Stil vermuteten. Die Perspektiven der ‚einfachen‘ Bevölkerung auf Kariba (wie auch auf andere Infrastrukturprojekte) sind freilich besonders schwer zu rekonstruieren, da sie in den Quellen selten für sich selbst sprechen. Im öffentlichen Mediendiskurs wurden die Gwembe Tonga als primitive tribesmen dargestellt, die auf ihrem unfruchtbaren Land ein klägliches Dasein fristeten und nichts zu verlieren hätten. 75 Mithilfe der Studien von Scudder und Colson sowie lokalen Archivquellen lässt sich jedoch ein nuancierteres Bild zeichnen. Zunächst ist festzuhalten, dass die Erfahrungen divergierten und von Faktoren wie Alter, Geschlecht und der spezifischen Situation des jeweiligen Dorfes abhängig waren. So konnten beispielsweise junge Männer, die nahe der Zugangsstraße zur Baustelle angesiedelt wurden, neue Handels- und Kommunikationsmöglichkeiten für sich nutzen. Die Nähe zum Stausee oder die Qualität des Bodens waren weitere wichtige Faktoren. 76 Elizabeth Colson betonte in ihrer Studie, dass die Gwembe Tonga den Wandel nicht grundsätzlich ablehnten; einige Gruppen begrüßten es sogar, dass sie mit staatlicher Unterstützung neues Land erschließen konnten. 77 Als die Kolonialverwaltung dann jedoch über die Umsiedlungspläne weitgehend allein entschied und die Menschen nicht wie versprochen in ihren Dörfern bleiben ließ, bis das Wasser sie erreichte, schlug die Stimmung allmählich in Misstrauen und Wut um. 78 Das erfahrene Leid während der Umsiedlung selbst, Missernten und die verheerenden Folgen der beiden Überschwemmungen trugen das Ihrige dazu bei, 74

Vgl. zum Beispiel: Hanna, Story of the Rhodesias (wie Anm.42), 200–202.

75

Siehe oben Anm.29.

76

So gab es etwa in Sinazongwe gutes Agrarland und Möglichkeiten zur Fischerei, so dass die Kolonial-

beamten von „rapid progress“ sprachen (Gwembe Tour Report 2/1962, Gebiet von Chief Sinazongwe, 23.Juli 1962, NAZ SP 1/3/35). Besonders schlecht war die Situation für die Umsiedler, die zu den Chiefs Mwemba und Chipepo gehörten, wie oben ausgeführt. Siehe auch: Colson, Social Consequences (wie Anm.50), 28, 32, 136f., 140. 77

Colson, Social Consequences (wie Anm.50), 26–29.

78

Ebd.35–39. Die Verwaltung hatte zunächst versprochen, die Gwembe Tonga könnten bis zur Überflu-

tung in ihren Dörfern bleiben, um so mit eigenen Augen zu sehen, dass kein Siedlerkomplott hinter ihrer Vertreibung steckte (ebd.). Einige Quellenbeispiele, die die zunehmende Frustration widerspiegeln: Tour Report 4/1956, Gebiet von Chief Sinazongwe, März 1956, NAZ SP 4/2/125; Secretary for Native Affairs, Bericht über die Umsiedlung in Gwembe, 1.Juni – 31.Oktober 1957, TNA CO 1015/1491; Economic Secretary, Bericht über die Umsiedlung in Gwembe, 1.März – 30.Juni 1957, TNA CO 1015/1491, Kariba Development Officer, „Report on Visit to the Lusitu Area“, 8.Dezember 1958, NAZ SP 4/2/134.

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dass sich ein Gefühl der Ohnmacht breitmachte. 79 Die Frustration entlud sich in der gewaltsamen Auseinandersetzung im Chisamu-Dorf (siehe oben); davon abgesehen gelangten jedoch keine weiteren Vorfälle offenen Widerstands an die Öffentlichkeit. Liest man die entsprechenden Lokalakten jedoch gegen den Strich, so fallen eine Reihe von Verhaltensweisen ins Auge, mit denen die Gwembe Tonga ‚stillen Protest‘ 80 ausübten und Einfluss auf ihre Situation nahmen. So beschwerten sich die Kolonialbeamten häufig darüber, dass die Menschen ihre neuen Gebiete nicht schnell genug vorbereiteten und die Umsiedlung hinauszögern würden. 81 Diese angebliche „apath[y] towards development“ 82 setzte die Beamten, welche auf die Kooperation der Bevölkerung angewiesen waren, massiv unter Druck. Auch berichten lokale Quellen von der häufig geäußerten Sorge der Gwembe Tonga, die Umsiedlung werde sie von ihren Schreinen trennen und ihre religiösen Praktiken zerstören. Hinter dieser plötzlichen Traditionsliebe vermuteten erfahrenere Beamte einen Vorwand, mit dem die Dorfbewohner bessere Konditionen für sich aushandeln wollten. 83 Einige Umsiedler versuchten überdies, Verbündete außerhalb des Gwembetals zu finden. In zahlreichen Beschwerdebriefen baten sie den nordrhodesischen African National Congress (NRANC) um Hilfe. 84 Andere klagten Reportern und Missionaren ihr Leid, die das Erfahrene wiederum an die Öffentlichkeit brachten. 85 79 Scudder und Colson beschreiben, dass die Gwembe Tonga die Umsiedlung als Entmündigung und als Angriff auf ihre Existenz empfanden; Colson, Social Consequences (wie Anm.50), 70 f.; Scudder, Kariba Case Study (wie Anm.31), 40. 80 Vgl. James C. Scott, Weapons of the Weak. Everyday Forms of Peasant Resistance. New Haven/London 1985. 81 District Commissioner, „Comments on a report entitled ‚Resettled Tonga face starvation‘“, 15.Juli 1959, NAZ SP 4/4/22; Jahresbericht „African Affairs“, Southern Province, 1958, NAZ SP 4/2/59; Tour Report 3/1956, Gebiet von Chief Simamba, Februar/März 1956, NAZ SP 4/2/125. 82 Kommentar des District Commissioner, in: Tour Report 6/1955, Gebiet von Chief Simamba, 16.August 1955, NAZ SP 4/2/103. 83 Tour Report 3/1955, Gebiet von Chief Chipepo sowie Kommentar des District Commissoner, 19.April 1955, NAZ SP 4/2/103. 84 In den Akten des NRANC im Archiv der United National Independence Party, Lusaka (UNIPA) befinden sich zahlreiche Beschwerden, beispielsweise von Mabula Siansale, Gwembe, 26.February 1957; von Sinamwenda Kaniamba und Kaniamba Amos, Dorf Sialuselo, Chief Chipepo, o. D.; von January Siakanka, Gwembe, o. D., circa Oktober 1956, alle: UNIPA ANC 7/57; von Leonard Musako, 24.April /1957, UNIPA ANC 7/66. 85 Wie zum Beispiel der Radioreporter Noah Matongo, „Verbatim Reports of Interviews with various Individuals in the Gwembe Valley“, circa 5.November 1955, NAZ SP 4/12/73.

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Während des Rehabilitationsprogramms drückten die Gwembe Tonga durch selektive Kooperation beziehungsweise Verweigerung aus, welche Maßnahmen sie als sinnvoll erachteten und welche nicht. Zahlreiche Berichte lobten den Unternehmergeist der Bevölkerung beim Aufbau eines Fischereigewerbes. Von den angebotenen Hilfestellungen – Ausbildungsmöglichkeiten, Kredite, Ausrüstungsverleih – machten sie eifrig Gebrauch und konnten binnen kurzer Zeit gute Erträge erzielen. 86 Dem gegenüber standen Kommentare über die angebliche Faulheit und Entwicklungsunfähigkeit der Leute, die sich vor allem auf landwirtschaftliche Maßnahmen bezogen. Trotz der bereitgestellten Geräte und Hilfe durch Agrarexperten, beschwerten sich einige Kolonialbeamte, weigerten sich die Gwembe Tonga hartnäckig, effizientere landwirtschaftliche Methoden anzuwenden. 87 Obendrein ‚verschwendeten‘ sie ihre Kompensationsgelder für Biergelage und Statussymbole, statt sie ‚sinnvoll‘ zu investieren. 88 Diese Weigerung, sich gemäß staatlicher Vorgaben zu ‚entwickeln‘, wurde von den Beamten als eine „in-grained apathy to disease and death“ 89 interpretiert. Dem widersprach die Native Authority: Es gehe den Gwembe Tonga darum, ihr Geld nach eigenem Gutdünken einzusetzen – „to spend the money how they pleased“. 90 Wie Forschungen zu subalternem Protest nahelegen, können derlei Formen der Verweigerung als stummer Widerstand gewertet werden, also als Versuche der Gwembe Tonga, ihr Leben selbst zu bestimmen und die in der Umsiedlung verlorene Souveränität zurückzuerobern.

IV. Fazit Das Kariba-Staudammprojekt und die Zwangsumsiedlung sind, wie vor allem der erste Teil dieser Ausführungen gezeigt hat, ein Paradebeispiel von Machtkonzentra-

86

Einige Beispiele: Tour Report 2/1962, Gebiet von Chief Sinazongwe, 23.Juli 1962, NAZ SP 1/3/35; Tour

Report 7/1962, Gebiet von Chief Simamba, 6.12.1962, NAZ SP 1/3/35. Siehe auch Scudder, History of Development (wie Anm.48), 314–316. 87

Tour Report 8/1959, Gebiet von Chief Sinazongwe, Dezember 1958, NAZ SP 1/3/8. Siehe auch: Tour Re-

port 3/1961, Gebiet von Chief Sinazongwe, 28.Mai 1961, NAZ SP 1/3/35; Tour Report 2/1961, Gebiet von Chief Sinadambwe, 21.Mai 1961, NAZ, SP 1/3/35. 88

284

Tour Report 8/1961, Gebiet von Chief Chipepo, 27.Dezember 1961, NAZ SP 1/3/35.

89

Tour Report 8/1959, Gebiet von Chief Sinazongwe, Dezember 1958, NAZ SP 1/3/8.

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Tour Report 3/1960, Gebiet von Chief Sinazongwe, circa August 1960, NAZ SP 1/3/24

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tionen, die mit Infrastrukturen typischerweise einhergingen und -gehen. Andererseits versuchten Akteure auf lokaler Ebene, an Karibas Modernisierungsversprechen zu partizipieren. Dabei ging es ihnen weniger um die unmittelbaren Ziele des Projekts – Energiegewinnung und Industrialisierung – als um seine ‚Nebeneffekte‘, wie etwa die neuen Wirtschaftsformen am Stausee, die von den Planern so gar nicht vorgesehen waren. Derlei Aneignungen werden dann sichtbar, wenn Macht, wie von Engels und Schenk vorgeschlagen, nicht nur in ihrer repressiven Auswirkung untersucht, sondern auch als produktive Kraft aufgefasst wird. Dazu zählt auch die ‚Eigenlogik‘ komplexer technischer Großprojekte, deren Entstehungsprozesse zumindest teilweise kontingent sind und damit nicht vollständig kontrollierbar – wie die Kariba-Verhandlungen zeigen. Diese Erkenntnis darf jedoch nicht den Blick dafür versperren, wie ungleich die Möglichkeiten, eigene Interessen durchzusetzen, verteilt waren. So waren die Mitspracherechte der lokalen Elite und der Nutzen, den einige Gwembe Tonga dem Projekt für sich abringen konnten, äußerst begrenzt. Noch heute sind die Gebiete um den Stausee schlecht erschlossen, weitestgehend nicht elektrifiziert und von bitterer Armut geprägt. 91 Wie sich das Wechselverhältnis von kausaler/modaler Macht und Infrastruktur de facto gestaltete, muss für jeden Einzelfall neu beantwortet werden. Dafür braucht es empirisch basierte Fallanalysen, die ein breites Spektrum an unterschiedlichen Akteursperspektiven in den Blick nehmen und Geschichte als offenen Prozess begreifen. Dass Entwicklung kein einfaches Rollenspiel war, als Legitimation für (neo-)koloniale Unterdrückung herhalten, aber auch emanzipatorische Wirkung entfalten konnte, ist in den letzten Jahren in der Forschung mehrfach betont worden. 92 Das Spezifische an Kariba als Infrastrukturprojekt ist seine Langlebigkeit. Der Staudamm zementierte förmlich die Ungleichheiten der Spätkolonialzeit – einerseits materiell, schufen die Anlage und das angeschlossene Stromversorgungsnetz doch bestimmte Modernisierungszentren und -peripherien, andererseits durch die langfristige Bindung öffentlicher Mittel. Mit dem Projekt verfestigte sich die wirtschaftspolitische Schwerpunktsetzung auf Kupferförderung und -export, was sich mit dem

91 Vgl. Jacques Leslie, Deep Water. The Epic Struggle over Dams, Displaced People and the Environment. New York 2005, 191–200. 92 Aus der Fülle an Literatur beispielsweise: Cooper, Modernizing Bureaucrats (wie Anm.9); Cooper/ Packard, History and Politics (wie Anm.35).

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weltweiten Einbruch der Kupferpreise in den 1970er Jahren als verheerend herausstellen sollte. Heute, nach fast fünfzig Jahren Unabhängigkeit, leidet Sambia nach wie vor unter einem ausgeprägten Stadt-Land-Gefälle und hat eine der höchsten ländlichen Armutsquoten weltweit zu verzeichnen. Dies mag veranschaulichen, wie Infrastrukturen Machtverhältnisse dauerhaft ‚speicherten‘ und sich politischen Zäsuren – wie auch der Dekolonisation – widersetzten. 93

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Was nicht heißen soll, dass Kenneth Kaunda, der erste Präsident des unabhängigen Sambia, und seine

Nachfolger die kolonialen Asymmetrien nicht hätten beseitigen können.

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. Martin Bauch, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Mittelalterliche Geschichte am Deutschen Historischen Institut, Rom Sascha Bütow, M.A., Projektmitarbeiter am Lehrstuhl Mittelalterliche Geschichte am Historischen Institut der Universität Potsdam PD Dr. Noyan Dinçkal, Akademischer Rat a.Z. für Neuere und Neueste Geschichte am

Historischen Institut der Universität Paderborn und Privatdozent an der Technischen Universität Darmstadt Prof. Dr. Jens Ivo Engels, Inhaber der Professur für Neuere und Neueste Geschichte am Institut für Geschichte der Technischen Universität Darmstadt Dr. Birte Förster, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Neuere und Neueste Geschichte am Institut für Geschichte der Technischen Universität Darmstadt Prof. Dr. Franziska Lang, Inhaberin der Professur für Klassische Archäologie am Fachbereich Architektur der Technischen Universität Darmstadt Dr. Marco Leonardi, Professore Aggregato e Riceratore Universitario für Mittelalterliche Geschichte an der Facoltà di Lettere e Filosofia der Università degli studi di Catania Dr. Martina Maříková, Archivarin am Archiv hlavního města Prahy Prof. Dr.Julia Obertreis, Inhaberin des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte mit dem Schwerpunkt der Geschichte Osteuropas, Department für Geschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Gerrit Jasper Schenk, Inhaber der Professur für Mittelalterliche Geschichte am Institut für Geschichte der Technischen Universität Darmstadt Prof. Dr. Helmuth Schneider, Lehrstuhlinhaber i.R. der Professur für Alte Geschichte am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel

DOI

10.1515/9783486781052.287

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Dr. Marc Suttor, Maître de conférences en Histoire médiévale am Centre de recherche et d’études Histoire et Sociétés, Université d’Artois Arras PD Dr.-Ing. Helge Svenshon, Privatdozent der Fachgebiete Geschichte und Theorie der

Architektur sowie Klassische Archäologie am Fachbereich Architektur der Technischen Universität Darmstadt Dr.Julia Tischler, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kolleg „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“, Humboldt Universität Berlin PD Dr. Christian Wieland, Heisenberg-Stipendiat am Historischen Seminar der

Goethe-Universität Frankfurt am Main, derzeit Senior Visiting Research Fellow am St. John’s College, Oxford

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