Handbuch Brief: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart 9783110376531, 9783110375107

This handbook presents current knowledge about “letters” as a text genre. Containing diverse essays from multiple discip

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German Pages 1591 [1580] Year 2020

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Band 1: Interdisziplinarität – Systematische Perspektiven – Briefgenres
1 Der Brief als Forschungsfeld
1.1 Literaturwissenschaft (Neuere deutsche Literatur)
1.2 Linguistik
1.3 Rhetorik
1.4 Geschichtswissenschaft
1.5 Editionswissenschaft
1.6 Kommunikationswissenschaft
1.7 Soziologie
1.8 Ethnologie
1.9 Gender Studies
2 Briefpraktiken und methodische Ansätze
2.1 Postgeschichte
2.2 Der Brief als individualmediale Kommunikationsform: Eine mediensoziologische Beobachtung
2.3 Literarische Anthropologie und Brief
2.4 Materialität des Briefs
2.5 Der Brief als Sammlungsobjekt
2.6 Der Brief als Gabe
2.7 Briefzensur und Briefgeheimnis in der Neuzeit
2.8 Briefsteller
2.9 Fingierte Briefe und Brieffälschungen: Sprachliche Verstellungen in inkriminierten Briefen
2.10 Narratologie des Briefs
2.11 Brief und Tagebuch/Brieftagebuch
2.12 Brief und Briefroman
2.13 Der Brief in der darstellenden Kunst bis zum 17. Jahrhundert
2.14 Der Brief in der darstellenden Kunst seit dem 18. Jahrhundert
2.15 Historische Kommunikationslogistik: 600 Jahre Briefpostbeförderung
2.16 Digitalisierung und ihre Einflüsse auf den Umgang mit alten wie neuen ‚Briefen‘ in deutscher wie internationaler Perspektive
3 Briefgenres
3.1 Billet
3.2 Die Postkarte als text- und bildkommunikatives Phänomen
3.3 Bilderbriefe, Künstlerpostkarten und anderes: Autographische Text-Bild-Post
3.4 Brief-Gedichte und Heroiden
3.5 Correspondance littéraire
3.6 Gelehrtenbriefe
3.7 Der Missionarsbrief
3.8 Briefe evangelischer Missionare seit dem 18. Jahrhundert
3.9 Bürgerbrief
3.10 Liebesbrief/Erotischer Brief
3.11 Der Brautbrief
3.12 Der Geschäftsbrief
3.13 Der Werbebrief – von ‚König Kunde‘ zum persönlichen Brieffreund?
3.14 Offener Brief
3.15 Leserbrief
3.16 Patientenbrief
3.17 Trostbrief/Kondolenzbrief/Trauerbrief
3.18 Erpresser- und Drohbriefe
3.19 Gefängnisbrief/Kassiber
3.20 Reisebriefe
3.21 Das Genre Auswandererbrief
3.22 Exilbrief im 19. bis 21. Jahrhundert
Band 2: Historische Perspektiven – Netzwerke – Zeitgenossenschaften
4 16./17. Jahrhundert
4.1 Brieftheorie der Frühen Neuzeit
4.2 Briefe Luthers
4.3 Protestantische Briefkultur: Philipp Melanchthon
4.4 Künstlerkorrespondenzen Der Renaissance: Albrecht Dürer
4.5 Ärztebriefe (16. Und 17. Jahrhundert)
4.6 Das Korrespondenznetz Hans Fuggers (1531–1598)
4.7 Frühneuhochdeutsche Korrespondenzen sächsischernestinischer Fürstinnen
4.8 Korrespondenz in Diplomatie und/oder Patronage-Beziehungen der Frühen Neuzeit
4.9 Die Korrespondenz spanischer Emigrant*innen in Amerika seit 1492
4.10 Briefnetzwerke der Hugenotten
4.11 Der Gesellschaftsbrief der Renaissanceakademie Fruchtbringende Gesellschaft
4.12 Das Briefarchiv Sigmund von Birkens
4.13 Monastische Gelehrtenkorrespondenzen
4.14 Gelehrtenkorrespondenzen der frühen Aufklärung: Gottfried Wilhelm Leibniz
4.15 Galanter Brief
4.16 Madame de Sévigné und ihre Erb*innen
5 18. Jahrhundert
5.1 Das Korrespondenznetzwerk des hallischen Pietismus
5.2 Höfische Diplomatie in der Frühen Neuzeit: Die Korrespondenz der Madame de Maintenon und der Princesse des Ursins
5.3 Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich II., König von Preußen
5.4 Ein kaiserliches Briefnetzwerk – Katharina die Große
5.5 Korrespondenzen deutscher Minister des 18. Jahrhunderts
5.6 Gellert, Moritz und die Popularisierung der Brieftheorie
5.7 Zu den Briefwechseln zwischen Luise und Johann Christoph Gottsched, Meta und Friedrich Gottlieb Klopstock, Caroline Flachsland und Johann Gottfried Herder
5.8 Gleim und sein Kreis
5.9 Brief und literarische Anthropologie in der Spätaufklärung
5.10 Albrecht von Hallers europäisches Korrespondenznetz (1724–1777)
5.11 Johann Georg Hamann
5.12 Philosophische Streitgespräche in Briefen – Friedrich Heinrich Jacobi
5.13 Korrespondenzen der Idealisten (Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Hölderlin)
5.14 ‚Philosophische Briefe‘ (‚Ästhetische Briefe‘/‚Literarische Briefe‘) als Genre des 18. Jahrhunderts
5.15 August Wilhelm Ifflands dramaturgisches und administratives Archiv
5.16 Laurence Sterne – Jean Paul – E. T. A. Hoffmann
5.17 Musikerbriefe vor und um 1800
5.18 Künstlerbriefe aus Rom und Italien bis 1800
5.19 Das Briefnetzwerk der Jenaer Frühromantik
5.20 Korrespondenzen im ‚klassischen‘ Weimar
6 19. Jahrhundert
6.1 Literarische Außenseiter um 1800: Jakob Michael Reinhold Lenz, Heinrich von Kleist, Georg Büchner
6.2 Germaine de Staël, die Groupe de Coppet: Briefe, Briefwechsel, Briefnetzwerke
6.3 Karl August Böttiger
6.4 Der Briefwechsel Alexander von Humboldts
6.5 Søren Kierkegaard
6.6 Rahel Levin Varnhagen
6.7 Friedrich Gentz – Adam Müller – Friedrich Schlegel
6.8 Gelehrtenbriefwechsel der Brüder Grimm
6.9 Bettine Brentano, Clemens Brentano und Karoline von Günderode
6.10 Hermann Fürst von Pückler-Muskau
6.11 Carl Maria von Weber – Giacomo Meyerbeer – Felix Mendelssohn Bartholdy
6.12 Die Briefe von Lord Byron und John Keats
6.13 Annette von Droste-Hülshoff als Briefschreiberin
6.14 Liebes- und Ehebriefe im 19. Jahrhundert – Bismarck, Sacher-Masoch, Stifter, Haeckel
6.15 Briefwechsel Richard Wagner – König Ludwig II. von Bayern
6.16 Chemikerkorrespondenz um die Mitte des 19. Jahrhunderts: Der Nachlass Karl Weltzien
6.17 Das Briefnetzwerk Jacob Burckhardts
6.18 Theodor Fontanes Briefe
6.19 ‚Leben in Briefenʻ – ein Buchtypus des 19. Jahrhunderts
6.20 Briefnetzwerke der Junghegelianer
6.21 Briefnetzwerke von Achtundvierzigern nach dem Scheitern der Revolutionen
6.22 Der Briefwechsel Karl Marx – Friedrich Engels
6.23 Briefnetzwerke der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert
6.24 Gustave Flaubert
6.25 Die Korrespondenzen Conrad Ferdinand Meyers
6.26 Stéphane Mallarmé – Stefan George
6.27 Vincent van Gogh – Paul Gauguin
7 20./21. Jahrhundert
7.1 Die Funktion von Briefen in der Frauenbewegungskultur
7.2 Feldpost
7.3 Briefnetzwerke der Psychoanalyse
7.4 Briefe im Kontext der literarischen Moderne (1890–1930)
7.5 Briefnetzwerke des George-Kreises
7.6 Briefnetzwerke im Kontext der englischen und amerikanischen literarischen Moderne – Virginia Woolf
7.7 Thomas Mann, Heinrich Mann und die Korrespondenz der Familie Mann
7.8 Gottfried Benn
7.9 Walter Benjamin: Briefschreiber, Sammler und Theoretiker des Briefs
7.10 Briefe aus dem Widerstand (und deren Rezeption)
7.11 Briefe aus den Lagern der NS-Herrschaft (1933–1945)
7.12 Ost-West-Briefwechsel 1945–1989
7.13 Briefe im Kontext von Menschenrechtsorganisationen
7.14 Der Briefwechsel zwischen Günther Anders und dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly
7.15 Der Briefwechsel Ingeborg Bachmann – Paul Celan – Max Frisch – Gisèle Celan-Lestrange
7.16 Siegfried Unseld und ‚seine‘ Autoren
7.17 Mail Art
7.18 Neuere Kommunikationsmedien im Vergleich zum Brief – E-Mail, SMS, WhatsApp, Facebook
7.19 Leserbriefe digital – Online- Nachrichtenartikel kommentieren
Personenregister
Autorinnen und Autoren
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Handbuch Brief: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart
 9783110376531, 9783110375107

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Handbuch Brief Band 1

Handbuch Brief

Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart Band 1: Interdisziplinarität – Systematische Perspektiven – Briefgenres Herausgegeben von Marie Isabel Matthews-Schlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink und Jochen Strobel

ISBN 978-3-11-037510-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-037653-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039287-6 Library of Congress Control Number: 2020935240 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Ekely / Kollektion E+ / Getty Images Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Band 1: Interdisziplinarität – Systematische Perspektiven – Briefgenres Vorwort 

 XI

1 Der Brief als Forschungsfeld 1.1

Literaturwissenschaft (Neuere deutsche Literatur) – Jörg Schuster   5 1.2 Linguistik – Britt-Marie Schuster   19 1.3 Rhetorik – Dietmar Till   40 1.4 Geschichtswissenschaft – Gunilla Budde   61 1.5 Editionswissenschaft – Rüdiger Nutt-Kofoth   81 1.6 Kommunikationswissenschaft – Joachim R. Höflich  1.7 Soziologie – Liz Stanley   108 1.8 Ethnologie – Bettina Beer   125 1.9 Gender Studies – Marlen Bidwell-Steiner   141

 96

2 Briefpraktiken und methodische Ansätze 2.1 Postgeschichte – Veit Didczuneit   163 2.2 Der Brief als individualmediale Kommunikationsform: Eine mediensoziologische Beobachtung – Udo Thiedeke   187 2.3 Literarische Anthropologie und Brief – Robert Vellusig   203 2.4 Materialität des Briefs – Katrin Henzel   222 2.5 Der Brief als Sammlungsobjekt – Konrad Heumann   232 2.6 Der Brief als Gabe – Jochen Strobel   254 2.7 Briefzensur und Briefgeheimnis in der Neuzeit – Angela Standhartinger   269 2.8 Briefsteller – Markus Schiegg   276 2.9 Fingierte Briefe und Brieffälschungen: Sprachliche Verstellungen in inkriminierten Briefen – Stefanie Bredthauer   291 2.10 Narratologie des Briefs – Jochen Strobel   300 2.11 Brief und Tagebuch/Brieftagebuch – Sibylle Schönborn   322 2.12 Brief und Briefroman – Gideon Stiening   339

VI  2.13 2.14 2.15 2.16

 Inhaltsverzeichnis

Der Brief in der darstellenden Kunst bis zum 17. Jahrhundert – Daniela Hammer-Tugendhat   348 Der Brief in der darstellenden Kunst seit dem 18. Jahrhundert – Elisabeth Fritz   362 Historische Kommunikationslogistik: 600 Jahre Briefpostbeförderung – Joachim Helbig   377 Digitalisierung und ihre Einflüsse auf den Umgang mit alten wie neuen ‚Briefen‘ in deutscher wie internationaler Perspektive – Anne Baillot   387

3 Briefgenres 3.1 Billet – Günter Oesterle   401 3.2 Die Postkarte als text- und bildkommunikatives Phänomen – Anett Holzheid   409 3.3 Bilderbriefe, Künstlerpostkarten und anderes: Autographische Text-Bild-Post – Wolfgang Trautwein   439 3.4 Brief-Gedichte und Heroiden – Julie Prandi   452 3.5 Correspondance littéraire – Jonas Hock   463 3.6 Gelehrtenbriefe – Thomas Wallnig   471 3.7 Der Missionarsbrief – Mariano Delgado   484 3.8 Briefe evangelischer Missionare seit dem 18. Jahrhundert – Ulrich van der Heyden   491 3.9 Bürgerbrief – Michaela Fenske   497 3.10 Liebesbrief/Erotischer Brief – Andrea Hübener, Jörg Paulus und Renate Stauf   505 3.11 Der Brautbrief – Roman Lach   515 3.12 Der Geschäftsbrief – Renata Šilhánová   524 3.13 Der Werbebrief – von ‚König Kunde‘ zum persönlichen Brieffreund? – Marie-Helene Wichmann   536 3.14 Offener Brief – Dirk Rose   553 3.15 Leserbrief – Ulla Fix   561 3.16 Patientenbrief – Markus Schiegg   570 3.17 Trostbrief/Kondolenzbrief/Trauerbrief – Paweł Zarychta   582 3.18 Erpresser- und Drohbriefe – Stefanie Bredthauer   594 3.19 Gefängnisbrief/Kassiber – Marcus Willand   601 3.20 Reisebriefe – Ingo Breuer   611 3.21 Das Genre Auswandererbrief – Ursula Lehmkuhl   631 3.22 Exilbrief im 19. bis 21. Jahrhundert – Anne Katrin Lorenz   646

Inhaltsverzeichnis 

 VII

Band 2: Historische Perspektiven – Netzwerke – Zeitgenossenschaften 4 16./17. Jahrhundert 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10 4.11 4.12 4.13 4.14 4.15 4.16

Brieftheorie der Frühen Neuzeit – Regina Dauser   665 Briefe Luthers – Ute Mennecke   675 Protestantische Briefkultur: Philipp Melanchthon – Christine Mundhenk   683 Künstlerkorrespondenzen der Renaissance: Albrecht Dürer – Jeffrey Ashcroft   692 Ärztebriefe (16. und 17. Jahrhundert) – Tilmann Walter   705 Das Korrespondenznetz Hans Fuggers – Regina Dauser   716 Frühneuhochdeutsche Korrespondenzen sächsisch-ernestinischer Fürstinnen – Vera Faßhauer   727 Korrespondenz in Diplomatie und/oder Patronage-Beziehungen der Frühen Neuzeit – Tilman Haug   740 Die Korrespondenz spanischer Emigrant*innen in Amerika seit 1492 – Werner Stangl   753 Briefnetzwerke der Hugenotten – Susanne Lachenicht   762 Der Gesellschaftsbrief der Renaissanceakademie Fruchtbringende Gesellschaft – Gabriele Ball   773 Das Briefarchiv Sigmund von Birkens – Ralf Schuster   780 Monastische Gelehrtenkorrespondenzen – Thomas Wallnig   790 Gelehrtenkorrespondenzen der frühen Aufklärung: Gottfried Wilhelm Leibniz – Nora Gädeke   799 Galanter Brief – Isabelle Stauffer   812 Madame de Sévigné und ihre Erb*innen – Jana Kittelmann   826

5 18. Jahrhundert 5.1 5.2

Das Korrespondenznetzwerk des hallischen Pietismus – Brigitte Klosterberg   837 Höfische Diplomatie in der Frühen Neuzeit: Die Korrespondenz der Madame de Maintenon und der Princesse des Ursins – Corina Bastian   848

VIII 

 Inhaltsverzeichnis

5.3

Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich II., König von Preußen – Brunhilde Wehinger   862 Ein kaiserliches Briefnetzwerk – Katharina die Große – Kelsey Rubin-Detlev   871 Korrespondenzen deutscher Minister des 18. Jahrhunderts – Sébastien Schick   884 Gellert, Moritz und die Popularisierung der Brieftheorie – Sibylle Schönborn   893 Zu den Briefwechseln zwischen Luise und Johann Christoph Gottsched, Meta und Friedrich Gottlieb Klopstock, Caroline Flachsland und Johann Gottfried Herder – Tanja Reinlein   905 Gleim und sein Kreis – Tobias Heinrich   914 Brief und literarische Anthropologie in der Spätaufklärung – Alexander Košenina   926 Albrecht von Hallers europäisches Korrespondenznetz (1724–1777) – Martin Stuber   934 Johann Georg Hamann – Eric Achermann   945 Philosophische Streitgespräche in Briefen – Friedrich Heinrich Jacobi – Walter Jaeschke   954 Korrespondenzen der Idealisten (Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Hölderlin) – Udo Roth und Gideon Stiening   966 ‚Philosophische Briefe‘ (‚Ästhetische Briefe‘/‚Literarische Briefe‘) als Genre des 18. Jahrhunderts – Björn Spiekermann   975 August Wilhelm Ifflands dramaturgisches und administratives Archiv – Klaus Gerlach   985 Laurence Sterne – Jean Paul – E. T. A. Hoffmann – Jörg Paulus   993 Musikerbriefe vor und um 1800 – Sophia Gustorff   1006 Künstlerbriefe aus Rom und Italien bis 1800 – Claudia Sedlarz   1021 Das Briefnetzwerk der Jenaer Frühromantik – Claudia Bamberg   1032 Korrespondenzen im ‚klassischen‘ Weimar – Gerrit Brüning   1043

5.4 5.5 5.6 5.7

5.8 5.9 5.10 5.11 5.12 5.13 5.14 5.15 5.16 5.17 5.18 5.19 5.20

6 19. Jahrhundert 6.1 6.2

Literarische Außenseiter um 1800: Jakob Michael Reinhold Lenz, Heinrich von Kleist, Georg Büchner – Ingo Breuer   1055 Germaine de Staël, die Groupe de Coppet: Briefe, Briefwechsel, Briefnetzwerke – Marie-Claire Hoock-Demarle   1069

Inhaltsverzeichnis 

6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10 6.11 6.12 6.13 6.14 6.15 6.16 6.17 6.18 6.19 6.20 6.21 6.22 6.23 6.24 6.25 6.26 6.27

 IX

 1076 Karl August Böttiger – René Sternke  Der Briefwechsel Alexander von Humboldts – Christian Helmreich   1088 Søren Kierkegaard – Niels Jørgen Cappelørn, Hermann Deuser und Markus Kleinert   1095 Rahel Levin Varnhagen – Barbara Hahn   1102 Friedrich Gentz – Adam Müller – Friedrich Schlegel – Hans Dierkes   1108 Gelehrtenbriefwechsel der Brüder Grimm – Berthold Friemel und Vinzenz Hoppe   1119 Bettine Brentano, Clemens Brentano und Karoline von Günderode – Wolfgang Bunzel   1130 Hermann Fürst von Pückler-Muskau – Jana Kittelmann   1143 Carl Maria von Weber – Giacomo Meyerbeer – Felix Mendelssohn Bartholdy – Sabine Henze-Döhring   1152 Die Briefe von Lord Byron und John Keats – Rolf Lessenich   1160 Annette von Droste-Hülshoff als Briefschreiberin – Jochen Grywatsch   1170 Liebes- und Ehebriefe im 19. Jahrhundert – Bismarck, Sacher-Masoch, Stifter, Haeckel – Roman Lach   1183 Briefwechsel Richard Wagner – König Ludwig II. von Bayern – Rüdiger Jacobs von Luxburg   1195 Chemikerkorrespondenz um die Mitte des 19. Jahrhunderts: Der Nachlass Karl Weltzien – Klaus Nippert   1207 Das Briefnetzwerk Jacob Burckhardts – Susanne Müller   1219 Theodor Fontanes Briefe – Thorsten Gabler   1233 ‚Leben in Briefenʻ – ein Buchtypus des 19. Jahrhunderts – Anna Busch   1245 Briefnetzwerke der Junghegelianer – Wolfgang Bunzel   1255 Briefnetzwerke von Achtundvierzigern nach dem Scheitern der Revolutionen – Christian Jansen   1267 Der Briefwechsel Karl Marx – Friedrich Engels – Gerald Hubmann   1274 Briefnetzwerke der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert – Thomas Welskopp   1282 Gustave Flaubert – Kathrin Fehringer   1292 Die Korrespondenzen Conrad Ferdinand Meyers – Stephan Landshuter   1304 Stéphane Mallarmé – Stefan George – Cornelia Ortlieb   1314 Vincent van Gogh – Paul Gauguin – Bodo Plachta   1325

X 

 Inhaltsverzeichnis

7 20./21. Jahrhundert 7.1

Die Funktion von Briefen in der Frauenbewegungskultur – Kerstin Wolff   1337 7.2 Feldpost – Jens Ebert   1347 Briefnetzwerke der Psychoanalyse – 7.3 Andreas Mayer   1363 7.4 Briefe im Kontext der literarischen Moderne (1890–1930) – Jörg Schuster   1371 7.5 Briefnetzwerke des George-Kreises – Ute Oelmann   1382 7.6 Briefnetzwerke im Kontext der englischen und amerikanischen literarischen Moderne – Virginia Woolf – Claudia Olk   1390 7.7 Thomas Mann, Heinrich Mann und die Korrespondenz der Familie Mann – Jochen Strobel   1400 7.8 Gottfried Benn – Stephan Kraft   1411 7.9 Walter Benjamin: Briefschreiber, Sammler und Theoretiker des Briefs – Heinrich Kaulen   1415 7.10 Briefe aus dem Widerstand (und deren Rezeption) – Helmut Peitsch   1430 7.11 Briefe aus den Lagern der NS-Herrschaft (1933–1945) – Benjamin Grilj   1441 7.12 Ost-West-Briefwechsel 1945–1989 – Jens Ebert   1450 7.13 Briefe im Kontext von Menschenrechtsorganisationen – Anja Mihr   1461 7.14 Der Briefwechsel zwischen Günther Anders und dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly – Jörg Schuster   1471 7.15 Der Briefwechsel Ingeborg Bachmann – Paul Celan – Max Frisch – Gisèle Celan-Lestrange – Sibylle Schönborn   1480 7.16 Siegfried Unseld und ‚seine‘ Autoren – Raimund Fellinger   1491 7.17 Mail Art – Rosa von der Schulenburg   1498 7.18 Neuere Kommunikationsmedien im Vergleich zum Brief – E-Mail, SMS, WhatsApp, Facebook – Caroline Schnitzer und Rosina Ziegenhain   1508 7.19 Leserbriefe digital – Online-Nachrichtenartikel kommentieren – Marie-Luis Merten   1518 Personenregister 

 1532

Autorinnen und Autoren 

 1564

Vorwort 1 Textsorte und Kommunikationsform ‚Brief‘ Auf die Frage, was ein ‚Brief‘ ist und auf welche Weise man sich mit ihm beschäftigen könnte oder sollte, geben die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen ganz unterschiedliche Antworten. Sie miteinander in einen offenen, vielstimmigen Dialog treten zu lassen, ist eines der Anliegen dieses Handbuchs. Dabei spielen trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen einige grundsätzliche Eigenschaften immer wieder eine Rolle: Der Brief ist gleichermaßen Text, materiales Objekt und Ereignis/Handlung. Er ist Medium einer zeitversetzten, über eine räumliche Distanz hinweg erfolgenden und meist persönlichen schriftlichen Kommunikation. Materiale Aspekte wie etwa Briefpapier, Umschlag, Briefbeigaben und das verwendete Schreibgerät, strukturelle Momente wie Anrede, Grußformel, Ort/Datum und Unterschrift sowie Adresse sind ebenso von Bedeutung wie die Tatsache, dass der Brief meist auf Serialität, auf eine fortgesetzte Korrespondenz zielt und, sofern mehrere Akteur*innen beteiligt sind, die Herstellung epistolarer Netzwerke ermöglicht. In Briefen manifestieren sich kulturelle Praktiken ebenso wie individuelle Eigenschaften: Sie sind historische Quellen und zeitgeschichtliche Dokumente (besonders ‚Ego-Dokumente‘), sie passen sich unterschiedlichen Verwendungskontexten an, und sie sind Texte, die sich spezifischer rhetorisch-literarischer Strategien bedienen sowie über ästhetisches, performatives und fiktionales Potential verfügen. Vor diesem Hintergrund werden sie auch zu Mit-Erzeugern neuer Textsorten bzw. Kommunikationsformen, und zwar sowohl nichtfiktionaler wie fiktionaler. Es überrascht deshalb wenig, dass sie im Laufe der Jahrhunderte nicht nur in Gestalt diverser ‚Briefgenres‘, sondern auch im Gewand einer Vielfalt von Bedeutungen und Begriffen begegnen: sei es als ‚Urkunde‘, ‚Epistel‘, ‚Schreiben‘ oder, im Zeitalter des Digitalen, als Tweet oder WhatsApp-Nachricht. Der Brief ist Ergebnis und Ausdruck kulturell wie historisch vielfältiger Faktoren, die ihn beeinflusst haben, im Gegenzug aber auch durch ihn geprägt wurden. Allerdings steht seine historische wie kulturelle Omnipräsenz als Textsorte und Kommunikationsmittel über die Jahrhunderte bis heute in einem bemerkenswerten Missverhältnis zu Umfang sowie Grad an Institutionalisierung und Interdisziplinarität der Forschung zu diesem Gegenstand. Zwar liegen wertvolle Einzelstudien zum Thema vor, noch häufiger werden Briefe als Quellen ediert; eine Briefforschung im ambitioniert großen Maßstab hat bislang jedoch Seltenheitswert: Ein wegweisendes Beispiel der jüngsten Vergangenheit bildet dahingehend der von Howard Hotson und Thomas Wallnig herausgegebene Band https://doi.org/10.1515/9783110376531-201

XII 

 Vorwort

Re­assembling the Republic of Letters in the Digital Age. Standards, Systems, Scholarship (Göttingen 2019), der das Ergebnis einer mehrjährigen interdisziplinären und europäischen Kooperation bildet. Das Handbuch Brief – Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart liefert die Prolegomena für ebenfalls und notwendig interdisziplinäre sowie breit aufgestellte Briefforschung vor allem im deutschsprachigen Bereich.

2 Zielsetzung Das Handbuch macht zentrale Forschungserkenntnisse verschiedener Disziplinen zur Textsorte und Kommunikationsform ‚Brief‘ für das wissenschaftliche Fachpublikum  – ebenso wie die interessierte Öffentlichkeit  – in gesammelter und systematisierter Form verfügbar. Dabei streben die Herausgeber*innen keine wie auch immer zu definierende ‚Vollständigkeit‘ der Wissensrepräsentation an. Gleichzeitig werden einerseits Forschungsansätze, -interessen, und -methodologien der für den Brief zentralen Einzeldisziplinen vorgestellt. Andererseits aber wird die Briefforschung auf einen neuen Stand gehoben, indem durch die strukturbestimmende Interdisziplinarität des Handbuchs die mit der Form des ‚Briefs‘ verbundenen ‚Briefkulturen‘ und ihre Erforschung erstmals überhaupt in der unmittelbaren Zusammenschau sichtbar gemacht werden. Damit möchten die Herausgeber*innen dezidiert zu weiterem, ambitioniertem Nachdenken über die Geschichte und Funktion des ‚Briefs‘ sowie bisher noch unbearbeitete Forschungsfragen anregen. In zwei Bänden wird das textuelle und kommunikative Phänomen ‚Brief‘ in gattungstheoretischer, materialer sowie historischer und kulturwissenschaftlicher Hinsicht im Spannungsfeld unterschiedlicher Einzelwissenschaften präsentiert. Diese schließen u.a die Literatur- und Geschichtswissenschaft, die Linguistik und die Rhetorik wie die Soziologie und die Gender Studies ein. Der Fokus des Handbuchs liegt auf dem Zeitraum vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart und primär auf dem historischen deutschsprachigen Brief, unter angemessener rezeptions- und literaturgeschichtlicher Berücksichtigung der epistolographischen Tradition seit der Antike. Punktuelle Bezugnahmen und Ausblicke auf den gesamteuropäischen Kontext schärfen den Blick für die teils sprachlich und kulturell bedingten Spezifika sowie die universalen Aspekte der Phänomenologie von Briefkultur(en). Die im Handbuch präsentierte Themenauswahl entstand im Zusammenspiel zwischen Herausgeber*innen und Autor*innen. Die Texte geben grundsätzlich den aktuellen Forschungsstand wieder, gehen jedoch oftmals auch darüber hinaus, nicht zuletzt indem das Spezifische an der Form ‚Brief‘ immer wieder in

Vorwort 

 XIII

den Vordergrund gerückt und systematisch sowie im Zusammenhang mit dem jeweiligen Gegenstand eines Beitrags betrachtet wird.

3 Aufbau Der erste Band des Handbuchs ist dreigeteilt: Die einführende Sektion bietet eine Reihe von Überblicksartikeln (I.), in denen der Brief aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen jeweils von einer Fachvertreterin oder einem Fachvertreter als spezifisches Forschungsfeld vorgestellt wird. Hier werden der Stand der Forschung skizziert und Problemfelder angerissen, die spätere Artikel vertiefen. Es folgen ein systematisierender Teil (II.) mit Beiträgen zu grundlegenden Fragen bzw. zu Einzelaspekten der Briefkommunikation sowie eine Abteilung zu unterschiedlichen Briefgenres (III.). Der zweite Band enthält die umfangreichste Sektion (IV.), welche historische Facetten der Briefkultur vorstellt: Überblicksartig werden wichtige Phasen in der Geschichte der Briefkultur beleuchtet. Der Anspruch kann dabei aufgrund der Unübersichtlichkeit und Heterogenität des Gegenstandsbereichs nicht sein, eine ‚Geschichte des Briefs‘ zu liefern. Das Handbuch beschränkt sich darauf, sich an den Schwerpunkten der bisherigen Forschung zu orientieren oder aus den jeweils unterschiedlichen Fachperspektiven ‚Cluster‘ zu bilden. Dabei entscheidet der Einzelfall, ob interdisziplinäre Perspektiven in einem Artikel zusammengeführt werden oder ob die Perspektive eines speziellen Fachs dominiert. ‚Cluster‘ können auch zeitspezifische Briefgenres, Textkorpora oder Netzwerke sein. Zugleich enthält die Sektion Beiträge zu wichtigen Briefschreiber*innen und -theoretiker*innen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Betrachtet werden diese nicht nur als Einzelpersonen, sondern auch als miteinander persönlich, durch die Wirkung ihres Schreibens bzw. durch ihre Zeitgenossenschaft verbundene Autor*innen. Im Blick auf das Handbuch insgesamt werden auf diese Weise Gleichzeitigkeiten – insbesondere auch solche des Ungleichzeitigen – sichtbar. Aspekte, die in Beiträgen des ersten Bands angesprochen wurden, werden im zweiten Band vergleichend zusammengeführt und auf neue Weise konkretisiert. Damit wird eine weitere, vertiefende Perspektive auf das Verständnis vom ‚Brief‘ und der ihn prägenden wie von ihm geprägten kulturellen Praktiken eröffnet. Im Sinne einer geschlechtergerechten Sprache haben wir uns dafür entschieden, grundsätzlich von genderneutralen Formulierungen Gebrauch zu machen oder männliche und weibliche Formen zu nutzen. Ausnahmen wurden in begründeten Fällen zugelassen.

XIV 

 Vorwort

4 Dank Am Ende eines langen und von Widrigkeiten nicht freien Entstehungsprozesses danken die Herausgeber*innen allen Autorinnen und Autoren, die sich an unserem Projekt beteiligt und dabei Zuverlässigkeit wie Geduld bewiesen haben. Großzügig und jederzeit konstruktiv haben Manuela Gerlof und zuletzt Anja Michalski auf Seiten des Verlags das Handbuch gefördert und begleitet; auch dafür herzlichen Dank. Mehrere studentische und wissenschaftliche Hilfskräfte haben unsere Arbeit über die Jahre engagiert und kompetent unterstützt: Paulina Bahlke (Marburg), Katharina Benz (Oldenburg), Katrin Lüdeke (Oldenburg/Hamburg) und Melanie Schmidt (Frankfurt am Main). Besonderer Dank gilt Madelaine Stahl (Marburg), die von Anfang bis Ende in alle Prozesse eingebunden war. Die Herausgeber*innen Dunfermline, Frankfurt am Main, Marburg, Berlin, Januar 2020

Band 1: Interdisziplinarität – Systematische Perspektiven – Briefgenres

1 Der Brief als Forschungsfeld

Jörg Schuster

1.1 Literaturwissenschaft (Neuere deutsche Literatur) 1 Dokument und Literarizität – Briefe als Gegenstand der Literaturwissenschaft Briefe können aus sehr verschiedenen Gründen und auf sehr unterschiedliche Weise Gegenstand der Literaturwissenschaft sein. Traditionell zogen und ziehen Li­te­raturwissenschaftler*innen Briefe als Dokumente heran, um näheren Aufschluss über die Biographien von Schriftsteller*innen oder über die Werkgeschichte, über die Entstehung und Veröffentlichung literarischer Texte zu erhalten; gegebenenfalls können Briefe so zu deren besserem Verständnis beitragen. Ähnlich wie Tagebücher gelten sie gewissermaßen als Seitenstück, als Beiwerk zum literarischen Werk; entsprechend enthalten Werkausgaben kanonisierter Autor*innen häufig eine separate Briefabteilung („Werke und Briefe“). Damit fallen sie zunächst in den Aufgabenbereich der mit der Literaturwissenschaft eng verbundenen Editorik, die diese Texte der Forschung und dem literarisch interessierten Publikum in verlässlichen Ausgaben zur Verfügung stellt. Eine dezidiert andere Herangehensweise besteht darin, Briefe, statt sie auf ihre Funktion als biobibliographische Hilfsmittel zu reduzieren, selbst als Texte in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken und in ihrer medialen Besonderheit zum Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Analyse zu machen. Gefragt wird auf diese Weise nach der Literarizität von Briefen, also danach, ob und inwiefern sie, im engeren Sinne literarischen Texten vergleichbar, einen ästhetischen Eigenwert, ‚Kunstcharakter‘ besitzen. Potentiell kann so jeder Brief, unabhängig davon, wer ihn zu welchem Zweck und in welchem kommunikativen Kontext geschrieben hat, auf seinen mehr oder weniger ausgeprägten literarischen Charakter hin untersucht werden. Auch in Briefen, die nicht von Literat*innen verfasst wurden, ist häufig zu beobachten, wie etwa durch bestimmte Isotopien (Bildfelder) oder Narrative eigenständige und eigenen Regeln gehorchende Textwelten aufgebaut werden und Tendenzen der Fiktionalisierung festzustellen sind. Die Untersuchung solcher Verfahren ist ebenso die Aufgabe der Literaturwissenschaft wie die Analyse der rhetorisch-stilistischen Form von Briefen. Werden auf diese Weise – zumindest tentativ – Briefe analysiert ‚wie‘ literarische Texte, so stellen Briefromane, aber auch literarisch fingierte Einzelbriefe gewissermaßen den umgekehrten Fall dar. Hier handelt es sich um Texte, die sich am Kommunikationsmedium ‚Brief‘ orientieren und dieses als Modell in https://doi.org/10.1515/9783110376531-001

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genuin literarisch-fiktionale Werke transferieren. Dass solche fiktionalen Texte wie die Briefromane Samuel Richardsons, Jean-Jacques Rousseaus oder Johann Wolfgang von Goethes sowie etwa Hugo von Hofmannsthals Ein Brief (1902) zum literaturgeschichtlichen Kanon gehören, während es sich bei lebensweltlichen, auf die tatsächliche persönliche Kommunikation hin verfassten Briefen um ein eher marginalisiertes Textkorpus handelt, deutet bereits auf die Probleme hin, die die Literaturwissenschaft mit der Gattung hat. Die Briefforschung ist ein eher nischenhaftes literaturwissenschaftliches Spezialgebiet. Auf sein Fachwissen muss aber allein schon zurückgegriffen werden, wenn man etwa nach strukturellen Affinitäten zwischen fiktionalen Briefromanen und den tatsächlich gewechselten Briefen einer Zeit fragt. Generell lässt sich kritisch anmerken, dass die Beschäftigung mit einem vernachlässigten Textkorpus zu innovativeren Ergebnissen zu führen vermag als die kontinuierliche Relektüre kanonisierter Texte der Höhenkamm-Literatur. Was die literaturwissenschaftliche Herangehensweise betrifft, so schließen die Nutzung von Briefen als Dokumente und die Frage nach ihrer Literarizität einander nicht aus, sie können einander vielmehr auf sinnvolle Weise ergänzen. Dennoch handelt es sich um grundlegend verschiedene Vorgehensweisen, die dem Brief jeweils einen völlig anderen Status zubilligen. Im ersten Fall wird der Brief auf die Funktion reduziert, Quelle, Dokument für bestimmte Sachverhalte zu sein. Im zweiten Fall wird dem Brief eigenes produktives ästhetisches Potential zugesprochen. Er ist nicht mehr bloßer Beleg, sondern stellt sprachlich etwas Eigenes, Neues her. Das relativiert gerade seinen Quellenwert und macht ihn dem poetischen Kunstwerk vergleichbar; beide sind Spielarten sprachlicher poiesis (Herstellung). Die zwei skizzierten Herangehensweisen werden – jeweils mit gutem Recht – in der aktuellen Literaturwissenschaft praktiziert. Als Dokumente können Briefe (wie auch Tagebücher) von Belang sein, wenn es um positives Wissen geht, etwa im Fall der Datierung oder der Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte von Werken. Die epistolare Kommunikation bietet generell wichtige Anhaltspunkte dafür, woher Autor*innen intellektuelle oder künstlerische Anregungen erhielten, wie sie also in der wissens- und kulturgeschichtlichen Situation ihrer Zeit zu situieren sind. Es geht hier um die Analyse von Brief-Netzwerken und der Zirkulation von Wissen. Darüber hinaus sind Briefe von, an und über literarische Autor*innen grundsätzlich wichtige Zeugnisse für Fragen, die das literarische Feld, die Literatur als Handlungssystem bis hin zu ökonomischen Aspekten sowie die zeitgenössische Rezeption betreffen. Hierzu sind insbesondere Briefwechsel mit Verleger*innen, Leser*innen und Rezensent*innen zu berücksichtigen. Die genannten Fragestellungen beharren jedoch meist auf der Dichotomie: Hier die literarischen Werke, dort die Briefe, die weniger literarischen als viel-

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mehr dokumentarischen Status besitzen und jene – in der Terminologie Gérard ­Genettes  – im Sinne von Para- oder Epitexten flankieren, kommentieren oder ergänzen, also in irgendeiner Weise auf sie bezogen sind und gegebenenfalls ihrem Verständnis dienen. Das hermeneutische Wunschdenken besteht darin, von Briefen Klartext zu erwarten, wo die Werke aufgrund ihrer Poetizität vor Rätsel stellen. Fragt man hingegen nach der Literarizität von Briefen, so geht man – zumindest heuristisch und hypothetisch – davon aus, dass kein grundsätzlicher Unterschied und keine Hierarchie zwischen Werk und Brief besteht, sondern beide in einem jeweils spezifischen Spannungsfeld zwischen pragmatisch-kommunikativen und ästhetisch-literarischen Funktionen zu sehen sind. Die maßgebliche Differenz zwischen Brief und literarischem Werk besteht damit gerade nicht in der literarischen Dignität oder Qualität, sondern in der medialen Situation. Bei jenem handelt es sich in der Regel um eine Form der persönlichen und meist wechselseitigen Kommunikation, bei diesem um Formen anonymer Massenkommunikation (Distribution von Büchern und Texten über Verlage und Buchhandlungen, Zeitschriften, Theater, Rundfunk, Internet etc.), bei denen das Feedback von Leser*innen – jedenfalls vor der Erfindung von Web 2.0 und Social Media – eher als Ausnahme gelten muss. Das hat Konsequenzen, insbesondere was die materiale Gestaltung des Mediums betrifft. Sind an der Produktion etwa eines Buchs zahlreiche Instanzen von Autor*innen über Verleger*innen, Lektor*innen, Graphiker*innen, Drucker*innen etc. beteiligt, so ist der individuelle Gestaltungsspielraum im Fall des Briefs – sieht man von äußerlichen Regularien wie für den Postverkehr geeigneten Kuvertformaten ab  – tendenziell größer. Nicht unbeschränkt sinnvoll für die Gegenüberstellung von Brief und literarischem Werk ist hingegen die Dichotomie zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, da jedes Schriftmedium, wie bereits Georg Simmel (vgl. 1992, 429) feststellte, potentiell öffentlich ist und in vielen Epochen der Briefgeschichte die Zirkulation privater Briefe selbstverständlich war.

2 Briefinterpretation und Briefgeschichte – zwei Probleme für die Literaturwissenschaft Vergleicht man den Umgang der Literaturwissenschaft mit der Textsorte ‚Brief‘ einerseits und mit den im engeren Sinne literarischen Gattungen  – stark vereinfacht: Lyrik, Epik und Dramatik  – andererseits genauer, so fällt auf doppelte Weise eine eklatante Diskrepanz auf: (1) Für die ‚klassischen‘ Gattungen besteht ein ausgereiftes literaturwissenschaftliches Analyseinstrumentarium, dessen Beherrschung für Studierende der Literaturwissenschaft eine unabding-

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bare Voraussetzung ist; dazu liegen etliche propädeutische Lehrbücher vor. Die Frage ‚Wie analysiert man eigentlich einen Brief?‘ wurde dagegen bislang nicht einmal von der literaturwissenschaftlichen Spezialforschung zum Brief intensiv und ernsthaft diskutiert. Gleiches gilt (2) für die Frage nach der Geschichte des Briefs bzw. nach dem Zusammenhang zwischen Brief und Literaturgeschichte. Auch wenn sich die germanistische Literaturwissenschaft in den letzten Jahren zunehmend mit der Textsorte Brief befasst hat, wurden literaturhistorisch genaue Beschreibungen des Genres bislang nur sehr selektiv – nämlich im Hinblick auf die viel beschworene ‚Blütezeit‘ des Briefs um 1800 – vorgenommen. Während die epochenspezifische Charakterisierung im engeren Sinne als literarisch geltender Gattungen  – ‚das klassische Drama‘, ‚die Novelle im 19.  Jahrhundert‘, ‚die Lyrik des Expressionismus‘, ‚der Roman der Moderne‘ etc. – wiederum zum literaturwissenschaftlichen Basiswissen gehört, ist der Zusammenhang zwischen Briefkultur und literaturhistorischen Epochen, selbst wenn es sich um Briefe von Literat*innen handelt, kaum erforscht. Das Grundproblem ist darin zu sehen, dass es sich hier um Texte handelt, die nicht allein literarischen Regeln folgen, sondern zwischen Gebrauchswert und Literarizität, Faktualität und Fiktionalität, Privatheit und Öffentlichkeit changieren. Das erschwert die literaturwissenschaftliche und -geschichtliche Beschäftigung – oder lässt sie gar nicht erst opportun erscheinen. Was den ersten Punkt, die Frage nach literaturwissenschaftlichen Methoden zur Analyse von Briefen, betrifft, so ist ein umfangreiches Arsenal an Aspekten wie Medialität, Textualität, Materialität, Sammel-, Archivierungs- und Editionsgeschichte, kommunikative Funktion, Dokumentcharakter, Inszenierungscharakter, Rhetorik, Stilistik und Narratologie zu berücksichtigen, ganz zu schweigen von der Notwendigkeit der Interdisziplinarität, insbesondere im Hinblick auf Fächer wie Geschichte, Kulturgeschichte, Kunstgeschichte, Philosophie, Soziologie und Gender Studies. Ferner gilt es, zwischen unterschiedlichen Formen – vom Gelehrtenbriefwechsel über die Freundschafts- und Geschäftskorrespondenz, den Offenen Brief, den Liebesbrief, den Abschiedsbrief bis hin zum Auswandererbrief, dem Feldpostbrief, dem Exilbrief etc.  – zu differenzieren, die jeweils anderen Konventionen gehorchen (oder von ihnen abweichen). Von entscheidender Bedeutung für die Interpretation ist darüber hinaus generell die Frage, welche Kontexte für die Analyse des Briefs als relevant angesehen werden. Es liegt auf der Hand, dass zunächst die konkrete Kommunikationssituation sowie die Gesamtkorrespondenz, deren Teil ein Einzelbrief zumeist ist, zur Deutung herangezogen werden müssen. Zu fragen ist jedoch, inwiefern darüber hinaus Brief-Vernetzungen, Werkzusammenhänge sowie historische und gesellschaftliche Kontexte von Belang und wie deren Spuren im jeweiligen Brief nachzuweisen sind. Die Frage nach der Kontextualisierung mündet in die Frage, inwiefern Briefe symptomati-

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sches Potential im Sinne einer Kulturdiagnostik besitzen können und wie eine entsprechende Untersuchung methodisch zu leisten wäre. Zweifellos handelt es sich bei Briefen um Momentaufnahmen, die – unter Berücksichtigung sämtlicher genannter Aspekte – Ansätze für die Analyse ihrer jeweiligen kulturhistorischen Situation bieten. Der Einzelbrief ist in diesem Sinne ein exemplarischer ‚Knoten‘ im diskursiven ‚Netz‘ seiner Entstehungszeit. Beinahe noch problematischer ist der zweite Punkt, das Problem der Geschichte des Briefs bzw. des Zusammenhangs zwischen Brief und Literaturgeschichte. In der Forschung herrschen hier teilweise auffallend grobe zeitliche Orientierungsmuster. So bemerken die Herausgeber*innen der Sammlung Deutsche Briefe Gert Mattenklott und Hannelore sowie Heinz Schlaffer, durch die Epistolographie des 18. Jahrhunderts sei der „persönliche Brief als die Schriftform des Gesprächs dauerhaft für zwei Jahrhunderte“ (1988, 10) geprägt worden. Analog heißt es im maßgeblichen Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: „Um 1750 hat sich der deutsche Brief in seiner modernen, heute prinzipiell noch gültigen Gestalt herausgebildet.“ (Golz 1997, 252) Epochenspezifische Monographien liegen entsprechend fast ausschließlich für diese epistolare ‚Blütezeit‘ zwischen 1750 und 1830, von der Empfindsamkeit bis zur Romantik vor. Die literaturhistorische Kartierung der Briefgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts blieb dagegen bislang weitgehend darauf beschränkt, das epistolare Œuvre, den Briefstil einzelner Autor*innen zu analysieren. Damit geht häufig die Einschätzung einher, die Kommunikationsform befinde sich seit der Zeit um 1800 im Niedergang; insbesondere für das 20. Jahrhundert wird aufgrund der Konkurrenz technischer Medien wie des Telefons eine Krise des Briefs attestiert. Die systematische Erforschung insbesondere der Briefkultur des 19. und 20. Jahrhunderts sowie die Frage nach ihrem genauen Zusammenhang mit der Literaturgeschichte stellen Desiderate dar. Der hermeneutische Zirkel, also der stetige Übergang von einem allgemeinen Vorwissen – z.  B. über eine Epoche – zur dadurch perspektivierten Betrachtung eines Einzelphänomens – etwa eines einzelnen Texts –, die wiederum zur Korrektur und Präzisierung des allgemeinen Wissens führt, ist im Fall des Briefs, sei es aus mangelnder Kenntnis der Einzeltexte, sei es aufgrund eines fehlenden souveränen Zugriffs, erheblich gestört. Der Ebenenwechsel von Einzelbefunden hin zu abstrakteren historiographischen Ordnungsmustern hat hier – sieht man eben von der Zeit um 1800 ab – kaum stattgefunden. Das hat damit zu tun, dass für den Brief – jedenfalls auch – andere rhetorischliterarische Traditions- und Entwicklungslinien gelten als für rein literarische Texte. Auf andere und vielleicht stärkere Weise als im rein literarischen Schreiben lässt sich im Fall des Briefs in der Frühen Neuzeit und darüber hinaus von einem Transformationsprozess seit der Antike überlieferter rhetorischer (auch: affektrhetorischer) Traditionen sprechen. Insbesondere der seit der Moderne herr-

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schende Imperativ der ständigen formalen Innovation gilt für den Brief nur sehr bedingt. Ähnliche Probleme gelten für literaturwissenschaftlich ebenfalls schwer zu fassende Genres wie das Tagebuch, aber auch für diskursive und publizistische Genres sowie sonstige Grenzformen wie den Essay, das Feuilleton, die Rede, den Reisebericht oder die Reportage, ferner für jenseits der großen Gattungstraditionen situierte literarische Kleinformen wie Anekdote oder Aphorismus sowie für den Bereich der Populärliteratur. Gerade die Beziehung zwischen dem Brief und diesen ‚kleinen‘, nicht-kanonisierten Gattungen ist bislang kaum erforscht. Allerdings stellt sich generell die Frage, ob es angesichts eines zunehmenden methodologischen Problembewusstseins gegenüber Epochenkonstruktionen und ‚großen‘ literaturgeschichtlichen Erzählungen überhaupt wünschenswert wäre, makrohistorische Schematisierungen vorzunehmen. Erstrebenswert ist aber zweifellos, dass die Analyse spezifischer brief-, literatur-, medien- und kulturgeschichtlicher Formationen in einem größeren Ausmaß vorgenommen wird, als dies bislang der Fall war.

3 Literaturwissenschaftliche Briefforschung von Georg Steinhausen (1889) bis Reinhard M. G. Nickisch (1991) Es ist bezeichnend für die germanistische Literaturwissenschaft, dass innerhalb der letzten Jahrzehnte nur eine einzige epistolarwissenschaftliche Monographie erschien, die den Charakter eines historischen und systematischen Überblicks besitzt, Reinhard M. G. Nickischs 1991 in der Reihe „Sammlung Metzler. Realien zur Literatur“ publizierte Einführung Brief. Ebenso indizierend ist, dass in diesem Standardwerk quantitativ bei weitem die Beschäftigung mit dem „Brief und briefliche[n] Formen in uneigentlicher Verwendung“ (Nickisch 1991, 93) überwiegt. Gemeint sind Briefe, die nicht für die persönliche Alltagskommunikation, sondern für die Publikation konzipiert sind, häufig mit fingierten Absender*innen, fingierten Adressat*innen und/oder fingierter Briefschreibsituation. Dazu zählt Nickisch den Offenen Brief ebenso wie ‚belehrende‘, ‚essayistische‘ sowie ‚publizistisch-kritische‘ Briefe und Brieffolgen, fingierte Briefe, Briefromane und epistolare Lyrik; er beschäftigt sich darüber hinaus sogar mit Briefen, die etwa in Romane und Dramen integriert sind. Dass diesen Formen mit 100 Seiten der umfangreichste Teil gewidmet ist, weist deutlich darauf hin, dass die Literaturwissenschaft publizierte und fiktionale Texte als Kerngebiet und sichereres Terrain ansieht. Das auf die „eigentliche Verwendung“ der Briefform,

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auf das umfangreiche Korpus an Briefen als Gebrauchsformen der persönlichen Kommunikation bezogene Kapitel zur „Geschichte des deutschen Briefes“ vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert umfasst dagegen nur gerade einmal 40 Seiten und betreibt über weite Strecken Namedropping; lediglich einige prominente Briefschreiber wie Martin Luther werden ausführlicher vorgestellt. Diese Gewichtung erfolgt keineswegs programmatisch, sondern spiegelt den Forschungsstand wider, denn, wie Nickisch selbst bemerkt: „An Interpretationen, die das historische Eingebettetsein und die ästhetischen Strukturen eines ‚literarischen‘ Briefes differenziert erschließen, fehlt es bislang auffälligerweise.“ (Nickisch 1991, 238) Überblickt man die Geschichte der literaturwissenschaftlichen Forschung insgesamt, so muss man von einer Geschichte der Marginalisierung des Briefs sprechen. Das ist umso bedauerlicher, wenn man sich die Fülle an Material und die Originalität der Ergebnisse vor Augen führt, durch die sich herausragende epistolographische Studien immer wieder auszeichnen. Das gilt – bei allen Vorbehalten – bereits für Georg Steinhausens 1889/91 in zwei Bänden erschienene Geschichte des deutschen Briefes, die den Zeitraum vom 14. bis zum 18. Jahrhundert umfasst. Steinhausen ist nicht nur bislang überhaupt der einzige Literaturwissenschaftler, der den Versuch einer solchen Historiographie unternommen hat; bemerkenswert ist auch, dass er eine Fülle an Briefen von höchst unterschiedlichen Verfasser*innen, von Dichter*innen über Handelsleute, Bürger*innen und Geistliche bis hin zu Regent*innen, heranzieht. Er widmet sich ferner nicht nur dem sprachlichen Stil und Briefformeln, ergänzt wird der Blick immer wieder durch Informationen zur Briefbeförderung und zur Materialität der Briefe bis hin zum Format des Briefpapiers. Damit liegt eine tatsächliche ‚Kulturgeschichte‘ und nicht eine ‚Literaturgeschichte‘ des Briefs vor. Die Kehrseite besteht in der nationalistischen Ausrichtung der Untersuchung, die Breite des Materials ist dadurch motiviert, dass es sich um einen Beitrag „zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes“ – so der Untertitel – handelt. Dem Verfasser geht es um „Völkerpsychologie“, um den deutschen „Volkscharakter“, das „geistige Leben des Volkes“ (Steinhausen 1889, IV), den „Stil eines Volkes“ (Steinhausen 1889, III). Folglich kritisiert er die an der französischen Kultur orientierte Etikette und Galanterie um 1700 scharf und konstatiert für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts „ein langsames Wiederfinden der eigenen Natur“ (Steinhausen 1891, 245; vgl. Deile 2008). Während sich Steinhausens Untersuchung trotz dieser für die Germanistik seiner Zeit leider typischen Tendenz durch großen Facettenreichtum auszeichnet, sind andere Untersuchungen durch ein noch stärker normatives Vorgehen geprägt, das zu einem extrem verzerrten Blick auf die Gattung führt. So verstärkt Otto Heuschele in seiner 1938 im nationalsozialistischen Deutschland publizierten Studie Der deutsche Brief. Wesen und Welt nicht allein die ideologische Stoßrichtung, er erhebt vielmehr zudem den persönlichen Brief, wie er ihn bei den Mystiker*innen

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des Mittelalters, bei Luther, Liselotte von der Pfalz und im 18. Jahrhundert vorfindet, zum Ideal. Dabei handelt es sich um eine in der germanistischen Forschung viel beschworene Traditionslinie, die sich zumeist auf Klischees wie den natür­ lichen, wahren und echten Ausdruck beruft. Ein gleichfalls an der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts orientiertes Paradigma der Briefforschung ist der Aspekt des Innerlich-Bekenntnishaften, das etwa noch Hans Herbert Ohms’ 1948 veröffentlichte „Studie über den Brief“ Die weiße Brücke prägt. Wirft man einen Blick auf das maßgebliche literaturwissenschaftliche Nachschlagewerk, das Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, so stellt die erste Auflage von 1925 die Marginalisierung der Gattung unter Beweis, indem ein Artikel ‚Brief‘ dort fehlt. In der zweiten Auflage von 1955 findet sich ein solcher Artikel. Er ist repräsentativ für zahlreiche Stereotype der Forschung. Luther wird als „der erste Klassiker des Briefs“ (Grenzmann 21958, 188) bezeichnet, es dominieren normative Setzungen und Verallgemeinerungen wie: „Alle Romantiker sind Br.schreiber aus Passion. Sie besitzen ein ursprüngliches Mitteilungsbedürfnis“ (Grenzmann 21958, 191). Die Geschichte der Gattung läuft teleologisch auf die „Entfaltung eines freien deutschen Br.stils“ (Grenzmann 21958, 188) im 18. Jahrhundert hin, während für die Zeit um 1700 mit nazistischem Vokabular noch die „Entartung der Höflichkeit“ (Grenzmann 21958, 188) festgestellt wird. Peinlich wirkt aus heutiger Sicht auch die Reproduktion bereits im 18. Jahrhundert gültiger geschlechterspezifischer Klischees, wenn etwa den briefschreibenden Frauen der Empfindsamkeit attestiert wird, dass sie sich „trotz ihrer gern zur Schau getragenen Teilnahme am literarischen Leben […] den Reiz der Natürlichkeit“ bewahren (Grenzmann 21958, 189). Die grundlegend neu erarbeitete Fassung unter dem Titel Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft von 1997 zeichnet sich durch eine erheblich größere Differenzierung aus, auch wenn nach wie vor der Brief des 18. Jahrhunderts verabsolutiert wird (vgl. Golz 1997). Seit den 1950er Jahren entstehen einige bemerkenswerte, wenn auch häufig biographisch ausgerichtete Studien zu den Briefen einzelner Schriftsteller. Allein zur Epistolographie Rainer Maria Rilkes entstehen innerhalb kurzer Zeit drei Dissertationen. Unter ihnen ragt die Untersuchung von Joachim W. Storck (1957) heraus, die etwa die Spannung zwischen dem monologischen und dialogischen Charakter der Briefe und den Zusammenhang zwischen epistolarer und literarischer Produktion thematisiert. Paul Raabe macht 1963 in seiner Untersuchung über Die Briefe Hölderlins individuell-psychologische, gesellschaftliche und literarische Faktoren geltend. In zahlreichen Einzelbeiträgen (gesammelt unter dem Titel Der Briefschreiber Goethe, 22015) hat Albrecht Schöne seit dem Ende der 1960er Jahre subtile philologische Untersuchungen zu Goethes Briefen vorgelegt. In den 1970er Jahren sorgen kommunikationstheoretische sowie text- und soziolinguistische Ansätze für innovative Impulse (vgl. Ermert 1979). Erwähnt

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werden sollte schließlich der Publikationstyp der Briefanthologien, die häufig kommentiert und mit fundierten Einleitungstexten versehen sind. Auch wenn sie die historiographische Forschung nicht ersetzen können und sie in ihrer Ausrichtung sehr unterschiedlich sind, besitzen Anthologien wie die von Theodor Klaiber und Otto Lyon (1901), Walter Benjamin (1936) sowie von Gert Mattenklott und Hannelore sowie Heinz Schlaffer (1988) durchaus Relevanz in brieftheoretischer und -geschichtlicher Hinsicht.

4 Aktuelle Tendenzen der literaturwissenschaft­ lichen Briefforschung Innerhalb der letzten drei Jahrzehnte zeichnete sich die literaturwissenschaftliche Briefforschung durch eine zunehmende Hinwendung zu theoretisch-systematischen Aspekten sowie durch ein steigendes methodologisches Reflexionsniveau aus. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund aktueller, mit dem Brief konkurrierender elektronischer Kommunikationsformen der Social Media galt das Interesse insbesondere der Materialität und Medialität von Briefen und den daraus resultierenden produktiven Potentialen. Zwei der wichtigsten Beiträge widmen sich dabei wiederum dem Brief der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und um 1800. Mit einem Abstand von nur zehn Jahren erschienen Karl Heinz Bohrers Studie Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität (1989) und Albrecht Koschorkes Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18.  Jahrhunderts (1999). Die beiden Untersuchungen zeichnen sich durch völlig verschiedene Herangehensweisen aus, beide stellen jedoch Meilensteine der Briefforschung dar. Bohrer weist an einigen ausgewählten Briefen Karoline von Günderodes, Clemens Brentanos und Heinrich von Kleists nach, dass in der Romantik auf emphatische Weise ein Zusammenhang zwischen Briefschreiben und Subjektivität besteht. In eindringlichen Analysen gelingt es ihm zu zeigen, wie durch die poetische Dichte der Brieftexte eine Form ästhetischer Subjektivität hergestellt wird, die außerhalb der Textualität nicht existiert. Entscheidend ist, dass es sich somit nicht „um die Reproduktion psychischer Fakten“ (Bohrer 1989, 217) handelt, sondern um die Herstellung „einer ästhetischen Identität“ (Bohrer 1989, 218). Die Briefe seien „als autonome Texte zu lesen, in denen das Ich sich gewissermaßen erst semantisch findet, erfindet.“ (Bohrer 1989, 13) Damit vollzieht Bohrer, wenn auch nur an einigen singulären Beispielen, eine radikale Aufwertung der Textsorte, die eben nicht auf eine passiv-reproduktive oder dokumentarische Funktion beschränkt ist, sondern poetisch-produktiven Charakter besitzt.

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Ein völlig anderes Vorgehen wählt Albrecht Koschorke in seiner methodologisch avancierten Habilitationsschrift. Dabei handelt es sich nicht um eine im engeren Sinne briefhistorische Untersuchung, das thematische Spektrum ist, wie bereits der dichotomische Titel Körperströme und Schriftverkehr signalisiert, äußerst breit, es reicht von emotionstheoretischen und anthropologischen bis hin zu semiotischen sowie medientheoretischen und -historischen Problemen. Die Epistolarkultur des 18.  Jahrhunderts nimmt in Koschorkes Argumentation jedoch einen zentralen Stellenwert ein. Ist für das persönliche Schriftmedium Brief die Absenz der Kommunikationspartner konstitutiv, so besteht ein enger kulturhistorischer Zusammenhang zwischen der im Zuge der fortschreitenden Literalisierung entstehenden Schrift- und Briefkultur und dem sich um die Mitte des 18.  Jahrhunderts herausbildenden bürgerlich-empfindsamen Wertesystem: Alle Schlüsselbegriffe der empfindsamen Periode – Tugend, Seelenfülle, Sympathie, Zärtlichkeit, Freundschaft –, die sich im Rahmen der neuen bürgerlichen Sozialität entwickeln, werden vorzugsweise in schriftlichen Verkehrsformen, sei es in gedruckter Literatur, sei es mit den Mitteln von Briefwechsel und schriftlicher Introspektion, symbolisch erprobt. (Koschorke 1999, 196)

An die Stelle empirischer Präsenz trete zunehmend die Zeichentätigkeit (vgl. Koschorke 1999, 251). Distanz werde dabei gerade als „glückhafte Anspannung der Empfindungskräfte und insofern als identitätssteigernd erfahren. Sie führt zu einem erhöhten Pegel an imaginativer und semantischer Aktivität.“ (Koschorke 1999, 251) Damit sind die Briefkultur oder der Brief abermals eben nicht bloßer Ausdruck oder Dokument eines sozial- und emotionsgeschichtlichen Wandels, genau umgekehrt bringen vielmehr jene diesen hervor: Die Schrift ist dabei keineswegs nur Träger von Inhalten und als Medium neutral; sie unterhält eine enge Komplizenschaft mit der Ideologie von Tugend/Entkörperung/Seele, für die sie das Forum bietet. Allgemeiner ausgedrückt: Schriftlichkeit ist ein kommunikationstechnisches Korrelat des diskursiven Phänomens ‚Seele‘. (Koschorke 1999, 196)

Oder noch prägnanter ausgedrückt: „Individualisierung und Medialisierung sind dasselbe.“ (Koschorke 1999, 265) Damit werden Schriftmedien und insbesondere der Brief zur kulturgeschichtlich entscheidenden Instanz schlechthin. Das 18.  Jahrhundert gilt in der Briefforschung der letzten drei Jahrzehnte somit nicht mehr nur, wie in der älteren Forschung, als ‚Blütezeit des Briefs‘, vielmehr wird systematisch der Zusammenhang zwischen Medium und Subjektivität herausgearbeitet. In diesem Zusammenhang wird nun auch das Ideal der Natürlichkeit als diskursiv und medial hervorgebrachtes Konstrukt dekonstruiert. Darauf verweist bereits etwa der Titel von Annette C. Antons Dissertation Authen-

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tizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert (1995). In der kaum noch überschaubaren Forschung zum Brief dieser Zeitspanne – von Luise Gottsched, Anna Luise Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim bis Heinrich von Kleist – ist man sich nunmehr weitgehend einig, dass es im Brief um sprachliche Selbstdarstellung und literale Inszenierung geht, auch wenn nicht alle Untersuchungen die medientheoretische Reflektiertheit und Radikalität Koschorkes aufweisen (vgl. Vellusig 2000; Reinlein 2003). Von entscheidender Bedeutung ist das Forschungsparadigma der spezifisch epistolaren Konstruktion von Rollen und Selbstbildern für gendertheoretisch orientierte Untersuchungen, die auf vielfältige Weise zeigen, wie für Frauen Korrespondenzen „oft die einzige Chance [waren], sich als Person überhaupt erst zu erschaffen.“ (Mattenklott 1985, 125) Seit den 1980er Jahren wird die weib­ liche Epistolarkultur so zu einem wichtigen Forschungsschwerpunkt, in dessen Rahmen nach dem emanzipatorischen Potential des Briefs als Artikulationsmittel für das bis mindestens ins 19. Jahrhundert vom öffentlich-literarischen Diskurs ausgeschlossene weibliche Geschlecht gefragt wird (vgl. Becker-Cantarino 1985; Runge 1991; Daley 1998). Die methodologischen Fortschritte in der Briefforschung führten dazu, weitere systematische Aspekte zu erschließen, so etwa die Inszenierung von Autorschaft in Briefen (vgl. Strobel 2006), die epistolare Arbeit am eigenen Nachruhm (vgl. Schöttker 2008). Nicht nur für den Brief der Frühen Neuzeit sind affektrhetorische Implikationen oder allgemeiner: emotionstheoretische Fragen wichtig (vgl. dazu Ansätze bei Fürholzer und Mevissen 2017). Auch einzelne Briefgenres gerieten auf neue Weise in den Blick, so etwa der Abschiedsbrief, dem sich Marie Isabel Matthews-Schlinzigs komparatistische Studie zum 18. Jahrhundert (2012) sowie ein Sammelband zur Bedeutung und Funktion von die Kommunikation beendenden ‚letzten Briefen‘ (vgl. Beise 2015) widmen. Im Bereich der Liebesbriefforschung nehmen die Beiträge von Renate Stauf und ihrer Forschergruppe (2008, 2013) eine profilierte Stellung ein; sie analysieren, wiederum den ästhetisch-kommunikativen Eigenwert von Briefen betonend, die diskursive Modellierung von Liebeskonzepten als Experimentierfeld moderner Subjektivität. Die weit über das ästhetisch Artefakthafte hinausgehende Bedeutung des Briefs in seiner Materialität und als lebensweltlich-kommunikatives Ereignis dokumentierte auf spektakuläre Weise die Frankfurter Ausstellung Der Brief – Ereignis & Objekt (vgl. Bohnenkamp und Wiethölter 2008). Die Vielfalt an Forschungsansätzen provoziert schließlich grundsätzliche Fragen wie Was ist ein Brief? (vgl. Matthews-Schlinzig und Socha 2018) oder: Wie interpretiert und kontextualisiert man einen Brief (vgl. Schuster und Strobel 2013). Demgegenüber nimmt die historische Spannbreite der Briefforschung nur zögerlich zu. Den innovativen Studien zum 18.  Jahrhundert und zur Zeit um

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

1800 vergleichbar, fragt Jörg Schuster (2014) in einer der – neben Anne Overlack (1993) und Vincent Kaufmann (1994) – ersten umfassenderen Untersuchungen zur Briefkultur um 1900 und im frühen 20.  Jahrhundert nach den produktivpoetischen Potentialen von Briefen. Anhand von Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke zeigt er, dass es in diesem Zeitraum nicht mehr, wie ein gutes Jahrhundert zuvor, um die Konstruktion und Inszenierung von Subjektivität, jedoch ebenso wenig um die in der literaturwissenschaftlichen Forschung viel beschworene Krise des modernen Subjekts geht. Vielmehr stellen Briefe mit ihren Strategien der Herstellung von Nähe und Distanz im Kontext der Moderne, dem Jugendstil in der Gebrauchskunst ähnlich, epistolare Interieurs, textuelle Kokons, ästhetische Schutzräume dar, in die sich die Schreiber*innen verweben und in denen sie zugleich aufgehen. Weitere in briefhistorischer Hinsicht  – über das von der Forschung privilegierte 18.  Jahrhundert hinaus  – relevante und innovative Publikationen widmen sich etwa Philipp Melanchthon in der Briefkultur des 16.  Jahrhunderts (vgl. Dall’Asta et al. 2015), Körperpraktiken in den Briefen Liselottes von der Pfalz (vgl. Böth 2015), dem Jean Paul-Kreis (vgl. Paulus 2013), dem Vormärz (vgl. Füllner 2001) sowie generell dem 19. Jahrhundert (vgl. Baasner 1999) sowie der Zeit zwischen 1918 und 1939 (vgl. Becker 2018). Dennoch sind große Desiderate im Bereich der literaturwissenschaftlichen Briefgeschichtsschreibung festzustellen. Insbesondere für das 19. und 20.  Jahrhundert liegen bislang kaum Studien zur Briefkultur im jeweiligen literatur- und kulturgeschichtlichen Kontext vor. Ein fast völliger Mangel herrscht an komparatistischen Studien.

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1.1 Literaturwissenschaft (Neuere deutsche Literatur) 

 17

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18 

 1 Der Brief als Forschungsfeld

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Britt-Marie Schuster

1.2 Linguistik 1 Einleitung Die Untersuchung von Briefen ist in der Linguistik in folgenden Disziplinen verankert: in der Textlinguistik (vgl. 1.) und in der Soziolinguistik (vgl. 2.). Grundsätzlich erfolgt die textlinguistische Beschreibung der Kommunikationsform ‚Brief‘ in ihren unterschiedlichen Ausprägungen („Briefsorten“, vgl. Ermert 1979) korpusbasiert, hat authentische Briefe zum Gegenstand und kann synchron oder diachron ausgerichtet sein. Briefe sind in einer text- und auch soziolinguistischen Sichtweise nicht als bloßes Anschauungsmaterial für sprachliche Phänomene interessant, sondern als spezifische Ausprägungen des Kommunizierens. Da die Sprachverwendung wesentliches Element des Kommunizierens ist und da Kommunizieren die Existenz von Konventionen voraussetzt, bildet die Ermittlung von historisch variablen Sprachgebrauchsmustern und damit verbundenen Konventionen ein zentrales Anliegen einer Linguistik des Briefs (vgl. Ermert 1979, 174–176). Regelmäßigkeiten im Sprachgebrauch wiederum, die von Mustern des Textaufbaus über grammatische Muster bis zu Formulierungsmustern für briefkonstitutive Handlungen (etwa Briefbeginn/-ende) reichen, geben Aufschluss über zeit- und kulturbedingte ‚Kommunikationsgepflogenheiten‘, die sich ebenso an öffentlichen Briefen wie an institutionellen Briefen oder Privatbriefen zeigen lassen. Sie entstehen durch die Praxis des Briefschreibens und werden durch sie bestätigt, reflektieren die kommunikative Kompetenz der Textproduzent*innen sowie den Erwartungshorizont der Textrezipient*innen (vgl. Artmann 1996, 184) und schlagen sich in sprachreflexiven Quellen wie Briefstellern nieder. Weil Kommunizieren und somit auch das Kommunizieren mittels Briefen nicht nur ein zentrales Instrument zwischenmenschlicher Kooperation und Ko-Orientierung ist, sondern auch zur Ausbildung von Identität, zur Gestaltung von sozialen Beziehungen sowie zur Wirklichkeitskonstitution beiträgt (vgl. Keller et al. 2013, 9–24), eröffnet die Ermittlung von Briefmustern sowohl einen Zugang zum Wandel zentraler kommunikativer Aufgaben, die mit dieser Kommunikationsform verbunden sind, als auch zum Wandel von Identitätskonzepten, Beziehungsentwürfen und schließlich auch zu dem, was gemäß der Diskurse einer Zeit als ‚wirklich‘ und sagbar gilt. Die von Baasner (1999, 13) angenommene, „bis ins Detail entwickelte Konventionalisierung“ von Briefen, jedoch auch die immer vorhandenen Variationsmöglichkeiten sind in der Sprachwissenschaft synchron und diachron thematisiert worden. Neben der Charakterisierung der Kommunikationsform ‚Brief‘ (vgl. 1.1), neben der Bestimmung von sprachlich-kommunikativen Ebenen, mit denen sich https://doi.org/10.1515/9783110376531-002

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

Briefsorten unterscheiden lassen (vgl. 1.2), und neben der Ermittlung von charakteristischen Gegenständen, Identitäts- und Beziehungsmodellen, die mit Briefsorten verbunden sind, ist ein weiteres Anliegen der ‚Brieflinguistik‘, die Vorstellung homogener Sprachverwendung („the myth of the homogeneous language“, vgl. Watts 2015, 2) zugunsten des Ausweises von heterogenen Realisierungsvarianten zu nivellieren. In der Soziolinguistik, in der v.  a. historische Briefe seit dem Spätmittelalter untersucht worden sind, werden diastratische, d.  h. schicht-, gender-, generations- oder milieubedingte Realisierungsvarianten von Briefen thematisiert (vgl. 2.). Vor der endgültigen Standardisierung der deutschen Schriftsprache, die nach neueren Auffassungen erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts angesetzt werden kann, gibt die Beibehaltung von Basisdialekten bzw. der regionalen Schriftsprache oft Auskunft über das soziale Milieu (vgl. 2.1). Die insbesondere vom Bildungsbürgertum getragene Sprachkultivierung zeigt sich nicht nur an der Vermeidung des Dialektalen, sondern auch an der Pflege eines sozialdistinktiven brieflichen Konversationsstils (vgl. 2.2).

2 Briefe in der Textpragmatik 2.1 Der Brief als Kommunikationsform Ehlich (2014, 15–18) zeigt anhand der Etymologie unterschiedlicher Briefbezeichnungen in ausgewählten europäischen Sprachen, dass mit diesen unterschiedliche Gesichtspunkte von Briefen und des Briefeschreibens konzeptualisiert würden. Das engl. letter verweise etwa auf den Aspekt der Schriftlichkeit von Briefen, während der deutsche Ausdruck Brief auf das lat. brevis/breve (‚kurz‘) zurückgehe, das span. carta wiederum auf das Trägermedium und das griechische epistolé auf den Akt des Zusendens. Der Brief ist ein Schriftstück in einer bestimmten Materialität und Ausformung, das an eine andere Person bzw. Personengruppe gerichtet wird. Ein zentraler Aspekt von Briefen ist ihre mediale Schriftlichkeit, für die nach Ehlich eine „zerdehnte Sprechstituation“ (2014, 19) charakteristisch sei und die in der Schriftlinguistik mit solchen Parametern wie der nicht vorhandenen Kopräsenz der Kommunizierenden, ihrer mangelnden Einbindung in einen gemeinsamen Wahrnehmungs- und Handlungsraum, der Unmöglichkeit von Sprecherwechseln und unterstützenden sprachlichen Handlungen verbunden wird. Für Briefe sind nun bestimmte Lösungen des Problems der „zerdehnten Sprechstituation“ charakteristisch. Um einen Brief zu einem Brief zu machen, sind nur wenige Kennzeichen notwendig: Weder gibt es thematische Vorgaben

1.2 Linguistik 

 21

noch gibt es eine klare Präferenz für bestimmte Handlungsmuster, noch ist ein besonderer Stil obligatorisch. Für Briefe – vor aller sortenspezifischen Differenzierung  – ist hingegen charakteristisch, dass eine Authentifizierung des Textproduzenten durch die Angabe eines Absenders bzw. einer Absenderin auf dem Briefumschlag und am Briefschluss erfolgt, was als Ersatz für den „Verlust der kommunikativen Vergewisserung, die in der Kopräsenz von Sprecher und Hörer innerhalb der unmittelbaren Sprechsituation begleitend zur Kommunikation permanent gegeben ist“ (Ehlich 2014, 24), zu deuten ist. Ebenso unumgänglich sind das Identifizieren des Adressaten bzw. der Adressatin mittels der Briefadresse und einer Grußformel am Beginn des Briefs sowie sprachliche Verfahren zur Aufhebung der raum-zeitlichen Distanz, wozu vor allem Angaben über den Aufenthaltsort und die Kennzeichnung des Datums beitragen. Zentrales Verfahren, um eine Verschiebung der ursprünglichen Sprecher-Origo zu gewährleisten, ist die Meidung entsprechender Temporal- oder Lokaldeiktika (jetzt, hier), was generell von einer „stärkere[n] Reflexion über die Intention und Funktion der Äußerung, über die generelle und aktuelle Situation des Empfängers“ (Ermert 1979, 55) zeuge. Zudem muss der Produzent bzw. die Produzentin der spezifischen gemeinsamen Kommunikations- und Korrespondenzgeschichte sowie der jeweiligen mentalen Disposition Rechnung tragen, was ebenso zu kommunikativen Freiheiten wie zu kommunikativen Obligationen führen kann (vgl. Baasner 1999, 19–22). Das Anreden, Grüßen oder Verabschieden bilden ähnlich wie die Phasen der Gesprächseröffnung und -beendigung einen Rahmen, durch den soziale Beziehungen hergestellt und kalibriert werden. Dass die Kalibrierung sozialer Beziehungen einen großen Stellenwert besitzt, kann an dem über Jahrhunderte tradierten und nicht nur im offiziellen Schreiben wirksamen System der verbalen und non-verbalen Formen der Ehrerbietung (vgl. Ehlers 2004, 1–31) gesehen werden. Bei der Beziehungsgestaltung ist die „zerdehnte[n] Sprechsituation“ auch in diesem Sinne zu berücksichtigen, dass sprachliche Phänomene, die mit Mündlichkeit oder mit einer Mündlichkeit assoziierenden Expressivität und Informalität in Zusammenhang stehen – etwa Interjektionen –, in einen Kontext eingebettet sind und allein durch den Transfer ins Schriftmedium einen durch Konventionen überformten ‚Zitatcharakter‘ erhalten.

2.2 Brieftextsorten und ihre Bestandteile 2.2.1 Textfunktionen und ihre Erfassung Auch in der einflussreichen Untersuchung von Ermert (1979) werden Briefe nicht als Textsorten, sondern als eine Kommunikationsform begriffen, die sich in viele

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

Briefsorten, reichend vom Liebesbrief zum Geschäftsbrief, ausdifferenzieren kann. Diese begrenzen die mit der Kommunikationsform prinzipiell gegebene Kreativität und führen zu musterhaften Orientierungen, die ebenso Textproduktion wie -rezeption steuern. Ermert (1979, 66–110) beschreibt Briefsorten folgendermaßen: Briefsorten werden konstituiert (a) durch die Zugehörigkeit zur Kommunikationsform ‚Brief‘, (b) durch die Intention des Briefschreibers, die in ihnen realisiert wird […], (c) durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Handlungsbereichen (die durch den jeweiligen Status und die soziale Rolle der Kommunikationspartner bezüglich der jeweiligen kommunikativen Handlung und den Status der jeweiligen kommunikativen Handlung definiert werden), (d)  durch je spezifische textinterne Strukturen und (e) durch die äußeren Formalien. (Ermert 1979, 67)

Die Handlungsdimension wird nicht nur durch die dominanten Intentionen  – Kontaktintention, Darstellungsintention, Wertungsintention und Aufforderungsintention –, sondern auch durch den Handlungsbereich (privat vs. offiziell), den Partnerbezug (symmetrisch vs. asymmetrisch) und durch eine monologische oder dialogische Handlungsrealisierung bestimmt. Neben der thematischen sollen noch situationale Dimension wie die Bekanntheit der Kommunikationspartner*innen und deren ‚Beschaffenheit‘ (eine, mehrere Personen oder eine Organisation) relevant sein. Unter der sprachlich-strukturellen Dimension werden grammatische Vertextungsmuster und Illokutionsindikatoren für zentrale Textfunktionen genannt, etwa das Vorliegen von Imperativformen, von explizit performativen Verben (ich fordere Sie hiermit auf), Infinitiven mit sein oder haben (ist auszuführen) oder usualisierte Aussagesatzformen, v.  a. mit Modalverben (sollte möglich sein), für den Ausdruck der Aufforderungsintention. Die Betrachtung des Briefs ist schon früh mehrdimensional und integrativ angelegt, da die sprachlich-strukturelle Dimension nicht unabhängig von den anderen Dimensionen eines Briefs betrachtet wird. In der aktuellen Textlinguistik wird darüber hinaus der Materialität/dem Textdesign, das auch multimodale Elemente umfassen kann (vgl. Wyss 2012, 317–340), und intertextuellen Bezügen von brieflichen Korrespondenzen und sogenannten Textsortennetzen ein größerer Stellenwert, besonders bei der Modellierung des Textsortenwandels, eingeräumt (vgl. Bazermann 2000, 15–29). Nach Ehlers (2004, 1–31) zeigt sich die Musterhaftigkeit von Briefen an der Briefgestaltung bzw. an der räumlichen Organisation von Briefbestandteilen, an einem spezifischen, sozial geteilten „Raumverhalten auf Papier“, das er auf der Basis von Anweisungen von Briefstellern aus dem 19. und 20. Jahrhundert nachvollzieht. Dieses Raumverhalten verdanke sich wesentlich einer Respektsemiotik, die sich an dem Abstand zwischen linkem Bogenrand und Brieftext ebenso zeige wie etwa an der Nutzung des oberen und unteren Briefrands, an dem Abstand zwischen der Anrede und dem Anfang des

1.2 Linguistik 

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Briefs oder an der Position der Selbstbezeichnung und an der Position von Ort, Datum und Absender*in (vgl. Ehlers 2004, 7–13). Zur Respektsemiotik gehörten darüber hinaus die Wahl des Papierformats, des Kuverts und der Großschreibung als Zeichen der Ehrerbietung (vgl. Ehlers 2004, 20). Ein besonderer Schwerpunkt der textlinguistischen Beschäftigung mit dem Brief liegt jedoch in der Herausarbeitung der mit unterschiedlichen Briefsorten verbundenen Textfunktionen (bzw. kommunikativen Aufgaben, s.  u.). Besteht eine enge Verzahnung zwischen der Textfunktion und dem Brief, ist dies zumeist ein deutlicher Indikator für eine Routinisierung. Diese zeigt sich insbesondere an Formulierungsmustern, mit denen zentrale sprachliche Handlungen (etwa DANKEN, ENTSCHULDIGEN) vollzogen werden. In neueren textlinguistischen Ansätzen erschöpft sich die Beschreibung der Handlungsdimensionen jedoch nicht mehr nur an der Ermittlung von Textfunktionen und dem Nachweis von sprachlichen Indizien oder kontextuellen Kriterien, um diese auszuweisen. In Anlehnung an das wissenssoziologische Konzept der „kommunikativen Gattung“ (Luckmann 1986, 191–211) sind ‚Sorten‘ vielmehr Indikatoren für die Lösung kommunikativer Aufgaben, die sich wiederum aus unterschiedlichen, teils obligatorischen, teils fakultativen Teilaufgaben zusammensetzen können. Mit dem zunehmenden Einfluss der Kommunikationsanalyse auf die Texttheorie werden auch Dimensionen, die zuvor als extern gedacht wurden, so etwa der Produzent und Rezipient, anders betrachtet: Der Text – und mithin der Brief – dient nicht nur einer Bestätigung einer vorgängig gedachten Identität, sondern diese wird durch den Akt des Kommunizierens, auch unter den Bedingungen der ‚Zerdehnung‘ immer wieder neu hergestellt. Textanalytische Arbeiten aus den letzten 25  Jahren insbesondere zu halboffiziellen Briefen zeigen nun, dass sich Verfasser*innen von Briefen gemäß der eigenen sozialen Rolle und der Rolle des Empfängers bzw. der Empfängerin verhalten, was nicht allein an Anreden, Gruß- und Abschiedsformeln und den damit verbundenen Höflichkeitsstandards, sondern auch an der Abfolge von sprachlichen Handlungen deutlich wird, die mit Anlass und Zweck des Briefs verbunden werden. Diese Untersuchungen stellen sozial geteilte kommunikative Anforderungen und kommunikative Prinzipien und Normen, jedoch auch Wertehorizonte einer bestimmten Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt dar. In Entschuldigungsschreiben sind so nicht nur sprachliche Indikatoren wie etwa Sprechaktverben (Ich entschuldige mich) wie dominantes Handeln zu finden, sondern zu ihrer Beschreibung gehört notwendig auch, welche Teilhandlungen darüber hinaus zu erwarten sind, etwa die Feststellung eines Tatbestandes und dessen Begründung (vgl. Weidacher 2012, 51–80). Dass rekurrente Aufgaben zu Musterlösungen führen, ist eindrucksvoll in einer Studie nachgewiesen worden, bei der 190 Zuschriften auf eine Chiffre-Wohnungsanzeige ausgewertet wurden (vgl. Reindl

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

1994, 111–193). Die als halboffiziell einzustufende Kommunikationssituation führt nicht nur zu einer bestimmten Wahl des Briefblattes (weißes, einseitig beschriebenes DIN-A4-Papier, hauptsächlich handschriftlich), sondern auch zu einer ähnlichen Anrede (Sehr geehrte Damen und Herren), einer ähnlichen Gliederung des Hauptteils mit einem sehr ähnlichen Beginn (ich interessiere mich, mit großem Interesse habe ich gelesen, hat unser Interesse geweckt o.  ä.), wobei der Hauptteil dann einen Selbstdarstellungsteil und einen Teil mit zumeist verwandten Argumentationstopoi enthält. Zum Abschluss wird zumeist die Grußformel Mit freundlichen Grüßen gewählt. Der Nachweis, dass unterschiedliche Briefsorten mit obligatorischen Teilaufgaben verbunden sind, zeigt sich selbst für eine randständige Briefsorte wie das Erpresserschreiben (vgl. Artmann 1996, 119–126). Die jeweils ähnlichen Formulierungsmuster können sich auch durch politische Vorgaben und eine spezifische „Ordnung des Diskurses“ (Fix 2014, 61–83) erklären. Der Leserbrief in der DDR ist in diesem Fall nicht ein Medium der Meinungskundgabe, sondern hat die operative Funktion, Verhalten im Sinne des politischen Systems zu bestätigen und führt deshalb zu stereotypen Realisierungen. Wie sich etwa an Stellungnahmen zur Ausbürgerung Biermanns zeige, folgten Leserbriefe stets dem Muster Verurteilen (Biermann), Mahnen („uns alle“), Zustimmen (dem Staat), Werten (den Staat positiv, Biermann negativ) und Loben (des Staates), mit den Mitteln der Integration („unser Staat“) und der Abgrenzung („dieser Biermann“) (vgl. Fix 1993, 43). Briefe, die in besonderen, oft lebensbedrohlichen Situationen geschrieben worden sind, wie sie aus Kriegen oder Gefängnisaufenthalten vorliegen, spiegeln, anders als man vermuten könnte, nicht oder kaum die momentane Befindlichkeit eines Individuums wider. Wie Schuster (2014, 199– 217) am Beispiel von Abschiedsbriefen von Verfolgten des Nazi-Regimes gezeigt hat, ähneln sich deren Abschiedsbriefe stark, unabhängig davon, aus welchen Motiven der Widerstand geleistet worden ist, und auch unabhängig davon, welcher sozialen Schicht die Häftlinge entstammen. So enthalten die Abschiedsbriefe nicht nur die Handlung des Verabschiedens, sondern bestehen aus den Teilhandlungen wie „Mitteilung des endgültigen Kommunikationsabbruchs“, „Mitteilung des eigenen Befindens“ und „Steuern des zukünftigen Verhaltens“. Dabei ist auffällig, dass kaum Angst vor dem Tod thematisiert wird, sondern dass die Verfasser*innen sich bemühen, den ihnen zugefügten Demütigungen stark zu begegnen, vorherige Selbstbilder zu bestätigen und insofern biographische Kohärenz zu wahren. Auch die in der Linguistik häufiger thematisierten Feldpostbriefe (vgl. u.  a. Schikorsky 1992, 295–314; Diekmannshenke 2011, 47–60), die unter den Bedingungen der Zensur verfasst worden sind, geben zumeist wenig Einblick in die Empfindungen einzelner Soldaten, sondern zeigen rekurrente sprachliche Strategien, so das „Verschweigen“ bei starker psychosozialer Belastung, die „Verharmlosung“, die „Poetisierung“, die „Phraseologisierung“ und

1.2 Linguistik 

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die „Imagepflege“ (Schikorsky 1992, 302–311). Gemeinsamkeiten sowohl mit den Abschiedsbriefen als auch mit den Feldpostbriefen weisen, wie Berner (2006b, 221–234) zeigt, ebenfalls Briefe auf, die im Nationalsozialismus in Konzentra­ tionslagern, Zuchthäusern und Gefängnissen geschrieben worden sind. Auch sie unterliegen der Zensur, sind insofern thematisch begrenzt und reflektieren die Zustände etwa im Lager nur andeutungsweise, auch sie gehen zurückhaltend mit Klagen um und versuchen, auch unter unerträglichen Bedingungen Optimismus und Humor zu wahren, was Berner (2006b, 233) als Versuch wertet, sich den Integrationsmechanismen des NS zu entziehen. Ohne dass dies in den genannten Untersuchungen verfolgt wird, lässt sich aus den linguistischen Briefanalysen herauslesen, dass die Konzeptualisierung der sozialen Rolle zentral ist und die verbale Durchführung der einzelnen Teilhandlungen durchdringt. Ferner lassen sich Indizien dafür finden, dass auch die Darstellung des Selbst im Brief vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Lebens- und Kommunikationsgeschichte erfolgt und insofern der innere Kompass auch an den Erwartungen des Empfängers bzw. der Empfängerin ausgerichtet ist, die selbst wieder durch eine bestimmte Zeit, Gesellschaft, Kultur bzw. soziale Netzwerke geformt sind. So ist etwa die „Rhetorik des Briefschreibens“ (Kötter 1994, 194) in studentischen Kreisen informell (Tschüß, bis dann, denn man tau) und variabel und steht unter einem Kreativitätsgebot. Auch die Liebeskommunikation als solche zeigt besondere Muster: Nicht nur lässt sich ein Liebesbrief an besonderen Handlungen wie „Liebesbekenntnis“ und „Liebeserklärung“ (Wyss 2002, 66–86) identifizieren, sondern die Abfolge damit verbundener Handlungen ist auch oft typisch, wobei sich vor der Folie des Typischen das Individuelle entfalten kann.

2.2.2 Briefbeginn und Briefabschluss als zentrale Textbausteine Briefbeginn und -abschluss sind zentrale Bausteine der Kommunikationsform ‚Brief‘ und wurden in der Linguistik v.  a. historisch in Hinsicht auf ihre Variabilität und ihre Veränderung verfolgt. In der (historischen) Sprachwissenschaft lassen sich drei dominante Forschungsperspektiven ausmachen: (a) Wiederholt wurden v.  a. offizielle, seltener private Schreiben daraufhin untersucht, inwieweit authentische Briefe die Vorgaben historischer Brief- und Titulaturlehren befolgen. (b) In der jüngeren Sprachgeschichte vom 18. Jahrhundert an erweitert sich das Interesse an Textbeginn und -ende dahingehend, dass nach dem Einfluss gewandelter gesellschaftspolitischer und soziokultureller Orientierungen gefragt wird. Schließlich befassen sich (c) Einzelstudien damit, inwiefern sich an Anreden, Namengebung und Grußformeln – nun vorrangig am Beispiel von Privatkorrespondenzen – Formen eines zeit- und kulturgebundenen Genderdisplays zeigen

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

lassen. Während mit dem Befolgen von Mustervorgaben in offiziellen Briefen die Symmetrie oder Asymmetrie sozialer Rollen zumeist bestätigt wird, werden durch Anreden in privaten Briefen sowohl die jeweiligen Beziehungen kontextualisiert als auch kulturelle Identitätsangebote sichtbar gemacht. Komplementäre Identitätszuschreibungen greifen hier wie dort. Ad (a) In sprachhistorischen Studien konnte wiederholt nachgewiesen werden, dass insbesondere frühneuzeitliche Briefe auf der Folie der frühneuzeitlichen Briefrhetorik zu verstehen sind. Die sprachliche Ausformung von salutatio, captatio benevolentiae und peroratio/conclusio richtet sich in der Regel nach Mustervorgaben, was auch Titulaturen einschließt. Wie Just (2015, 341–366) an der Korrespondenz aus dem Liegnitzer Fürstenhaus (16. und 17. Jahrhundert) unter dem Gesichtspunkt der Konstanz und Varianz ihres Formelrepertoires gezeigt hat, schließt gerade der Briefbeginn Möglichkeiten zur Variation von Formeln, etwa von Grüßen und Ehrerbietungen, ein (etwa Varianten der Grußformel Unsere Gnade und alles Gute zuvor, vgl. Just 2015, 354). Grundsätzlich zeigen auch andere Studien, dass professionelle Schreiber das Repertoire von Formeln verwenden, das die frühneuzeitliche ständische Ordnung bestätigt (vgl. Wiesinger 2004b, 5–24). Rössler (2007, 65–90) zeigt zudem am Beispiel von österreichischen Adeligenbriefen des 16. und 17. Jahrhunderts, dass sich im 16. Jahrhundert die Position der salutatio allmählich vom Resttext absetzte und die Datumsangabe zunehmend durch Zeilenwechsel gekennzeichnet und beides dadurch markiert wurde: „Die Makrostrukturen, die die epistolographische Tradition für den Haupttext noch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts einfordert, kommen zwar in den meisten Briefen vor, sie werden aber von den Autoren nicht markiert, sondern müssen aus dem Inhalt erschlossen werden.“ (Rössler 2007, 84) Die Orientierung an Formeln, die sich bereits im Spätmittelalter an Kaufmannsbriefen zeigen lässt (vgl. Tophinke 1996, 101–116), wird nicht nur an offiziellen Schreiben deutlich, sondern auch an privaten Korrespondenzen, wie ein Schreiben Luthers an seine Frau beispielhaft zeigen kann: „Meinem freundlichen lieben Herrn Katharina Lutherin, Doctorin, Predigerin zu Wittenberg“ (29.7.1534; Luther 1933, 398). Insgesamt darf nach den bisher vorliegenden Ergebnissen für die Frühe Neuzeit verallgemeinert werden, dass auch im Bereich von familiären Beziehungen „der Stil der Briefe von großem gegenseitigen Respekt getragen ist“ (Wiesinger 2004b, 7), so dass offiziöse Anreden wie „wolgeporner herr fraintlicher“ mit der intimen, Verbundenheit ausdrückenden Anrede „mein herz aller liebster herr“ verbunden werden können (vgl. Wiesinger 2004b, 9). Ad (b) Briefkonstitutive sprachliche Handlungen zeichnen sich nicht nur durch Musterhaftigkeit und Mustervariation aus, sondern sie geben auch Einblick in neue kulturelle Wertorientierungen. So eröffnet die Studie von Schröter (2016) auf der Basis von 910 Privat-und Geschäftsbriefen einen detaillierten Einblick in

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den sprachlichen Wandel von Briefschlüssen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Briefschlüsse setzen sich ihres Erachtens aus einer „Höflichkeitsäußerung“ und einer „Urheberidentifikation“ zusammen, wobei von Grußformeln im engeren Sinne v.  a. bei Formeln wie „mit freundlichen Grüßen“ die Rede sein soll (Schröter 2016, 235). Schröter weist für die Zeitspanne vom 18. bis zum 19. Jahrhundert einen Wandel von Höflichkeitsprinzipien nach, wonach eine alte Höflichkeitssemantik der Dienstbarkeit (etwa „Mit der vorzüglichsten Hochachtung Ew. Hochwohlgebornen ganz ergebenster Diener“, 1830, zit. nach Schröter 2016, 252), die seit dem 14. Jahrhundert im deutschen Sprachraum vertreten ist, durch eine sich lange haltende Semantik der Achtung, sichtbar an Morphemen wie acht-, ehr- oder schätz(etwa hochachtungsvoll, verehrt oder geschätzt), abgelöst werde. Schließlich sei dann eine Höflichkeitssemantik der Zuneigung, für die Formulierungen bzw. Morpheme mit herz- oder freund- (vgl. Schröter 2016, 282) charakteristisch seien, an deren Stelle getreten. Darüber hinaus vereinfachten und vereinheitlichten sich die Briefschlüsse, was wiederum als eine Entwicklung zu betrachten sei, bei der ein auf kommunikativen Mehraufwand fußendes Höflichkeitsprinzip durch ein Höflichkeitsprinzip der Kürze abgelöst werde. Diese Entwicklungen zeigen nach Schröter einen „äußerst weitreichenden kulturellen Wandel“ an, der als eine Ablösung von einer Sozialkultur der „Distanz“ (Schröter 2016, 331) und als eine Flexibilisierung sozialer Rollen zu interpretieren sei. Wie Schröter (2014, 25–45) an einem anderen Beispiel, auf ewig dein, einer Art „ritualisierter Aufhebung von Zeit und Raum“ (Joris 2003, 98), zeigen konnte, sind Abschiedsformeln zudem ein sensibler Indikator für allgemeine gesellschaftliche Transformationsprozesse. Ihr Wegfall könnte ebenfalls auf eine Flexibilisierung und Beschleunigung sozialer Beziehungen hindeuten. Neben den durch eine Praxis sich ergebenden Veränderungen des Kommunizierens können auch politische Systeme zu Veränderungen in der Gestaltung von Briefanfang oder -schluss führen. Dem Einfluss von politischen Ideologien, besonders der des Nationalsozialismus, auf das Briefschreiben ist Ehlers in unterschiedlichen Veröffentlichungen (vgl. u.  a. Ehlers 2012, 3–18) nachgegangen. Der von nationalsozialistischen Briefstellern empfohlene Briefschluss „Mit deutschem Gruß“ bzw. „Heil Hitler!“ setzt sich, wie Ehlers an offiziellen, an die Deutsche Forschungsgemeinschaft gerichteten Grüßen in 300 Briefen nachweist, zunächst eher zögernd gegenüber dem traditionellen Repertoire durch (mit dem Lexem „Hochachtung“, die als ausgezeichnete, vorzügliche etc. attribuiert wird) und führt zum Teil zu hybriden Lösungen (etwa „Mit freundlichen Empfehlungen/und Heil Hitler/bin ich ihr […]“, Theodor Frings 1938, zit. n. Ehlers 2012, 12), die alte Höflichkeitskultur und neue Ideologie miteinander vereinen. In der Folge erweise sich dieser Bruch der Höflichkeitsstandards als Katalysator dafür, dass heute die Formel des offiziellen Briefverkehrs „Mit freundlichen Grüßen“ lautet.

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Ad (c) Anreden, Grußformeln oder höflicher Briefabschluss sind Formen der Beziehungskommunikation, bei denen der Identität, der Rolle oder dem Image des Gegenübers Rechnung getragen wird. An ihnen lässt sich darüber hinaus ein zeittypisches Genderdisplay ablesen. So ist die Variationsbreite von Anreden für Frauen nicht nur im Liebesbrief größer (vgl. Wyss 2000, 187–210). Dies zeigt sich grammatisch daran, dass etwa das Possessivum mein bei der Anrede von Frauen in allen drei Genera verwendet wird, während Männer nur mit Maskulinum oder Neutrum angeredet werden. Auf lexikalischer Ebene ist das Spektrum der Attribute, mit denen Frauen bezeichnet werden (z.  B. heiß geliebte), ebenfalls so ausdifferenziert wie das Spektrum von Kosenamen (jedenfalls bis 1970) (vgl. Wyss 2000, 201–204). Der Einfluss von Genderstereotypen wird lexikalisch auch durch Selbstbezeichnungen ersichtlich. Die späte Sozialrevolutionärin Mathilde Anneke bezeichnet sich gegenüber ihrem Ehepartner Friedrich Hammacher, der nur sechs Jahre jünger ist, als Mütterchen, Ihre alte Mama, Deine treue Alte (vgl. Berner 2004, 127–128). Stellenweise werden in der brieflichen Anrede allerdings herkömmliche Formen des weiblichen und männlichen Genderings nivelliert und neutralisiert. So wird Freya von Moltke von ihrem Ehemann sehr häufig mit „Mein Lieber“ oder „Mein lieber Pim“ (vgl. von Moltke 2005) angeredet und Kurt Tucholsky spielt noch in seinem Abschiedsbrief (20.  November 1935) an seine zweite Frau mit Geschlechterrollen („Liebe Mala, will Ihm zum Abschied die Hand geben und ihn um Verzeihung bitten für das, was Ihm einmal angetan hat.“ Zit. n. Bonitz und Huonker 1997, 423). Allerdings ist die Wahl männlicher Bezeichnungen für Frauen auch schon früher üblich, so redet Hermann Fürst Pückler-Muskau Bettine von Arnim in seinem Brief vom 27.  Februar 1832 mit „Guter Mann“ (von Pückler-Muskau 2001, 24) an. Dass sich Genderkonstruktionen nicht nur an Anreden o.  ä. zeigen, macht ein Aufsatz von Sobotta (2008, 93–106) deutlich. Sie erhebt am Beispiel der Korrespondenzen von Kindergartenpionierinnen mit dem Reformpädagogen Friedrich Wilhelm August Fröbel zentrale Marker personaler und sozialer Identität. Zu diesen gehören erstens deiktische und referierende sprachliche Einheiten (Pronomen einschließlich des deiktischen wir, Anreden/Honorifika, Personenbezeichnungen, soziale Etikettierungen, prototypische Identitätskonzeptionen von Frauen, z.  B. die Selbstverortung als Töchter gegenüber dem angeschriebenen Lehrer), zweitens auch prädizierende Kategorien (Schwärmen für die Freiheit oder Ähnliches) und drittens beziehungskonstitutive Handlungen wie LOBEN. Berner (2004, 82–85) kann am Beispiel des Briefwechsels des Ehepaars Fontane ebenfalls zeigen, dass strukturelle Asymmetrien zwischen Männer- und Frauenbriefen nicht nur auf der Ebene von Anreden etc. bestehen, sondern dass auch der Vollzug von bestimmten Handlungen über eine zeittypische Geschlechterordnung Auskunft geben kann; so gehen Direktiva, aber auch Belehrungen und Kritik fast ausschließlich von Fontane

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aus, außerdem ist ihm ebenfalls das paternalistisch zu deutende Loben vorbehalten.

2.2.3 Briefe und Briefsortenwandel Bisher liegen mit Ausnahme von Liebesbriefen kaum sprachhistorische Längsschnittstudien dazu vor, wie sich einzelne Briefsorten wandeln. Unterschiedliche Untersuchungen von Wyss (vgl. u.  a. 2011) zum Liebesbrief in der Zeitspanne vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein zeigen, dass die Entwicklung vom – auch sprachlich – aufwendig gestalteten Brautbrief des 19. Jahrhunderts bis zur digital gestützten Flirtkommunikation per E-Mail oder SMS ebenfalls mit der Veränderung von Geschlechteridentität und Vorstellungen von ehelicher Beziehungskommunikation einhergeht. Neue Kommunikationsformen wie die Postkarte zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die E-Mail am Ende des Jahrhunderts eröffnen über die mit ihnen verbundenen Affordanzen Möglichkeitsräume, die, wie Holzheid (2014, 253–273) am Beispiel der Postkarte zeigt, auch zu neuen, zunächst kreativen sprachlichen Möglichkeiten (Senden von Tagesgrüßen) zu einem bestimmten Formelrepertoire (denke an dich, ich bin dein, vgl. Holzheid 2014, 258) führen. In einer in die Frühe Neuzeit zurückweisenden sprachhistorischen Perspektive zeigt sich jedoch auch, dass die Kommunikationsform ‚Brief‘, vor allem in ihren offiziellen Realisierungen, auch Pate weitreichender textsortengeschichtlicher Entwicklungen ist. Anders als in Privatbriefen, deren Hauptfunktion das Kontakt-Sichern ist, werden Briefe besonders in großen Handelshäusern zum Informationstransfer genutzt (so die Briefe der Fuggerfamilie, vgl. Dauser 2008) und können als Keimzelle der Anfang des 17. Jahrhunderts entstehenden Pressekommunikation gesehen werden (vgl. Fritz und Straßner 1995, 17–22). Gerade vor dem zentralen Professionalisierungsschub des Journalismus im 18.  Jahrhundert, der u.  a. mit Aufbau von eigenen Korrespondentennetzen verbunden ist, schreiben Sekretäre, Diplomaten oder Offiziere Nachrichten, die Elemente klassischer, über die Kanzleitradition vermittelter Briefmuster aufweisen, wozu etwa auch die Verwendung aufwendiger Titulaturen gehört. Schuster und Wille (2015b, 7–30) können am Beispiel des Hamburgischen Correspondenten, der zentralen Zeitung des 18. Jahrhunderts, nachweisen, dass erst Mitte des 18. Jahrhunderts eine Ablösung von diesen Brieftraditionen erfolgt, wenngleich sich deren Reflexe bis in das 19. Jahrhundert zeigen. Das aus Forschungen zum medialen und Textsortenwandel bekannte ‚Trägheitsprinzip‘ dürfte auch in der Gegenwart zu textuellen Hybridformen führen.

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3 Die Rolle von Briefen in der Soziolinguistik 3.1 Briefe in einer „Sprachgeschichte von unten“ Anders als bei anderen Kommunikationsformen und Textsorten ist insbesondere das Schreiben von Privatbriefen nicht nur einer kulturellen Elite vorbehalten gewesen. Dennoch ist die Betrachtung von Briefen, deren Verfasser*innen sich mündlich mittels eines Dialekts verständigten und deren schriftsprachliche Sozialisation nicht über eine Volksschulbildung hinausging, erst in den vergangenen 25 Jahren detaillierter untersucht worden. In der auf Elspaß zurückgehenden Sprachgeschichte von unten (2005a) werden vor allem 650 Auswandererbriefe aus dem 19. Jahrhundert thematisiert, für die gilt: Das Briefschreiben stellte für die meisten Menschen aus bildungsfernen Schichten den kommunikativen Ausnahmezustand dar. Auch das private Schreiben war für sie keine Routinetätigkeit. Sie waren aber gezwungen zu schreiben, wenn ein gewünschter mündlicher Kontakt auf Grund räumlicher Distanz nicht mehr möglich war. KONTAKTSICHERN kann als oberste Funktion der meisten Briefe gelten. (Elspaß 2005a, 140)

Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass die herkömmliche Vorstellung einer im 18.  Jahrhundert verstärkt vorkommenden und sich im 19.  Jahrhundert durchsetzenden Standardisierung der deutschen Schriftsprache durch den Blick auf authentische Schriftprodukte relativiert werden muss. Privatbriefe zeigen oft Variationen oder auch starke Abweichungen vom Standard, sie können jedoch auch Anschauungsmaterial für einen gerade stattfindenden Sprachwandel, einen „language change from below“ (Labov 1972, 178–180), liefern. Im Kontext einer spezifischen ‚Linguistik des Briefs‘ konnten v.  a. Privatbriefe mit der sozialen Funktion des Kontakt-Sicherns näher charakterisiert werden. Zwar weisen die Briefe ‚kleiner Leute‘ nähesprachliche Anteile auf, jedoch sind sie nicht darauf zu reduzieren und damit nicht als schriftsprachliche Übersetzungen des Basisdialekts zu begreifen. Die Briefe zeigen gleich auf mehreren Ebenen ein Bewusstsein für schriftsprachliche Konventionen: So ist einerseits bemerkenswert, dass ehemals prestigebehaftete, jedoch veraltete grammatische Varianten verwendet werden (etwa die aus der Kanzleisprache stammenden afiniten Konstruktionen, vgl. Elspaß 2005b, 33–63), andererseits zeigen diese Briefe ein z.  T. immer wieder verwendetes Formelrepertoire (z.  B. für den Briefbeginn: Ich ergreife die Feder/nehme die Feder in die Hand, um dir/Euch einige Wörter/ Zeilen zu schreiben). Die z.  T. rudimentäre schriftsprachliche Sozialisation zeigt sich an Schwierigkeiten bei Groß- und Kleinschreibung, bei der Kennzeichnung von Vokalquantitäten (mier statt mir), bei der Interpunktion, bei der Wahl ‚rich-

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tiger‘ Kasus und an einer dialektalen Lexik. Weitere Kennzeichen sind zudem die rheinische Verlaufsform (etwa ich bin am Laufen) und die Verbzweitstellung bei Kausalsätzen. Auf der Basis anderer Untersuchungen ist jedoch auch ersichtlich, dass einige der genannten Kennzeichen nicht nur für diese Schreibergruppe gelten. Grundsätzlich zeigen auch die Privatbriefe schreibkundiger Personen aus einer individuellen Schreibpraxis erwachsene Idiosynkrasien, so die Bevorzugung bestimmter Varianten; so hält etwa Thomas Mann sein Leben lang an der Schreibung Thee fest (vgl. Schuster 2015a, 190). Ebenso grundsätzlich zeigen Briefe – eher als andere Texte, die durch die Hand von Korrektor*innen gegangen sind  – regionale Varianten bzw. Verklammerungen mit einem Basisdialekt an. Dies ist etwa am österreichischen Briefmaterial an gleich mehreren Beispielen gezeigt worden: So zeigen adelige Korrespondenzen 1530–1765 auf graphematischer Ebene das Substrat ihres Basisdialekts, etwa den Diphthong , wobei die Beibehaltung der „autochthonen obd.-bair. Lautung“ (Rössler 2004, 38) eher in Frauenbriefen vorhanden sei. Auffälligkeiten bei der Interpungierung (vgl. Wiesinger 2004a, 296) und anderen Formen der Orthographie sind ebenfalls stärker für Frauen nachweisbar: „Dass Frauen zwar orthografische Regeln gelernt haben, sie aber durcheinander bringen, weil sie nach Gehör schreiben, zeigt sich auch an der Wiedergabe von Fremdwörtern.“ (Wiesinger 2004a, 300) Im Falle des schon erwähnten Diphthongs allerdings handelt es sich auch um einen konfessionellen graphematischen Marker, der als Opposition zum protestantischen Ostmitteldeutschen besonders gepflegt worden ist. Aus diesen Beobachtungen, die um viele weitere ergänzt werden könnten, lässt sich schlussfolgern, dass insbesondere Privatbriefe für den Abstand zwischen aus sprachreflexiven Quellen hervorgehenden, präskriptiv gemeinten Normen und authentischen Schreibprodukten sensibilisieren. Sie zeigen in besonderer Weise die Inhomogenität des Sprachgebrauchs, die durch unterschiedliche Faktoren begründet sein kann. Neben Ungeübtheit und einer prinzipiellen Unvertrautheit mit schriftsprachlichen Normen oder persönlichen Vorlieben und Gewohnheiten können noch weitere Gründe angeführt werden: Der Privatbrief am Ausgang der Frühen Neuzeit zeigt grundsätzlich eine Bevorzugung kontextgrammatischer Einheiten wie Kontextellipsen, das Weglassen von Pronomen oder eine eher aggregative Syntax mit häufigen Ausklammerungen von Satzgliedern, so dass seine sprachliche Gestalt ohnehin nicht an solchen grammatischen Wohlgeformtheitsbedingungen wie z.  B. der Vollständigkeit der Sätze gemessen werden kann. Zudem hat nicht nur das Schreiben ‚kleiner Leute‘ auffällige Merkmale, sondern auch das Schreiben mehrsprachiger, dem Adel angehöriger Personen, die im Gegensatz zum Bürgertum geringe Sprachloyalität ausgeprägt haben (vgl. Schuster 2010, 53–71). Der Ausweis einer Schichtspezifik von Privatbriefen muss also immer berücksichtigen, welcher Stand schriftsprachlicher Normierung schon erreicht

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ist, welche Spielräume die Kommunikationsform ‚Brief‘ lässt und welche Kommunikationsideale in einem bestimmten Milieu gelten. Dabei wird deutlich, dass v.  a. das Zusammenspiel unterschiedlicher sprachlicher Ebenen und der Grad an Formelhaftigkeit berücksichtigt werden müssen. Geübte und ungeübte Schreiber*innen unterscheiden sich laut Wyss (2011, 98) aber durch den „Grad der Ästhetisierung“. Geringe Ästhetisierung im Liebesbrief werde sichtbar anhand einer „stereotype[n] Briefstruktur“, die „Anrede, Dank für den vorangegangenen Brief, Nachfrage nach dem Gesundheitszustand, Mitteilung über den eigenen Gesundheitszustand, Liebeserklärung, Bitte um ein Treffen/Geschenk/eine Antwort, Angabe eines Grundes für ein ausbleibendes Schreiben, Abschiedsfloskel“ umfasse. Dabei erfolgten v.  a. formelhafte Liebeserklärungen und die Syntax sei zumeist parataktisch. Stärker ästhetisierte Varianten wiesen dahingegen etwa Redefiguren, literarische Topoi, eine komplexe und manchmal auch ungewöhnliche Syntax auf. Diese Registervariation oder „style variation“ (Auer 2015, 133–155) steht gerade in jüngeren Veröffentlichungen im Blickpunkt. Jüngst ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass eine produktorientierte Sichtweise selbst bei grammatischen Merkmalen durch eine interaktive ergänzt werden sollte: Denn auch grammatische Formen zeugten von einem Stilregister, das adaptiv zum Kommunikationspartner bzw. zur -partnerin als eine Art „recipient design“ entwickelt wird – hätten Söhne also an ihre Mütter geschrieben, so verhielten sie sich bei gegebener sprachlicher Variation z.  T. konservativer, als wenn sie Briefe an ihre Geschwister richteten (vgl. Bergs 2015, 120–122). Inwieweit bestimmte Register verfügbar waren, ist in der historischen Soziolinguistik neben Privatbriefen insbesondere anhand von Bittbriefen aus dem 17. bis 19. Jahrhundert untersucht worden, die Arbeiter*innen und Tagelöhner*innen an unterschiedliche Institutionen geschrieben haben (vgl. u.  a. Hünecke 2006, 73–90; Hünecke 2012, 27–56). Im Bereich der Armenfürsorge „wurde gerade im 19.  Jahrhundert die Kommunikation mit Institutionen für breite Bevölkerungskreise zu einer für sie wichtigen und zum Teil lebensnotwendigen sprachlich-kommunikativen Herausforderung.“ (Hünecke 2012, 54) Zwar sind die meisten Schreiber*innen in der Lage, Texte gemäß den Konventionen eines Bittbriefs zu gliedern (75 Prozent der Briefschreiber*innen, bei 25 Prozent, zumeist Frauen, ist dies nicht der Fall) und sich an der von der salutatio ausgehenden Abfolge zu orientieren, wobei die captatio zumeist ausgespart wird. Jedoch zeigen sich auch hier klare Kennzeichen der obersächsischen Regionalsprache, vgl.: „Mein Gutter Herr Bürmeister Köhler.//Ich habe den Dockder wieder missen annämen, so bin ich genedigt ihre// güte in Anspruch zunämen, ich kann gar nicht verdienen, wägen mein kranken Beine, […] Wilhelm Griesbach“ (zit. n. Hünecke 2012, 48).

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3.2 Briefe als kommunikative Sozialisationsform des Bürgertums Nach Baasner sollen Briefe einen bestimmten Konversationsstil aufweisen, nämlich eine wohlwollende Grundhaltung gegenüber dem Gesprächspartner, abgewogene Urteile, die niemanden verletzen, Rücksichten auf die gemeinsamen Bildungsvoraussetzungen, thematische Einschränkungen auf das auch öffentlich Sagbare, Mäßigung bei der Selbstdarstellung: solche und ähnliche Maximen beherrschen den guten Ton des bildungssprachlichen Umgangs. (Baasner 1999, 14)

Thematische Restriktionen sind in der Linguistik wiederholt gezeigt worden: So verzichtet die baltische Adelige Edita von Rahden (vgl. Balode 2008, 70) weitgehend darauf, ihr sozialpolitisches Engagement zu erwähnen, und thematisiert bevorzugt das Hofleben des 19. Jahrhunderts. In linguistischer Perspektive ist zudem der Konversationsstil v.  a. in Verknüpfung mit den stilistischen Vorgaben des seit Mitte des 18.  Jahrhunderts propagierten ‚natürlichen‘ Briefstils im Anschluss an die Brieflehren Gellerts interessant. Hünecke (2010, 84) macht darauf aufmerksam, dass Natürlichkeit oder Lebendigkeit im Gegensatz zum Privatbrief eines ungeübten Schreibers „als freie Nachahmung vermeintlicher Mündlichkeit“ zu verstehen sei: „Während im einen Produzentenkreis kommunikative Nähe simuliert oder inszeniert wurde, war im anderen Produzentenkreis kommunikative Nähe allgegenwärtig und kommunikative Distanz eher ein problematischer Sonderfall.“ Allerdings hat sich die Linguistik noch kaum mit den sprachlichen Verfahren des natürlichen Briefstils auseinandergesetzt. Bisher liegt eine Einzelfallstudie von Wich-Reif (2012, 597–614) zum Briefwechsel der Eheleute Johanna und Gottfried Kinkel aus dem 19. Jahrhundert vor. Sie kann nicht nur zeigen, wie frequent der sprachliche Ausdruck plaudern oder Synonyme überhaupt verwendet werden (vgl. Wich-Reif 2012, 601–603 u. 605–606), sondern sie gibt auch einen Einblick in die spezifische „Syntax des Plauderns“, die sich durch parataktische Reihungen, die häufig asyndetisch sind, durch wenig komplexe Attributstrukturen und wenig komplexe Teilsätze auszeichne, die durchaus jedoch zu komplexen Gesamtsätzen führen können. Daneben seien Interjektionen, Aposiopesen und Parenthesen, jedoch auch die Wiedergabe längerer Gesprächspassagen typisch. Wie sehr das Briefeschreiben (und das Tagebuchschreiben) zu der Konversationskultur des 19.  Jahrhunderts gehörte und über soziale Integration entschied, zeigt auch das Beispiel einer dem einfachen Stand angehörenden späteren Professorengattin, die diese Art des Schreibens mühsam erlernen muss (vgl. Schikorsky 1998, 259–281).

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4 Desiderate einer Linguistik des Briefs Das Spektrum von Briefsorten ist weder synchron noch diachron erschlossen. Wenngleich die Musterhaftigkeit monofunktionaler Briefsorten damit nicht vollständig skizziert ist, besteht aktuell vordringlich Bedarf an Untersuchungen, die detailliert auf die Anverwandlung traditioneller Briefsorten in den Neuen Medien eingehen. Dabei sollten die Untersuchungen nicht kontrastiv-vergleichend (etwa Brief vs. E-Mail) angelegt sein, sondern zeigen, wie Elemente des Briefeschreibens im Rahmen von neuartigen Hypertextsorten genutzt werden. Meinen Beobachtungen nach lehnen sich etwa Blogbeiträge in den unterschiedlichsten Foren stark an die Briefkonventionen an, ohne dass dieser Zusammenhang schon systematisch verfolgt worden wäre. In einer stärker diachronen Perspektive wäre, wie oben schon vermerkt, der Wandel zum ‚natürlichen‘ Briefstil in der Mitte des 18.  Jahrhunderts genauer hinsichtlich der sprachlichen Verfahren zu verfolgen. Dazu wäre eine Grammatik des Briefs, z.  B. die auffällige Nutzung von Parenthesen, näher zu skizzieren. In der Zuwendung zur Diachronie könnte die Linguistik Briefsorten thematisieren, die nicht oder nur peripher behandelt worden sind, etwa der gelehrte Brief. Da sich die Diskurslinguistik vorrangig mit öffentlichen Kommunikaten und hier v.  a. mit Medienprodukten beschäftigt hat, liegen zwar Untersuchungen zur Leserbriefkommunikation vor, jedoch nur in Ansätzen zu Privatbriefen. Wie einige zumeist kleinere Studien jedoch haben deutlich machen können, verraten Briefe viel über (z.  T. genderspezifische) Selbstkonzepte, die nicht nur anhand der historisch variablen Anredepraxis, sondern auch am thematischen Profil, an der Art der realisierten Sprachhandlungen oder an Prädizierungen und Eigenschaftsattribuierungen verfolgt werden sollten. Ebenso wie in Tagebüchern und Notizen, bei denen schon auf eine kultursemiotische Verbalisierungspraxis hingewiesen worden ist – so zeige nach Linke (1998, 234–258) das lexikalische Muster wir haben uns köstlich amüsiert eine bürgerliche Mentalität, Wahrnehmungswelt und Vergemeinschaftungspraxis an –, könnten Briefe noch wesentlich stärker daraufhin überprüft werden, ob (vermeintlich unauffällige) Formulierungen in Briefen sozial- oder kultursemiotisch zu interpretieren seien. Berner (2004) zeigt etwa am Beispiel von Thränen in den Augen, die letzte Träne weinen lassen etc. in den Briefen Mathilde Annekes, dass diese dem „in zahlreichen Romanen vorgeführten erwarteten Frauenbild“ (Berner 2014, 130) entsprächen. Darüber hinaus dürfen Briefe als ein Material begriffen werden, das einen aufschlussreichen Einblick in die Verschränkungen zwischen öffentlichen Diskursen und privatem Schreiben geben könnte. Dieser Verschränkung nachzugehen, ist m.  E. insbesondere bei gesellschaftspolitischen und kulturellen Umbrüchen geboten. So könnten detaillierte Studien zur Briefpraxis im Nationalsozialismus etwa zeigen,

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welche Auswirkungen ein totalitärer Staat nicht nur allgemein auf Kommunikationsideale, sondern auch auf die Ausformung persönlicher Korrespondenz besitzt.

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1.2 Linguistik 

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Kötter, Markus (1994). „‚Bis nächste Woche, sommerliche Grüße‘. Untersuchungen zum Sprachgebrauch in studentischen Briefen“, in: „Mit freundlichen Grüßen“. Linguistische Untersuchungen zu Problemen des Briefe-Schreibens. Hg. v. Jutta Lütten-Gödecke u. Werner Zillig. Münster: 193–233. Labov, William (1972). Sociolinguistic Patterns. Pennsylvania. Linke, Angelika (1998). „‚…wir haben uns köstlich amüsiert.‘ Eine historisch-pragmatische Miniatur zur Kodierung bürgerlichen Lebensgefühls“, in: Sprache und bürgerliche Nation: Beiträge zur deutschen und europäischen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Dieter Cherubim, Siegfried Grosse u. Klaus J. Mattheier. Berlin u. New York: 234–258. Luckmann, Thomas (1986). „Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens: Kommunikative Gattungen“, in: Kultur und Gesellschaft. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 27. Hg. v. Fritz Neidhardt. Opladen: 191–211. Luther, Martin (1933). Luthers Werke in Auswahl. Bd. 6: Luthers Briefe. Hg. v. Hanns Rückert. Bonn. Moltke, Helmuth James von (2005). Briefe an Freya 1939–1945. Hg. v. Beate Ruhm von Oppen. München. Pückler-Muskau, Hermann von (2001). „Die Leidenschaft ist der Schlüssel der Welt“, in: Bettine von Arnim, ders. Briefwechsel 1832–1844. Hg. v. Enid Gajek u. Bernhard Gajek. München. Reindl, Christine (1994). „‚Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen‘. Untersuchungen zu Antworten auf ein Chiffre-Wohnungsangebot“, in: „Mit freundlichen Grüßen“: linguistische Untersuchungen zu Problemen des Briefe-Schreibens. Hg. v. Jutta Lütten-Göedecke u. Werner Zillig. Münster: 111–193. Rössler, Paul (2004). „Graphematische Variation als Gender-Writing? Zum geschlechtsspezifischen Schreibverhalten in österreichischen Adeligenbriefen des 16. und 17. Jahrhunderts“, in: Sprachgebrauch von Frauen in ihren eigenen Texten. Bausteine zu einer Geschichte des weiblichen Sprachgebrauchs. Bd. 6. Hg. v. Gisela Brandt. Stuttgart: 25–42. Rössler, Paul (2007). „Makrostrukturen in österreichischen Adeligenbriefen vom 16. bis ins 18. Jahrhundert“, in: Textsorten und Textallianzen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Beiträge zum Internationalen Sprachwissenschaftlichen Symposion in Wien, 22. bis 24.9.2005. Hg. v. Peter Wiesinger, Claudia Wich-Reif u. dem Internationalen Sprachwissenschaftlichen Symposion Wien. Berlin: 65–90. Schikorsky, Isa (1992). „Kommunikation über das Unbeschreibbare. Beobachtungen zum Sprachstil von Kriegsbriefen“, in: Wirkendes Wort, 42.2: 295–314. Schikorsky, Isa (1998). „Vom Dienstmädchen zur Professorengattin. Probleme bei der Aneignung bürgerlichen Sprachverhaltens und Sprachbewußtseins“, in: Sprache und bürgerliche Nation: Beiträge zur deutschen und europäischen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Dieter Cherubim, Siegfried Grosse u. Klaus J. Mattheier. Berlin u. New York: 259–281. Schröter, Juliane (2014). „Analyse von Sprache als Analyse von Kultur. Überlegungen zur kulturanalytischen Linguistik am Beispiel des Wandels von Briefschlüssen im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Kommunikation – Korpus – Kultur. Ansätze und Konzepte einer kulturwissenschaftlichen Linguistik. Hg. v. Nora Benitt, Christopher Koch u. Katharina Müller. Trier: 25–45. Schröter, Juliane (2016). Abschied nehmen. Veränderungen einer kommunikativen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin u. Boston.

38 

 1 Der Brief als Forschungsfeld

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1.2 Linguistik 

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Dietmar Till

1.3 Rhetorik Die Geschichte von Brief bzw. Brieftheorie lässt sich als Interaktion von zwei Gattungstraditionen beschreiben, die in den historischen Epochen unterschiedlich dominant sind und in der Frühen Neuzeit nicht getrennt voneinander erscheinen: der Privatbrief mit Anspruch auf elaborierten Stil und insgesamt Literarizität einerseits und das weitgehend durch soziale Normen bestimmte, auf pragmatische Zwecke hinzielende Negotialschreiben (amtliche Schreiben im Rahmen von Herrschaftspraxis, Geschäftsbriefe aus dem Wirtschaftsleben; daneben auch rechtsverbindliche Schriftstücke wie Urkunden etc.) andererseits. Für diese beiden Stränge liegen bereits in der Antike von der Rhetorik geprägte Gattungsreflexionen vor, die im Falle des Privatbriefs stärker theoretisch-reflexiv, im Falle des Negotialschreibens stärker unmittelbar praktisch (etwa in Form von klaren Stil- und Dispositionsnormen sowie Gattungstypologien) ausgeprägt sind. Idealtypisch lässt sich die Frage der Prägung der Brieftheorie durch die Rhe­ to­rik in acht Gesichtspunkten fassen: (1) Die Brieflehren adaptieren Beschreibungskategorien und Textverfahren der rhetorischen Stillehre (elocutio) und der Dreistillehre (genera dicendi). Die konkreten stilistischen Normen können dabei variieren und sind insbesondere von der Gattung abhängig. Grundsätzlich ist der Negotialbrief stärker reguliert. (2) Die Brieflehren übertragen die Schemata vom Redeaufbau (partes orationis-Lehre) auf den Brief. Auch hier gilt: Der Grad an Normierung (und auch die Legitimität von Normen des Textaufbaus überhaupt) kann variieren. Grundsätzlich ist der Negotialbrief stärker reguliert. (3) Die Brieflehren legen zum Teil umfangreiche Gattungstypologien, die sich auf die unterschiedlichen Anlässe und Textfunktionen des Briefs beziehen können, vor. Hierfür dient die rhetorische Gattungstypologie (genera causarum-Lehre) als Modell. (4) Die Lehre von der Angemessenheit (aptum bzw. decorum) von Redegegenstand, Adressat und textlichen Verfahren wird von der Rede auf den Brief übertragen. Dabei steht gerade bei den Negotialschreiben das sozialständische decorum (im Sinne der symmetrischen bzw. – häufiger – asymmetrischen Beziehungsgestaltung von Schreiber und Adressat) im Zentrum. Vor diesem Hintergrund sind vor allem die seit dem Mittelalter umfangreich vorgelegten schriftlichen Hilfsmittel zur Ausgestaltung der korrekten Anrede (Anrede bzw. Titulatur, Widmung, Grußformeln, Formeln des Briefschlusses) zu sehen (Titulaturbücher). (5) Sozial- und bildungsgeschichtlich schließlich stellt der Brief eine zentrale Übungsform im Übergang vom Grammatik- zum eigentlichen Rhetorikunterricht (Progymnasmata) dar. (6) Briefe wurden teilweise (etwa im Falle der Korrespondenz des jüngeren Plinius, 61–114 n. Chr.) in Sammlungen mit literarischem https://doi.org/10.1515/9783110376531-003

1.3 Rhetorik 

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Anspruch zusammengestellt und publiziert. Briefen liegen also je unterschied­ liche Konzepte von Öffentlichkeit zugrunde, die kommunikativ Reden und Redensammlungen analog oder vergleichbar sein können. (7) Versteht man Rhetorik als ars persuadendi, also als ‚Kunst der Überzeugung‘, dann ist mit Blick auf den Brief der zugrundeliegende Persuasionsbegriff zu diskutieren. Brieftheoretiker wie etwa August Bohse in seinem Allzeitfertigen Briefsteller (1690) gehen wie selbstverständlich davon aus, dass der Endzweck des Briefs sei, den Empfänger „zu persuadiren“ (zit. n. Nickisch 1969, 117). Vor allem bei den in den Brieflehren überwiegend behandelten stark asymmetrischen Kommunikationsverhältnissen, in denen der Schreiber standesmäßig unter dem Adressaten steht, verbieten sich aber allzu forcierte rationalistische Überzeugungsversuche, weil Formen des argumentativen Diskurses immer auf der Vorstellung von Symmetrie basieren. Für die Kunst des Verfassens von Briefen ist in der Vormoderne die Berücksichtigung des Beziehungsaspekts entscheidend. Die sozialen Rollen der beiden Briefpartner werden durch ästhetische Verfahren  – für die in der Terminologie der Rhetorik der Begriff der elegantia (‚Zierlichkeit‘) steht – zunächst affirmiert, was man auch als „devotionale Zierlichkeit“ (Nickisch 1969, 92, 121, 140, 210  f., 216 u. 234; vgl. 5, 80 u. 82) beschrieben hat. Die persuasive Wirkung des Briefs, der im Briefteil der petitio (Gesuch/Bitte) ein klares „pragmatische[s] Zentrum“ (Koch 1998, 31) hat, basiert auf dem Mechanismus, dass der ästhetisch umschmeichelte Briefadressat sozial zu einer positiven Reaktion bewegt wird, die in der reziproken Erfüllung des Gesuchs bestehen kann. Diese Erfüllung lässt sich durch den Mechanismus der Schenkökonomie erklären. Sie verleiht dem eigentlich sozial Niedriggestellten durch subtile Einforderung von Reziprozität (die keinen Automatismus darstellt und auch scheitern kann) symbolische Macht. Vergleichbare Konzepte eines persuasiven give-and-take sind auch für die epideiktische Gattung (Lob- und Tadelrede) zentral und in der Rhetorikgeschichte ubiquitär. (8) Die Prägung der Brieftheorie (und damit mittelbar auch der Briefpraxis) durch schulrhetorische Normen ist beim Negotialbrief nachdrücklicher als beim Privatbrief, der sich strenger Normierung oft demonstrativ entzieht. Mit dem Geltungsverlust der Rhetorik im 18. Jahrhundert wurde in der Forschung eine ‚Entrhetorisierung‘ des Briefes postuliert.

1 Antike Brieftheorie Da die frühneuzeitliche Rhetoriktheorie wesentlich ein Produkt der Rezeption, Adaptation und Transformation der antiken Theorieüberlegungen darstellt, scheint ein knapper Überblick über die antike Brieftheorie sinnvoll. Denn bei

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

genauerer Betrachtung ist es überraschend, in welchem Maße Topoi der antiken Brieftheorie die frühneuzeitliche Diskussion bis ins 18.  Jahrhundert geprägt haben. Selbst Positionen, die in der Forschung als ‚modern‘ und deshalb vielfach als ‚antirhetorisch‘ bzw. als ‚Ablösung‘ von der Rhetorik gedeutet wurden, erweisen sich bei näherem Hinsehen nicht selten als traditionelle Elemente der von der Rhetorik geprägten antiken Epistolographie. Zunächst allerdings gehört der Brief nicht zu den klassischen Gattungen (genera causarum) der antiken Rhetorik (also: Gerichtsrede, politische Rede, Lob- und Tadelrede). In den klassischen Rhetorik-Lehrbüchern etwa von Aristoteles, Cicero oder Quintilian wird der Brief deshalb nicht behandelt. Die manifest engen Verbindungen zwischen Brieftheorie und Rhetorik sind vielmehr in ihrem Ursprung zunächst sozial- und bildungsgeschichtlicher Natur: Der Unterricht im Verfassen von Briefen gehörte in der Antike zum Aufgabenfeld des Rhetorikerlehrers (rhetor), also des Lehrers der Redekunst (vgl. Malherbe 1988, 2). Auch die Grammatiker, die in der antiken Unterrichtssystematik den Rhetorikern vorangingen, zeigen ein gewisses Interesse am Unterricht im Verfassen von Briefen (vgl. Malherbe 1988, 6). Im Rahmen der vom Grammatiker gelehrten Progymnasmata, also schriftlicher Textmusterübungen, galten Briefe als geeignete Textsorte. Mit ihnen wurden die rhetorischen Darstellungsverfahren der ethopoiia (vgl. Naschert 1994) und der prosopopoiia geübt, also der textuellen Evokation und dramatischen Verlebendigung historischer oder fiktiver Personen sowie abstrakter Gegenstände durch „Fingierung von Aussprüchen, Gesprächen und Selbstgesprächen oder unausgesprochenen gedanklichen Reflexionen der betreffenden Personen“ (Lausberg 1960, 407). Briefverfassen war also eine schulische Übung: „Das alles stand im Dienst des Erlernens der für den Redner notwendigen Fertigkeit der Ethopoiie, d.  h. der rhetorischen Kunst, sich selbst oder eine andere Person hinsichtlich Charakter und Fähigkeiten mit Worten möglichst wirkungsvoll und zweckdienlich darzustellen.“ (Bauer 2011, 27) Fester Gegenstand des höheren Schulunterrichts (Unterricht in Grammatik und Rhetorik) war der Brief wohl schon ab dem 4.  Jh.  v. Chr. (vgl. Bauer 2011, 26), doch sind Quellen hierzu erst seit der Kaiserzeit reichlicher vorhanden. Ein frühes Zeugnis, das die Rolle des Briefs als Gegenstand des Unterrichts belegt, ist das Progymnasmata-Lehrbuch des wohl aus Ägypten stammenden Aelius Theon (verm. 1. Jh. n. Chr.). Die Gattung des Briefs wurde dabei im Unterricht rein instrumentell benutzt, um eben die genannten rhetorischen Textmuster der Ethopoiie und Prosopopoiie einzuüben, die als Basiselemente umfangreicherer Reden in den drei Redegattungen, vor allem aber der Gerichtsrede, fungieren (vgl. Malherbe 1988, 6): „Der Rhetorenschule bot die Briefform ein willkommenes Medium, sich in der Einfühlung in eine andere Person zu üben, die für den Redner, zumal vor Gericht, so wichtig war.“ (Erasmus von Rotterdam 1980, XVII)

1.3 Rhetorik 

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Zeugnisse für die unterschiedlichen Unterrichtsformen und -niveaus sind vor allem die zahlreich überlieferten Papyrus-Briefe. Sie sind oft in einem charakteristischen Schulstil verfasst, der inhaltlich oberflächlich und stilistisch durchschnittlich bleibt; allerdings ist das Spektrum möglicher Niveaus durchaus beträchtlich. Aus den erhaltenen, vor allem in griechischer Sprache verfassten Briefen lässt sich eine immanente Gattungspoetik des Briefs rekonstruieren, welche die Existenz von Anleitungswerken, die nicht überliefert sind, wahrscheinlich macht. Dafür sprechen vor allem stereotype Formulierungen und insgesamt die stilistische Formelhaftigkeit einer großen Zahl dieser Briefe. Sie liefern insgesamt „klare Vorstellungen“ und einen „Konsens“ darüber, was in der Antike als Brief galt und „wie ein Brief aussehen soll.“ (Bauer 2011, 16) Auch die Studien von Koskenniemi (1956) und Thraede (1970) vertreten die Ansicht, dass eine der griechischen und lateinischen Briefkultur zugrundeliegende Theoriebildung existierte. Sie zeige sich in einer „gemeinsame[n] Brieftopik“ (Bauer 2011, 17). Nicht zuletzt gab es vor allem in der griechischen Brieftheorie Überlegungen zum Kanon vorbildhafter Briefverfasser, der teilweise bis in die Frühe Neuzeit ausstrahlt. Genannt werden für den griechischen Brief Apollonius von Tyana, Dio Chrysostomos, Pseudo-Brutus, Mark Aurel oder Herodes Atticus (bei Philostrat) sowie Platon, Isokrates und Aristoteles (bei Libanius). Aus der lateinischen Brieftheorie sind keine vergleichbaren Kanones bekannt. Erst die spätantike Rhetorik des Iulius Victor (4. Jh. n. Chr.) nennt Cicero als stilistisches Muster; daneben hat auch die Briefsammlung von Plinius d.  J. an der antiken Kanonbildung (etwa beim Kirchenvater Ambrosius, der seine Briefsammlung am Modell des jüngeren Plinius ausrichtet) gewirkt (vgl. Erasmus von Rotterdam 1980, XIX). Insgesamt galt den Griechen und Römern das elaborierte Briefverfassen als textueller Ausweis der rhetorischen Fähigkeiten des Absenders (vgl. Bauer 2011, 14). Insofern kann man den Brief mit Recht als „Übungs- und Paradestück des Rhetorikunterrichtes“ (Bauer 2011, 12, Anm. 2) bezeichnen. Gelegenheitsbriefe wurden oft von ihren Verfassern selbst gesammelt und waren bisweilen schon zum Zeitpunkt ihrer Abfassung für die Publikation gedacht, zielten also auf eine größere Öffentlichkeit. Für die Brieftheorie der Frühen Neuzeit sind die Erkenntnisse, welche die neuere Forschung aus den Handschriftenfunden zieht, von nachrangiger Bedeutung, da entsprechende Papyrusfunde erst im 19. Jahrhundert gemacht wurden. Die frühneuzeitliche Brieftheorie wurde vor allem durch die 860 Privatbriefe Ciceros, die nach seinem Tod publiziert wurden, nachhaltig geprägt. Dieses Briefkorpus bestimmt vielfach die frühneuzeitlichen Vorstellungen von den impliziten Gattungsnormen des privaten Briefs. Insofern muss man betonen, dass die frühneuzeitlichen Briefkonzepte Ergebnis eines gleichermaßen selektiven wie konstruktiven Traditionsbildungsprozesses sind. Neben Cicero wirken Senecas

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

Briefe an Lucilius (die von Anbeginn zur Publikation gedacht waren), die Briefe des jüngeren Plinius (9 Bände mit sorgfältig komponierten Privatbriefen und ein Band mit der amtlichen Korrespondenz mit Trajan) und die des Fronto in unterschiedlicher Weise als Vorbild. Diese Briefe wurden in der Frühen Neuzeit vielfach als Muster aufgefasst und sind in dieser Hinsicht ein wichtiger Teil des brieftheoretischen Diskurses. Daneben haben sich auch in der Spätantike Dokumente einer kunstvoll stilisierten, rhetorisch überformten Privatkorrespondenz erhalten, u.  a. von Symmachus, Ambrosius, Hieronymus, Augustinus und Paulinus von Nola (vgl. Erasmus von Rotterdam 1980, XIX).

2 Griechische Brieftheorie und Rhetorik Die griechische Brieftheorie geht der lateinischen zeitlich voran; auch erreicht diese niemals die Intensität der brieftheoretischen Auseinandersetzung im Griechischen, auf der ihre Positionen im Übrigen inhaltlich ganz überwiegend basieren. Die älteste erhaltene brieftheoretische Diskussion findet sich in dem stilkritischen Traktat Peri hermeneias des Pseudo-Demetrios (vermutl. 1. Jh. v. Chr.), der sich als Anhänger der peripatetischen Tradition identifizieren lässt (und nicht mit dem Philosophen Demetrios von Phaleron aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. identisch ist, den man in der Frühen Neuzeit für den Verfasser des Traktates gehalten hat). Der Text wurde im 16. Jahrhundert gedruckt. Die für die Brieftheorie entscheidenden Passagen erschienen auch separat, so z.  B. als Anhang zu der Brieflehre des Justus Lipsius (Epistolica institutio, Leiden 1591, 29–32 mit lat. Übers.). Die Ausführungen zum Brief finden sich in einem Exkurs im Kontext der Diskussion des alltagssprachlichen, einfachen Stils (charaktêr ischnos; dt. Übers. bei Klauck 1998, 149–152), für die in der antiken Rhetorik als Muster der Redner Lysias stand. Dieser Stil sei auch, so Pseudo-Demetrios in den betreffenden §§ 223–235 seines Traktates, für den Brief passend (‚Briefstil‘: epistolikos charaktêr): Dieser Stil soll einfach und vertraut sein, also Stilniveaus und -register der Alltagsprosa verwenden, dabei aber zugleich auch Elemente des von der Alltagsdiktion abweichenden anmutigen Stils verwenden. Pseudo-Demetrios diskutiert in einer berühmten Passage das Verhältnis der beiden kommunikativen Gattungen Brief und Dialog. Der Autor bezieht sich auf eine Stelle bei Artemon, dem Herausgeber einer heute verschollenen Ausgabe der Briefe des Aristoteles, der postuliert hatte, dass der Brief gleichsam die eine Hälfte eines Dialogs sei. Dies ist die Quelle des Topos vom Brief als ‚Hälfte des Gesprächs‘ (§ 223; vgl. Klauck 1998, 149). Mit Artemon betont nun auch Pseudo-

1.3 Rhetorik 

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Demetrios die grundsätzliche Verwandtschaft von Brief und Dialog, betont aber zugleich die Unterschiede. Ein schriftlich abgefasster Brief sei gleichsam ein auf Dauer angelegtes Geschenk, während der mündliche Dialog den flüchtigen Charakter einer improvisierten Stegreifäußerung habe (§ 223; vgl. Klauck 1998, 149). Dieser mediale Unterschied schlage sich nicht zuletzt im Stil nieder, so seien etwa asyndetische Reihungen zwar für den Dialog, nicht aber für den Brief angemessen (§ 225; vgl. Klauck 1998, 150). Insgesamt rät Pseudo-Demetrios zu einer lockeren, nicht zu komplexen und damit anspruchsvollen syntaktischen Gestaltung. Stilistisch hält der Brief eine gewisse Mittelstellung zwischen dem spontanen Dialog und der ausgearbeiteten Gerichtsrede. Der Autor nennt auch eine Reihe von Gegenständen (pragmata tina epistolika), die für einen Brief unangemessen sind, etwa logische Spitzfindigkeiten und naturphilosophische Spekulationen, die dem Charakter des Briefs als Ausdruck freundschaftlicher Gesinnung widersprechen (§ 230–231; vgl. Klauck 1998, 150–151). Neben diesem Vergleich des Briefs mit dem Dialog ist die Auffassung des Verfassers vom prinzipiell ‚ethischen‘ Charakter des Briefs (im Sinne der rhetorischen Kategorie des êthos) topisch geworden: Durch den Brief gebe ein Autor seine innere Beschaffenheit zu erkennen: Der Brief sei „Abbild seiner eigenen Seele […]. Zwar ist es möglich, auch aus jeder anderen Äußerung die charakterliche Disposition des Verfassers zu erkennen, aus keiner aber so eindeutig wie aus dem Brief.“ (§ 227; Klauck 1998, 150) Dieser Topos vom Brief als ‚Spiegel der Seele‘ wird in der Frühen Neuzeit oft zitiert (vgl. Müller 1980). Schließlich enthält die Passage auch Hinweise zur Ausgestaltung der angemessenen Stilhöhe: Briefe an sozial Höherstehende, etwa ganze Städte oder Herrschende, sollten stilistisch gehoben formuliert sein (§ 234; vgl. Klauck 1998, 151). Hier formuliert der Verfasser also ein materiales, am sozialständischen Aptum orientiertes Stilhöhenkonzept. Nach Pseudo-Demetrios sind brieftheoretische Überlegungen dann erst wieder ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. überliefert. Hier sind der Brief gegen Aspasios des Philostrat von Lemnos (3. Jh. n. Chr.) zu nennen (griech./engl. bei Malherbe 1988, 42–43), in dem primär Stilfragen behandelt werden, sodann der Brief des Gregor von Nazianz (um 329–390 n. Chr.) an Nikobulos (Ep. 51; griech./engl. bei Malherbe 1988, 58–61), in dem ebenfalls vor allem Stilfragen traktiert werden. Hier finden sich u.  a. Vorschriften, dass der Brief hinsichtlich der Länge ein mittleres Maß aufweisen soll, dass er die Stilqualität der Klarheit (saphêneia) aufweisen solle und schließlich wiederum, dass der Brief seinen Stil dem Stand des Adressaten anpassen soll. Daneben rät der Kirchenvater zu einem natürlichen und weitgehend ungeschmückten Stil, der allerdings keinesfalls ohne Grazie (charis) bleiben darf. Schließlich sind zwei vergleichsweise umfassende brieftheoretische Handbücher überliefert, die vor allem über die einzelnen Briefgattungen Aufschluss

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

geben. Zunächst sind die fälschlich Demetrios von Phaleron zugeschriebenen Typoi epistolikoi (wohl 2./3. Jh. n. Chr.) zu nennen, die im 16. Jahrhundert auch gedruckt erschienen und den frühneuzeitlichen Brieftheoretikern damit bekannt waren (vgl. Erasmus von Rotterdam 1980, XI). In diesem Werk findet sich nach einer Einleitung, die Inhalt und Ziele des Werkes umreißt, ein Katalog von 21 Brieftypen (typoi epistolikoi), die jeweils definiert und durch einen Mustertext illustriert werden. Zentrale Stellung hat dabei der Freundschaftsbrief (typos philikos; vgl. Bauer 2011, 42). Die Mustertexte bilden dabei keine eigentliche Gattungstheorie, vielmehr zeigt das praktisch angelegte Briefhandbuch, das sich an Fortgeschrittene wendet, welcher Briefstil für welche kommunikativen Situationen und welche Adressaten angemessen ist (vgl. Malherbe 1988, 5; Bauer 2011, 33 u. 40). In dem Werk Peri epistolimaiou charakterês eines unbekannten Verfassers (wohl. aus dem 4.–6.  Jh.  n. Chr.), das in der handschriftlichen Überlieferung fälschlich Proklos und Libanios (je nach Überlieferungsstrang) zugeschrieben wurde, finden sich sogar 41 Brieftypen. Gerade dieses Werk stehe für ein „increasingly rhetorical interest“ (Malherbe 1988, 5) in der Brieftheorie dieser Zeit. Auch hier finden sich kurze Definitionen der jeweiligen Briefgattungen, die von Mustertexten begleitet werden (vgl. Bauer 2011, 41).

3 Lateinische Brieftheorie und Rhetorik Anders als im Griechischen finden sich brieftheoretische Überlegungen in systematischer Form eines Traktates bzw. Lehrbuchs erst in der Spätantike, namentlich in der Rhetorik des Iulius Victor (4. Jh. n. Chr.). Davor gibt es lediglich „beiläufige brieftheoretische Äußerungen“ (Erasmus von Rotterdam 1980, XII). Zentraler Autor, sowohl wegen der Wirkungsmächtigkeit seiner Äußerungen als auch aufgrund seiner Briefe selbst, die schon in der Antike Muster darstellen, ist einmal mehr Cicero. Der römische Rhetoriker hat allerdings keine eigenständige Brieftheorie verfasst; die in seinen Briefen verstreuten epistolographischen Re­ flexionen greifen auf die zu seiner Zeit voll entwickelte – heute ganz überwiegend verlorene – griechische Brieftheorie zurück, haben aber selbst keinen Anspruch, ein systematisches Lehrgebäude errichten zu wollen. Aus Ciceros Reflexionen ist allerdings rekonstruierbar, welche Normen und Regeln in den zeitgenössischen Theoriewerken griechischer Sprache enthalten waren. Cicero verfasst seine Briefe nämlich ganz in Tradition des griechischen Briefs, der als Muster galt. Seine Briefe – vor allem die Privatbriefe – haben wiederum schon in der Antike, dann aber vor allem im Renaissance-Humanismus, als Muster gewirkt. Aufgrund der Kanonizität der Briefe Ciceros wurden bereits in der Antike normative Topoi der

1.3 Rhetorik 

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Briefproduktion aus den Briefen abgeleitet; zudem galt auch der Stil der Briefe als vorbildhaft (vgl. etwa Quint. X,1,107). Außerdem finden sich in Ciceros Briefen verstreut einzelne Stellen, an denen er das eigene Briefschreiben kommentiert. Man kann diese Ausführungen insofern metaepistolographisch nennen, als sie in Form des Briefs eine immanente Briefpoetik entfalten (vergleichbar der Epistula ad Pisones, der Ars poetica des Horaz). Cicero hat diese Topoi vermutlich aus den Normen des griechischen Privatbriefs sowie griechischen Brieftheorien abgeleitet (vgl. Malherbe 1988, 2–3), die zu seiner Zeit offenbar Gemeingut waren. Die auch für die frühneuzeitliche Brieftheorie wichtigsten dieser Topoi sind: – Cicero unterscheidet terminologisch den Privatbrief (genus familiare) vom offiziellen Schreiben (genus severum). Diese Gattungsunterscheidung ist einerseits mit Blick auf die unterschiedlichen adressierten Öffentlichkeitstypen wichtig, andererseits aber auch hinsichtlich der im Brief behandelten Materien (vgl. Cic. Ad fam. 2,4,1; Pro Flacco 37). Auf Grundlage dieser Unterscheidung werden etwa bei Quintilian (vgl. Quint. IX,4,19–20) Stilnormen formuliert: Im Falle des genus familiare soll der Brief einem locker gestalteten, gleichwohl nicht kunstlosen Gespräch (sermo) gleichen. Diese dualistische Gattungsvorstellung ist für die Brieftheorie des Renaissance-Humanismus von eminenter Bedeutung: Nun wird der Freundschaftsbrief in das epistolographische Gattungssystem wieder integriert, nachdem er in der mittelalterlichen Brieftheorie keine nennenswerte Rolle gespielt hatte (vgl. Erasmus von Rotterdam 1980, XIII). – Cicero propagiert für unterschiedliche Brieftypen unterschiedliche Stilnormen (basierend auf der rhetorischen Grundregel der Angemessenheit, des aptum): So sei in bestimmten Briefen das Scherzen (iocari) unangemessen (Verstoß gegen das Regulativ des aptum), in anderen das bevorzugte Stilmittel (vgl. Ad Att. 6,5,4). Hieraus hat sich dann in der Renaissance eine eigenständige Gattung des Scherzbriefs entwickelt, der im Barock zur populären Gattung wird. – Cicero versteht das Briefverfassen als eine Art Konversation (sermo) mit einem Freund (vgl. Ad Att. 8,14,1). Daraus leitet sich die Vorstellung ab, dass eine zentrale Leistung des Brieftextes in der Vermittlung bzw. Herstellung der Präsenz des abwesenden Freundes besteht (vgl. Ad Fam. 3,11,2). Der Brief hat insofern die Funktion, Surrogat tatsächlicher Anwesenheit zu sein. Weitere brieftheoretische Überlegungen finden sich schließlich bei Seneca (vgl. Epist. 75,1–2: wirkungsmächtige Formulierung des Topos vom Brief als ‚Hälfte des Gesprächs‘), bei Quintilian und dem jüngeren Plinius. In dessen epistolographischem Werk zeigt sich die Literarisierung des Briefs deutlich. In Lehrbüchern der Rhetorik wird der Brief als eigenständige Gattung dagegen vergleichsweise spät

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aufgenommen, nämlich erst in der Ars rhetorica des Iulius Victor aus dem 4. Jahrhundert. In diesem Rhetoriklehrbuch folgt auf das Kapitel „De sermocinatione“ (der lateinische Begriff für die Ethopoiia) eines, das den Briefen („De epistolis“) gewidmet ist, womit sich die wichtige Stellung des Briefs im Schulunterricht noch einmal zeigt (vgl. Halm 1863, 447–448). Wirkungsgeschichtlich bedeutend geworden ist die Trennung von Privatbrief (familiares) und Geschäftsbrief (negotiales), die zwar nicht grundsätzlich neu ist, hier aber erstmals im systematischen Zusammenhang eines Rhetoriklehrbuchs präsentiert wird (vgl. Halm 1863, 447). Den beiden Brieftypen werden Stilideale zugeordnet: Ein zwangloser Stil eigne sich für den Privatbrief, ein prunkvoller und figurenreicher für den Geschäftsbrief. Für den Privatbrief führt der Rhetor drei Stilnormen an: Kürze (brevitas), Klarheit (lux), schließlich Scherz (iocus), woraus die Brieftheoretiker des Renaissance-Humanismus dann eine eigene Gattung, die des Scherzbriefs (epistola iocosa), ableiten (Erasmus von Rotterdam 1980, XIV–XV).

4 Brieftopik und Brieffunktionen in der antiken Brieftheorie In der Rekonstruktion der antiken brieftheoretischen Reflexion lassen sich drei Topoi identifizieren, die zentrale psycho-soziale Funktionen des Briefs beschreiben: (1) Da der Brief eine Form des Dialogs bzw. des Gesprächs ist, gelten die stilistischen Normen des Gesprächs auch für den Brief: Er soll den natürlichen und ungezwungenen Stil des Gesprächs nachahmen. Das bedeutet aber nicht, wie Pseudo-Demetrios klar darlegt, die Identität von Brief und (literarischem) Dialog. Vielmehr ist der Dialog als literarische Gattung die kunstvolle Nachahmung eines mündlichen Gesprächs, während sich im Brief ein reales Gespräch „im Medium der Schrift“ (Bauer 2011, 36) vollzieht. Der Stil des Dialogs muss deshalb möglichst spontan und improvisiert wirken, während der schriftliche Brief mehr Ansprüche an Sorgfalt und Planung stellt. Ein Brief schließlich hat, vor allem wenn er sich an einen ranghöheren Adressaten richtet, eine sozialständische Funktion, insofern sich der Briefschreiber dem höhergestellten Adressaten empfehlen kann. (2) Daraus leitet sich ab, dass dem Brief eine „zweifache Personenbezogenheit“ (Erasmus von Rotterdam 1980, XV) eignet: Der Brief ist einerseits Abbild des Inneren des Briefverfassers (eikôn tês psychês; Topos vom Brief als ‚Spiegel der Seele‘, vgl. Müller 1980), welches im Brief dem Adressaten präsent werden soll – und damit zugleich mehr als nur ein Mittel der Nachrichtenübermitt-

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lung. Andererseits muss der Verfasser auch auf soziale Stellung, Charakter und Stimmung des Adressaten in angemessener Weise eingehen. Seit der Spätantike wird die damit verbundene Frage der angemessenen Titulatur intensiv traktiert. (3) Durch den engen Bezug zum Gespräch lässt sich der Brief als Hälfte eines Gesprächs zwischen Freunden verstehen. Diese Vorstellung prägt Inhalt wie Stil des Briefs: Er soll in einem einfachen und klaren Stil gestaltet sein (saphêneia, perspicuitas), allerdings gegenüber der Alltagssprache doch gehoben. Der Brief stellt nach Ansicht der Zeitgenossen keine Alltagsprosa dar, sondern basiert auf literarisch-rhetorischer Gestaltung. Verboten sind deshalb der metaphernreiche und feierlich-gehobene Stil der Festrede (Epideiktik). Vor allem soll der Brief stets in angemessener Form kurz sein. Auf dieser Grundlage hat Koskenniemi (1956) drei Grundfunktionen des Briefs unterschieden: Philophronesis/Freundschaftsbekundung: Voraussetzung für den gelungenen (4)  Brief ist eine „freundschaftliche Gesinnung“. Der Brief setzt Freundschaft voraus, ist „Freundschaftsbeweis“ (Koskenniemi 1956, 35) und „Mittel zur Pflege der Freundschaft“ (Thraede 1970, 126). Daraus folgt, dass Themen aus der Philosophie oder den Naturwissenschaften für den Brief nicht geeignet sind. Freundschaftskomplimente sind deshalb ein ganz wesentliches Element des Briefs. Aus der Nikomachischen Ethik des Aristoteles leiten die Zeitgenossen ab, dass der Brief eine freundschaftserhaltende soziale Funktion hat. Insofern Freundschaft prinzipiell Anwesende betreffe, bedeute die räumliche Trennung von Freunden eine krisenhafte Situation, die durch das Briefeschreiben aufgehoben werden kann (vgl. Koskenniemi 1956, 37). Freundschaft wird im Brief also regelrecht performativ hergestellt; insofern ist der Brief als vinculum amicitiae „Ausdruck“ und „Inbegriff“ (Thraede 1970, 129) der Freundschaft. Parusia/Gegenwart: Insofern der Brief auf der Idee der Freundschaft basiert, (5)  kommt eine briefliche Verbindung eigentlich nur für solche Personen in Frage, die „miteinander von früher her durch einen Zusammenschluss verbunden sind.“ Der Brief soll in diesem Kontext „eine Form eben dieses Zusammenlebens während einer Zeit räumlicher Trennung darstellen“ (Koskenniemi 1956, 38). Zentral für den Brief ist die wechselseitige Vorstellung von Anwesenheit: Antike Brieftheoretiker gehen von der Idee aus, „dass man sich wechselseitig die Anwesenheit des Partners vorstellt, oder besser gesagt: seine Anwesenheit als geistige Wirklichkeit erlebt.“ (Koskenniemi 1956, 38) Der Brief soll also durch rhetorische Verfahren, etwa die Anrede, die möglichst überzeugende „Illusion des Anwesendseins“ (Koskenniemi 1956, 39; vgl. Thraede 1970, 146) schaffen.

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

(6)  Homilia/Vertrautheit: Der Brief stellt weder Abhandlung noch Rede dar, denn die Rede sei stets künstlich komponiert, der Brief dagegen natürlich. Brief und Rede sind in dieser Hinsicht als Gegensätze aufzufassen (vgl. Koskenniemi 1956, 42). Dabei zeigt Koskenniemi unter Bezug auf Pseudo-Demetrios, dass der Topos vom Brief als ‚Hälfte des Gesprächs‘ eine komplexe Bedeutung hat. Denn im Dialog „wird jemand nachgeahmt, der aus dem Stegreif spricht, während die Darstellung im Brief echt ist.“ (Koskenniemi 1956, 43–44) Das bedeutet, dass der Dialog als Form der Nachahmung kunstvoll ist, während der Brief spontan und natürlich ist. Dem entspricht auch der Stil des Briefs, der im „Plauderton des täglichen Verkehrs“ (Koskenniemi 1956, 44) gestaltet werden soll. In dieser Hinsicht hat die Briefkommunikation die Funktion der Vergemeinschaftung zweier abwesender Individuen. Denn die Briefpartner führen nicht einfach nur ein Gespräch, „sondern durch dieses stehen sie in einer Gemeinschaft und verkehren miteinander.“ (Koskenniemi 1956, 45) Die Leistung des Briefs besteht also in der Herstellung von Intimität in der Distanz. Kompositorisch bedeutet dies, dass nicht der Zeitpunkt der Briefentstehung, sondern derjenige des Briefempfangs entscheidend ist: Erst im Moment des Lesens verwirklicht sich der Brief (vgl. Koskenniemi 1956, 46). Ein Brief ist nach antiker Vorstellung somit nicht einfach nur eine Nachricht, sondern stellt einen tatsächlichen oder im Brief imaginierten Kontakt mit dem Empfänger des Briefes dar, „den der Schreiber schon beim Absenden des Briefes vorwegnehmen kann.“ (Koskenniemi 1956, 46) Er ist also Imagination, ‚als-ob‘ von Gemeinschaft (imago praesentiae, vgl. Thraede 1970, 148–149) und vergegenwärtigendes Substitut von Freundschaft (Topos: littera pro lingua; vgl. Thraede 1970, 149); er spendet nicht zuletzt Trost angesichts von Trennung (vgl. Thraede 1970, 168). Hieraus leitet sich die topische Metapher von der ‚durststillenden‘ Kraft des Briefs ab (vgl. Thraede 1970, 171). Briefe werden mit topischen Metaphern als ‚Flügel der Sehnsucht‘ oder als ‚Flügel des Geistes‘ bezeichnet (vgl. Thraede 1970, 174). Solche Vorstellungen vom Brief als Freundschaftsbeweis können in offiziellen Briefen dann auch strategisch eingesetzt werden: Eines Anliegens eines Freundes kann sich ein Adressat schlechter erwehren als desjenigen eines Fremden (vgl. Bauer 2011, 42), weshalb es kommunikativ einen Vorteil ausmacht, die Fiktion freundschaftlicher Nähe zu erzeugen.

1.3 Rhetorik 

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5 Von der mittelalterlichen Ars dictandi zum humanistischen Privatbrief Die Rhetoriktheorie der Frühen Neuzeit steht in der Tradition der Antike. Sie ist Rezeption, Transformation und Adaptation antiker rhetoriktheoretischer Texte. Dies trifft auch auf die frühneuzeitliche Brieftheorie zu. Charakteristisch ist dabei nicht zuletzt der für den Renaissance-Humanismus kennzeichnende, ostentative Bruch mit den mittelalterlichen Traditionen der ars dictandi/ars dictaminis, also den Handbüchern des Verfassens von Prosatexten, wie sie sich seit dem späten 11.  Jahrhundert herausgebildet hatten (zurückgehend z.  B. auf Sammlungen offizieller Briefe in der Kanzlei Theoderichs, über die wir durch Cassiodor unterrichtet sind; vgl. Erasmus von Rotterdam 1980, XXII). Im Rahmen dieser Literaturgattung wurden schwerpunktmäßig offizielle Briefe, amtliche Schreiben und aber auch andere Typen rechtsverbindlicher Dokumente behandelt (vgl. Camargo 1991, 17–18). Verwandt mit der ars dictandi ist die (insgesamt wenig erforschte) Notariatskunst, ars notariae. Der Privatbrief dagegen, das genus familiare, verschwindet im Mittelalter aus der Brieftheorie (vgl. Erasmus von Rotterdam 1980, XVII). Als Brief wurde dabei im Mittelalter im Grunde jede Form von schriftlich verfasstem (und vielfach dann auch öffentlich vorgelesenem) Text angesehen, mit dem ein Autor im Modus der Distanzkommunikation ein bestimmtes Anliegen zu verfolgen sucht (vgl. Camargo 1991, 18). Diese weite Definition (und auch die Tatsache, dass die mittelalterliche Briefkultur keine prinzipielle Differenz zwischen ‚öffentlichen‘ und ‚privaten‘ Schreiben kennt) unterscheidet den mittelalterlichen Brieftypus von dem der nachfolgenden Jahrhunderte. Die offensichtliche Analogie von Brief und öffentlicher Rede machte den Brief zugleich an die Theorie der antiken Rhetorik anschlussfähig. Wichtigster antiker Bezugstext war dabei die Rhetorica ad Herennium eines (heute) unbekannten Autors, die im Mittelalter als authentischer Text Ciceros galt. Daneben spielte Ciceros De inventione eine wichtige Rolle (vgl. Camargo 1991, 19). Die mittelalterliche Rhetorikrezeption ist dabei insofern selektiv, als die Theoretiker vor allem auf die texttheoretischen Überlegungen der antiken Rhetorik zurückgreifen, vor allem die Lehre von der dispositio und der elocutio. Memoria und actio werden dagegen nicht berücksichtigt. Die Lehre von den Redeteilen (partes orationis) wurde für die Disposition von Brieftexten fruchtbar gemacht (Schema der partes epistulae: salutatio, exordium, narratio, petitio, conclusio; vgl. Camargo 1991, 22). Ebenfalls finden sich in den Texten Überlegungen zur Briefstilistik, bisweilen in Anlehnung an die drei rhetorischen Stilgattungen (genera dicendi; vgl. Erasmus von Rotterdam 1980, XXII). Die angemessene Wahl des

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Stiles basiert dabei auf der Idee eines sozialständischen aptum, das für höherstehende Adressaten den hohen, für gleichstehende den mittleren und für niederstehende den niedrigen Stil empfahl. Im Übrigen greifen die Verfasser der artes auf Stilnormen der Rhetorik (virtutes dicendi) zurück; dies bedeutet auch, dass sich in den Texten vielfach auch ausführliche Überlegungen zur Grammatik als Grundlage einer korrekten Ausdrucksweise finden. Konkrete rhetorische Stilmittel werden vielfach in den artes dictandi, ausführlicher aber auch in speziellen Traktaten zu den colores rhetorici behandelt (vgl. Camargo 1991, 24–25). Ebenfalls behandelt wird die Lehre von der Prosakomposition (cursus-Lehre) in produktiver Abwandlung der antiken Lehre von der compositio. Wichtiger Bestandteil der Anleitungstexte sind Überlegungen zu den Normen der angemessenen und korrekten Titulatur – als Bestandteil des Briefanfangs (Grußformel, salutatio) – und deren katalogartige Auflistung; dies ist vor dem Hintergrund der sozialkommunikativen Einbettung des Briefs zu sehen. Solche systematisch angelegten Kataloge von Mustertexten nehmen in den Manuskripten oft erheblichen Raum ein (vgl. Camargo 1991, 22). Sie sind im Sinne einer materialen Topik zu verstehen und stellen einfach zu adaptierende Formeln bereit, bei deren Verwendung der Briefverfasser von sozialer Akzeptanz ausgehen konnte. Bisweilen bezeichnet man terminologisch als ars dictaminis ein Manuskript, das aus einer solchen, oft umfangreichen Sammlung von Mustertexten besteht, dem eine theoretisch angelegte ars dictandi vorangestellt bzw. beigegeben ist (vgl. Camargo 1991, 28). Werke der artes dictandi/artes dictaminis entstehen in Europa seit dem späten 11. Jahrhundert. Allgemein gilt Alberich von Montecassino (gest. um 1108) und sein Breviarium de dictamine als (heute noch sichtbarer) Auftakt einer Literaturgattung, deren Manuskripte in ganz Europa vervielfältigt und distribuiert werden. Der Beginn des Renaissance-Humanismus im 14. und 15. Jahrhundert führt dabei keinesfalls zum Ende dieser Gattungstradition. Wie man dem umfassenden Handschriften-Census von Emil J. Polak entnehmen kann (vgl. Polak 1993–2005), sind Werke der ars dictandi-Tradition auch handschriftlich bis ins 17.  Jahrhundert in ganz Europa nachweisbar. Sie wurden in unterschiedlichen administrativen und wirtschaftlichen Kontexten weiterhin herangezogen; sie haben offenbar an Brauchbarkeit nichts eingebüßt. Daneben entsteht im 15. Jahrhundert erstmals auch eine  – zunächst handschriftliche, nach Erfindung des Buchdrucks rasch auch gedruckte – deutschsprachige Theoriebildung (vgl. die Edition der zentralen Texte bei Knape und Roll 2002). Während über die mittelalterliche Situation inzwischen vergleichsweise viel Forschung existiert, ist über das Mit- und Nebeneinander, die Konkurrenz und Kritik sowie die kontextuell wohl differente Einbindung dieser mittelalterlichen und humanistisch-neuzeitlichen Briefsteller in die Praktiken institutioneller

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Schriftlichkeit (‚Sitz im Leben‘) insgesamt wenig bekannt. Die Rhetorikhistoriographie hat sich vielfach das humanistische Narrativ von der ‚Überwindung‘ des Mittelalters durch die Neuzeit zu Eigen gemacht und die fortdauernde Präsenz mittelalterlicher Traditionen in der Frühen Neuzeit entweder marginalisiert oder abgewertet. Am Beginn dieses Überwindungsnarrativs steht ein Fund: 1345 entdeckt Francesco Petrarca Ciceros Briefe an Atticus, seinen Bruder Quintus und an Marcus Brutus in der Kathedralbibliothek von Verona. Daraus entsteht ein regelrechter Cicero-Kult, in dessen Folge Petrarca u.  a. selbst zwei Briefe an Cicero verfasst (vgl. Erasmus von Rotterdam 1980, XXXI; Schmidt 1983). Petrarca erneuert damit das antike Genre des Privatbriefs, der „als Ausdruck überlegener Urbanität“ (Erasmus von Rotterdam 1980, XXXII) zu einer humanistischen Leitgattung wird. Die Neuentdeckung des Privatbriefs im Renaissance-Humanismus führt zu einer fundamentalen Umorientierung der Brieftheorie. In der Folge geben Humanisten Sammlungen ihrer eigenen Privatbriefe heraus, so etwa umfangreich Aenea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II. (Epistolae familiares, vollendet wohl 1359). Schließlich werden im Jahre 1419 durch den Humanisten Guarino da Verona 118 Briefe des jüngeren Plinius entdeckt. Mit der Entstehung des Buchdrucks werden diese antiken Briefkorpora rasch gedruckt und erreichen weite Verbreitung, ja werden im humanistischen Kontext als Muster und Inbegriff des Briefs und humanistischen Selbstverständnisses überhaupt verstanden. Im Vergleich mit der mittelalterlichen Brieftheorie ist damit, quantitativ wie qualitativ, eine deutliche Veränderung zu konstatieren. Mit der Präsenz des ciceronischen Privatbriefs kommt ein neuer Brieftyp in die Diskussion, dessen familiärer und ungezwungener Ton in ein Spannungsfeld tritt zu dem ausgeprägt normativen Grundzug der (spät-)mittelalterlichen Brieftheorie. An diesem Problem der Integration und Desintegration von Privatbrief und Negotialschreiben mit ihren ganz unterschiedlichen Normativitäten in den einzelnen Brieftheorien arbeiten sich die frühneuzeitlichen Brieftheorien ab. Mit Beginn des Buchdrucks erscheinen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, zuerst in Italien, zahlreiche Briefsteller, die zunächst mehr oder weniger Adaptationen der mittelalterlichen ars dictaminis darstellen, wobei sich humanistischer Geist dort zeigt, wo Fragen des Stils, der elegantia, diskutiert werden (Namen und Daten nach Erasmus von Rotterdam 1980, XLII-LIX; vgl. Burton 2007; Henderson 2014). Die Autoren sind: Nicolaus Perottus (Rom 1473), Franciscus Niger (Venedig 1488) und Ioannes Sulpizio von Veroli (Venedig 1488). Brieftheoretische Werke erscheinen schließlich auch nördlich der Alpen. Autoren sind: Konrad Celtis (Ingolstadt 1492), Heinrich Bebel (Straßburg 1506), Roderich Dubrav (Wien 1515), Jodocus Badius (Wien 1523), Johannes Paulbaer (Krakau 1522). Diese Briefsteller rekurrieren im Sinne des Humanismus auf unterschiedliche Weise auf

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die antike Rhetorik, wobei die Rezeption der Cicero-Briefe in das Theoriegebäude ein wiederkehrendes Motiv ist. Das zeigt nicht zuletzt das Brieflehrbuch des Erasmus von Rotterdam (De conscribendis epistolis, zuerst 1522), das in 90 Auflagen bis ans Ende des 17. Jahrhunderts gedruckt wurde und ein großer Erfolg auf dem Buchmarkt war. Alleine 24 Ausgaben erschienen im ersten Jahrzehnt nach der editio princeps. Bereits 1520 war in Leipzig ein kürzeres brieftheoretisches Werk Conficiendarum epistolarum formula erschienen, das im 16. Jahrhundert insgesamt 59 Auflagen erlebte (vgl. Mack 2011, 90). Erasmus’ Brieflehre hatte eine enorme Strahlkraft: Im Laufe des 16. Jahrhunderts erschienen eine Reihe lateinischer Brieflehren, die seine epistolographischen Prinzipien aufnahmen. Sie wurden auch im Schulunterricht verwendet (vgl. Henderson 2007). Erasmus kritisiert einerseits die – zu seiner Zeit sehr präsenten – mittelalterlichen Briefsteller, vor allem aufgrund ihrer Formelhaftigkeit und Normativität. Er inszeniert damit nicht zuletzt im Sinne des Selbstverständnisses der RenaissanceHumanisten den Bruch mit dem Mittelalter. Andererseits steht aber De conscribendis epistolis strukturell wie inhaltlich eben auch in einer deutlichen Kontinuität mit den artes dictandi. Hierin ist Erasmus kein Sonderfall. Humanistische Briefsteller sind überwiegend eine  – unterschiedlich gewichtete  – „Mischung der herkömmlichen mittelalterlichen summa dictaminis mit auffälliger Gewichtung der rhetorischen Vorschriften und der standesgemäßen Titulatur  – ein Punkt, der […] in der Antike eine nur unbedeutende Rolle spielte – und einer an den mehr oder minder normativen Privatbriefen von Cicero und Plinius formal orientierten Sammlung praktischer Beispiele“ (Erasmus von Rotterdam 1980, XXXII; vgl. insg. Gerlo 1971; Henderson 1983). So polemisiert Erasmus zwar einerseits gegen die Affektiertheit des mittelalterlichen Lateins, bewegt sich andererseits in Stilfragen aber durchaus auch in Kontinuität mit den artes dictandi. In der Tradition von Iulius Victor werden Privatbrief und Geschäftsbrief als die Grundformen des Briefs unterschieden. Diese werden dann in eine von der rhetorischen genera causarum-Lehre beeinflusste Gattungssystematik weiter untergliedert. Erasmus unterscheidet vier Briefgattungen: Ratgebende Gattung (in Analogie zur politischen Beratungsrede, genus deliberativum), darstellende Gattung (‚vorzeigende‘ Lobrede; genus demonstrativum), gerichtliche Gattung (genus iudiciale), schließlich eine außerordentliche Gattung, welche die Briefe des genus familiare aufnimmt. Gerade die letztere Gattung, welche im Kontext der rhetorischen Gattungssystematik einen Fremdkörper darstellt, ist nach Erasmus die in der Praxis am häufigsten gebrauchte Gattung. Diese ausführlich beschriebenen und im Einzelnen auch fein untergliederten Brieftypen stehen in gewissem Kontrast zu Erasmus’ grundsätzlicher Ablehnung allzu pedantischer und genauer Vorschriften, wie sie sich in seiner

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Kritik an den 23 Brieftypen der Typoi epistolikoi des Pseudo-Demetrios zeigt. Im Zentrum der Brieftheorie stehen nicht die Formeln, sondern die „Formung einer kultivierten Persönlichkeit“ (Erasmus von Rotterdam 1980, XLI). Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund spielt der antike Topos vom Brief als ‚Spiegel der Seele‘ bei Erasmus eine geradezu identitätsstiftende Rolle (vgl. Neuhausen 1986). Dies zeigt sich nicht zuletzt in einer insgesamt kritischen Einstellung zu allzu engen Briefnormen: Briefe, so Erasmus, sind nicht immer notwendig kurz, sie sind nicht immer im Gesprächsstil verfasst und verzichten deshalb auf den Einsatz von rhetorischen Figuren. Variabilität ist im Gegenzug das zentrale Charakteristikum des Briefs, womit Erasmus nicht zuletzt einen literarischen Anspruch untermauert (vgl. Mack 2011, 91). Ein anderes Modell der Integration mittelalterlicher und humanistischer Traditionen wählt der Freiburger Kanzlist Friedrich Riedrer (Riederer) in seinem in deutscher Sprache abgefassten und auf die Kommunikation in der Volkssprache zielenden Spiegel der wahren Rhetorik (1493). Die drei Bücher seiner Rhetorik realisieren ein umfassendes Programm auf humanistischer Grundlage: Im ersten Buch bietet Riedrer eine Rhetorik, die auf die mündliche Rede zielt, im zweiten Buch eine Brieflehre und im dritten eine Vertragslehre (vgl. Riedrer 2009, XIV). An der Oberfläche werden hier Traditionen der antiken Rhetorik und der mittelalterlichen ars dictandi in einem Lehrwerk kombiniert, allerdings so, dass die einzelnen Stränge in den unterschiedlichen Büchern separat bleiben. Im zweiten Buch finden sich praktisch orientierte Gesichtspunkte (Vertragswesen) ebenso wie theoretisch ausgerichtete Reflexionen über die Ethik des Schreibers (vgl. Riedrer 2009, XXVI) – eine nicht unerhebliche Frage, geht es doch bei vielen der Schriftstücke um rechtsverbindliche Texte wie Verträge. Es folgt dann eine nach Ständen aufgegliederte Titellehre und ein Kapitel über das Verfassen von Briefen. Hier bezieht sich Riedrer extensiv auf die humanistischen Rhetoriken des Jacobus Publicius (Artis oratoriae epitoma, Venedig 1482) und Franciscus Niger (Modus epistolandi, Venedig 1488). Insbesondere die Ausführungen zur Gliederung des Briefs folgen nicht dem mittelalterlichen Dispositionsmodell, sondern dem von Publicius: „Das ‚Modell Publicius‘ hatte Riedrer offenbar deshalb beeindruckt, weil hier ohne weiteres moderne, d.  h. von humanistischer Antikebindung geprägte Rhetoriktheorie (Officia-Systemrhetorik) mit Bestandteilen der jedem Kanzlisten des 15. Jahrhunderts vertrauten älteren Ars dictandi- und Ars memorativa-Tradition verknüpft waren.“ (Riedrer 2010, 21) Hybridtheorien des Typus ‚Erasmus‘ oder ‚Riedrer‘ sind vor allem fürs 15. und 16.  Jahrhundert typisch. In ihnen zeigt sich ein humanistischer Wille zur Erneuerung der Bindung an die antike Rhetorik bei gleichzeitiger Kritik am Gepräge mittelalterlicher Epistolographie. Überhaupt ist Hybridität ein zentrales Merkmal auch der nachfolgenden Tradition der Brieftheorie. Im 16. Jahrhundert

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sind es die aus Italien stammenden Sekretariatshandbücher, die in Deutschland stark rezipiert werden, im 17.  Jahrhundert dann der Secrétaire de la Cour des Franzosen Puget de La Serre (vgl. Chupeau 1987; Nickisch 1969, 59), der mit den klassizistischen Konzepten von Regelhaftigkeit und Ordnung neue Entwicklungen anstößt, die im Ergebnis zur Kritik an der kanzlistischen Tradition des Negotialbriefs führen. Eine weitere Entwicklung ergibt sich im Gefolge der Kritik an der rhetorischen Topik, die sich, von Frankreich herkommend, seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in Europa ausbreitet und das humanistische Modell der auf dem Konzept der imitatio basierenden Textproduktion radikal infrage stellt.

6 Die Frage nach der ‚Entrhetorisierung‘ des Briefs im 18. Jahrhundert Die germanistische Literaturwissenschaft hat die Geschichte von Brief und Brieftheorie überwiegend auf der Grundlage eines teleologisch angelegten, grundsätzlich positiv bewerteten Narrativs von der „Entrhetorisierung“ (Golz 1997, 251) des Briefs im 18. Jahrhundert dargestellt: „Um 1750 hat sich der deutsche Brief in seiner modernen, heute prinzipiell noch gültigen Gestalt herausgebildet. […] Formal zeigt er sich emanzipiert von den rhetorisch tradierten Brieflehren und den Mustern des Kurial- und Kanzleistils.“ (Golz 1997, 252; vgl. Brüggemann 1971) Fluchtpunkt dieser Entwicklung ist nach weitgehend kanonischer Ansicht der Literaturgeschichte Christian Fürchtegott Gellert, der 1742 einen Beitrag „Gedanken von einem guten deutschen Briefe“ und dann 1751 die maßgebliche Abhandlung Briefe, nebst einer Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen (beide in Nickisch 1971) vorlegte. Mit Gellerts Brieftheorie, so Arto-Haumacher, habe „die Rhetorik als Quelle der Schreibfertigkeit de facto ausgedient.“ (Arto-Haumacher 1995, 56) Dieses Erzählschema greift auf ein allgemeineres (und auch nicht gänzlich unzutreffendes) Narrativ zurück, das vom – positiv verstandenen – Geltungsverlust und disziplinären Ende der Rhetorik im 18. Jahrhundert (vgl. Till 2004 und 2018): Der ‚Untergang‘ der Rhetorik und die Konstitution einer Nationalliteratur im 18. Jahrhundert sind in den Literaturgeschichten schlussendlich zwei Seiten derselben Medaille. Problematisch an dieser Teleologie der „Vollendung“ der deutschen Brieftheorie „durch Gellert“ (so schon Roseno 1933, 56) ist zweierlei: (1) Die Abwertung des Briefs (und der Brieftheorie) vor Gellert aufgrund seiner Prägung durch die Rhetorik. Diese Abwertung trifft vor allem den Negotialbrief und dessen Aufbau wie Stil, der nun mit der Machart des pragmatisch völlig anders gelagerten Freundschaftsbriefs verglichen und in der Konsequenz nachdrücklich abge-

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wertet wird (durchgängiges Wertungsmuster etwa in der wichtigen Arbeit von Nickisch 1969). Ein solcher Vergleich allerdings ist insofern problematisch, als er die anders ausgestaltete soziale Situierung und die formal stärker ausprägten Normen des Brief-Decorum im Falle des Geschäftsbriefs nicht angemessen berücksichtigt. Letztlich werden an den Brief die epochentypischen Stilmerkmale von ‚Natürlichkeit‘ und ‚Ungezwungenheit‘ angelegt, mit denen die aufklärerischen Zeitgenossen selbst literarische Wertungen begründen. Die Wertmaßstäbe, an denen die ‚schöne‘ Literatur gemessen wird, sollen auch für den Brief gelten. Der Privatbrief, vor allem der Freundschafts- und Liebesbrief, wie er dann auch den Briefroman prägt, wird damit zum Paradigma des Briefs schlechthin. Dahinter stehen die Marginalisierung und Exklusion aller pragmatischen Textsorten in der zeitgenössischen Ästhetik und eine Idee von Autonomie, die ‚Literatur‘ erst begründet. (2) Das Narrativ von der ‚Vollendung‘ des deutschen Briefs durch Gellert hat verdeckt, in welchem Maße auch dessen vorgeblich ‚entrhetorisierte‘ Brieftheorie rhetorischen Mustern und Topoi folgt. Wilfried Barner hat darauf hingewiesen, dass Gellert selbst in seiner Praktischen Abhandlung auf Cicero und Quintilian als Gewährsleute verweist. In einer längeren Anmerkung listet er die maßgeb­ lichen spätantiken Brieflehren auf (vgl. Nickisch 1971, 51). Daneben kennt er auch die neulateinische Diskussion, namentlich Erasmus’ De conscribendis epistolis (vgl. Nickisch 1971, 49, 59–60) und Justus Lipsius’ Epistolica institutio (1591; vgl. Nickisch 1971, 47). Er sucht demonstrativ die Anbindung an die rhetorische Tradition (vgl. Barner 1988, 15), wenn er gleich zu Beginn seiner Abhandlung darauf verweist, dass man „einige Grundsätze der Beredsamkeit zu Hülfe nehmen“ (Nickisch 1971, 1) solle. Tatsächlich erweisen sich zwei der zentralen Forderungen Gellerts als Aktualisierungen antiker Brieftopoi: Gellert fordert in der Praktischen Abhandlung unter Bezug auf Seneca, dass der Brief „die Stelle eines Gesprächs vertritt“ (Nickisch 1971, 3). Aus dieser antiken Konstellation leitet Gellert briefstilistische Überlegungen ab, die sich ebenfalls eng an die antiken Normen anschließen. Der Brief ist zwar eine Art des Gesprächs, doch ist in ihm derbe Alltagssprache nicht erlaubt. Er ist mündlich, weshalb die Normen einer „sorgfältigen und geputzten Schreibart“ (Nickisch 1971, 3) – womit Gellert die Normen einer „kanzleyförmigen Schreibart“ (Nickisch 1971, 3) meint – in einem Brief nicht angemessen sind. Gellert reproduziert also genau die antiken Überlegungen zum Stil des Briefs zwischen mündlichem Alltagsgespräch und schriftlichem Text. Die von ihm geforderte Natürlichkeit ist wie in den antiken Theorien nicht spontan und unreguliert, sondern im Sinne der rhetorischen perspicuitas Ergebnis von Kalkül und bewusster stilistischer Komposition (vgl. Barner 1988, 16). In diesem Kontext begründet Gellert seine Briefnormen im Sinne eines immerwährenden Klassizismus unter Rückgriff auf Ciceros De oratore und Quintilians Institutio

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

oratoria. Barners Ergebnisse werden durch eine Studie von Robert Seidel (2004) ergänzt, der die Positionen der Gellert’schen Brieftheorie mit der von Justus Lipsius verglichen hat. Hintergrund ist die Vorstellung einer Epochenähnlichkeit von Späthumanismus und Aufklärung. Die Übereinstimmungen sind in der Tat überraschend: Gellert und Lipsius nehmen etwa in der Ablehnung schulrhetorischer Vorstellungen einer strengen Briefklassifikation und eines formalistischen Verständnisses von inventio und dispositio (vgl. Seidel 2004, 80–83) weitgehend übereinstimmende Positionen ein. Die Distanzierung von der Rhetorik hat somit einerseits ein Moment strategischer Positionierung: Die Brieftheoretiker des 18.  Jahrhunderts kritisieren eine Rhetorik, nämlich die des Negotialbriefs, und verabsolutieren eine andere, nämlich diejenige des Intimität generierenden Freundschaftsbriefs. Dabei verschieben sich die Referenzgrößen: weg von der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Tradition der ars dictaminis, Sekretariatslehren und Notariatskünste mit strenger Regulierung von Normen und zurück zur antiken Rhetorik und ihren Topoi des Freundschaftsbriefs, die neuerliches Interesse finden (und sogar normativ werden können). Die eigentliche Leistung der deutschsprachigen Epistolographen des 18. Jahrhunderts liegt deshalb nicht in der Etablierung einer neuen Theorie des Briefs (diese erweist sich nämlich überwiegend als Rekombination bekannter Versatzstücke, sprich Topoi), sondern im Verfassen von ansprechenden Mustertexten, welche die neuen bzw. erneuerten stilistischen Briefideale anschaulich machen.

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Gunilla Budde

1.4 Geschichtswissenschaft 1 Einleitung: Briefe fürs Leben Seit es Schrift gibt, gibt es Briefe. Briefe gehören zu den ersten historischen Überlieferungen in schriftlicher Form. Als Kontaktmedium, um menschliche Verbindungen auch über Distanzen hinweg aufzunehmen, zu halten, zu bestärken und zu festigen, besitzt der Brief von jeher einen hohen Stellenwert im Lebenshaushalt. Sein Eintreffen unterbrach den Rhythmus des Alltags und verlieh ihm Farbe. „Deine Briefe sind mir wie Fettaugen, die auf der magern Lebenssauce schwimmen“, schrieb der Maler und Kammerherr Wilhelm von Kügelgen am 9. Dezember 1842 an seinen Bruder (von Kügelgen 1990, 123) und brachte damit den substantiellen Wert der gemeinsamen Korrespondenz auf den Punkt. Neuen Geschmack am Leben gewann das Oberhaupt einer turbulenten Familie immer an den Tagen, an denen der Bote Nachrichten des geliebten Bruders ins Haus trug. Briefe wirkten häufig als Lebens-, zeitweilig sogar als Überlebenselixier: Als essentieller Bestandteil des Kontaktes zur Außenwelt, als Brücke zwischen Menschen in Bewegung, als Lebenszeichen und Liebesbeweis. Wenn Historikerinnen und Historiker Briefe der Vergangenheit betrachten, interessieren sie sich dabei weniger für die literarische Qualität als vielmehr für die zwischenmenschlichen Töne, die so in anderen Quellen der Geschichte nicht hörbar sind. In der Historiographie wird der Brief daher insbesondere als autobiographisches Dokument betrachtet, das Aufschluss über die Persönlichkeit des bzw. der Schreibenden und ihre subjektive Sicht auf das Zeitgeschehen verspricht und überdies Einblicke bietet in die Art der Beziehung zwischen denen, die Briefe wechseln. Je größer im Laufe der Zeit die Zahl der Schreib- und Lesekundigen wurde, desto stärker wurden Briefe einerseits auch Teil einer entstehenden kritischen Öffentlichkeit und erlaubten andererseits in zunehmendem Maße Zugang zu sehr unterschiedlichen sozialen Welten. Welche Spielarten von Briefen sind uns aus der Geschichte überliefert? Ab wann historische Briefe sich der modernen Vorstellung der persönlichen Mitteilung annäherten, welche wechselnden Fragestellungen und Ansätze in der Historiographie den Brief als Quelle in den Fokus rückten und welche Forschungsfelder den Griff nach Briefen besonders nahelegen, soll im Folgenden vorgestellt werden.

https://doi.org/10.1515/9783110376531-004

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

2 Varianten von Briefen in der Geschichte Nicht zuletzt dank früher Briefe kann die Geschichtswissenschaft bis in die Frühgeschichte und Antike zurückblicken. Die ersten babylonischen und assyrischen Briefe waren Tontafeln in Keilschrift, Amtsbriefe der hellenischen und römischen Herrscher folgten einige Jahrhunderte später. Briefgedichte und -gesänge von Ovid, philosophische Traktate in Briefform von ebenjenem, Platon oder Horaz sowie die rund 1.000 Holztäfelchen, die im römischen Kastell Vindolanda am Hadrianswall von Soldaten und ihren Frauen gefunden wurden, zeigten bereits in der Antike, wie variabel mit dem Genre, das eigentlich klaren, an der Rhetorik angelegten Mustern folgen sollte, umgegangen wurde (vgl. Krauße 2005, 2 u. 13). Über Jahrhunderte hinweg war die Kulturtechnik des Briefeschreibens einer Minderheit vorbehalten. Entsprechend vermittelten sie Historikerinnen und Historikern ausschließlich Einblicke in eine elitäre Welt. In der Antike waren es die jeweiligen Herrscher und ein Teil der Oberschichten, im Mittelalter vor allem der Klerus, der im Unterschied zur Mehrheit der Gesellschaft über die Fähigkeit des Schreibens und Lesens verfügte. Mönche und Nonnen schrieben entweder in eigener Sache oder dienten als Dienstleister für Schreibunkundige. Die Verkehrssprache der mittelalterlichen Epistolographie war Latein. Sieht man die Grundfunktion von Briefen vor allem in ihrer Informationsübermittlung, so können diese frühen Schreiben durchaus auch als Briefe gelten. In der Regel jedoch, wie Reinhard Nickisch betont, verfügen Briefe darüber hinaus noch über die Funktion des Appellierens und der Selbst-Äußerung. „Das Vorherrschen einer der Funktionen im Briefwechsel einer Zeit kann sogar signifikant für einzelne Phasen oder Epochen der Briefgeschichte sein“ (Nickisch 1991, 13). Eine Akzentverlagerung der Epistolographie von der vornehmlichen Nachricht hin zu einer eher persönlichen Äußerung lässt sich ansatzweise bereits in der Antike, dann aber vor allem seit dem 13. Jahrhundert beobachten. Es waren nicht zuletzt deutsche Mystiker, geleitet von dem Bedürfnis, Gotteserlebnisse und Sehnsüchte zu Papier zu bringen und diese „Seelenschau geistig auszutauschen“ (Nickisch 1991, 31). Rund drei Jahrhunderte später und auch darin wieder seiner Zeit weit voraus, nutzte Martin Luther seine Briefe einerseits als „offene Sendbriefe“, um seine Ideen in die Welt zu bringen, und andererseits, um auf Reisen Teil seiner Familien- und Freundeswelt zu bleiben (vgl. Leppin 2006). Nicht zuletzt durch seine strengen, doch einfühlsamen Vaterbriefe vor allem an die Töchter, zeigte er sich hier auch als Reformator des Briefes als Kommunikationsmedium. Nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ veränderte sich der Briefverkehr mit Zunahme des aufstrebenden und sich international ausdehnenden Handelsverkehrs seit dem 14.  Jahrhundert. Ursprünglich ausgehend von Kaufmannshäusern in Norditalien, der Niederlande und des Vereinigten Königsreichs

1.4 Geschichtswissenschaft 

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blühte das Geschäft und ließ das Bedürfnis wachsen, Handelsverbindungen, -verhandlungen und -verträge schriftlich verbindlich zu machen. Das Medium dafür war der Brief, der nun mehr und mehr zum Massenphänomen avancierte. Diese frühe Globalisierung des Interaktionsraumes, durch Briefe dokumentiert, macht deutlich, dass die globalgeschichtliche, transnationale Perspektive als besondere Form des „Hinsehens und Fragens“ auf die eigene Geschichte im Kontext der Weltgeschichte, die das Möglichkeitsbewusstsein schärft, bereits für diese Zeit opportun ist (Osterhammel 32007, 597). Die jetzt in immer größerer Zahl entstehenden „Geschäftsbriefe“ wirkten von Beginn an, wie Briefe häufig, multifunktional und bieten damit der Historiographie Antworten auf sehr unterschiedliche Fragen nach Verhandlungspraktiken, nach Vertrauensgenerierung und nach der persönlichen Wahrnehmung des jeweiligen Zeitgeschehens. Denn diese Briefe fixierten nicht nur Verträge, sondern vergewisserten sich durch persönliche Zeilen der gegenseitigen Verlässlichkeit und trugen darüber hinaus aktuelle Ereignisse vor Ort hinaus in die Welt. Auf diese Weise entstand eine enge Verbindung zwischen Brief und Zeitung, geriet der Brief zur „Keimzelle“ des späteren Zeitungs- und Zeitschriftenwesens (Nickisch 1991, 13) und trug damit zur Entstehung der Öffentlichkeit bei. So wie die Verkehrswege der Kaufleute und ihrer Briefe Grenzen und Meere überwanden und den Handel immer stärker globalisierten, nutzten auch andere Berufsgruppen den Briefwechsel als Forum des grenzüberschreitenden Gedankenaustauschs. Seit der mit dem 15. Jahrhundert aufkommenden Gelehrtenrepublik und ihrem prominenten Vertreter Erasmus von Rotterdam begann zwischen den unterschiedlichsten Wissenschaftszweigen ein reger Dialog auf schriftlichem Wege, der den Brief zum konstitutiven Element werden ließ: Die wissenschaftliche Zeitschrift fand in diesen Gelehrtenbriefwechseln ihren Ursprung (vgl. Krauße 2005, 3). Damit entstand ein wissenschaftliches Netzwerk enormen Ausmaßes. Allein Alexander von Humboldt wechselte Briefe mit nahezu 2.700 Korrespondenten in aller Welt (vgl. Krauße 2005, 6). Dass nicht zuletzt deutsche Wissenschaftler diesen Weg des schriftlichen Austausches besonders rege nutzten, lag auch an der politisch-geographischen Zersplitterung der deutschen Lande, die den Reiseverkehr erschwerte. Der Brief wurde zum Medium, um, wenn auch zeitversetzt, im Gespräch zu bleiben. In Zeiten, als von internationalen Konferenzen noch keine Rede war, eröffnen diese Briefe, die akribisch und luzide die Wege zu wissenschaftlichen Befunden nachzeichnen, Historikerinnen und Historikern tiefere Einsicht in die zeitgenössischen Denkprozesse als dies für spätere Zeiten, in denen der direkte, ergebnisorientierte Austausch dominierte, möglich war. Ungeachtet der Melange von geschäftlichen, wissenschaftlichen, politischen und privaten Belangen, die diese Kaufmanns- und Wissenschaftler-Briefe aufwiesen, lag der Akzent doch deutlich auf dem eher funktionalen Charakter jenseits

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des Privaten. Doch nach und nach änderte sich dieser Duktus. Bemerkungen über das persönliche Wohl und Wehe finden sich bereits in den Geschäftsbriefen der Frühen Neuzeit. Wie eng verflochten die Welt bereits im 17. Jahrhundert war, wie vielfältig soziale Beziehungen, Konsumpraktiken und Kulturtechniken, Sprachvermögen und Rechtsverständnisse waren und nicht zuletzt, dass sogar kleine Kinder auf den Weltmeeren unterwegs waren und von da aus ihren Eltern schrieben, lassen die erst jüngst in ihrem Potential entdeckte, fast 3.000 Briefe umfassende „Brienne Collection“ (vgl. Signed, Sealed, & Undelivered: http://brienne. org) und vor allem die Prize Papers vermuten, die immerhin rund 160.000, zum Teil noch ungeöffnete Briefe enthalten (vgl. http://www.prizepapers.de). Auch diese Quellenfunde deuten darauf hin, dass sukzessive die auch soziale Funktion der Briefe die Oberhand zu gewinnen begann und die Augen öffnete für die Geschichte des privaten Lebens. Ein Motiv in der Malerei seit dem 17. Jahrhundert verstärkt diesen Eindruck: Menschen, häufig junge Frauen, allein oder im kleinen Kreis, einen Brief schreibend oder lesend, offensichtlich versunken in Gedanken an denjenigen, dem ihr Brief gilt bzw. der ihn sandte, sind darauf zu sehen (vgl. Leymelrie 1967). In der Hochphase der deutschen Briefkultur, im 18. und 19. Jahrhundert, wurde der Brief ganz vornehmlich zu einem Medium des intimen Austausches von Gedanken und Gefühlen, in der Regel zwischen zwei sich nahestehenden Menschen. Während parallel dazu noch der galante Adelsbrief in von jeher formelhafter, doch durchaus persönlicher Manier und in französischer Sprache in einer aristokratischen Oberschicht fortlebte, gesellte sich eine neue, schreibkundige und schreibfreudige Klientel zu dem Kreis regelmäßiger Korrespondentinnen und Korrespondenten. Sehr bald sollten sie den Briefverkehr ihrer Zeit dominieren und stilprägend wirken. Es waren vor allem Frauen und Männer einer neu aufkommenden gesellschaftlichen Schicht, die zwar mit rund 5 Prozent nur eine gesellschaftliche Minderheit darstellte, die aber von dem Selbstbewusstsein erfüllt war, ihrer Zeit die eigene Handschrift aufprägen zu können (vgl. Budde 2009). Diese Bürgerinnen und Bürger bedienten sich des Briefes als genuine Form des persönlichen Austausches und der Selbstvergewisserung. Man schrieb sich auf Deutsch und in einem neuen Stil ohne Manierismen. Programmatisch legte der Leipziger Dichter und aufgeklärte Moralphilosoph Christian Fürchtegott Gellert in seinen Abhandlungen aus dem Jahr 1751 nieder, was den „guten Geschmack in Briefen“ und generell einen „guten Brief“ ausmachen sollte. Als Nachahmung und Fortsetzung des Gesprächs sollten sich Briefe durch „Natürlichkeit“ und Zwanglosigkeit auszeichnen (Schlaffer 1996, 34–35). Das Dialoghafte der Briefe legte den Akzent jetzt noch stärker als vorher auf Brief-Wechsel, die bereits gesammelt in ersten Editionen auf den Markt kamen.

1.4 Geschichtswissenschaft 

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3 Briefe als historische Quellen besonderer Art So wie Briefe sich in ihrer Funktion veränderten, neue Akzente setzten und unterschiedliche Gesellschaftskreise die kulturelle Praxis des Briefeschreibens nutzten, veränderten sich auch die Zugriffe der Historiographie auf diese Quellengattung. Je mehr der Brief an Exklusivität verlor, er gleichsam zur Fortsetzung eines Alltagsgesprächs geriet, desto umfangreicher wurde das Konvolut an Briefquellen, die für sehr unterschiedliche Forschungsfelder der Geschichtswissenschaft herangezogen werden können. Wann Historikerinnen und Historiker zum Brief als Quelle greifen, hängt einerseits vom Erkenntnisinteresse ihrer Forschungen ab, andererseits aber auch von Trendwellen, die selbst der Historiographie nicht fremd sind. Briefe wie überhaupt Ego-Dokumente sind Überlieferungen aus der Vergangenheit, die erst durch Fragen, die an sie gestellt werden, zu Quellen werden. Welcher Aussagewert ihnen beigemessen wird, hängt auch von der Art der Fragestellung ab (vgl. Budde 2008, 53). Erstaunlicherweise hat sich die deutschsprachige anders als die englische Historiographie mit dem Brief als Quelle wenig reflektierend auseinandergesetzt (vgl. Schmid 1988, 2; Earle 1999; Daybell 2006). Selbst in einschlägigen Arbeitsbüchern, die das historiographische Handwerkszeug vermitteln wollen (vgl. von Brandt 182012; Faber und Geiss 1983), vermisst man ein explizites Eingehen auf diese Textsorte. Sogar in Abhandlungen über „Ego-Dokumente“ wird der Brief links liegen gelassen (vgl. Schulze 1996). Ob die Fülle von amtlichen Schreiben, von Meisterbriefen des Handwerks, von Verkündigungen und Verordnungen der jeweiligen Obrigkeiten, die in der Antike und im Mittelalter hinund – manchmal auch – hergingen, selbst wenn sie sich der Selbstbezeichnungen ‚Brief‘ bedienten, auch heute als ‚wirkliche Briefe‘ bewertet werden sollten, wird nicht diskutiert. Offenbar herrscht Konsens, diese Überlieferungen eher als ‚Urkunden‘ einzustufen. Eine eher enge, in Teilen zu enge, Definition war die Folge. „Ganzen Zeitaltern wird so das Recht auf eine eigene Art und Form des Briefes aberkannt“, kommentiert der Germanist Reinhard Nickisch dies kritisch (Nickisch 1991, 1). Damit wandte er sich vor allem gegen das rigide Diktum, das den Brief allein „als eine schriftliche Mitteilung persönlichen Inhalts, gewechselt zwischen Partnern, die in rein persönlicher, nicht amtlich oder geschäftlich bedingter Beziehung zueinander stehen“, verstanden wissen wollte (Schmid 4 2004, 111). Die Weimarer Historikerin, Archivarin und Goethe-Editorin Irmtraut Schmid, von der diese Begriffsbestimmung stammt, gehört zu den wenigen, die sich mit Briefen als historischen Quellen auseinandergesetzt haben (vgl. Schmid 1988; Schmid 1996; Schmid 42004). Würde man allerdings einer solchen Reduktion des historischen Briefkorpus folgen, fielen alle Briefe und Briefwechsel durchs Netz, die sich gerade durch ihren hybriden Charakter, eben auch dies ein

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Merkmal von Briefen, auszeichnen. So etwa die oben genannten Briefe der Renaissance und der Frühen Neuzeit ebenso wie die Korrespondenzen, die zwischen Besitzern von Familienunternehmen des 19.  Jahrhunderts hin- und hergingen, zu denen auch die Briefe des Industriellen Hugo Stinnes zählen (vgl. Feldman 1998). Anders als Schmid vermutet (vgl. Schmid 1988, 4), gab es auch noch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durchaus Geschäftsbriefe, die die Unternehmer höchstselbst verfassten und in denen sie Geschäftliches und Privates bunt mischten. Doch auch wenn das Gros der Historikerschaft eine weitere Definition präferiert, verweist die übliche Unterscheidung zwischen ‚Schreiben‘ als Teil des tradierten Urkundenmaterials und ‚Brief‘ als eher privatem Mittel der Kommunikation auf den Konsens, dass die persönliche Note zur Eigenart des Briefes gehört. Eben diese persönliche Färbung des „modernen Briefs“ (Schlaffer 1996, 34), der nicht zum „Aktenschriftstück“ geworden ist (Schmid 1988, 4), wird als Besonderheit der Quelle pointiert. Was bedeutet das für die Historiographie? Was erfahren Historikerinnen und Historiker aus Briefen, was sie aus anderen Dokumenten der Vergangenheit nicht erfahren? Briefe gehören zu den historischen Zeugnissen, die im Laufe der Geschichte von einer immer größer werdenden Mehrheit der Gesellschaft geschrieben werden konnten. Und auch geschrieben wurden, selbst wenn nur ein Bruchteil dann wirklich überliefert wurde. Hier war es dann doch die Prominenz des Schreibenden, die die Chance der Aufbewahrung in Archiven erhöhte. Selbst wenn es in der Geschichte immer gesellschaftliche Gruppierungen gab, die für sich das Briefmonopol in Anspruch nahmen, verlor zumindest die Kompetenz des Briefeschreibens, wenn auch nicht das Motiv, zunehmend an Exklusivität. Nun in Umgangssprache verfasst, gleichsam als zeitversetztes Aufgreifen eines Gesprächsfadens, wurden Briefe gleichzeitig Spiegel der gesellschaftlichen Verfassung wie der Persönlichkeit des Verfassers. Je nach Herkunft der Briefschreiberinnen und -schreiber bieten ihre Briefe mehr oder minder persönliche Einblicke in sehr unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche, von denen andere historische Quellen schweigen. Als Teil des autobiographischen Schreibens, als Ego-Dokumente, geben sie Aufschluss über das historische Subjekt, seine Erfahrungen, Wahrnehmungen und Empfindungen. Neben anderen Formen von Selbstzeugnissen wie Tagebüchern und Autobiographien gehören Briefe damit zu dem Quellengenre, das Authentizität zumindest verspricht. Briefe zählen zu den wenigen Geschichtsquellen, die die Innenseite der Geschichte beleuchten, die Persönlichkeit des historischen Akteurs sichtbar machen und seine Gefühle ahnen lassen. Eben diese Komponente des Briefes wird gemeinhin als sein Charakteristikum identifiziert und, je nach Gusto, als besondere Chance, Herausforderung oder auch Tücke der Quelle betrachtet.

1.4 Geschichtswissenschaft 

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„Briefe gelten als die Kommunikationsform, welche die persönlichsten und individuellsten Äußerungen erlaubt und ermöglicht.“ (Bausinger 1996, 299) Für den Brief spricht, und da gehen die Meinungen kaum auseinander, dass er es vermag, Tonfall und Timbre des Zeitgeistes zu vermitteln. Überdies verrät er, welche Fragen und Themen die Zeitgenossen umtrieben, und gibt Einblick in die sprachlichen Usancen und Chiffren seiner jeweiligen Entstehungszeit. Kommen Briefe als geschlossene und mehr oder weniger umfangreiche Briefwechsel daher, die sich über mehrere Jahre erstrecken, lassen sie Erkenntnisse über den Entwicklungsprozess der Schreibenden sowie auch ihrer Beziehung zueinander zu. Doch gerade weil Briefe der verführerische Hauch vermeintlicher Authentizität umweht, müssen sie den strengen Test der historiographischen Quellenkritik durchlaufen (vgl. Budde 2008, 67). Dazu gehört zum Ersten der äußere Zustand, die Qualität der Überlieferung, die Art der Schrift, das Material, auf dem und mit dem geschrieben wurde, und die Frage, ob es sich um ein Original oder eine Abschrift handelt. Um einen Brief als historisches Zeugnis ernst nehmen zu können, ist es zum Zweiten unabdingbar, dass eine möglichst exakte zeitliche und örtliche Zuordnung vorgenommen werden kann. „Du hast also jetzt, liebe Li, das getan, was Dich so viel kostete; der gute kleine Theodor ist also nun schon acht Tage entwöhnt. […] Wenn auch alles noch so gut geht, ist das Entwöhnen doch immer mit Schmerz und Angst verbunden.“ Das klingt nach einem ‚neuen‘ modernen Vater. Wer aber würde hinter den einfühlsamen Worten einen Vater aus dem 18. Jahrhundert vermuten? Kein Geringerer als Wilhelm von Humboldt ist es, der hier so empathisch sich in die Gefühlswelt und Körperlichkeit seiner Frau Caroline hineinversetzt (von Sydow 1907, 57). Auch mögliche Reisen, die Briefe hinter sich hatten, seit ihre Verfasserinnen und Verfasser sie auf den Weg gebracht hatten, sind von Belang. Ist der Brief über Jahre oder Jahrhunderte unberührt bewahrt worden oder haben unterschiedliche Leserinnen und Leser sich auf ihm verewigt, durch Marginalien am Rande, Unterstreichungen oder andere Hervorhebungen? Zum Dritten ist vor allem die Frage, wer schreibt und an wen, für den Aussagewert des Briefes essentiell. Soziale Herkunft, Geschlecht, Konfession und Nationalität von Verfasserinnen und Verfassern sowie der Empfängerinnen und Empfänger sind dabei ebenso entscheidend wie das Thema, der Anlass, das Ziel und die Stellung des Briefes im Kommunikationsprozess der sich brieflich Austauschenden. Schreibt man auf Augenhöhe? Ist der Brief das regelmäßige Verkehrsmittel, weil man eine dauerhafte Entfernung voneinander überbrücken muss, oder ist er die Ausnahme aufgrund einer kurzzeitigen Abwesenheit einer bzw. eines der Briefpartnerinnen und -partner? Zum Vierten stellt sich die Frage, ob der Brief ausschließlich an den Adressaten bzw. an die Adressatin gerichtet ist. War er als ein durch das Briefgeheimnis geschütztes, der Außenwelt nicht zugängliches, rein privates, sehr persönliches Dokument gedacht – oder hatte der

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Briefschreiber bzw. die -schreiberin vielleicht einen größeren Empfängerkreis vor Augen und später gar eine Veröffentlichung zumindest im Hinterkopf? Wie befriedigend sich alle diese Fragen beantworten lassen und welche Lücken bleiben, ist entscheidend dafür, welche geschichtsmächtige Aussagekraft Briefen zuerkannt wird. Namentlich Briefe erfordern die Bereitschaft und Kompetenz von Historikerinnen und Historikern, sie mit einer „möglichst beweglichen Optik“ zu betrachten und zu interpretieren (Schmölders 1988, 5), gleichsam auch zwischen den Zeilen zu lesen. Gerade weil viele Briefe und Briefwechsel immer auch eine Fülle von Belanglosigkeiten und Wiederholungen enthalten, müssen diese ebenso als genuines Signum hingenommen werden wie die Augenblicke, in denen ihre Offenheit, Intimität und Nähe uns anrührt, und wie die Momente, in denen sie verstummen und uns irritieren. Für die Historiographie besonders ergiebig sind Briefe, die in einem umfassenden, weitgehend lückenlosen Briefkorpus vorliegen. In einem solchen Idealfall ist die Chance gegeben, dass man hinter die Kulissen einer Familie oder einer Beziehung schaut, man hineinlauschen kann in ein brieflich fortgesetztes Alltagsgespräch der Vergangenheit. Zwar lässt sich damit nicht eine Face-to-FaceKommunikation beobachten, die lediglich für Zeithistoriker und -historikerinnen filmisch erlebbar ist. Doch mittels des gewohnten Schriftbildes, das vielleicht durch Nuancen von Veränderungen Rückschlüsse auf Stimmung und Verfassung der Schreibenden erlaubt, gelingt eine gewisse ‚Tuchfühlung‘ und entsteht eine Ahnung von der Aura ihrer Entstehungszeit. Gerade „diese Verführung zum lebendig wirkenden Detail einer Biographie, einer menschlichen Konstellation, die jede historische Distanz aufzuheben und Geschichte als Gespräch nahezubringen scheint“, macht den besonderen Quellenwert eines Briefes aus (Schmölders 1988, 5). Doch selbst die Briefe, die unverstellt-schnörkellos und nicht mit Blick auf eine größere Öffentlichkeit daherkommen, erfordern einen Rest Zweifel an ihrer Authentizität und Glaubwürdigkeit. Schon den lesenden Zeitgenossen fehlte das Korrektiv von Mimik, Stimmfarbe und Gestik des Gegenübers. Erst recht müssen analysierende Historikerinnen und Historiker zwischen den Zeilen zu lesen lernen, um das Stilmittel der Täuschung nicht zu übersehen. „Verstellung ist nirgendwo so leicht wie im Brief“ (Baasner 1999, 3). Hinzu kommt, dass gerade Briefwechsel zwischen miteinander sehr Vertrauten auch Anspielungen und Andeutungen enthalten können, die für Außenstehende kaum dechiffrierbar sind. Je mehr die Briefpartner voneinander wissen und je besser sie sich kennen, desto eher lassen sie alles für sie Selbstverständliche aus und spätere Historikerinnen und Historiker manchmal ratlos zurück. Briefe, wie auch alle historischen Ego-Dokumente, sind immer auch Bühnen der Selbststilisierung und Selbstspiegelung. Und sie vermitteln neben dem

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Selbstbild auch immer das Modell, das die einander Schreibenden voneinander haben – bis hin zur Selbstentlarvung. Wilhelm II. etwa versicherte sich in seinen Briefen an Zar Nikolaus wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg immer wieder dessen besonderer Zuneigung, nicht zuletzt durch Diffamierungen der Politik der englischen Verwandtschaft. Wenn es dem Herausgeber der Briefe zwei Jahre nach Kriegsende vor allem darum ging, „den guten Willen und vor allem seine ehrliche Friedensliebe“ zu dokumentieren, eröffnete er mit der Dokumentation eher ganz andere Seiten des letzten deutschen Kaisers. Da zeigte sich nicht der friedfertige Monarch, sondern ein Kaiser, dessen Weltbild vor Feindbildern nur so wimmelte. „My Reichstag“, schrieb Wilhelm an Vetter „Nicky“ am 7. Februar 1895, „behaves as badly as it can, swinging backwards and forwards between the socialists, egged on by the jews and the ultramontane catholics, both parties being soon fit to be hung.“ (Wilhelm II. 1920, 290) Solche selektiven Briefeditionen, die mehr ans Tageslicht bringen, als es dem kaisertreuen Herausgeber recht sein konnte, schmälerten lange Zeit die Vertrauenswürdigkeit der Quelle Brief in gedruckter Form.

4 Konjunkturen für den Brief als Quelle Eben die Eigenarten von Briefen im Zusammenspiel mit manchmal unseriösen Editionsusancen sind dafür verantwortlich, dass einige Vertreterinnen und Vertreter der Geschichtswissenschaft sie nur mit Vorbehalten und einiger Skepsis überhaupt als Quellen ernst nehmen. Als Bekundungen von Individuen können sie, so ein weiterer Einwand, den Anspruch auf Repräsentativität nicht erfüllen. Diese Reserviertheit hegen einige Historikerinnen und Historiker in der Regel gegenüber Selbstzeugnissen im Allgemeinen und Briefen im Besonderen. Der Beigeschmack des Subjektiven, der Ego-Dokumente umgibt, führt häufig zu ihrer Marginalisierung. Doch diese Haltung lässt zum einen außer Acht, dass auch vermeintlich ‚objektivere‘ Quellen wie Urkunden, amtliche Dokumente und Statistiken ebenso wenig blankgeputzte Fenster zur Vergangenheit sind (vgl. Budde 2008, 59). Zum anderen wird auch der Vorzug übersehen, dass autobiographische Quellen Einblicke in private, vor der Außenwelt abgeschirmte Sphären bieten, was anderen Quellen nur ansatzweise oder auch gar nicht gelingt. Wann Briefe als Quellen besonders in der Gunst der Historikerschaft stehen, hängt nicht nur mit individuellen Forschungsprioritäten, sondern auch mit jeweiligen Konjunkturen in der Geschichtsschreibung zusammen. Welche Themen, Ansätze und Fragestellungen gerade die Zunft bewegen, bestimmt auch die Auswahl ihrer Quellen. Eine erste Blütezeit erreichte der Brief in der neueren His-

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toriographie im Rahmen des Historismus des 19. Jahrhunderts. Dieser Zugang zur Geschichte, der sich vor allem auf Haupt- und Staatsaktionen fokussierte und sich auf die ‚großen Männer, die Geschichte machen‘, konzentrierte, entdeckte den Brief als Einfallstor, um eben diesen Geschichtsmächtigen mithilfe ihrer persönlichen Episteln näherzurücken. Der Brief, in dieser Phase eher unkritisch wortwörtlich genommen, verhieß voyeuristische Schlüssellochblicke auf die andere, die ‚eigentliche‘ Seite des historischen Helden, den man im Visier hatte. Als Chance, bis in die Privatgemächer vorzudringen, stand er als Quelle für das intime Sahnehäubchen hoch im Kurs, entsprechend teuer gehandelt wurden und werden Privatbriefe aus prominenter Feder. Bis heute sind sie begehrte Sammelobjekte, deren Marktwert begabten Fälschern und Fälscherinnen Tür und Tor öffnet (vgl. Aachen 2018). Ein innovativer historiographischer Ansatz, der den Abschied von solchem methodologischen Individualismus propagierte, ließ den Brief als Quelle dann zunächst wieder in den Hintergrund treten. Die seit den 1970er Jahren aufkommende Sozialgeschichte mit ihrer Absicht, theoriegeleitet die Geschichte ganzer Gesellschaften und ihrer sozialen Klassen und Bewegungen schreiben zu wollen (vgl. Budde 2011, 58–59), vernachlässigte den Brief bei der Quellenschau. Bei dem Versuch, die Geschichte der ‚kleinen Leute‘ zu schreiben, konnten Briefe nicht die erste Wahl sein. Denn den Arbeiterinnen und Arbeitern fehlten in der Regel die Zeit, Kraft, Motivation und häufig auch noch das Vermögen, sich brieflich zu artikulieren. Zwar nutzten politische Emigrantinnen und Emigranten den Brief als Medium der Kommunikation und Ideenkolportage – allein Marx und Engels wechselten nahezu 20.000  Briefe  –, doch die Vertreterinnen und Vertreter der Sozialgeschichte lasen solche Quellen primär und zu Recht als Zeugnisse der Ideengeschichte. Erst der kritische Blick der Sozialhistorikerinnen und -historiker auch auf die Geschichte des Bürgertums seit der Mitte der 1980er Jahre holte den Brief langsam wieder aus der Versenkung hervor. Um dem Bürgertum des langen 19.  Jahrhunderts auf die Spur zu kommen, war eine kulturhistorisch erweiterte Sozialgeschichte gefragt. Vor allem der Befund, dass das so heterogene Bürgertum sich weniger aufgrund sozio-ökonomischer Ähnlichkeiten als Teil einer gemeinsamen sozialen Formation verstand, sondern dass es vor allem eine gemeinsame Kultur war, die es zusammenhielt, machte den Brief als möglichen Zugang zum bürgerlichen Wertehimmel wieder salonfähig. Auf der Suche nach Zeugnissen, die das bürgerliche Familienideal belegten, stieß man auf einen reichen Quellenfundus von Privatbriefen, die die Vielfalt der Funktion des Briefes für die Kultur der Bürgerlichkeit augenscheinlich machten. Pflichtbriefe von kleinen Bürgerinnen und Bürgern, die sich damit in einer hochgeschätzten Kulturtechnik ihrer Klasse üben sollten (vgl. Budde 1994, 91 u. 125–126; Baasner 1999, 16), Ehebriefwechsel, wie

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der zwischen Wilhelm und Caroline von Humboldt, die sich über ein klassisches Bürgerthema, die Erziehung der Kinder, verständigten (vgl. von Sydow 1907), oder die Korrespondenz des Ehepaars Fontane, in der Theodor eine Mustergattin einklagte, die ihn „schwimmfähig“ halten solle (Fontane und Fontane 1998, 72), und Emilie mit weiblichem Eigen-Sinn dagegenhielt, boten reichhaltiges Material für Annäherungen ans Bürgerleben (vgl. Budde 2000, 249). Es waren sehr früh und sehr häufig Frauen, die die Kunst des ‚modernen Briefes‘ meisterhaft beherrschten. Da ihnen die Zeitgenossen die „Natürlichkeit“ gleichsam ins Geschlechterbuch geschrieben hatten und eben diese seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zum Qualitätssiegel des Briefes avanciert war, bewegten sie sich damit in einer Sphäre, die ihnen selbst die Männerwelt nicht mehr streitig machte. Vertreterinnen und Vertreter der Frauen- und Geschlechtergeschichte nahmen von daher Frauenbriefe als eine ergiebige Quelle, um Frauen zu entdecken und zu zeigen, die sich auch entgegen der ihnen zugewiesenen weiblichen Bestimmung neue Wege bahnten und ausbauten. Namentlich Frauen, die sich auf Reisen begaben, schrieben Briefe und belegten damit, dass auch der weibliche Radius über den kleinen Kreis der Familie hinausragen konnte. Als ein Paradebeispiel weiblicher Rebellion gegen die (Brief-)Konventionen ihrer Zeit gilt Liselotte von der Pfalz. 1652 in Heidelberg geboren, verbrachte sie ihr Eheleben an der Seite des Herzogs von Orléans, eines Bruders Ludwigs XIV. Diese hochadelige Verwandtschaft verschaffte ihr Einsichten in das französische ­Hofleben und hinderte sie keineswegs, dieses unverblümt in ihren Briefen zu karikieren. Doch auch ihr engster Familienkreis blieb von ihrer spitzen Feder nicht verschont. Von ihrer kleinen Tochter schrieb sie, sie sei „so fett […] wie eine gemäste gans“ und sie schlage „ihrem namen Liselotte nicht übel nach und wohl so eine dolle hummel als ich vor diesem war.“ (Schmölders 1988, 61–62) Und von ihrer Schwiegertochter heißt es: „Was meine Schwiegertochter anbelangt, so werde ich keine Mühe haben, mich an sie zu gewöhnen, denn wir werden nicht so oft beieinander sein, dass wir einander verdrießlich fallen möchten.“ (Haberl 1996, 151) Ein solches unverblümtes, ja schonungsloses Aufbrechen der Gattungsnormen war gleichzeitig auch Beleg dafür, dass der Brief in der Geschichte und für die Geschichtsschreibung als Seismograph dienen kann, um Umbrüche und Aufbrüche zu indizieren. Zu den neuen Akteuren, die originelle Formen im Briefverkehr wählten und damit häufig gesellschaftliche Erwartungen unterliefen und konterkarierten, gehörten auch Vertreterinnen des Bürgertums, das seit dem 18.  Jahrhundert den gesellschaftlichen Ton vorgab. Vorläuferinnen hatten sie in den berühmten Salonièren und Briefeschreiberinnen wie Caroline Schelling, Rahel Varnhagen und Bettina von Arnim, die dann von den Vertreterinnen und Vertretern der Frauen- und Geschlechtergeschichte als Vorreiterinnen der Frauen-

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emanzipation gefeiert wurden. Je beharrlicher sich Frauen schreibend betätigten, desto souveräner konnten sie mit dem Genre jonglieren und seine Regeln peu à peu und klammheimlich aushebeln und umschreiben. Exemplarisch führten das die Schriftstellerin Luise Gottsched und die Oldenburger Gräfin von Bentinck, eine Freundin Voltaires und emphatische Briefeschreiberin, vor, die sich in den 1760er Jahren in Leipzig als Wahlverwandte fanden, um die Vorherrschaft der männlichen Gelehrtenwelt humorvoll und triumphierend zu hinterfragen. Wenn Gellert im Verein mit Luise Gottscheds Gatten den natürlichen Briefstil einforderte, doch beide unter „natürlich“ etwas anderes verstanden, beherrschten die beiden Frauen diesen längst. Begeistert charakterisiert die Gottschedin ihre neue Freundin im Brief an eine alte, wenn sie diesen wie folgt abschließt: „Sie ist keine Schönheit, und auch jetzt schon in den Jahren, wo die größten Schönheiten ihrem Spiegel gram werden; allein sprechen Sie mit ihr, so werden Sie beydes nicht vermissen.“ (Gottsched et al. 2009, 14) Da Frauenbriefe seit dem 17. Jahrhundert sehr unterschiedliche Facetten von Frauenleben und -optionen aufdeckten, konnten Sammlungen von Briefen aus weiblicher Feder mit Rückenwind der Gender-Studies seit den 1980er Jahre eine Hochzeit erleben (vgl. zuletzt Bollmann 2008). Ob Frauen anders schreiben als Männer, ist eine Frage, die sich dabei aufdrängt (vgl. Hämmerle 2003), die jedoch keine eindeutige Antwort zulässt. Neben dem Geschlecht der Schreibenden spielt immer auch die jeweilige Situation eine wichtige, wenn nicht wesentlichere Rolle. Auch der linguistic turn kurbelte den Erfolgskurs des Briefes in der Historiographie seit den späten 1980er Jahre weiter an. Diese neue Perspektive auf die Geisteswissenschaften, aus den USA kommend, fand auch Resonanz in der deutschen Historiographie. Inspiriert von der Vorstellung, dass es die Sprache ist, die Wirklichkeit trägt und konstruiert, legte man den Fokus auf Sprachäußerungen und die große Wandelbarkeit ihrer Bedeutung. Während bis dahin der Brief als literaturwissenschaftliche Gattung einerseits und als historische Quelle andererseits getrennt betrachtet wurden, begannen nun die Grenzen zwischen den Disziplinen zu verschwimmen, was nicht zuletzt auch einen gegenseitigen Transfer des methodischen und theoretischen Handwerkszeugs nach sich zog. Auch der seit den letzten zwei Jahrzehnten immer stärker geforderte praxeologische Ansatz, mit dem sich die Geschichtswissenschaft bis heute schwertut, lenkt die Aufmerksamkeit auf die kulturelle Praxis des Briefeschreibens. Nicht zuletzt Briefe, und dies bereits seit dem Mittelalter, fungieren dabei als Foren beobachtbarer Ich-Konstruktionen und Selbst-Performances. So wie der Brief als „Privattheater  […] der Selbstdarstellung und Selbstbehauptung“ (Müller-Funk 2004, 357) gedeutet werden kann, gehörte der bewusste Akt des Briefschreibens in der Vergangenheit zu den „Praktiken der Subjektivierung“ (Alkemeyer et al. 2013) mit hohem „Inszenierungspotential“ (Reinlein 2003, 9 u. 39). Einen Brief

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zu schreiben, zu falten, zu versiegeln oder in ein Kuvert zu schieben, ihn einem Boten oder seit 1823 einem Briefkasten zu überlassen, sind kulturelle Praktiken, die sich im Laufe der Geschichte veränderten. Den Brief überdies, was bislang nicht geschehen ist, in seiner auch sinnlichen, da haptischen und olfaktorischen Komponente in die Geschichte der Dinge aufzunehmen, ist noch ein Desiderat. Zwar prangt auf dem Cover einer neueren Publikation zur „Herrschaft der Dinge“ eine Schreibfeder, den Brief als Artefakt sucht man darin hingegen vergeblich (vgl. Trentmann 2016). Ein noch relativ junger Ansatz in der Geschichtswissenschaft, die Emotionsgeschichte (vgl. Frevert 2019), hat dazu geführt, dass in den letzten Jahren EgoDokumente – und damit auch der Brief – vom Rand ins Zentrum historiographischer Quellenwahl rückte. Auf der Suche nach Gefühlen in der Geschichte und mit der Absicht, die Historizität von Emotionen auszuloten, sind Briefe als die Quellen, die am ehesten einen offenen Umgang mit Gefühlen erwarten lassen, ein besonders gefragtes Genre.

5 Themenfelder: Trennungen, Getrenntsein, Distanzen Nicht zuletzt auch die emotionale Komponente wird mit der Hinzuziehung von Briefen erkennbar, wenn man historische Themenfelder betrachtet, für die Briefe in besonders reichlichem Umfang vorliegen. Zeiten von Trennungen sind Hochzeiten für Briefe. Ob ungewollt, erzwungen oder freiwillig: Phasen des Abschieds von Vertrauten ließen auch Menschen zur Feder greifen, die dies vordem kaum getan hatten. Im 19. Jahrhundert waren es Migrationsbewegungen, die vor allem Familien auseinanderrissen. Die unzähligen Briefe, die zu den Zeiten der drei großen Auswandererwellen zwischen den 1830er und 1880er Jahren entstanden, stammten nun ganz überwiegend von Menschen, in der Mehrheit jungen Männern, für die das Schreiben von Briefen eine ungewohnte Herausforderung bedeutete, der sich Millionen dennoch beherzt stellten. Diese Briefe dienten nicht nur dazu, die Verbindung zur Familie aufrechtzuerhalten und das Heimweh zu stillen, sondern entwickelten gleichzeitig eine Sogkraft ungeahnten Ausmaßes. Indem die Kleinbauern, Handwerker und Tagelöhner ihre success stories in der Neuen Welt in zunächst unbeholfenen, dann zunehmend selbstbewussten Briefen nach Hause sandten, mobilisierten sie mit ihrem positiven Amerikabild die heimatliche Motivation, es ihnen nachzutun. Man geht davon aus, dass diese Privatbriefe bei der Anwerbung ungleich besser funktionierten als alle offiziellen Werbemaßnahmen (vgl. Kamphoefner und Sommer 1988; http://www.auswandererbriefe.de).

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Nur eine Minderheit der Auswanderer bewegten auch politische Motive. Doch im Zuge der Revolutionen von 1830 und 1848 hatte sich nicht zuletzt auch im Deutschen Reich eine Fundamentalpolitisierung breiter Schichten durchgesetzt und eine Fülle von Vereinigungen, sozialen Bewegungen und Parteien in Gang gebracht. Die Forderungen nach Mitsprache und Teilhabe am politischen Leben waren häufig ein Wagnis, das mit Gefängnis bestraft wurde oder zur Emigration zwang. Briefe dienten dazu, neben dem Kontakt zur Familie (vgl. Bebel und Bebel 1997) auch den Kontakt zu Parteigenossen und Mitstreitern zu halten und die Vernetzung weiter auszubauen (vgl. Welskopp 2002). Auch die aufkommende Frauenbewegung, lange Zeit ausgebremst durch das restriktive Preußische Vereinsgesetz, das weibliche Mitgliedschaft in politischen Vereinen unterband, nutzte den Brief als Mittel zur Selbstverständigung und gegenseitigen Ermutigung. Es offenbarte sich dann später, wie politisch klug und hellsichtig dieser Briefverkehr einige von ihnen gemacht hat. „Bin nur neugierig“, schrieb 1925 Helene Lange nach der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten, „wann sich die auf Nackenbiegen begierige Masse ein dekadentes Königsgeschlecht wieder holt! Wir kommen nicht mehr hoch.“ (Lange 1957, 235) Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Briefe als Kommunikationsmedium an Bedeutung zu verlieren begannen, waren es die beiden Weltkriege, die diese Tendenz gewaltsam umkehrten. Allein zwischen 1914 und 1918 gingen rund 25 Milliarden Briefe zwischen Front und Heimatfront hin und her. Im Wissen um den Wert der regelmäßig ankommenden Briefe für die Moral zu Hause und im Feld entstand eine ausgefeilte und erstaunlich gut funktionierende Logistik der Beförderung. Auch das Briefgeheimnis, so scheint es, überwand Vorstellungen einer Zensur, die offenkundig nur schwach griff (vgl. Ziemann 1996, 163–164). „Laß nur recht oft von Dir hören, mein Junge. In unserer furchtbaren Vereinsamung sind nur Deine Briefe ein kleiner Trost“, schrieb die Arztfrau Elsbeth Budde ihrem Sohn im November 1915 (Budde 2019, 247). Dieser war, nachdem sein drei Jahre älterer Bruder Ernst im August 1915 vor Warschau gefallen war, übriggeblieben, und musste nun, ebenfalls zum Fronteinsatz bereit, durch Briefe eine Lücke füllen, die nicht zu füllen war. Was dies für den emotionalen Haushalt der Familie bedeutete, ist unschwer vorstellbar. Und selbstverständlich berichtete er, wie sein Bruder zuvor, von seinen Heldentaten und unfähigen Vorgesetzten. Solche geschlossen überlieferten Briefwechsel erlauben Blicke auf die sehr wechselvollen Gefühlskaskaden während der Weltkriege (vgl. Budde 2019; Wierling 2013). Feldpostbriefe sind seit einigen Jahrzehnten zur gut erforschten Quelle zur Geschichte der beiden Weltkriege geworden (vgl. Lamprecht 2001). Sie wurden im Zuge der Alltagsgeschichte der 1990er Jahre in ihrem Wert für den Alltag an Front und Heimatfront entdeckt und liegen mittlerweile in zahlreichen Editionen und

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seriösen Internet-Foren als Quellenbestand für die Historiographie vor (vgl. etwa International Encyclopedia of the First World War, http://www.1914-1918-online. net). Als Gemeinsamkeit dieser häufig von sehr jungen Männern verfassten Briefe wird einerseits ein schneller Stimmungsumschwung von Euphorie zur Desillusionierung identifiziert, andererseits, durchaus paradox, das Geschönte und Verharmlosende der Briefe hervorgehoben. Allen Briefen gemein ist der schnelle Themenwechsel, das Nebeneinander zwischen Banalität und Pathos. Für die wenigsten dieser Briefsammlungen, die Bezeichnung ‚Feldpostbriefe‘ verrät dies bereits, liegen auch ihre jeweiligen Pendants aus der Heimat vor. Wenn dies in Ausnahmen der Fall ist, setzte das mindestens zweierlei voraus: Zum einen die Bereitschaft, unter den Bedingungen des totalen Krieges die Briefe von zu Hause immer wieder zu verstauen und mitzuschleppen. Zum anderen, als Antrieb dieses Aufwandes, bedurfte es dafür auch des Willens und der Vorstellung, dass man nicht nur als Soldat an der Front Geschichte schreibt und macht, sondern dass die Familie als Gesamtheit ihren Anteil daran hat. Es war eine von Familiensinn und Familienstolz getriebene Praxis und ein Konsens über den ideellen Wert der Briefe aus besonderer Zeit, der Aufschluss gibt auch über die Fortexistenz von Bürgertum und Bürgerlichkeit im 20. Jahrhundert (vgl. Budde 2019). Während der Zeit des Nationalsozialismus und nach 1945 waren es Briefwechsel von Widerständigen wie die der Verschwörer des 20. Juli, der Mitglieder der Bekennenden Kirche und zahlreicher Migrantinnen und Migranten, die, aus der Haft oder dem Ausland heraus, grausam gekappte Gesprächsfäden wieder aufgriffen und Brücken zwischen sehr unterschiedlichen Welten bauten. Lange hielt der Pfarrer Hugo Linck noch nach 1945 in Königsberg die Stellung und dokumentierte durch seine Briefe in den Westen sehr eindringlich die besondere Situation der Nachkriegszeit (vgl. Piper 2019). Dass Briefe sogar aus einem SchülerinLehrer-Verhältnis eine tiefe Freundschaftsbeziehung entstehen lassen konnten, zeigt u.  a. der Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Karl Jaspers. Nachdem sie bereits in den 1930er Jahren zu getrennten Wegen gezwungen worden waren, knüpften sie schriftlich bald nach Kriegsende wieder an ihre mündlichen Gespräche über Philosophie und Politik an und durchsetzten die dann folgenden Briefe zunehmend mit privaten Freuden und Nöten. Namentlich auch ihre Briefe sind Zeugnisse für den wechselnden Duktus innerhalb ein und desselben Briefes: Hochintellektuelle Gedankengänge und brisante politische Diskussionen mit demselben Federstrich wie Krankheiten und Kleiderfragen. Als Zeugnisse tiefster Vertraulichkeit wirkten diese Briefe für beide als Überlebenselixier. „Lieber, lieber Karl Jaspers, seit ich weiß“, schrieb Arendt am 18. November 1945 aus New York, „daß Sie beide durch den ganzen Höllenspektakel heil durchgekommen sind, ist es mir wieder heimeliger in dieser Welt zumute.“ (Arendt und Jaspers 1985, 58–60). „Eine Träne kam mir beim Lesen ihres Briefes“, erwiderte Jaspers zwei Wochen

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später (Arendt und Jaspers 1985, 61). Alltagssorgen unterstreichen das Menschliche, auch Allzumenschliche, was Briefe zu vermitteln vermögen. Als 1958 Karl Jaspers der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zugesprochen wurde und Hannah Arendt für die Laudatio in der Paulskirche auserkoren wurde, war ihre größte Sorge, wie sie ihrem Mann schrieb: „Was ziehe ich an? und wie redet man Heuss an?“ (Arendt und Blücher 22013, 476) Jaspers, selbst durch lebenslange Krankheit in seiner Bewegung sehr eingeschränkt, nutzte seine reichhaltige Korrespondenz, um ein wissenschaftliches Netzwerk zu knüpfen, seine Ideen in die Welt zu bringen und sich seiner Weggefährten zu vergewissern. Damit schuf er, fast anachronistisch, im 20. Jahrhundert seine eigene Gelehrtenrepublik. Auch in der zweiten deutschen Diktatur des 20. Jahrhunderts wurden Briefe gewechselt. Sehr bald nach Gründung der DDR entstand eine besondere Form von Briefen, deren bloße Existenz symbolhaft für eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Bürgerinnen/Bürgern und Staat stehen sollte. Die ‚Eingaben‘, eine Form der Kommunikation mit der Obrigkeit, die es bereits viel früher in der Geschichte gab, entwickelten sich in der SED-Diktatur zu einer inflationär gewählten Form, mit der sich ‚einfache‘ Bürgerinnen und Bürger im Arbeiter- und Bauernstaat in direkter Ansprache an den Staatsratsvorsitzenden, seine Gattin oder andere ‚Größen‘ im Politbüro wenden konnten. Pro Jahr wurden rund eine Million Eingaben eingereicht (vgl. Mühlberg 2004, 233). Eine Antwort wurde garantiert, offizielle Richtlinien zur Eingabepraxis erlassen. Selbst wenn diese in Briefform verfassten Schreiben an den „Liebe[n] Kollegen Honnecker“ (Suckut 2015, 185) in der Regel die kritisierte Wohnungs- und Konsumlage – so die Hauptklagepunkte – wohl selten veränderten, suggerierte allein die Tatsache, dass man einen direkten Draht zu den Ulbrichts, Stophs und Honeckers hatte, dass die Regierung Kritik zuließ und konstruktiv mit ihr umzugehen verstand. Seit Mitte der 1990er Jahre wird diese besondere Form der Briefquelle, die eine Pseudo-Beziehung der Nähe zwischen Volk und Regierung versprach, einerseits als Täuschungsmanöver der DDR-Regierung und andererseits als wichtiges Ventil betrachtet, angestauten Ärger in einem geschützten Forum abzulassen. Für Zeithistorikerinnen und -historiker bietet sie eine aufschlussreiche Alltagsquelle, aus der wachsender Unmut und zunehmender Mut zur Kritik erkennbar wird.

6 Briefe als Quelle für Zeithistoriker am Ende unseres Jahrhunderts? Werden Kolleginnen und Kollegen, die in vielleicht 50  Jahren die Geschichte der 1990er Jahre und des frühen 21.  Jahrhunderts schreiben wollen, noch auf

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Briefe zurückgreifen können? Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Nestor der Briefgeschichte, Georg Steinhausen (21968 [1889/1891]), die Totenglocke des Briefes geläutet, wohl nicht ahnend, dass wenige Jahre später zwei totale Kriege den Brief, makaber genug, in Zeiten des Massensterbens zu neuem Leben erwecken sollten. Zwar existierten bereits 1914 Telegramme, die aber eher Todesbotschaften als Lebenszeichen brachten. Seit den 1980er Jahren wächst die Konkurrenz zum Brief im Zeitraffertempo: Telefaxe, E-Mails, SMS, Twitter-Nachrichten und was sonst noch künftig kommen wird, schwächen die Stellung des Briefes im Kommunikationsprozess. Zwar knüpfen diese neuen Formen des immer schnelleren Austausches – manche mehr, manche weniger – durchaus an die überkommenen Formen des Briefes an. Vor allem Angehörige der etwas älteren Generation nutzen mit PC und Handy lediglich neue Instrumente, um in der Regel doch kürzer ausfallende ‚Briefe‘ damit zu transportieren. Die Mehrheit jedoch, und das gilt für SMS und Twitter, hat mit den neuen Medien auch den Schreibstil verändert: Förmlichkeiten wie Anrede und Abschiedsformel entfallen, Abkürzungen nehmen zu wie auch die Neigung zur Kürze. Mini-Zeichen – die berühmten Emojis, die das verkürzt Geschriebene unterstützen und emotionalisieren sollen  – haben auch das Erscheinungsbild dieser Mitteilungen stark verändert. Vielen dieser Mitteilungen wird überdies nur ein kurzes Leben beschieden sein. E-Mail-Archive, auf die Historikerinnen und Historiker der Zukunft zurückgreifen könnten, gibt es nicht. Dennoch kennen wir alle, auch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, immer noch Menschen, die jetzt und gerade jetzt sehr bewusst zu gewissen Anlässen – Kondolenzbriefe sind dafür ein Beispiel – oder auch grundsätzlich der Form des Briefes die Treue halten, um in Kontakt mit Verwandten, Freund*innen und Kolleg*innen zu treten. Gerade weil heute und in Zukunft eben diese Praxis immer mehr Seltenheitswert bekommt und nur noch eine Spielart der Kontaktpflege unter vielen anderen ist, werden künftige Historikergenerationen Ende des 21. Jahrhundert vor allem die historiographische Methode der Komparatistik wählen und dabei auch die stoischen Briefeschreiber und -schreiberinnen mit ihrem anachronistischen Eigensinn im Vergleich mit anderen Akteuren der Kommunikation unter die Lupe nehmen. Um diese Forschungen möglich zu machen, sollten Briefe auf die Liste der aussterbenden Arten gesetzt werden. Zu schade wäre ihr gänzliches Ausbleiben – nicht nur für die Historiographie.

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1.4 Geschichtswissenschaft 

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Hämmerle, Christa (2003). „Frauenbriefe – Männerbriefe? Überlegungen zu einer Brief­ geschichte jenseits von Geschlechterdichotomien“, in: Briefkulturen und ihr Geschlecht. Zur Geschichte der privaten Korrespondenz vom 16. Jahrhundert bis heute. Hg. v. ders.  u. Edith Saurer. Wien u.  a. Herres, Jürgen u. Manfred Neuhaus (Hg.) (2002). Politische Netzwerke durch Briefkommu­ nikation. Briefkultur der politischen Oppositionsbewegungen und frühen Arbeiter­ bewegungen im 19. Jahrhundert. Berlin. Kamphoefner, Walter u. Ulrike Sommer (Hg.) (1988). Briefe aus Amerika. Deutsche Auswanderer schreiben aus der Neuen Welt 1830–1930. München. Krauße, Erika (Hg.) (2005). Der Brief als wissenschaftshistorische Quelle. Berlin. Kügelgen, Wilhelm von (1990). Bürgerleben. Die Briefe an den Bruder Gerhard 1840–1867. Hg. v. Walther Killy. München. Lamprecht, Gerald (2001). Feldpost und Kriegserlebnis. Briefe als historisch-biographische Quelle. Innsbruck u.  a. Lange, Helene (1957). Briefe. Was ich hier geliebt. Hg. v. Emmy Beckmann. Tübingen. Leppin, Volker (2006). Luther privat. Darmstadt. Leymelrie, Jean (1967). Der Brief als Thema der Malerei. Genf. Müller-Funk, Wolfgang (2004). „[Rezension zu:] Briefkulturen und ihr Geschlecht. Zur Geschichte der privaten Korrespondenz vom 16. Jahrhundert bis heute. Hg. v. Christa Hämmerle u. Edith Saurer. Wien 2003“, in: L’Homme, Z.F.G., 15.2: 355–358. Nickisch, Reinhard M.G. (1991). Brief. Stuttgart. Osterhammel, Jürgen (32007). „Globalgeschichte“, in: Geschichte. Ein Grundkurs. Hg. v. Hans-Jürgen Goertz. Reinbek bei Hamburg: 595–610. Piper, Henriette (2019). Hugo Linck. Ein Königsberger Pfarrer. Hamburg. Schlaffer, Hannelore (1996). „Glück und Ende des privaten Briefes“, in: Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation. Hg. v. Klaus Beyrer u. Hans-Christian Täubrich. Heidelberg: 34–45. Schmid, Irmtraud (1996). „Der Brief als historische Quelle“, in: Literaturarchiv und Literaturforschung. Aspekte neuer Zusammenarbeit. Hg. v. Christoph König u. Siegfried Seifert. München: 105–116. Schmid, Irmtraud (42004). „Briefe“, in: Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften. Hg. v. Friedrich Beck u. Eckart Henning. Köln u.  a.: 111–118. Schmid, Irmtraud (2010). Was ist ein Brief? Zur Begriffsbestimmung des Terminus „Brief“ als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung. Stuttgart. Schmölders, Claudia (Hg.) (1988). Briefe von Liselotte von der Pfalz bis Rosa Luxemburg. Frankfurt a. M. Schulze, Wolfgang (Hg.) (1996). Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin. Steinhausen, Georg (21968 [1889]). Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. Erster Teil. Dublin u. Zürich. Steinhausen, Georg (21968 [1891]). Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. Zweiter Teil. Dublin u. Zürich. Suckut, Siegfried (Hg.) (2015). Volkes Stimme. „Ehrlich, aber deutlich“ – Privatbriefe an die DDR-Regierung. München. Sydow, Anna von (Hg.) (1907). Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Berlin.

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

Trentmann, Frank (2016). Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute. München. Welskopp, Thomas (2002). „Vernetzte Vereinslandschaften. Zur Briefkommunikation in der frühen deutschen Sozialdemokratie“, in: Politische Netzwerke durch Briefkommunikation. Briefkultur der politischen Oppositionsbewegungen und frühen Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Hg. v. Jürgen Herres u. Manfred Neuhaus. Berlin: 101–116. Wierling, Dorothee (2013). Eine Familie im Krieg. Leben, Streben und Schreiben 1914–1918. Göttingen. Wilhelm II. (1920). Briefe an den Zaren 1894–1914. Hg. u. eingel. v. Walter Goetz. Berlin. Ziemann, Benjamin (1996). „Feldpostbriefe und ihre Zensur in den zwei Weltkriegen“, in: Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation. Hg. v. Klaus Beyrer u. HansChristian Täubrich. Heidelberg: 163–171.

Online-Quellen Auswandererbriefe aus Nordamerika: http://www.auswandererbriefe.de (31.7.2019). International Encyclopedia of the First World War: http://www.1914-1918-online.net (31.7.2019). Prize-Papers: http://www.prizepapers.de (17.6.2019). Signed, Sealed, & Undelivered: http://brienne.org (23.11.2019).

Rüdiger Nutt-Kofoth

1.5 Editionswissenschaft Briefe sind wie andere historische Dokumente für die Editionswissenschaft schon immer Objekte ihrer wissenschaftlichen Praxis gewesen, in jüngerer Zeit aber auch zunehmend ihres methodischen und theoretischen Interesses. In der Literaturwissenschaft hat das Herausgeben von Briefen einen festen Platz, insofern den Briefen literarischer Autoren eine besondere Wertigkeit zuerkannt wurde, sei es zum einen in Hinblick auf ihre Aussagekraft als Quellen für die Entstehungs- und Publikationsgeschichte der literarischen Texte oder mit biographisch orientiertem Blick auf den Autor als kulturell bedeutsame Persönlichkeit, sei es zum anderen in Hinblick auf eine veranschlagte literarische Qualität der Briefe selbst. Zwar kann in anderen Disziplinen durchaus eine Geschichte von Editionspraktiken aufgezeigt werden (vgl. etwa für die Musikwissenschaft die Editionsgeschichte der Wagner-Briefe bei Breig 2015 oder für die Skandinavistik die Editionsgeschichte der Andersen-Briefe bei Dahl 2013), auch kann schon länger eine Praxis von Autoren hinsichtlich der (Selbst-)Herausgabe von Briefen (vgl. etwa Gleim/Lange 1746; Goethe/Schiller 1828/29; mit didaktischem Anliegen: Gellert 1751) beschrieben werden, doch hat die editionswissenschaftliche Diskussion um den Brief im Wesentlichen in der germanistischen Literaturwissenschaft stattgefunden. Das wissenschaftliche Edieren von Briefen, die Praxis der Briefedition, gehört schon in den Anfängen der Neugermanistik zu ihrem Aufgabenbereich. Das wird im Besonderen am Umgang der wissenschaftlich anspruchsvollsten Form, der literaturwissenschaftlichen Historisch-kritischen Gesamtausgabe, mit der Korrespondenz eines Autors deutlich. Die erste wissenschaftliche Gesamtausgabe eines Autors der neueren deutschen Literatur, Karl Lachmanns Lessing-Ausgabe, präsentiert in ihren letzten beiden Bänden Briefe von und an Lessing (vgl. Lessing 1840). Damit war schon in der Frühphase der Germanistik die Bedeutsamkeit des Korrespondenzcharakters von Briefen in die wissenschaftliche Ausgabe transportiert. Die monumentale Weimarer Goethe-Ausgabe vernachlässigte zwar den Korrespondenzcharakter, sah aber unter dem Obertitel Goethes Werke die Briefe Goethes als expliziten Teil des Autorœuvres an und bot sie in 50  Bänden, die mehr als ein Drittel der Ausgabe ausmachten, dar (vgl. Goethe 1887–1912). Damit war auf den Weg gebracht, dass Briefe seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in wissenschaftlichen Gesamtausgaben eines Autors einen festen Platz einnehmen. Insofern konnte sich die Diskussion um die adäquate editorische Repräsentation des Briefs in diesem Zusammenhang entwickeln. Sie sei im Folgenden aus vorwiegend systematischer Perspektive skizziert.

https://doi.org/10.1515/9783110376531-005

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

1 Textsortenfragen Die Bestimmung der Textsorte Brief und ihre Unterscheidung von anderen Textsorten ist im Einzelfall keine einfache Aufgabe (vgl. zu den folgenden Differenzierungsfragen z.  B. Schmid 1988; Motschmann 1991). Es herrscht in der Editionswissenschaft im Wesentlichen die Übereinkunft, dass das Objekt der Briefedition der ‚Privatbrief‘ ist. Verschiedene Abgrenzungen sind zu betrachten, die die Auswahl der für die Edition zu berücksichtigenden Textträger leiten. Das betrifft zunächst diejenige zwischen Brief und ‚Werk‘. Literarische, fiktionale Werke, die sich des Briefcharakters bedienen (z.  B. Briefromane), gehören nicht zur Kategorie des für die Briefedition allein heranzuziehenden faktualen Privatbriefs. Des Öfteren ist allerdings bestimmten genuinen Privatbriefen aufgrund ihrer stilistischen Qualität Werkcharakter zugesprochen worden (einen Grenzfall stellen Briefe in Gedichtform dar). Solche Briefe bleiben regulärer Bestandteil der Briefedition. Dagegen ist unter den faktualen Briefen der ‚Öffentliche Brief‘ als eine an ein nicht eingegrenztes Publikum gerichtete Stellungnahme vom Privatbrief zu differenzieren. Er gehört somit nicht zum Objekt der Briefedition, sondern in die Werk- oder Dokumentenabteilung einer Gesamtausgabe. Ebenfalls vom Privatbrief unterschieden wird in der Editionspraxis das ‚Amtliche Schreiben‘, das zwar gleichfalls durch Nichtöffentlichkeit (Behördenraum) charakterisiert ist, jedoch aufgrund seines Horizontes von beruflichen/dienstlichen Zusammenhängen und Verwaltungsaufgaben einen spezifischen, nicht privaten Charakter besitzt, zudem sich nicht unproblematischen Autorschaftsund Authentizitätsfragen stellen muss (vgl. Schmid 2002; Wagner 2003). Für die Textsorte der Amtlichen Schreiben literarischer Autoren hat sich ein eigener Editionstypus entwickelt (vgl. Goethe 1950–1987; Goethe 1998/99, 2011; Kafka 2004). In der Editionspraxis ist ein Amtliches Schreiben allerdings nicht immer leicht von einem Privatbrief zu unterscheiden, insbesondere in der Phase der historischen Ausdifferenzierung der beiden Textsorten: In Goethes Mitteilungen an den Weimarer Herzog Carl August etwa mischen sich durchaus die Textsortenspezifika, sodass die ersten Editoren hier nicht immer eine klare Trennlinie ziehen konnten. Deshalb finden sich in der Briefabteilung der Weimarer Goethe-Ausgabe (1887–1912) durchaus Amtliche Schreiben nach heutigem Verständnis. In der Forschung sind daher auch – vor allem pragmatische – Gründe für den Verzicht auf die editorische Trennung von Privatbriefen und Amtlichen Schreiben vorgebracht worden (vgl. Motschmann 1991, 188). Dass zum Privatbrief alle postalischen Sendungen zählen, also etwa auch die Postkarte oder das Telegramm, gleichfalls durch Boten überreichte Mitteilungen, ist editorischer Konsens. Für die bisher ungeregelte Art der editorischen Präsentation von Briefbeigaben hat es einzelne systematisierende Überlegungen gegeben

1.5 Editionswissenschaft 

 83

(vgl. Lukas 2010a; Radecke 2013). Eher pragmatisch in Hinblick auf Umfang und Menge wird editorisch mit dem Privatbrief verwandten Textsorten umgegangen, etwa Rechnungen, Stammbucheinträgen, Widmungen. Sie können in Anhängen zum Briefband oder an anderen Stellen einer Gesamtausgabe, z.  B. unter ‚Lebenszeugnisse‘, erscheinen.

2 Briefausgabentypen Obwohl die Edition von Briefen schon eine lange Tradition hat, existiert eine Reihe an differenten Editionsformaten. In Hinblick auf die Autorkorrespondenz ist typologisch zunächst die Einzelausgabe von der Gesamtausgabe zu unterscheiden. Die Einzelausgabe kann allein die Briefe des Autors darbieten oder als Edition des Briefwechsels von zwei Autoren angelegt sein. Solche Briefwechselausgaben können Ergänzungen der dargebotenen Einzelkorrespondenz durch größere oder kleinere Einheiten der Korrespondenz mit Dritten enthalten, soweit diese als Addendum der edierten Hauptkorrespondenz verstanden werden (vgl. z.  B. Grimm 1998/2000; Fontane/Lepel 2006). Erst Editionen von Briefwechseln bzw. der Gesamtkorrespondenz eines Autors mit ihrer Aufnahme der Briefe beider Korrespondenzpartner machen den Charakter brieflicher Äußerungen als Teil eines schriftlichen Gesprächs und damit den Kommunika­tionscharakter von Briefen vollständig sichtbar (zu Anordnungsfragen vgl. Sudhof 1977; Oellers 1993). Zur angestrebten so weit wie möglich zu eruierenden Vollständigkeit des Briefgesprächs gehört für viele Ausgaben auch ein Vermerk der aus Dokumenten erschließbaren verlorenen Briefe (vgl. Scheibe 1993). Einzelbrief(wechsel)ausgaben erscheinen im Regelfall als Studien- oder Leseausgaben. Historisch-kritische Gesamtausgaben als gemeinsames Repräsentationsformat von Werken, Briefen, Tagebüchern, Lebenszeugnissen etc. geben hingegen den Gesamtbriefwechsel eines Autors wieder, gliedern also sowohl die Autorbriefe (Von-Briefe) als auch die von den Briefpartnern an den Autor geschriebenen Briefe (An-Briefe) in die mit dem Autornamen bezeichnete Gesamtausgabe. Gelegentlich werden historisch-kritische Briefausgaben ohne Anbindung an eine Werkausgabe vorgelegt, so im Fall der Meyer-Briefwechselausgabe (1998  ff.), die nach Abschluss der Werkausgabe als eigenständiges Unternehmen begonnen wurde, der neuen Edition der Goethe-Briefe (2008  ff.) oder im Fall der Therese-Huber-Briefausgabe (1999  ff.), wobei die beiden letzteren als Beispiele für den selteneren Fall jüngerer Briefgesamtausgaben dienen können, die allein VonBriefe präsentieren. Kaum je wird in Briefausgaben mit Von- und An-Briefen die Wertigkeit der Von-Briefe gegenüber derjenigen der An-Briefe differenziert, wie

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

in der Wieland-Briefwechsel-Ausgabe (1963–2007), die durch die Präsentation der An-Briefe in gegenüber den Von-Briefen kleinerer Schrift eine relative Nachrangigkeit dieser Textgruppe indiziert. Dieses Verfahren ist als Konsequenz aus der Anordnungsentscheidung der Wieland-Briefwechsel-Ausgabe zu verstehen, Vonund An-Briefe der Chronologie gemäß ineinanderzuschieben und fortlaufend zu präsentieren. Andere Ausgaben bieten eine gemeinsame chronologische Ordnung von Von- und An-Briefen ohne wertende Differenzierung (Klopstock 1979–2013; mit Schrifttypendifferenzierung: Trakl 2014). Alternativ dazu trennen historischkritische Ausgaben die Von- und An-Briefe in zwei verschiedene Reihen und präsentieren sie geschlossen in je eigener chronologischer Abfolge (vgl. z.  B. Schiller 1956–2001; Droste-Hülshoff 1987–2000). Das hat den Vorteil, dass Probleme der Anordnung, die beim Ineinanderschieben von Von- und An-Briefen entstehen können, nämlich vor allem hinsichtlich der Einordnung von sich zeitlich überschneidenden Briefen mit den daraus resultierenden Missverständnissen bezüglich des jeweiligen Kenntnisstands der Korrespondenzpartner, vermieden werden. Neben der regulären Volltextedition hat sich für Briefe ein weiterer Editionstyp entwickelt, der ursprünglich aus der geschichtswissenschaftlichen Diplomatik stammt: die Regestausgabe. Sie bietet die Brieftexte nicht als Volltexte, sondern als knappe Zusammenfassungen mit Nennungen etwa der erwähnten Personen, Orte, Werke und der wesentlichen im Brief behandelten Sachfragen. Für die Wahl einer Regestausgabe statt einer Volltextausgabe ist hauptsächlich der Umfang der Überlieferung ausschlaggebend gemacht worden. Die etwa 20.000 erhaltenen Briefe an Goethe z.  B. traute sich kein Editor in einer Volltextedition zu präsentieren, sodass für diese Überlieferungslage das Modell der Regestausgabe zum Tragen kam (vgl. Goethe 1980  ff.). Es ist auch für Von-Briefe bei Thomas Mann (1976–1987) und Hofmannsthal (2003) angewandt worden; in der Therese-Huber-Briefausgabe (1999  ff.) finden sich Briefregesten neben Briefvolltexten. Gegen das Regestmodell kann eingewendet werden, dass es fraglich ist, ob sich die Erarbeitungszeit eines Regests ganz erheblich gegenüber der Konstitution eines Volltextes verkürzt und ob ein Regest tatsächlich alle wesentlichen Inhalte und Merkmale des Briefs objektivierbar wiedergeben kann. Ein tragendes Merkmal aller modernen Briefausgaben ist neben der zuverlässigen, kritischen Textkonstitution der umfangreiche Kommentarteil (vgl. beispielhaft die Ausgaben zu Schiller 1956–2001 und Droste-Hülshoff 1987–2000). Die neue Goethe-Briefausgabe (2008  ff.) strebt mit einem avancierten Kommen­ tarmodell gar an, Informationen benutzergerechter auf die Positionen ‚Einzelstellenerläuterungen‘ und ‚Kommentiertes Register‘ zu verteilen. In der Geschichte der Briefedition war und ist die Kommentierung jedoch keineswegs ein durchweg anerkannter Bestandteil der Ausgabe. So zeigen die zunächst in den ersten Bänden kaum mit Erläuterungen versehenen 50 Briefbände der Weimarer Goethe-

1.5 Editionswissenschaft 

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Ausgabe (1887–1912) erst in den späteren Bänden einen langsamen Zuwachs an Kommentierung. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts konnte eine wissenschaftliche Briefgesamtausgabe ohne Kommentar vorgelegt werden (vgl. Droste-Hülshoff 1944). Briefbände mit besonders starkem dokumentarischen – auf Faksimile und Transkription ausgerichteten  – Fokus konnten in jüngerer Zeit ebenfalls kommentarlos bleiben (z.  B. Hölderlin 1993/2007; Kafka 1995; Kleist 1996/1999/2010). Insgesamt zeigen jüngere Briefausgaben einen hohen Reflexionsgrad ihrer editorischen Verfahren. Darauf weisen schon die umfänglichen Editionsberichte hin (vgl. etwa Hagen u.  a. 1997 zu Wieland; Woesler 1999 zu Droste-Hülshoff; Zeller und Lukas 2004 zu Meyer). Grundsatzfragen der Briefedition wurden zuerst 1975 diskutiert (vgl. Frühwald et al. 1977), später wurden Vorschläge zur Vereinheitlichung der Editionsgestaltung vorgelegt (vgl. Woesler 1988 und 1998). Auf der anderen Seite sind Normierungen zurückgewiesen worden (vgl. Graf 2000, 111). Diese Diskussionen um die analoge Briefedition wurden in mehreren Sammelbänden fortgeführt (vgl. Bluhm und Meier 1993; Roloff 1998; Bauer et al. 2001).

3 Textualitäts- und Materialitätsfragen, Authentizitäts­maxime, Dokumentationsprinzip Zeitgleich mit den anglo-amerikanischen Textualitätsdiskussionen zu literarischen Werken – besonders durch die Differenzierung von ‚linguistic code‘ und ‚bibliographical code‘ vor allem in Hinblick auf den Drucktext (vgl. McGann 1991, z.  B. 13–14) – und der durch die französische ‚Critique génétique‘ beförderten Aufmerksamkeit für handschriftliche Schreibprozesse einschließlich ihrer materialen Rahmenbedingungen (vgl. Grésillon 1999, [1994]) setzte für die Briefedition – mehrfach in eins mit Überlegungen zur Tagebuchedition als einem verwandten Typus des Ego-Dokuments  – eine Debatte ein, die die Grenzen des Editionsobjekts und seiner editorischen Repräsentation neu zu bestimmen anregte. Mit der Maxime „Editionsphilologisch sind Briefe Überlieferungsträger, die Texte enthalten; auch Briefe edieren heißt deshalb, Texte edieren“ (Gregolin 1990, 756) wurde zunächst ein rein linguistisches, abstraktes Textverständnis proklamiert. Konsequenterweise zählen in dieser Vorstellung „weder Briefgestaltung noch Schrift […] zu den Merkmalen des Brieftextes“ (Gregolin 1990, 758), die für die Textkonstitution berücksichtigt werden müssten. Ein Jahrzehnt später wurde die Formel aufgestellt: „Ein edierter Brief […] ist kein Brief, […] sondern ein Text der Gattung Brief“; Faksimile und Transkription als editorischen Repräsentationsmöglichkeiten wurde dagegen eine Absage erteilt: „Die imitierenden Verfahren gehen in der Regel auf die falsche Wahl des Gegenstands zurück: der Hand-

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

schrift anstatt des Textes. Die Handschrift ist ein Brief […], der Druck aber […] eine Ausgabe, und die Edition gibt nicht die Handschrift wieder, sondern deren Text.“ (Kraft 2001, 151) Die Veränderung, die der Brieftext im Zuge seiner Edition durchläuft, war schon 1977 als „Transponierung eines privaten Schreibens in einen öffentlichen Wiedergebrauchstext“ bezeichnet worden. Zugleich wurde aber darauf aufmerksam gemacht, dass „gerade der optische Eindruck […] zum Dokumentcharakter eines Briefes [gehört], den eigentlich nur das Faksimile annähernd wiedergeben kann und der bei der Wiedergabe in einheitlicher Drucktype verloren geht“ (Woesler 1977, 47 u. 45). Zu Recht wurde 1995 daher „Edieren als typographische Übersetzung“ (Hurlebusch 1995, 18) bezeichnet. Nur waren nun Wege zu finden, wie sowohl der zuvor proklamierten Textualitätsmaxime als auch der mit in Anschlag gebrachten Materialitätsverknüpfung des Brieftexts Rechnung getragen werden könnte. Statt eines Entweder-oder der editorischen Ausrichtung wurde nun zur Aufgabe der Edition erklärt, das „angemessene[ ] Verständnis der Eigenart der Zeugnisse selbst“ (Hurlebusch 1995, 22) zu ermöglichen. Damit kam aber neben der editorischen Gewinnung des Brieftexts auch dessen materialisierte Ausprägung im Original endgültig in den Blick: als „sinnhafte Einheit von Text und Textmedium“ (Hurlebusch 1995, 25). In der Betrachtung der Briefe als „Zeugnisse“ ließ sich nun verdeutlichen, dass „sie nicht nur Gebrauchsformen, also Informationsträger, sondern auch Ausdrucksformen, d.  h. eigentümliche Gestaltungsmedien interpersonalen und personalen Lebens, sind“ (Hurlebusch 1995, 26). Für die Edition bedeutet das, dass sie „nicht auf textliche Befunde begrenzt [ist]; sie umfaßt auch den nichtsprachlichen, äußeren Aspekt der Zeugnisse, thematisiert auch den Zeugniswert des Textträgers“, denn die „äußere Beschaffenheit von Briefen […] – Papierqualität, Format, Schriftbild, Schreibmaterial, Schreibtechnik u.  ä.  – ist kaum weniger bedeutsam als das, was sie an Text enthalten“ (Hurlebusch 1995, 22). Der Leitfaden für die Briefedition lautet daher: „Typographische Texteditionen dieser Zeugnisse sind um so besser  – wissenschaftlicher  –, je dokumentarischer sie sind“ (Hurlebusch 1995, 28). Kann die materiale Seite des Originalbriefs über Beschreibung und Abbildung (Faksimilierung) in die Edition transportiert werden und diese so der Dokumentationsmaxime gerecht werden, so kann für die typographische Textwiedergabe der Maßstab der Zeichenadäquatheit gelten. Gemeint ist damit Zeichenadäquatheit […] nicht als abbildliche, sondern als funktionale und strukturelle Entsprechung […]. Denn sowohl die Zeichen der Vorlage als auch die der Transkription sind, mit Begriffen der Semiotik in heuristischer Absicht gesprochen, jeweils Elemente eines besonderen Systems. Eine Mischung der Zeichensysteme sollte vor allem aus historischen, aber auch aus ästhetischen Gründen vermieden werden. So sollten z.  B. Zeichen, die innerhalb der deutschen Schreibweise ihren funktionalen oder konnotativen Wert haben, wie etwa

1.5 Editionswissenschaft 

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das Trema über dem -ÿ-, der doppelte Bindestrich (=), die Unterstreichung der Endungen der Ordinalzahlen in Datumsangaben (-ten), der Nasal- bzw. Geminationsstrich über -mund -n- in einer modernen lateinischen Schrift nicht nachgebildet, sondern durch äquivalente, systemeigene Zeichen (-y-. -, -ten, -mm-, -nn-) wiedergegeben werden (Hurlebusch 1995, 33).

Allerdings ist auch dafür votiert worden, durch ein „Prinzip des ‚Abmalens‘“ solche Zeichen als Bestandteile des historischen Zeichensystems überhaupt erst sichtbar zu machen, also etwa auch das lange s der Deutschen Kurrentschrift in der heutigen Druckantiqua wiederzugeben (Grimm, Bd. 1, 1998, 29). Der Briefedition war jetzt allemal eine deutlich erweiterte Aufgabe bei der Repräsentation der textuellen wie materialen Elemente des Originalbriefs zugewachsen. Diese Aufgabe ist unter den Leitmaßstab der ‚Authentizität‘ gefasst worden. Der Blick richtete sich dabei nun zusätzlich auf „die nichtsprachlichen Elemente in einem Brief […], weil sie in der brieflichen Kommunikation unvermeidbar zu Zeichen werden, d.  h. weil sich damit Bedeutung verbindet“ (Zeller 2002, 37). Da der Brief spezifische „[e]pistolographische Codes der Materialität“ (Lukas 2010b) als semiotische Elemente der Kommunikation verwenden kann – z.  B. bei der Nutzung des Raums auf der Blattseite (vgl. Nutt-Kofoth 2016a; vielfältige andere Fallbeispiele auch in Bohnenkamp und Wiethölter 2008; Wiethölter und Bohnenkamp 2010; Strobel 2010) –, können diese im editorischen Verfahren der ‚integralen Darstellung‘ (vgl. Zeller 2002) repräsentiert werden. Das Verfahren kann insbesondere dann angewandt werden, wenn anstelle einer vom Faksimile begleiteten raummimetischen Umschrift (vgl. etwa Kleist 1996/1999/2010; Meyer, Bd.  1 1998) allein eine prozessorientierte und raumstrukturell adäquate Textdarstellung mit linear eingeblendeter Darstellung aller Änderungsprozesse (vgl. Grimm 1998/2000; Meyer, Bd. 2  ff. 1999  ff.) angestrebt wird. Auch abgeschwächtere Formen streng dokumentarischer Darstellung existieren, wie etwa in der Goethe-Briefausgabe (2008  ff.), die die Textdarbietung von Variantenangaben freihält, jedoch Varianten und etwaig semiotisch bedeutsame materielle Informationen in einem Fußnotenapparat auf der Textseite des Edierten Texts platziert und damit für die Benutzer der Edition Text und Varianten in dieser Form auf einen Blick sichtbar macht. Die bis dahin für die Briefedition wesentliche skrupulöse Textkonstitution erfuhr durch die editionswissenschaftlichen Debatten der 1990er und der 2000er Jahre jedenfalls eine markante Neuakzentuierung der textkritischen Aufgabenstellung, die sich stärker als zuvor gerade für das editorische Objekt ‚Brief‘ vor Augen geführt hat, dass „die Grenzen der Hermeneutik im Wesentlichen mit den Grenzen der Edition zusammenfallen“ (Wiethölter 2010, 18).

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

4 Editionsziel und Digitale Formate War die Bandbreite möglicher Editionsziele und -verfahrensweisen durch die jüngeren Textualitäts-, Materialitäts- und Authentizitätsdebatten für die Briefedition schon deutlich erweitert worden, so haben sich durch die zunehmende editorische Präsentation im digitalen Medium zunächst die Darstellungsmöglichkeiten verändert. Die jüngste Forschung hat mit theoretischen und methodischen Durchleuchtungen dieser Optionen reagiert (vgl. Stadler und Veit 2009, 201–263 u. 281–308; Bohnenkamp und Richter 2013; Strobel 2014b; Strobel 2018). Grundsätzliche Anforderungen an die Digitale Briefedition sind formuliert (vgl. Hochstrasser 2014), Normierungen der Metadaten (vgl. Strobel 2014a) sowie Fragen der Codierung – etwa in XML/TEI – (vgl. Stadler et al. 2016) und Nachnutzbarkeit wie auch ihrer technischen Bedingungen bedacht (vgl. Stadler 2014) und Möglichkeiten eines exemplarisch zugrundeliegenden Datenbankmodells vorgestellt worden (vgl. Bamberg und Burch 2014; eine disziplinübergreifende Liste Digitaler Briefeditionen bei Sahle 2008  ff.; eine Zusammenführung deutschsprachiger Briefeditionen für Suchabfragen im zunehmend erweiterten Webservice correspSearch 2014  ff.). Es deutet sich jüngst allerdings an, dass auch Editionsziel und Editionsformat aufgrund der neuen, erst durch das Digitale in diesem Maße realisierbaren Interessen Änderungen erfahren (vgl. Nutt-Kofoth 2016b, 583–586). Zunächst können digitale Editionen die durch die Debatten um die authentische Präsentation des Briefs aufgekommenen Wünsche besser bedienen, indem verschiedene Sichten auf den Brief(text) angeboten werden können: etwa Faksimile, Transkription oder Edierter Text mit den je nach Darstellungsziel platzierten Varianten bzw. Änderungsprozessen. Ein wirkungsmächtiges Muster bot die VanGogh-Edition (2009/2014), bei der Benutzer sich in einer mehrspaltigen Darstellung den mit oder ohne Zeilenumbrüche versehenen Edierten Text, das Faksimile, Metadaten und Erläuterungen, eine Übersetzung und erwähnte Kunstwerke nach der bevorzugten Bildschirmansicht anzeigen lassen können. Neben den gängigen Suchfunktionen und einer Reihe an weiteren Informationen können Benutzer auf die Briefe nach unterschiedlichen Ordnungen (Zeitabschnitt, Briefpartner, Ort, Werkbezug) zugreifen. Die Edition ist – wie viele der nachfolgenden als Born-Digital-Editionen entwickelten Briefausgaben – von einer Druckausgabe (als Derivat) begleitet, also im Ganzen eine Hybridedition. Dagegen handelt es sich beim Heinrich-Heine-Portal (erstellt 2002–2009) um die Retrodigitalisierung der Düsseldorfer und der Weimarer Heine-Ausgaben. Für die Briefabteilung wurden Eingriffe der Editoren in den Edierten Text z.  T. rückgängig gemacht, Fehler behoben und nach Möglichkeit Faksimiles hinzugefügt. Darüber hinaus können Briefausgaben Teil einer digitalen Zusammenführung ursprünglich selbständiger textsortendifferenter, noch nicht beendeter analoger

1.5 Editionswissenschaft 

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Editionen zu einem Autor werden, wie es das ‚Propyläen‘-Plattformprojekt zu Goethes Briefen, An-Briefen, Tagebüchern und Gesprächen anstrebt (vgl. Goethe 2015  ff.). Nicht ungewöhnlich ist, dass die Digitale Briefausgabe auch eine Codierungsfassung anbietet, wie etwa in der Weber-Ausgabe (2011  ff.) mit der XML-Ansicht. Verlinkungen zur Kommentierung, Nutzung von Zeitleisten und Verknüpfung mit Themenblöcken ermöglichen den Benutzer verschiedene Schnitte durch und Informationsabrufe in der Digitalen Briefedition. Nach der Escher-Briefausgabe (2015) stellt die Sauer-Seuffert-Briefwechseledition (2016) durch zusätzliche graphische Visualisierungen ein avanciertes Modell solcher verschiedenen Zugriffe dar. Die digitalen Bedingungen bieten der Briefedition nun in weit stärkerem Maße die Möglichkeit, größere Datenmengen aufzubereiten. Dadurch werden mehr Informationen und Kontexte erschlossen, als es für die Buchedition gangbar ist. Allerdings ist zu beobachten, dass sich dabei die Interessen und Zielsetzungen der Briefedition verschieben und in diesem Zusammenhang neue Editionsformate entstehen können. So gelingt es der digitalen August-Wilhelm-SchlegelKorrespondenz-Edition, erstmals den umfangreichen Briefwechsel Schlegels zu präsentieren (vgl. Schlegel 2014–2020). Die Menge der Briefe im Verhältnis zur Projektlaufzeit ließ die Editoren allerdings Kompromisse eingehen, durch die die Edition nicht in allen Teilen dem Format einer Kritischen Ausgabe gerecht werden kann. So werden Brieftexte, die in älteren Drucken vorliegen, nicht nach den aktuellen textkritischen Standards neu konstituiert, sondern zugunsten der Arbeit an der Menge bisher nicht edierten Briefmaterials nach dem existenten Druck in die Edition integriert. Hier musste der Erschließung umfangreichen Materials der Vorrang vor der Textkritik eingeräumt werden. Eine noch weiter reichende Neuakzentuierung des Editionsziels ergibt sich, wenn die Edition nicht mehr auf die Korrespondenz eines Autors ausgerichtet ist, sondern die Autorzentriertheit zugunsten der Darstellung von Korrespondenznetzen aufgibt. Solche Netze darzustellen, ist die Digitale Edition in der Tat besser geeignet als die Buchedition, weil sie dafür auf die medienspezifischen Möglichkeiten variabler graphischer Visualisierungen zurückgreifen kann. Das Projekt zu den Briefen der exilierten Autoren der NS-Zeit nutzt diese Optionen mit dem Ziel einer „modularen interaktiven internetbasierten Plattform zur Visualisierung und Erforschung von sozialen, räumlichen, zeitlichen und thematischen Netzen in Briefkorpora“ (Vernetzte Korrespondenzen – Exilnetz33, http://exilnetz33.de/de/ das-projekt/, vgl. Hildenbrandt und Kamzelak 2014). Allerdings steht hier wie bei der Schlegel-Edition die textkritische Komponente hinter der Erschließungsaufgabe zurück. Briefnetze können auch aus (nachträglich) miteinander verknüpften  – digitalen oder digitalisierten  – Einzeleditionen heraus sichtbar gemacht

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

werden. Für ein Projekt ‚Romantische Briefnetzwerke‘ sind dazu Überlegungen angestellt worden, die um der Praktikabilität willen eher technisch niederschwellig und daher unter Verzicht auf eine informationstechnische „Superstruktur“ auf ein „intelligentes Verknüpfungssystem, das vorhandene Dokumente in Konnex zueinander bringt“, setzen (Bunzel 2013, 123). Insofern verändern die Möglichkeiten des Digitalen Mediums auch die Grenzen der Edition. Das meint dann nicht nur die andere Gewichtung traditioneller Kernaufgaben wie etwa der Textkritik, sondern das Editionsformat im Ganzen. Das Projekt der ‚Vernetzten Korrespondenzen‘ wie dasjenige der ‚Propyläen‘ haben als Ziel das Format der ‚Plattform‘ ausgegeben (s.  o.), die digitale Präsentation der Heine-Briefe etwa firmiert unter dem Label ‚Portal‘. Insofern deutet sich ein Wandel der herkömmlichen Editionsformate an, der möglicherweise zu einer Auflösung oder Umgestaltung des Typus der Historisch-kritischen Ausgabe oder dessen Integration in übergeordnete digitale Präsentationsumgebungen führen könnte. Diese Entwicklung steckt allerdings erst in den Anfängen. Augenscheinlich stellt die Briefedition unter den Editionsgenres aufgrund des textsortenspezifischen und materialen Charakters des Briefs dafür ein besonders geeignetes Erprobungsfeld dar. Anmerkung: Der besseren Lesbarkeit wegen wird in diesem Handbuchartikel das generische Maskulinum verwendet, ohne dass damit einer Geschlechterperspektive Vorrang gegeben werden soll.

Zitierte Literatur Bamberg, Claudia u. Thomas Burch (2014). „Inventarisieren, Analysieren und Archivieren vernetzt. Digitalisierung und Edition größerer Briefkorpora mit der virtuellen Editionsplattform ‚Forschungsnetzwerk und Datenbanksystem‘ (FuD)“, in: Fontanes Briefe ediert. Internationale wissenschaftliche Tagung des Theodor-Fontane-Archivs Potsdam, 18. bis 20.9.2013. Hg. v. Hanna Delf von Wolzogen u. Rainer Falk. Würzburg: 288–305. Bauer, Werner M., Johannes John u. Wolfgang Wiesmüller (Hg.) (2001). „Ich an Dich“. Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen. Innsbruck. Bluhm, Lothar u. Andreas Meier (Hg.) (1993). Der Brief in Klassik und Romantik. Aktuelle Probleme der Briefedition. Würzburg. Bohnenkamp, Anne u. Elke Richter (Hg.) (2013). Brief-Edition im digitalen Zeitalter. Berlin u. Boston. Bohnenkamp, Anne u. Waltraud Wiethölter (Hg.) (2008). Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 11.9. bis 16.11.2008. Frankfurt a. M. u. Basel. Breig, Werner (2015). „Zur Editionsgeschichte der Briefe Richard Wagners“, in: Musikeditionen im Wandel der Geschichte. Hg. v. Reinmar Emans u. Ulrich Krämer. Berlin u. Boston: 536–547.

1.5 Editionswissenschaft 

 91

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

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1.5 Editionswissenschaft 

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

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1.5 Editionswissenschaft 

 95

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Joachim R. Höflich

1.6 Kommunikationswissenschaft Der Brief ist ein Kommunikationsmedium. Doch war und ist er eigentlich nie in einem umfassenden Sinne Gegenstand der Kommunikationswissenschaft, einer Disziplin, die sich mit der Kommunikation und ihren Medien beschäftigt. Ihr Forschungsgegenstand sind vor allem die Massenmedien, deren Nutzung und Wirkung. Und lange Zeit stand nachgerade die Zeitung im Zentrum dieses (ehemals als Zeitungswissenschaft firmierenden) Faches. Doch mit Blick auf die Zeitung wird der Brief virulent. Allerdings ging es nicht um die Beschäftigung mit der Geschichte des Briefs (vgl. Nickisch 2003), sondern mit dem Brief als Moment der Geschichte der Zeitung (vgl. Wilke 2008, 18–19). So sieht bereits Georg Steinhausen in seiner mehr als einhundert Jahre alten Geschichte des deutschen Briefes den Brief als einen Vorläufer der Zeitung. Man sprach von (Nachrichten-)Briefen als ‚New Zeitung‘ oder ‚Tidinge‘, die sich auch an Privatleute richteten, sei es als angehängte Notizen oder als vollständige Briefe. Reisende waren geradezu verpflichtet, Freunde und Bekannte über das Neueste zu informieren. Der Brief zirkulierte dann im Dorfe, ähnlich der Zeitung (vgl. Steinhausen 21968 [1889], 67). Das bedeutet indessen nicht, dass derartige Briefe allgemein, d.  h. wie im Falle der Publizität von Zeitungen, allen zugänglich waren. Ausgeprägt zeigt sich dies bei dem nachrichtlichen Briefverkehr im Zusammenhang mit einer geschäftlichen Kommunikation, wie etwa im Fall des Fugger’schen Handelshauses, wo Briefe aus allen möglichen Teilen der Welt zusammenkamen. Eher galt hier sogar das Prinzip der Geheimhaltung. Auch wenn die Hochphase von Brief-Zeitungen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts anzusiedeln ist, geht deren Tradition darüber hinaus. Sie bildeten Vorlagen für gedruckte Zeitungen und damit eine reichhaltige Quelle, um die Zeitungen mit Inhalt zu versorgen (vgl. Wilke 2008, 19). Erst einige Zeit später rückt der Brief wieder in den kommunikationswissenschaftlichen Blickwinkel. Das war zunächst nach dem Fall der Mauer. War der Brief noch zu Zeiten der ehemaligen DDR ein basales Medium, zumal der OstWest-Kommunikation, so ist dies geradezu von heute auf morgen zugunsten des Telefons umgeschlagen (vgl. Gehrmann und Müller 2006). Das änderte indessen kaum etwas daran, dass der Brief, wie im Übrigen auch das Telefon, ein vernachlässigtes kommunikationswissenschaftliches Medium blieb. Der Brief, oder besser gesagt: Formen brieflicher Kommunikation waren in der Folge eines sich abzeichnenden Medienwandels wieder von Interesse (vgl. Harper u. Shatwell 2002; Höflich 2002; Höflich 2003; Höflich und Gebhard 2005; Garfield 2013). Insbesondere eingedenk der rasanten Verbreitung von E-Mail und den elektronischen schriftlichen Kurznachrichten (SMS – Short Message Service) wurde eine https://doi.org/10.1515/9783110376531-006

1.6 Kommunikationswissenschaft 

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gravierende – und schließlich durchaus reale – Gefahr für den Brief gesehen. So erscheint es geradezu paradox, dass ein Medium erst dann ‚entdeckt‘ wird, wenn es in seiner Existenz bedroht ist und sogar an Bedeutung verliert. Aber immerhin hatte eine solche Herausforderung durch eine Vermehrung von Medien schriftlicher Kommunikation etwas Gutes: Denn solchen Entwicklungen ist es zu verdanken, dass, wenn auch die empirische Auseinandersetzung mit dem Brief nicht markant zugenommen hat, zumindest theoretische Grundlagen für eine kommunikationswissenschaftliche Beschäftigung mit Formen mediatisierter schriftlicher Kommunikation zur Diskussion gestellt werden. Damit wird es möglich, den Brief in einem umfassenden medialen Zusammenhang und einem Prozess der Mediatisierung (vgl. Krotz 2001) zu verorten.

1 Der Brief als Medium Klar zu bestimmen, was eigentlich ein Brief sei, ist, zumal eingedenk eines Medienwandels, keine eindeutige Angelegenheit. Das beginnt schon mit Blick auf die Festlegung des Trägermediums. So ist beispielsweise für Walter Uka (2000, 114) der Brief „eine auf Papier geschriebene, an eine Adresse gerichtete Kommunikation (einwegig, wenn die darin enthaltene Botschaft informativ oder gebietend ist, zweiwegig, wenn eine Antwort erwartet wird) und wird durch eine Person oder Organisation (Post) übermittelt“. Doch kommunikationspraktisch ist ein Brief nicht an ein bestimmtes Trägermedium (das Papier) und eine bestimmte Übermittlungsinstanz (die Post, den Briefträger) gebunden. Man denke nur an einen Brief, der als E-Mail-Anhang mitgeschickt wird. Allerdings stellt sich zugleich die Frage, ob es sich bei einer E-Mail oder auch bei einer via Handy oder Smartphone verschickten Botschaft nicht auch um einen Brief handelt. Wie jedes Medium eröffnet der Brief Kommunikationsmöglichkeiten über eine Kommunikation von Angesicht zu Angesicht hinaus. Er bringt Getrennte zusammen und ist damit das „anwesende Substrat des abwesenden Gesprächspartners“ (Vellusig 2000, 27). Und ebenso wie andere Medien vermag er die zwischenmenschliche Kommunikation nicht nur zu ergänzen, sondern zu ersetzen. So gilt er immer schon als ein Ersatz für das persönliche Gespräch, als „halbierter Dialog“ (Artemon) oder als „Monolog, der ein Dialog sein will“ (Luise Rinser). Aber auch bei anderen Medien ist eine solche Ersatzfunktion gegeben, bis hin zu dem, dass, wie beim Telefon, der ‚halbe Dialog‘ fließend zu einem vollen Dialog werden kann. Auch wenn der Brief an die Stelle eines Gesprächs tritt, so soll er sich doch, nach dem Vorschlag von Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769), einem Gespräch nähern. Ein von ihm eingefordertes zwangloses Briefeschreiben meint indessen keine Übertrei-

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

bung des Natürlichen (vgl. Gellert 1988 [1763], 113), sondern eine dem Medium angepasste Form eines ‚als ob man sprechen würde‘. Zwei Momente scheinen die Differenz zu einer Kommunikation unter den Bedingungen der Anwesenheit und Unmittelbarkeit klarer zu machen: die ‚Verschriftlichung‘ und der ‚Phasenverzug‘ (vgl. Nickisch 1991, 11). Eine Dualität von Nähe und Distanz ist eigentlich allen Medien eigen. Immer aber lässt der Brief – manchmal sogar mit Absicht – Lücken, schon weil er spontane Nachfragen nicht zulässt, oder weil der Autor bzw. die Autorin an die Grenzen seiner bzw. ihrer Ausdrucksmöglichkeit gestoßen ist. So gesehen sind schriftliche Gespräche, wie Robert Vellusig (2000, 136) vermerkt, ein „Raum der Imagination“. Bei all dem liegt es nahe, den Brief im Zusammenhang mit anderen Formen phasenverzögerter schriftlicher Kommunikation zu sehen. Prägnant formuliert hat Reinhard M. G. Nickisch (2003, 72) schon vor geraumer Zeit den Schluss gezogen, dass eine Kommunikation via E-Mail oder SMS eine „Fortsetzung des brieflichen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel“ sei. Versteht man solche neuen Medien schriftlicher Kommunikation als Spielarten einer brieflichen Kommunikation, dann wäre der Brief eines dieser Medien, wenn auch mit besonderen Ausprägungen. Eine Auszeichnung des Briefs dadurch, dass er in einer Welt der Mediatisierung und Technisierung ein Sonderdasein fristet und damit auch eine Art nicht-technischen Gegenentwurf darstellt, lässt sich indessen kaum halten. Es ist nicht nur ein Merkmal elektronischer Medien, dass sowohl eine technische als auch eine organisatorische Infrastruktur notwendig ist, um etwas zu einem Medium zu machen. Ein Medium ist indessen nicht nur ein distinktes Vehikel, um Botschaften von einer Person A zu einer Person B zu übermitteln. Ein Medium ist immer eine bedeutungsvolle Angelegenheit. Medienhandeln ist eine Form von sozialem Handeln, das sich dadurch auszeichnet, dass das Medium in eine Handlungsplanung und -durchführung einbezogen wird. Es handelt sich um kein ‚anderes‘ Handeln, sondern ein Handeln unter besonderen (eben medialen, hier brieflichen) Rahmenbedingungen. Der Mensch ist ein aktives wie auch ein bedeutungsstiftendes Wesen. Er handelt auf der Grundlage von Bedeutungen, die all dem, was ihn umgibt, zugeschrieben werden – und die aus der Interaktion mit anderen entstehen (vgl. Blumer 2013, 75–76). Das gilt auch für Medien und schließlich für den Brief. Deren Bedeutung gründet darin, dass sie sowohl Mittel als auch Gegenstand der Interaktion sind. Medien sind also nicht nur eine technische, sondern eine soziale Angelegenheit. Genau genommen ist ein Medium in diesem sozialen Sinne das, was die Menschen damit machen und somit auch das, was die Menschen zu einem Medium machen. So wird ein Brief zu einem distinkten Medium je nachdem, wie die Menschen ihn verwenden, und damit, welche Bedeutung sie ihm in ihrem Alltag zuweisen. So gesehen werden der Brief und briefliche Kommunikation fortlaufend neu erfunden – von jeder Generation und über Generatio-

1.6 Kommunikationswissenschaft 

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nen hinweg. Und kommt ein neues Medium (wie die E-Mail oder andere Formen schriftlicher Kommunikation) hinzu, dann ändert sich auch die Bedeutung der bisherigen Medien – und so auch des Briefs – indem sich deren Funktionalitäten ändern (vgl. Höflich 2016, 208). Das bringt das sogenannte ‚Riepl’sche Gesetz‘ zum Ausdruck, das zudem darauf verweist, dass mit dem Hinzukommen neuer die alten Medien dadurch nicht notwendigerweise verschwinden (vgl. Riepl 1915, 5).

2 Medien als Restriktion und als Ermöglichung Folgt man Nickisch (1991, 13–16), dann kommen dem Brief drei Grundfunktionen zu: (1) Er informiert (sachorientiert) – es gibt einen (sachlichen) Anlass oder (informativen) Grund – hier ist im Übrigen auch die Keimzelle der Zeitung und Zeitschrift zu sehen. (2) Er appelliert (partnerorientiert)  – der Brief soll etwas bewirken, wobei dies auch und gerade beim öffentlichen Brief und dem Leserbrief der Fall ist. (3) Er manifestiert (selbstorientiert)  – der Brief ist immer ein Mittel zur Präsentation des Selbst und der Individualität. Eine solche Bestimmung des Briefs trifft sich mit den Aspekten der Kommunikation überhaupt, wie sie Friedemann Schulz von Thun (1988) vorschlägt. Er nennt einen Sachaspekt, einen Appellaspekt sowie einen Selbstoffenbarungsaspekt. Allerdings kommt bei Schulz von Thun noch der Beziehungsaspekt hinzu. Über Form und Inhalt der Kommunikation werden immer auch zwischenmenschliche Beziehungen zum Ausdruck gebracht. Einerseits ist, ganz allgemein, die Verwendung von Medien in Beziehungen eingebunden. Andererseits wird durch die Art und Weise, wie und was ich kommuniziere, angezeigt, wie ich zu anderen stehe und was ich von ihnen halte. In der brieflichen Kommunikation zeigt sich dies schon an den Äußerlichkeiten, wie etwa dem verwendeten Kuvert oder dem Briefpapier, an der Anrede und weiteren Formalia, bis hin zu Briefbeilagen wie getrocknete Blümchen, Fotos oder gar Duftnoten. Das alles unterstreicht die Nähe zur zwischenmenschlichen Kommunikation und dem Gespräch, wo der Beziehungsaspekt indessen vor allem durch nonverbale körperliche Kundgaben zum Ausdruck kommt. Ein Medium hat indessen nicht nur etwas Verbindendes. Es stellt immer auch eine Begrenzung, oder genauer gesagt: eine kommunikationsermöglichende Begrenzung, dar. Dergestalt gehen mit der jeweiligen Verwendung eines Mediums Restriktionen einher, die auf die in einer Situation verfügbaren Kommunikate einwirken. Ein Medium ist, mit anderen Worten, „ein System von Mitteln für die Produktion, Distribution und Rezeption von Zeichen, das den in ihm erzeugten Zeichenprozessen bestimmte gleichbleibende Beschränkungen aufweist“ (Posner 1986, 293). Restriktionen ergeben sich schon dadurch, dass sich die Kommunika-

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

tionspartner*innen an zwei unterschiedlichen Orten aufhalten und dort jeweils auch anderen Einflüssen ausgesetzt sind. Die Situation ist so verstanden ‚entkontextualisiert‘. Das gilt auch für den Brief, der nicht nur etwas transportiert (einen Inhalt, eine Beziehung). Er klammert immer auch aus und geht mit einem „Verlust an sinnlicher Präsenz“ (Vellusig 2000, 17) einher. Jede mediatisierte Kommunikation bringt Restriktionen in der Art und Weise dahingehend mit sich, wie sich die Beziehungen zwischen den Kommunikationspartnern gestalten. Eine so genannte Restriktionsthese, der zufolge mediale Restriktionen kommunikative Begrenzungen mit sich bringen, ist allerdings nicht erst seit den elektronischen Medien formuliert worden. So schreibt (der damals an der Universität Erfurt lehrende) Christoph Martin Wieland (1733–1813) an den deutschen Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819): Mündlich zu sagen, wäre etwas anderes. Wenn es anginge! Da kann man sich in einer Viertelstunde besser gegen einander expliciren, als durch Briefe in vier Monaten; was hier Missverständnisse von etlichen Wochen macht, hebt sich dort mit zwei Worten. Schon der Blick, der Ton, die Modulation der Stimme, womit man etwas sagt, giebt dem Gesagten ganz eine andere Bestimmung (Jacobi 1983, 21).

Indessen sind mediale Restriktionen nicht eo ipso Kommunikationshindernisse. Immer auch ist von Belang, zu welchem Zweck und in welchem Zusammenhang ein Medium verwendet wird. Darauf haben John Short, Ederyn Williams und Bruce Christie (1976) in ihrer Theorie der sozialen Präsenz aufmerksam gemacht. Ein Medium gilt auch für sie als ein System von Zwängen, die auf die in einer Situation verfügbaren Signale einwirken. Medien unterscheiden sich dabei in der Art und Weise dieser Zwänge. Sie vermitteln damit je unterschiedlich, wie nahe man sich dem medialen Gegenüber empfindet, welche Präsenz des anderen zu verspüren ist. Entsprechend gibt es Medien mit hoher und geringer sozialer Präsenz. Dimensionen einer sozialen Präsenz sind, ob die Medien als ungesellig/ gesellig, unsensibel/sensibel, kalt/warm oder unpersönlich/persönlich empfunden werden. Ein formaler Geschäftsbrief würde beispielsweise am unteren Ende einer dichotomen Skala der sozialen Präsenz, die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht am oberen Ende stehen. Dazwischen (wenn auch nicht immer so eindeutig) wären andere Medien anzusiedeln, etwa das Telefon, E-Mail oder SMS, um nur drei Beispiele zu nennen. Soziale Präsenz hängt allerdings auch von der Wahrnehmung der Menschen ab. Die Autoren sprechen von einem „mental set towards the medium“ (Short et.al. 1976, 65) – also einer gewissen Haltung oder Einstellung einem Medium gegenüber. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die Qualität eines Mediums nicht von allen gleich beurteilt wird. Analog zu der sozialen Präsenz eines Mediums erfordern unterschiedliche Situationen eine je unterschiedliche Teilhabe oder soziale Präsenz. Die Verwen-

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dung eines bestimmten Mediums führt so lange nicht zu Problemen, wie die mit einem Medium verbundene Präsenz der geforderten sozialen Präsenz einer Handlungssituation entspricht, man gewissermaßen das ‚richtige‘ Medium verwendet. Ein Brief wird, so auch empirische Hinweise (vgl. Höflich 2003, 53), als weniger geeignet dafür gesehen, um sich zu verabreden oder um Konflikte auszutragen, eher wiederum, um zu zeigen, dass man an jemand denkt, oder um eine persönliche, vertrauensvolle Mitteilung zu machen. Allerdings kann ein Medium auch gezielt ausgewählt werden, um allein schon durch dessen Wahl eine Botschaft zu kommunizieren, etwa, indem man durch einen Brief eine gewisse Wertschätzung des anderen zum Ausdruck bringt. Dies manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass sich die Kommunikationspartner*innen an gemeinsamen Regeln orientieren. In diesem Fall hätte man es mit distinkten Medienregeln zu tun, die besagen, welches Medium man eigentlich für bestimmte Zwecke verwenden soll. Können solche gemeinsamen Regeln unterstellt werden (und tun dies die Kommunikationspartner*innen gegenseitig), dann erlangt die Kommunikation eine gewisse Erwartbarkeit. Ego weiß, wenn er Medium A zum Zweck X verwendet, dass Alter dies ebenso sieht und tun würde und damit sein kommunikatives Ansinnen akzeptiert – und umgekehrt. Interessant sind die Fälle, wo Menschen auf keine kommunikativen Alternativen und Medien ausweichen können und sich die Frage nach der Adäquanz so nicht stellt. Ein Beispiel hierfür sind Briefe von Menschen in Gefängnissen. Sie bekommen wenige oder gar keine Besuche und können auch nicht so leicht auf mediale Alternativen ausweichen. So bleibt einzig der Brief, der damit eine besondere (Re-)Vitalisierung erfährt. Erwähnenswert ist eine Studie von Janet Maybin (2000). Als Mitglied von LifeLines, einer britischen Organisation, die Kontakte zu Menschen herstellt, die in der Todeszelle sitzen, hat sie eine beachtenswerte Studie durchgeführt, die unter dem Titel Death Row Penfriends veröffentlicht wurde. Zum Tode Verurteilte verbringen vor ihrer Hinrichtung eine lange Zeit in den Todeszellen. Umso bedeutender erweist sich die briefliche Kommunikation für die Identität und ein Gefühl, noch irgendwer zu sein. Zudem haben Briefe eine emotionale Seite, die ansonsten von der direkten Face-to-Face-Kommunikation erfüllt wird, zumal in einer Funktion als ein „vehicle for the expression of the self“ (Maybin 2000, 165).

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

3 Beziehungen und mediatisierte schriftliche interpersonale Kommunikation Die Wahl eines Mediums – und damit auch, ob ein Brief gewählt wird – hängt nicht nur vom Zweck, sondern auch und gerade von der jeweiligen Beziehung zwischen den Kommunikationspartner*innen ab (vgl. Linke 2010). Das heißt, ob sich die Kommunikationspartner*innen gut kennen, ja eine intime Beziehung haben, ob es sich um flüchtige Bekannte oder eine Geschäftsbeziehung handelt. All das lässt eine mediale Kommunikation nicht unberührt (vgl. auch Ledbetter 2014). Bezüglich des Briefs ist ein Moment besonders hervorzuheben: Der Brief ist, neben dem Lied, seit dem Mittelalter das wichtigste Medium für die Kommunikation von Liebe. Allemal zeigt sich gerade beim Liebesbrief, wie durch ein Schriftmedium (emotionale) Nähe vermittelt werden kann. Und immer noch gilt als ein ‚echter‘ Liebesbrief, wenn er handschriftlich verfasst ist, auch wenn er sich über die Zeit hinweg hin zu mehr Spontaneität und Authentizität verändert hat. Zu diesem Ergebnis kommt Eva Lia Wyss (2014), die sich als eine der wenigen aus einem kommunikationswissenschaftlichen Blickwinkel dem Brief, und hier genauer: dem Liebesbrief, erst recht in seinen sich wandelnden medialen Ausprägungen, widmet. Wyss (2003, 205) vermerkt ferner, dass sich eine Individualisierung des Liebesbriefs zeige, die sich ausweist durch ausgeprägte (und stilisierte) Betonung einer persönlichen Handschrift und durch den Vorzug einer Expressivität, die sich nicht mehr länger um sprachliche Form kümmern muss. Sprachexperimente, ein spielerischer Umgang mit Sprachmaterial und Collagen sind Ausdruck einer modernen Schriftlichkeit.

Liebesbriefe sind in der Tat Zeichen einer besonderen Beziehung und eine durchaus sinnliche Angelegenheit. Vor allem: Liebesbriefe werden (immer noch) aufbewahrt und bleiben damit auch noch einer nachfolgenden Generation erhalten. Dies ist bei neuen Medien nicht so einfach. Allein schon: Wie wird gewährleistet, dass die Speichermedien zukünftig einen Zugriff auf die Botschaft zulassen? Es gibt Notlösungen: Die E-Mail wird auf Papier ausgedruckt – und manch romantisch empfindende Menschen verschönern den Ausdruck mit handgemalten Blümchen oder Herzen, um dann auch diese Variante des Liebesbriefs aufzubewahren. Briefe sind nicht mehr die universellen Kommunikationsmedien. Wenn, dann werden Briefe meist zu besonderen Anlässen und Lebenseinschnitten geschrieben. Dazu gehören Geburten, Jubiläen, Kommunion, Konfirmation, Hochzeiten, Sterbefälle. Es gibt aber auch wiederkehrende Anlässe, wie etwa die Weihnachtspost. Der Brief hat etwas Exzeptionelles, und das hebt ihn zugleich ab. Urlaubs-

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grüße hingegen wurden an die Postkarte delegiert (wenn sie nicht schon längst durch eine Smartphonefotografie ersetzt wurde). Über alle Medien hinweg ist die Aufrechterhaltung von Beziehungen ein wesentliches, wenn nicht sogar das wesentliche Nutzungsmotiv. Unter einer Aufrechterhaltung von Beziehungen – einer Relational Maintenance  – versteht man jene Verhaltensweisen, die dazu dienen, um Beziehungen zu pflegen und zu stabilisieren. Auf die Bedeutung des Austausches, der Menschen zusammenhält, eine „interpersonale Soziabilität“ und die Bedeutung von Medien weisen Christian Licoppe und Smoreda Zbigniew (2006) hin. Es gibt, so stellen sie fest, bestimmte Formen der Kommunikation, die für gewisse Beziehungen als angemessen erachtet werden. Hier reiht sich auch der Brief und in einem weiteren Sinne eine briefliche Kommunikation ein. Offenkundig wird ein Zusammenhang von Medium, Inhalt und Beziehung. Ein von den Autoren ausgeführtes Beispiel ist die Mitteilung der Geburt eines Kindes. Enge Verwandte und Freunde werden sogleich telefonisch benachrichtigt, bei entfernten Bekannten lässt man sich mehr Zeit und schreibt einen Brief. Arbeitskollegen können via E-Mail benachrichtigt werden. Derartige Ereignisse sind ein Testfall für die Beziehungen und zugleich eine Grundlage zu deren Konstitution. Oder, im Sinne der Autoren: Die Wahl eines Mediums produziert und reproduziert Sozialstruktur und hat somit eine distinkte soziale Bedeutung. Mit der Wahl eines Mediums kommt dabei immer auch die Nähe oder Distanz zwischen den Kommunikationspartner*innen zum Ausdruck. Je enger die Beziehungen, desto wichtiger scheint es, die kommunikativen Ansinnen so schnell wie möglich umzusetzen, um eine schnelle Rückantwort zu bekommen. Die Wahl eines Mediums mit seinen unterschiedlichen Reziprozitätserwartungen steht dergestalt schon für die Nähe oder Distanz der Kommunikationspartner. „It shows that when analyzing sociability, we do indeed need to pay attention to the technical means used to communicate“ (Licoppe und Zbigniew 2006, 298). Somit drückt allein schon die Verwendung eines bestimmten Mediums die Beziehung aus.

4 Geschlecht und Brief Beim privaten Brief sticht – bis heute – eines vor allem ins Auge: Eine geschlechtsspezifische Differenz. Die ausgeprägte Beziehung zwischen Geschlecht und Brief zeigt sich bereits ausgeprägt seit der Hochphase einer Briefkultur. Der Brief als „Herzblut im Briefcouvert“ (Steinhausen 21968 [1889], 287) und damit gerade die gefühlvolle und empfindsame Qualität des Briefs wurden mit einem besonderen weiblichen Vermögen verbunden. Das hat nicht zuletzt Gellert (1988, 136) hervorgehoben, der schreibt:

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Wer unter vielen Vorstellungen, durch die Hülfe einer zarten und glücklichen Empfindung die leichtesten, feinsten und nöthigsten wählen, und einen gewissen Wohlstand in ihrer Verbindung beobachten kann, der wird gewiß gute Briefe schreiben. Aus diesem Grunde kann man sich sagen, woher es kömmt, dass die Frauenzimmer oft natürlichere Briefe schreiben, als die Mannsperson. Die Empfindungen der Frauenzimmer sind zarter und lebhafter, als die unsrigen. Sie werden von tausend kleinen Umständen gerührt, die bei uns keinen Eindruck machen.

Die Gellert’sche Charakterisierung würde heutzutage anders formuliert und als Stereotyp abgetan. Gleichwohl findet sich eine geschlechtsspezifisch zugeschriebene Emotionalität: Bei einer psychologischen Studie aus dem Jahr 1999 ging es um die Einschätzung der Kommunikationsqualität unterschiedlicher Medien. Dabei zeigte sich klar, dass Frauen meinten, sie können eigene Gefühle besser mitteilen und auch die Gefühle anderer besser einschätzen als Männer – hier in Bezug auf die E-Mail, den Online-Chat und den Brief (vgl. Hartig et al. 1999). Frauen schreiben im Übrigen mehr Briefe als Männer (vgl. Höflich 2003, 48). Über das Schreiben von Briefen hinaus manifestiert sich eine geschlechtsspezifische Affinität zur Schriftlichkeit. Das spiegelt nicht zuletzt eine geschlechtsspezifische Rollenteilung wider. Mit Blick auf den Brief spitzt dies Barton (1991, 9) mit der Pointierung zu: „Wives write Xmas cards… Husbands write checks.“ Und er meint damit, dass die Pflege des persönlichen Umfeldes, das Aufrechterhalten der Kontakte zu Freunden und Bekannten eine weibliche Domäne sei, während Männer stärker sachorientiert seien. Offenkundig verlaufen also Mediensozialisation und Geschlechtssozialisation nicht getrennt. Frauen haben überdies eine größere Nähe zum Buch als Männer, zumindest was die Lektüre in der Freizeit angeht. Das unterstreicht eine Studie aus dem Jahre 2001 (vgl. Höflich 2003, 49; Höflich und Gebhard 2005, 17). Und dies beginnt bereits mit dem Jugendalter (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2016). Interessant ist der Zusammenhang zwischen der Lektüre von Büchern und dem Schreiben von Briefen. Je mehr Zeit mit der Lektüre von Büchern verbracht wird, desto eher werden Briefe geschrieben. Und wer nicht liest, der schreibt auch eher keine Briefe.

5 Die Bedeutung des Briefs in einer ­mediatisierten Welt Nicht zum ersten Mal ist das Ende des Briefs prophezeit worden. Ein solches Ende sagte zum Beispiel vor mehr als einhundert Jahren Georg Steinhausen (21968 [1891], 409) voraus. Er verweist zur Untermauerung auf die Postkarte und das

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Telegramm, die den Brief verdrängen würden. Eine Briefkultur hat sich zweifelsohne verändert, so wie sie immer schon einem Wandel unterlag. Erst recht für eine jüngere Generation ist der Brief antiquiert, ‚altmodisch‘ (vgl. Höflich 2002). Der Brief hat es insofern schwer, da immer mehr Medien zur Verfügung stehen, die offenbar weitaus einfacher genutzt werden können. Trotz der medialen Konkurrenzen scheint, bei aller Zurückhaltung beim Briefeschreiben, eine recht klare Vorstellung von einem ‚echten‘ Brief vorzuherrschen: Ein richtiger Brief ist handgeschrieben. Das gilt erst recht für den Liebesbrief. Die Handschrift gibt dem Brief anderen Medien gegenüber einen Glaubwürdigkeitsvorsprung, macht ihn aber auch authentisch (vgl. Höflich 2003). Doch welche Bedeutung bleibt dem Brief in einer Gesellschaft, in der immer mehr Medien verfügbar sind und der Privatbrief zumindest quantitativ zurücksteht. Eine schon etwas zurückliegende Studie (vgl. Höflich 2003) gibt hierzu einige Hinweise. Gefragt wurde, als wie wichtig verschiedene Medien eingeschätzt werden. Für mehr als 60 Prozent der Befragten gilt der Brief als ein sehr wichtiges Medium, mit dem immer noch soziale Gratifikationen verbunden sind, die anderen Medien abgehen. Eine finnische Studie kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Vor allem wird der besondere emotionale Wert des Briefs betont. Und wie bereits erwähnt, steht der handschriftliche Brief besonders hoch im Kurs (vgl. Leppänen 2001, 53). Paradox anmutend ist diese Situation insofern, da in der Regel davon auszugehen ist, dass sich die Bedeutung eines Mediums durch den Gebrauch ergibt, sich hier aber Bedeutungsdimensionen trotz Nicht- oder WenigGebrauch offenbaren. Eigentlich spricht vieles für den Brief: Er wird für wichtig erachtet und gilt als glaubwürdig. Beachtlich ist die positive Wertschätzung des Briefs, obwohl er – in Gestalt des Privatbriefs – im Alltag der Menschen zumindest quantitativ eine immer geringere Rolle spielt. Briefe werden gerne entgegengenommen, aber nicht geschrieben. Das verletzt eine Reziprozitätsregel, die besagt, dass ein Brief dem anderen folgt. Schließlich spricht man auch von einem Briefwechsel und nicht etwa von einem ‚Postkartenwechsel‘. Der Aufwand, einen Brief zu schreiben und abzuschicken, macht ihn zugleich zu einem knappen Gut und damit zu einer bedeutungsvollen Angelegenheit. Knappe Güter wiederum eignen sich gut als Mittel zur Distinktion. Für Generationen, die mit neuen elektronischen Medien groß geworden sind, scheint der Brief recht fern. Eine Erfahrung mit dem Brief und dem Briefeschreiben bedeutet für sie geradezu eine Neuerfahrung. Und in diesem Sinne wird der Brief immer wieder neu entdeckt und ‚erfunden‘.

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1.6 Kommunikationswissenschaft 

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Liz Stanley

1.7 Soziologie 1 Einleitung: Soziologie und Brief Was ist ‚ein Brief‘? Das gegenwärtige soziologische Interesse an Briefen konzentriert sich auf einige zentrale Schwerpunkte: Erstens bedeuten Briefe eine Kommunikation in Situationen der Abwesenheit von und Distanz zwischen Menschen, wobei derartige Austausche wesentlich dafür sind, soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten. Zweitens ist das Schreiben von Briefen – und von verwandten Formen wie dem Telegramm, der E-Mail und der SMS – eine fundamental dialogische Aktivität, da sie eine Antwort impliziert bzw. erfordert, wodurch die Adressat*innen ihrerseits zu Briefschreiber*innen werden. Drittens entsteht, so sich eine fortlaufende Korrespondenz entwickelt, ein zunehmender Diskurs über gemeinsame Konventionen, beispielsweise mit Bezug auf geeignete Themen, (nicht-)akzeptable Verzögerungen der Antworten etc. Viertens können Briefinhalte alles umfassen, was für Schreiber*innen und Adressat*innen von gemeinsamem Interesse ist. Während es, fünftens, keine besonderen Regeln gibt, die festlegen, was bzw. was nicht Eingang in den Inhalt findet, existieren gebräuchliche, für Zeit und Ort des Schreibens spezifische Konzepte der Struktur bzw. Form epistolarer Austausche, wie etwa die angemessene Form der Anrede für die Angeschriebenen, die für eine bestimmte Briefsorte den richtigen Ton gewährleistet, und eine der jeweiligen Nähe bzw. Distanz zwischen den Korrespondent*innen entsprechende Form der Verabschiedung. Zusätzlich bestehen, sechstens, unter Soziolog*innen Spannungen bezüglich der ontologischen Basis des Briefs. Einige sehen Briefinhalte als eine ‚kleine Welt‘, die Zugang zum Leben und den Verhältnissen vergangener Zeiten und Orte bietet. Für Andere ist diese grundsätzlich referenzielle Vorstellung von der Faktizität des Inhalts verdrängt worden durch eine Betonung der repräsentationalen Ordnung, die in Briefe eingeschrieben ist. Diese Spannungen bestanden auch in der frühesten Phase des soziologischen Interesses an Briefen und verwandten Formen auto-/biographischen Schreibens (life writings), wobei wesentlich Max Webers Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (42013 [1904/05]) eine eher referenzielle Sichtweise vertrat. Erst die jüngste Neuübersetzung dieses Werks (The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism, 2010) hat englischsprachigen Forscher*innen verdeutlicht, dass Webers Argumentation grundlegend auf autobiographischen Dokumenten – einschließlich Briefen – fußte. Sein Ansatz unterscheidet sich von der eher interpretativen Herangehensweise Wilhelm Dil­ theys (1989), Georg Mischs (1907) und Georg Simmels (1908): Letztere erkennt https://doi.org/10.1515/9783110376531-007

1.7 Soziologie 

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die Voreingenommenheit des jeweils repräsentierten Blickwinkels ebenso an wie den Umstand, dass die darin vorhandene Selbstinszenierung (self-fashioning) ein deutendes Verständnis erforderlich macht. In Überschneidung mit diesen europäischen/deutschsprachigen Arbeiten entstand in der amerikanischen Soziologie eine Anzahl von Forschungsarbeiten, die sich spezifisch mit Briefen auseinandersetzten. Sie schlossen sich an The Polish Peasant in Europe and America (21927) von William Isaac Thomas und Florian Znaniecki an und wurden besonders von Simmels Werk beeinflusst. Die Untersuchung von Thomas und Znaniecki fokussierte auf die flexible Form und den dialogischen Inhalt des Briefschreibens sowie dessen Empfänglichkeit gegenüber sich verändernden Konventionen; über einen längeren Zeitraum hinweg war diese Untersuchung quer durch die Sozial- wie Geisteswissenschaften enorm einflussreich, speziell in Nordamerika. Ihre Wirkung reduzierte sich später aufgrund der wachsenden Dominanz positivistischer und quantitativer Soziologien; dazu kam der zunehmende Einfluss einer Soziologie im US-Stil in vielen Ländern. In jüngerer Zeit wurde diese Dominanz durch Ideen in Frage gestellt, die mit dem narrative und dem reflexive turn sowie dem damit zusammenhängenden Aufkommen von Postmodernismus und Dekonstruktivismus assoziiert sind. Diese Entwicklungen regten interdisziplinäre Forschungen an und lenkten die Aufmerksamkeit auf zuvor vernachlässigte, eher kulturelle Bereiche des Soziallebens. Insbesondere haben sie zum gegenwärtigen Wiederaufleben der biographischen Soziologie nebst deren Interesse an Narrativen, Briefen und anderen ‚Lebensdokumenten‘ (documents of life; vgl. Plummer 2001) geführt. Im Ergebnis hat die heutige Soziologie der englischsprachigen Welt rege Spezialgebiete entwickelt, die nebeneinander operieren und sowohl auf interdisziplinäre wie soziologische Fragen ausgerichtet sind: Dazu zählen beispielsweise Geschlechterstudien, Kulturwissenschaften (cultural studies), biographische Soziologie (biographical sociology) und narrative Forschung (narrative inquiry). Wie dieser Überblick erkennen lässt, trafen drei breit angelegte Stränge intellektueller Entwicklungen zusammen und prägten heutige soziologische Arbeiten zum Brief: eine deutsche interpretative und hermeneutische Tradition, eine nordamerikanische interaktionistische Tradition und eine narrative und biographische Tradition, die mit Poststrukturalismus, Postmodernismus und Dekonstruktivismus verbunden ist. Im Folgenden wird im Detail besprochen, wie sie zu derzeitigen analytischen und deutenden Interessen beigetragen haben; dabei werden wesentliche Schwerpunkte der Forschungstätigkeit grob in der Reihenfolge betrachtet, in der sie sich entwickelt haben.

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

2 Interpretation: Form und Inhalt von Briefen Das soziologische Interesse an Briefen geht zurück auf die Arbeiten zu Hermeneutik, Biographie und interpretativem ‚Verstehen‘ des Philosophen-Soziologen Wilhelm Dilthey, einschließlich seiner Herausgabe von Friedrich Schleiermachers Briefen. Dilthey (1989) beschäftigte sich insbesondere mit dem ‚Innewerden‘ in der menschlichen Erfahrung und den Komplexitäten, die menschlichen Darstellungen der sozialen Welt zugrunde liegen. Sein Interesse verbindet soziale Verbundenheit, Identität und ‚Erlebnis‘ (d.  h. die mit einem Moment assoziierten Ereignisse und Prozesse), und er sah verschiedene Formen der Repräsentation (schriftlich, mündlich, visuell) als zentral für das interpretative Verstehen an; daran knüpfte Paul Ricœur später mit Bezug auf Narrative – einschließlich jenen, die sich in Dokumenten wie Briefen finden – an. Diltheys Denken beeinflusste auch die Entwicklung der Hermeneutik durch Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer sowie auf ähnliche Weise Ideen zu Reflexivität und Handlungsmacht – und dadurch die Beschäftigung der Soziologie mit narrativer Theorie und Methodologie. Georg Misch, ein Herausgeber und Förderer von Diltheys Werk, war auch für sich genommen ein bedeutender Hermeneutiker. Heute ist er am besten bekannt für seine Geschichte der Autobiographie (41974  ff. [1907–1969]), die zahlreiche frühe Autobiographien als Primärquellen analysiert, welche die historische Entwicklung von Ideen von Individualität erschließen lassen; darüber hinaus setzt das Buch soziale Verbundenheit und die verschiedenen Arten der Selbstrepräsentation – besonders in Briefen sowie in der Autobiographie – in Zusammenhang miteinander. Mischs Werk hat das soziologische Denken darüber, wie das Selbst in autobiographischen Genres repräsentiert wird, maßgeblich beeinflusst. Georg Simmels bedeutender Essay „Der Brief“ ist  – gemeinsam mit Ideen zu Anzahl, Reihe, Geldwert und Hierarchie – Teil seiner Entwicklung von Werkzeugen der formalen Soziologie. Die Inhalte kommunikativer Austausche sind hochspeziell sowie gegründet in spezifischen Beziehungen und in diesem Sinne subjektiv; das Schreiben ist jedoch ein Medium der Repräsentation, das von Natur aus versachlicht. Für Simmel treffen diese Eigenschaften in dem komplizierten Verhältnis zwischen Form und Inhalt eines Briefs zusammen, denn die beteiligten Korrespondent*innen müssen – ebenso wie Forscher*innen – das Ergebnis interpretieren. Simmels Werk gehört zu einer Einflusslinie, die von Weber zu Simmel und von Simmel zu Thomas’ und Znanieckis Arbeiten über Briefe und sozialen Wandel reicht; tatsächlich gehörte Thomas zu einer Reihe von US-amerikanischen Soziologen, die Simmels Vorlesungen zu dem Zeitpunkt beiwohnten, als der Essay zum Brief im Entstehen begriffen war.

1.7 Soziologie 

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3 Briefe und sozialer Wandel Soziologische Arbeiten über den Brief – im Unterschied zu solchen über autobiographische Schriften im Allgemeinen  – lassen sich auf das Erscheinen von Thomas’ und Znanieckis The Polish Peasant in Europe and America (21927) zurückführen. Die Autoren suchten eine programmatische Rolle für Briefe zu etablieren, indem sie diese als eine fast perfekte Form des Datenmaterials für soziologische Untersuchungen bezeichneten. Das heißt: Briefe erlauben es, die strukturelle Ebene sozialen Lebens und die interpersonelle Ebene von Beziehungen und alltäglichen Verhaltensweisen auf integrierte Weise zu behandeln, da Korrespondenzen zeigen, wie sich beide Ebenen im Lauf der Zeit vermischen. Die Forschung von Thomas und Znaniecki beschäftigte sich mit ausgedehnten Migrationsbewegungen von Polen in die USA: Sie konzentrierte sich darauf, wie sich die Art, in der Menschen Briefe schrieben, mit der Zeit änderte, und wertete diese Veränderungen als Index für das Auftreten breiteren sozialen Wandels. Dabei machten die Forscher Gebrauch von über 700  Briefen aus mehrere Generationen einbegreifenden Korrespondenzen zwischen Migranten und deren Familien in Polen. Sie analysierten die Briefwechsel auf iterative Weise, indem sie hin- und herwechselten zwischen einem close reading der Briefe und strukturellen Aspekten von deren Schreibweise; der theoretische Rahmen ihres Projekts entwickelte sich erst im Lauf und als Ergebnis dieser Analysen. Ihr Herangehen konzentrierte sich auf Veränderungen in der Form der Briefe und darauf, wie dieser Wandel allgemeine Veränderungen sozialer Verhältnisse erhellte. Dabei interessierten sich die Forscher besonders für Respekt bezeugende, ‚Anerkennungsbriefe‘ (bowing letters) genannte Schreiben an Menschen, die familiär oder anderweitig eine Autoritätsposition einnahmen, denn Veränderungen in diesen Briefen waren Bestandteil von weiterreichenden Wandlungen der sozialen Verhältnisse, und zwar sowohl in migrantischen wie in Gastgemeinden. Obwohl Thomas’ und Znanieckis Werk zunächst quer durch die Sozial- und Geisteswissenschaften enorm einflussreich war (vgl. Stanley 2010), sah es sich im Anschluss nachhaltiger Kritik von eher positivistischen Soziologen (vgl. speziell Blumer 1939) ausgesetzt; diese verstärkte sich durch die Expansion quantitativer Methodologien, die durch die Förderung großangelegter Forschungsprojekte durch die US-amerikanische Regierung der 1940er Jahre bestärkt wurden und bis vor kurzem die Soziologie beherrschten. Man behandelte Briefe daraufhin nicht quantitativ oder positivistisch: Es war eher so, dass interpretative, biographische und kulturelle Forschung allgemein als unwichtig angesehen wurde. Der ursprünglich weitreichende Einfluss von Thomas’ und Znanieckis Forschung wurde im Wesentlichen vergessen bzw. auch in unzureichenden Zusammenfas-

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sungen aus zweiter Hand statt im Original rezipiert. Gleichwohl ist ihre Arbeit in jüngster Zeit auf die soziologische Tagesordnung zurückgekehrt. Darauf wird hier später eingegangen werden.

4 Biographische Soziologie: Erzählung, Auto-/ Biographie und Briefe Die reflexive (reflexive), Bekenntnis- (confessional) und anti-referenzielle (antireferential) ‚Wende‘ sowie andere ‚turns‘, die das intellektuelle Leben in den jüngsten Jahrzehnten dominiert haben, können alle als Teil der seismischen Veränderungen betrachtet werden, die die narrative Wende (narrative turn) und die damit verbundene Rückkehr biographischer Ideen und Methoden auf die Tagesordnung begleitet haben. In der Soziologie hat die narrative und biographische Forschung eine spezielle Richtung eingeschlagen, indem narrative mit interaktionistischen Methodologien verknüpft und die Aufmerksamkeit auf Lebensgeschichten (life histories) und Lebensberichte (life stories) gelenkt wurden; auf diese Weise wollte man mit dem interpretativen Verständnis der Menschen als Expert*innen für ihr eigenes Leben ins Gespräch kommen (vgl. Riessman 2008; Merrill und West 2009; Chamberlayne et al. 2000; Andrews et al. 2013). Die biographische Soziologie entsprang ursprünglich gesonderten Forschungssträngen: Die personenzentrierte Herangehensweise an das Verstehen von Gesellschaft machte hierbei den Anfang (vgl. Berger und Berger 1976; Roberts und Kyllonen 2006); ihr folgten einflussreiche Arbeiten zu ‚Soziolog*innenLeben‘, die die Umstände untersuchten, welche die betroffenen Soziolog*innen dazu bewegten, sich dem Fach sowie ihrem jeweils speziellen Forschungsgebiet zu widmen (vgl. z.  B. Riley 1988). Die Untersuchung von Briefen war Bestandteil dieser Analyse, und zwar hinsichtlich der Konstruktion von Identität, der Autorstimme sowie der Frage, wie Ideen in Briefaustauschen geprägt und kommuniziert werden und welche Wirkung diese Briefe allgemein auf die soziologische Arbeit des Autors oder der Autorin haben (vgl. z.  B. Brewer 2004, 2005, 2007a, 2007b). Während es (auch im Englischen) durchaus hervorragende Editionen von Briefen bekannter Soziolog*innen gibt (z.  B. Theodor W. Adornos), so bleiben diese doch die Ausnahme. Obwohl beispielsweise alles andere aus Norbert Elias’ Feder in den Gesammelten Schriften (1997–2010) erschienen ist, fallen seine vielen Briefe hier vor allem durch Abwesenheit auf. Da Editionen der Briefe von Koryphäen in anderen Disziplinen stark zunehmen, spielt hierbei eventuell die bis vor kurzem eher ablehnende Sicht der Soziologie auf Briefe eine Rolle. Die Akzentsetzung auf die Biographie steht in Zusammenhang damit, dass sie das Verhältnis

1.7 Soziologie 

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zwischen sozialen Strukturen und sozialen Prozessen beleuchtet; Mills’ (1959) Betonung der Zentralität des Verhältnisses von Biographie, Geschichte und sozialer Struktur bildet ein Credo für viele diesbezügliche Arbeiten. Gewiss, für einige biographische Soziolog*innen sind Briefe einer gewissen ‚Parteilichkeit‘ unterworfen, da sie einzelne Sichtweisen ausdrücken, statt die analytischen Fragen der Forscher*innen zu beantworten (vgl. z.  B. Plummer 2001; Roberts 2002). Aber für andere sind Briefe genau deswegen wichtig, weil Menschen sie gebrauchen, um ihre eigenen Deutungen dessen darzustellen, was ihnen wichtig ist, und weil Briefe in diesem Zusammenhang zeigen, wie alltägliche Kommunikation zwischen Menschen mit größeren Ereignissen sowie sozialem Wandel verknüpft ist (vgl. die Beiträge zu Briefen in Godwin 2012). Das wichtigste Bindeglied zwischen der biographischen Soziologie und Briefen ergab sich aus der Entwicklung der Idee der ‚Auto-/Biographie‘ (,auto/ biography‘): Dieser konzeptionelle Begriff erkennt an, dass verschiedene Formen biographischen Schreibens (life writing) miteinander verzahnt sind und Grenzen zwischen ihnen häufig überquert werden; dass Berichte von Menschen über ihr eigenes Leben von zentraler Bedeutung für die soziologische Forschung sein sollten; und dass Briefe gemeinsam mit anderen Quellen erhellen, wie soziale Netzwerke funktionieren (vgl. Morgan und Stanley 1993; Stanley 1995, 2015, 2020; Parsons und Chappell 2020). Zu den Kerngedanken der Auto-/Biographie gehören die Zuwendung zur Textualität und das Betrachten von geschriebenen Texten als sozialen Erzeugnissen mit einer ‚Stimme‘ und performativen Eigenschaften; die Wichtigkeit von individuellen und Gruppen-Leben für das Verständnis von sozialen Strukturen; sowie die Idee, dass Rede ebenso wie Text eine repräsentationale Darstellung der sozialen Realität bieten. Neuere soziologische Forschung zu Briefen und zum Briefschreiben hat von dieser Basis ihren Ausgang genommen und diese mit Arbeiten zu ‚Lebensdokumenten‘ und Brieftheorie verknüpft.

5 Briefe als Lebensdokumente Der ‚Lebensdokumente-Ansatz‘ (documents of life approach) hat Verbindungen zur narrativen und biographischen Soziologie, ist jedoch vor allem von interaktionistischen und Lebensbericht-Ansätzen (life story approaches) beeinflusst und wird insonderheit mit den Arbeiten von Kenneth Plummer in Verbindung gebracht (1983, 2001; vgl. auch Stanley 2013). Dieser Ansatz zeichnet sich durch einen markanten Fokus auf spezielle Arten sozialer Daten aus: ‚Lebensdokumente‘, das heißt natürlich auftretende, schriftliche, bildliche, mündliche oder andere Repräsentationen, die in einem weiteren Sinne Aspekte des Soziallebens

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dokumentieren. Beispiele schließen Tagebücher, Autobiographien, Memoiren, Biographien und Briefe; Fotografien, Porträts und mündliche Aufnahmen; Werbeanzeigen, Straßen- und Verkehrsschilder, Plakatwände und Anleitungen zu Konsumgütern ein (vgl. Watson 2009, 7–36). In frühen Arbeiten zu ‚Lebensdokumenten‘ wurden Briefe als problematisch angesehen, da sie in einem Dialog zwischen Adressat*in und Unterzeichnendem*r verankert waren, der Forschungsfragen nicht thematisierte. Später stellte sich die Erkenntnis ein, dass es gerade die so bemängelten Aspekte von Briefen sind, die diese besonders interessant machen. Die Aufmerksamkeit hat sich im Folgenden darauf gerichtet, wie Menschen Briefe und andere ‚Lebensdokumente‘ in verschiedenen sozialen Kontexten hervorbringen und gebrauchen (vgl. die Beiträge in Stanley 2013). Gleichwohl besteht die vielleicht größte Leistung des Oberbegriffs ‚Lebensdokumente‘ darin, ein Bewusstsein dafür zu erzeugen, dass das Nachdenken über verschiedene Arten von Dokumenten innerhalb enger Genrebegriffe allzu einschränkend ist, denn die Grenzen zwischen Briefen und anderen ‚Lebensdokumenten‘ sind fließend und ihr Gebrauch im alltäglichen Leben komplex.

6 Praktiken des Briefschreibens Die Forschung zum Briefschreiben als soziale Praxis nahm ihren Anfang in Studien zu ‚ortsspezifischen Lese- und Schreibfähigkeiten‘ (local literacies) und zur Rolle des Lesens und Schreibens im Alltagsleben (vgl. Barton et al. 2000; Barton und Papen 2011; Lyons 2007). Als die vielleicht am weitesten verbreiteten Schreib- und Leseaktivitäten sind das Schreiben und Lesen von Briefen – sowie paralleler Formen wie E-Mail und SMS – überall gebräuchlich sowie sozial verortet; dabei berücksichtigt die Forschung vor allem diejenigen Kontexte, in denen Praktiken des Briefschreibens auftreten (vgl. Barton und Hall 2000). Auf diese Weise ist man darauf aufmerksam geworden, dass nicht nur der Inhalt, sondern auch Aspekte der Form sowie der tatsächliche Gebrauch von Genrekonventionen eher kontextuell vermittelt denn durch normative Genredefinitionen bestimmt sind. Damit zusammenhängend koexistieren verschiedene Praktiken, wobei die Konventionen des Briefschreibens generationenübergreifend, an unterschied­ lichen Orten sowie hinsichtlich verschiedener Briefsorten (wie etwa persönlicher Brief, Geschäftsbrief etc.) flexibel sind. Diese Flexibilität ist ebenfalls mitursächlich dafür, dass manchmal Varianten des Briefs in andere Formen übergehen können, wie es bei Banknoten und wissenschaftlichen Berichten der Fall war (vgl. Bazermann 2000).

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Die Vorstellung vom Briefschreiben als sozialer Praxis, die situationsgebunden ist, eine Reihe von Konventionen umfasst und von den Genredefinitionen der Zeit abweichen kann, ist nun gang und gäbe. Dies wiederum rückt in den Vordergrund, dass ‚der Brief‘ seiner Natur nach als ein Übergangsmedium betrachtet werden kann, was es für die Brieftheorie notwendig macht, sich auf dessen ontologische Komplexitäten zu konzentrieren (vgl. Jolly und Stanley 2005; Stanley und Jolly 2016).

7 Auswandererbriefe Die Erforschung von Auswandererbriefen ist ein schnell wachsendes Feld, dessen geistige Väter Thomas und Znaniecki sind und das von interdisziplinärem Interesse ist. Es setzt Akzente speziell auf die Rolle des Briefschreibens für das Aufrechterhalten emotionaler Bindungen über Raum und Zeit hinweg sowie die Konstruktion und das Verhandeln von neuen Identitäten. Für einige stellt der Auswandererbrief in der Tat eine eigenständige Briefsorte dar, da er in einem transnationalen Kontext einen ‚dritten Raum‘ bereitstellt (vgl. Gerber 2008; Elliott et al. 2006). Demgegenüber betonen Arbeiten, die auf weiterreichende briefbezogene Denkansätze Bezug nehmen (wie etwa die Bedeutung ethischer Aspekte des Briefschreibens, die sich festigen; die Länge von Briefen; die jeweilige Antwortgeschwindigkeit und den Inhalt), dass unterschiedliche migrantische Situationen unterschiedliche Praktiken hervorbringen, dass Migrant*innen mit Nichtmigrant*innen korrespondieren und dass zwischen Auswandererbriefen und anderen Typen von Briefen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede bestehen (vgl. Davis 2010; DeHaan 2010; Middleton 2010; vgl. auch die Beiträge in Borges und Cancian 2018). In diesem Zusammenhang ist deutlich geworden, wie wichtig die Kontexte von Weggang und Ankunft in migrantischen Wanderungsbewegungen sind, dass Briefe aus unterschiedlichen Ankunfts-Kontexten sich nicht alle gleichen und dass der Verkehr von Briefen zwischen migrantischen und heimatlichen Kontexten Struktur und Inhalt des Briefschreibens allgemein beeinflusst hat (vgl. Gabaccia 2000). Es existiert zudem ein wachsender Forschungsstrang – darunter fallen etwa die Auswandererbriefe aus Nordamerika (vgl. http://www. auswandererbriefe.de/index.html) –, der Auswandererbriefe sammelt, bewahren will und der Analyse unterzieht. Ein weiteres bekanntes Beispiel ist das Minnesota Digitizing Immigrant Letters Project (vgl. http://archives.ihrc.umn.edu/dil/ index.html; vgl. Cancian und Wegge 2014), das digitalisierte Auswandererbriefe, die zwischen 1850 und 1970 von Immigrant*innen aus diversen europäischen Umfeldern verfasst wurden, sowohl im Original als auch in englischer Überset-

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zung zugänglich macht. Mit Hilfe dieses Projekts lassen sich die sozial-kulturellen Dynamiken im Schreiben von US-Auswandererbriefen an vielen verschiedenen Orten und über einen beträchtlichen Zeitraum sowie große Distanzen hinweg erforschen; einbegriffen wird dabei auch die Frage, ob die Distanz und der spezifische Ort einen Unterschied bezüglich struktureller sowie inhaltlicher Aspekte von Briefen machen (vgl. Gabaccia und Cancian 2013).

8 Briefe im Lauf der Zeit Entwicklungen im Bereich der Computersoftware und -hardware haben Instrumente zur Analyse und Verwaltung von Daten verfügbar gemacht, die es erlauben, sich durch Anpassung der Suchkriterien auf individuelle Briefe und/oder Korrespondenzen und/oder Briefaustausche in Netzwerken und/oder Frequenz und Reziprozität von Briefwechseln sowie Veränderungen im Lauf der Zeit zu konzentrieren. Auf ähnliche Weise wird ebenfalls ermöglicht, zuvor separate Briefkonvolute in Meta-Sammlungen online zu verknüpfen, die Informationen (z.  B. Transkriptionen) aus einer signifikanten Anzahl von Einzelsammlungen beziehen. Im Allgemeinen haben soziologische Arbeiten hier detaillierte Transkriptionen, ein analytisches Instrumentarium und verbesserte Forschungstools zur Verfügung gestellt, um weitere, weitreichende Analysen anzuregen. Die Olive Schreiner Letters Online (vgl. https://www.oliveschreiner.org/) machen beispielsweise sämtliche der über 5.000 vorhandenen Briefe dieser Schriftstellerin und Sozialtheoretikerin sowie eine wachsende Zahl von Variorum-Transkriptionen von Schreiner-Manuskripten verfügbar; darüber hinaus werden den Forschungsgebrauch unterstützende Vorrichtungen bereitgestellt, die das Durchsuchen, Sichern und Herunterladen von auf der Webseite verfügbaren Daten erlauben. Das Folgeprojekt Whites Writing Whiteness (vgl. http://www.whiteswritingwhiteness.ed.ac.uk) bedient sich einer ähnlichen Vorgehensweise, indem es Auszüge, Anmerkungen, Transkriptionen und andere Materialien von über 30.000 Briefen aus zahlreichen Sammlungen bereithält, deren Inhalte aus den 1770er bis 1970er Jahren stammen. Wiederum geht es hauptsächlich darum, weitere Forschungen zu unterstützen und weniger darum, ein abgeschlossenes Werk zu präsentieren. Methodologisch fokussieren solche Projekte vornehmlich darauf, wie Briefe im Zeitverlauf longitudinale Entwicklungen und Veränderungen beleuchten; dabei liegt der Schwerpunkt auf Analysen, die sowohl in großem Maßstab wie auch auf der Ebene einzelner Briefe operieren. Thomas und Znaniecki beschäftigten sich ebenfalls mit longitudinalen Aspekten von Briefen und Veränderungen;

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sie wurden dafür kritisiert, dass ihr (zu dieser Zeit zwangsläufig notwendiger) Ansatz, die theoretischen Rahmenbedingungen der Studie erst während des Arbeitsprozesses zu definieren, dazu führte, dass analytische Schritte zwischen der Lektüre einzelner Briefe und verallgemeinernden Schlüssen über Veränderungen in Briefen en masse übersprungen wurden. Heute sorgen neue Computertechnologien dafür, dass einzelne Briefe mit der Gesamtheit komplett verknüpft sind: Die Metadaten von elektronisch erfassten Briefsammlungen stellen sicher, dass Briefe, Sammlungen, Adressat*innen, Korrespondenzen und Netzwerke jeweils für sich en détail verfolgt werden können – auch im Zeitverlauf. Solche Entwicklungen und der methodologische und konzeptionelle Beitrag, den sie leisten, erzielen Fortschritte und werden in der brieftheoretischen Literatur diskutiert.

9 Epistolarität: Bildung einer Theorie des Briefs Es gestaltet sich schwierig, den Beitrag spezifischer Disziplinen zur Bildung einer Theorie des Briefs genau zu bestimmen, denn die Forschung zu Briefen und zum Briefschreiben hat sich als ein in besonderem Maße interdisziplinäres Feld entwickelt; soziologische Beiträge zu letzterem prägen eine gemeinsame Brieftheorie und werden ihrerseits von dieser geprägt. Die Diskussion hier konzentriert sich daher auf fünf Bereiche, in denen soziologische Arbeiten einen distinktiven Beitrag geleistet haben. Das Konzept des ‚Epistolariums‘ konzentriert sich auf konzeptionelle und theoretische Belange der Arbeit mit Briefen (vgl. Stanley 2004, 2011; Tamboukou 2011a, 2012; Stanley et al. 2012). Es zielt darauf, Gestalt und Akzentuierungen sämtlicher Briefe einer bestimmten Person zu erfassen: hinsichtlich der im Zeitverlauf veränderlichen Gestaltung der Briefe, der Zu- und Abnahme des Austauschs mit gewissen Personen, dialogischer Merkmale spezifischer Korrespondenzen, von Netzwerken sowie emergenten Aspekten des seriellen Charakters von Briefsammlungen und Meta-Sammlungen (vgl. Tamboukou 2008; Hetherington 2014; Poustie 2014). Weiterentwicklungen haben sich auf die verschiedenen Arten von Epistolarien konzentriert, die es gibt: die ‚Ökonomie der Schrift‘ (scriptural economy) der zugehörigen Schreibpraktiken; heterotopische Aspekte von Briefen und Korrespondenzen sowie die epistolaren Räume, die von einer fortlaufenden Reihe neuer Technologien eröffnet wurden  – welche von häufigen Postdiensten sowie raschen Zustellungen bis hin zu elektronischen und sozialen Medien reichen (vgl. How 2003; Tamboukou 2010; Stanley 2015a, 2015b). Aus methodologischer Sicht bedeutet die Erforschung von größeren und Meta-Sammlungen ein iteratives Vorgehen, das von einzelnen Briefen ausgeht

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und sich dann auf sämtliche Briefe einer Person ausweitet; dabei stützt sich diese Forschung für die Datenverwaltung sowie zur Unterstützung der Analyse auf computerbasierte Technologien (vgl. Stanley 2015c). Gleichwohl beruht sie, ganz grundsätzlich, immer noch auf der strukturierten Lektüre von Texten. Dementsprechend sind Konzepte, die mit folgenden Ansätzen verbunden sind, von erheblicher Bedeutung: die ‚Relektüre‘ (re-reading; eine Lektüre aus gegenwärtiger analytischer Perspektive), die ‚Oberflächenlektüre‘ (surface reading; eine Lektüre, die sich eingehend mit der Gestaltung eines Texts auseinandersetzt und diesen dabei nach seinen eigenen Maßstäben beurteilt) und die ‚Lektüre gegen den Strich‘ (reading against the grain; eine Lektüre, die den Text anders liest als von diesem intendiert) (vgl. Dampier 2008; Petersen 2008; Salter 2011; Stanley 2016b; Tamboukou 2013). Das Konzept der kulturellen Assemblage wurde im Zug von soziologischen Analysen der Herausgeber*innenrolle bei der Zusammenstellung von Briefen in von Forscher*innen initiierten Sammlungen und Meta-Sammlungen entwickelt: Die dabei anfallenden Tätigkeiten prägen die Wahrnehmung dessen, was als ‚die Briefe‘ gilt (Manuskripte? Transkripte online? heruntergeladene Versionen?) (vgl. Tamboukou 2011b, 2012; Stanley et al. 2013). Diese die kulturelle Assemblage konstituierenden Prozesse wirken sich auf Vorstellungen von Autor- und Leserschaft aus, verkomplizieren diese und beeinflussen die weiterführende Forschung. Zudem wird so Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass, obwohl das Epistolarium ein nützliches Instrument ist, im Leben solche Meta-Sammlungen nie existierten, denn Briefe werden eigens zum Verteilen verfasst, also zu unterschiedlichen Zwecken an verschiedene Menschen versandt, die sich an vielen Orten aufhalten, und dies geschieht über längere Zeiträume hinweg; die Briefe würden nie an einem Ort versammelt und zugänglich gemacht werden, wie zum Beispiel im Fall der Olive Schreiner Letters Online. Briefe sind eine repräsentationale Form, aber wie bei anderen Formen auto-/ biographischen Schreibens verkompliziert ihre Herkunft im Leben des Schreibenden und der Menschen, über die und an die er schreibt, die Repräsentation. Im Kontext der Soziologie haben Debatten darüber, wie das Verhältnis von referenziell und repräsentational theoretisch zu erfassen sei, verdeutlicht, dass beim Briefschreiben Materialiät und Referenzialität miteinander verbunden sind (vgl. Milne 2012). Eng damit in Zusammenhang gebracht worden ist die Schwerpunktsetzung der Soziologie auf ‚gewöhnliche Briefe‘ und die vielfältigen Arten und Weisen, wie diese referenzielle und repräsentationale Aspekte kombinieren: Etwa indem sie Erwähnungen alltäglicher Ereignisse und die Weitergabe praktischer Informationen mit Spekulationen über die Bedeutung von bestimmten Verhaltensweisen und deren richtige Lesart verknüpfen (vgl. Barton und Hall 2000; vgl. auch Whyman 2009).

1.7 Soziologie 

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Soziologische Beiträge zur Theoriebildung des Briefs haben sich ebenfalls mit dessen alltäglichen performativen Komponenten befasst. Die meisten Briefe werden verfasst, um Aktivitäten zu kommentieren, sie zu befördern oder zu planen; sie sind ‚für etwas da‘, und dieses betrifft prototypischerweise die alltäglichen Aspekte des sozialen Lebens und sozialer Beziehungen. Die kulturellen und politischen ebenso wie sozialen Verwendungsweisen und Wirkungen von Briefen haben hierbei einen Forschungsschwerpunkt gebildet (vgl. Stanley und Dampier 2012; Tamboukou 2010; Stanley 2016a), wobei auch Briefaustausche in politischen und gemeinschaftlichen Netzwerken und Gruppen betrachtet wurden (vgl. Stanley und Salter 2014; Hetherington 2014). Diese Forschungsarbeiten haben wiederum weitere Fragen darüber aufgeworfen, was ‚der Brief‘ im ontologischen Sinne sei. Der grundlegende Zweck eines Briefs beinhaltet eine kommunikative Absicht in Situationen, in denen Menschen voneinander getrennt sind und in denen die Möglichkeit zu antworten besteht (vgl. Stanley et al. 2012; Poustie 2014). In Summe ergibt sich daraus ‚Epistolarität‘ – nicht streng betrachtet ‚der Brief‘. Dementsprechend mag der ‚Tod des Briefs‘ in einem formal-definitorischen Sinne in Sicht sein, während die Hauptmerkmale von Epistolarität in anderen Genreformen wie Textnachricht, E-Mail und anderen sozialen Medien florieren (vgl. Yates 2000; Milne 2012; Stanley 2015b; Stanley und Jolly 2016).

10 Fazit Wie viele Disziplinen hat sich die Soziologie zunächst um ein Zentrum herum und danach um Bereiche der Spezialisierung mit starken interdisziplinären Verbindungen ausgebildet; auf letztere wurde bereits verwiesen. Die Entwicklung eines auf Briefe fokussierten Spezialgebiets im Kontext der narrativen und biographischen Soziologie ist Teil dieses größeren Musters. Zudem lohnt es sich festzuhalten, dass nationale Soziologien – sieht man von einigen gemeinsamen Kernideen ab – eher unterschiedliche Formen annehmen sowie unterschiedliche Schwerpunkte setzen und Arbeitsweisen haben. Verallgemeinernde Aussagen über die Entwicklung und den Einfluss von Forschungen zu Briefen müssen diese Diversität entsprechend berücksichtigen. Zu dieser komplexen Situation kommt hinzu, dass ein Teil der soziologischen Arbeiten zu Briefen in Soziologie-Zeitschriften erscheinen, ein anderer Teil aber in interdisziplinären Publikationen wie etwa Life Writing und a/b. Auto/Biography Studies; das wirkt sich darauf aus, wie vertraut andere Soziolog*innen voraussichtlich mit dieser Forschung sind. Indessen ist es leichter, den Einfluss von Brieftheorie auf die ‚Lebensdokumente‘– und die narrative Forschung, die biographische Soziologie und die kulturelle Soziologie

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generell genau zu bestimmen, da Kollaborationen existieren und es zahlreiche Querverweise auf Quellen gibt. Es ist schlussendlich weniger hilfreich, den Versuch zu unternehmen, spezifische soziologische – oder aus anderen Disziplinen stammende – Beiträge zum Denken über Briefe zu isolieren, als – wie hier geschehen – den unterschiedlichen Elementen nachzuspüren, die das Wachstum (inter-)disziplinären Arbeitens befördert haben. Die diskutierten Forschungsstränge zeigen die jetzt bestehenden Parallelen und Überschneidungen, sodass bezüglich des Briefs wenige Grenzgebiete übriggeblieben sind, die es zu durchqueren gilt. Eine weitreichende Verallgemeinerung jedoch lässt sich treffen: Die soziologische Auseinandersetzung mit dem Brief ist lebhaft und leistet kontinuierlich einen aktiven Beitrag zur epistolaren Theoriebildung; sie findet vornehmlich in den Bereichen der Soziologie statt, die sich mit narrativen, biographischen und kulturellen Fragen beschäftigen. Darüber hinaus besteht ein gewisses weiterreichendes methodologisches Interesse bezüglich der zeitübergreifenden Aspekte des Briefschreibens, und die Möglichkeiten qualitativer longitudinaler Forschung sind jetzt ins Bewusstsein gerückt worden. Es gibt zudem andere Entwicklungen, durch die ein weiteres Ansteigen des soziologischen Forschungsinteresses möglich ist: speziell das rapide wachsende Interesse an ‚Big Data‘ (vgl. Tinati et al. 2014), an Textnachrichten sowie damit verbunden den sozialen Medien als Bereichen, in denen der Brief in neue, artverwandte Formen übergeht (vgl. Stanley und Jolly 2016).

Dank Gern bedanke ich mich für die Unterstützung des britischen Economic and Social Research Council bei der Forschungsarbeit an Briefen, auf die hier Bezug genommen wurde; sie wurde durch ein Professorial Research Fellowship (ES J022977/1) finanziert. Aus dem Englischen übersetzt von Marie Isabel Matthews-Schlinzig.

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1.7 Soziologie 

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124 

 1 Der Brief als Forschungsfeld

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Bettina Beer

1.8 Ethnologie 1 Einleitung In der Mitte des 20. Jahrhunderts haben Ethnologinnen und Ethnologen begonnen, sich sowohl mit Prozessen der Alphabetisierung als auch mit dem Schrifttum der von ihnen untersuchten Gesellschaften auseinanderzusetzen. Diese wurden früher als ‚schriftlose‘, heute häufig als incipient literate societies, also ‚beginnend literale Gesellschaften‘ bezeichnet. Die Grenzen sind fließend: Es können mehrere Schriftsysteme in einer Gesellschaft nebeneinander bestehen, nur bestimmte Bevölkerungsgruppen der Schrift mächtig sein und/oder Schrift wird nur in spezifischen soziokulturellen Kontexten verwendet. Im Rahmen der Studien zu Literalität (anthropology of literacy, vgl. Ahearn 2001; Goody 1968; Rappaport und Cummins 2011; Salomon und Niño-Murcia 2011; Scribner und Cole Scribner 2013 [1981]) sowie der Ethnologie des Schreibens (anthropology/ethnography of writing, vgl. Barton und Hall 2000; Barton und Papen 2010; Basso 1974) haben Dokumente, zunächst vor allem persönliche Dokumente (vgl. Paul 1979), in der Ethnologie an Bedeutung gewonnen. Mit der Ausbreitung der Alphabetisierung hat die systematischere Auswertung schriftlicher Dokumente als eines der Verfahren, das in Kombination mit anderen Methoden angewandt wird, in der Ethnographie und im Kanon anderer sozialwissenschaftlicher Methoden mittlerweile einen festen Platz erhalten (erwähnt bereits in Kluckhohn 1945, 131; vgl. ausführlicher: Fischer 1998; Prior 2011; Riles 2006). Auch offizielle Briefe von und an Institutionen sind neben anderen Dokumenten im Rahmen der Ethnologie des Staates sowie der Rechtsethnologie seit den 1990er Jahren wichtiger geworden (vgl. Riles 2006; Bubandt 2009).

2 Die Bedeutung von Briefen in der Ethnologie Unter den persönlichen schriftlichen Dokumenten spielen Briefe vor allem als „Selbst-Zeugnisse“ und Ausdruck sozialer Beziehungen eine wichtige Rolle. Neben Notiz- und Tagebüchern (vgl. Mbodj-Pouye 2010) sowie (Auto-)Biographien (vgl. etwa Schachter 2010) bieten sie Einblicke in individuelle Wahrnehmungen, Erfahrungen und deren Reflexionen durch ihre Verfasser*innen. Sofern Adressat*innen von Briefen bekannt sind, können sie stärker noch als Tagebücher und Biographien, die sich – wenn überhaupt – vage an eine allgemeine Leserschaft wenden, als Ausdruck spezifischer sozialer Beziehungen verstanden werden. https://doi.org/10.1515/9783110376531-008

126 

 1 Der Brief als Forschungsfeld

Reisende übermittelten die ersten Ethnographien  – Beschreibungen in Europa kaum bekannter Völker – in ihren Berichten und in Briefen. Briefe in die Heimat stellten bereits eine wichtige Quelle früher Kenntnisse des Fremden dar, noch bevor es die Ethnologie als wissenschaftliche Disziplin gab. Eine spezielle Form früher fiktiver Fremdbeschreibungen haben Montesquieus Lettres Persanes (1721) zum Vorbild: Diese Briefe üben Kritik an Zuständen der eigenen Gesellschaft, indem sie sich der fiktiven Fremdwahrnehmung und -beschreibung bedienen. Dadurch betonen sie die Relativität gewohnter Vorstellungen und Werte. Hans Paasche (1988 [1912–13]) lässt zum Beispiel einen Afrikaner in Briefen an den Herrscher seiner Heimat kulturkritisch die deutsche Gesellschaft beschreiben: Die Briefe des Lukanga haben einen besonderen Wert. Der fremde Mann legt an die Zustände in Deutschland seinen Maßstab. Was uns gewohnt erscheint, fällt ihm auf. Seine Beobachtungsgabe und die Nacktheit seines Urteils bringen es mit sich, daß er bedeutend über Dinge sprechen kann, denen wir selbst gar nicht einmal unbefangen gegenüberstehen können. (1988 [1912–1913], 12)

Sehr ähnlich die fiktive Fremdbeschreibung und Zivilisationskritik in den Reden des samoanischen Häuptlings Tuiavii im Papalagi (vgl. Scheurmann 1977 [1920]), ebenfalls zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

3 Briefe und Feldforschung Neben diesen kulturrelativistischen Briefen, die eher literarischer Kunstgriff als Ethnographie waren, spielen in der ethnologischen Forschung verschiedene Kategorien von Briefen eine wichtige Rolle. Zunächst sind neben den Tagebüchern die Briefe von Ethnologinnen und Ethnologen aus dem Feld zum Verständnis des Kontextes der jeweiligen Forschungen und der Perspektive der Forscherinnen und Forscher auf die untersuchten Gesellschaften von Bedeutung. Mit der Verbreitung von Schulbildung und Alphabetisierung außerhalb Europas wechselten Ethnologinnen und Ethnologen zunehmend Briefe mit den Menschen, bei denen sie häufig viele Jahre lebten und arbeiteten. Auch diese geben Einblicke in grundlegende Erkenntnisprozesse der Ethnologie. Die dritte wichtige Kategorie sind Briefwechsel von Angehörigen der lokalen Bevölkerung als Untersuchungsgegenstand der Ethnologie. In vielen Gesellschaften außerhalb Europas wurden Briefe in spezifischen sozialen und historischen Situationen genutzt, die nur aus dem jeweiligen lokalen soziokulturellen Kontext heraus zu verstehen sind.

1.8 Ethnologie 

 127

3.1 Briefe von Ethnologinnen und Ethnologen aus dem Feld Eine Besonderheit ethnologischer Forschung, auf die sich dieser Abschnitt konzentriert, ist der Umstand, dass Ethnologinnen und Ethnologen, die sich für Monate oder Jahre auf Feldforschung begaben, von ihren Reisen und Aufenthalten Telegramme, Postkarten und Briefe schrieben. Diese sind für die Geschichte ethnologischer Erkenntnis, für Fragen nach den Bedingungen des wissenschaftlichen Interesses und der Wissensgewinnung, von großer Bedeutung. Sie zeigen Veränderungen empirischer Forschung und der Beziehungen zwischen Ethnolog*innen und lokaler Bevölkerung von ersten Kontakten zu bislang isolierten Gesellschaften, über die Kolonialzeit bis hin zu Forschung in postkolonialen Nationalstaaten. Darüber hinaus geben sie Einblicke in Beziehungen innerhalb der Wissenschaft unter Kolleginnen und Kollegen. Beispielsweise ermöglichen Briefwechsel eine teilweise Rekonstruktion von Geschlechterbeziehungen, die der Geschichte ethnologischer Erkenntnisgewinnung zugrunde liegen (vgl. Bauer 1998; Beer 2006, 2007). Briefsammlungen wurden von Ethnologinnen und Ethnologen selbst (vgl. z.  B. Mead 1977) oder posthum (vgl. etwa Boas 1994; Rohner 1969; zu Bronislaw Malinowski vgl. Wayne 1995a, b) veröffentlicht. Briefwechsel in Archiven und Veröffentlichungen zeichneten häufig ein neues und umfassenderes Bild einzelner Forscherpersönlichkeiten, ihrer Feldforschungen und Beziehungen zu den Menschen vor Ort. Exemplarisch gehe ich im Folgenden auf zwei der bekanntesten Vertreter*innen der Ethnologie ein. Im Fall von Bronislaw Malinowski, dem nahezu mythische Bedeutung für die ethnologische Feldforschung zukommt, sorgte die posthume Veröffentlichung seiner Tagebücher zunächst für Aufregung, denn seine emotionalen und negativen Äußerungen über die Untersuchten und die Offenlegung seiner persönlichen Probleme, Obsessionen und Konflikte während der Forschung warfen ein neues Licht auf den ‚Erfinder‘ der teilnehmenden Beobachtung. Vergleicht man Schilderungen aus Briefen und dem privaten Tagebuch, dann sind erstere in ihren Darstellungen teilweise sogar noch drastischer (vgl. Young 2004, 549–551). Hier machte er zum Beispiel seinem Ärger darüber, dass er lange auf einen Transport zu einer anderen Insel warten musste, unverblümt Luft: „Today I am in a black rage against all the niggers, the Mission, the British System of pampering the blacks etc. etc. …“ (Young 2004, 549). Deutlich wird aus seinen Tagebüchern auch, welch große Bedeutung das Briefeschreiben und der Empfang von Post für ihn besaßen. Immer wieder beschreibt Malinowski das Schreiben privater, ‚amtlicher‘ und beruflicher Briefe und damit verbundene Gefühle:

128 

 1 Der Brief als Forschungsfeld

Nach dem Frühstück saß ich unter einem Baum und schrieb einen Brief an E. R. M. Ogisa verscheuchte dauernd Fliegen. Ich fühlte mich ihr unermeßlich viel näher; der Brief war leichter zu schreiben. Ganz andere Gefühle. Dann rückte ich näher zum Haus und schrieb weiter. […] Morgens verrückter Wirrwarr mit Briefen. Schwierigkeit, N.S. zu schreiben. Amtliche Briefe bezüglich Verlängerung des Urlaubs. (Malinowski 1985 [1967], 150)

Aber auch die Ankunft von Schiffen, die die ersehnte Post bringen, ist von großer Bedeutung. Die erhaltenen Telegramme, Briefe und/oder Fotos sind die einzige Verbindung zu den ersehnten Menschen: „E. R. M. immer noch bei mir. Ich lese keine Romane, ich lese Swinburne. Ich weiß ihre Briefe und Telegramme fast auswendig, und ich sehe immer wieder ihre Photographien an.“ (Malinowski 1985, 106) Für spätere Leser*innen geht aus diesen persönlichen Briefen etwa der Beitrag von Malinowskis Partnerinnen (vgl. Wayne 1973) zu seiner Ethnographie und Karriere hervor, der in seinen Veröffentlichungen verborgen bleibt. Ganz anders die von Margaret Mead (1977) selbst publizierten und kommentierten Letters from the Field. Sie geben Eindrücke, Erlebnisse und Einsichten von Aufenthalten in verschiedenen Forschungsgebieten wieder. Die Publikation verdeutlicht, dass Mead eine Ethnologin war, der ganz besonders an der Vermittlung ethnologischer Ergebnisse und Arbeitsweisen an ein breiteres Publikum gelegen war. Dadurch waren Anthropology und der Name Margaret Mead in der amerikanischen Öffentlichkeit lange gleichbedeutend (vgl. Petermann 2004, 709–712). Ihre in der Reihe „World Perspectives“ erschienene Briefsammlung ist Teil dieses Engagements. Sie ist chronologisch und regional nach Forschungsreisen geordnet. Angegeben sind jeweils Ort und Datum, jedoch nicht die jeweiligen Adressatinnen bzw. Adressaten der Briefe. Laut Einleitung (vgl. Mead 1977, 9) waren darunter sowohl Verwandte und Freunde als auch Kolleginnen und Kollegen (Franz Boas, Ruth Benedict, William Fielding Ogburn). Die dialogische Form des Briefes ist dadurch, dass Empfängerinnen und Empfänger nicht bekannt sind, weitgehend aufgehoben – es könnte sich bei den Texten auch um Auszüge aus einem Reisetagebuch handeln. Margaret Mead schreibt, dass sie Briefe meist vervielfältigte und nicht nur an eine Person schickte. Später habe sie erfahren, dass die Empfängerinnen und Empfänger ebenfalls ihre Briefe weitergaben, woraufhin sie ihren Schreibstil noch stärker einem großen Leserkreis anpasste: In this manner a style was set during my first field trip, in which I wrote for an intimate, identified audience that widened but without my willing it. As the years went by I adapted my writing to that knowledge by including as probable readers unknown others who were close to people who were close to me – an audience one step removed from intimacy. (Mead 1977, 9)

1.8 Ethnologie 

 129

Nach dem Zweiten Weltkrieg vervielfältigte sie ihre Briefe selbst und sandte sie an eine immer größer werdende Gruppe: „[…]  the subject matter about which I wrote in my field letters became somewhat more formal.“ (Mead 1977, 9) Einige der Briefe dienten der Ergänzung von oder sogar als Grundlage späterer Veröffentlichungen (vgl. z.  B. Mead 1970). Briefe sieht Margaret Mead vor allem als Dokumente des Feldforschungsprozesses, die in Veröffentlichungen von Forschungsergebnissen bislang zu kurz gekommen seien. Sie schreibt den verschickten und empfangenen Briefen darüber hinaus eine besondere Bedeutung während des Feldaufenthaltes zu: Immersing oneself in life in the field is good, but one must be careful not to drown. One must somehow maintain the delicate balance between empathic participation and self-awareness, on which the whole research process depends. Letters can be a way of occasionally righting the balance as, for an hour or two, one relates oneself to people who are part of one’s other world and tries to make a little more real for them this world which absorbs one, waking and sleeping. (Mead 1977, 7)

Diese Bedeutung von Briefen entspricht auch den Erfahrungen, die aus Malinows­ kis Tagebuch sowie aus Beschreibungen anderer Ethnologinnen und Ethnologen hervorgehen. Neben diesem hohen Stellenwert von Briefen im Forschungsprozess können Briefwechsel mit Angehörigen der lokalen Bevölkerung auch in der Zeit vor, nach und zwischen Feldforschungen von großer Bedeutung sein.

3.2 Briefe an Ethnologinnen und Ethnologen Schriftliche Dokumente werden in der Ethnologie erst in neuerer Zeit aktiv und systematisch genutzt. So wurden auch Briefwechsel als Quelle und Möglichkeit der Datengewinnung über lange Zeit nur selten in die Forschung und die Publikation der Ergebnisse einbezogen und/oder reflektiert. Fischer (1998) zeigt, dass die Nutzung von Dokumenten meist im Rahmen historischer Fragestellungen geschah. Deren Brauchbarkeit für gegenwartsbezogene ethnologische Fragen und Probleme fasst er zusammen und stellt sie exemplarisch dar. Eine Schwierigkeit bei Briefen als Quelle des Verständnisses anderer Lebensweisen besteht darin, dass sie entweder vorbildlich publiziert sind, wie etwa bei Rubinstein und Gajdusek (1970) – die alle Originale veröffentlichten, jedoch nicht kommentierten –, oder dass Briefe als Belege oder Quellen herangezogen, aber nicht im Original veröffentlicht werden (können) (vgl. z.  B. Schachter 2010; Djupedal 1989) oder nur in kurzen Auszügen. Briefe sprechen nicht für sich selbst, aber auch ihre Interpretationen sind nur dann wirklich überprüfbar, wenn Originaltexte vorliegen.

130 

 1 Der Brief als Forschungsfeld

Werner Dieball (1973) ging in seinem frühen Text Ethnologische Feldforschung durch den Brief davon aus, dass möglichst viele Personen befragt werden sollten. Sein Ansatz erinnert eher an sozialwissenschaftliche Studien mit Fragebögen und weniger an Briefe in ethnologischen Feldforschungen: Die Informanten seien dem Forscher noch nicht bekannt, und er solle sie unter Lehrern, Beamten, Geistlichen, Angehörigen von Parteien und Gewerkschaften oder Mitarbeitern großer Firmen wählen. Als weitere Möglichkeit schlägt er vor, über eine Zeitungsanzeige Mitarbeiter zu gewinnen (vgl. Dieball 1973, 100). Sie sollten mit Hilfe von Fragebögen befragt werden. Als Beispiel stellt er eine Befragung von 50 Lehrern auf Madagaskar über Megalithen und die Lebendigkeit der damit zusammenhängenden Sitten vor. Dieball schrieb mehrfach an seine Informanten, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, von ihnen eine Antwort zu erhalten. Sein Fazit lautet: „Die ‚ethnologischen Feldforschungsmöglichkeiten durch den Brief‘ sollen in ihrem Wert keineswegs überschätzt werden, jedoch, um stete Erfolge zu erarbeiten, wird es allerdings nötig sein, sich mit dem Wesen dieser Methode näher zu befassen und dabei alle technischen Möglichkeiten (z.  B. Tonband- und Fotoaufnahmen) einzubeziehen.“ (Dieball 1973, 104) In diesem Zusammenhang von Feldforschung zu sprechen, ist allerdings nicht ganz richtig, da Ethnolog*innen unter Feldforschung die Forschung in der Lebenswelt der untersuchten Gemeinschaft verstehen, jeweils unter Bedingungen, die ‚natürlich‘ sind, also so wenig wie möglich für Untersuchungszwecke verändert werden. Ein Vorteil von Briefen liegt also eher darin, die Möglichkeit des zeitlich ausgedehnten Dialogs, der Konversation auch zwischen Feldaufenthalten zu nutzen. Bettina Beer zeigt in Post von den Philippinen (Beer 1998), wie durch enge freundschaftliche Beziehungen zu einer Person im Forschungsgebiet, durch den Briefwechsel mit ihr und die kommentierte Veröffentlichung der Briefe Einblicke in eine sonst wenig bekannte Lebensweise und eine persönliche Perspektive gewonnen werden können. Kontaktaufnahme, Annäherung und der fortgesetzte Dialog, der sich mit der Zeit und Beziehung verändert, werden deutlich. Durch die Publikation der Original-Briefe werden hier auch abweichende Lesarten ermöglicht. In Post von den Philippinen fehlen allerdings die Briefe der Autorin, was die Position der Ethnologin nur indirekt durch das Schreiben ihrer Korrespondenzpartnerin verdeutlicht, den Einblick in den Dialog erschwert und damit zu wenig reflektiert. Ähnlich findet sich auch bei Hans Fischer (1996, 1–18) ein Kapitel, in dem er seine Beziehung – teilweise in Briefen – zu den Mitgliedern eines bestimmten Haushalts als Ausgangspunkt seiner Forschungen bei den Wampar in Papua-Neuguinea darstellt. Ein neuerer Artikel von Judith Schachter (2010) zeigt die dialogische Praxis ihrer Forschungen in Hawai’i, für die neben autobiographischen Aufzeichnungen Briefe eine wichtige Rolle spielten. Als US-Amerikanerin, die sich mit den schwie-

1.8 Ethnologie 

 131

rigen historisch-politischen Beziehungen Hawai’is zu den USA auseinandersetzt, nutzt sie Briefe nicht nur als Quelle, sondern reflektiert auch die Bedeutung des Briefwechsels, der Konversation und des Dialogs für ihr Forschungsprojekt. Ihre freundschaftliche Lehrer-Schülerin-Beziehung zu John, einem Hawaiianer, der sich in seiner Autobiographie der eigenen Identität zu vergewissern suchte und es als Aufgabe sah, ein Erbe weiterzugeben, wird somit in ihren politischen und historischen Kontexten deutlich. Bereits bevor er die Ethnographin traf, hatte John damit begonnen, seine Autobiographie zu schreiben. Später kamen Texte hinzu, die er als Life Story und Work History bezeichnete und die er auch für die Ethnographin geschrieben hatte. Ergänzt wurden sie durch einen sieben Jahre dauernden Briefwechsel: After he met me, he put his reflections on Hawaiian culture and U.S. control of the islands into the hundreds of letters he wrote to me, often daily. The letters compose a complementary text, one that detailed his feelings, his daily activities, his concerns about the family, and, at the end, his pessimism about the place of Hawai’i in the United States and in the world. Many of his letters repeated the material in his life stories, but many extended the story way beyond the boundaries of an autobiographical narrative. Letters were not books, and letters provided John with a forum for teaching that he wedded to a wider burden: enhancing and complicating the project I had begun. (Schachter 2010, 95–96)

In ihrem Briefwechsel sprach John auch die Lehrer-Schülerin-Beziehung selbst an und reflektierte sie. Als Beispiel für diese Reflexionen stellt die Ethnographin die Bedeutung bestimmter Nahrungsmittel und Gerichte dar, die er in seinen Briefen thematisiert. John beschreibt sowohl diejenigen, die die Ethnographin bereits probiert hat – als Zeichen ihrer Annäherung an eine traditionelle hawaiianische Lebensweise und Kultur –, als auch Gerichte, die er seiner Familie zubereitete. Diese stellen teilweise einen Kompromiss zwischen hawaiianischen und US-amerikanischen Ernährungsgewohnheiten dar. Nahrung und Identitäten werden hier in den jeweiligen Praktiken miteinander in Verbindung gesetzt und im Briefwechsel reflektiert.

4 Briefe als Gegenstand der Ethnographie Nicht zuletzt wurden und werden Briefe auch in den von Ethnologen untersuchten lokalen Gemeinschaften zur Kommunikation genutzt. Damit sind sie in einer Ethnologie, welche die gegenwärtige Lebensweise von Menschen analysiert und sich nicht auf möglichst ‚traditionelle‘ Formen beschränkt, selbst zum Untersuchungsgegenstand geworden. Neben Briefen an Ethnolog*innen sind es in den jeweiligen Gesellschaften ganz unterschiedliche Beziehungen, Situationen und

132 

 1 Der Brief als Forschungsfeld

kulturelle Kontexte, in denen Briefe wichtig sind. Die Praxis des Briefeschreibens verortet Schreiber*innen und Empfänger*innen in ihrer Auseinandersetzung mit soziokulturellem Wandel, Identität und globalen Beziehungen. Sehr unterschiedliche soziokulturelle Felder, in denen Briefe eine wichtige Rolle spielen, werden im folgenden Abschnitt exemplarisch anhand neuerer Ethnographien dargestellt. In frühen Hochkulturen und modernen Industriegesellschaften – im Gegensatz zu Gesellschaften, in denen die Alphabetisierung erst später mit Missionierung und Kolonialisierung einsetzte – wurden Briefe und Briefgenres bereits aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht. In vielen Gesellschaften mit vorkolonialen Schriftsystemen oder Zeichensystemen und in schriftlosen Gesellschaften wurden Schriftdokumente und damit auch Briefe erst sehr viel später mit Missionierung und Kolonialisierung üblich. Sie sind von Ethnolog*innen zunächst als ‚neue‘ übernommene Form der Kommunikation wenig beachtet worden. Lange konzentrierte sich die Ethnologie eher auf die ‚alte‘ Kultur, das Traditionelle. Mit zunehmender Hinwendung zu globalen Verflechtungen, soziokulturellem Wandel und der Vermischung von ‚Tradition‘ und ‚Moderne‘ sind auch Alphabetisierung, die Übernahme europäischer Schriftsysteme und deren Konsequenzen Gegenstand der Ethnographie geworden. Migration und Diaspora beispielsweise sind Themen, die in der Ethnologie ihren festen Platz haben. Angefangen mit der soziologischen Studie von Thomas und Znaniecki (1958), die sich vorwiegend auf Briefe stützte, entstanden später zahlreiche Forschungen zu Migration, Transkulturalität und Diaspora, die Briefe nutzen (vgl. z.  B. Djupedal 1989 zu norwegischen Auswanderern in den USA). Deren Analysen wurden bereits kritisch reflektiert (vgl. etwa Gerber 2011) und sind Teil der Briefforschung in Geschichtswissenschaft und Soziologie („Auswandererbrief“ und „Diasporabrief“). Deshalb soll an dieser Stelle nicht ausführlicher darauf eingegangen werden. Trotz der Kritik an der mangelhaften Repräsentativität der Ergebnisse dieser Studien bleiben Briefe eine wertvolle Quelle von Informationen über persönliche Beziehungen. Vor allem, wenn es nicht um die Untersuchung einer öffentlichen Meinung geht, sondern um private Interaktionen. Dabei stellen sich jedoch Probleme der Interpretation: Bei Briefen handelt es sich immer um eine Repräsentation der Person des Briefschreibers und nicht um einen direkten Zugang zu seinem ‚Selbst‘. Darüber hinaus fehlen dem persönlich nahen, jedoch räumlich entfernten Empfänger „the clues, ordinarily supplied by the pragmatic context of a face-to-face conversation, for evaluation of the writers’s sincerity and truthfulness“ (Cohen 1986, 117).

1.8 Ethnologie 

 133

4.1 Ethnographische Fallstudien Im Zuge der durch Jack Goody (1968) in der Ethnologie angestoßenen Diskussion über literacy werden seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermehrt auch Briefe berücksichtigt. Es geht hier vor allem um die Bedeutung schriftlicher Dokumente hinsichtlich Machtbeziehungen, Kolonialisierung und der Tradierung von Kultur. Briefe waren und werden in neueren Studien zu literacy als eine Domäne der Technik des Schreibens – als literacy events und literacy practices (vgl. Besnier 1995) – untersucht. Im Folgenden werde ich vier jeweils sehr unterschiedliche soziokulturelle Kontexte vorstellen, in denen Briefe Gegenstand der Forschung sind: (a) in religiösen Zusammenhängen in Papua-Neuguinea, (b) zwischen thailändischen Frauen und ihren nicht-thailändischen Partnern, (c) als wichtiger Teil emotionaler Beziehungen auf dem Nukulaelae-Atoll in Polynesien und (d) in Liebesbriefen in Nepal. Mervyn Meggitt (1981) forschte in den 1950er Jahren bei den Enga im Hochland des heutigen Papua-Neuguinea und schrieb über die Bedeutung von Schrift und die Praxis der Verwendung von Briefen in den früh kolonialisierten und missionierten Tieflandgebieten und dem erst später kontaktierten Hochland. Alphabetisierung begann mit der Missionierung und wurde von der lokalen Bevölkerung Neuguineas als integraler Bestandteil der Moderne mit allen Gütern und neuen Dingen, die sie mit sich brachte, gesehen. Es entstanden sogenannte millenaristische Bewegungen, deren Führer bei ihren Anhängern Hoffnungen auf die Teilhabe an den Gütern der Weißen weckten. In diesen Bewegungen spielten verschiedene Möglichkeiten der Kommunikation mit dem Übernatürlichen eine Rolle, unter anderem die rituelle Manipulation von Geschriebenem. Dazu gehören etwa Briefe, die nicht aufgrund ihres Inhalts, sondern an sich als wirkmächtig betrachtet wurden. Auch im Alltag hielten bestimmte Küsten-Gruppen Briefe für die Grundlage wirtschaftlicher Transaktionen, denen über ihren Inhalt hinaus eine eigene Macht innewohnte (vgl. Meggitt 1981, 142–143). Dem stellte Meggitt Hochland-Gesellschaften gegenüber, die später kontaktiert wurden, die seiner Lesart entsprechend nicht die Kommunikation mit dem Übernatürlichen selbst als unsicher und problematisch, sondern das Verhalten der Geister als unvorhersagbar betrachteten. Hier sei die Schrift nicht Teil von millenaristischen Bewegungen geworden, sie sei ausschließlich praktisches Werkzeug in der Auseinandersetzung mit der natürlichen und sich rasch verändernden sozialen Umwelt gewesen. Pragmatisch schickten die Enga ihre Kinder zur Schule und erwarteten, dass sie durch Können und Fleiß zu Wohlstand kämen. Diese jüngere Generation arbeitete auf den Plantagen der Weißen an der Küste und hatte, wieder in ihrem Dorf angekommen, die Aufgabe, ihren Vätern Briefe vorzulesen und diese zu beantworten.

134 

 1 Der Brief als Forschungsfeld

Meggitt untersuchte die in einem Zeitraum von sechs Wochen von einem Klan von ca. 300 Personen empfangenen (elf) und versandten (sechs) Briefe. Es seien alles prosaische, weltlich-sachliche Briefe, die Fragen stellten und Ratschläge erteilten: „Hier besteht also kein kultisches Vertrauen auf das Wort als mystisches Zeichen, kein Interesse für die rituelle Manipulation des zweideutigen, mit übernatürlichen Kräften ausgestatteten pas (Brief), wie wir es in den synkretistischen und millenaristischen Bewegungen Melanesiens feststellten.“ (Meggitt 1981, 450) Auch wenn ein substanzieller Unterschied des Verhältnisses zum Übernatürlichen zwischen Küsten- und Hochlandbevölkerungen aus heutiger Sicht so nicht haltbar ist, zeigt diese frühe Arbeit doch, welche unterschiedlichen lokalen Verwendungsweisen, Praktiken und Interpretationen die Praxis des Schreibens und Briefe haben konnten. Eamonn McKeown (2006) beschreibt literacy bei den Simbu  – ebenfalls im Hochland Papua-Neuguineas  – und bestätigt die von Meggitt beschriebene Bedeutung von Briefen für Reziprozität und soziale wirtschaftliche Beziehungen. Er erwähnt außerdem Liebesbriefe lokaler junger Männer an Mädchen, die in der Stadt zur Schule gehen, und – so die Hoffnung der Männer – später bezahlte Jobs haben werden. „[T]heir main motive being that one day she might find urban employment and receive a fortnightly income and financially support him. ‚If I can get one of those girls‘, laughed John Kua, ‚she can work and I can drink beer.‘ The essential element of such a letter is that it is written in English.“ (McKeown 2006, 370) Englischsprachige Liebesbriefe als Zeichen der Ausbildung und Teilhabe an Konsum und Moderne verfassten einzelne junge Männer für andere, die wenig Englisch konnten. Erik Cohen (1986) untersuchte Anfang der 1980er Jahre Beziehungen zwischen thailändischen Frauen und amerikanischen, australischen und europäischen Männern. Der Schwerpunkt seiner Studie lag auf dem Paradox der intimacy-at-a-distance in Briefwechseln, die nach Abreise der ausländischen Männer begannen. Diese beschrieben ihre Sehnsüchte, Einsamkeit und ihr Alltagsleben, während ihre Partnerinnen ebenfalls den Kontakt aufrechterhielten, ihre persönlichen und meist auch finanziellen Schwierigkeiten schilderten und künftige Besuche (häufig mehrerer Touristen) planten. Sogenannte scribes, die nicht nur als Übersetzer hilfreich waren, sondern teilweise auch die Inhalte gestalteten, hatten aufgrund ihrer Sprachkenntnisse, aber auch wegen ihrer Erfahrungen, für diese Briefwechsel eine zentrale Bedeutung. Cohen nutzte eine große Zahl von Briefen der scribes und thailändischer Frauen zur Analyse der Paradoxien der intimacy-at-a-distance. Auch wenn man seiner Schlussfolgerung, dass thailändische Frauen durch die gekonnte Manipulation ihrer Briefpartner diese ‚dominierten‘, nicht folgen möchte, zeigt die Studie doch, wie Briefe einen Einblick in die Mikro(und Makro-)politik zwischenmenschlicher Beziehungen geben können.

1.8 Ethnologie 

 135

Die im Folgenden dargestellten Forschungen wurden beide von Ethnolog*innen mit einem ethnolinguistischen Interesse im Kontext der anthropology of literacy und mit Schwerpunkten in der Geschlechterforschung und Ethnologie der Emotionen durchgeführt. Niko Besnier (1991, 1995) untersuchte literacy auf dem Nukulaelae-Atoll im westlichen Polynesien. Dabei konzentrierte er sich auf Briefe und das Schreiben von Predigten. Er zeigt die enge Verbindung zwischen Briefen, Emotionalität und Tauschbeziehungen: [T]his connection must be understood both as a material and symbolic phenomenon. In the ethnographic setting described here, economic transactions with the outside world are monitored and negotiated through letters, and because economic transactions are generally understood as emotion-driven social actions, letters become mediating tools between emotions and material transactions, and the site where emotionality and economic transactions are ‚translated‘ into one another. (Besnier 1995, 15–16)

Auf Nukulaelae sind Briefe ein vergleichsweise homogenes Genre: Sie werden nur an Menschen geschickt, zu denen bereits eine Beziehung besteht. Gewöhnlich werden sie von Reisenden weitergegeben und nicht nur der Adressat liest den Brief. Meist dienen sie der Ermahnung zu wirtschaftlicher Reziprozität (remittances), informieren über familiäre Ereignisse, übermitteln moralische Ermahnungen an die nächste Generation und erzählen von Gefühlen (Besnier 1991, 573– 574). Insgesamt ist das Briefeschreiben und -lesen eine hochgradig emotionale Angelegenheit, die häufig von Tränen begleitet ist. Gefühle werden in den Briefen in einer Weise ausgedrückt, wie es im persönlichen Dialog auf Nukulaelae nicht möglich wäre, da dies völlig unüblich ist. Besnier hält das Verfassen von Briefen für ein Schlüssel-Genre, das Menschen in Situationen der incipient literacy als Erstes aufgreifen und aus dem später andere Genres hervorgehen. Auch in der Studie von Laura Ahearn (2000, 2001) zur Literalität einer Gesellschaft, zu deren Entwicklung und Gender sowie zum Schreiben von Liebesbriefen in einem Dorf in Nepal spielen Emotionen eine zentrale Rolle. Ihre Analysen der Korrespondenzen sind beeinflusst von praxistheoretischen, marxistischen und feministischen Ansätzen. Die Alphabetisierung vor allem von Mädchen führte, eingebettet in soziokulturellen Wandel in vielen gesellschaftlichen Bereichen, in ihrem Forschungsgebiet zur Veränderung der Eheanbahnung, die bis dahin vorwiegend auf arrangierten Ehen basierte. Die Möglichkeit der (geheimen) Kommunikation durch Briefe ist eine der Voraussetzungen für die Veränderungen der Vorstellungen von Werbung, romantischer Liebe und Liebesheirat. An Fallbeispielen zeigt sie, wie in Briefen nicht nur Liebe, sondern auch Ärger und Wut ausgedrückt werden können, Gefühle, die im Alltag nicht geäußert worden wären. Vor allem Frauen erhielten so die Möglichkeit, ihre eigenen Wünsche und Befürchtungen zu artikulieren und eine aktive Rolle in der Partnerwahl zu spielen.

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

Romantische Liebe als Basis der Ehe wird mit dem positiv besetzten development, Erfolg im Leben und Moderne verbunden. Diese Verzahnung findet auch durch die Partnerwahl und gerade in den Liebesbriefen ihren Ausdruck. In den letzten drei Beispielen stellen Briefe eine intime Beziehung her, in der Emotionen ausgedrückt (und erzeugt) werden, die im Alltag und in direkten Beziehungen nicht benannt werden konnten. Vorstellungen von Intimität und Ausschließlichkeit der Kommunikation sind allerdings unterschiedlich: In Thailand und auf dem polynesischen Atoll wird entweder nicht oder einseitig davon ausgegangen, dass andere diese Briefe nicht lesen. Nur im Beispiel der nepalesischen Liebesbriefe ist die Beziehung zwischen Schreiber*innen ihrer Absicht nach geheim. Diese emotional aufgeladenen Briefe zeigen in ganz unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten Aushandlungsprozesse sozialer Beziehungen, wobei jeweils auch der weitere Kontext der Makropolitik durch sie hindurch lesbar wird. Die Rolle von Briefen auf der Makro-Ebene politischer Ereignisse analysierte Nils Bubandt (2009) am Beispiel fiktiver Briefe, die, ähnlich wie Gerüchte, die politischen Entwicklungen in Ost-Timor maßgeblich beeinflussten. Gefälschte Briefe, die 1999 in der Bevölkerung verteilt wurden, enthielten angebliche Aufrufe an christliche Gruppen, Moslems zu vertreiben und zu töten. Die Briefe kündigten eine Kampagne ethnischen Terrors der Christen an, die letztlich zu einer Übernahme ganz Indonesiens führen sollte: The letter, however, was a fake. It was fashioned in all likelihood by Makian members of the regional bureaucratic elite who had access to equipment like typewriters, photocopying machines, and motor bikes, and who were eager to create a common Muslim cause at a critical political juncture, when the predominantly Muslim region of North-Maluku was to be administratively separated from Maluku […]. (Bubandt 2009, 555)

Seine Analyse der gefälschten Briefe bindet er ein in die Ethnographie von Dokumenten als „artifacts of modern knowledge“ (Riles 2006) und Fragen nach politischer Mobilisierung, Empathie und Gewalt. In allen ethnographischen lokalen Studien der Mikro- und Makropolitiken sozialer Beziehungen wird deutlich, dass Briefe in unterschiedlicher Weise einen Anschluss an Moderne, Entwicklung und globale Beziehungen versprachen. Diese besondere Bedeutung kam dem Medium Brief jedoch jeweils nur in einer ganz bestimmten historischen Situation zu.

1.8 Ethnologie 

 137

5 Perspektiven Ethnologische Studien verdeutlichen, dass Briefe nicht losgelöst von ihrem historischen und soziokulturellen Kontext und der Verbreitung von literacy betrachtet werden dürfen, die lokal jeweils sehr unterschiedlich sein können. Als historische Quellen werden Briefe in der Ethnologie in der oben dargestellten Weise weiterhin wichtige Dokumente sozialer Interaktionen bleiben. Als Forschungsgegenstand rezenter Kommunikationsweisen dagegen werden sie an Bedeutung abnehmen, Forschungen zu Briefen können jedoch Studien zu neuen Medien der Kommunikation befruchten. Die immer noch umständliche und in vielen Gegenden der Welt sehr langsame, teilweise gar nicht funktionierende Kommunikation durch Briefe ist seit der Einführung der Mobiltelefonie und häufig auch durch den Zugang zum Internet vielerorts ersetzt worden. In neueren Ethnographien werden die Nutzung von SMS und Social Media untersucht (vgl. Horst und Miller 2006; Madianou und Miller 2012; Miller und Slater 2000). Die von Erik Cohen (1986) beschriebene intimacy-at-a-distance zwischen thailändischen Frauen und Männern westlicher Industriegesellschaften aus den 1980er Jahren beispielsweise ist heute mit Sicherheit durch E-Mail, Skype und Facebook komplett verändert. Und auch in PapuaNeuguinea haben SMS und Mobiltelefone mittlerweile einen höheren Stellenwert als Briefe, zum Beispiel, wenn es bei Vorwürfen und Verdacht von Hexerei darum geht, den Kontakt zum Überirdischen herzustellen (vgl. Forsyth und Eves 2015; Jorgensen 2014). Briefe haben als identitätsstiftendes Zeichen der Moderne, des Neuen ausgedient und wurden durch die sogenannte digital literacy abgelöst. Dennoch gibt es Kontinuitäten zwischen der Intimität im ‚analogen‘ und ‚digitalen Zeitalter‘. Formen des Briefs – wie Anreden und Grußformeln – können in E-Mails und SMS bestehen bleiben, verändert und integriert werden. Neue Medien dienen in manchen Fällen nur als Transportweg eines sonst eher ‚klassischen‘ Briefes etwa in einem E-Mail-Attachment. Aber auch grundlegende Fragen danach, wie Intimität auf Distanz aufrechterhalten werden kann, welche Wechselbeziehungen es mit Emotionen gibt und wie sie sich zur Repräsentation von Wirklichkeit und Wahrheit verhalten, bleiben bestehen.

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

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1.8 Ethnologie 

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

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Marlen Bidwell-Steiner

1.9 Gender Studies Auf den ersten Blick scheint es ebenso lohnend wie einfach, das Medium ‚Brief‘ auf Geschlechterimplikationen zu befragen, gilt er doch als das weibliche Genre schlechthin (vgl. Goldsmith 1989, vii; Niemeyer 1996, 440–453; Nickisch 1988, 389–409). Wie der bislang fundierteste Sammelband zum Thema zeigt, findet sich diese Zuschreibung auch in theoretischen und historischen Untersuchungen aus dem Feld der Gender Studies immer wieder (vgl. Hämmerle und Saurer 2003, 7–35). Diese Gattungsbestimmung birgt allerdings einige Tücken. Das betrifft einerseits die Definition des Untersuchungsgegenstandes. Abgesehen von seiner Bestimmung als kurze Kommunikationsform lässt sich über den ‚Brief‘ nichts überzeitlich und überregional Gültiges aussagen. Selbst wenn – wie in der Forschung weitgehend üblich – lediglich das sogenannte genus familiare in den Blick genommen wird, gibt es doch erhebliche regionale und historische Unterschiede in Bezug auf die genderrelevante Kommunikationssituation, die medialen Bedingungen sowie die Normierung und Ästhetik der Textsorte. Andererseits verstehen sich die Gender Studies als Querschnittsmaterie, weshalb sie sich einem strengen Methodenkanon oder einem verbindlichen Theorienpool verweigern. In der daraus resultierenden zweifachen Unbestimmtheit – des Untersuchungsgegenstandes wie des theoretischen Zugriffs – wird deutlich, dass die nachfolgenden Ausführungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Gleichzeitig erlaubt diese Einsicht aber, die situativ jeweils unterschiedliche Konstruktion von Geschlecht und das Spiel damit – in den Briefen unterschiedlicher Geschlechter! – als Aufgabe sowohl an die Briefforschung als auch an die Genderforschung heranzutragen. Nach einem kurzen Überblick über die genderrelevante Briefforschung werden daher entlang einzelner Fallbeispiele unter Berücksichtigung einschlägiger Analysen wiederkehrende Paradigmen in Bezug auf die Kommunikationssituation ‚Brief‘ in ihrer jeweiligen genderspezifischen Situiertheit herauspräpariert. Dies gilt vor allem der immer wieder geforderten Authentizität und Personalität der Textsorte (vgl. Anton 1995). Innerhalb der Gender Studies lassen sich zeitgebundene Forschungsschwerpunkte isolieren, die jeweils unterschiedliche Erkenntnisse über die Genderedness der Gattung Brief zutage fördern. Im Zuge der Etablierung von Frauenforschung bzw. feministischer Forschung an den Universitäten ging es in den 1970er und 1980er Jahren vor allem um Kanonkritik und um die Bedingungen sowie die Rekonstruktion verdrängter, verschollener und vergessener weiblicher Autorschaft. In Bezug auf den materialen Kanon lässt sich festhalten, dass die https://doi.org/10.1515/9783110376531-009

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

kleine Gattung Brief nur eine sehr marginale Rolle spielt. Ein Brief-Korpus kann zwar das übrige Werk eines (männlichen) Autors stützen, für sich genommen aber kaum je den Eintritt in den Kanon gewährleisten. Die mangelnde Wertschätzung des Genres korrespondiert insofern mit dem Ausschluss von Frauen aus dem Kanon, als die Produktionsbedingungen der Gattung Brief den soziokulturellen Bedingungen von Frausein entgegenkommen. In Referenz auf einen der Gründungstexte feministischer Literaturwissenschaft, Virginia Woolfs A Room of One’s Own (1929) lässt sich leicht nachvollziehen, dass Briefschreiben selbst innerhalb der historisch dominanten weiblichen Lebenserfahrung eingeschränkter räumlicher und zeitlicher Ressourcen möglich ist. Da viele Frauen mit ihren berühmten Vätern, Söhnen, Gatten sowie Lehrern und Gönnern korrespondierten, ist die Materiallage im Vergleich zu anderen Textsorten befriedigend. Doch daraus resultieren zwei Probleme, die die Briefgeschichte prägen: Erstens wird der Eigenwert weiblicher Artikulation häufig negiert und ihre Briefe nur in Bezug auf die Adressaten gewürdigt (vgl. Hahn 1988, 15). Zweitens wird die aus soziokulturellen Einschränkungen erklärbare Evidenz der Materialfülle gleichsam naturalisiert, da ‚der Frau‘ eine Affinität zum Genre des Briefs attestiert wird. Und so kann die Marginalisierung der ‚weiblichen‘ Gattung Brief als Ausschluss von Frauen gelesen werden (vgl. Becker-Cantarino 1999, 129). In der Germanistik wird für die Neigung der „Frauenzimmer“ zum Briefeschreiben meist Christian Fürchtegott Gellert als Referenz angeführt (vgl. Gellert 1742/1971). Wie noch gezeigt wird, findet sich die Idee in anderen Ländern wie etwa Italien bereits früher. Für die wenigen kanonisierten Autorinnen ergibt sich aus dieser Genrebestimmung die paradoxe Situation, dass die biographische Lesart der ‚privaten‘ Korrespondenz zu mimetischen Überblendungen von (vermeintlicher) Psychopathologie und Werk führt, wie Sigrid Weigel am Beispiel von Ingeborg Bachmann konstatiert (vgl. Weigel 1999, 18–19). Während die Korrespondenz von Männern die Bedeutung ihres sonstigen Schaffens meist erhöht, kontaminiert sie jenes von Frauen mit dem „Eintrag der Biographie in die Texte“ (Keck und Günter 2001, 209). Für die Gender Studies tut sich hier eine Aporie auf, denn die durchaus wünschenswerte Reklamation der Texte und Lebenswelten von Frauen in die Kulturgeschichte(n) kann nur allzu leicht als Affirmation einer  – biologisch fundierten  – Zweigeschlechtlichkeit missverstanden werden. Dadurch bleibt die Problematisierung des Geschlechtlichen wiederum an der Frau haften, ganz abgesehen davon, dass Gender außerhalb der heterosexuellen Matrix nicht in den Blick gerät. Im Zuge (post-)strukturalistischer Ansätze fokussieren die Gender Studies in den 1990er Jahre folgerichtig zunehmend auf den strukturellen Zusammenhang von Gender und Genre. Aufgrund wechselnder Deutungskanones, aber

1.9 Gender Studies 

 143

auch aufgrund von Rezeptionshaltungen wurden Gendersemantiken innerhalb einzelner Gattungen re- und dekonstruiert. Angeblich ‚weibliche‘ Gattungen wie der Brief (aber etwa auch Trivialliteratur) wurden auf eine „Geschlechtersegregation entlang der Gattungsgrenzen“ untersucht (Schabert 1997, 474), wobei Gattungen als ideologische Ordnungsmuster entlarvt werden (vgl. Eagleton 2000). Im Zentrum der kritischen Gattungsanalyse in Bezug auf den Brief stehen dabei Stereotype wie Emotionalität, Natürlichkeit und Empathie (vgl. Hahn 1998). So gelangte auch die geschlechterideologische Funktion des Briefs als Bildungsmedium zur „Ausformulierung des bürgerlichen Weiblichkeitsbildes“ (Niemeyer 1996, 441) in den Blick. Diese Perspektive dominiert nach wie vor die Genderforschung. Sie korreliert mit dem Befund einer Hochkonjunktur des Briefes im 18. Jahrhundert. Eine Verbindung von Gattungsfragen und Kanonkritik ergibt sich aus der prekären Textintention, die dem Brief eignet. Schon in der antiken Rhetorik wird als Stilideal des Briefs seine Nähe zum oralen Gespräch postuliert (vgl. Ueding 2016, 21–34). Wie Rüdiger Schnell zeigt, lässt sich zwischen Briefschreiberinnen, die auf ihre Adressat*innen, und solchen, die auf eine Publikation abgezielt haben, nicht immer klar unterscheiden, woraus er unterschiedliche weibliche Handlungsmacht ableitet. Er anerkennt die Aneignung der Gattung von Frauen im humanistischen Italien als Strategie, Autorschaft mit den Anforderungen an weibliche Körperpolitiken zu verbinden, spricht aber Frauen, die nicht auf Öffentlichkeit zielen, diesen Status ab. Dadurch überträgt er allerdings in der ansonsten differenzierten Analyse die Mechanismen und Gesetze männlichen Handelns unhinterfragt auf Frauen (vgl. Schnell 2011, 3–43). Als gendersensible Komplementärlektüre dazu bietet sich Birgit Wagners Befund der „Selbstautorisierung“ von Sor Maria Celeste an (Wagner 2003, 82). Die Rekonstruktion der intendierten Briefrezeption wirft aber weitere schwierige Fragen auf, nämlich jene nach dem Briefgeheimnis, nach einem legitimen Umgang mit intimen Briefen, die besonders in Bezug auf Frauen eine verletzliche Sphäre konnotieren (vgl. Weigel 1999), wobei auch Intimität als Konstrukt der Neuzeit in Anschlag zu bringen ist (vgl. Hämmerle und Saurer 2003, 23). Die Nähe des Briefs zum mündlichen Gespräch prädestiniert diesen für theoretische Annäherungen der sogenannten écriture féminine, da Oralität versus Literalität in Nachfolge der Psychoanalyse von Jacques Lacan mit dem vielstimmigen Imaginären versus symbolische Ordnung enggeführt wird. Die (weibliche) Stimme befähigt in dieser Lesart, das ‚Gesetz des Vaters‘ zu durchkreuzen. Daran knüpfen auch dekonstruktivistische Deutungen von (Frauen-)Briefen an, welche die bereits bekannten Stereotype weiblichen Schreibens als subversive Strategien und performative Maskenspiele lesbar machen (vgl. Bischoff 2000, 235–258; 2003, 249–281). Einen anderen Zugang bietet hier die Narratologie an, die in Nachfolge

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

von Susan Lanser Briefe und in Folge auch Briefromane als Verschränkungen einer Weiblichkeit konnotierenden private voice mit einer männlichen public voice auffasst, wodurch biographische Engführungen vermieden werden können (vgl. Erll und Seibel 2004, 198). Die unterschiedlichen Forschungsansätze verdeutlichen in der Zusammenschau grundlegende Probleme einer Gattungsgeschichte aus Sicht der Gender Studies: Erstens kollidiert ihr Anspruch auf Interdisziplinarität mit den auf Nationalnarrativen basierenden (Literatur-)Geschichten ebenso wie mit der Grenzziehung zwischen Briefen bekannter Persönlichkeiten, welche die Literaturwissenschaft erforscht, und anonymen Briefen, die etwa eine Mentalitätsgeschichte interessieren. Außerdem gehen Gender Studies selten systematisch hinter das 18.  Jahrhundert zurück. Damit stehen das bürgerliche Subjekt und eine Geschlechterdichotomie entlang der Sphären von weiblich/privat und männlich/öffentlich im Zentrum vieler Untersuchungen, was die konstatierte dominante Forschungsrichtung verständlich macht und gleichzeitig genderrelevante komparatistische Einblicke in Gattungsgeschichten erschwert. Insgesamt bleibt die Akzentuierung von Weiblichkeit in den Briefgeschichten der Gender Studies. In der Folge sollen Spuren für eine alternative ‚gendered epistolography‘ gelegt werden, die nicht vorrangig eine Genusgruppe fokussiert, sondern entlang einzelner historischer Stationen eine diachrone Untersuchung von wiederkehrenden Geschlechterkodierungen sichtbar macht. Dafür soll nochmals die Medialität des Genres in Bezug auf wiederkehrende Parameter wie Authentizität und Personalität resümiert werden. Zunächst gilt es festzuhalten, dass der Brief anders als andere Kommunikationsformen zu allen Zeiten über eine Verfasserposition verfügen muss und meist auch gesicherte – fiktive oder reale – Rezipient*innen benennt. Selbst wenn sich der namentliche Verfasser oder die namentliche Verfasserin als fingiert herausstellt, gelingt der Pakt mit Leser*innen nur, wenn sich dahinter ein zu entschlüsselndes Geheimnis verbirgt, mithin effektvoll die ‚authentische Signatur‘ in Szene gesetzt wird. Obwohl damit keineswegs schon geklärt ist, „wer spricht“ (Foucault 1988, 7), wird die Textsorte Brief durch diese notwendige persönliche Autorisierung stärker an ihre spezifische Zeitlichkeit und Räumlichkeit und – in diesem Zusammenhang besonders wichtig – auch an ihre Materialität gebunden. Damit kommen wir auch der Genderedness der Textsorte auf die Spur, denn allen drei Parametern sind Geschlechterkonnotationen eingeschrieben. Die Zeitgebundenheit des Briefs ergibt sich aus einer meist deutlichen Datierung und temporal fixierten referenziellen Bezugnahmen. Dieses Charakteristikum des Briefs schafft eine Art der Immanenz, auch wenn es durchaus Briefinhalte gibt, die sich mit Fragen der Metaphysik beschäftigen. Und selbst wenn

1.9 Gender Studies 

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Briefe – auch jene, die nicht zur Publikation bestimmt waren – immer ihr über den Schreibanlass hinausgehendes Weiterleben mitreflektieren, verfolgen sie in der Regel keinen Anspruch auf immer gültige Wahrheiten. Nun repräsentiert in unserer ‚westlichen‘ Kultur die Frau spätestens seit Thomas von Aquins Aristoteles-Deutung die Immanenz, während Transzendenz dem Mann vorbehalten ist. Die örtliche Gebundenheit des Mediums ist zumindest auf Seiten des/der Schreibenden mit einem geschützten Innenraum konnotiert, denn auch wenn es sich um Geschäftsbriefe, Kanzleibriefe oder Sendbriefe handelt, wird der Akt des Schreibens als ein intimer gefasst. Idealerweise findet er in der persönlichen Schreibstube statt, was häufig durch Momentaufnahmen der Gefühlslage und flüchtige Impressionen des/der Schreibenden untermauert wird. Neben dem Innenraum im ursprünglichen Sinn steckt der Brief wie kaum eine andere Gattung einen imaginären Raum zwischen der schreibenden Person und den Adressat*innen ab, indem Konventionen, Tonfall, Inhalte jeweils einen Dialog ermöglichen, einfordern oder aber stilllegen. Der geschützte Raum als Bedingung des (Brief-)Schreibens ist ebenfalls ein weiblich besetztes Motiv. Als Beglaubigungsstrategie von Authentizität und Personalität kommt der materiellen Gestalt des Briefs eine eminente Bedeutung zu. Denn bis ins Zeitalter elektronischer Kommunikation muss ein Brief zumindest handschriftlich unterfertigt werden, für Testamente gilt das übrigens noch heute. Wie etwa Horst Wenzel postuliert, eignet dem Material eine besonders sinnliche Qualität: die Spur des aktiven Körpers – die Handschrift – prägt sich metaphorisch im anderen Körper, dem Papier, ein wie beim Tätowieren von Haut (vgl. Wenzel 2005, 259–276). Der Fetischcharakter des Briefs wird durch Faltung und Siegelung untermauert, die eine sexuierte Geschlechtersemantik geradezu einladen, denn erst das Aufbrechen des Siegels und das anschließende Auffalten des Briefkörpers gibt dessen Sinn preis. Ob in blassblauer Tinte geschrieben, durch Wasserflecken (Tränen!) kontaminiert, ungewöhnliches Spatium in einzelnen Passagen oder parfümiert (vgl. dazu Wiethölter 2010, 92–133)  – sämtliche materiellen Eigenschaften des Textes sind beinahe ebenso bedeutsam wie seine sprachlichen Zeichen. Die hier arbiträr gewählten Beispiele verdeutlichen eine generelle Tendenz: Materialität bzw. Körperlichkeit steht in metaphorischer Kohärenz mit Weiblichkeit. Aus den drei spezifischen Bedingtheiten des Mediums Brief – Zeit, Raum und Materialität – wird hinlänglich evident, warum dieser inzwischen als prädestiniert „weibliches Genre“ gilt: „Vom 17. zum 18. Jahrhundert hin lässt sich somit eine Entwicklung des Mediums ‚Brief‘ feststellen, die  […] diesem im 18.  Jahrhundert seinen Platz als ein weibliches Medium im privaten, bürgerlichen Raum zuweist.“ (Furger 2010, 99) Dieser Befund hat Frankreich und vor allem Deutschland im Blick, wodurch die besondere Geschlechtskonnotation des Briefs allenfalls als nachaufkläre-

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 1 Der Brief als Forschungsfeld

risches Phänomen erscheint. Wie gezeigt wird, bildet sich allerdings schon im 16. Jahrhundert in Italien eine besondere Affinität der Frauen zum Briefeschreiben aus. Und in beiden Situationen – im Italien der Spätrenaissance und in der französischen bzw. deutschen Klassik – wird die Genderedness des Genres mit ‚Natürlichkeit‘ assoziiert, die in den genannten Zeiträumen jeweils stilbildend wird. Mit diesem Epitheton bringen sich Spontaneität, Eloquenz, ja eine gewisse Geschwätzigkeit als Gegenentwurf zu Pedanterie, Erstarrung und Normkonformität in Stellung. In diesem Zusammenhang ist signifikant, dass es in Zeiten der Hochkonjunktur der Briefliteratur um die Modellierung eines neuen Gesellschaftsideals geht, was notwendigerweise auch Geschlechterordnungen umfasst. Während in den genannten Zeiträumen erstmals genuin weibliches Schreiben thematisiert wird, konstituiert sich Authentizität in den überlieferten antiken Briefen als dezidiert männlich. Die klassische antike Briefliteratur instituiert idealtypisch einen pater familias, eine Verfasserposition, die in der Folge auch in der christlichen Tradition, etwa von Paulus als Pater seiner Kirchengemeinde, aufgegriffen wird (vgl. Lassen 1991, 127–136). Als Ausweis der Authentizität gilt in diesem Fall die Autorität. Neben dieser patriarchalen Position wird im Brief – zumindest ab dem Humanismus – aber eine komplementäre, und zwar eine egalitärere, Form von Männlichkeit ausagiert: Ein Bund ebenbürtiger Freunde lässt einander am Prozess des Denkens ebenso teilhaben wie am affektiven Überschuss des Schreibakts, der wegen seines performativen Charakters sonst lediglich im Genre des Theaters statthaft wäre. Derartige Freundschaftsbriefe transportieren häufig einen erotischen Subtext, in dem die Semantik körperlicher Affiziertheit einen beinahe ebensolchen Fetischcharakter aufweist wie in heterosexuellen Liebesbriefen (vgl. Bergeron 1999; Kodera 2017). Als Zwischenbefund sei festgehalten, dass die besondere Personengebundenheit des Briefs immer auch über die Kategorie Geschlecht konstruiert werden muss. Daraus lässt sich aber auch ableiten, dass die Geschlechtsidentität der brieflichen Persona unter bestimmten Bedingungen zum Problem, unterlaufen oder verschleiert, mithin zusätzlich kompliziert werden kann, was die folgenden Beispiele illustrieren. Faszinierende changierende Gender-Personae modellieren sich etwa im Briefwechsel von Abaelard und Héloïse. Die Briefe des sagenumwobenen Liebespaares sind Teil der Historia calamitatum, welche eine Art Autobiographie des mittelalterlichen Philosophen Peter Abaelard darstellt. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass die Korrespondenz fast zwei Dekaden nach der Liebesbeziehung, nach der folgenden – heimlichen – Eheschließung und nach der Kastration des Abaelard durch Héloïses Onkel in Gang kommt. Trotz dieser zeitlichen Distanz zu den leidenschaftlichen Verstrickungen spannt sich der postulierte epistolarische Innenraum im vorliegenden Fall zwischen einer interessanten Geschlechter-

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polarität auf, die an signifikanten Stellen jeweils entlang der Achse sex/gender umsemantisiert wird. In der Historia calamitatum schildert Abaelard relativ unverblümt, wie er seine Position als Hauslehrer ausgenutzt hatte, um Héloïse zu verführen (vgl. Haase 2002, 20–25). Diese schon aus der Beziehungskonstellation nachvollziehbare Verantwortung auf Seiten des älteren Mannes wird dann aber in den Briefen Héloïses emphatisch – auch – ihrer weiblichen Schwäche zugeschlagen (vgl. Abaelard 1989, 55–91). Astrid Breith meint zu Recht, dass Héloïse hier auf den theologischen Diskurs des Ordo naturalis rekurriere, der die intellektuelle und moralische Inferiorität des weiblichen Geschlechts festschreibt (vgl. Breith 2002, 185). Im Rückgriff auf scholastische Gemeinplätze zur weiblichen Ontologie kann Héloïse das Eingeständnis ihrer Schuld mit dem Geständnis verbinden, dass sie auch während der Jahre ihres Nonnenlebens keine Reue empfunden habe, ja vielmehr wollüstig ihre vergangene Sündhaftigkeit erinnert habe. Wiederholt begründet sie ihr Festhalten am Bund mit Abaelard, der stärker sei als der Bund mit Gott. Die Rhetorik ihres Sprechakts nutzt stilsicher Tropen aus jenem Liebesdiskurs, der sich im 12.  Jahrhundert gerade wirkmächtig etabliert (vgl. Mazo Karras 2005, 20). Da es in der Folge um die Umsemantisierung dieser körperlichen Liebe zwischen Mann und Frau in eine geistige geht, scheint Héloïses Einnahme einer dezidiert weiblichen Sprecherinnenrolle von zwingender Logik. Interessant ist allerdings, dass sie zunächst misogyne Allgemeinplätze zur Inferiorität der Frau bemüht. Diese Schwäche wird aber nicht nur durch ihre offenbar vorbildhafte Rolle als Führerin des Nonnenklosters konterkariert, sondern insbesondere auch durch ihr briefliches störrisches Festhalten an ihrem Gelübde gegenüber Abaelard, eine Standhaftigkeit, die eher mit männlicher Autorität assoziiert werden könnte. Héloïses Briefe an Abaelard weisen diesem Verantwortung für ihr weiteres Schicksal zu, und zwar gemäß dem höfischen Liebesdiskurs ebenso wie gemäß dem theologischen Seelsorgediskurs. Abaelard wird gewissermaßen zweifach als Mann angerufen. Daher wird seine – versehrte – Männlichkeit (sex) auch unmittelbar thematisiert. Kastration ist im Hochmittelalter ein vieldebattiertes Thema zwischen Ost- und Westkirche, das im Kontext des Keuschheitsgelübdes Geistlicher diskutiert wird. Während im Osten die genitale (Selbst-)Verstümmelung als Mittel der Kasteiung eine gewisse Wertschätzung erfährt, gilt sie dem römischen Ritus als abjekt (vgl. Kuefler 1996, 279–306; Mazo Karras 2005, 37–45). Vor diesem Hintergrund gerät die Männlichkeit – und damit die Autorität – Abaelards ins Wanken, wie dieser auch einräumt (vgl. Abaelard 1989, 91–115). Allerdings pariert er diesen möglichen theologischen Einwand damit, dass er ja nicht selbst Hand an sich gelegt und erst nach der Verletzung durch andere und seiner demütigen Akzeptanz dieser Strafe zu eigentlicher Frömmigkeit gefunden habe. Auf diese Weise stilisiert er sich zum reineren Mann, da er sich nunmehr

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frei vom Stachel des Fleisches dem „Drängen des Buchstabens“ widmen kann. Die polemische Referenz auf Jacques Lacan bietet sich an, obwohl sie anachronistisch ist (vgl. Lacan 1975, 15–55). Denn die rhetorische Finte, mit der in diesem Briefwechsel trotz der Evidenz des Faktischen Körperlichkeit und Natur für Weiblichkeit, Vernunft und Entscheidungskompetenz für Männlichkeit veranschlagt werden, ähnelt der Tautologie phallischer Ordnungen des französischen Psychoanalytikers. Diese Geschlechtspolarität dürfte im vorliegenden Fall allerdings der Intention des Briefwechsels geschuldet sein, denn es handelt sich hier keineswegs um Liebesbriefe oder Konsolationsbriefe. Wie etwa Stephanie Haarländer zeigt, argumentieren beide Stimmen kirchenpolitisch zugunsten einer Unterstellung des Frauenklosters unter eine männliche Führung (vgl. Haarländer 2010, 41–60). Meiner Ansicht nach dürfen wir daraus keineswegs ableiten, Héloïse anerkenne somit zeitgenössische Geschlechterhierarchien. Vielmehr dürfte ein sehr konkretes politisches und materielles Interesse mitspielen, waren Frauenorden, die über keinerlei Patronat verfügten, doch Armut, Willkür und Elend ausgesetzt. Es bleibt die zentrale Frage, ob und wie geschlechtliche Authentizität und Personalität als Kriterien in diesem mittelalterlichen Briefwechsel tatsächlich eine Rolle spielen. Als These lässt sich formulieren, dass sie unter erheblichem rhetorischem Aufwand hergestellt werden, was gerade deshalb gelingt, weil exemplarisch Geschlechterkonventionen zunächst abgerufen, in Folge aber modifiziert werden. Authentizität im engeren Sinn wird von einigen Forscher*innen für die Briefe der Héloïse freilich bestritten (vgl. Moos 1974). Diese sehen Abaelard als alleinigen Autor an. Zumindest Héloïses Existenz steht bislang außer Streit, ist ihr Wirken als Äbtissin doch ebenso belegt wie ihre herausragende Bildung. Mit der Enteignung ihrer Signatur befindet sich Héloïse in guter Gesellschaft, denn viele wichtige Frauenstimmen, die in den Literaturkanon eingegangen sind, wurden und werden häufig im Nachhinein Männern zugeschlagen, ein Phänomen, das in den Gender Studies als Mathilda-Effekt bezeichnet wird (vgl. Rossiter 2003, 191–211). Dass derartige Enteignungen häufig zu einem Zeitpunkt passieren, an dem die entsprechende Textsorte eine Aufwertung erfährt, soll in Bezug auf die Briefliteratur der Renaissance weiter diskutiert werden. Wie erwähnt handelt es sich dabei um eine Epoche, in der Frauen das Genre für sich erobern, Roger Duchêne spricht in diesem Zusammenhang von einer männlichen Gattung, die zur weiblichen Praxis wurde (vgl. Duchêne 1998, 30). Diese Geschlechtsmarkierung steht im Zusammenhang mit einer Pluralisierung gesellschaftlicher Aktionsräume, welche die vielfach konstatierte frühe Ausdifferenzierung von öffentlicher und privater Sphäre nur unzureichend fassen kann (vgl. Caloun 1992). Denn an der Konjunktur des epistolario in der Renaissance zeigt sich, dass es sich vielmehr um ein self-fashioning (Greenblatt 1980) handelt, das ohne die erfolgreiche

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Technologie des Buchdrucks weder notwendig noch möglich geworden wäre. Die sich neu formierende ‚private‘ Persona bedarf nämlich nicht mehr nur eines*r (imaginierten) Adressaten*in, sondern zusätzlich eines*r Verlegers*in, der bzw. die die Texte zwischen antiken Briefkonventionen und neuem höfischen Konversationsstil marktförmig positioniert und vielfach auch kommentiert. Als ästhetisches Ideal dieser humanistischen Briefkultur gelten zunächst Francesco Petrarcas Rerum familiarum libri, die er nach seinem Fund von Ciceros Briefen in der Kapitularbibliothek von Verona konzipierte (vgl. Shemek 2016, 13). Im Verlauf des 15. und 16. Jahrhunderts kommen dann vermehrt höfische Kompetenzen hinzu. Charakteristisch für die kunstvolle Inszenierung der neuen auktorialen Maske ist ein gewisses Gender-Crossing, das für die Figur des urbanen Cortegiano generell prägend wird: Das geistreiche schnelle Motto galanter Unterhaltung, die affektive bis affektierte Porträtierung des realen oder fingierten Gegenübers, scheinbar spontane Aperçus (sprezzatura) während des Sprechakts formen sich zum Anforderungsprofil eines postfeudalen Männlichkeitsideals, das vormals ‚weibliche‘ Qualitäten integriert, die als ‚Natürlichkeit‘ kodifiziert werden (vgl. Castiglione 1528, 1,26). Parallel dazu betreten zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Italien erstaunlich viele Frauen die literarische Arena. Deren Transgression kann sich nunmehr einerseits auf die gleichsam ‚eingeborene‘ Kompetenz des Briefeschreibens berufen, die dabei oft ostentativ herausgestellte Gelehrsamkeit legitimiert sich andererseits durch die gleichzeitig kursierenden humanistischen Traktate, die Frauenbildung – in Maßen – propagierten, etwa Juan Luis Vives’ De institutione feminae Christianae (1524). Innerhalb der Segmentierung urbaner Räume im italienischen Cinquecento erhält die Geschlechtskodierung des Genres neue gesellschaftspolitische Relevanz: Denn weibliche Bildung und Briefeschreiben beugen Langeweile und Melancholie vor, schaffen also auch eine erweiterte Kultur des Müßiggangs, in der Frauen als Verfasserinnen von lettere familiari ebenso wie als Rezipientinnen literarischer Briefwechsel den sich verändernden Geschlechterökonomien gerecht werden. Das neue Medium des gedruckten Briefs simuliert nämlich inzwischen auch Geselligkeitsrituale, die sich weder als privat noch als öffentlich bezeichnen lassen, sondern bislang genau an der Schnittstelle situiert waren: in der Unterhaltung am Marktplatz, in Fest- und Spielkulturen wie Karneval und Improvisationstheater (vgl. Ortner-Buchberger 2003, 68–80). Im Zuge der Gegenreformation stellt die Entfremdung von derartigen mittelalterlichen Lachkulturen zunehmend ein gesellschaftliches Distinktionsmerkmal dar, das vor allem Frauen trifft, die – im wörtlichen und metaphorischen Sinn – Innenräume zugewiesen bekommen und sich folgerichtig des Simulacrums Brief bedienen, wie dies etwa die Korrespondenz der Costanza Colonna veranschaulicht. Die Nichte der brillanten humanistischen Briefschreiberin Vittoria Colonna

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erlebt sich als römische Adlige im Haushalt des ungeliebten Ehemanns in Norditalien gewissermaßen im Exil, was sie wiederholt in Briefen an ihre Herkunftsfamilie artikuliert. Zwar schreibt sie diese nicht für die Drucklegung, gleichwohl dürfte sie Stilvorgaben und Konventionen des Sagbaren internalisiert haben, wie Renée Baernstein überzeugend im Vergleich der – eher förmlichen – diktierten Textstellen mit den handschriftlich hinzugefügten darlegt (vgl. Baernstein 2013, 130–168). Die veränderte Funktion des Briefs in der italienischen Renaissance manifestiert sich auch in einer blühenden Briefstellerliteratur, in der etwa eine Abkehr von der klassischen Rhetorik und ein stärker dem Gespräch angelehnter Stil gefordert wird (etwa Francesco Turchi: Le argute e facete lettere, 1575). Fassen wir neben den Sphären Öffentlichkeit und Privatheit Briefe als Manifestation eines ‚dritten Raums‘, in dem gesellige Rituale neu verhandelt und ausagiert werden, können wir auch eine sich verändernde Geschlechtereinschreibung konstatieren. Die Maske der schreibenden Frau ist auch im publizierten Briefwechsel eher introspektiv, was sich in erhöhter Emotionalität und sensiblen Selbst- und Fremdbeobachtungen offenbart. Schreibende Männer tendieren indes häufiger zur Maskerade im engeren Sinn, indem sie eine orale Spielkultur ins neue Medium, den hier in Abwandlung von Homi K. Bhabhas Konzept postulierten neu entstehenden dritten Raum, übertragen. Sie kleiden ihre Briefe in theatralische Gesten, die mit Zoten, Invektiven und Witzen die Lebendigkeit mittelalterlicher Lachkultur mimetisch hervorbringen und somit eine neue Form von Authentizität schaffen. Claudia Ortner-Buchberger analysiert sehr treffend einschlägige lettere facete: „Mit dem Zurückdrängen der Formen grotesker Komik, die ihren Ort im Karnevalsritual hatte, wurde die Funktion des Entwerfens von Gegenwelten und die Integration des im Alltag Ausgegrenzten zunehmend an den fiktionalen Text delegiert“ (Ortner-Buchberger 2003, 77). Die hier konstatierte Wiederbelebung der Scherzbriefe in der Tradition Ciceros zeichnet sich teilweise durch eine recht derbe Geschlechtermetaphorik aus. Die Funktion einer breitenwirksamen kurzweiligen Unterhaltungsliteratur erlaubt Briefschreibenden manchmal aber auch eine Art Gendertransgression. So wäre die Drucklegung der Briefliteratur Veronica Francos wohl nicht möglich gewesen, hätte der einflussreiche Intellektuelle Pietro Aretino nicht nur zuvor schon das wirkmächtigste frühneuzeitliche Corpus an Briefen verfasst (vgl. Aretino 1538), sondern in seinen Kurtisanengesprächen im verwandten epischen Kleingenre auch die Stimme von Prostituierten in Rückgriff auf den antiken Satiriker Lukian (wieder) literaturfähig gemacht (vgl. Aretino 1534 und 1536), dessen Schrift Hetairikoi Dialogoi 1494 erstmals in Florenz publiziert wurde. Eine wichtige Bedingung für die schriftstellerischen Freiheiten beider, Aretinos und Francos, ist nicht zuletzt der Standort Venedig, das vielleicht wie keine andere

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Stadt jenen von mir konstatierten dritten Raum repräsentiert, da es insgesamt zur Bühne wird, in der Innen- und Außenraum, Privat und Öffentlich, verschmelzen. Veronica Francos selbstsichere Performanz als angesehene Kurtisane Venedigs lässt sich nicht nur in ihren 1580 erschienenen Lettere familiari a diversi rekonstruieren, sondern auch in den fünf Jahre vorher publizierten Terze rime, ihren Versepisteln, die neben der weiblichen Persona einem männlichen Gegenüber Stimme verleihen. Die derart inszenierte Liebesgeschichte, in der das lyrische Ich den Namen der Verfasserin wiederholt für die eigene freie, franca, Rede als Wahrhaftigkeitsmetapher reklamiert, während das männliche Gegenüber doppelzüngig und täuschend argumentiert, wird allgemein als beeindruckendes Zeugnis weiblicher Gegenrede innerhalb der zeitgenössischen Querelle des Femmes betrachtet. Denn die Kurtisane und Kennerin der Männerwelt inszeniert sich als lebenskluge Beraterin, wodurch sie misogyne Stereotype offenlegt. Wie Margaret F. Rosenthal zeigt, knüpft sie mit diesen Episteln an Ovids Heroides an: Inhaltlich durch die auktoriale weibliche Stimme und die Liebeskonstellation, ohne aber die schicksalsergebene Opferrolle der Frau nachzubilden. Stilistisch, indem sie den elegisch-lyrischen Grundton wiederbelebt (vgl. Rosenthal 1989, 11). Veronica Franco arrogiert sich in ihrer Lebensklugheit eine männlich konnotierte Autorität und denunziert so vergeschlechtlichte Machtverhältnisse. Doch laut Meredith K. Ray führt uns die Renaissance im Genre des Briefs auch gegenläufiges Gender Crossing vor: 1548 gibt Ortensio Landi die Lettere di molte valorese donne heraus, eine Sammlung von 253  Briefen teilweise berühmter Frauen der italienischen Renaissancegesellschaft, wie zum Beispiel Isabella Sforza oder Lucrezia Gonzaga (vgl. Ray 2009, 45–80). Als erster epistolario ausschließlich weiblicher Signatur lassen sich die einzelnen Briefe keinem etablierten Genre zuordnen, allenfalls vermitteln sie eher als andere Korrespondenzen einen typisch weiblichen Erfahrungshorizont, der neben Liebes- und Eheproblemen so profane Inhalte wie Kindbettkomplikationen sowie Schönheits- und Arzneirezepturen betrifft. Die amerikanische Forscherin kommt aufgrund einer insgesamt sehr differenzierten stilistischen Analyse zum Schluss, Landi sei nicht nur der Herausgeber, sondern der eigentliche Autor der Briefkompilation. Sie argumentiert allerdings anscheinend ungewollt entlang eines zeitgenössischen Gender-Bias: Denn laut Ray versuchten die einzelnen Briefe nicht nur, der Spontaneität, Geschwätzigkeit und Natürlichkeit vermeintlich weiblichen Schreibens zu genügen; in einer Spannung dazu stünden die vielen Intertexte, meist klassische Zitate, die sich in die ‚weibliche‘ Prosa mischen. Rays Befund, dass diese Referenzen allesamt dem einschlägigen Kompendium Officina von Jean Tixier de Ravisy (kurz Ravisius oder Textor) entstammen, überzeugt. Dass sie daraus allerdings die alleinige Autorschaft Landis ableitet, ist ebenso wenig nachvollziehbar wie ihr weiteres Indiz dafür, die in der Sammlung enthal-

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tenen „[…] odd consolatory letters subvert the trope of the sentimental, feminine consolatoria by replacing emotion with a register of exaggerated erudition that verges at times on parody“ (Ray 2009, 51). Denn der Langtitel der Sammlung verspricht ausdrücklich Briefe von Frauen, die den Männern weder in Eloquenz noch in Bildung unterlegen seien. Insofern sind die ostentative Gelehrsamkeit und der unsentimentale Ton einzelner Briefe gewissermaßen Programm, in denen Frauen ‚männliche‘ Kompetenzen zur Schau stellen. Ray resümiert, dass in den lettere di molte valorose donne ein besonders raffinierter männlicher Ventriloquismus am Werk sei. Diese Argumentation ist nachvollziebar, fraglich bleibt aber, warum sich so illustre Frauen wie Lucrezia Gonzaga als fiktive Signatur für die grandiose Inszenierung eines  – aus ihrer Sicht – Emporkömmlings hätten vereinnahmen lassen sollen. Es scheint vielmehr wahrscheinlich, dass die Grundlage der Anthologie zum größten Teil tatsächlich der Feder von Frauen entstammt und nachher von Landi in seinem Sinne redigiert wurde. Die effektvolle Umcodierung der Autorschaft wäre so stärker noch als von Ray dargestellt eine tatsächliche Enteignung, die im Lichte des Verdrängungskampfes innerhalb eines florierenden literarischen Marktes zu verstehen ist. Schließlich haben historisch erstmals so viele Frauen Anteil am geschriebenen – und inzwischen gedruckten – Wort. Vielfach sind diese Briefschreiberinnen auch in der Rhetorik der Macht äußerst versiert, wie etwa der von Deanna Shemek edierte Briefwechsel der Isabella d’Este verdeutlicht (vgl. dazu Shemek 2008). Diesen stehen nicht nur wie früher Gelehrte und Geistliche gegenüber, sondern auch ein neuer Typ von Berufsschriftstellern, zeitgenössisch als polígrafi (Vielschreiber) apostrophiert, die vorrangig aus materiellen Gründen schreiben und sich daher auch unterschiedliche  – teilweise innovative  – Genres erschließen müssen. Das Phänomen männlichen Ventriloquismus’ gewinnt ab dem 17. Jahrhundert in einem neuartigen „dritten Raum“ – dem (französischen) Salon – weitere Relevanz. Katharine A. Jensen etwa zeichnet anhand der 1669 in Frankreich publizierten Lettres portugaises die Diskussionen um die Autorschaft der ‚weiblichen‘ Briefsammlung nach. Darin begegnet uns das erzählende Ich Mariane, eine portugiesische Nonne, die in fünf Briefen eine genderkonforme elegische Liebesklage anstimmt, da sie von einem Franzosen verführt und danach verlassen worden sei. Während Zeitgenoss*innen an dem Text die authentische Stimme einer Frau bewunderten, wurde im 20. Jahrhundert die Autorschaft von Guilleragues, dem Sekretär von Ludwig XIV., ‚aufgedeckt‘. Die Indizien für diesen Fund sind wie so oft höchst zweifelhaft, da sie sich auf eine Druckfreigabe aus dem Jahr 1668 für eine Anthologie unterschiedlicher Texte Guilleragues’ beschränken. In diesem Privileg erscheinen neben drei anderen Werken die portugiesischen Briefe namentlich, sie werden dann aller-

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dings getrennt ohne weitere Angabe zur Verfasserschaft publiziert. Wie in vergleichbaren Fällen stimmt das ‚Geheimnis‘ um die wahre Autorschaft angesichts der Tatsache, dass die Lettres portugaises innerhalb von fünf Jahren noch über zwanzig Auflagen erlebten, skeptisch. Warum sollte ein Autor derartige Erfolge nicht für sich verbuchen wollen? Schließlich gilt auch in der französischen Klassik weibliche Briefliteratur als stilbildend, was niemand geringerer als La Bruyère außer Zweifel stellt (vgl. La Bruyère 1820, 11). Wenn ein Mann nun effektvoll seine mimetische Kompetenz beweisen könnte, geriete das, was bei Frauen lediglich Natur ist, zur hohen Kunst. Vielleicht ist das Geheimnis aber viel unmittelbarer zu entschlüsseln: Was, wenn Guilleragues jener galante französische Verführer und damit der eigentliche Adressat der Briefe war? Hintergrund für das auch von Zeitgenoss*innen konstatierte zunehmende Interesse an empfindsamen Frauenbriefen war u.  a. auch eine größere Alphabetisierungs- und Bildungsrate von Frauen. Dafür gab es zwei konfligierende Modelle: Einerseits das Erziehungsideal der empfindsamen, aber schlichten bürgerlichen Mutter eines Jean-Jacques Rousseau; andererseits die Dame von Welt der Pariser Salons. Die Rolle von Salonières für das kulturelle und politische Gefüge des Ancien Régime ist nicht zu leugnen, und deshalb können deren schriftstellerische Ambitionen auch nicht gänzlich unterdrückt werden: „To include women’s texts as tokens is a more effective strategy for the consolidation of mail supremacy than to exclude them“ (Jensen 1988, 28). Stilbildend war in diesem Zusammenhang Marie de Rabutin-Chantal, die Marquise de Sévigné. Sie selbst schien nie eine Publikation ihrer Briefe intendiert zu haben, gleichwohl waren diese offenbar so begehrt, dass sie häufig kopiert wurden. Erst nach ihrem Tod wurden Teile ihrer Korrespondenz – gekürzt und kontaminiert – veröffentlicht und im Jahr 1737 erschienen die letzten Bände der Briefe an ihre Tochter, Françoise-Marguerite de Grignan. Die Schreiberin zeichnet sich laut zeitgenössischen Kommentaren durch Frische, Witz und Esprit aus, mithin durch ein Ideal, das der sprezzatura der italienischen Höfe nicht unähnlich ist. Während die Salonières für die education sentimentale jener im Absolutismus zunehmend unter Machtverlust leidenden Pariser Jungmänner sorgten, finden sich in den Briefen an die Tochter komplementär dazu  – auch  – die Maximen für das statusgemäße richtige Verhalten von Frauen. Dabei wird deutlich, dass die vielbesungene Natürlichkeit der Frauen – ihre Authentizität – inzwischen zu einer äußerst schwierig zu erlangenden Sozialkompetenz avancierte, die eben gerade nicht mehr im naiven emotionalen Liebesleid, sondern in koketter Distanznahme und Affektkontrolle besteht. Diese erfolgreiche Strategie, die  – für einen freilich privilegierten – Kreis von Frauen soziale und literarische Freiräume ermöglichte, wurde allerdings bald sanktioniert und ihr Konversations- und Schreibstil als preziös diffamiert, weibliche ‚Natürlichkeit‘ nicht länger deskrip-

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tiv, sondern zunehmend normativ im Sinne Rousseaus verstanden. Gleichwohl gelten in Deutschland die Briefe der Précieuses für die Ästhetik der Gattung in allerdings eklektischer Lesart weiterhin als vorbildlich (vgl. Niemeyer 1996, 446). Quer zu der Kategorie Gender dynamisiert die Kategorie Class bzw. Stand die im 18. Jahrhundert extrem erfolgreiche Gattung der Briefromane: Die politischen Spannungen zwischen dekadenter Aristokratie und dem Seelenadel des aufkommenden Bürgertums werden darin entlang der Geschlechterdichotomie durchgespielt, was die beiden konträren Beispiele, Jean-Jacques Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) und Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses (1782), illustrieren. In Laclos’ Werk richtet sich das Verlangen des höfisch-libertären Verführers auf eine empfindsame naive Schöne. Hier ist nur schlaglichtartig auf den Brief Nr. 48 von Les liaisons dangereuses zu verweisen, in dem Vicomte de Valmont den nackten Körper einer Kurtisane als Schreibunterlage für seine Mitteilung an die Marquise de Merteuil nutzt, er habe gerade einen Liebesbrief an das Objekt seiner Eroberungsgelüste, Madame de Tourvel, geschrieben. Die sinnliche Materialität des Briefs wird hier zu einem multivektorialen Kraftfeld, denn das erotische Begehren des Vicomte bedarf der ‚Einschreibung‘ in die weibliche Haut ebenso wie der libertär-intriganten Mitwisserinnenschaft der Marquise. Dieser genial inszenierten Penetrationsphantasie steht der Inhalt des Liebesbriefs gegenüber: Denn wie der zynische Schreiber selber betont, handelt es sich um abgegriffene Allgemeinplätze einschlägiger Briefsteller. Die Bedeutung von Inhalt und Form des Briefs sind in diesem Fall also ausdrücklich suspendiert, lediglich seine Funktion als Medium eines spannungsreichen sozialen Imaginären zählt (vgl. Vedder 2009, 113–124). Rousseaus Liebesbriefkonstellation ist demgegenüber eine Variation des Motivs von Abaelard und Héloïse, das er im Sinne der Aufklärung als Anklage gegen verhärtete Gesellschaftskonventionen und als Plädoyer für die Liebesheirat freier Bürger deutet. Und nun wird der Briefroman vor allem in der deutschen Epoche der Empfindsamkeit als weibliches Genre rezipiert (vgl. Becker-Cantarino 1999, 144). Neben der auf ‚authentischem‘ gefühlvollem Selbstausdruck basierenden und daher fatalen Begegnung heterosexueller Paarungen, modellieren sich dabei  – einmal mehr  – unter der emphatischen Maxime ‚Freundschaft‘ homosoziale Beziehungen bildungsbürgerlicher Intellektueller. Denn die geistigen Ergüsse, die etwa die Briefe Clemens Brentanos an Achim von Arnim prägen (vgl. Schwinn 1997), transportieren nicht minder Erotik als die Briefe an seine Ehefrau Sophie Mereau. An ihr zeigt sich denn auch die Beschränkung des weiblichen Selbstausdrucks, denn an der Seite des autonomen Künstlers wurde die vormals erfolgreiche Berufsschriftstellerin zunehmend als Frauenliteratin im ‚typischen‘ Genre des Briefromans und in ihrer Rolle als Briefe schreibende Muse wahrgenommen (vgl. Runge 2008, 229–245).

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Wie Simon Richter nachzeichnet, handelt es sich im romantischen Freundschaftsbund um einen notwendigen Freiraum innerhalb der engen Realität bürgerlicher Moralvorstellungen. Seine Beschreibung des Kreises um Johann Ludwig Gleim als Antizipation einer Gegenkultur des Camp, wie sie in heutigen QueerKontexten gelebt und theoretisiert wird, ist in diesem Zusammenhang sehr überzeugend (vgl. Richter 1996, 111–124). Tatsächlich ermöglicht das relativ freie Genre des Briefs, das wie kein anderes Emotion und Vertrautheit erlaubt, die Artikulation gesellschaftlich sanktionierter Begehrensstile und die Suspendierung des sogenannten guten Geschmacks. In diesem Sinne kann es eine neue Ästhetik transportieren, die sich bewusst als Gegenentwurf zu Meisterdiskursen und erhabenem Stil positioniert, wie dies an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der Moderne der Fall war. Als weiterer Ahnherr des Camp ist Oscar Wilde in die Literaturgeschichte eingegangen. Tatsächlich sind viele seiner Briefe Teil einer schillernden Selbstinszenierung, in der er die bislang herausgearbeiteten Gendermarker des Genres kongenial zusammenführt: Neben leidenschaftlichen und gefühlvollen Passagen stehen Ironie und Boshaftigkeit, wie sie etwa die lettere facete charakterisieren. Doch an Wilde lässt sich auch die Kehrseite dieser Selbstinszenierung aufzeigen: Nachdem der Vater seines Geliebten Lord Alfred Douglas seine Homosexualität öffentlich angeprangert hatte, kam es zu einem Prozess und zur Verurteilung zu zwei Jahren Zwangsarbeit im Gefängnis von Reading. Dort schrieb Wilde den über hundert Seiten langen Brief De Profundis, der erst posthum (1905) veröffentlicht wurde und angeblich an Lord Douglas gerichtet war. Dieser Brief reflektiert den eigenen Niedergang und steht in seltsamem Kontrast zum Hedonismus der frühen Jahre. Deshalb rätseln Forscher*innen bis heute über die Authentizität dieses Textes: Handelt es sich bei diesen Bekenntnissen um wirkliche Pönitenz oder um eine Gefälligkeit dem Geliebten gegenüber? (vgl. Wilde 2000; Doylen 1999, 547–566). Doch nicht nur aufgrund des Potentials zu Camp oder zum Testimonial kommt der Textsorte Brief eine prominente Stellung innerhalb der Queer Studies zu. Constance Jones, die Kompilatorin einer Anthologie von Briefen homosexueller Autor*innen, spricht von einem „especially fertile medium for gay and lesbian relationships“ (Jones 1997, 7). Briefe sind etwa wichtige Medien des Coming Out, was viele „How to …“-Plattformen, also eine Art neue Briefsteller-Literatur, im Netz dokumentieren (für LGBT-Outing-Briefvorlagen im deutschsprachigen Raum vgl. https://forum.boypoint.de/coming-out-f8/mein-outing-brief-an-meineeltern-t8632.html; https://www.trans-ident.de/trans-ident-beratungsstelle/ outing-am-arbeitsplatz-brief-an-die-arbeitskollegen). Diese nutzen die wohletablierte Genrekonvention von Authentizität und Emphase auf Natürlichkeit, wenn etwa das wahre Empfinden, das Einstehen für ‚inhärentes‘ sexuelles Begehren,

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als Argumente für die Akzeptanz des Andersseins werben. Somit schließt dieser Parcours durch die Geschichte der Genderedness des Genres mit Briefen, die keine Publikation intendieren, gleichwohl aber demonstrieren, dass Authentizität und Personalität keineswegs Privatheit meinen.

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2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Veit Didczuneit

2.1 Postgeschichte 1 Begriffsdefinition und Begriffsgeschichte Die Post ist eine private oder staatliche Kommunikationseinrichtung, die auf die Beschleunigung des Nachrichten- und Warentransports sowie des Reisens durch rationale Organisation des Raumes mittels gleichmäßiger Raumportionierung (vgl. Behringer 2003, 21) und technischer Vervollkommnung (vgl. Wagenbrenner 1926, 4) abzielt. Sie unterhält ein Logistiknetz, das öffentlich zugänglich ist und den regelmäßigen Verkehr über große Distanzen planbar sicherstellt. Zur arbeitsteiligen Organisation gehören die kundenfreundliche Annahme und Zustellung, das effektive Sortieren und Leiten sowie der sichere und schnelle Transport der gegen Gebühr angebotenen genormten Kommunikationsformate. Der Postbegriff verweist auf die Infrastruktur des Übertragungsmediums, das aus vielen Etappenstationen besteht. Zum Begriff Post gehört seine geschichtliche Entwicklung und Bedeutungsvielfalt. Die Post entstand mit dem Bedürfnis nach vermehrter schneller Briefkommunikation und bedurfte herrschaftlicher Macht und großer finanzieller Unterstützung. Zu den Vorläufereinrichtungen der Post zählen die altpersischen Reiterstafetten des Herrschers Kyros II. (559–530 v. Chr.), der cursus publicus, die staatliche Infrastruktur zur Nachrichtenübermittlung im Römischen Kaiserreich, sowie das arabische Nachrichtenwesen im Reich der Kalifen. Die große Schnelligkeit dieser Kommunikationssysteme resultierte aus dem im Relaissystem angewandten Pferde- und Reiterwechsel. Der Postbegriff findet sich erstmals bei Marco Polo in seiner in französischer Sprache überlieferten Reisebeschreibung aus der Zeit um 1300 (vgl. Rübsam 1900, 33). Polo berichtet vom berittenen Kurierwesen der chinesischen Herrscher, von der Pferdepost (poeste de chevaus). In Italien wurden die Pferdewechselstellen, lat. positae stationes equorum, an denen Reisende Mietpferde mit Knechten als Führer erhalten konnten, als ‚posta‘ bezeichnet. Aus dem lat. posita, d.  h. festgesetzter Aufenthaltsort, über das ital. pos(i)ta leitet sich das frühneuhochdeutsche Wort Post ab. Im deutschen Sprachgebiet hießen diese Stationen Posten. Reiste man auf diese Weise, also mit gemieteten Pferden, so postierte man (vgl. Ohmann 1909, 11, 51) Als sich einige Fürsten in Europa des regelmäßigen Pferdewechsels in ihrem Nachrichtenwesen bedienten, erweiterte der Begriff Post seine Bedeutung und charakterisierte nun auch den gesamten Stafettendienst des Herrschers (vgl. Kownatzki 1923, 379). Das Herzogtum Mailand gilt als eigentliche Heimat der modernen staatlichen Stafettenpost. Mit der dauerhaften Etablierung der unter Maximihttps://doi.org/10.1515/9783110376531-010

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

lian I. 1490 errichteten Habsburger Reichsnachrichtenanstalt im 16. Jahrhundert bürgerte sich die Bezeichnung Post für alle weiteren staatlichen Institutionen zur Briefbeförderung ein (vgl. Kießkalt 1935, 223; Beyrer 2008, 177). Gleichzeitig verbreitete sich die Verwendung des Wortes als Begriff für die Sendung und als Entfernungs- und Zeitmaß für die Überwindung des Raumes von Postort zu Postort (vgl. Behringer 2003, 125–126).

2 Die Entstehung der Reichspost Der 1486 zum König gewählte Maximilian I. benötigte für sein vergrößertes Herrschaftsgebiet ein effektives Nachrichteninstitut. Zum Umbau der königlichen Botenanstalt traten 1490  Mitglieder der Adelsfamilie Taxis in den Dienst der Habsburger (vgl. Kellenbenz 1987, 289). Die Taxis hatten sich in Italien und im Vatikan einen Namen als Postmeister und Eilkuriere gemacht. Die Familie baute in Mittel- und Westeuropa ein völlig neues Kommunikationsnetz auf. Sie errichtete zunehmend vernetzte „dynastische Stafettenketten“ (Ohmann 1909, 102) mit Stationen, an denen Reiter und Pferde gewechselt, die Briefe aber weitergegeben wurden. Auf diese Weise entstand ein professionelles Transportsystem für Briefe und Nachrichten, für Menschen und Waren sowie für den Geldverkehr, das Entfernungen erstmals regelmäßig und schnell überwand und schon seit Anfang des 16. Jahrhunderts nicht mehr nur herrschaftliche Post beförderte, sondern gegen Entgelt für die Öffentlichkeit zugänglich war. Das neue universale Kommunikationssystem mit all seinen Folgeinnovationen, das „die Welt in manchen Sachen fast in einen anderen Model gegossen hat“ (Johann Jacob Moser, 1742/1752, zit. n. Behringer 2003, 19) und das Wolfgang Behringer in Anlehnung an McLuhan aufgrund seiner Bedeutung Taxis-Galaxis nennt (vgl. Behringer 2002, 426; Behringer 2005, 43), stellt den Beginn des europäischen Postwesens dar. Die erste Postlinie der Taxis wurde 1490 als transkontinentale Postverbindung zwischen den alten Habsburger Landen in Tirol und den neuen Gebieten in den Niederlanden angelegt. Sie führte von Innsbruck nach Mechelen bei Brüssel. Die 1505 und 1516 von den spanischen Königen mit den Taxis geschlossenen Postverträge erweiterten die Machtbefugnisse der Postmeister und regelten den Aufbau und Betrieb weiterer Poststrecken im Staatsinteresse. Durch die Verträge wurde Franz von Taxis bereits seit Anfang des 17. Jahrhunderts als Erfinder der Post bezeichnet  – ein frühkapitalistischer selbständiger Unternehmer, der mit einem Staat einen gleichberechtigten Vertrag geschlossen hat (vgl. Behringer 1990, 13–14, 34–35). Die Einnahmen des Postgeschäfts setzten sich zusammen aus den pauschalen Staatssubventionen für die kostenlose Beförderung der Herr-

2.1 Postgeschichte 

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schaftspost, der Gebühr für den Verleih der Postpferde an Reisende und dem Beförderungsentgelt für Privatbriefe. Die Teilung des Habsburger Reiches 1555, die spanischen Staatsbankrotte seit 1565 und der 1567 begonnene blutige Aufstand in den Niederlanden gegen Spanien führten in den 1560/1570er Jahren zu erheblichem Geldmangel bei der spanisch-niederländischen Taxis-Post und verursachten eine tiefe Postkrise. Zunehmend stockte die Briefbeförderung aufgrund ausstehender Geldzahlungen an die untergebenen Posthalter. Das organisierte Botenwesen erhielt auf den Taxis-Postrouten wieder mehr Aufträge und nahm Aufschwung. Die Gefahr für die Post im Reich ließ den Kaiser einschreiten. Im Ergebnis der 1578 begonnenen Postreformation, die die Postfinanzen wieder ordnete, verbot Kaiser Rudolf II. als Oberhaupt des Reiches 1597 das Botenwesen, insofern es in Konkurrenz zur Post auftrat (vgl. Dallmeier 1977b, 58–59). Das Postregal räumte dem Kaiser das alleinige Recht ein, eine Post zu betreiben: die Reichspost. Im Kampf der Post mit den Botenanstalten im Reich verloren die Boten im Verhältnis zur Erweiterung des Postkursnetzes immer mehr an Boden. Ihre Existenzberechtigung für die Post hatten die verschiedenen Boteninstitutionen jedoch noch bis ins 19. Jahrhundert abseits der internationalen Postrouten als nachgeordnete Brief-Sammler und -Zusteller in der Fläche. Der entscheidende Anstoß zum beträchtlichen Ausbau des Postwesens im 17. Jahrhundert geschah im Jahr 1615. Kaiser Matthias verlieh dem Reichsgeneralpostmeister Lamoral von Taxis das Postwesen als erbliches Reichslehen. Neue Postkurse mussten dafür auf Kosten der Taxis eingerichtet werden. Die Post des Kaisers und anderer hoher Reichsinstitutionen war künftig kostenfrei zu befördern. Da nun jedoch private Investitionen gesichert waren, erfolgte insbesondere nach dem Westfälischen Frieden und vor dem Hintergrund eines gestiegenen nationalen und internationalen Kommunikationsbedarfes der rasche Ausbau der Poststrukturen. Die ursprüngliche Taxis-Linienpost entwickelte sich zum TaxisPostnetz, zum flächendeckenden und gewinnbringenden Kommunikationsinstitut (vgl. Behringer 1990, 74).

3 Die fortgeschrittenste Kommunikationstechnik Für die Taxis-Post sprachen im Vergleich zum Boten- und Kurierwesen die schnellere und bedarfsunabhängige Beförderung, die geringeren Kosten, die Zuverlässigkeit und Planbarkeit der Nachrichtenübermittlung, darunter die größere Transportsicherheit, da das Postpersonal unter kaiserlichem Schutz stand. Am Beginn der systematischen Organisation der Postrouten kam auf den ersten Stre-

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

cken auch die abschnittsweise Kombination von Postnutzung und Kurierbeauftragung vor. Anfänglich übertrafen Spitzenleistungen einzelner Boten und Kuriere die Postgeschwindigkeit aufgrund besonderer Raumkenntnisse und langjähriger Erfahrung (vgl. Lutter 2003, 207–208). Auch konnten bei Bedarf eingerichtete Eilbotenstafetten die Nachricht ebenso schnell wie die Post überbringen. Für die Post und gegen die Boten sprach die Verweildauer der Boten vor Ort, die nicht zum Geschwindigkeitskonzept des Postdienstes passte (vgl. Hübner 2012, 196). Besonders abseits der Postlinien behielten für den besonderen Einzelfall gutberittene Kuriere noch jahrhundertelang ihren Wert (vgl. Schäffer 1985, 102). Im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts setzte sich die Taxis-Post als die günstigste Beförderungsart mit festen Tarifen nach Entfernung und Gewicht durch (vgl. Behringer 1990, 53–54). Die Post setzte beim Beförderungstempo neue Maßstäbe durch die neuartige Transportorganisation, durch die regelmäßige Anwendung des Pferdewechsels als „Betriebsmittelvorrecht“ (Schwarz 1931, 9) und die Tag- und Nachtbeförderung als wesentlicher Verbesserung (vgl. Gerteis 1989, 30). Die Nachtbeförderung erforderte größte Streckenkenntnis, die durch regelmäßigen Verkehr auf einer Route bei Mensch und Tier entstand. Für die 880 km lange kaiserliche Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Brüssel und Innsbruck galt laut Postvertrag von 1505 im Sommer eine Beförderungszeit von 5½ Tagen. Postverträge schrieben postalische Normgeschwindigkeiten für die Winter- und Sommerperiode zwischen 6 und 7,5 km pro Stunde vor. Erhalten gebliebene Poststundenzettel, auf denen die Abgangs- und Ankunftszeiten auf den Stationen mit Pferdewechsel eingetragen sind, belegen diese Geschwindigkeiten. Der Aufbau des immer dichter werdenden postalischen Stafettensystems verkürzte auf den Langstrecken die Beförderungszeit der Briefe auf etwa die Hälfte, teilweise sogar auf ein Drittel (vgl. Mummenhoff 1911, 9). Bei guten Witterungsverhältnissen sowie Landschafts- und Wegbeschaffenheiten erreichten die nach und nach gegründeten europäischen Postanstalten eine durchschnittliche 24-Stundenleistung zwischen 120 und 180 km, also zwischen 5 und 7,5 km/h. Diese Schnelligkeit bestimmte die Briefbeförderung in Europa bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts (vgl. Sombart 1916, 392–393). Bei Unwettern, Seuchen, Aufständen und Kriegen, durch marodierende Söldner, Diebe und Räuber gab es allerdings auch erhebliche Verzögerungen und Ausfälle. Ohne diese Beeinträchtigungen benötigte der Nachrichtenverkehr zwischen Oberdeutschland und Flandern eine Woche. Anfang des 17. Jahrhunderts war die regelmäßig nach Fahrplan verkehrende Ordinari-Reitpost zwischen Brüssel und Venedig verlässlich 10 Tage unterwegs. In Ergänzung gab es die Extraordinari-Post, die bei Bedarf zur Beförderung außerhalb des Fahrplans gegen höhere Bezahlung geordert werden konnte. In den Jahren 1608 bis 1610 fiel auf

2.1 Postgeschichte 

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der Poststrecke Venedig – Augsburg – Antwerpen keine einzige wöchentliche Post aus (vgl. Behringer 1990, 79–80). Die Post wurde in der Frühen Neuzeit zu einer Geschwindigkeitsnorm, die die europäische Wahrnehmung von Raum und Zeit veränderte. Als Maßeinheit stand die Bezeichnung Post für zwei deutsche Meilen (ca. 15 Kilometer) als Abstand zwischen zwei Poststationen, für zwei Stunden als Beförderungszeit von Poststation zu Poststation (vgl. Behringer 2003, 125–126). Die vorgeschriebene Distanz der Poststationen lag im Jahr 1628 bei zwei Meilen. Der Strecken- und Netzausbau der Reichspost basierte auf einem Franchise-System als Strukturprinzip (vgl. Behringer 2003, 72–73). Die Taxis-Postmeister arbeiteten mit privaten Subunternehmern, den Posthaltern, meist Gastwirte mit Beherbergungserfahrung, zusammen. Diese bekamen eine Garantiesumme für die erforderlichen Postritte ihrer Knechte. Postillion etablierte sich als Berufsbezeichnung für die Postreiter und später für die Gespannführer der Postfuhrwerke. Die Taxis-Postillione führten die deutschen Reichsfarben, gelb und schwarz, mit dem kaiserlichen Reichsschild (Adler) sowie dem kleinen Posthorn mit zwei dicken Quasten auf dem Arm. Seit den Anfangsjahren der Post gehörten das Führen und Blasen des Posthorns zu den verliehenen Vorrechten der Postillione. Das Posthornsignal machte den Weg frei für die Post, öffnete Schlagbäume und Stadttore. Das Posthorn wurde zum allgemeinen Symbol der Post (vgl. Meidinger 1848, 854; Dallmeier 1990b, 201). Seit Mitte/Ende der 1530er Jahre verkehrte die Ordinari-Reitpost auf dem Hauptpostkurs von Brüssel über Augsburg nach Italien im wöchentlichen Rhythmus. Der reine Privatbrief stellte nur einen sehr geringen Anteil am Briefaufkommen dar. Kaufmanns- und Gelehrtenpost sowie amtliche und politische Schreiben bestimmten den Briefinhalt des 16. Jahrhunderts (vgl. Körber 1997, 251). Zu den ersten Privatkunden der Taxis-Postanstalt zählten die finanzstarken Augsburger Handelshäuser von Jakob Fugger und Anton Welser. Seit 1513 befand sich in der Stadt ein Postamt. Um 1600 hielt die Taxis-Post in Mitteleuropa Einzug in den großen Handelsstädten. Die Reichsstadt Augsburg war bis in die 1620er Jahre hinein Mittelpunkt des deutschen Postnetzes. Hier trafen sich die wichtigsten Nord-Süd- und West-Ost-Verbindungen. Neueste Nachrichten waren wichtig für den Geschäftserfolg der Kaufleute im Zeichen des wirtschaftlichen Aufschwungs. Sie sammelten Nachrichten und verbreiteten diese in ihren Briefen an Geschäftspartner. Die Kaufmannschaft hatte so einen erheblichen Anteil an der Entstehung des neuzeitlichen Zeitungswesens (vgl. Behringer 1996, 244). Die in den Briefen der Kaufleute mitgeteilten Neuigkeiten, erst gelegentlich, dann ständige Rubrik der Korrespondenz, wurden Zeitung genannt. Aus der Briefbeilage auf einem gesonderten Blatt entwickelte sich die Versendung eigener geschriebener Zeitungsbriefe. Die periodisch handgeschriebene Zeitung, die Ordinari-Zeitung, folgte. Die sogenannten Fugger-Zeitungen, auch von Post-

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

meistern verfasste Zeitungsbriefe aus der Zeit von 1568 bis 1605, stellen die größte Nachrichtensammlung des 16. Jahrhunderts dar. Die Zunahme der Regelmäßigkeit und der Geschwindigkeit des Postverkehrs steigerte die Aktualität der Nachrichten und förderte die Entstehung einer gedruckten periodischen Presse um 1600, darunter Anfang des 17.  Jahrhundert auch von der Post hergestellte und vertriebene Zeitungen (vgl. Werner 1975, 4 u. 35; Dallmeier 1994, 36; Behringer 2003, 305–306). Angaben über die Größe des postalischen Briefaufkommens sind bis Mitte des 19. Jahrhunderts selten. Der recht langsame Gelegenheitsbotendienst, der fast ausschließlich auf persönlichen Kontakten beruhte, stellte im 16. Jahrhundert die häufigste Art der Briefbeförderung dar (vgl. Körber 1997, 246). Der Umfang der postalisch beförderten und für die Taxis-Post finanziell lukrativen Fernbriefe schwankte. Beim Postmeister von Antwerpen, damals die größte Handelsstadt Europas mit der ersten Weltbörse, lagerten 1566 für die sonntägliche Sendung in Richtung Italien gewöhnlich 1.800 Unzen, die Unze zu 30 g gerechnet, also 54  kg Briefe. Hochrechnungen nennen fast 200.000  Briefe als Größenordnung für die Antwerpener Post in Richtung Italien im Jahr 1566 (vgl. Kießkalt 1935, 25). Der Fund einer vollständigen Serie von Briefbegleitpapieren aus den Jahren 1608, 1609 und 1610 ist Quelle für das errechnete jährliche Briefaufkommen der Taxis-Post in Höhe von 140.000 Briefen von Venedig in Richtung Norden. Es gab sowohl frankierte Briefe, die vollständig vom Absender bezahlt waren, als auch unfrankierte Briefe, für die der Empfänger das Porto zu zahlen hatte. Grundlage für die Berechnung waren das in Unzen aufgezeichnete Gewicht der Briefe und die Annahme, ein Brief wiege eine Viertel Unze, also 7,5 Gramm (vgl. Behringer 1990, 81). Briefe aus dickerem Papier im damals üblichen Kanzlei- oder Doppelfolio-Papiermaß von 33 x 42 cm wiegen allerdings eine halbe Unze, also ein Lot oder ca. 15 Gramm. Im privaten Briefverkehr gebrauchte man kleinere Papierformate. Vielfach wurde Briefpapier individuell beschnitten und verkleinert, um das Gewicht zu verringern, Papier und Gebühren zu sparen. Die Kosten für die Beförderung einer Unze Briefe, also von zwei oder vier Briefen, von Venedig nach Antwerpen betrugen 1619 21 Soldi, etwas mehr als eine Lira oder 252 Pfennige, damals der Preis für etwa zwei Kilogramm Butter (vgl. Rübsam 1906, 17; Behringer 1990, 79). Je nach Größe des Briefumfangs und der Anzahl der Mitreisenden bestand die wöchentliche Ordinari-Post auch aus mehreren Postpferden und wetterfesten Brieftransporttaschen, den Felleisen. Felleisen oder Valleis leitet sich von italienisch valiglia oder französisch valise (Koffer) ab. Im Felleisen, bestehend aus Leder und einer Klappe mit Metallkonstruktion für den sicheren Verschluss, waren die Briefe bereits nach Abgangs- und Verteilpostämtern sortiert und gebündelt. Für die Taxis-Post war die geringe innerterritoriale Gesamtmenge der zu befördern-

2.1 Postgeschichte 

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den Briefe im 17. Jahrhundert wenig lukrativ. In den 1660er Jahren fielen auf der Strecke Regensburg – München teilweise Posten aus, da es keinen Brief zu befördern gab. Dagegen führte das Geschäft mit den Fernbriefen zu sehr guten Erträgen (vgl. Behringer 1990, 106–107).

4 Die Konkurrenz der Landesposten Im 17. Jahrhundert vergrößerte sich das Postangebot in Deutschland weiter. Die Reichspost bekam starke Konkurrenz. Im Gefolge des Westfälischen Friedens schufen die mächtigen protestantischen Reichsfürsten im Nordosten des Reiches eigene, vom Kaiser und Reich unabhängige Landesposten zur Stärkung ihrer staatlichen Verwaltung. Die geschwächte Zentralgewalt erkannte die umstrittene Rechtmäßigkeit der Landesposten an (vgl. Dallmeier 1989, 85; Dallmeier 1990a, 24). Die Verständigung durch Verträge auf Postinteressengebiete nach geographischen Gesichtspunkten förderte die Entwicklung der postalischen Versorgung der Bevölkerung. Bei den mittel- und unmittelbaren postalischen Staatsbetrieben der Länder, die mehr staatswirtschaftlichen als gewinnorientierten Zwecken dienten, fand das Posthalter-Franchise-System der privat organisierten Taxis-Post keine Anwendung (vgl. Schwarz 1931, 73; Behringer 2003, 73). Zum landesherrlichen Postregal gesellte sich, wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Einrichtung der fahrenden Posten, der Postzwang, ausschließlich die Post für den Briefverkehr zu nutzen. Die Preußische Postordnung von 1712 enthält bereits den Postzwang, um alle Teile des Landes möglichst gleichmäßig zu entwickeln. Unwirtschaftliche Einrichtungen der Post wurden durch die Posteinnahmen aus dem Zwangsverkehr in einträglicheren Landesteilen mitgetragen (vgl. Stephan 1859, 379; Schwarz 1935, 8–9). Der 1646 vom Großen Kurfürsten auf der Strecke von Königsberg/Pr. nach Kleve am Niederrhein errichtete Postkurs bildete den Ausgangspunkt der 1649 gegründeten brandenburgisch-preußischen Staatspost. Die Briefe, immer noch vornehmlich Herrschafts-, Diplomaten- und Geschäftsschreiben, benötigten auf dieser Postlinie 10 Tage. Im 18. Jahrhundert wurde das Postnetz immer dichter und umfasste nun auch alle größeren Marktorte. Die Posthäuser waren die Schaltzentralen und Knotenpunkte im System der Postannahme, des Transportes und der Postzustellung. Um 1800 existierten in Sachsen Postverbindungen nach allen Hauptplätzen Europas. Die Reichspost hatte die Anzahl ihrer Poststationen von zirka 100 im Jahr 1625 auf etwa 900 erhöht. Die preußische Post besaß beim Tod Friedrichs II. im Jahr 1786 760 Stationen, davon 246 Postämter und vier Oberpost-

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

ämter. Die deutschen Postanstalten waren mit ihrem Dienstleistungsangebot im Zeitalter des Merkantilismus zu einem einträglichen Geschäft avanciert. Heinrich Stephan stellte 1859 fest, „daß in Absicht auf den Reinertrag der Posten das Briefpostwesen den Hauptfactor ausmacht“ (Stephan 1859, 669). Die Beförderung von Personen und Waren durch die Post war dagegen defizitär oder sehr viel weniger Gewinn einbringend.

5 Die Zeit der reitenden und fahrenden Posten Zusätzlich zu den Reitposten für Briefe und zur Personenbeförderung richteten die verschiedenen Postverwaltungen nach und nach regelmäßige Fahrpostkurse ein, die Passagiere, Pakete und Geldsendungen beförderten. Bei den norddeutschen Staatsposten war im 18. Jahrhundert die fahrende Post auch für Briefe das gewöhnliche Beförderungsmittel. Auf langen Kursen gab es zwischengeschaltete Reitposten zur schnellen Ergänzung. In Süddeutschland stellten dagegen die Reitposten das gewöhnliche Briefbeförderungsmittel dar. Auf verkehrsreichen Strecken nutzte die Thurn-und-Taxis-Post – seit 1650 durfte sich mit Erlaubnis des Kaisers die Familie Thurn und Taxis nennen als Ausweis hochadeliger Abstammung – auch kleine Kariolwagen für den Brieftransport (vgl. Schwarz 1935, 12–13). Die Post hatte die Brief- und Nachrichtenübermittlung, den Transport von Personen, Waren und Wertsachen in der Frühen Neuzeit auf eine völlig neue Grundlage gestellt. Sie löste damit vielfältige Verkehrsfolgeinnovationen aus. Neue Reisehilfsmittel wie Fahrkarte, Fahrplan und Postkurskarte waren Ausdruck der Verlässlichkeit des Reisens in der Postkutschenzeit (vgl. Behringer 2003, 437, 487). Der weitere Ausbau des Postwesens erhöhte rasch die Häufigkeit der Verbindungen. Posttage waren in den größeren Orten Ende des 17. bereits ein- bis zweimal und Mitte des 18.  Jahrhunderts schon drei- bis viermal wöchentlich. Ende des 18. Jahrhunderts kam die Post dann täglich. Um 1800 brauchte ein Brief im Durchschnitt von Hamburg nach Amsterdam vier, nach Wien acht und nach Venedig zwölf Tage, von Frankfurt am Main nach Berlin neun Tage. Die Post mit ihrem geregelten und ausgedehnten Angebot bediente und förderte zugleich das gestiegene Kommunikationsbedürfnis der Gesellschaft. Der Brief hatte auf dem Weg zur bürgerlichen Gesellschaft eine neue Bedeutung erlangt. Die Korrespondenz erreichte im ‚Jahrhundert des Briefes‘ nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ einen Höhepunkt. Das postalische Briefaufkommen um 1800 könnte jährlich bei ca. 10 Millionen Sendungen als geschätzte Größenordnung gelegen haben, wobei die Gelegenheitsbeförderung jenseits der Postanstalten nicht nur in Deutschland noch sehr verbreitet war.

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Briefe zu schreiben und zu empfangen war bis ins 19. Jahrhundert eine teure Angelegenheit gebildeter und wohlsituierter Leute. Gutes Papier, Federn und Tinte sowie Verschlussmaterialien kosteten nicht wenig Geld. Nur wenige Privatleute besaßen als persönliche Vergünstigung die Portofreiheit für eingehende und abgehende Post. Insgesamt stellte der große Umfang der Portobefreiung für Herrscher und Beamte eine erhebliche finanzielle Belastung für die Postanstalten dar. Um 1760 betrug die Gebühr für einen Brief von Frankfurt am Main nach Berlin 6 Groschen. Dies entsprach dem Wochenlohn einer Köchin oder dem Tagesverdienst eines Zimmermanns. 1819 kostete die Beförderungsgebühr für einen Brief von Weimar nach Wiesbaden mehr als Goethe für ein Suppenhuhn ausgeben musste (vgl. Nickisch 1991, 217; Schöne 2015, 415). Die entfernungs- und gewichtsabhängigen Portosätze blieben in Europa vom Beginn der Posten, mit einer erkennbaren Steigerung im 18., bis ins 19. Jahrhundert relativ stabil (vgl. Sombart 1916, 393). Bei den meisten deutschen Postverwaltungen wurde das durchschnittliche Gewicht eines Folio-Doppelbogens, rund 15 Gramm, zum Einheitsgewicht des Briefes in der Kostenbestimmung (vgl. Schwarz 1935, 17–18). Die Gebührenberechnung war aufgrund der vielen Entfernungszonen und Gewichtsstufen zeitaufwendig und kompliziert. Taxierungsirrtümer traten auf. Die Beförderungspreise wurden im 17. und 18. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Kleinstaaterei oft auch abhängig von den besonderen Kosten der Einzeltransportleistung mit Berücksichtigung örtlicher und politischer Eigentümlichkeiten ermittelt. Die Bezahlung der Briefbeförderung konnte durch den Absender, durch den Empfänger oder auch anteilig erfolgen. Der vollständig vom Absender bezahlte und mit dem postalischen Beförderungsvermerk ‚franco‘ versehene Brief war ein Vertrauensbeweis gegenüber der Transportinstitution. Der unfrankierte Brief soll mit größerer Sicherheit angekommen sein. Die Post haftete nicht für den Verlust des Briefes, der durchaus noch öfter vorkam. Im 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten die Portobriefe, die vom Empfänger zu bezahlen waren, die Regel dar (vgl. Kießkalt 1935, 271–272; Helbig 2010, 20–22). Ein Recht zur Annahmeverweigerung gestand die Post im Allgemeinen dem Empfänger nicht zu. Im Verweigerungsfalle durften die Postämter andere Sendungen als Pfand zurückhalten. Unanbringliche Sendungen wurden nach einer Zeit von der Post vernichtet. Waren mehrere Postanstalten an der Beförderung beteiligt, wurde die Gebühr anteilig erhoben und zwischen den Posten verrechnet. Eine Vorausberechnung der Beförderungsgebühr über mehrere Strecken hinaus und nach Seitenorten war nicht möglich. Eine vom Absender erhobene Gebühr wurde auf dem Brief durch Frankozeichen und ab dem 17. Jahrhundert in roten Zahlen vermerkt (vgl. Helbig 2010, 23–24). Jede weitere Postanstalt schrieb gewöhnlich in blauen Zahlen die vom Empfänger zu entrichtende Gebühr auf den

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Brief. Die letzte nicht durchgestrichene Zahl gab den zu bezahlenden Betrag an. Hinzu kam die Zustellgebühr. Die Briefzustellung war bis ins 19.  Jahrhundert kostenpflichtig. Die Empfänger mussten lange Zeit ihre Sendungen im Postamt, in dem Listen über eingetroffene Briefe hingen, selbst abholen. Ab 1712 erfolgte in Berlin die Zustellung der Briefe durch Briefträger gegen Gebühr ins Haus. Seit 1770 wurde die Briefpost in der preußischen Metropole zweimal ausgetragen. Die Thurn-und-TaxisPost verpflichtete zum Austragen der Briefe Subunternehmer. Mit wachsendem Postverkehr führten die Postverwaltungen Stempel als Bearbeitungsvermerke ein. Nach französischem Vorbild gaben nach den Befreiungskriegen nicht nur in Preußen Orts- und Datumsstempel auf den Briefen Auskunft über die Brieflaufzeiten. Von Goethe ist bekannt, dass er die Thurn-und-Taxis-Post wegen ihrer Schnelligkeit und der Sicherheit des Siegels schätzte (vgl. Steinhausen 1891, 334). Die wohlgeordnete geheime Briefüberwachung wurde bei der Reichspost nicht zum System erhoben. Der allgemeine Publikumsverkehr war nicht davon betroffen. Durchgeführte Kontrollen der Reichspost erfolgten in Abhängigkeit vom Kaiserhaus aus machtpolitischen Bestrebungen und bei kriegerischen Auseinandersetzungen. Bei den europäischen Staatsposten war das Briefgeheimnis den Staatsinteressen untergeordnet. Briefspionage wurde in größerem Umfang nicht nur im Krieg betrieben. Während der napoleonischen Besetzung etablierte die französische Postpolizei auch in Preußen systematisch „Schwarze Kabinette“ oder „Postlogen“ zur geheimen Brieföffnung (vgl. Sautter 1928, 286–287; Behringer 1990, 118–119; Grillmeyer 1999, 56–57, 61).

6 Auf dem Weg zur postalischen Einheit Am Beginn des 19. Jahrhunderts ergriff Preußen die Initiative zur weiteren Verkehrsbeschleunigung. Orientiert am Vorbild Englands und Frankreichs sollte der Brieftransport mit dem Personentransport zweckmäßig vereinigt werden, um Personen auch mit der Geschwindigkeit einer reitenden Briefpost zu befördern. Die Einführung des Eilwagenprinzips in den 1820er Jahren ging einher mit dem Ausbau von fest geschotterten oder gepflasterten Chausseen sowie der weiteren Verbesserung der Postwagentechnik. Die Geschwindigkeit der kombinierten Briefund Schnellpost betrug im Durchschnitt neun bis 13  km/h. Die 564  Kilometer zwischen Berlin und Königsberg/Pr. wurden in 61  Stunden und zehn Minuten zurückgelegt. Die sechsmal täglich zwischen Berlin und Potsdam verkehrende „Journalière“ benötigte für die 30 Kilometer zwei Stunden und 30 Minuten. Auf

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wichtigen Strecken verkehrten neben den Schnellpostwagen auch weiter Reitposten, die 13 km/h schnell unterwegs waren (vgl. Leclerc 1989, 176). Im Gegensatz zum 1834 unter preußischer Führung geschaffenen Zollverein lag die postalische Einheit in Deutschland noch in der Ferne. 1849 gab es im Deutschen Bund 38 Staaten und 18 selbständige Postverwaltungen. Die alte Reichspost hatte die Auflösung des ‚Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation‘ als stark geschrumpfte Thurn-und-Taxis-Lehenpost überlebt. Die aufkommende Eisenbahn setzte mit ihrer Geschwindigkeit von maximal 30 km/h auch für die Post neue Maßstäbe. Schon frühzeitig nutzten die Posten die Eisenbahn als Transportmittel zur Verkürzung der Beförderungszeit und zur Unterwegsbearbeitung, zum Sortieren der Briefe während der Fahrt. Die Post auf der Schiene stellte für viele Jahrzehnte das Rückgrat der Postbeförderung in Deutschland dar. Der preußisch-österreichische Postvertrag von 1850, dem bald auch die zum Thurn-und-Taxis-Postgebiet gehörenden deutschen Teilstaaten beitraten, bedeutete mit seiner Gleichheit der Gesetzgebung und des Postreglements für alle Mitglieder den Durchbruch der Vereinheitlichung des deutschen Postwesens (vgl. Probst 1989, 136, 138). Preußen gliederte nach dem Sieg im Krieg von 1866 die Thurn-und-Taxis-Post seinem Postwesen an. Das jährliche Briefaufkommen hatte sich in den entwickelten Ländern vom 17. bis Mitte des 19. Jahrhunderts enorm gesteigert. In England war es von einer Million im Jahr 1633 auf knapp 80 Millionen im Jahr 1839 gestiegen, dem Jahr vor Einführung des entfernungsunabhängigen Einheits-Penny-Portos und der Briefmarke als Gebührenquittung. 1837 beförderte die preußische Post 34 Millionen, 1850 bereits über 62 Millionen und 1865 190 Millionen Briefsendungen (vgl. Sautter 1928, 716). Für die Thurn- und-TaxisPost liegt eine zeitgenössische Schätzung von 5  Millionen beförderten Briefen im Jahr 1846 vor (vgl. Meidinger 1848, 859). 1850 transportierten alle deutschen Posten, inklusive der österreichischen, bereits über 100 Millionen nationale und internationale Briefsendungen (vgl. Storch 1866, 9, 61 u. 84). Der große Umfang des ausländischen Posttransits ließ die deutsche Post als „Postmeisterin für ganz Europa“ (Hartmann 1868, 399) erscheinen. Bis Anfang des 19.  Jahrhunderts gab es bei der Post keine Annahme und Zustellung von Sendungen innerhalb des Einlieferungsortes. In größeren Orten trugen Botendienste gegen Entgelt Nachrichten von Haus zu Haus. Der in Preußen 1824 eingeführte Postbriefkasten fand mit der Einführung der Postwertzeichen 1850 starke Verbreitung und Nutzung. Die Kombination von Briefkasten und Briefmarke als Rationalisierungsmittel beschleunigte und vereinfachte auch bei den anderen deutschen Postverwaltungen die inneren Abläufe angesichts steigender Postmengen. Bereits 1849 hatte Bayern in Anlehnung an die erfolgreiche englische Postreform von 1840 Briefmarken eingeführt. Zuvor vereinfachte das bayerische

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Königreich nach österreichischem Vorbild die komplizierte Gebührenberechnung erheblich, damit das Publikum auch wissen konnte, welche Marke auf welchen Brief gehört. Die vereinfachten Tarife galten schon bald im gesamten Postvereinsgebiet. 1850 kostete ein 15-Gramm-Brief in der Entfernungsstufe 75 Kilometer einen, 150 Kilometer zwei und darüber drei Silbergroschen. Die herabgesetzten Briefgebühren förderten den Briefverkehr außerordentlich. Ab 1868 galt in ganz Deutschland die entfernungsunabhängige Einheitsbriefgebühr im Fernverkehr von einem Silbergroschen oder von drei Kreuzern für einen Brief bis 15 Gramm. Die Eisenbahngeschwindigkeit bestimmte im Zeitalter der Industrialisierung die Brieflaufzeiten (vgl. Wessel 1989, 296). 1861 war die Bahnpost von Wien nach Berlin 33 und von Hamburg nach Berlin neun Stunden unterwegs.

7 Kaiserliche Reichspost und Modernisierungsschub Zu den nationalen und internationalen Aushängeschildern des 1871 gegründeten deutschen Kaiserreichs gehörte die Reichspost. An ihrer Spitze stand der Generalpostmeister Heinrich Stephan. Die Post erfuhr im Kaiserreich einen starken Modernisierungsschub, der die ökonomische Entwicklung Deutschlands beträchtlich förderte und die Postversorgung eines großen Territoriums effizient sicherstellte. Die zunehmende Normierung und Technisierung sowie Internationalisierung der Reichspost ermöglichten die Bewältigung und die Verbilligung des massenhaft anwachsenden Postverkehrs. Die Präsenz der Post in der Öffentlichkeit nahm zu. Das repräsentative einheitliche Erscheinungsbild der Reichspost spiegelte die Autorität des wilhelminischen Deutschlands. Als Verhandlungsführer Preußens und des Kaiserreiches gelang es Stephan auf dem Weg zum Weltpostverein in bilateralen Verträgen, die Tarife zu senken und den Postaustausch zu vereinfachen. Der 1874 in Bern gegründete Weltpostverein brachte vor dem Hintergrund steigender Bevölkerungs- und Migrationszahlen sowie anwachsender Warenströme das einheitliche Porto und entfernungsunabhängige Gewicht im Briefverkehr für 350  Millionen Menschen. Ein 15-GrammBrief kostete 1878 innerhalb Deutschlands zehn, von Berlin nach New York oder Tokio einheitlich 20 Pfennig. Der Ortstarif für Normalbriefe betrug fünf Pfennig. Am 1. Dezember 1876 ging in Berlin – andere deutsche Städte folgten – das unterirdische Rohrpostnetz als technische Neuerung für die Öffentlichkeit in Betrieb. Die Berliner Stadtrohrpost entwickelte sich rasch zu einem leistungsfähigen innerstädtischen Verkehrssystem für Briefe und Karten und zu einer der größten Rohrpostanlagen der Welt. Die von der Reichspost ab 1886 als Pres-

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tigeprojekte eingerichteten und stark subventionierten Postdampferlinien nach Übersee ergänzten die Postversorgung der deutschen Kolonien durch ausländische Postdampferlinien. In allen Kolonien ließ Stephan als Herrschaftsinstrumente Postdienststellen einrichten (vgl. Neutsch 1997, 119). Immer mehr Menschen nutzten im Kaiserreich die Post. Das Briefaufkommen innerhalb des Reichspostgebietes erhöhte sich immens von 333 Millionen Sendungen 1871 über 2,6 Milliarden im Jahr 1900 – Normalbriefe durften nun 20 Gramm wiegen – auf fast 4,8 Milliarden 1914 (vgl. Zahlenspiegel 1957, 36; Wessel 1989, 293). Neben den Geschäfts- und Privatbriefen zählten zu den Briefsendungen auch Drucksachen und Warenproben und die 1870 eingeführten Postkarten sowie bald auch die beliebten Ansichtskarten. 1900 wurden die in den 1880er Jahren entstandenen Privatpostanstalten für den Ortsverkehr wieder verboten, um die Einnahmen der Reichspost aus dem Briefgeschäft nicht zu schmälern. Um die Jahrhundertwende setzte sich die Mechanisierung des Postbetriebes zur Bewältigung der Sendungsmengen immer mehr durch. Briefstempelmaschinen, Adressier- und Freimachungsmaschinen verkürzten die Postbearbeitungszeiten erheblich. Mit der Zunahme des Briefverkehrs stieg auch die Zahl der Zustellungen. 1876 wurde die Post in Berlin bereits neunmal täglich ausgetragen. Um 1900 lag die Zustellungszahl in 47 deutschen Großstädten bei sechsmal, in Berlin bei achtbis elfmal am Tag, bis die Zustellung im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik je nach Postamtsgröße aus Personal- und Kostengründen wieder stark reduziert wurde (vgl. Sautter 1951, 160). Der in den 1870er Jahren geschaffene Landpostdienst wurde zum Bindeglied zwischen Stadt und Land und erhöhte die Dichte der Postanstalten im Reich. Seit Jahrhundertbeginn prüfte die Post die Nutzung der Motorkraft. Elektrofahrzeuge halfen im lokalen Zustelldienst und auf den Verladebahnhöfen. Ab 1905 setzte die Reichspost Kraftpostomnibusse für die kombinierte Personen- und Briefbeförderung im ländlichen Raum ein, wodurch sich die Brieflaufzeiten im Nahverkehr und als Zubringer im Fernverkehr weiter verringerten. Die Bahnpost war mit den neuen elektrisch angetriebenen Zügen mit einer Geschwindigkeit bis zu 90 km/h unterwegs. Die Linien des Eisenbahnnetzes bestimmten den Verlauf der Postkurse. Der Postabgang und die Zustellung richteten sich nach dem Eisenbahnfahrplan (vgl. Wessel 1989, 296). Der Erste Weltkrieg begrenzte den zivilen Postverkehr durch postalische Leistungseinschränkungen. Die Reichspost war von Einberufungen und Beschlagnahmungen stark betroffen. Das einfache Briefporto wurde zur Staatsfinanzierung auf 15 Pfennig angehoben. Die Feldpostversorgung band zusätzlich Mittel. 1916 monierte der spätere Reichspräsident Friedrich Ebert im Reichstag die Gefährdung des Briefgeheimnisses (vgl. Vogt 1989b, 231). Sein Schutz war nicht in den Verfassungen des Norddeutschen Bundes von 1867 und des Deutschen Reiches

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

von 1871 enthalten. In Zeiten starker politischer Auseinandersetzungen und im Krieg erfolgten staatliche Briefkontrollen und Zensurmaßnahmen in Zusammenarbeit mit der Post.

8 Die republikanische Reichspost als Dienstleistungsbetrieb Die Entwicklung der Reichspost in der Weimarer Republik zeichnet sich aus durch die Eingliederung der 1871 nicht integrierten Landespostverwaltungen von Bayern und Württemberg zum 1. April 1921 und die Schaffung eines selbständigen Staatsbetriebes, der seine Ausgaben durch eigene Einnahmen deckte und zur Ablieferung an das Reich verpflichtet war. Das Aufgabenspektrum der Reichspost erweiterte sich um neue Dienstzweige wie den Kraftpostdienst zur Personen- und Briefbeförderung und den Luftpostverkehr. 1923 lag das in der Nachkriegszeit geschrumpfte Briefaufkommen bei 3,225 Milliarden Sendungen. Am Ende der Hyperinflation im November 1923 kostete die Beförderung eines 20-Gramm-Briefs im Inlandsfernverkehr 100 Milliarden Reichsmark. Ab dem 1. Dezember wurde das Briefporto auf zehn Rentenpfennig festgesetzt, wie es vor dem Krieg gegolten hatte. Das Postmonopol ermöglichte der Reichspost in der Weimarer Republik, einer umfassenden Kommunikationsversorgung der Bevölkerung nachzukommen. Diese basierte auf dem kostenintensiven Prinzip, im Interesse der Gesellschaft auch dort Postdienstleistungen anzubieten, wo private Anbieter aufgrund der geringen Gewinnaussichten ihren Verzicht erklärt hätten. Die Post mit ihren weit über 60.000 Amtsstellen gab es nun fast überall im Reich. Sie war fest im täglichen Leben verankert (vgl. Vogt 1989a, 242, 281). Die verstärkte Nutzung neuer Technik und effektiverer Arbeitsmethoden, von Kraftfahrzeugen und Flugzeugen rationalisierte und beschleunigte den Postbetrieb in der Weimarer Republik. Die Ausweitung der Kraftpostlinien ermöglichte die flächendeckende Versorgung der ländlichen Regionen. Auf dem Landweg konnte ein Brief als Eilsendung von München nach Berlin am nächsten Tag zugestellt werden. Die Luftpost, 1919 zwischen Berlin und Weimar zur Brief- und Zeitungsversorgung der verfassunggebenden Nationalversammlung eingesetzt, diente im Inland hauptsächlich als Zubringerlinie für den zwischenstaatlichen Verkehr. Die Reichspost förderte neue Kommunikationstechniken wie Rundfunk und Fernsehen als Vorreiter auf dem Weg zur technologischen Zukunft. Während der Weltwirtschaftskrise sank das Briefaufkommen um 26 Prozent von 7,663 Milliarden im Jahr 1929 auf 5,6 Milliarden Sendungen im Jahr 1932. Alle Gebührenfreiheiten im Postverkehr waren bereits 1920 beseitigt worden.

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9 Die Reichspost im Dienste des Nationalsozialismus Der im Mai 1934 eingeführte einheitliche rote Anstrich von Postfahrzeugen, Amtsschildern, Briefkästen und Fernsprechzellen unterstrich die enge Verbindung von NSDAP und Reichspost. Mit der Ernennung von Wilhelm Ohnesorge, Nationalsozialist der ersten Stunde, zum Reichspostminister 1937 verstärkte sich die Mitarbeit der Post an der NS-Propaganda merklich. 1937 erschien erstmals eine Briefmarke mit Hitler-Bild. Weitere Hitler-Marken folgten in Millionenauflagen. Die Reichspost vergütete Hitler das Persönlichkeitsrecht am eigenen Abbild mit Millionensummen, die er für seine Bauvorhaben, Kunsttransaktionen und Bilderkäufe nutzte (vgl. Martens 1989, 327–328). Das Brief- und Fernsprechgeheimnis war bereits 1933 mit der sogenannten Reichstagsbrandverordnung aufgehoben worden. Geheime Staatspolizei und Reichspost organisierten gemeinsam die Postkontrolle. Zunehmend diskriminierte die Reichspost ab 1940 jüdische Postbenutzer durch den Entzug der Rundfunkempfangsgenehmigung, den Ausschluss vom Fernsprechverkehr, vom Bezug deutscher Zeitungen und Zeitschriften, von der Paketzustellung und der Nutzung des Kraftpostdienstes (vgl. Ueberschär 1989, 293). Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde der Brief- und Postverkehr mit dem „feindlichen Ausland“ ein- und unter Strafe gestellt. Darüber hinaus stand die Reichspost vor dem Problem, den immer größer werdenden Arbeitsanfall mit im Verhältnis immer weniger Beschäftigten und reduzierter Ausstattung zu erledigen. Das Brief- und Postkartenaufkommen der deutschen Zivilbevölkerung lag 1943 bei 10,103 Milliarden, der Feldpost bei 8,178 Milliarden, der Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen bei 232 Millionen Sendungen. Niemals zuvor und niemals danach wurde mittels Brief mehr privat korrespondiert. Im ‚totalen Krieg‘ folgten erhebliche Leistungseinschränkungen im Postfach-, Fernsprech- und Telegrammdienst. Die Briefbeförderung und der Feldpostdienst wurden im Interesse der öffentlichen Meinung geschont. Brieflaufzeiten zwischen ein und vier Wochen waren 1944/1945 keine Seltenheit. Es kam zu Postunterbrechungen und -ausfällen. Der Untergang des Reiches im Mai 1945 ließ auch das Post- und Fernmeldewesen in Deutschland zusammenbrechen.

10 Die Deutsche Post in der Nachkriegszeit Im besetzten Deutschland verboten die Besatzungsbehörden vorerst jegliche Nachrichtenübermittlung. Bei späterer Wiederzulassung sollte jeder Nachrichtentausch der Zensur unterliegen. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass

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angesichts der chaotischen Lage, der Zerstörungen und Plünderungen sowie der anstehenden Aufgaben, vor dem Hintergrund des großen Informationsbedürfnisses der Bevölkerung hinsichtlich Verbleib und Wohlergehen der Familie, der Freunde und Bekannten die Wiederaufnahme des Postverkehrs dringend nötig war. Ab Mitte 1945 kam unter Aufsicht der Besatzungsmächte und unter Anleitung der geschaffenen neuen Postbehörden der Nachrichtenverkehr auf örtlicher und regionaler Ebene wieder in Gang. In der Regel zuerst Postkarten, dann Briefe. Mit Wirkung vom 24. Oktober 1945 war ein eingeschränkter Briefverkehr auch wieder zwischen den Besatzungszonen möglich (vgl. Steinmetz 1979, 21–22, 416). Die ersten Nachkriegsbriefe trugen amerikanische Briefmarken oder Postwertzeichen mit geschwärztem Hitler-Motiv als Aufbrauchprovisorien. Nach und nach gaben die verschiedenen Postbehörden neue Marken heraus. Gemeinschaftsausgaben für die amerikanische, britische und sowjetische Zone erschienen ab 1946 bis zur Währungsreform 1948 im Kalten Krieg. Die grundlegend unterschiedlichen gesellschaftlichen Zielsetzungen der Besatzungsmächte verursachten getrennte Entwicklungen im deutschen Post- und Fernmeldewesen.

11 Die Bundespost – Motor des Wirtschaftswunders Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland entstand 1950 die Bundespost. Die sich stark entwickelnde westdeutsche Wirtschaft benötigte leistungsfähige Kommunikationsdienste. Die Zunahme des Sendungsaufkommens in den 1950er Jahren zwang zur Entwicklung rationeller, am Massenverkehr orientierter Betriebsverfahren. Schwerpunkte der Veränderungen in den ersten beiden Jahrzehnten waren die Zentralisierung der Brieflogistik, der Aufbau eines Nachtluftpostnetzes, die Automatisierung der Briefverteilung sowie die Verlagerung des Posttransportes von der Schiene auf die Straße durch expandierende Motorisierung. Die automatischen Briefverteilmaschinen bearbeiteten Ende der 1970er Jahre stündlich bis zu 30.000 Sendungen. Die aus Gründen der Rationalisierung und schnelleren Briefbeförderung 1961 in der Bundesrepublik und 1964 in der DDR eingeführten vierstelligen Postleitzahlen waren nicht aufeinander abgestimmt. Daher gab es nicht wenige Doppelnummern. Die Vorziffern ‚x‘ für Briefe in den Osten und ‚o‘ für Briefe in den Westen sollten Verwechslungen verhindern. Die von der Bundespost erhobenen Gebühren deckten ihre Kosten oft nicht. Das Briefporto blieb politisch bestimmt bis 1966 stabil bei 20 Pfennig. Geld fehlte für anstehende Investitionen. In der Öffentlichkeit wuchs die Kritik an der Post und ihrem Leistungsangebot (vgl. Steinmetz 1979, 152, 269; Schöll 1995, 18–19, 23–24).

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Anfang der 1980er Jahre reagierte die Bundespost auf die gesellschaftliche Entwicklung, dass immer mehr Menschen immer weniger Briefe und Postkarten schrieben, mit der großangelegten Werbekampagne ‚Schreib mal wieder‘. Der Geschäftsbereich Brief bildete nach wie vor die Haupteinnahmequelle des Postdienstes. Der günstige Ortsbrieftarif war bereits 1963 aufgegeben worden. Im Gegensatz zum Briefaufkommen der gewerblichen Wirtschaft, das mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung einherging, reduzierte die veränderte bürgerliche Öffentlichkeit erheblich die Anzahl der Privatbriefe. Großen Anteil daran hatte die vergrößerte Fernsprechdichte der Privathaushalte. 1979 ging die Bundespost bei einem Briefaufkommen von 5,659 Milliarden Briefen und 700 Millionen Postkarten von einem Verhältnis von 80 Prozent Geschäftspost und 20 Prozent Privatpost als grobe Schätzung aus. Von 7.000 Befragten schrieben 1980 63 Prozent weniger als einen Brief und 66 Prozent weniger als eine Karte pro Monat (vgl. Titius 1984, 18). 1983/1984 beförderte die Bundespost täglich ca. 30 Millionen Briefsendungen. Der entscheidende Anstoß zur Reformierung der Bundespost geschah in den 1980er Jahren durch die dynamische Entwicklung des Telekommunikationsmarktes. Die angestrebte Privatisierung der Post mündete im Poststrukturgesetz vom 8. Juni 1989.

12 Die sozialistische Deutsche Post In der DDR war die Post tief eingebunden in das politische System des Staates. Die DDR-Post hatte in der Bevölkerung ein schlechtes Image aufgrund von ungenügenden Angeboten, Wartezeiten, Bearbeitungsrückständen, Zustellausfällen und Schalterschließungen. In allen Bereichen herrschte chronischer Fachkräftemangel. Der veraltete Fahrzeug-, Maschinen- und Ausrüstungspark behinderte erheblich die Versorgung der Bevölkerung mit postalischen Dienstleistungen. Die Gesamtzahl der Briefsendungen betrug 1989 1,3 Milliarden Sendungen, davon 71 Prozent Briefe und 14 Prozent Postkarten. Werbesendungen wie in der Bundesrepublik gab es in der DDR praktisch nicht. Die Post kam in den großen Städten täglich zweimal, frühmorgens mit der Tageszeitung, vormittags mit der Briefpost und Zeitschriften, ansonsten einmal täglich als vereinigte Zustellung. 1989 wurden 1,4 Millionen Haushalte über Briefzustellanlagen versorgt. Die seit den 1960er Jahren entwickelten Briefverteilmaschinen steigerten in den 1980er Jahren ihre Leistung auf 10.000 Sendungen pro Stunde (vgl. Schöll 1995, 33, 35, 37–39). In der DDR erfolgte die systematische Verletzung der Briefkommunikation durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) mit Unterstützung der Deutschen Post. Spätestens in den 1980er Jahren wurde jeder Brief, jede Post-

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karte, jedes Paket des innerdeutschen Postverkehrs vom MfS kontrolliert. Durch die Postkontrolle konnten die 1985 zwischen der Bundespost und der Post der DDR vereinbarten Postbearbeitungszeiten von 48 Stunden oft nicht eingehalten werden. Bereits 1971 hatte die DDR die Briefgebühr für innerdeutsche Briefe auf den Auslandstarif von 35 Pfennig erhöht. 2.000 Mitarbeiter des MfS öffneten im Durchschnitt täglich 90.000 Briefsendungen. Zwischen 1984 und 1989 entwendeten die Briefkontrolleure für den Staatshaushalt Geld im Wert von rund 32 Millionen DM (vgl. de Pasquale 2002, 63).

13 Von der Behörde zum Global Player Als sich im Frühjahr 1990 die deutsche Wiedervereinigung abzeichnete, erfolgte die rasche Zusammenführung und Verschmelzung der am 1.  Januar 1990 im Rahmen der Postreform I gegründeten westdeutschen Staatsfirmen Deutsche Bundespost Postdienst, Telekom und Postbank mit den entsprechenden Diensten der DDR-Post zu einheitlichen Unternehmen. Bereits im Frühjahr 1990 begann eine Arbeitsgruppe der Post mit der Entwicklung eines fünfstelligen Postleitzahlensystems, das am 1. Juli 1993 eingeführt wurde. Die standardisierte Einrichtung von 83 Brief- und 33 Frachtzentren als Kern des neuen Logistiknetzes strukturierte die Post neu. Für den Briefdienst entwickelte die Deutsche Post 1992 das Konzept ‚Brief 2000‘ mit dem Ziel der Zustellung am nächsten Tag (E+1). 1998 erreichten 95 Prozent aller Briefe die Adressaten am Tag nach der Einlieferung. 1995 startete die Post in das Zeitalter der Privatwirtschaft. Im Rahmen der Postreform II wurde die Deutsche Post Aktiengesellschaft gegründet. Das Bundespostministerium löste sich Ende 1997 auf. Das Bundesministerium der Finanzen übernahm die hoheitliche Aufgabe der Herausgabe der Briefmarken. Die Deutsche Post AG expandierte ab 1997 durch internationalen Zukauf von Branchenfirmen global und entwickelte sich schnell zum führenden europäischen Brief- und Paketdienstleister sowie zum größten Logistikanbieter weltweit. Ende 2007 lief das Briefmonopol aus, die im Postgesetz von 1997 festgeschriebene Exklusivlizenz der Post für den Transport von Briefen bis 50 Gramm. Bereits seit 1998 durften andere private Postdienstleister Briefe ohne Gewichtsbeschränkung befördern, insofern sie dies als höherwertige Dienstleistung im Vergleich zur Deutschen Post erbrachten, z.  B. unter dem Beförderungspreis der Post, als Eilzustellung am selben Tag, durch Abholung beim Absender. Am 31.  Januar 2008 beschloss das Europäische Parlament die vollständige Öffnung des Briefmarktes für Briefe unter 50 Gramm bis zum 1. Januar 2011. Schätzungen gehen von einem langfristigen Marktanteil der Deutschen Post beim Brieftransport von

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über 90 Prozent aus. 2013 beförderte die Post fast 20 Milliarden Briefsendungen, darunter neben den vielen Postwurf-, Info- und Pressesendungen 7,816 Milliarden Briefe, inklusive 6,672 Milliarden Geschäftskundenbriefe. Im Vergleich zu 1979 nahm der Anteil der Privatpost gegenüber der Geschäftspost auf unter 15 Prozent ab. 2010 etablierte die Deutsche Post als Innovation den E-Post-Brief. 2015 lag das werktägliche Briefsendungsaufkommen bei ca. 64  Millionen. 2017 betrug das Gesamtvolumen der von der Deutschen Post beförderten Briefsendungen 16 Milliarden, darunter eine Milliarde E-Post-Briefe. Die Gebühr für den Normalbrief erhöhte sich 2016 von 62 auf 70 Cent. Eine Anhebung auf 80 Cent fand 2019 statt.

14 Forschung Auf den großen Literaturumfang zur Geschichte des Postwesens wies bereits 1916 Werner Sombart in seiner interdisziplinären Postdarstellung hin (vgl. Sombart 1916, 264). Mit dem Ausbau der Postanstalten im 19.  Jahrhundert entstand die publikationsstarke Postgeschichtsforschung von Postbeamten für Postbeamte (vgl. Behringer 2003, 29). Eine Vielzahl von Amateurhistorikern liefert bis heute wertvolle Einzeluntersuchungen als Beitrag zur postalischen Erinnerungskultur. Ein herausragender Vertreter der Postgeschichtsschreibung im Sinne Preußens und des späteren Wilhelminischen Kaiserreichs war Heinrich Stephan. Mit der Gründung des Reichspostmuseums 1872 initiierte Stephan nicht nur die museale Sammlung von Objekten des Nachrichtenwesens für Lehr- und Ausstellungszwecke, er etablierte gleichzeitig die wissenschaftliche Objektforschung, eine zentrale Säule der Postmuseen sowie der 1995 gegründeten Museumsstiftung Postund Telekommunikation. Die Edition und Kommentierung von Posturkunden durch den Thurn-undTaxis-Archivar Joseph Rübsam im Jahr 1889 gilt als Beginn der akademischen Historiographie zur Postgeschichte. Zunehmendes wissenschaftliches Interesse führte Anfang des 20.  Jahrhunderts zu einer langen Reihe von Dissertationen zum Thema (vgl. Rübsam 1889; Behringer 2003, 31–32). Die von Martin Dallmeier 1977 edierten Quellen zur europäischen Postgeschichte verbreiterten den zugänglichen Quellenfundus (vgl. Dallmeier 1977a, b). Das Postjubiläum 1990 brachte eine Welle der öffentlichen Aufmerksamkeit und neue Publikationen, die den Begriff von Post erweiterten und über die Betriebs- und Institutionengeschichte hinaus die postalische Wirkungsgeschichte innerhalb der Gesellschaft in den Blick nahmen. Postgeschichte als Kommunikationsgeschichte entsprach dem Trend interdisziplinärer historischer Forschung (vgl. Heimann 1991; Behringer 1994). In den Ausstellungen und Katalogen der

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Museumsstiftung Post und Telekommunikation spiegelt sich die Zusammenarbeit mit einer Vielzahl von Wissenschaftsdisziplinen, die die Post und ihre Geschichte ebenfalls erforschen, sowie die Erweiterung der Forschungsperspektive auf die vielfältige Mediennutzung (vgl. Beyrer und Täubrich 1996; Beyrer 1997; Kallinich und de Pasquale 2002). 2003 publizierte Wolfgang Behringer seine Habilitationsschrift Im Zeichen des Merkur, die den kommunikationsrevolutionären Charakter der Post in der Frühen Neuzeit herausstellt (vgl. Behringer 2003). Die Enzyklopädie der Neuzeit erörterte am Beginn des 21. Jahrhunderts als publizistisches Großwerk in 16 Bänden die ältere Posthistorie auf breiter Grundlage (vgl. Beyrer 2009). Zunehmend rückte auch die jüngere Postgeschichte ins Blickfeld. 1999 erschien das von der Deutschen Telekom und der Deutschen Post geförderte Standardwerk zur Reichspost während der Zeit des Nationalsozialismus von Wolfgang Lotz und Gerd Ueberschär (vgl. Lotz 1999; Ueberschär 1999). Besondere Beachtung erfuhr 2012 das Buch von Joseph Foschepoth über das große Ausmaß der Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik (vgl Foschepoth 2012). Die 2015 von Walter Maschke herausgegebene Firmengeschichte Einheit im Wandel widmet sich der Privatisierung der Post und ihrer Entwicklung in den letzten 25 Jahren (vgl. Maschke 2015). Der Rückgang des privaten Briefeschreibens geht heute nicht nur einher mit einer verstärkten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Medium Brief, sondern auch die öffentliche Beschäftigung mit historischen Privatbriefen hat Konjunktur. Internetseiten mit Briefsammlungen werden millionenfach aufgerufen (vgl. www.lettersofnote.com und www.briefsammlungen.de), eine Korrespondenzedition folgt der nächsten.

Zitierte Literatur Behringer, Wolfgang (1994). „Bausteine zu einer Geschichte der Kommunikation. Eine Sammelrezension zum Postjubiläum“, in: Zeitschrift für historische Forschung, 21.1: 92–112. Behringer, Wolfgang (2002). „‚Die Welt in einen anderen Model gegossen‘. Das frühmoderne Postwesen als Motor der Kommunikationsrevolution“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 53.7–8: 424–433. Behringer, Wolfgang (1996). „Fugger und Taxis. Der Anteil der Augsburger Kaufleute an der Entstehung des europäischen Kommunikationssystems“, in: Augsburger Handelshäuser im Wandels des historischen Urteils. Hg. v. Johannes Burkhardt. Berlin: 241–248. Behringer, Wolfgang (2003). Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen. Behringer, Wolfgang (1990). Thurn und Taxis. Die Geschichte ihrer Post und ihrer Unternehmen. München.

2.1 Postgeschichte 

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Behringer, Wolfgang (2005). „‚Von der Gutenberg-Galaxis zur Taxis-Galaxis‘. Die Kommunikationsrevolution – ein Konzept zum besseren Verständnis der Frühen Neuzeit“, in: Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Johannes Burkhardt u. Christine Werkstetter. München: 39–54. Beyrer, Klaus u. Hans-Christian Täubrich (Hg.) (1996). Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation. Heidelberg. Beyrer, Klaus (Hg.) (1997). Kommunikation im Kaiserreich. Der Generalpostmeister Heinrich von Stephan. Heidelberg. Beyrer, Klaus (2008). „Brieftransport in der Frühen Neuzeit. Entwicklung und Zäsuren“, in: Briefe in politischer Kommunikation vom Alten Orient bis ins 20. Jahrhundert. Hg. v. Christina Antenhofer u. Mario Müller. Göttingen: 169–183. Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen (Hg.) (1957). Zahlenspiegel der Deutschen Reichspost (1871–1945). Bearbeitet von Oberpostrat a.  D. Richard Maetz. Bonn. Dallmeier, Martin (1990). „Die habsburgische, kaiserliche Reichspost unter dem fürstlichen Haus Thurn und Taxis“, in: Archiv für deutsche Postgeschichte, 2: 13–32. Dallmeier, Martin (1990). 500 Jahre Post. Thurn und Taxis. Regensburg. Dallmeier, Martin (1989). „Poststreit im Alten Reich. Konflikte zwischen Preußen und der Reichspost“, in: Deutsche Postgeschichte. Essays und Bilder. Hg. v. Wolfgang Lotz. Berlin: 77–104. Dallmeier, Martin (1977). Quellen zur Geschichte des Europäischen Postwesens 1501–1806. Teil I. Quellen – Literatur – Einleitung. Kallmünz. Dallmeier, Martin (1977). Quellen zur Geschichte des Europäischen Postwesens 1501–1806. Teil II. Urkunden-Regesten. Kallmünz. Dallmeier, Martin (1994). „Zur Frühzeit der Frankfurter Presse. Die Avisen der ersten Frankfurter Postmeister“, in: Als die Post noch Zeitung machte. Eine Pressegeschichte. Hg. v. Klaus Beyrer u. Martin Dallmeier. Gießen: 32–39. Foschepoth, Josef (2012). Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Göttingen. Gerteis, Klaus (1989). „Reisen, Boten, Posten, Korrespondenz im Mittelalter und früher Neuzeit“, in: Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. v. Hans Pohl. Stuttgart: 19–36. Grillmeyer, Siegfried (1999). „Habsburgs langer Arm ins Reich. Briefspionage in der Frühen Neuzeit“, in: Streng geheim. Die Welt der verschlüsselten Kommunikation. Hg. v. Klaus Beyrer. Heidelberg: 55–66. Hartmann, Eugen (1868). Entwicklungs-Geschichte der Posten von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Leipzig. Heimann, Heinz-Dieter (1991). „Neue Perspektiven für die Geschichte der Post. Zur Methode der Postgeschichte und ihrem operativen Verhältnis zur allgemeinen Geschichtswissenschaft in Verbindung mit einem Literaturbericht zum ‚Postjubiläum 1490–1990‘“, in: Historische Zeitschrift, 253.3: 661–674. Helbig, Joachim (2010). Postvermerke auf Briefen. 15.–18. Jahrhundert. Neue Ansichten zur Postgeschichte der frühen Neuzeit und der Stadt Nürnberg. München. Hübner, Klara (2012). Im Dienste ihrer Stadt. Boten- und Nachrichtenorganisationen in den schweizerisch-oberdeutschen Städten des späten Mittelalters. Ostfildern. Kallinich, Joachim u. Sylvia de Pasquale (Hg.) (2002). Ein offenes Geheimnis. Post und Telefonkontrolle in der DDR. Heidelberg.

184 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Kellenbenz, Hermann (1987). „Die Entstehung des Postwesens im Mittelalter“, in: Festschrift. Othmar Pickl zum 60. Geburtstag. Hg. v. Herwig Ebner u.  a. Graz u. Wien: 285–291. Kießkalt, Ernst (1935). Entstehung der deutschen Post. Berlin. Körber, Esther-Beate (1997). „Der soziale Ort des Briefes im 16. Jahrhundert“, in: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hg. v. Horst Wenzel. Berlin: 244–258. Kownatzki, Hermann (1923). „Geschichte des Begriffes und Begriff der Post nebst einem Anhang über die Entstehungszeit der Post“, in: Archiv für Post und Telegraphie, 10: 377–423. Leclerc, Herbert (1989). „Post- und Personenbeförderung in Preußen zur Zeit des Deutschen Bundes“, in: Deutsche Postgeschichte. Essays und Bilder. Hg. v. Wolfgang Lotz. Berlin: 171–188. Lotz, Wolfgang (Hg.) (1989). Deutsche Postgeschichte. Essays und Bilder. Berlin. Lotz, Wolfgang (1999). Die Deutsche Reichspost 1933–1945. Eine politische Verwaltungsgeschichte. Bd. I: 1933–1939. Berlin. Lutter, Christina (2003). „Bedingungen und Formen politischer Kommunikation zwischen der Republik Venedig und Maximilian I.“, in: Gesandtschafts- und Botenwesen im spätmittelalterlichen Europa. Hg. v. Rainer C. Schwinges u. Klaus Wriedt. Ostfildern: 191–223. Maschke, Walter (2015). Einheit im Wandel. Deutsche Post DHL – Von der Behörde zum Global Player. Bonn. Martens, Stefan (1989). „Post und Propaganda. Das Dritte Reich und die Briefmarken der Deutschen Reichspost 1933–1945“, in: Deutsche Postgeschichte. Essays und Bilder. Hg. v. Wolfgang Lotz. Berlin: 321–337. Meidinger, Heinrich (1848). „Die Fürstlich Thurn- und-Taxische Postanstalt. Eine historischstatistische Skizze“, in: Zeitschrift des Vereins für deutsche Statistik, 2: 853–861. Mummenhoff, Wilhelm (1911). Der Nachrichtendienst zwischen Deutschland und Italien im 16. Jahrhundert. Berlin. Nickisch, Reinhard M. G. (1991). Brief. Stuttgart. Neutsch, Cornelius (1997). „Zeit der kolonialen Verkehrsverbindungen“, in: Kommunikation im Kaiserreich. Der Generalpostmeister Heinrich von Stephan. Hg. v. Klaus Beyrer. Heidelberg: 119–124. Ohmann, Fritz (1909). Die Anfänge des Postwesens und die Taxis. Leipzig. Pasquale, Sylvia de (2002). „‚Ich hoffe, daß die Post auch ankommt.‘ Die Brief- und Telegrammkontrollen des Staatssicherheitsdienstes der DDR“, in: Ein offenes Geheimnis. Post- und Telefonkontrolle in der DDR. Hg. v. Joachim Kallinich u. Sylvia de Pasquale. Heidelberg: 57–74. Pohl, Hans (Hg.) (1989). Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft. Stuttgart. Probst, Erwin (1989). „Thurn und Taxis. Das Zeitalter der Lehenpost im 19. Jahrhundert“, in: Deutsche Postgeschichte. Essays und Bilder. Hg. v. Wolfgang Lotz. Berlin: 123–147. Rübsam, Joseph (1900). „Aus der Urzeit der modernen Post 1425–1562“, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, 21: 22–57. Rübsam, Joseph (1889). „Aus der Urzeit der Taxis’schen Posten“, in: Ders. Johann Baptista von Taxis. Ein Staatsmann und Militär unter Philipp II. und Philipp III. 1530–1610. Freiburg/Br.: 173–229. Rübsam, Joseph (1906). „Postavisi und Postconti aus den Jahren 1599 bis 1624“, in: Deutsche Geschichtsblätter. Monatsschrift zur Förderung der landesgeschichtlichen Forschung. VII: Hg. v. Armin Tille. Gotha: 8–19.

2.1 Postgeschichte 

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Sautter, Karl (1928). Geschichte der Deutschen Post. Teil 1: Geschichte der Preussischen Post. Berlin. Sautter, Karl (1951). Geschichte der Deutschen Post. Teil 3: Geschichte der Deutschen Reichspost (1871 bis 1945). Frankfurt a. M. Schäffer, Roland (1985). „Zur Geschwindigkeit des ‚staatlichen‘ Nachrichtenverkehrs im Spätmittelalter“, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark, 76: 101–119. Schöll, Franz (Hg.) (1995). Einheitsfarbe Ginstergelb. Berlin. Schöne, Albrecht (2015). Der Briefschreiber Goethe. München. Schwarz, Konrad (1935). Die Briefpostsendungen in der deutschen Geschichte. Berlin. Schwarz, Konrad (1931). Die Entstehung der deutschen Post. Ein Überblick. Berlin. Sombart, Werner (1987 [1916]). Der moderne Kapitalismus. Bd. II: Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus. Erster Halbband. München u. Leipzig. Steinhausen, Georg (1889/1891). Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. Erster Teil und Zweiter Teil. Berlin. Steinmetz, Hans u. Dietrich Elias (1979). Geschichte der Deutschen Post. Bd. 4: 1945–1978. Bonn. Stephan, Heinrich (1987 [1859]). Geschichte der Preußischen Post von ihrem Ursprunge bis auf die Gegenwart. Berlin. Storch, Adolph Franz (1866). Das Postwesen von seinem Ursprunge bis an die Gegenwart. Zum Theile nach officiellen Quellen geschichtlich und statistisch. Wien. Titius, Jürgen (1984). „Erfolgsmessung der Werbekampagne ‚Schreib mal wieder‘“, in: Archiv für Post und Fernmeldewesen, 1: 14–22. Ueberschär, Gerd. R. (1989). „Die Deutsche Reichspost im Zweiten Weltkrieg“, in: Deutsche Postgeschichte. Essays und Bilder. Hg. v. Wolfgang Lotz. Berlin: 289–320. Vogt, Martin (1989). „Das Staatsunternehmen ‚Deutsche Reichspost‘ in den Jahren der Weimarer Republik“, in: Deutsche Postgeschichte. Essays und Bilder. Hg. v. Wolfgang Lotz. Berlin: 241–287. Vogt, Martin (1989). „Die Post im Kaiserreich. Heinrich (von) Stephan und seine Nachfolger“, in: Deutsche Postgeschichte. Essays und Bilder. Hg. v. Wolfgang Lotz. Berlin: 203–239. Wagenbrenner, Rudolf (1926). „Die Einführung der Eilpostwagen in Bayern. Ein Beitrag zur Erforschung der Entwicklungsgesetze der Postgeschichte“, in: Archiv für Postgeschichte in Bayern, 2: 4–20. Werner, Theodor Gustav (1975). „Das kaufmännische Nachrichtenwesen im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit und sein Einfluß auf die Entstehung der handschriftlichen Zeitung“, in: Scripta Mercaturae, 2: 3–52. Wessel, Horst A. (1989). „Die Entwicklung des Nachrichtenverkehrs und seine Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft – Briefpost und das öffentliche Fernmeldewesen im deutschen Kaiserreich 1871–1918“, in: Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. v. Hans Pohl. Stuttgart: 284–320.

Online-Quellen Museumsstiftung Post und Telekommunikation (Hg.). http://sammlungen.museumsstiftung.de/ briefsammlungen/ (4.10.2019). Letters of Note: http://www.lettersofnote.com (26.9.2018)

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Weiterführende Literatur Holzheid, Anett (2011). Das Medium Postkarte. Eine sprachwissenschaftliche und mediengeschichtliche Studie. Berlin. Kalmus, Ludwig (1937). Weltgeschichte der Post. Mit besonderer Berücksichtigung des deutschen Sprachgebietes. Wien. Küsgen, Wilhelm, Paul Gerbeth, Heinrich Herzog u.  a. (Hg.) (1927). Handwörterbuch des Postwesens. Berlin. Schmidt, Willy u. Hans Werner (Hg.) (1939). Geschichte der Deutschen Post in den Kolonien und im Ausland. Leipzig. Schwarz, Karsten (2004). Briefpoststrategien in Europa. Handlungsoptionen europäischer Briefpostgesellschaften im zunehmend dynamischen Wettbewerb. Köln. Schweiger-Lerchenfeld, Amand von (1901). Das neue Buch von der Weltpost. Geschichte, Organisation und Technik des Postwesens von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Wien u.  a.

Udo Thiedeke

2.2 Der Brief als individualmediale Kommunikationsform: Eine mediensoziologische Beobachtung 1 Einleitung: Es gibt Briefe! Wann haben wir zum letzten Mal einen Brief empfangen oder gar geschrieben? Angesichts all der computergestützten ad-hoc-Kommunikationsformen wie E-Mails oder Push-Notifications, die uns überall und unverzüglich zur Verfügung stehen, scheint es fast anachronistisch, sich an eine mediale Kommunikationsform zu erinnern, bei der es erst eines materiellen Trägers bedarf, für dessen Versenden spezielle Orte aufgesucht werden müssen. Der Eindruck verstärkt sich, bedenkt man, dass bei dieser medialen Kommunikation die Mitteilung Tage, manchmal Wochen in Anspruch nehmen kann. Briefe sind so material- und zeitaufwendig, dass sie wie Relikte einer Zeit erscheinen, in der manche kaum erreichbar waren. Tatsächlich nimmt die Menge der versendeten Briefe weltweit tendenziell ab oder verharrt auf dem erreichten Niveau  – siehe dazu die Statistik der Universal Post Union für die Industriestaaten von 2015 bis 2017 (UPU online). Dennoch zählen die von der Deutschen Post beförderten Briefe, bei denen es sich zu ca. 70 Prozent um Geschäfts- oder institutionelle Briefe handelt, im Jahr 2017 noch nach Milliarden (rund 18,5 Mrd. Briefsendungen laut UPU online). Man kommt also nicht umhin festzustellen: Der Brief bleibt ein gegenwärtiges gesellschaft­ liches Phänomen. Wir schreiben, versenden, empfangen und lesen weiterhin persönliche, amtliche oder geschäftliche Briefe. Der Brief scheint demzufolge einen eigenen Stellenwert bei der medialen Kommunikation zu haben, auch wenn er gegenüber anderen medialen Formen in der Wahrnehmung nicht mehr so vordergründig in Erscheinung tritt. Wenn der Brief aber Eigenheiten aufweist, wenn er weiterhin für die mediale Kommunikation im gesellschaftlichen Maßstab Bedeutung hat, dann begründen diese Eigenheiten wohl nicht nur seine evolutionäre ‚Überlebensfähigkeit‘. Es stellt sich auch die Frage, wie sich der Brief aufgrund seiner Eigenart von anderen medialen Kommunikationsformen unterscheidet. Man ist also zu Beginn der mediensoziologischen Erkundung des Briefs versucht zu fragen: Was ist ein Brief?

https://doi.org/10.1515/9783110376531-011

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

2 Was ist der Brief? Vom Ding an sich zur Erwartung der Vermittlung Dass diese einfach klingende Frage in die Untiefen von Brieftypologien und Merkmalskatalogen führen kann, wird dann deutlich, wenn man auf die Varianten von Briefen schaut, die regelmäßig oder sporadisch auftreten (vgl. Bohnenkamp und Wiethölter 2008). Geht man aber nur davon aus, dass Briefe zwischen Individuen für gewöhnlich auf eine Art und Weise gewechselt werden, die eben nicht jeden einbezieht, dann scheidet nicht nur die Postkarte aus, weil sie auch während ihres Transports immer offen lesbar bleibt, sondern wirft die Frage auf, ob der ‚offene Brief‘, der etwa in einer Zeitung oder Zeitschrift verbreitet wird, noch ein Brief ist oder nicht. Das Problem scheint grundsätzlich in der ontologischen Annahme zu liegen, es gäbe ein eindeutig bestimmbares ‚Ding‘, das wir als Brief bezeichnen können. Solche eindeutigen Merkmalsfestlegungen, gar auf eine charakteristische ‚Textsorte‘ des Brieftextes, wirken angesichts der möglichen Varianten nur so lange tragfähig, bis der sprichwörtliche ‚schwarze Schwan‘ auftaucht und sie infrage stellt. Vielleicht sollte man angesichts einer zunehmend entdinglichten Welt relativierter Seinsgewissheiten eher davon ausgehen, dass es ein eindeutiges Ding ‚Brief‘ nicht oder nur unter Vorbehalt seiner Wandelbarkeit geben kann. Soziologisch erscheint es ohnehin problematisch, ‚Dinge an sich‘ sozial zu beobachten, da diese erst in ihren Verwendungen als mit anderen geteilte Gegenstände eine soziale Realität bekommen. Was für den einen ein Brief an sich sein kann, muss für die andere noch lange nicht so verwendet werden. An dieser Stelle soll daher einem Hinweis des Soziologen Niklas Luhmann (1992, 95) gefolgt werden, wonach es in der modernen Gesellschaft problematisch geworden ist, „Was-Fragen“ zu stellen, und sich beim Begreifen und Beschreiben der Welt ein Übergang zu „Wie-Fragen“ abzeichnet. Für den hier vorgestellten Zusammenhang bedeutet dies, mit einiger Konsequenz danach zu fragen: Wie ist der Brief? Man kann diese Fragestellung soziologisch noch radikalisieren, dann lautet sie: Wie ist der Brief gesellschaftlich möglich, oder genauer, wie ist der Brief als mediale Kommunikation gesellschaftlich möglich? Empirisch evident scheint zunächst zu sein, dass wir das, was wir Brief nennen, einsetzen, um medial zu kommunizieren. Es geht beim Brief augenscheinlich um eine ganz eigene Form der Vermittlung von Kommunikation. Der Brief stellt sich uns dabei als Form der Vermittlung von Kommunikation dar, bei der Nichtanwesende gezielt und möglichst unmittelbar, ja persönlich angesprochen werden sollen. Briefe haben, wenn wir sie als solche verwenden, angebbare

2.2 Der Brief als individualmediale Kommunikationsform 

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Empfänger) und zumindest durch die Briefsendung erkennbar Absender, auch wenn sie sich durch Pseudonym verschleiern oder in der Anonymität verstecken wollen. Die Unmittelbarkeit dieser Tele-Kommunikation ist uns anscheinend wichtig – wir gehen fest davon aus, dass die Briefkommunikation ihren Adressaten möglichst unmittelbar erreicht und dass wir diejenigen, die nur der Weitergabe und Zustellung des Briefs dienen, von dieser exklusiven Kommunikation bewusst ausnehmen. Dem widerspricht auch die Praktik der ‚offenen Briefe‘ nicht, die etwa massenmedial in Zeitungen oder Zeitschriften kommuniziert werden. Die Praktik der irregulären Ver-Öffentlichung der Briefkommunikation, für alle, die es angehen könnte, irritiert und akzentuiert die Normalität der medialen Praxis der exklusiven Briefkommunikation gleichermaßen. Diese unvollständige Beobachtung der medialen Kommunikationsform Brief führt aber nicht nur ihre medialen Eigenarten vor Augen, die die Vermutung begründen, dass sich der Brief als Kommunikationsform vielleicht gerade deshalb sozial etablieren konnte, weil er medial etwas ermöglicht, was z.  B. das Gespräch oder die Fernsehsendung nicht ermöglichen. Anders gesagt: Als eine eigenständige mediale Kommunikationsform betrachtet, vermag der Brief offenbar spezifische Kommunikationserwartungen zu bestätigen oder zu enttäuschen, was die Produktion und Reproduktion einer ganz eigenen Sozialität der Briefkommunikation erlaubt. Mit dem Blick auf das eigenartige ‚Wie‘, mit dem der Brief mediale Kommunikation ermöglicht, wird deutlich, was notwendig wird, wenn wir Briefe schreiben, versenden und empfangen. Informationen sind zu verschriftlichen, d.  h. zu konzentrieren, in materielle Träger einzuschreiben, Adressaten und Adressen sind festzulegen und verlässliche Transporteure für die Briefe zu finden. Es ist weiter darauf zu vertrauen, dass der Brief die jeweiligen Adressaten erreicht und tatsächlich deren Interesse weckt, den Brief zu öffnen und zu lesen. Kurz gesagt: Briefe als mediale Kommunikationsform sind höchst aufwendig zu realisieren und erscheinen daher als ‚unwahrscheinliche‘ Kommunikationsform.

3 Kommunikationsprobleme als „Schwellen der Entmutigung“ Wenn ein solcher Aufwand der brieflichen medialen Kommunikation dauerhaft im gesellschaftlichen Umfang betrieben wird, dann liegt weiter die Annahme nahe, dass diese Kommunikation, über individuelle Bedürfnisbefriedigung oder Motive hinaus, auf Kommunikationsprobleme der sozialen Mitteilung reagiert. Diese Fra-

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

gestellung gerät soziologisch in den Blick, wenn man wie Luhmann Kommunikation als Grundlage von Sozialität ansieht (vgl. Luhmann 1984, 191–192). Kommunikation wird dazu nicht als verständigungsorientiert oder als Austausch von Informationen modelliert, sondern als ein Prozess von aufeinander reagierenden Sinnselektionen verstanden (vgl. Luhmann 1984, 194–201). Sinn versteht Luhmann in diesem Kommunikationsmodell als eine Auswahloperation von aktualisierten Möglichkeiten in einem Horizont des virtuell Möglichen (vgl. Luhmann 1984, 93–97). Sinn kann mithin als Unterscheidungsoperation gelten. Kommunikation als Prozess von Sinnselektionen gliedert sich demzufolge in die Unterscheidung der Information (was wird kommuniziert), der Mitteilung (wie wird kommuniziert) und des Verstehens (warum wird kommuniziert). Sie wird zur Grundlage der Produktion und Reproduktion sozialer Systeme, wenn die Unterscheidungsoperation des Verstehens Ausgangspunkt der Unterscheidung neuer Information wird, die mitgeteilt und verstanden werden kann (vgl. Luhmann 1984, 203–208). Aufgrund der drei notwendig aufeinander bezogenen Sinnselektionen ist Kommunikation voraussetzungsvoll und daher störanfällig. Luhmann identifiziert für den Kommunikationsprozess charakteristische Probleme, die als „Schwellen der Entmutigung“ (1981, 27) die Fortsetzung der Kommunikation unwahrscheinlich erscheinen lassen. Das erste Problem liegt laut Luhmann darin, dass man sich nicht versteht. Als zweites stellt sich das Problem, einander zu erreichen und die Distanz zwischen den Kommunizierenden zu überbrücken. Das dritte Problem sieht er darin, dass der Erfolg, also die soziale Anschlussfähigkeit einer Kommunikation, unwahrscheinlich ist (vgl. Luhmann 1981, 26). Ein Abbruch der Kommunikation würde aber den Fortbestand des jeweiligen sozialen Systems gefährden. Für diese Unwahrscheinlichkeitsprobleme der Kommunikation haben sich laut Luhmann funktional äquivalente soziale Mechanismen herausgebildet, die die Produktion und Reproduktion sozialer Systeme stabilisieren, indem sie Sinn strukturieren. Als eine Antwort auf die oben benannten Unwahrscheinlichkeitsprobleme der Kommunikation konnten sich so Kommunikationsmedien ausprägen, die Luhmann recht allgemein als „sämtliche Einrichtungen bezeichnet, die der Umformung unwahrscheinlicher in wahrscheinlicher Kommunikation dienen“ (Luhmann 1981, 28). So beschreibt er Sprache als „Verstehensmedium“. Die „Verbreitungsmedien“ Schrift und Massenmedien reagieren auf das Distanzproblem und „symbolisch generalisierte Medien“ wie Macht, Liebe, Geld usw. antworten auf das Erfolgsproblem (Luhmann 1981, 28).

2.2 Der Brief als individualmediale Kommunikationsform 

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4 Medien sind anders – Perspektiven der Mediendifferenzierung Dieser problemzentrierte Blick auf Kommunikationsmedien erlaubt es, z.  B. nach den medialen Charakteristika der Briefkommunikation und mehr noch nach ihrer eigenartigen Sozialität zu fragen. Allerdings entwickelt sich Luhmanns Ansatz vor allem von der Verstehensproblematik her. Die Medienthematik wird also in Hinblick auf soziale Anschluss- bzw. Erfolgsprobleme der Kommunikation entwickelt. Das Vorgehen erscheint plausibel, wenn die Fortsetzung und Stabilität sozialer Systeme interessiert. Es rückt aber den grundsätzlichen Beitrag von Medien zur Produktion und Reproduktion der Kommunikation selbst – und das meint die sozialen und technischen Bedingungen der Möglichkeiten von Medien – in den Hintergrund der Beobachtung. Daher soll eine Umstellung der Beobachtungsperspektive der Kommunikation auf ihre grundsätzlichen Kommunikationsprobleme vorgeschlagen werden. So erscheint bereits die Unterscheidung der Information, der Mitteilung und des Verstehens voraussetzungsvoll. Wenn Medien als Problemlösungen im Kommunikationsprozess Verwendung finden, dann ist zu erwarten, dass sie auf das Informations-, das Mitteilungs- und das Verstehensproblem der Kommunikation in je eigenen Ausprägungen bezogen sind (vgl. Thiedeke 2012, 135). Mit dem basalen Problembezug ist daher auch die Differenzierung von Kommunikationsmedien zu beobachten. Für Informationsprobleme konnten sich spezialisierte Unterscheidungsmedien etablieren, die etwa als Zeichen und Bilder Informationen erkennbarer machen. Für die Verstehensprobleme haben sich Verstehensmedien wie die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien entwickelt (vgl. Thiedeke 2012, 142, 145), die konsensuelle Erwartungen darüber generalisieren, wie in sozial unwahrscheinlichen Situationen, etwa, wenn man liebt, zahlt oder herrscht, gehandelt werden soll, und die auf diese Weise das Verstehen komplexer sozialer Beziehungen radikal vereinfachen. Im Zuge der Umstellung der Beobachtungsperspektive soll zudem der Beobachtungsfokus vom Verstehens- bzw. Erfolgsproblem der Kommunikation auf das Mitteilungsproblem verschoben werden. Die Beobachtung der Mitteilung der Kommunikation bringt die unterschiedlichen Handlungen, Akteure, Organisationen, Artefakte und Techniken in den Blick, die medial genutzt werden, um die Aufmerksamkeit auf eben diese Mitteilungen zu fokussieren (vgl. Thiedeke 2012, 150–151). Die Beobachtung der Mitteilungsproblematik und der darauf reagierenden Aufmerksamkeitsmedien, die im Kommunikationsprozess dazu dienen, Aufmerksamkeit auf die Mitteilung zu fokussieren (vgl. Thiedeke 2012, 152), erlaubt es demzufolge ebenso, Mitteilungsprozesse und ihre Techniken im Kommuni-

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

kationsprozess zu unterscheiden, wie sie es erlaubt, danach zu fragen, welche mediale Sozialität sich dabei ausformt (vgl. Thiedeke 2012, 147–149).

5 Medienformen und -erwartungen Zunächst ist hierzu festzustellen, wie Kommunikationsmedien operieren, so dass sie sich von anderen Problemlösungen abgrenzen und neben diesen Bestand haben können. Kommunikationsmedien ermöglichen im Prozess der Kommunikation die Strukturierung von Sinn, indem sie im Vorgang der Vermittlung eine eingeschränkte Form an Unterscheidungsmöglichkeiten erzeugen. Es ist etwas anderes, wenn ich meine Gefühle in einem Brief schreibe, als wenn ich sie in der Zeitung drucke, obwohl inhaltlich zunächst kein Unterschied zu erkennen sein mag. Im einen Fall wird die mediale Form eine Kommunikation der Geschlossenheit erlauben, im anderen Fall eine Kommunikation der Öffnung. Medien sind somit in der Lage, Kommunikationsformen auszuprägen, die die Kommunikation sinnhaft konditionieren (vgl. Thiedeke 2012, 148–149). Medien erzeugen einschränkende Möglichkeiten, weil sie sachliche, soziale, zeitliche und räumliche Sinngrenzen moderieren. Sie erhöhen so die Wahrscheinlichkeit, die Erreichbarkeit mit Mitteilungen in einer spezifischen und wiederholbaren Weise und nicht etwa beliebig oder durch ständiges Probieren herzustellen. Die Besonderheit der Operationsweise von Kommunikationsmedien erschöpft sich aber nicht alleine darin, Sinnelemente aus einem Horizont des möglichen Sinns zu koppeln und auf diese Weise Formen zu bilden, wobei sich die Medien selbst kaum verändern (vgl. Thiedeke 2012, 130–131). Darüber hinaus fällt auf, dass Medien die Formbildung nur dann operativ leisten können, wenn charakteristische Sets an kausalen Regeln beachtet werden, um mit medialen Artefakten und der medialen Kommunikation umzugehen. Man muss die konsekutive Lautbildung erlernt haben, um im Medium Sprache zu kommunizieren, man muss auf etwas oder in etwas schreiben können, um mit der Schrift zu kommunizieren, eine Zeitung muss aufgeschlagen, ein Buch umgeblättert und richtig gehalten werden, man muss Computer hochfahren usw. Kommunikationsmedien operieren demnach technisch (vgl. Thiedeke 2012, 124–126), wenn sie den Sinn einer medialen Kommunikation strukturieren, indem sie charakteristische mediale Kommunikationsformen ausbilden, die sozial wirksam werden. Soziologisch sollen Medien daher verstanden werden als soziotechnische Mechanismen, die Kommunikation wahrscheinlicher machen, indem sie die Strukturierung von Sinn konditionieren (vgl. Thiedeke 2012, 145).

2.2 Der Brief als individualmediale Kommunikationsform 

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Im Umgang mit den medialen Kommunikationsformen entwickeln wir deshalb sozio-technische Erwartungen. Ihre soziale Dimension wird für uns etwa darin greifbar, dass wir fragen: Wie kann ich die anderen erreichen, wie werden sie meine Kommunikation bewerten, wenn ich diese mediale Form nutze, welche sozialen Beziehungen entstehen? Ihre technische Dimension konkretisiert sich darin, dass wir z.  B. fragen: Was muss ich wie tun, damit ich in diesem Medium kommunizieren kann, welche Reihenfolgen der Abläufe sind dabei einzuhalten, welche Apparate muss ich bedienen, was ist ihre Funktionscharakteristik usw.? Bei medialer Kommunikation bilden sich demzufolge charakteristische Sets an Erwartungen aus, die sich auf soziale Kommunikations- und technische Operationsmöglichkeiten des Mediums beziehen. Werden diese dauerhaft bestätigt und sozial akzeptiert, d.  h. von anderen geteilt, dann etablieren sie sich als Normalitätserwartungen (vgl. Thiedeke 2012, 149). Diese sind wiederum charakteristisch für die jeweilige Form der medialen Kommunikation. Zumeist werden wir auf sie erst dann aufmerksam, wenn wir ihre Grenzen überschreiten und damit ihre Akzeptanz irritieren, etwa, wenn man behauptet, man korrespondiere per Brief mit der Bevölkerung Deutschlands oder man führe eine vertrauliche Unterhaltung, indem man Videos auf YouTube poste.

6 Geteilte Aufmerksamkeit – die Differenzierung der Aufmerksamkeitsmedien Die Beispiele verweisen bereits darauf, dass sich eine solche Normalität bestätigter sozio-technischer Erwartungen auch für die oben hervorgehobenen Aufmerksamkeitsmedien ausprägt und dass unterschiedliche Aufmerksamkeitsmedien existieren, die unterschiedliche Erwartungen bestätigen. Das wiederum deutet auf unterschiedliche Detailprobleme der medialen Aufmerksamkeitsfokussierung hin (vgl. Thiedeke 2012, 155–158). So können wir heute Aufmerksamkeitsmedien mit ihren medialen Kommunikationsformen beobachten, die auf das Problem reagieren, die Aufmerksamkeit von unmittelbar adressierbaren anderen auf die Mitteilung von individuellen Kognitionen zu konzentrieren (vgl. Thiedeke 2012, 159–161). Es gibt aber auch Aufmerksamkeitsmedien, die Formen bilden, mit denen es medial möglich ist, die Aufmerksamkeit von potentiell allen, die sich ansprechen lassen, gleichzeitig und überall auf Mitteilungen zu fokussieren (vgl. Thiedeke 2012, 193–208). Und es sind Aufmerksamkeitsmedien aufgetreten, die mit ihren medialen Kommunikationsformen die Gestaltung und Steuerung der medialen Bedingungen der Aufmerksamkeit für Mitteilung lenken (vgl. Thiedeke 2012, 251–265).

194 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Es konnten sich daher für das Mitteilungsproblem der unmittelbaren Adressierung von Mitteilungen durch die einzelnen Kommunikationsteilnehmer Individualmedien wie Gestik, Mimik, Sprache und Schrift etablieren. Das Mitteilungsproblem, das darin besteht, möglichst alle zur gleichen Zeit zuverlässig und wiederholbar mit Mitteilungen zu erreichen, hat die Ausprägung des Typs der Massenmedien (Buch-Druck, Radio, Fernsehen) begünstigt. Das Mitteilungsproblem, die Bedingungen der Mitteilungen an einzelne und/oder alle selbst zu steuern und zu gestalten, hat schließlich den Typ der computerbasierten kybernetischen Interaktionsmedien (Computer, Computernetze) als Aufmerksamkeitsmedien entstehen lassen. Die Differenzierung der Aufmerksamkeitsmedien, die aufeinander aufbauen und je nach ihren sozio-technischen Kommunikationsbedingungen parallel genutzt werden, stellt sich demzufolge wie folgt dar. [Tabelle 1] Tab. 1 Differenzierung der Aufmerksamkeitsmedien Aufmerksamkeitsmedien

Individualmedien (Gestik/Mimik, Sprache, Hand-Schrift…)

Massenmedien (Buch-Druck, Kino, Radio, Fernsehen…)

kybernetische Interaktionsmedien (Computer, Computernetze…)

Medienformen

das Gestikulierte das Gesprochene das Geschriebene…

das Gedruckte das Verbreitete das Gesendete…

das Berechnete das Programmierte das Vernetzte…

Normalitätserwartungen

umgrenzte Anzahl anderer unmittelbar erreichen

alle anderen mittelbar erreichen

die Bedingungen der Mitteilung steuern

Mediale ­Sozialität

exklusives kollektives Gedächtnis

inklusive Öffentlichkeit

entgrenzter Cyberspace

7 Der Brief als individualmediale Kommunikationsform Angesichts dieser mediensoziologischen Modellierung erscheint der Brief als die mediale Kommunikationsform eines Individualmediums, auf die sich spezifische sozio-technische Erwartungen richten. So eröffnet der Brief Möglichkeiten, uns in ihm auf eine sehr eigene Weise mitzuteilen und so ein Miteinandersein zu entfalten, in dem wir anders aufeinander bezogen sind, als wenn wir in Kommunikationsformen der Massenmedien (Bücher, Periodika, Sendungen) oder

2.2 Der Brief als individualmediale Kommunikationsform 

 195

kybernetischen Interaktionsmedien (Soziale Medien, Chats, Blogs, Spielewelten) miteinander in Kontakt treten. Wie schon angedeutet, fällt für den Brief auf, dass er sich in der Regel an einzelne Adressaten oder benennbare Gruppen richtet, wenn er versendet und empfangen wird. Sicherlich kann man Briefe ‚für die Schublade‘ produzieren, und diese sind evtl. von ihrem Inhalt und ihrer formalen Struktur her als Briefe erkennbar  – wenn sie denn gefunden werden. Sie irritieren dann allerdings gerade als nicht abgesendete Briefe die Erwartungen an die individualmediale Kommunikation mittels Briefen. Wir, die wir mit Briefen umgehen, sie versenden und empfangen, gehen zudem wohl spätestens seit dem 18.  Jahrhundert (vgl. Anderegg 2001) davon aus, dass wir Briefe ‚schreiben‘ und ‚lesen‘. Hierzu kann man medienevolutionär mit dem Problembezug individualmedialer Kommunikation argumentieren. Das Problem ist dann darin zu sehen, eigene Kognitionen, das, was man selbst zunächst nur für sich denkt, anderen äußern und nachvollziehbar mitteilen zu können (vgl. Thiedeke 2012, 159). Mitteilungen, die es ermöglichen, angebbaren anderen die individuellen Gedanken gezielt zu äußern, erlauben es nicht nur, sich eindeutig aufeinander und auf das, was gemeint sein könnte, zu beziehen, sie formen die Kommunizierenden auch zu einer Gemeinschaft exklusiven sozialen Wissens (vgl. Thiedeke 2012, 184–185). Diese Vergemeinschaftungsmöglichkeiten sind grundsätzlich bereits mit Individualmedien wie Gestik und Mimik gegeben. Mit der Sprache als System strukturierter Zeichenverwendung, in das gestikulierte Mitteilungen eingehen und dann zu Lautgesten werden (vgl. Mead und Morris 1974, 61–63), wächst diese Kapazität durch Bestätigung der Erwartungen, andere gezielt ansprechen zu können, allerdings sprunghaft an. Sprache ist zudem voraussetzungsreicher in der medialen Handhabung, sowohl was die zu erlernende Sprechtechnik, als auch was die soziale Verwendung und die Reflexionsmöglichkeiten des Sagbaren anbelangt. Obwohl Sprache es uns erleichtert, eine Sozialität der unmittelbaren Gemeinschaftlichkeit zu produzieren und zu reproduzieren, gibt es dennoch Grenzen hinsichtlich der Reichweite sprachlicher Mitteilungen (vgl. Mead und Morris 1974, 187). Ein Problem, das man nur bedingt durch ‚Weitererzählen‘ lösen kann, will man nicht die Erwartung aufgeben, die Sprache als Medium gerade bestätigt hatte: die anderen unvermittelt und unmittelbar am eigenen Denken und Fühlen teilhaben zu lassen. Diese Erwartungen werden besonders prekär, wenn diejenigen, die uns vielleicht etwas Wichtiges zu sagen gehabt hätten, für immer gegangen sind. – Hier bleibt nur noch der Versuch, auf sprachliche Mnemotechniken zurückzugreifen oder auf ein Tradieren der mündlichen Weitergabe wichtiger Erinnerungen zu

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

setzen (vgl. Ong 1987, 61–71). Aufgrund der Flüchtigkeit und Interpretierbarkeit des Gesagten stellt beides allerdings wenig redundante Lösungen dar. Diese Erwartungsirritation der Verlässlichkeit der Ansprache anderer kann als Ausdruck einer ‚medienevolutionären Schwelle‘ gedeutet werden, in deren Folge mit dem Festhalten von Gedanken, Eindrücken und Erlebnissen in rhythmischen Strukturen experimentiert wurde, aber auch mit dem Festhalten in Zeichen und Bildern, die man an diese Eindrücke semantisch koppelt und auf materielle Träger überträgt (vgl. Thiedeke 2012, 170–171). Das Einschreiben graphischer Zeichen, die als Grapheme auf Gemeintes verweisen, oder von Lautzeichen, die als Phoneme das festhalten, was man hören kann, in Trägermaterialien, d.  h. mit dem Übergang zur piktographischen oder phonetischen Schrift, macht Erwartungen möglich, dass das Gesagte in die Form des Geschriebenen wechseln kann und sich so von den anwesenden Sprechenden ablöst. Technisch beziehen sich diese Erwartungen auf die Operationen des Einschreibens und Auslesens. Sozial beziehen sie sich darauf, andere, entfernte Kommunikationsteilnehmer mit den eigenen, mitgeteilten Gedankengängen mittelbar, d.  h. überörtlich und überzeitlich erreichen zu können. Was zugleich aber auch bedeutet, sicherstellen zu müssen, dass sich deren Aufmerksamkeit auf das Geschriebene fokussiert (vgl. Thiedeke 2012, 176). Für die Schreibenden wie für die Lesenden stellt sich demzufolge ein Adressierungsproblem. Man muss jetzt sicherstellen, dass die eigenen schriftlichen Mitteilungen von den Richtigen erhalten und wahrgenommen werden, obwohl man selbst dabei gar nicht anwesend ist. Und man kann versuchen, dieses Problem im Stil der sprachlichen Kommunikation zu lösen, indem man den Textmitteilungen Überbringer – Boten – mitgibt, die einen Teil der Mitteilung als „Botschaft“ erzählen (Fontius 1988, 270–271). Das hat dann aber zur Folge, dass für eine Kommunikation der Aufwand zweier medialer Kommunikationsformen zu betreiben ist und die Mittelbarkeit schriftlicher Kommunikation konterkariert wird, wonach die geschriebene Botschaft für sich selbst spricht und sich selbst sendet. Die Potentialität des Mediums Schrift lässt im Laufe ihrer Verwendung somit die soziale Erwartung, dass man schreiben sollte, wenn man Mitteilungen an andere versenden will, zur zentralen Erwartung entfernter Kommunikation werden und sie macht die Ausprägung eines botenunabhängigen Versendesystems – einer Post – wahrscheinlicher (vgl. Fontius 1988, 269).

2.2 Der Brief als individualmediale Kommunikationsform 

 197

8 Individualmediale Kommunikation mit Briefen Das Medium Schrift erzeugt eine Kommunikationsform der von den Sprechern abgelösten Mitteilung, die transportabel ist. Will man es nicht ins Belieben stellen, wer die Mitteilung letztlich liest, so muss die Mitteilung adressiert werden. Der Brief als eine solche Kommunikationsform ist demzufolge in der Regel ein direkt adressiertes Geschriebenes, das über raumzeitliche Distanzen hinweg Schreiber und Leser verbindet und so die Kommunizierenden aufeinander bezieht. Briefe haben Absender und Adressaten. Sie sind individuell an jemanden gerichtet, was während des Transports, aber auch nach dem Empfang sichergestellt werden muss. Diejenigen, die den Transport besorgen, sind in der Regel nicht die Empfänger des Briefes, müssen aber dennoch die Adressaten finden und die Briefsendung überbringen können. Die Adressierung bleibt beim Brief aber nicht nur auf das Äußere, etwa auf eine Transportanweisung oder Adresse beschränkt. Die mediale Kommunikationsform des Briefes bringt auch die Mitteilung selbst in die Form einer adressierten Fernbeziehung. Und so setzt sich die Adressierung im Innern des Briefes fort. Der Brieftext wird über Anreden und Gruß- sowie Schlussformeln, aber auch dem Duktus nach zur Tele-Form einer unmittelbaren Anrede des Empfängers. Der Brief erlaubt es, die anzusprechen, die abwesend sind. Es erfordert von den Schreibern und Versendern der Briefe daher eine geradezu prognostische Weitsicht, um die Situation der Empfänger des Briefes einzuschätzen. Darauf ist in der Art und Weise zu reagieren, wann, wie und wo der Brief versendet oder hinterlegt wird und wie er zu verfassen ist, um sicherzustellen, dass er bei den Empfängern im Sinne des Mitgeteilten ‚ankommt‘. Es verwundert daher nicht, dass sich diese Herausforderung zur Kunstform steigern lässt (vgl. Adams 1993). Weit mehr als das Gestikulieren oder das Gespräch, die sich ad hoc von Änderungen irritieren lassen und darauf reagieren können, erfordert briefliche Kommunikation sowohl von Absendern als auch von den Empfängern reflexive Beobachtung. Die Absender müssen den Brief quasi als Mitteilung erfassen, die sie auch mit den Augen der Empfänger sehen, und dabei die situativen Gegebenheiten des Empfangs antizipieren. Selbst amtliche Schreiben oder Werbebriefe versuchen, die Begrenzungen ihrer Antizipationsmöglichkeiten, die der Formalisierung oder dem Verkaufsinteresse geschuldet sind, dadurch zu minimieren, dass sie die Situation des Empfangens durch entsprechende Gestaltung des Briefes oder Terminierung des Versands kontrollieren (für Werbebriefe vgl. z.  B. Philipp 2015, Online). Ähnliches gilt für den Empfänger des Briefes, der im Brief – und zunächst nur im Brief – gleichsam den Verfasser und Absender des Briefs beobachten muss, um an die briefliche Kommunikation anschließen zu können.

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Der Brief macht uns also zu Beobachtern zweiter Ordnung (vgl. Luhmann 1995, 150/151). Wir sind gezwungen zu beobachten, wie ein anderer Beobachter in der Situation des Versendens oder Empfangens beobachtet. Das meint, die mediale Kommunikation mittels Briefen bringt uns als Beobachter auf ein höheres Abstraktionsniveau, und das wird auch darin deutlich, dass uns der Brief als mediale Kommunikationsform selbst mitformt. Er bringt uns in die Form der Versender oder Empfänger von Briefen, macht aus uns Briefeschreiber oder -leser, Autoren oder Rezipienten. Die individualmediale Form der Briefkommunikation lässt Erwartungen sozialer Nähe trotz Distanz zu und bestätigt diese durch die hier mögliche mediale Kommunikation und deren Verlauf. Zu den akzeptierten und geteilten Normalitätserwartungen der Briefkommunikation gehört die Erwartung einer gemeinschaftlichen Sozialität. Diese Sozialität weist beim Brief eine hohe Intimität auf, was neben der unmittelbaren Adressierung auch in der Exklusivität des Inhaltes zum Ausdruck kommt, den eben nur die dafür Bestimmten miteinander teilen sollen. Die gemeinschaftliche Sozialität beruht demzufolge auf einem Wissen, das nur ‚im kleinsten Kreis‘ geteilt werden soll. Briefe gibt man nicht selbstverständlich zum Lesen an Nicht-Adressaten weiter, denn an diese sind sie nicht gerichtet. Wird die Exklusivität der Briefgemeinschaft dennoch geöffnet, so kann gerade das einen besonderen Vertrauensbeweis oder -bruch markieren, d.  h. eine Zäsur im Feld der Erwartungen des Miteinanders. Das Hereinschauenlassen von anderen in einen persönlich erhaltenen Brief oder einen Brief, der gerade erst für jemanden geschrieben wird, ist so gesehen eine Erwartungsirritation der sozialen Normalität der Briefkommunikation. Diese Irritation muss aber nicht in jedem Fall ausgeräumt werden. Man kann sie z.  B. systematisch antizipieren, wenn etwa eine Briefzensur regelmäßig stattfindet, und dann mehr oder weniger verdeckt im Brief mitkommunizieren (vgl. Fontius 1988, 272) – ein Versuch, im Verweis auf den Bruch die Normalität der Exklusivität zu rekonstruieren. Man kann sie auch nutzen, um gerade die Bedeutung eines persönlichen Anliegens für diejenigen zu markieren, die nicht zur exklusiven Gemeinschaft der Korrespondierenden gehören. Das gilt bereits, wenn Briefeschreiber Mitleser in die Geheimnisse eines Briefes einweihen. Es gilt erst recht, wenn dieses Mitlesen anderer bereits beim Schreiben von Briefen strategisch unterstellt wird, etwa, wenn Schriftsteller in ihren Briefen Anliegen von ‚allgemeinem Interesse‘ verhandeln und dabei auf deren Veröffentlichung spekulieren – wir denken etwa an die „Olympier“ Goethe und Schiller (vgl. Oellers 1997, 474–484). Das Auszeichnen der Irritation als Anliegen wird noch deutlicher, wenn der Bruch des Briefgeheimnisses öffentlich beobachtbar gemacht wird. Bei offenen oder öffentlichen Briefen verschiebt sich die unmittelbare individuelle Adressierung ins Allgemeine oder wird bewusst missachtet, indem ein Brief mit persönli-

2.2 Der Brief als individualmediale Kommunikationsform 

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cher Anrede z.  B. in einem Massenmedium wie einer Zeitung abgedruckt und somit für beliebige Empfänger geöffnet wird (vgl. Essig 2000). Die für die Briefeschreiber offenkundig reduzierte Kontrolle über die Beobachtung zweiter Ordnung markiert ebenso die Bedeutsamkeit, wie sie Fragen nach der Reichweite oder Gerichtetheit des Briefes aufkommen lässt. So wie der Sinn dieses Vorgehens wohl gerade im Bruch der Intimität der Briefkommunikation liegt, so sehr wird dadurch auch die Normalität der Briefkommunikation ex negativo bestätigt. Briefe sind etwas für die, an die sie gerichtet werden, für die, die es angeht und die darum wissen. Das Beispiel verdeutlicht schließlich auch die Spezifik der medialen Briefkommunikation oder anders gesagt, es verdeutlicht, warum wir erwarten, einen Brief zu schreiben und zu versenden, aber keinen Zeitungsartikel zu veröffentlichen oder zu chatten. In Hinblick auf die Mediendifferenzierung bedeutet das: Der Brief als individualmediale Kommunikationsform kann nicht einfach in die Kommunikation eines anderen Aufmerksamkeitsmediums überführt werden, ohne die mediale Erwartungscharakteristik ‚gegen den Strich zu bürsten‘.

9 Erwartungsgrenzen: Ein Brief ist keine E-Mail! Offene, massenmedial kommunizierte Briefe machen deutlich, dass hier die Intimität der exklusiven Wissensgemeinschaft, die der direkt adressierte und versendete Brief herstellen kann, aufgehoben und durch die Erwartung der Öffnung und Allgemeinzugänglichkeit einer für alle inklusiven Öffentlichkeit ersetzt wird. Man kann das neben den offenen Briefen z.  B. auch dort beobachten, wo Briefe von oder an Personen des öffentlichen Lebens (Politiker, Schriftsteller, Stars) massenmedial veröffentlicht werden. Der Brief und die Briefschreiber sowie -leser werden dabei exemplarisch. Sie geben ein öffentlich diskutier- und bewertbares Beispiel ab für eine persönliche intime Beziehung oder für die Betroffenheit eines individuellen Schicksals, die individuelle Reaktion auf eine unmittelbare Ansprache oder Störung usw. Damit wird der Brief und alles, was damit zusammenhängt, für uns zum Fall. Diese Argumentation zur medialen Transformation der Erwartungscharakteristik des Briefes und der Briefkommunikation mag am Beispiel des Massenmediums noch gut nachvollziehbar sein. Wie aber verhält es sich mit dem elektronischen Brief, der sogenannten E-Mail, die durch die kybernetischen Interaktionsmedien als Form eines Aufmerksamkeitsmediums möglich geworden ist (vgl. Thiedeke 2012, 258–259)? Wird die E-Mail nicht ebenso persönlich adressiert, versendet und empfangen? – Wer etwa sein übervolles E-Mail-Postfach öffnet, das vor ‚ungeöffneten‘ Mails überquillt, meint zu wissen, wovon die Rede ist.

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Dies ist allerdings eine höchst vordergründige Analogie. Wir müssten bereits hinsichtlich unserer Exklusivitäts- und Intimitätserwartung unsicher werden, wenn wir uns bewusst wären, dass trotz aller Passwörter und Mailadressen die E-Mail in der Regel wie eine Postkarte und nicht wie ein Brief versendet und beim Versand über verschiedene Vermittlungsrechner (Server) auch noch jeweils kopiert wird. Damit nicht genug. Die E-Mail erlaubt sozusagen, den gleichen Brief gleichzeitig an einen individuellen Kommunikationspartner und an viele andere  – etwa die Mitglieder einer Mailingliste  – zu versenden. Hier wird die paradoxe Erwartung an kybernetische Interaktionsmedien sichtbar, massenhaft individuell kommunizieren zu können. Die E-Mail irritiert aber auch die zeitlichen Erwartungen der Briefkommunikation. Sie kann ad hoc versendet und empfangen sowie beantwortet werden, erinnert dann in ihrer Kommunikationscharakteristik eher an die Wechselrede eines Gesprächs als an die schriftliche Briefkommunikation, die gerade auf ihrer ausgeprägten Asynchronität beruht. Die E-Mail forciert daher Erwartungen der spontanen Beantwortung und diese Spontaneitätsmöglichkeit schlägt sich nicht nur in Bitten um sofortige ‚Lesebestätigung‘, sondern auch im informelleren und dialogischen Stil der E-Mails nieder (vgl. Linke 2000, 73; Pansegrau 1997, 95–103.), die schneller geschrieben und nicht selten mit spontanen emotionalen Gesten in Form von Emotionssymbolen (Emoticons) angereichert werden :). Gleichzeitig, und hier wird wiederum ein Paradoxon sichtbar, wird die E-Mail gespeichert und kann dadurch beliebig kopiert werden, sie stellt also die Spontaneität auf Dauer. Zu den erwartbaren Kommunikationsmöglichkeiten der E-Mail gehört zudem ihre Multimedialität. Der ‚elektronische Brief‘ ist nicht abgeschlossen, technisch nicht und sachlich nicht. Es bleibt immer ein ‚Text ohne Unterlage‘, der nicht in einen materiellen Träger, sondern in das Interface eines kybernetischen Interaktionsmediums geschrieben wird. Je nachdem, wie dieses Interface programmiert ist und von uns im Gebrauch verzerrt und geformt werden kann, wird die Mail zum verlinkten Hypertext, zum Zugangstor zu anderen Texten oder sie führt gar selbst Audio- und Videodateien, andere Text- und Tabellendokumente oder Bilder mit, die sich bei Berührung entfalten. Wofür man beim geschriebenen Brief noch der Imagination oder umfänglicher Begleitpäckchen bedurfte, das öffnet sich hier direkt vor unseren Augen und Ohren und bleibt doch immer immateriell – hier wird das Versendete nicht verschickt. Hinsichtlich der sozialen Erwartungen bleibt bezüglich der Erwartungsgrenze von Brief und E-Mail festzuhalten: Wir würden wohl neben all den E-Mails und smarten Notifications, die wir uns tagtäglich senden, keine Briefe mehr schreiben, wenn es auf deren andere mediale Erwartungskonnotationen für uns nicht mehr ankäme.

2.2 Der Brief als individualmediale Kommunikationsform 

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10 Abgeschickt: Der Brief aus medien­ soziologischer Perspektive Mediensoziologisch erscheint der Brief als Kommunikationsform eines spezifischen Aufmerksamkeitsmediums (Individualmedium). Aufmerksamkeitsmedien konnten sich im Verlauf der Medienevolution ausprägen und stabilisieren, weil sie als eine sozio-technische Problemlösung für das Problem, Aufmerksamkeit auf Mitteilungen der Kommunikation zu fokussieren, Verwendung finden konnten. Der Brief erweist sich dabei als Form einer in der Regel hand- oder maschinenschriftlich verfassten, individuell adressierten, versendeten und empfangenen individualmedialen Kommunikation. Wer einen Brief schreibt, wendet sich mit dem, was er mitteilen will, an jemand Bestimmten und schließt damit andere von dieser Kommunikation aus. Der Empfänger des Briefes wiederum weiß, dass er mit dieser Mitteilung unmittelbar gemeint ist. Die individualmediale Kommunikationsform Brief bestätigt daher charakteristische sozio-technische Kommunikationserwartungen, die den Brief von anderen Medien und Medienformen unterscheiden. Charakteristisch sind Operationsbedingungen, bei denen technisch erwartet wird, dass man die Mitteilung in Träger einschreiben muss, die transportabel, also versendefähig sind. Es sind zudem Erwartungen zu bestätigen, dass ein Transport zum Empfänger stattfindet, der möglichst ungestört von Fremdeinwirkungen verläuft, und dass dieser den Brief auch erhalten und als an sich gerichtet wahrnehmen kann. Damit sind soziale Erwartungen verbunden, Abwesende individuell und unmittelbar ansprechen und mit ihnen in eine Kommunikation eintreten zu können, wobei sich eine exklusive, intime Wissensgemeinschaft zwischen Sendern und Empfängern ausbildet. Zugleich werden die Kommunizierenden in die Form von Briefeschreibenden und -lesenden gebracht, was ein abstraktes Beobachtungsvermögen der entfernten Kommunikationspartner und eventueller Mitleser erfordert. Mit dem Brief als Kommunikationsform werden somit Beobachtungen zweiter Ordnung, bei denen sich die Kommunizierenden als Beobachter des Briefeschreibens, -versendens und -empfangens sowie -lesens selbst beobachten, zur Normalität der Kommunikation. Anmerkung: Der besseren Lesbarkeit wegen wird im Beitrag das generische Maskulinum verwendet. Im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit soll damit keine Geschlechtsperspektive bevorzugt oder ausgegrenzt werden.

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Zitierte Literatur Adams, Ann Jensen (1993). „‚Der sprechende Brief‘. Kunst des Lesens, Kunst des Schreibens, Schriftkunde und schoonschrijft in den Niederlanden im 17. Jahrhundert“, in: Leselust. Niederländische Malerei von Rembrandt bis Vermeer. Hg. v. Sabine Schultz. Frankfurt a. M.: 69–92. Anderegg, Johannes (2001). Schreibe mir oft! Zum Medium Brief zwischen 1750 und 1830. Göttingen. Bohnenkamp, Anne u. Waltraud Wiethölter (Hg.) (2008). Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 11.9. bis 16.11.2008. Frankfurt a. M. u. Basel. Essig, Rolf-Bernhard (2000). Der offene Brief. Geschichte und Funktion einer publizistischen Form von Isokrates bis Günter Grass. Würzburg. Fontius, Martin (1988). „Post und Brief“, in: Materialität der Kommunikation. Hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M.: 267–279. Linke, Angelika (2000). „Informalisierung? Ent-Distanzierung? Familiarisierung? Sprach(gebrauchs)wandel als Indikator soziokultureller Entwicklungen“, in: Der Deutschunterricht, 52.3: 66–77. Luhmann, Niklas (1981). „Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation“, in: Ders. Soziologische Aufklärung 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen: 25–34. Luhmann, Niklas (1984). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. Luhmann, Niklas (1992). Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. Luhmann, Niklas (1995). Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. Mead, George Herbert u. Charles William Morris (1974). Mind, Self, and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist. Chicago. Oellers, Norbert (1997). „Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe“, in: GoetheHandbuch in vier Bänden. Bd. 3. Prosaschriften. Hg. v. Bernd Witte, Theo Buck, HansDietrich Dahnke, Regine Otto u. Peter Schmidt. Stuttgart u. Weimar: 474–484. Ong, Walter (1987). Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen. Pansegrau, Petra (1997). „Dialogizität und Degrammatikalisierung in E-mails“, in: Sprachwandel durch Computer. Hg. v. Rüdiger Weingarten. Opladen: 86–104. Philipp, Sabine (2015). Papierpost lockt mit Mehrwert; https://www.mittelstandswiki.de/ wissen/Werbebriefe (1.2.2019). Thiedeke, Udo (2012). Soziologie der Kommunikationsmedien. Medien – Formen – Erwartungen. Wiesbaden.

Online-Quellen Universal Postal Union (UPU) (o.J.): Statistischer Service, Abfrage: „Anzahl der Briefsendungen/ Industrienationen“, Juli 2019; http://www.upu.int/en/resources/postal-statistics/querythe-database.html (31.7.2019).

Robert Vellusig

2.3 Literarische Anthropologie und Brief 1 Literarische Anthropologie – Anthropologie der Literatur ‚Literarische Anthropologie‘ ist ein schillerndes Etikett. Es markiert zumindest zwei, im Einzelnen durchaus divergierende Forschungsrichtungen. Zum einen bezeichnet es ein literaturwissenschaftliches Projekt, das das literarisch gestaltete und in der Literatur verhandelte Wissen vom Menschen diskursgeschichtlich rekonstruiert. Dem breiten Spektrum der einschlägigen Arbeiten gemeinsam ist die kulturanthropologische Annahme einer radikalen Historizität des Menschen, die sich mit der kulturpoetischen Frage verbindet, wie Wissen kulturell inszeniert und repräsentiert wird (vgl. Assmann 2004, 9–11; Riedel 2004; Neumeyer 2008, 117–127). Zum anderen verweist der Begriff auf ein dezidiert anthropologisches Forschungsinteresse. Als Anthropologie der Literatur setzt dieses den kulturwissenschaftlichen Fragen nach den wirkungsmächtigen historischen Vollzugsformen der menschlichen Selbstdeutung die Frage nach den anthropologischen Bedingungen der kulturellen Traditionsbildung entgegen. Auch dieses Forschungsfeld ist vielgestaltig: Es reicht von einer der philosophischen Anthropologie nahestehenden Literaturtheorie rezeptionsästhetischer Provenienz (vgl. Iser 1991) über die kognitionspsychologisch fundierte Rekonstruktion literarischer Wirkungsmechanismen (vgl. Anz 2007) bis hin zu einer evolutionären Literaturtheorie nach neodarwinistischen Standards (vgl. Eibl 2004, 2016; Mellmann 2015, 105–113).

2 Literarische Anthropologie I: Körperströme und Schriftverkehr Bedeutende Impulse für die Briefforschung gingen vor allem von der literarischen Anthropologie im Sinne einer diskursanalytisch inspirierten Kultursemiotik aus. Wegweisend war hier Albrecht Koschorkes umfassende Mediologie des 18. Jahrhunderts (Koschorke 22003; vgl. Stauf et al. 2008, 5; Schönborn und Viehöver 2009, 11–12), deren für die Geschichte des Briefes einschlägige Überlegungen unter dem Titel „Alphabetisation und Empfindsamkeit“ (Koschorke 1994) vorab schon in dem Sammelband über Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert https://doi.org/10.1515/9783110376531-012

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

erschienen waren. Das 18. Jahrhundert steht für die literarische Anthropologie deshalb im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil hier die von den Zeitgenossen als anthropologisch ausgewiesene Frage nach der Wechselwirkung von Leib und Seele verhandelt wird und weil sich dabei ein Bild des Menschen etabliert, das dessen physisch-psychische Doppelexistenz als komplexe Einheit zu denken versucht (vgl. Košenina 2008, 7–22). Koschorkes Mediologie des 18.  Jahrhunderts beruft sich auf Michel Foucaults Diktum, dass die Humanwissenschaften „das in ihnen verhandelte Wissen nicht vorfinden, sondern erzeugen“ (Koschorke 22003, 10); sie geht zugleich aber über Foucault hinaus, insofern sie die „Sphäre der Pragmatik“ betritt und die medial geprägte „Performativität des Zeichenverkehrs“ in den Blick nimmt (Koschorke 2 2003, 12). Körperströme und Schriftverkehr widmet sich dem Prozess der kulturellen Semiose, in dessen Verlauf der ‚ganze Mensch‘ erfunden wird; es setzt den kulturell verhandelten Körper (und das Bild des Menschen) in ein Verhältnis zur Praxis schriftlicher Kommunikation. Der kulturgeschichtliche Befund lautet: In dem Maße, in dem die Körpersäfte versiegen, schwillt der Schriftverkehr an; die Austrocknung der physiologischen Ströme wird durch „Seelenströme“ sublimiert, die sich aufs Papier ergießen und zum Ausweis eines reichen Gefühlslebens werden (vgl. Koschorke 22003, 211–218). Der zuvor humoralpathologisch gedachte Mensch wird zum „kommunikativ anschlußfähigen ‚inneren‘ Menschen“ (Koschorke 2 2003, 12) umgebaut, der sich dazu eignet, anderen Menschen in schriftlicher Distanzkommunikation zu begegnen. Menschen brauchen Seelen, damit sie einander schreiben können – und umgekehrt: „Schriftlichkeit ist ein kommunikationstechnisches Korrelat des diskursiven Phänomens ‚Seele‘.“ (Koschorke 22003, 196) Schriftliche Kommunikation ist Kommunikation unter Abwesenden. Die Substitutionslogik, die der empfindsame Briefverkehr entwickelt, besteht Koschorke zufolge in der medialen Privation des realen Körpers und seiner sowohl diskursiven als auch phantasmatischen Restitution. Schrift operiert interaktionsfrei; an die Stelle des körperlichen Umgangs tritt dessen literale Simulation: „Die Substitutionsakte leisten eine doppelte Arbeit, insofern sie einerseits eine äußere Realität unterbrechen und andererseits, genau über diese Zäsur, Phantasmen der Nachahmung, sekundäre Realitäten herstellen. Der Prozeß der empfindsamen Verschriftlichung macht diese substitutive Struktur allgegenwärtig.“ (Koschorke 2 2003, 206) Diese mediale Herstellung sekundärer Realitäten ist auf die Einbildungskraft angewiesen. Koschorke arbeitet ihre zentrale semiologische Stellung im Diskurs der Empfindsamkeit und in der zeitgenössischen Briefkultur heraus (vgl. Koschorke 22003, Kap. IV–VI): Die Einbildungskraft erlaubt es, die in der medialen Distanzkommunikation ‚abgeschnittenen‘ Körper in Gestalt „halluzinogener

2.3 Literarische Anthropologie und Brief 

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Präsenztäuschungen“ (Koschorke 22003, 194) zu erstatten. Der Körper wird also nicht nur zu einer „Diskursinstanz“ transformiert (Koschorke 22003, 212), sondern in der Imagination als Anwesender vergegenwärtigt. Das verleiht den physischen Defiziten schriftlicher Kommunikation ihre kulturelle Wirkungsmacht: Für die Intimität des sprachlichen Ausdrucks ist „die wechselseitige Abwesenheit der Kommunikanten kein Defizit, sondern eine Bedingung“ (Koschorke 22003, 214), ist es doch gerade die „institutionelle Entlastung von Nähe“, die es ermöglicht, „Nähe als emotionalen Wert“ auszuleben (Koschorke 22003, 235): „Während die Menschen sich physisch-physiologisch immer weiter entflechten, wachsen sie als Subjekte der Kommunikation immer stärker zusammen.“ (Koschorke 22003, 216) Das gilt in besonderer Weise für die Kommunikation im Medium des Briefes: „Der Briefleser und die Briefleserin des 18.  Jahrhunderts übersetzen die klassische Formel vom Brief als Gespräch in ein Ensemble von phantasmatischen Handlungen; sie können sich beim Lesen von der Nähe des Verfassers umschwebt fühlen.“ (Koschorke 22003, 206) Die Korrespondentinnen und Korrespondenten finden als eine „Gemeinschaft Abwesender“ zueinander, indem sie ihre „rezeptive Phantasie“ ins Werk setzen und so eine „Illusion“ „mündlicher Gegenwart“ und „visueller Präsenz“ erzeugen, die semiologisch auf dem „Vergessen der Zeichen“ beruht (Koschorke 22003, 298–299).

3 Anthropologie des Briefes II: Distanzäquivalent, Selbstdarstellung, Tat-Sache Anthropologische Fragestellungen im engeren Sinn haben in der Literaturwissenschaft zumeist keinen guten Ruf. Sie gelten entweder als biologistisch oder als naiv: Der Biologismusvorwurf richtet sich gegen die unterstellte Reduktion kultureller Phänomene auf genetische Programme und deterministische Prozesse (vgl. Bischof 32014, 140–141); der Vorwurf der Naivität gilt ihrer vorgeblichen Rhetorizitäts-, Medialitäts- und Diskursvergessenheit, die der empfindsamen „Mythologie der Unmittelbarkeit“ (Koschorke 22003, 195) aufsitzt und nicht in der Lage ist, die Logik einer „medialen Immediation“ (Koschorke 22003, 231) zu erfassen (vgl. Schuster 2014, 15). Aus dezidiert anthropologischer Perspektive stellt sich der Problemzusammenhang anders dar. Sie ist in der Briefforschung bislang nur ansatzweise verfolgt worden. Dementsprechend vorläufig sind die folgenden Ausführungen; sie präsentieren keine Forschungsergebnisse, sondern vermessen ein Forschungsfeld. Eine anthropologische Grundlegung des Briefes hätte jene Motive zu identifizieren, die verständlich machen, weshalb Menschen einander Briefe schreiben

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

und weshalb sie dazu geneigt sind, dies zu tun. Es geht also um die Frage nach den natürlichen Dispositionen, die die Etablierung einer Briefkultur möglich und wahrscheinlich machen. Gefordert ist zuallererst ein dem Gegenstand angemessenes Analyseniveau. Der Hinweis auf die Besonderheiten der menschlichen Sprachfähigkeit (vgl. Deacon 1997; Eibl 2010) oder des menschlichen Werkzeuggebrauchs (vgl. Haidle 2013) reicht nicht aus, um das kulturelle Phänomen aus spezifischen anthropologischen Dispositionen herzuleiten. Tatsächlich ist es gerade die Hypostasierung der Sprache zum specificum humanum schlechthin, die das erkenntnistheoretische Design kulturanthropologischer Fragen bestimmt und die Trias von Zeichen, Medien und Diskursen gegenüber der Frage nach der Natur des Menschen immunisiert: Die im weitesten Sinne „kultursoziologisch“ (Riedel 2004, 349) befragte menschliche Wirklichkeit ist per definitionem immer schon „zeichenhaft konstituiert“ (Koschorke 22003, 298). Das für die literarische Anthropologie kultursemiotischer Prägung zentrale Datum ist die Substitution körperlicher Abwesenheit durch die diskursiven Phantasmen medienvermittelter Kommunikation (Koschorke 22003, 271). Die Mediologie kann die kulturelle Wirkungsmächtigkeit solcher Phantasmen allenfalls konstatieren und ihr „kollektives metaphorisches Feld“ (Koschorke 22003, 231) vermessen, nicht aber die Triftigkeit dieser Metaphorik ergründen, d.  h. nach den spezifischen Erfahrungen fragen, die der metaphorischen Rede ihre Evidenz verleihen. Tatsächlich liegt es außerhalb ihres epistemologischen Interesses, einen solchen phänomenalen Geltungsgrund überhaupt zu erwägen. Zwar geht auch Koschorke davon aus, dass die Mediennutzung von Bedürfnissen getragen wird, aber wie solche Bedürfnisse in die Welt kommen, spielt für die Frage nach dem Zirkulieren „sozialer Energien“ (Koschorke 22003, 15), von denen die kulturelle Semiose getragen wird, keine Rolle. Die literarische Anthropologie begnügt sich damit, die „Interdependenz von technischer Medialität und Semiose“ (Koschorke 2 2003, 11) zu betonen und den selbstevolutionären Prozess nachzuzeichnen, in dem die Textualität der Kultur ihre „Stimmigkeit und Konsistenz“ (Koschorke 2 2003, 13) gewinnt. Die Rückführung von Zeichenzirkulationen auf eine „kulturell verhandelte Produktions- und Nachfragelogik“ (Koschorke 22003, 11) setzt allerdings immer schon voraus, was sie begründen will. Einer Anthropologie des Briefes ist damit nicht gedient; sie hätte die Logik der kulturellen Evolution aus der vielschichtigen Dynamik sozialer Motive herzuleiten. Bedürfnisse haben de facto nur Lebewesen; und nur Menschen können Medien nutzen, um ihren Bedürfnissen nachzukommen. Kommunikationstechnische Basisinnovationen bringen Bedürfnisse nicht hervor, sondern schließen an Bedürfnisse an und werden erst „dadurch zu Selbstläufern, dass sie den Bedarf, auf den sie antworten, in Form von Rückkopplungsschleifen selbst erzeugen“ (Ter-Nedden 2012, 127).

2.3 Literarische Anthropologie und Brief 

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3.1 Literale Distanzregulation und Vergegenwärtigung Robert Vellusig (2011, 2018, 2020) hat in einigen Arbeiten zur Theorie und Geschichte des Briefes auf Norbert Bischofs „Systemanalyse der sozialen Motivation“ (1985, 1993, 32014) aufmerksam gemacht. Als ‚sozial‘ bezeichnet die Ethologie all jene Verhaltensweisen, die idealtypisch durch Artgenossen ausgelöst werden und auf sie gerichtet sind. Bischofs systemtheoretisch formalisiertes Modell des Motivrepertoires höherer Lebewesen ermöglicht eine biologisch reflektierte und psychologisch differenzierte Perspektive auf den hier zur Diskussion stehenden Sachverhalt. Koschorkes Theorie der medialen Substitution und phantasmatischen Erstattung des Abwesenden rückt dabei in einen ganz anderen Begründungszusammenhang: In seinem Zentrum steht nicht der Begriff der Abwesenheit, sondern derjenige der Distanz und ihrer genuin literalen Modifikation; an die Stelle der unangemessenen Identifikation von Imagination und „halluzinogener Präsenztäuschung“ tritt eine anthropologisch reflektierte Theorie der Vergegenwärtigung. Wie die meisten höheren Lebewesen haben auch Menschen die Tendenz, zu ihren Artgenossen eine optimale Distanz einzunehmen: Sie suchen die Nähe anderer oder gehen ihnen aus dem Weg. Nähe und Distanz sind dabei zunächst räumliche Kategorien. Die Distanz kann in der Sphäre der Menschen aber auch durch „psychologische Distanzäquivalente“ (Bischof 1993, 11) reguliert werden. Das Repertoire der Möglichkeiten, dies zu tun, reicht von der Körperhaltung und dem Blick- und Stimmkontakt über die gewählte Ausdrucksweise und die Intimität des Gesprächsstoffes bis hin zu „Gesten der Armierung oder Verwischung von Grenzen (z.  B. demonstrativ angelehnte oder abgeschlossene Tür, verhüllende oder entblößende Bekleidung usf.)“ (Bischof 1993, 12). Auch im Umgang zwischen Anwesenden bringt sich also das Bedürfnis nach optimaler Distanz im Verhalten zur Geltung. Symbolische Distanzregulation ist mit anderen Worten ein von körperlicher Präsenz zu unterscheidendes, im Falle medienvermittelter Kommunikation von ihr sogar unabhängiges Phänomen. Die Möglichkeit, die tatsächliche räumliche Distanz durch psychische Distanzäquivalente zu kompensieren, macht deutlich, dass es hier nicht um ein symmetrisches Verhältnis zwischen Körpern geht; psychische Distanz ist asymmetrisch organisiert: Ihre Regulation gestaltet Beziehungen, indem sie Grenzen markiert, die es erleichtern oder erschweren, miteinander in Kontakt zu treten (vgl. Bischof 32014, 402). Eine anthropologische Grundlegung des Briefes als eines Mediums, das nicht nur dazu dient, Informationen auszutauschen, sondern das als genuin literales Distanzäquivalent Beziehungen asymmetrisch gestaltet, macht eine ganze Reihe von Charakteristika des Briefes verständlich: Dazu zählen vorab die Gruß- und Abschiedsformeln, d.  h. jene mehr oder weniger ritualisierten Eröffnungs- und

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Abschlusshandlungen der Kommunikation, durch die sich das individuell adressierte Medium Brief als funktionales Äquivalent des Gesprächs ausweist: Sie rahmen die Kommunikation, indem sie einen „idealisierten Dialograum“ (Kilian 2005, 129) abstecken und die Beziehung auf ein spezifisches Verhältnis festlegen. Dazu zählen die vielfältigen Formen der Anrede, deren kulturelle Normen und individuelle Spielräume die Beziehung der Schreibenden auf subtile Weise gestalten (vgl. Leisi 1983). Und dazu zählt nicht zuletzt auch der Topos vom Brief als „Spiegel der Seele“ (Müller 1980), der in der humanistischen Gelehrtenkultur geprägt und im Freundschaftsbrief des 18. Jahrhunderts zum Leitbild der Korrespondenz erhoben wurde. Für eine anthropologisch fundierte Theorie des Briefes aufschlussreich werden diese Befunde aber erst dann, wenn man sich bewusst macht, dass symbolische Distanzäquivalente in der Face-to-Face-Interaktion nicht primär verbaler, sondern vor allem mimisch-gestischer, stimmlich-artikulatorischer, im umfassenden Sinn prosodischer Natur sind. Im zwischenmenschlichen Umgang ist der Sinn der Rede mit der konkreten Gesprächssituation und dem nichtsprachlichen Mitteilungsverhalten unauflöslich verbunden. Die Schrift aber trennt die mitgeteilte Information vom Akt ihrer Mitteilung (vgl. Luhmann 1984, 223–224). Schriftliche Kommunikation ist deshalb nicht nur interaktionsfrei, sondern auch auf exklusive Weise wortgebunden: Sie erzeugt einen Verbalisierungszwang (und einen entsprechenden Freiraum zur verbalen Artikulation), den die Face-to-FaceInteraktion so nicht kennt; sie ermöglicht und erzwingt komplexere Planungsaktivitäten und sie steigert die grammatische Elaboriertheit sprachlicher Äußerungen (vgl. Koch und Oesterreicher 1985, 19–24; Müller 1990, Kap. 4; Ágel und Hennig 2007). Ihr eigentliches Reich ist deshalb die kommunikative „Fernwelt“ (Luhmann 1982, 17–18) der Verwaltung, des Rechts, der Wirtschaft, der Technik und der Wissenschaft. In diesen außeralltäglichen Praxisfeldern bringt das kognitive Potential der Schrift das begriffliche Denken zu sich (vgl. Jäger 2004, 27); hier „fungiert die Schrift nicht als Zweitcodierung der Rede, sondern die Rede als Zweitcodierung der Schrift“ (Ter-Nedden 2003, 7). Für den privaten Briefwechsel und seine Praxis der symbolischen Distanzregulation gilt das genaue Gegenteil: Sein Sitz im Leben ist die kommunikative „Nahwelt“ (Luhmann 1982, 17–18), d.  i. diejenige Wirklichkeit, in der wir uns wechselseitig als Personen wahrnehmen und anerkennen; er lebt vom mimetischen Bezug auf die Welt der Rede (vgl. Vellusig 2000, 2011). Dass der Brief schön wird, wenn er an den Anmutungsqualitäten des persönlichen Umgangs Maß nimmt, war die von Christian Fürchtegott Gellert und anderen prominent gemachte Entdeckung, die das schriftlich geführte Gespräch zu einer literarischen Ausdrucksform werden ließ (vgl. Vellusig 2011). Wer Briefe schreibt, um die tatsächliche räumliche Distanz durch verbale Distanzäquivalente zu kompen-

2.3 Literarische Anthropologie und Brief 

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sieren, ist vor eine sehr konkrete Gestaltungsaufgabe gestellt: Er/sie muss dem Brief einen Duktus einschreiben, der es möglich macht, den Text unwillkürlich als Ausdrucksbewegung einer Person zu lesen und zu erleben. Die seelischen Qualitäten des Sprechens, die sich in der zwischenmenschlichen Begegnung unmittelbar mitteilen und dem/der Gesprächspartner*in eine Ahnung davon vermitteln, wie und wonach dem anderen zumute ist, können in der Artikulationsbewegung des Schreibens zwar sinnfällig werden, gewinnen aber prinzipiell eine imaginative Dimension: Sie haben nicht den Status von angetroffenen Wirklichkeiten, sondern von Inszenierungsanweisungen für die Vorstellungsbildung: „Der Brief“, so hat Georg Simmel (51968, 288) dies pointiert, „ist  […] deutlicher, wo es auf das Geheimnis des Andern nicht ankommt, undeutlicher und vieldeutiger aber, wo dies der Fall ist.“ Die Kehrseite des Verbalisierungszwangs, den das Medium auf den Schreibenden ausübt, ist der Spielraum, den es ihm eröffnet. Der Brief erlaubt es, die Grenzen dessen zu erweitern, was in der Interaktion selbst sagbar wäre. Die Intimität kann im Schreiben eben deshalb gesteigert werden, weil der bzw. die Verfasser*in des Briefes beim Schreiben dem Blick des bzw. der anderen nicht ausgesetzt ist. Auch darauf hat die Brieftheorie immer schon hingewiesen: Briefe erröten nicht – „epistula non erubescit“, lautet die einschlägige Formel, die Cicero in den „Epistulae ad familiares“ (5,12,1) für diesen Sachverhalt geprägt hat. Bei Theodor W. Adorno heißt es: „Briefe schreiben fingiert Lebendiges im Medium des erstarrten Worts. Im Brief vermag man die Abgeschiedenheit zu verleugnen und gleichwohl der Ferne, Abgeschiedene zu bleiben“ (Adorno 1974, 585). Dass der Spielraum der symbolischen Distanzregulierung beim Schreiben eine ganz andere Qualität gewinnt, war auch die Intuition der Mediologie: „Medien sind niemals bloße Substitute. Sie verändern, indem sie zu ersetzen scheinen“ (Koschorke 22003, 191). Gleichwohl ist es unangemessen, die im 18. Jahrhundert kultivierte Orientierung des Schreibens an den Anmutungsqualitäten der Rede und der Interaktion als umfassende „Phantasmatisierung der Schrift“ (Koschorke 2 2003, 223) zu denken und die imaginative Dimension, die der Brief dabei ausbildet, als „halluzinogen“ zu bezeichnen. Im Gegensatz zu Wahrnehmungen und Halluzinationen zeichnen sich Vorstellungen gerade dadurch aus, dass sie als bloße Vorstellungen erlebt werden (Bischof 32014, 88). Wer Stimmen halluziniert, unterliegt einer Sinnestäuschung; wer bei der Lektüre von Briefen ein Gegenüber imaginiert, dem wird ein „ich“-Sager (vgl. Tugendhat 2003, 13–29) in seiner Erlebniswirklichkeit gegenwärtig. ‚Medial substituiert‘ wird dabei aber nicht ein Körper, sondern die Person, die sich als leiblich-seelische Wirklichkeit erlebt und deren Antriebe, Gefühle und Stimmungen in der Ko-Präsenz der Face-to-FaceInteraktion unmittelbar anschaulich werden (vgl. Bischof 1996, 83–117; Bischof 3 2014, 42–46; Fingerhut et al. 2013). Dass sie dem Leser bzw. der Leserin eines

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Briefes in der Artikulationsbewegung gegenwärtig werden kann, ist deshalb keine Präsenztäuschung, sondern eine Vergegenwärtigung im präzisen Sinn: Mit der Phantasie verfügen wir über einen „Wirklichkeitssimulator“, der unser Zeitverständnis erweitert: Zeit ist uns nicht nur als je aktueller Prozess, sondern auch als reversibler „Zeit-Raum“ gegeben. Das entscheidende Datum brieflicher Kommunikation ist der Eintritt in eine „Sekundärzeit“ (Bischof 32014, 381–382), die es den Verfasser*innen wie den Leser*innen eines Briefes erlaubt, eine Zukunft oder eine Vergangenheit in die Gegenwart zu holen.

3.2 Anthropologie der Selbstdarstellung An diesem Punkt berührt sich die Anthropologie literaler Distanzregulation mit der in der philosophischen Anthropologie entwickelten Theorie der Selbstdarstellung (vgl. Meuter 2006), die in den Kulturwissenschaften vor allem durch die Arbeiten von Erika Fischer-Lichte (2000) prominent wurde und in der Briefforschung von Tanja Reinlein (2003) aufgegriffen wurde. „Der Mensch“, so FischerLichte (2000, 21), „tritt sich selbst  – oder einem anderen  – gegenüber, um ein Bild von sich als einem anderen zu entwerfen und zur Erscheinung zu bringen, das er mit den Augen eines anderen wahrnimmt bzw. in den Augen eines anderen reflektiert sieht.“ In der Briefforschung hat die Anthropologie der Selbstdarstellung ein fiktionstheoretisches Echo gefunden: Briefe, so der Tenor, besitzen fiktionale Züge, weil sich ein bzw. eine Briefschreiber*in als Person inszeniert. Das Ich des Briefes ist mit dem bzw. der Verfasser*in des Briefes nicht identisch, sondern dessen bzw. deren sprachliche Konstruktion. Für die epistolographische Forschung wegweisend war Albrecht Schönes Vergleich von Brief und Roman: „Wie der Erzähler eines Romans mit dem wirklichen Autor durchaus nicht einfach identisch, sondern von diesem entworfen ist als eine Rolle, in die er eintritt, so setzt auf seine Weise tatsächlich auch der Brief einen Schreiber, der von der Person des Schreibenden grundsätzlich zu unterscheiden und praktisch oft unterschieden ist“ (Schöne 1967, 214). Jörg Schuster (2013, XIII) hat in diesem Sinne vom „inszenatorischfiktionalen Potential“ des Briefes gesprochen und dieses Potential in ein Spannungsverhältnis zum „dokumentarischen Charakter“ des Briefes gerückt; Inka Kording (2014, 11–12) hat diese Argumentationsfigur radikalisiert und das Ich, von dem im Brief die Rede ist, zum „ICH“ des Briefes vergegenständlicht, das zwar aus einer mehrdimensionalen Dynamik erwachse, von dem bzw. der empirischen Verfasser*in aber strikt zu unterscheiden sei: Briefe sind demnach keine „Dokumente“, „die eine wie immer auch geartete historische Faktizität transportieren“, sondern erscheinen „als immer schon konstruierte Texturen“ (Kording 2014, 11).

2.3 Literarische Anthropologie und Brief 

 211

Und auch der altphilologischen Briefforschung ist der Gedanke vertraut, dass das „briefliche Ich“ eines Autors bzw. einer Autorin ein „stilisiertes Selbstporträt“ darstellt, das von der biographisch rekonstruierbaren Faktenlage durchaus abweichen kann und – so im Fall des jüngeren Plinius – de facto auch abweicht (vgl. Ludolph 1997, 40–49). Dabei gilt es zwar als ausgemacht, dass der Begriff der Inszenierung „keineswegs mit dem semantischen Feld der ‚Scheinhaftigkeit‘ konnotiert werden“ darf (Reinlein 2003, 36); dennoch gehört es zum guten Ton, darauf hinzuweisen, dass selbst vermeintlich authentische Briefe die „Kunst der Verstellung“ (Stauf 2015, 12) kultivieren. Auch hier lohnt es sich, nach den Einsichten zu fragen, die die biologischanthropologische Psychologie den Kulturwissenschaften anzubieten hat. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Kategorie der „synchronen Identität“: Sie ermöglicht es, gleichzeitig Wahrgenommenes oder Wahrgenommenes und Vorgestelltes auch dann als identisch zu erleben, wenn sie sich im Erscheinungsbild nicht gleichen (vgl. Bischof 32014, 352–353). Der folgenschwerste Strukturwandel, der mit ihr in die Welt kommt, betrifft die Phänomenologie des Ich-Erlebens – seine Doppelnatur von „I“ und „Me“ (William James), die von Helmuth Plessner auf die Formel von der „exzentrischen Positionalität“ des Menschen gebracht wurde (vgl. Plessner 1981, 360–365). Plessner hat diese Exzentrizität des Menschen am Phänomen des Selbsterkennens im Spiegel festgemacht: Wer in der Lage ist, sich im Spiegel zu erkennen, nimmt das Ich, das sich im Spiegel zeigt („Me“), als Außenseite jenes Ich wahr, das als unscheinbares Bezugssystem des Erlebens im Hintergrund bleibt („I“). Das Erkennen des eigenen Spiegelbildes ist aber nur die besonders sinnfällige Ausprägung der kognitiven Kompetenz, sich selbst zu objektivieren (vgl. Bischof 32014, 357). Das Selbst gewinnt dabei einen „figuralen Status“, der eine identifizierbare Kontur besitzt, d.  h. eine Grenze um sich selbst gezogen hat und sich von anderen als abgegrenzt erlebt. Die primäre Funktion dieser „Ichgrenze“ besteht darin, die Person gegen die affektiven Einflüsse der Umwelt zu immunisieren und so eine spiegelnde (im Gegensatz zu einer verschmelzenden) Identifikation mit anderen zu ermöglichen (vgl. Bischof 32014, 360–361). Sie ist sowohl für die Phantasietätigkeit als auch für alle empathischen Prozesse unverzichtbar. Erweitert wird diese Fähigkeit zur figuralen Selbstobjektivierung durch die Einsicht in die grundsätzliche Perspektivität der Erlebniswelt. In der Kognitionspsychologie wird diese Kompetenz unter dem Stichwort „Theory of Mind“ diskutiert (vgl. Bischof-Köhler 2011, Kap.  14). Sie beruht auf der Fähigkeit, „auf Bezugssysteme zu reflektieren“ (Bischof 32014, 398). Wer über sie verfügt, vermag zu erkennen, dass jedes Ich das Sinnzentrum einer Welt bildet und in einer je eigenen Welt lebt. Damit kommt das mediale Hintergrund-Ich dauerhaft zu Bewusstsein und die Selbst-Objektivation gewinnt eine neue Funktion:

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Sie schirmt das „I“ gegen die Blicke anderer ab und schützt so vor der potentiell beschämenden Erfahrung der Selbstexposition (Bischof 32014, 488–492). Die philosophische Anthropologie hat dies als die „Fassung“ bezeichnet, die sich eine Person gibt, und darauf aufmerksam gemacht, dass diese Fassung immer eindeutiger ist als der subjektive Kern des Ich-Erlebens (Schmitz 2015, 133–137; Schmitz 2016, 299–304). Das verweist noch einmal auf die prinzipielle Asymmetrie, die der Kategorie der Grenze innewohnt: „Grenzen definieren die Figur, nicht das einbettende Medium.“ (Bischof 32014, 354) Selbstdarstellung ist also eine asymmetrische Distanzregulation; sie markiert das Selbstverhältnis, das in der zwischenmenschlichen Begegnung sinnfällig wird und in der sprachlichen Artikulation eine eigenständige Dimension gewinnt, die durch die planende Diskursgestaltung der schriftlichen Kommunikation noch einmal gesteigert werden kann  – nach Maßgabe der psychischen Nähe, die man dabei sucht oder zuzulassen bereit ist. Die literaturwissenschaftliche Briefforschung tendiert dazu, dieses Selbstverhältnis aufzulösen und den Brief als ein sprachliches Sinngebilde zu betrachten, dem jeder Bezug zum sinnstiftenden Hintergrund der Artikulation fehlt. Sie denkt das Subjekt als sprachlichen Text und die Sprache als Zeichensystem, die ohne sprechendes Subjekt zu denken ist: „Es gibt für den Brief als Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Untersuchung keine Referenz außerhalb des Briefes“ (Anton 1995, 134). Demgegenüber würde eine anthropologisch informierte Brieftheorie zunächst darauf beharren, dass das Brief-Ich mit dem bzw. der Verfasser*in des Briefes tatsächlich identisch ist: Es ist seine bzw. ihre verbale Gestalt: die Form, in der sich die Person zeigt, ohne doch in dem aufzugehen, was sie sagt. „Personen“ – so Robert Spaemann – „sind nicht Rollen, aber sie sind, was sie sind, nur, indem sie eine Rolle spielen, das heißt sich auf irgendeine Weise stilisieren“ (Spaemann 1996, 94). Deshalb ist es irreführend, solche Stilisierungen als ‚Konstruktionen‘ zu bezeichnen; es sind Formen, sich anderen zu zeigen und sich dabei zu der eigenen „Weise des Lebens“ (Spaemann 1996, 81) zu verhalten.

3.3 Ereignis und Permanenz Wenn die moderne Briefforschung das Ich, von dem im Brief die Rede ist, als sprachliches Konstrukt denkt, dessen rhetorische Verfasstheit allein zum legitimen Gegenstand der Forschung werden kann, dann folgt sie einem fiktionstheoretischen Argumentationsmuster, das immer schon und immer nur den autonomen literarischen Text im Blick hat und den Kunstgriffen seines Autors bzw. seiner Autorin auf die Spur kommen möchte. Bei der Lektüre fremder Briefe aber erzeugt die Einnahme einer Beobachterposition, die nach den „Akten des

2.3 Literarische Anthropologie und Brief 

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Fingierens“ (Iser 1991) fragt, notwendigerweise einen Verfremdungseffekt. In dem Maße, in dem die Briefforschung sich dazu diszipliniert, die phänomenale Betrachtungsweise zu transzendieren, nimmt die personale Selbstdarstellung Züge einer Verstellung an, deren Darstellungsstrategien es zu ergründen und zu entlarven gilt. Auch hier hat die biologische Psychologie begriffliche Differenzierungen erarbeitet, die geeignet sind, den Grund und die Abgründe der Skepsis auszuloten, die sich in der Rede vom Konstruktcharakter des Briefes ausspricht. Auch sie stützt sich auf die Kategorie der Identität, diesmal allerdings nicht in Form der synchronen Identität von figuralem und medialem Ich, sondern in der qualitativ neuen Gestalt der Permanenz: „Die permanente Identität weist den Dingen einen von der aktuellen Antriebslage unabhängigen, nach Vergangenheit und Zukunft hin prinzipiell offenen Wesenskern zu.“ (Bischof 32014, 385) Sie verleiht den flüchtigen Impressionen der je aktuellen Gegenwart den Status dinghafter Tatsachen: Menschen erfahren die Welt als „ein Skelett von Tatsachen“ (Bischof 32014, 385) und nicht nur das: Sie erleben auch sich selbst als Tatsache. Das gilt in besonderer Weise für den Brief, in dem eine Sprachaktivität dauerhafte Spuren hinterlassen und sich im materiellen Objekt als Tat-Sache konserviert hat. Die jüngere Briefforschung hat deshalb sowohl die Materialität des beschriebenen Blattes als auch den Ereignischarakter brieflicher Kommunikation in den Blick genommen. Der Brief ist beides: „Ereignis und Objekt“ (vgl. Bohnenkamp und Wiethölter 2008) – die Handlung des Schreibens hat sich „im Schriftstück verdinglicht“ (Ehlich 2014, 24). Es ist diese „Verdauerung der sprachlichen Handlung“ (Ehlich 2014, 24) zur objektiven Tat-Sache, die den Brief dazu prädestiniert, im umfassenden Sinn als Ausdruck der Persönlichkeit wahrgenommen zu werden. Den schillernden Charakter „zeitüberdauernde[r] Dokumente“ (Ehlich 2014, 30) gewinnen Briefe vollends dann, wenn sie aufbewahrt werden und wenn Archive die materiellen Spuren einer zunächst „ephemeren“ Kommunikation (Ehlich 2014, 23) in permanente Ego-Dokumente verwandeln. Dass bei der Interpretation von Briefen als authentischen Zeugnissen einer vergangenen Lebenswirklichkeit Vorsicht geboten ist, gehört deshalb zu Recht zum Common Sense der jüngeren Briefforschung: Vorsicht ist geboten, weil die materielle Permanenz und die mehrfache Lesbarkeit des Briefes der Mitteilung einen höheren „Wirklichkeitsgrad“ (vgl. Metzger 62001, 39) und eine besondere Suggestivkraft verleihen; zu weit führt sie, wenn sie unterstellt, dass jede Brieflektüre, die den Brief als Lebenszeugnis begreift, ein substantielles Ich hypostasiert. Das ist nicht zuletzt deshalb unangebracht, weil permanente Identität in einem Set an „relativ zeitüberdauernden Merkmalen“ gründet, „in denen sich die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit eines Individuums manifestiert“ (Bischof 1996, 569); diese Merkmale sind als solche aber nicht objektiv gegeben,

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

sondern subjektiver Natur; sie sind die Weise einer Person, sich zu sich selbst, zu ihren Tendenzen und Neigungen zu verhalten, und bilden das, was man als „Charakter“ einer Person bezeichnet: das „Verhaltensprofil“ (Bischof 1996, 571), das die „Grenze“ dessen markiert, was jemand zu tun, zu sagen oder zu schreiben bereit ist. Sein ideelles Korrelat ist die „Wertwelt“, in der sich jemand bewegt: „die Matrix der Verpflichtungen, die das Individuum als verbindlich erlebt“ (Bischof 1996, 571). Deshalb sind Briefe gerade als literale Formen der Selbstdarstellung und der psychischen Distanzregulation von biographischer und kulturgeschichtlicher Signifikanz – auch wenn sie nur von Moment zu Moment darüber Auskunft geben, wie es für eine Person ist, diese Person zu sein, und wozu diese Person ihrem Charakter nach neigt und tendiert (vgl. Hübl 2015, 207–212). Die Briefforschung hat bislang kein begriffliches Sensorium entwickelt, das geeignet wäre, die „innere Haltung“ (Zutt 1963) zu erfassen, die in der Artikulationsbewegung des Schreibens sinnfällig wird. In der Briefforschung wird sie primär unter dem Aspekt des Gefühlsausdrucks oder der „Affektästhetik“ (Fürholzer und Mevissen 2017) diskutiert. Das ist eine dem emotional turn der Kulturwissenschaften geschuldete Einschränkung des Sachverhalts, der hier zur Diskussion steht. Solche dominant semiotischen Argumentationen stoßen hier an ihre Grenzen. Eine Theorie des Briefes, die sich gegen eine unreflektierte Universalisierung des Inszenierungsbegriffs verwahrt (vgl. Seel 2001) und die es sich zur Aufgabe macht, eine Sensibilität für spielerische, authentische und ‚aufgesetzte‘ Fassungen (vgl. Schmitz 2015, 133–134; Schmitz 2016, 299–300) auszubilden, hätte sich als Ästhetik und nicht bloß als Semiotik zu begreifen (vgl. Böhme 2001, Kap. X). Sie wäre in einer Anthropologie der Sprache zu fundieren, die es erlaubt, das ästhetische Gelingen der Artikulation als Artikulationsleistung der Person und nicht als deren Camouflage zu verstehen (vgl. Lösener 2006). Als anthropologisch reflektierte Ästhetik wäre die Briefforschung aber auch mit der Frage konfrontiert, was es heißt, Kulturen der Artikulation als kulturelle Errungenschaften zu denken und in einem mehr als oberflächlichen Sinn von einer ‚Briefkultur‘ zu sprechen (vgl. Vellusig 2011, 156–158).

4 Perspektiven: Literarische Anthropologie und kultureller Wandel Die zeitgenössische Briefforschung schreibt dem Brief einen doppelten Charakter zu: Sie denkt ihn als Ego-Dokument und als literarischen Text, sie lokalisiert das schreibende Subjekt und seine literarischen Inszenierungen in einem Spannungsfeld von „Authentizität und Fiktion, Unmittelbarkeit und Raffinesse, Leben und

2.3 Literarische Anthropologie und Brief 

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Literatur“ (Lühe 2008, 23), aber sie hat keine Vorstellung davon, was es heißt, Briefe gerade in ihren literarischen Qualitäten als lebensweltliche und kulturgeschichtliche Zeugnisse ernst zu nehmen. Zu den Desiderata der Briefforschung gehört deshalb auch die Frage nach der Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes. Johannes Anderegg hat dekretiert, dass „die Möglichkeiten des Mediums Brief […] kurz nach 1800 weitgehend ausgelotet“ sind (Anderegg 2001, 12); die Briefkultur des 19. Jahrhunderts wird von der einschlägigen Forschung als lediglich konservierende Variation etablierter Muster gedeutet (vgl. Baasner 1999). – Auf die Frage, ob es so etwas wie eine Geschichte des Briefes überhaupt gibt, geschweige denn, wie eine solche Geschichte zu schreiben wäre, hat die Briefforschung bislang keine Antwort gefunden. Überblicksdarstellungen wie der verdienstvolle Band des renommierten Briefforschers Reinhard M. G. Nickisch (1991), begnügen sich damit, die Briefkultur einzelner Jahrhunderte zu umreißen; Georg Steinhausens monumentale Geschichte des deutschen Briefes aus den Jahren 1889 und 1891 (21968) gilt als einziger, immer noch lesenswerter Versuch, ein solches Projekt überhaupt zu wagen (vgl. Schöne 2015, 16). Mit ihren Vorbehalten gegenüber einer Geschichte des Briefes teilt die Brieftheorie nur die allgemeine kulturwissenschaftliche Skepsis gegenüber großen Erzählungen. Ambitionierte Unternehmen wie das von Renate Stauf initiierte Braunschweiger Liebesbrief-Projekt haben denn auch die Vorstellung zurückgewiesen, eine Geschichte des Briefes ließe sich entlang des Gänsemarschs der Epochen rekonstruieren (vgl. Stauf et al. 2008, 7 u. 17–18); dass die historisch reflektierte Forschung ohne Weiteres vom „Brief der Empfindsamkeit“ (Reinlein 2003, 9), vom „romantischen Brief“ (Bohrer 1987) und vom „Liebesbriefwechsel im realistischen Zeitalter“ (Lach 2012) spricht oder die „Briefkultur um 1900“ als „Epochensymptom“ (Košenina 2002, 242) begreift, macht aber deutlich, dass hier ein Forschungsfeld brachliegt, dessen Dimensionen noch nicht einmal vermessen sind. – Auch in dieser Hinsicht divergieren die theoretischen Perspektiven, die die kultursemiotisch inspirierte literarische Anthropologie und die humanpsychologisch informierte Anthropologie des Literarischen der Forschung anzubieten haben. Die Mediologie betreibt eine Kunst der Interpretation, deren Gültigkeit sich am Kriterium der Evidenz bemisst. Ihr pragmatischer Ausgangspunkt lautet: „Diskurse werden plausibel und folglich auch wirksam, insofern sie anschlußfähig sind und sich mit anderen Diskursen verknüpfen.“ (Koschorke 22003, 104) Die historische Rekonstruktion dieser Verknüpfungslogik bewährt sich dann, wenn es ihr gelingt, „die innere Stimmigkeit und Konsistenz dieses kulturellen Systems zu erweisen“ (Koschorke 22003, 13). Das entspricht der performanztheoretischen Überzeugung, dass sich Gesellschaft als Diskurs und im Diskurs konstituiert, und beruht auf einer radikalen Skepsis gegenüber jeder Form von Substanzmetaphy-

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

sik. Auch Jörg Schusters anspruchsvolle „Kulturpoetik des Briefs um 1900“ versteht sich als eine Art „close reading“, die den einzelnen Brieftext in den Kontext einer ihrerseits als Text gedachten Kultur stellt (Schuster 2014, 29–32) und nach den „Vernetzungsregeln“ der zusammengelesenen Texte fragt (Schößler 2014, 37–39). Eine anthropologisch begründete Kulturgeschichte des Briefes würde demgegenüber darauf insistieren, dass Gesellschaft nicht aus Kommunikationen (Luhmann) oder Diskursen (Foucault) besteht, sondern aus Menschen, deren evolutionäres Erbe der kulturellen Selbstauslegung des Menschen Grenzen setzt. Die Natur des Menschen wäre dabei nicht selbst schon als kulturelle Konstruktion und das Andere der Kultur gedacht, sondern als „Attraktor“ für den interpretierenden Umgang mit ihren widersprüchlichen Imperativen (Bischof 32014, 552): Zu denken wäre ganz generell an das Spannungsfeld von Intimität und Autonomie, Sicherheit und Erregung, Nähe und Distanz, aus dem die vielfältigen Weisen entstehen, sich als Person zu zeigen und zu verbergen. – Das Programm einer anthropologisch begründeten Kulturgeschichte des Briefes wäre also nicht die Ordnung der Diskurse, sondern die kulturelle Organisation des menschlichen Handelns im Bezugssystem ihrer natürlichen Tendenzen (vgl. Bischof 1988): Kultur ist ein überindividuelles Phänomen; sie bildet sich in Prozessen der Kooperation, der Nachahmung und des Unterrichts (vgl. Tomasello 2002, 15) und verfestigt sich dabei zu Überzeugungen, Handlungsmustern und -routinen, die durch Konformitätsdruck gestützt und durch angelagerte Institutionen konserviert werden. Die Natur des Menschen ist demgegenüber ausschließlich die Angelegenheit des Individuums, das mit dem Kräftefeld seiner widersprüchlichen Handlungstendenzen konfrontiert ist; sie bildet deshalb die ökologische Nische, an die sich die Formationen der Kultur anzupassen haben, wenn sie auf Dauer Bestand haben wollen (vgl. Bischof 1985, Kap. 32). Nun sind Menschen zwar geborene Sprachwesen, aber keine geborenen Briefschreiber*innen. Literale Selbstdarstellung und Distanzregulation ist immer auch eine Kunst, die als solche erlernt und kultiviert werden will und die deshalb nicht ohne Bezug zur literal-literarischen Kultur als ganzer gedacht werden kann (vgl. Vellusig 2011, 169–171). Gleichwohl lässt sich eine Geschichte des Briefes nicht einfach in Analogie zur Geschichte der Literatur konzipieren, denn der Brief ist keinem State of the Art verpflichtet: Er hat sich nicht angesichts einer literarischen Tradition und ihrer Artikulationsstandards zu bewähren; über das Gelingen brieflicher Kommunikation entscheiden allein diejenigen Individuen, die auf exklusive Weise an ihr beteiligt sind. Eine Geschichte des Briefes, die sich nicht darauf beschränkt, den kulturellen Wandel als unspezifische Folge von Veränderungen zu denken, sondern den ernsthaften Versuch unternimmt, nach der evolutionären Logik dieses Wandels

2.3 Literarische Anthropologie und Brief 

 217

zu fragen, hätte zunächst ein interdisziplinäres Design zu entwickeln, das die Zuständigkeiten der Disziplinen klärt. Sie würde sich dazu bekennen, Biologie, Psychologie und Soziologie in ein spezifisches Begründungsverhältnis zu setzen (vgl. Bischof 1985, 585–586), d.  h. soziologische Fragen psychologisch zu fundieren und psychologische Fragen in einen basaleren biologischen Zusammenhang zu stellen. – Ein solches Begründungsverhältnis der Disziplinen würde es erlauben, das individualpsychologische und das kultursoziologische Bezugssystem von Briefen deutlicher voneinander zu unterscheiden und damit gezielter aufeinander zu beziehen. Als dezidiert evolutionstheoretisch modelliertes Projekt würde es die kommunikativen Routinen, die sich in einer literalen Kultur ausbilden und zu sprachlichen Normen verfestigen, als „Phänomene der dritten Art“ denken (Keller 21994, Kap.  4.1), d.  h. als Phänomene, die weder natürlich gewachsen noch artifiziell hergestellt sind. Phänomene der dritten Art sind die nicht-intendierten, aber notwendigen Folgen „einer Vielzahl individueller Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen“ (Keller 21994, 92): Niemand geht über die Wiese, um einen Weg anzulegen; wenn aber hinreichend viele Menschen über die Wiese gehen, bildet sich zwangsläufig ein Trampelpfad – niemand hat ihn gemacht; an seiner Entstehung waren aber alle beteiligt, weil die Grasnarbe zerstört wurde. Phänomene der dritten Art sind ihrem Wesen nach prozesshaft; ihre Erklärung hat einen intentionalen Mikro- und einen kausalen Makrobereich voneinander zu unterscheiden und grundsätzlich genetisch zu verfahren: Sie muss die nicht-intendierten Konsequenzen des Handelns auf die Intentionen der an ihrer Entstehung beteiligten Individuen zurückführen (vgl. Keller 21994, Kap. 4.2) und sie muss in der Lage sein, sowohl die Dynamik als auch die Stabilität solcher kultureller Formationen zu erklären (vgl. Keller 21994, Kap. 4.4). Eine Anthropologie des Briefes, die solche Überlegungen in Rechnung stellt, würde es vermeiden, den kulturellen Wandel mithilfe des kultursemiotischen Konstrukts der „sozialen Energie“ (Stephen Greenblatt) zu erklären; sie würde von der relativen Konstanz menschlicher Bedürfnisse ausgehen und die Entstehung und den Wandel brieflicher Kommunikation auf die Differenzierung der Möglichkeiten zurückführen, diese Bedürfnisse zu befriedigen – eine Differenzierung, die ihrerseits zur Differenzierung von Bedürfnissen führt. Eine solche anthropologisch fundierte Kulturgeschichte brieflicher Kommunikation würde der menschlichen Motivdynamik den Status allgemeiner Gesetzmäßigkeiten zuerkennen und die medialen Rahmenbedingungen der Kommunikation als jene Prämissen betrachten, die erklären, welche Formen der Mediennutzung und welche Formen der Artikulation sich in einer Kultur bewähren. Das wäre zunächst nicht mehr als eine Frage, aber sie würde zur Klärung der Frage beitragen, was historisch überhaupt erklärungsbedürftig ist.

218 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Zitierte Literatur Adorno, Theodor W. (1974 [1966]). „Benjamin, der Briefschreiber“, in: Ders. Noten zur Literatur. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: 583–590. Ágel, Vilmos u. Mathilde Hennig (2007). „Überlegungen zur Theorie und Praxis des Nähe- und Distanzsprechens“, in: Zugänge zur Grammatik der gesprochenen Sprache. Hg. v. dens. Tübingen: 179–214. Anderegg, Johannes (2001). Schreibe mir oft! Zum Medium Brief zwischen 1750 und 1830. Mit einem Beitrag v. Edith Anna Kunz. Göttingen. Anz, Thomas (2007). „Kulturtechniken der Emotionalisierung. Beobachtungen, Reflexionen und Vorschläge zur literaturwissenschaftlichen Gefühlsforschung“, in: Im Rücken der Kulturen. Hg. v. Karl Eibl, Katja Mellmann u. Rüdiger Zymner. Paderborn: 207–239. Assmann, Aleida (2004): „Einleitung“, in: Positionen der Kulturanthropologie. Hg. v. ders., Ulrich Gaier u. Gisela Trommsdorff. Frankfurt a. M.: 9–18. Baasner, Rainer (1999). „Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis“, in: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Hg. v. dems. Tübingen: 1–36. Bischof, Norbert (1985). Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie. München. Bischof, Norbert (1988). „Ordnung und Organisation als heuristische Prinzipien des reduktiven Denkens“, in: Die Herausforderung der Evolutionsbiologie. Hg. v. Heinrich Meier. München: 79–127. Bischof, Norbert (1993). „Untersuchungen zur Systemanalyse der sozialen Motivation I: Die Regulation der sozialen Distanz: Von der Feldtheorie zur Systemtheorie“, in: Zeitschrift für Psychologie, 201: 5–43. Bischof, Norbert (1994). „Untersuchungen zur Systemanalyse der Sozialen Motivation IV: Die Spielarten des Lächelns und das Problem der motivationalen Sollwertanpassung“, in: Zeitschrift für Psychologie, 204: 1–40. Bischof, Norbert (1996). Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, in der wir die Welt erschaffen haben. München. Bischof, Norbert (32014). Psychologie. Ein Grundkurs für Anspruchsvolle. Stuttgart. Bischof-Köhler, Doris (2011). Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend. Bindung, Empathie, Theory of Mind. Stuttgart. Böhme, Gernot (2001). Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungs­ lehre. München. Bohnenkamp, Anne u. Waltraud Wiethölter (Hg.) (2008). Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 11.9. bis 16.11.2008. Frankfurt a. M. u. Basel. Bohrer, Karl Heinz (1987). Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München u. Wien. Deacon, Terrence W. (1997). The Symbolic Species. The Co-Evolution of Language and the Brain. New York. Ehlich, Konrad (2014). „Eine kurze Pragmatik des Briefes“, in: Fontanes Briefe ediert. ­Internationale wissenschaftliche Tagung des Theodor-Fontane-Archivs. Potsdam, 18. bis 20.9.2013. Hg. v. Hanna Delf von Wolzogen u. Rainer Falk. Würzburg: 17–38. Eibl, Karl (2004). Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn.

2.3 Literarische Anthropologie und Brief 

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220 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

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2.3 Literarische Anthropologie und Brief 

 221

Seel, Martin (2001): „Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs“, in: Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Hg. v. Josef Früchtl u. Jörg Zimmermann. Frankfurt a. M.: 48–62. Simmel, Georg (51968 [1908]). Gesammelte Werke. Bd. 2: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin. Spaemann, Robert (1996). Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘. Stuttgart. Stauf, Renate, Annette Simonis u. Jörg Paulus (2008). „Liebesbriefkultur als Phänomen“, in: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. dens. Berlin u. New York: 1–19. Stauf, Renate (2015). „Ein bisschen Verstellung ist immer dabei“ [Rez. zu:] Dieter Hildebrandt. ‚Die Kunst, Küsse zu schreiben. Eine Geschichte des Liebesbriefes‘. München 2014“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.5.2015. Steinhausen, Georg (21968 [1889/1891]). Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. 2 Teile. Dublin u. Zürich. Ter-Nedden, Gisbert (2003). „Das Medium und die Botschaft“, in: Mediengeschichte und kultureller Wandel. Hg. v. dems. Hagen: 5–40. Ter-Nedden, Gisbert (2012). „Der Kino-Effekt des Briefromans. Zur Mediengeschichte der Empfindsamkeit am Beispiel von Richardsons Clarissa und Lessings Miss Sara Sampson“, in: Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Studien. Hg. v. Gideon Stiening u. Robert Vellusig. Berlin u. Boston: 85–127. Tomasello, Michael (2002). Die kulturellen Ursprünge des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt a. M. Tugendhat, Ernst (2003). Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie. München. Vellusig, Robert (2000). Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien u.  a. Vellusig, Robert (2011). „Aufklärung und Briefkultur. Wie das Herz sprechen lernt, wenn es zu schreiben beginnt“, in: Das 18. Jahrhundert, 35.2: 154–171. Vellusig, Robert (2018). „Die Poesie des Briefes. Eine literaturanthropologische Skizze“, in: Was ist ein Brief? Aufsätze zu epistolarer Theorie und Kultur. What is a Letter? Essays on Epistolary Theory and Culture. Hg. v. Marie Isabel Matthews-Schlinzig u. Caroline Socha. Würzburg: 57–75. Vellusig, Robert (voraus. 2020). „Imagination und Inszenierung. Symbolische Distanzregulation in der Briefkultur des 18. Jahrhunderts“, in: Brief und Tagebuch zwischen Text und Quelle. Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch. Hg. v. Volker Depkat u. Wolfram Pyta. Berlin. Zutt, Jürg (1963 [1929]). „Die innere Haltung“, in: Ders. Auf dem Wege zu einer anthropologischen Psychiatrie. Gesammelte Aufsätze. Berlin u.  a.: 1–88.

Katrin Henzel

2.4 Materialität des Briefs 1 Zum Begriff der Materialität Fasst man Briefe unter das Kriterium der Materialität, bezieht man sich zunächst einmal auf ihre Körperlichkeit, ihre physikalischen Eigenschaften, so dass man sie demnach in ihrer Funktion als Dokumente und Träger konkreter Inskriptionen versteht, die den Text erst „materiell fassbar“ machen; denn „[a]llein auf Dokumenten schlagen sich Texte nieder“ (Gabler 2013, 317). Man unterscheidet grundlegend zwischen Beschreibstoff (vgl. Haarmann 2013)  – insbesondere dem Briefpapier (vgl. Giuriato 2008)  – und Schreibstoff, der mit einem Schreibwerkzeug (vgl. Bohnenkamp 2008; Stingelin 2013) geprägt, graviert, gekratzt oder auf diesem abgerieben wird. Auswahl und Wirkungsweise des genutzten Beschreib- wie Schreibstoffs stehen in enger Abhängigkeit – historisch wandelbarer – ökonomischer, kultureller, sozialer, ästhetischer u.  a. Faktoren sowie des jeweiligen Inhalts und der Funktion des Briefs. Weiterhin stellen Eigenheiten der Handschrift (vgl. Kammer 2008) bzw. Typographie inklusive der räumlichen Anordnung und Kompositionsprinzipien (zum barocken Brief vgl. etwa Furger 2010, 101–134) sowie das Schriftsystem zentrale Gegenstände einer materialbezogenen Analyse dar. Auch Beigaben, die aus Papier (Beilagen) oder sehr unterschiedlichen Materialien bestehen können (vgl. Moering 2008; Radecke 2013), den Brief verschließende Objekte und Materialien (Lack, Umschlag) und um ihn gelagerte Spuren des postalischen Transportwesens (vgl. Furger 2010, 45–54; Bürger 2008; Fontius 21995) sind unter Materialität fassbar. Hinsichtlich der Textproduktion ist beim Brief zwischen Urheber*in/Autor*in und Schreibinstanz zu unterscheiden, entsprechend wird daher grundsätzlich (und damit nicht nur auf Briefe bezogen) zwischen eigener und fremder Hand unterschieden. Die sich materiell niederschlagende Hand kann aufschlussreiche Hinweise zum Verhältnis der jeweiligen Briefurheber*innen und -empfänger*innen bieten. Liebesbriefe und andere soziale Nähe markierende Formen werden für gewöhnlich eher mit eigener Hand geschrieben als diktiert. Komplexer noch wird die Situation bei Briefkorrespondenzen und Formen kollektiver Autorschaft in der Art, dass Briefe – auch in zeitlich großer Distanz – im wörtlichen Sinne fortgeschrieben werden können und sich dies gleichermaßen materiell bemerkbar macht, ja die Materialität gerade den Ausgangspunkt für die Rekonstruktion dieser Schreibprozesse bildet. Auch Fragen der Distribution und der Rezeption spielen für die Materialität eine Rolle: etwa Abnutzungserscheinungen bei Schreibspuren durch unsachgehttps://doi.org/10.1515/9783110376531-013

2.4 Materialität des Briefs 

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mäßen oder mehrfachen bis kontinuierlichen Gebrauch und Weitergabe eines Briefs. Zumeist ist dabei eine Abnahme des Materials zu beobachten, die bis zur teilweisen oder vollständigen Zerstörung führen kann  – beispielsweise als Verblassen, Abrieb, Abriss und dergleichen. In ihrer radikalsten Weise stellt die (Fremd- wie Eigen-)Zensur (vgl. z.  B. Füllner 2013) eine solche Abnahme dar. Bei der Überlieferung von Briefen gehen Briefbeigaben nicht selten verloren, werden zumindest meist schon „nach praktischen Gesichtspunkten [ge]trenn[t]“ (Moering 2008, 191). Auch die Neuordnung von Briefmaterial bei dessen Lagerung bis hin zur Bindung einzelner Briefe zu Konvoluten lässt sich unter dem Kriterium der Materialität fassen. Insbesondere Sammlungen und Archive beschäftigen sich verstärkt mit materialen Aspekten der Briefe, um sie schonend lagern und dauerhaft erhalten zu können. Auch für die Rekonstruktion der Überlieferung spielt Materialität eine große Rolle. Schließlich finden sich auch Archivspuren (vgl. Heumann 2008) auf den Briefen selbst, beispielsweise in Form von Vermerken wie Signaturen, so dass in diesen Fällen neue Materialien, Spuren oder Eigenschaften hinzukommen. Einen ausführlichen systematischen Überblick sowohl zur relevanten Forschungsliteratur als auch zu den Kategorien für eine Analyse „chemisch-physikalischer Eigenschaften“ von Handschriften (und damit auch Briefen) wie Drucken liefert Röcken 2008 (vgl. v.  a. 43–45). In einem weiteren Verständnis kann der Begriff der Materialität nicht ohne weiteres getrennt von inhaltlichen Aspekten des Briefs und seiner Funktion gesehen werden. Auf diesen Zusammenhang verweist schon Karl Philipp Moritz in seinem „Allgemeinen deutschen Briefsteller“ (Moritz 2008 [1793]), in welchem er ein ganzes Kapitel (Kap. III) der „[a]eußre[n] Briefform“ (Moritz 2008 [1793], 118–234) widmet und dort neben den klarerweise unter Materialität zu fassenden Werkzeugen wie Petschaft (Moritz 2008 [1793], 193–194) und Siegellack (Moritz 2008 [1793], 194–195) auch auf Funktion und damit zusammenhängende Briefformen oder -typen (Billet, Brief i.  e.S., Promemoria und Eingabe, Moritz 2008 [1793], 195–201) eingeht und auch Anredeformen („Titulatur“) sowie Aufschriften hierunter subsumiert (Moritz 2008 [1793], 201–234).

2 Haptik und (scheinbare) Objektivität Insbesondere als Autographen stellen Briefe einen besonderen Wert dar. Das Material vermag die Abwesenheit des bzw. der Briefschreibenden zu kompensieren, was ein gedruckter Brief aufgrund der verlorengegangenen haptischen Eigenschaften nicht (mehr) kann. Diese Besonderheit kann eine Publikation von

224 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Briefen zwar nicht vollständig wiederherstellen, aber doch durch die Beigabe von Faksimiles zumindest andeuten. Diese Ausbildung eines stärker dokumentarischen Charakters von Briefeditionen ist seit dem frühen 20. Jahrhundert zu beobachten und lässt sich damit erklären, dass „man […] ein Geschehen lieber dokumentiert als erzählt bekommen [will] in der Meinung, sich dadurch einen höheren Grad an Objektivität zu sichern“ (Zeller 2008, 48). Materialität kann verführerisch auf die falsche Fährte locken, weshalb Bernhard Zeller den Brief auch „zu den wichtigsten, weil unmittelbarsten und zugleich gefährlichsten, weil subjektivsten geschichtlichen Quellen“ (Zeller 2008, 49) zählt. Mit den dank technischer Neuerungen erreichten Möglichkeiten der Einbindung von hochauflösenden Faksimiles in digitale Sammlungen und Editionen nähert man sich sehr viel stärker wieder den haptischen Eigenheiten eines handschriftlichen oder mit der Schreibmaschine getippten Briefs an. Gerade das Hineinzoomen in digital zur Verfügung gestellte Briefseiten bringt Details der Materialität zutage, die teilweise sogar am eigentlichen Objekt mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind: beispielsweise die Faserung des Papiers, (Fragmente von) materiell überlagerte(n) Wasserzeichen, abgeriebene Bleistiftspuren oder auch von Schimmel verdeckte Textstellen. Auch ergibt sich mit der im übertragenen Sinne räumlichen Ausweitung in digitalen Editionen nunmehr auch verstärkt die Möglichkeit, „die bislang meist marginalisierten Briefentwürfe“ (Strobel 2013, 138) in Editionen wiederzugeben und aufzubereiten. Steigt so noch der Verführungsgrad? In jedem Fall ist zu bedenken, dass eine kommentarlose Wiedergabe ohne wissenschaftliche Aufbereitung allenfalls Sammlungscharakter besitzt, und selbst bei jener ist die Beigabe von (nicht nur) materialbezogenen Daten (in Form von Metadaten) derzeit die zu erfüllende Mindestanforderung.

3 Arbeitsfelder der materialbezogenen ­Erforschung moderner Briefe Eine systematische Untersuchung zu Materialität in und von Briefen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive existiert bisher nicht, stattdessen befassen sich zahlreiche Einzelstudien mit ausgewählten und auf den jeweils spezifischen Gegenstand ausgerichteten Forschungsfragen. Dabei sind aber Tendenzen ersichtlich: So stellt der Ereignischarakter des Briefs (vgl. z.  B. Hübener 2015) aufgrund seiner kommunikativen Besonderheit und damit verbundener Fragen der Performanz einen Forschungsschwerpunkt dar. Während manche Ansätze auf den „präsentischen Effekt“ (Schöttker 2008, 19) von Briefen setzen, betonen andere die zu erbringende Transferleistung eines Briefs vom Charakter mündlicher Kom-

2.4 Materialität des Briefs 

 225

munikation hin zum Schriftstück, die sich erst mit der Lektüre in der (nahen) Zukunft vollzieht (vgl. Baasner 2008, 69; Stiening 2005, 172–173). Mit beiden Ausrichtungen gehen jeweils Fragen der ästhetischen Gestaltungsweise einher, die sich durchaus noch intensiver und systematisch an Fragen der Materialität knüpfen lassen. Aus medienwissenschaftlicher Perspektive spielen insbesondere Text-BildBeziehungen (vgl. z.  B. Kittelmann 2015, 101) oder die Einbindung nichttextueller Beigaben, die oft auch auf die persönliche Beziehung zwischen Absender*in und Adressat*in rückschließen lassen und/oder auf persönliche Erlebnisse rekurrieren, immer wieder eine große Rolle. Durch ihren stofflichen Gehalt werden Briefe als konkreter Gegenstand für diejenigen Forschungsfragen interessant, die insbesondere auf naturwissenschaftliche Analyseverfahren – beispielsweise hinsichtlich der Zusammensetzung von Eisengallustinten oder der Datierung und Herkunft von Papieren – setzen. Auch die Schreibprozessforschung (vgl. Loescher 2014), die Critique Génétique (vgl. Hay 2008 unter Einbindung auch von Briefen) und Ansätze zur Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte literarischer Texte und Werke, vor allem in genetischen Editionen, sind konsequenterweise auf naturwissenschaftliche Modelle zurückzuführen. Nun sind Fragen der Genese allerdings in Bezug auf Briefe eher irrelevant, da Briefe, idealtypisch betrachtet, nicht den Umfang und Überarbeitungsaufwand fiktionaler Texte aufweisen. Oft ist neben dem finalisierten Brief allenfalls ein Briefkonzept überliefert, das in der Regel und in Relation zu den genannten Texten keine besonders komplexen Änderungsvorgänge aufweist. Stattdessen dienen materialbezogene naturwissenschaftlich ausgerichtete Untersuchungen von Briefen vielmehr Forschungsinteressen, die außerhalb des (ästhetischen) Eigenwerts von Briefen liegen, so (1) dem Nachweis der Echtheit (oder Fälschung) eines Briefs in seiner Funktion als juristisch relevantem Zeugnis, beispielsweise in Erbrechtsfragen. Briefe werden (2) oft in Materialanalysen wie der Röntgenfluoreszenzanalyse als weitere Dokumente einbezogen, um bestehende Datierungshypothesen zu einzelnen literarischen Texten bekannter Autor*innen zu prüfen. Briefe werden in diesem Kontext zu oft unverzichtbaren Hilfsdokumenten, da sie anders als Werkmanuskripte oft zahlreicher und auch über längere Zeiträume dichter überliefert und somit für empirische Erhebungen belastbarer sind. So „erhöhen“ sie „die Aussicht auf Identifikation mit datierten Tinten“ (Brüning und Hahn 2017, 157). Dies ist beispielsweise bei der Erforschung der Entstehungsgeschichte von Goethes Faust der Fall, wobei Goethes Nachlass zugleich eine Fülle an Briefen aufweist und sich daher für diese Vorgehensweise gut eignet (vgl. Brüning et al. 2013). Zugleich wird deutlich, dass auch in dieser Funktion Briefen eher ein Dokumentcharakter zugeschrieben wird, als dass ihr Eigenwert im Zentrum der Untersuchung steht. Doch sollte man nicht aufgrund

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

bestehender Forschungsdesiderate hinsichtlich der Anwendung naturwissenschaftlicher Analysemethoden für Briefe zu falschen Schlüssen kommen: Gerade etwa bei der Erforschung eines Briefnetzwerks mit unbekannten Variablen (fehlenden Schreiber*innen- oder Empfänger*innendaten wie Name, Ort, Datum usw.) kann ein solches Vorgehen neue Ergebnisse zutage fördern, etwa durch den Vergleich von Papieren oder Tinten. Dies ist in der Regel ein aufwendiges und teures Verfahren und muss daher gut begründet sein. Vorausgehende intensive Forschungen mit Arbeitshypothesen sowie dem vorgelagerten Schritt der Dokumentation und Bereitstellung aller überlieferten Briefe eines solchen Netzwerks (vgl. hierzu die Überlegungen zu romantischen Netzwerken von Bunzel 2013, 117– 121) bilden die unverzichtbare Grundlage für den Einsatz naturwissenschaftlich ausgerichteter Analyseverfahren, lohnen aber. Zukunftsweisend wäre eine bisher noch nicht in der Breite erprobte Verschränkung nicht-hermeneutischer, materialbezogener Analysemethoden mit Fragen der Ästhetik, eine Art erweiterter Stilometrie, die nicht nur auf der Schriftebene aktiv wird, sondern gleichermaßen die „[a]eußre Briefform“ (Karl Philipp Moritz) einbezieht.

4 Absentes Material: Fehlende Briefe/Brief­ segmente und ihre Folgen Mindestens so spannend wie die Fragen zur Materialität von Briefen ist es, den Fokus weg vom positiven Befund und im Kontext von Briefkultur, Kanonbildung und Inszenierungspraxis hin zur Frage zu lenken, welche Konsequenzen die Absenz von Briefen oder Briefteilen haben kann, um die Bedeutung der Materialität für die Briefforschung quasi ex negativo herauszuarbeiten. Dies sollen vier Fälle veranschaulichen. Fall 1: Manipulation und stellenweise Zensur von Briefen – Durch Einwirkung auf das Briefmaterial lassen sich Textstellen unlesbar machen, die in der Regel pikante Details eines Sachverhalts verraten. Dazu gehören besonders in Briefen geäußerte Emotionen – sowohl im positiven als auch im negativen Sinn: Schmeicheleien und Liebesgeständnisse einerseits dürften zu den häufigsten zensierten Briefstellen gehören. Andererseits werden schmähende Formulierungen – meist über abwesende Dritte – auch gern unkenntlich gemacht. Das Einwirken auf das Material erfolgt beispielsweise durch Schwärzen, Überkleben oder Ausschneiden/Ausbrennen und wird – eine Vermutung, die erst noch empirisch zu belegen wäre – nicht von dem bzw. der Briefschreiber*in selbst vorgenommen, sondern von einer ihm bzw. ihr nahestehenden Person, etwa dem bzw. der Partner*in,

2.4 Materialität des Briefs 

 227

Freund*innen, Erb*innen etc. Beispielhaft seien die zu großen Teilen mittels schwarzer Tinte unkenntlich gemachten Briefe Christian Friedrich Tiecks an August Wilhelm Schlegel durch den Empfänger genannt (vgl. etwa Tiecks Brief aus Bern an Schlegel in Coppet von Mitte März 1812, Schlegel 2014–2020: https:// august-wilhelm-schlegel.de/version-04-20/briefid/2632). Ein etwas anderer Fall ist gegeben, wenn, den jeweiligen editorischen Gepflogenheiten geschuldet, scheinbar unnötige Stellen aus Briefen in Editionen weggelassen werden, wie etwa in der von Georg Waitz besorgten Ausgabe von Caroline Schellings Briefen (vgl. Schelling 1871). Pikanterweise kommt in diesem Fall der Umstand dazu, dass Waitz nicht nur der wissenschaftliche Herausgeber, sondern auch Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Schwiegersohn war und durch die enge familiäre Bindung eine Zensur von Briefstellen nicht unwahrscheinlich ist. Mit der Manipulation von Briefen durch Entfernen oder Nichtkenntlichmachen einzelner Stellen geht immer auch die Gefahr einer verfälschenden Sicht auf Autor*in, Briefstil sowie Inhalt einher. Fall 2: Autodafé und Zensur ganzer Briefe – Gerade weil Briefe oft brisante, weil private Details beinhalten oder bereits die Kenntnis um einen Briefwechsel zwischen zwei Personen nicht an die Öffentlichkeit gelangen soll, sind sie nicht selten der Gefahr ihrer Vernichtung ausgesetzt. So hat etwa Goethe einzelne Briefe Charlotte von Steins vermutlich auf ihren Wunsch hin schon in Italien verbrannt (vgl. Richter 2018, 12–13). Die Folge war, dass inhaltliche Details tatsächlich nur den Briefpartnern selbst bekannt blieben und entsprechend im zeitgenössischen Umfeld wie auch postum Gerüchte und Mythen diese materialbedingte Lücke füllten. Brieffolge und inhaltliche Bezüge sind vielfach nicht rekonstruierbar, was auch die Publikation der einseitig und selektiv erhaltenen Briefe vor gewisse Herausforderungen stellt. Das Vernichten von Briefen eines Korrespondenzpartners bzw. einer -partnerin innerhalb eines Netzwerks wiederum kann gar zu falschen Annahmen hinsichtlich der Größe und personalen Besetzung eines Netzwerks führen. Je nach Prominenz der Gruppe hat die fehlende Kenntnis eines Briefpartners bzw. einer Briefpartnerin durchaus auch Folgen für die allgemeine Wahrnehmung des Kollektivs. Es sei hier auf vernichtete Briefe August Wilhelm Schlegels aus seiner Familienkorrespondenz verwiesen  – mit entsprechenden Folgen: „[…] hat doch das Fehlen von Schlegels Handschrift in der Überlieferung zu vorschnellen Schlüssen geführt, die auch seine Charakterisierung und Rolle als Autor betreffen.“ (Bamberg 2016, 158–159) Fall 3: Fehlende Briefwechsel und -korpora – Welche Korrespondenzen sind es wert, in ein Literaturarchiv aufgenommen zu werden? Große Begriffe wie Kanon und kulturelles Erbe spielen in diese Entscheidungen hinein. Ungleich stärker betroffen von der Nichtberücksichtigung sind Briefe von Autorinnen, indem aufgrund soziokultureller und -historischer Bedingungen diese entweder Beständen

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

männlicher Autoren zugeordnet werden oder den Weg ins Archiv erst gar nicht finden. Dies ist besonders eklatant für die Epochen, in denen das Œuvre einer Schriftstellerin weitgehend oder ausschließlich aus Briefen besteht und bereits das männliche Umfeld der Autorin über die Einordnung von Materialien in Archive entscheidet (vgl. Daley 1998, 27; Becker-Cantarino 1998, 292–293). Die Folgen liegen auf der Hand: Wer bzw. was nicht sichtbar ist, wird auch nicht oder nur unzulänglich in Forschungsfragen behandelt. Die bereits im Archiv bestehende Schieflage wird durch die darauf aufbauende Forschung zementiert, denn bis auf wenige Ausnahmen sind den heutigen Standards genügende Editionen weiblicher Gesamtbriefwechsel eher selten. Darüber hinaus stellt sich im digitalen Zeitalter die Gefahr der Nichtsichtbarkeit auf einer weiteren Ebene: Auch bei den digitalen Briefeditionen dominiert klar die Präsenz männlicher Briefschreiber. Dass die Netzwerke so bedeutender Briefautorinnen wie Sophie von La Roche oder Rahel Varnhagen digital zur Verfügung stehen müssen, liegt auf der Hand (Varnhagen betreffend vgl. schon Landfester 2001). Fall  4: Literarisierte Briefe im Briefroman  – Der letzte Fall liegt abseits der vorigen, da es hier nicht um Briefe als solche geht, sondern um deren fiktionalisierte Form, wie sie insbesondere durch den Briefroman geprägt ist und damit auch rückwirkend Einfluss auf die Wahrnehmung und das Verständnis einer Briefkultur hat. In diesem Fall werden den Leser*innen also Briefe in gedruckter Form von einem bzw. einer fiktiven Herausgeber*in präsentiert, die weder haptisch sind (und auch nicht wie in Faksimileeditionen in Form von Bildmaterial beigelegt werden können) noch die in Briefeditionen üblichen Metadaten in gebräuchlichen Formen (Listen, Kopfdaten/Regesten, Berichten, Kommentaren usw.) bereitstellen. Es gilt also, Briefmerkmale mit anderen Mitteln darzustellen, um trotzdem die Briefe als solche erkennbar zu machen und darüber hinaus mit Schein-Authentizität zu versehen. Hier ist nun zu beobachten, dass die Materialeigenschaften des Briefs eher zu geringen Teilen imitiert werden (dies ist aus den schon genannten Gründen auch gar nicht möglich) und stattdessen auf die inhaltliche Ebene transportiert werden, indem sie oder die verwendeten Schreibgeräte zum thematischen Gegenstand von Briefen werden. Statt der anhand des Materials rekonstruierbaren „Schreibszene“, der „historisch und individuell […] veränderliche[n] Konstellation des Schreibens, die sich innerhalb des von der Sprache […], der Instrumentalität […] und der Geste […] gemeinsam gebildeten Rahmens abspielt“, findet eine Verschiebung zur „Schreib-Szene“ statt: zur Selbstthematisierung, zur „Problematisierung des Schreibens, die (es) zur (Auto-) Reflexion anhält“ (Stingelin 2004, 15). Diese Überlegungen werden in der Regel nicht rein abstrakt gehalten, sondern oft an konkrete (fiktive) Schreibszenen auf figuraler Ebene gebunden und erfüllen so den Pakt der scheinbaren Authentizität für die Leser*innen. So entschuldigt sich Karl Wilmont bei seinem Freund Mor-

2.4 Materialität des Briefs 

 229

timer in Ludwig Tiecks William Lovell: „Ich schäme mich meiner Nachlässigkeit und meine ungelenkigen Finger haben das Schreiben indeß verlernt; […] und ich selber spiele hier an meinem Schreibpulte eine höchst armseelige Figur, indem ich die Feder beiße und mir mit der linken Hand in den Kopf kratze […]“ (Tieck 1795/96, Bd. 1, 126). Aus den genannten Aspekten lässt sich schließen, dass der Brief eben gerade nicht die adäquate Umsetzung eines Gesprächs unter Freunden ist (gegen diesen u.  a. Topoi vgl. ausführlich Stiening 2005, 162–176), sondern ein eigenständiges Kommunikationsmedium mit einer ebenso eigenständigen wie komplexen Materialität.

Zitierte Literatur Baasner, Rainer (2008). „Stimme oder Schrift? Materialität und Medialität des Briefs“, in: Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. Hg. v. Detlev Schöttker. München u. Paderborn: 53–69. Bamberg, Claudia (2016). „Briefsteller ohne Briefe: August Wilhelm Schlegel und das Briefnetzwerk seiner Familie“, in: August Wilhelm Schlegel im Dialog. Epistolarität und Interkulturalität. Hg. v. Jochen Strobel. Paderborn: 155–175. Becker-Cantarino, Barbara (1998). „Schriftstellerinnen und ihre Texte: Zur Bedeutung der Edition in der literarhistorischen Frauenforschung“, in: Die Funktion von Editionen in Wissenschaft und Gesellschaft. Ringvorlesung des Studiengebiets Editionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Hg. v. Hans-Gert Roloff. Berlin: 277–302. Bohnenkamp, Anne (2008). „Schreibgeräte“, in: Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 11.9. bis 16.11.2008. Hg. v. ders.  u. Waltraud Wiethölter. Frankfurt a. M. u. Basel: 19–72. Brüning, Gerrit u. Oliver Hahn (2017). „Goethes Helena-Dichtung in ursprünglicher Gestalt. Zum methodischen Verhältnis von Materialanalyse und Textkritik“, in: editio, 31: 145–172. Brüning, Gerrit, Georg Dietz, Oliver Hahn u. Katrin Henzel (2013). „Kombination von philologischen und materialanalytischen Verfahren bei der Datierung von Schreibvorgängen – eine Fallstudie: Ergebnisse der Röntgenfluoreszenzanalyse an Faust-Handschriften im Goethe- und Schiller-Archiv“, in: Archäometrie und Denkmalpflege 2013. Jahrestagung an der Bauhaus-Universität Weimar, 25.–28.9.2013. Hg. v. Andreas Hauptmann, Oliver Mecking u. Michael Prange. Bochum: 221–225. Bürger, Jan (2008). „Versendetechniken“, in: Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 11.9. bis 16.11.2008. Hg. v. Anne Bohnenkamp u. Waltraud Wiethölter. Frankfurt a. M. u. Basel: 215–236. Bunzel, Wolfgang (2013). „Briefnetzwerke der Romantik. Theorie – Praxis – Edition“, in: BriefEdition im digitalen Zeitalter. Hg. v. Anne Bohnenkamp u. Elke Richter: 109–131. Daley, Margaretmary (1998). Women of Letters. A Study of Self and Genre in the Personal Writing of Caroline Schlegel-Schelling, Rahel Levin Varnhagen, and Bettina von Arnim. Columbia.

230 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Fontius, Martin (21995 [1988]). „Post und Brief“, in: Materialität der Kommunikation. Hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M.: 267–279. Füllner, Bernd (2013). „Textverlust und Textlücken in Briefen Heinrich Heines. Ein Beitrag zur Geschichte der Heine-Briefausgaben“, in: Brief-Edition im digitalen Zeitalter. Hg. v. Anne Bohnenkamp u. Elke Richter: 179–201. Furger, Carmen (2010): Briefsteller. Das Medium „Brief“ im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Köln u.  a. Gabler, Hans Walter (2013). „Wider die Autorzentriertheit in der Edition“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2012. Göttingen: 316–348. Giuriato, Davide (2008). „Briefpapier“, in: Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 11.9. bis 16.11.2008. Hg. v. Anne Bohnenkamp u. Waltraud Wiethölter. Frankfurt a. M. u. Basel: 1–18. Haarmann, Harald (2013). „Beschreibstoffe“, in: Handbuch Medien der Literatur. Hg. v. Natalie Binczek, Till Dembeck u. Jörgen Schäfer. Berlin u. Boston: 120–124. Hay, Louis (2008). „Materialität und Immaterialität der Handschrift“, in: editio, 22: 1–21. Heumann, Konrad (2008). „Archivierungsspuren“, in: Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 11.9. bis 16.11.2008. Hg. v. Anne Bohnenkamp u. Waltraud Wiethölter. Frankfurt a. M. u. Basel: 263–315. Hübener, Andrea (2015). „‚Mondschein‘ – ‚Wolken‘ – ‚Ende‘. Zur Inszenierung von Brief­ ereignissen und deren Materialität in der Korrespondenz zwischen Lucie und Hermann von Pückler-Muskau“, in: Briefnetzwerke um Hermann von Pückler-Muskau. Hg. v. Jana Kittelmann i. A. der Stiftung Fürst-Pückler-Museum Park u. Schloss Branitz. Dresden: 61–80. Kammer, Stephan (2008). „Handschrift“, in: Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 11.9. bis 16.11.2008. Hg. v. Anne Bohnenkamp u. Waltraud Wiethölter. Frankfurt a. M. u. Basel: 73–98. Kittelmann, Jana (2015). „Genie, Wanderer, Wahlverwandter. Zum Bild Pücklers im Briefwechsel zwischen Lucie von Pückler-Muskau und Adelheid von Carolath-Beuthen“, in: Briefnetzwerke um Hermann von Pückler-Muskau. Hg. v. ders. i. A. der Stiftung FürstPückler-Museum Park und Schloss Branitz. Dresden: 81–101. Landfester, Ulrike (2001). „‚Aus einem unendlichen Vorrath von Briefen…‘ Zum Nutzen einer elektronischen Edition von Rahel Levin Varnhagens Werk“, in: „Ich an Dich“: Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen. Hg. v. Werner M. Bauer, Johannes John u. Wolfgang Wiesmüller. Innsbruck: 95–114. Loescher, Jens (2014). Schreiben. Literarische und wissenschaftliche Innovation bei Lichtenberg, Jean Paul, Goethe. Berlin u. Boston. Moering, Renate (2008). „Briefbeigaben“, in: Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 11.9. bis 16.11.2008. Hg. v. Anne Bohnenkamp u. Waltraud Wiethölter. Frankfurt a. M. u. Basel: 191–214. Moritz, Karl Philipp (2008 [1793]). „Allgemeiner deutscher Briefsteller, welcher eine kleine deutsche Sprachlehre, die Hauptregeln des Styls und eine vollständige Beispielsammlung aller Gattungen von Briefen enthält“, in: Ders. Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe. Bd. 9: Briefsteller. Hg. v. Albert Meier u. Christof Wingertszahn. Tübingen: 95–416.

2.4 Materialität des Briefs 

 231

Radecke, Gabriele (2013). „Beilage, Einlage, Einschluss. Zur Funktion und Differenzierung von Briefbeigaben und ihrer editorischen Repräsentation am Beispiel von Theodor Fontanes Briefwechseln mit Bernhard von Lepel und Theodor Storm“, in: Brief-Edition im digitalen Zeitalter. Hg. v. Anne Bohnenkamp u. Elke Richter: 165–177. Richter, Elke (2018). „‚Wie kann ich seyn ohne Ihnen zu schreiben.‘ Goethes frühe Briefe an Charlotte von Stein“, in: Charlotte von Stein. Schriftstellerin, Freundin und Mentorin. Hg. v. ders.  u. Alexander Rosenbaum. Berlin u. Boston: 3–49. Röcken, Per (2008). „Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität? Versuch einer Explikation des Ausdrucks und einer sachlichen Klärung“, in: editio, 22: 22–46. Schelling, Caroline (1871). Caroline. Briefe an ihre Geschwister, ihre Tochter Auguste, die Familie Gotter, F. L. Meyer, A. W. und Fr. Schlegel, J. Schelling u.  a. nebst Briefen von A. W. und Fr. Schlegel u.  a. 2 Bde. Hg. v. Georg Waitz. Leipzig. Schlegel, August Wilhelm (2014–2020). Digitale Edition der Korrespondenz [Version-04-20]. Hg. v. Jochen Strobel u. Claudia Bamberg. Dresden u.  a.; https://august-wilhelmschlegel.de (11.3.2020). Schöttker, Detlev (2008). „Archive der Subjektivität. Modelle brieflicher Überlieferung bei Goethe, Ernst Jünger und Walter Kempowski“, in: Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. Hg. v. dems. München u. Paderborn: 19–36. Stiening, Gideon (2005). „Briefroman und Empfindsamkeit“, in: Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen und ihr epochaler Kontext. Hg. v. Klaus Garber u. Ute Széll. München: 161–190. Stingelin, Martin (2004). „‚Schreiben.‘ Einleitung“, in: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hg. v. dems. München: 7–21. Stingelin, Martin (2013). „Schreibwerkzeuge“, in: Handbuch Medien der Literatur. Hg. v. Natalie Binczek, Till Dembeck u. Jörgen Schäfer. Berlin u. Boston: 99–119. Strobel, Jochen (2013). „Der Brief als Prozess. Entwurf und Konzept in der digitalen Edition“, in: Brief-Edition im digitalen Zeitalter. Hg. v. Anne Bohnenkamp u. Elke Richter: 133–146. Tieck, Ludwig (1795/96). Die Geschichte des Herrn William Lovell. 3 Bde. Bd. 1. Berlin u. Leipzig.

Konrad Heumann

2.5 Der Brief als Sammlungsobjekt 1 Praxeologie des Briefsammelns Bis jetzt gibt es keine größere Abhandlung, die jenseits einzelner Fallstudien einen Überblick über die Geschichte des Sammelns von Briefen geben würde. Einerseits fehlt generell „eine umfassende kulturgeschichtliche Untersuchung des Autographensammelns“ (Plachta 2010, 81), andererseits sind die „historischen Kriterien der Briefarchivierung und -klassifikation durch Adressaten, aber auch durch Erben und Nachlassverwalter, durch Bibliothekare und frühe Editoren, die unseren heutigen Kenntnisstand entscheidend prägen, […] kaum erforscht […]“ (Strobel 2013, 167). Nicht zu unterschätzen sind zwar die Pionierarbeiten von Alan N. L. Munby (Munby 1962) und Günther Mecklenburg (vgl. Mecklenburg 1963), die die Aktivitäten bedeutender Sammlerpersönlichkeiten nachzeichnen. Ferner liegt eine Reihe an materialreichen Handbüchern für Autographensammler*innen vor (vgl. Fontaine 1836; Günther und Schulz 1856; Scott und Davey 1891; Wolbe 1923; Jung 1971; Keurajian 2017 etc.), die Einblicke in die Entwicklung, die Strategien und das Selbstverständnis privater Sammlungsbestrebungen geben. Eine historisch-systematische Darstellung der jeweils spezifischen Sammlungs- und Archivierungsstrategien von Korrespondenzpartner*innen, privaten Sammler*innen, Händler*innen, Bibliothekar*innen, Archivar*innen und Forscher*innen steht jedoch aus (vgl. Henning 2006, 17, 21). Namentlich über das Verhältnis zwischen privater und institutioneller Bestandsbildung ist, von wichtigen Fallstudien abgesehen, wenig bekannt. Eine solche Rekonstruktion dürfte sich nicht auf idealisierte Sammlungskonzepte beschränken. Sammlungen, ganz gleich, ob sie privat oder öffentlich geführt werden, entstehen nicht, indem ihnen nach vorab bekannten Zielen und Regeln kontrolliert Inhalte zugeführt werden, die dann einer eindeutig definierten Nutzung zur Verfügung stehen (vgl. Friedrich 2013, 15). Zur ihrer Natur gehört, dass sie gewissermaßen wild wachsen, indem sie mit der Zeit ihre Charakteristik ebenso verändern wie die ‚impliziten Narrative‘ („tacit narratives“, vgl. Ketelaar 2001) ihrer Ziele und Regeln. Ebenso wenig vorhersehbar sind die Nutzungen. Sammlungen sind keine abstrakten ‚Wissensspeicher‘, sondern gleichen eher polyvalenten Materialassemblagen, die den Benutzer*innen ein Feld latenter Nutzungsmöglichkeiten eröffnen. Welche Fragen sie an das Material stellen, lässt sich nicht vorhersehen. Entsprechend ist Sammeln immer auch ein divinatorischer Vorgriff auf künftige Bedeutsamkeit. Gefordert wäre demnach eine künftige ‚Praxeologie des Briefsammelns‘, die anhand von zeitgenössischen Dokumentationen und Archivierungsspuren die https://doi.org/10.1515/9783110376531-014

2.5 Der Brief als Sammlungsobjekt 

 233

historischen Formen des Sammelns und Archivierens vergleichend rekonstruiert, um sie im Sinne Pierre Bourdieus als komplexe soziale Praktiken zu deuten: „Der Blick auf das Archiv als verdinglichte Institution darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Archive ein Geflecht von zahllosen einzelnen Tätigkeiten und Handlungen sind.“ (Friedrich 2013, 15) Eine historisch-systematisch angelegte Praxeologie im beschriebenen Sinne wird im Folgenden nicht angestrebt. Skizziert werden lediglich die Entstehungsgeschichten einiger wichtiger Briefsammlungen, vor allem im deutschsprachigen Bereich, an denen sich nicht nur die unterschiedlichen Interessenlagen der Bestandsbildner*innen, sondern auch die Formen der Überleitung der Bestände in institutionelle Organisationsformen ablesen lassen.

2 Die ersten privaten Briefsammlungen und ihr Übergang in öffentlichen Besitz Die Geschichte der Briefarchivierung reicht weit zurück. Seit jeher wurden Briefe nicht nur geschrieben, sondern auch aufbewahrt, so dass sie jenseits ihrer Erstlektüre und ihrer ursprünglich intendierten Adressierung für spätere Leser*innen zur Verfügung standen. So bezieht sich einer der Gesprächspartner in Tacitus’ Dialogus de oratoribus (Kap. 37) auf die umfangreiche Briefsammlung des römischen Generals (und Kuriositätenjägers) C. Licinius Mucianus als Beleg für die Blüte der Redekunst in den vergangenen Zeiten der Republik. In der Vita divi Augusti (vgl. Kap.  87–88) entwickelt Sueton seine Auslassungen über den Individualstil des schon lange verstorbenen Kaisers anhand der detaillierten Analyse autographer Briefe („litterae ipsius autographae“), die er nur im kaiserlichen Archiv eingesehen haben konnte. Bereits im Altertum gab es demnach im Hinblick auf Briefe ein Materialitäts- und Archivbewusstsein. Für die neuzeitliche Entwicklung des Sammelns von Briefen sind sowohl hinsichtlich des Bestandsaufbaus wie auch hinsichtlich der Archivierungspraktiken die privaten Sammler*innen von großer Bedeutung. Auch in den öffentlichen Archiven wurden Briefe gesammelt, um die Verhältnisse von Kirchen, Gemeinden, Provinzen und ganzen Ländern zu dokumentieren. Allerdings hatten die geschäftlichen Briefe in ihren spezifischen Ausformungen zumeist keine rechtliche Wirkungskraft, sie waren keine Urkunden im engeren Sinne, die Rechtsgeschäfte vollständig und verbindlich dokumentierten. Für die Aktenführung waren sie zwar unerlässlich und insofern archivwürdig (deshalb wurden die Archive auch ‚Briefgewölbe‘ genannt), doch galten sie als Archivgut zweiter Klasse. Sie waren eben nur „Überreste geschäftlicher Willensakte“ (Brenneke

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

1988, 8) und als solche Vorstadien der eigentlich relevanten Dokumente. Bei den öffentlichen Bibliotheken in territorialstaatlicher bzw. städtischer Trägerschaft sah es nicht besser aus. Eine eigenständige Akquisition von Korrespondenzen wurde nicht betrieben, die Bestandsbildung erfolgte, wenn überhaupt, durch Übernahmen privater Sammlungszusammenhänge (vgl. Walter 2012, 231). Die Voraussetzung für den gezielten Aufbau von Briefsammlungen war die Entwicklung eines selbstbewussten Bürgertums in der Spätrenaissance: „Die noch lebendige Erinnerung an das Wirken der großen Reformatoren, […] humanistische Bildung, durch Korrespondenz und Reisen über ganz Europa ausgedehnte Verbindungen, ein überkommener Wohlstand und das in dieser Zeit nachweisbare Entstehen eines bürgerlichen Privatlebens waren der Nährboden, auf dem das Sammeln gedieh.“ (Mecklenburg 1963, 18) Freilich waren die Briefe der Humanisten auch vorher schon gesammelt worden, etwa die von Enea Silvio Piccolomini, um sie im Dienste der Translatio imperii als Vorbilder zu publizieren (z.  B. BSB München, clm 12725; vgl. Helmrath 2013, 93–94.). Noch deutlich früher, nämlich Ende des ersten Jahrtausends, entstand in der Abtei von St. Bavo (Gent) eine Sammlung mit Musterbriefen Einhards (BnF Paris, lat. 11379, vgl. Contreni 1973). In solchen Fällen ging es allerdings stets um den reinen, oftmals stark redigierten Brieftext, nicht um die originalen Handschriften. Der Typus des Sammlers, der nicht nur die eigene Korrespondenz mehr oder weniger kontrolliert ablegt, sondern ein genuines Interesse an Briefautographen anderer entwickelt, begegnet erstmals im ausgehenden Zeitalter des Humanismus. Der Breslauer Thomas von Rehdiger (1540‒1576), der u.  a. bei Melanchthon in Wittenberg studiert hatte und anschließend elf Jahre lang ganz Europa bereiste, baute in seiner kurzen Lebenszeit eine umfangreiche Bibliothek auf, die auch neun Bände mit autographen Humanistenbriefen enthielt (vgl. Wachler 1828, 74‒80, vgl. auch Lipińska 2017). Die meisten waren an den mit ihm befreundeten Arzt Johannes Crato gerichtet und stammten u.  a. von Joachim Camerarius d. J. (174), Erasmus von Rotterdam (2), Hubert Languet (29), Martin Luther (15) und Philipp Melanchthon (78). In seinem Testament legte Rehdiger fest, dass die Sammlung nach seinem Tod in seiner Heimatstadt Breslau öffentlich aufgestellt werden solle, zu Ehren der Familie Rehdiger, aber auch zum Nutzen und Vergnügen anderer („aliis usui et voluptati“, Wachler 1828, 71). Nach diversen Schwierigkeiten wurde der letzte Wille 1645 schließlich vollstreckt, und die Stadt Breslau machte die Sammlung als Bibliotheca Rehdigerana öffentlich zugänglich. Heute gehört sie zum Bestand der Universitätsbibliothek Breslau/Wrocław. Der Sohn des eben erwähnten Arztes Joachim Camerarius d. J. war Ludwig Camerarius (1573‒1651). An ihm zeigt sich in vieler Beziehung bereits das Vollbild des passionierten Briefsammlers. Camerarius entstammte dem Patriziat der Freien Reichsstadt Nürnberg. Nach seinem Studium (u.  a. in Altdorf bei Nürnberg)

2.5 Der Brief als Sammlungsobjekt 

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trat er in kurpfälzischen Dienst und entwickelte sich dort zum wichtigsten Diplomaten. 1626 wechselte er zu den Schweden, deren Regierung er ab 1629 bei den niederländischen Generalstaaten im Haag vertrat. Ein mächtiger Mann also, der im Dreißigjährigen Krieg immer wieder als Wortführer der Protestanten im Kampf gegen die Habsburger und die katholische Liga auftrat. Als Enkel des herausragenden Altphilologen und Pädagogen Joachim Camerarius d. Ä. sah er sich in lebendiger Tradition des Späthumanismus, so dass er seinen Namen (Kammerer) wie seine Vorfahren latinisierte, in bestimmter Negation des Zeitgeistes. Als Camerarius sich 1641 aus der Politik zurückzog, entfaltete er eine gewaltige Sammeltätigkeit, mit der er seine Überzeugungen konsequent weiterführte. Gegenüber seinem Nürnberger Verwandten Lukas Friedrich Behaim (1587‒1648), mit dem er seit 1636 einen intensiven politischen Briefwechsel führte, skizzierte er am 29. Juli 1641 den Grundstock seiner Sammlung: Weil Ich ietzo exoptatum otium [die erwünschte Ruhe] hab, So hab ich Meine Bücher vnd chartas ettwas durchlauffen vnd über die 250 Epistolas magnorum et clarorum virorum ab anno 1500 biß auff vnßere Zeitt zusammen colligirt, von einem 1, 2 oder mehr. Nur damitt Ich derselben handschrifften bey einander hab, hallte es für köstlicher, alß kein Stammbuch sein mag, ob es gleich stattliche gemählt in Sich hatt. Es mangeln Mir aber noch ettliche […]. (Camerarius und Behaim 1961, 125)

Es ging Camerarius also nicht um die reine Schaulust, die sich durch illustrierte Stammbücher besser befriedigen ließe, sondern um die geistigen Bezüge der vergangenen Epoche. Nicht zufällig spielte er auf Reuchlins 1514 erschienene Sammlung Clarorum virorum epistolae an, der es ebenfalls nicht um das Faktum bloßer Berühmtheit, sondern um Tradition und Haltung zu tun war. Ausgangspunkt und Kraftzentrum der Sammlung war Camerarius’ eigene Familiengeschichte. Deren thematische Stränge wurden in der Folgezeit durch ein europäisches Netzwerk von Zulieferern, in dessen Zentrum offenbar sein Sohn Joachim IV. (Halm 1873, 12) sowie Behaim standen, weiter ausgebaut. Letzterem teilte er regelmäßig den Stand seiner Sammlungsaktivität mit: 350 Briefe im Dezember 1641, 500 Briefe im April 1642 und 600 Briefe im August 1642. Wie Rehdiger heftete Camerarius die Stücke in Foliobänden ab, die er nach Personenkreisen und Themen ordnete; die Schwerpunkte lagen bei den Reformatoren, den Humanisten sowie den Medizinern und Naturforschern (vgl. Ernstberger 1959, 12‒20). Auch die Literaturgeschichte war vertreten (vgl. Halm 1873, 25). Schon im ersten Jahr war er zuversichtlich, „9 oder 10 volumina […] in kurtzer Zeitt zusammen zu bringen“ (Camerarius und Behaim 1961, 146). Als Camerarius 1646 die Briefe des Hugenotten Hubert Languet herausgab, erläuterte er im Vorwort seinen Antrieb als Sammler: Angesichts der traurigen Gegenwart habe er sich für sein restliches Leben in die Stille zurückgezogen, um

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

sich fortan seinen literarischen Liebhabereien („literariae deliciae“) zu widmen, namentlich seiner Sammlung eigenhändiger Briefe („propriis ipsorum manibus exaratarum“) (Camerarius 1646, [32]). Sowohl beim Lesen wie auch beim Betrachten („in legendis et considerandis“) der Schreiben ausgezeichneter Männer der Vergangenheit („prisci aevi“) empfinde er das höchste Vergnügen (Camerarius 1646, [34]). Dieser kompensatorisch-resignative Versuch, im Sammlungszusammenhang eine Ordnung herzustellen, die die chaotische Gegenwart vermissen lässt, verweist auf die generelle „melancholische Struktur des Sammelns“ (Lobsien 1998, 353), die Robert Burton 25 Jahre zuvor in The Anatomy of Melancholy auf seine Weise entfaltet hatte. Zugleich camoufliert der Gestus jedoch den dezidierten Einspruchscharakter, den die Publikation der Briefe faktisch intendierte und der im folgenden Jahr in der (anonymen) Edition der MelanchthonBriefe noch deutlicher hervortrat (vgl. Camerarius 1647). Camerarius machte mit seinen Briefkonvoluten durchaus Politik. Wie Rehdiger dachte auch Camerarius darüber nach, wie seine exemplarische Sammlung nach seinem Tod zusammengehalten werden könne. Bereits 1641 schrieb er, dass er seinen „schatz […] einer Academi zu ihrer Bibliothec hin­ derlassen“ wolle, „weil sonsten dergleichen Ding bald zerstrewet und verlohren werden.“ (Camerarius und Behaim 1961, 137) In seinem Testament legte er die Universität Altdorf fest, der Behaim qua Amt vorstand (Camerarius und Behaim 1961, 236). Es kam jedoch anders, die Familie behielt die Sammlung, der Sohn setzte sie fort, eine Urenkelin verkaufte 1750 sechs Bände an den Nürnberger Arzt und Briefsammler Christoph Jacob Trew (heute Universitätsbibliothek Erlangen, vgl. Helbig 2010) und die restlichen 73 Bände im Jahr 1769 an den Kurfürsten Karl Theodor in Mannheim (vgl. Kellner und Spethmann 1996, 510). Dort wurden sie im März 1774 von dem schwedischen Forschungsreisenden Jacob Jonas Björnståhl eingehend untersucht und als bedeutende Quelle „der Reformationsgeschichte sowohl, als der bürgerlichen und Literairhistorie“ gewürdigt (Björnståhl 1782, 59). Heute befinden sie sich, durch erhebliche Plünderungen stark dezimiert (vgl. Halm 1873, 21), als Collectio Camerariana in der BSB München (vgl. Clm 10351–10431). Noch ein dritter bedeutender Briefsammler der Frühen Neuzeit sei erwähnt: Zacharias Konrad von Uffenbach (1683‒1734). Uffenbach entstammte einer Frankfurter Juristenfamilie und lebte nach seinem Studium (in Straßburg und Halle) in seiner Heimatstadt. Ab 1705 unternahm er mehrere ausgedehnte Forschungsreisen, um sich mit den Beständen und Erschließungsformen der wichtigsten privaten und öffentlichen Bibliotheken seiner Zeit bekannt zu machen (vgl. Uffenbach 1753‒1754). Zugleich baute er eine Büchersammlung mit enzyklopädischem Anspruch auf. Sein Ziel war nicht die Erforschung eines bestimmten Fachgebietes durch eigene, intensive Lektüre, sondern eine Musterbibliothek im Dienste der Historia Literaria, der systematischen Erschließung des gesamten gelehrten

2.5 Der Brief als Sammlungsobjekt 

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Wissens der Menschheit ‒ für die Bürger Frankfurts und darüber hinaus. Insofern verstand er sich, wie er 1728 in einem Brief an den Gießener Orientalisten Johann Heinrich Majus formulierte, nicht nur als einer der besten Bücherkundler seiner Zeit, sondern als „anderer Leuthe bibliothecarius“ (Franke 1965, 1252). In den Räumen seines Hauses auf der Zeil stellte Uffenbach seine Bestände (rund 40.000 bibliographische Einheiten) bereitwillig allen Interessierten zur Verfügung. Aus den Eintragungen in seinen Gästebüchern geht hervor, dass er zwischen 1711 und 1733 in seinem „Museum“, wie er es nannte (Franke 1965, 1328), insgesamt 830 Besucher empfing (vgl. SUB Hamburg, Cod. in scrinio 63‒65). Für sein Selbstverständnis als Sammler ist sein Exlibris (1804) instruktiv. Es zeigt in idealer Ansicht einen Saal mit beschrifteten Bücherregalen an den Wänden, in dessen Zentrum sich ein großer Schrank befindet. Er trägt die Aufschrift „MSTI“ ‒ Manuscripti (Bader 2007, 16‒18). Manuskripte sammelte Uffenbach bereits in seiner Straßburger Studienzeit. Einen seiner ersten Funde, ein Korrespondenzkonvolut des politisch umtriebigen Historikers Matthias Bernegger, fand er dort unter der Makulatur eines Buchhändlers (vgl. Walter 2012, 239; vgl. auch Franke 1965, 1270–1272). Als seine Amtspflichten als zweiter Bürgermeister der Stadt Frankfurt die Pflege der Sammlung und die Betreuung der Gäste nicht weiter zuließen und er die Bibliothek ab 1729 zum öffentlichen Verkauf stellte (vgl. Bogeng 1956, 498), trennte er sich auch von vielen seiner kostbaren Handschriften (vgl. Walter 2012, 250). Die Sammlung der Korrespondenzen behielt er allerdings zurück, da sie für ihn das Zentrum der Historia Literaria darstellte. Einer Anzeige des Verkaufskatalogs in den Leipziger Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen (Nr. 60, 28.7.1729, 551–552) ist zu entnehmen, dass er seine „Collection ad historiam literariam zu vermehren willens“ sei „und hieher vornehmlich die Epistolae MSStae doct. Virorum gehörig: als wird ihm gar angenehm seyn, wann iemand, so dergleichen hätte, darauf tauschen wollte, dabey iedoch zu erinnern, daß die Epistolae wo nicht ineditae, doch wenigstens autographae seyn müssen“ (vgl. auch Bogeng 1956, 489). Uffenbach war es also einerseits um die unbekannten Inhalte der Briefe zu tun, die er interessierten Forschern und Editoren zuführen wollte (vgl. Franke 1965, 1306), zugleich aber auch um die Rettung der Originale als solcher vor skrupellosen Händlern und Unwissenden (vgl. Franke 1965, 1257). Kein anderer Sammler der Zeit bemühte sich so intensiv um die Sicherung frühneuzeitlicher Gelehrtenbriefe wie Uffenbach. Nach Uffenbachs Tod wurde die Briefsammlung 1735 im Zuge einer Auktion „um billigen Preis“ (Uffenbach 1753, Bd. 1, CL) vom Hamburger Theologen Johann Christoph Wolf (1683‒1739) erworben, der sie in einem umfangreichen Katalog dokumentierte (vgl. Wolf 1736). Wolf sammelte selbst Briefe, verband im Gegensatz zu Uffenbach mit dem Bestand jedoch konkrete Interessen und Vorlieben, indem er den Blick auf die protestantischen Briefschreiber und ihre Ideen richtete

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

(vgl. Walter 2012, 250). Aus Wolfs Nachlass ging die (von diesem stark angereicherte) Uffenbach’sche Sammlung per testamentarischer Verfügung an die Hamburger Stadtbibliothek über (heute Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg). Die Katalogisierung des Korpus verzeichnet 200 Bände mit ca. 40.000  Briefen von 7.128 Verfassern an 3.229 Adressaten vom ausgehenden 15. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts (vgl. Krüger 1978). Uffenbachs eigene gelehrte Korrespondenz in 22 Bänden (über 2.500 Briefe) ging nach seinem Tod an Johann Georg Schelhorn, Prediger und Bibliothekar der Freien Reichsstadt Memmingen. Über einen Memminger Antiquar gelangte sie schließlich in die heutige Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (vgl. Richel 1932, 269). Für den nicht-deutschsprachigen Bereich (weitere Beispiele vgl. Günther und Schulz 1856, 11‒15) sei stellvertretend der französische Sammler Roger de Gai­ gnières (1642‒1715) genannt, der auf ausgedehnten Forschungsreisen eine immens große Menge an Dokumenten zur französischen Geschichte zusammentrug. Als Archiv diente ihm lange Zeit das Pariser Hôtel de Guise (heute Hôtel de Soubise, Sitz des Centre historique des Archives nationales). Die Sammlung enthielt unter anderem 25.000 originale Briefe von Mitgliedern der Königsfamilien sowie von Ministern und Staatsbeamten seit Karl VII. (vgl. Delisle 1868, Bd. 1, 335‒356, hier: 348). Um einer Zerschlagung seiner Archivbestände vorzubeugen, verkaufte Gai­ gnières sie im Jahr 1711 nach längeren Verhandlungen an Ludwig XIV. Gleichwohl wurden sie in der Folgezeit aufgelöst. Die Sammlung historischer Briefe sowie Gaignières’ eigene Korrespondenzen befinden sich heute in der Bibliothèque nationale de France, an einer Rekonstruktion des Gesamtzusammenhangs wird derzeit anhand der Inventare von 1711 und 1717 gearbeitet (vgl. https://www.collecta.fr; Ritz 2016).

3 Nachlasspolitik durch Selbstarchivierung: Gottsched, Gleim, Goethe Die bisher vorgestellten Briefkorpora entstanden hauptsächlich durch gezielte Sammeltätigkeit, also durch die aktive Akzession von interessanten Stücken und Konvoluten fremder Verfasser. In anderen Fällen fühlten sich die Korrespondenzpartner selbst für die Überlieferung ihrer Bestände zuständig und ergriffen im Zuge der ‚Selbstarchivierung‘ (vgl. Heumann 2008, 263‒271) Maßnahmen, sie für die Nachwelt zu sichern. So verknüpften Gottsched, Gleim und Goethe mit ihrer Briefablage programmatische Interessen, die sich auf die Öffentlichkeit richteten. Aus diesem Grund betrieben sie gezielt (und höchst erfolgreich) „Nachlasspolitik“ (Nutt-Kofoth 2017).

2.5 Der Brief als Sammlungsobjekt 

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Als einer der strahlkräftigsten Agenten der deutschen Frühaufklärung pflegte Johann Christoph Gottsched (1700–1766) im mitteldeutschen Raum ein Korrespondenznetzwerk von erheblichem Umfang und erstaunlicher sozialer Breite. Um 1750, als sein Briefverkehr die volle Ausdehnung erreicht hatte, liefen jedes Jahr 200 bis 300 Briefe ein (vgl. Gottsched 2007, XIX). Gottsched ließ sie binden und gab vielleicht auch Anweisung, wie später mit ihnen zu verfahren sei, jedenfalls gelangten nach seinem Tod (der Zeitpunkt ist unbekannt) 22 Briefbände in die Universitätsbibliothek Leipzig, wo sie noch heute verwahrt werden (vgl. Sign. Ms 0342). Es handelt sich um ca. 4.700 Schreiben aus den Jahren 1722 bis 1756. Bemerkenswert ist, dass Gottsched die eingelaufenen Briefe nicht nur heften, sondern bis zum Jahr 1746 zusätzlich auch kopieren ließ. Für das Tagesgeschäft des Korrespondierens wäre dies nicht erforderlich gewesen. Der Aufbau eines Parallelarchivs in neun umfangreichen Bänden, die heute in der SLUB Dresden (vgl. Sign. M 166) und der UB Leipzig (vgl. Sign. 0343b) verwahrt werden, muss einen anderen Zweck gehabt haben. Die zusätzliche Sicherung deutet darauf hin, dass Gottsched das Korpus als beispielgebend für die Briefkultur seiner Zeit ansah und somit als besonders überlieferungswürdig (vgl. Gottsched 2007, XX). Insofern ist es durchaus in Gottscheds Sinne, dass der Bestand, der kaum Briefe von ihm selbst enthält, derzeit in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig vollständig historisch-kritisch ediert wird. Auch die Briefsammlung von Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719‒1803) mit ihren fast 10.000 Korrespondenzstücken speiste sich aus dem eigenen Briefverkehr, und auch Gleim betrachtete sie als Bedeutungszusammenhang eigenen Rechts. Seit den 1780er Jahren baute er explizit ein Gruppenarchiv auf, das die Anschauungen, den Stil und die Aktivitäten seines intellektuellen Umfeldes dokumentieren sollte, schließlich seien Briefe, so eines der Argumente, „die besten Dokumente zu Biographien“ (Gleim und Uz 1899, 421). Abgelegt wurden sie zunächst in personenbezogenen Umschlägen, die auch Regesten enthielten. Ab 1798 übernahm Gleims Großneffe Wilhelm Körte die Ordnung des Archivs, nun wurden die Briefe in 304 Bände eingebunden (heute aufgelöst, vgl. Stört 2010, 97‒98). Den Schrank, in dem die Korrespondenzen verwahrt wurden, nannte Gleim ‒ in Anknüpfung an eine programmatische Wendung in Karl Philipp Moritz’ letztem Werk Die Neue Cecilia (vgl. Moritz 1794, 58) ‒ sein „Archiv der Freundschaft“ (Gleim und Uz 1899, 442). Zwei Jahre nach Gleims Tod kündigten seine Nachlassverwalter Wilhelm Körte und Klamer Schmidt in der Allgemeinen Literatur-Zeitung die „Herausgabe der Gleimschen Briefsammlung“ an. Dies habe der Nachlasser in seinem Testament selbst gefordert, da eine Ausgabe der Briefe, so Gleim, „zur Geschichte der deutschen Literatur einen guten Beytrag abgeben“ werde. Die nicht publizierten Briefe lege man „nach allgemeiner nothwendiger Durchsicht derselben in das

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Brief-Archiv zurück“, lasse „sie durchaus in keines Fremden Hände gerathen“ und benutze sie „überhaupt nur bey ganz besondern Vergünstigungen ihrer Verfasser“. Zu dieser Erklärung sehe man sich durch Freunde Gleims genötigt, die „in hysterischer Peinlichkeit“ die Rückgabe ihrer Briefe gefordert hätten. Ein solches Verfahren widerspreche allerdings eindeutig Gleims letztem Willen (Körte und Schmidt 1805, Sp. 34‒35). Mit den beiden Angesprochenen Johann Georg Jacobi und Johann Heinrich Voß entspann sich in der Folge ein ebenso harter wie instruktiver öffentlicher Streit um den richtigen Umgang mit nachgelassenen Briefen (vgl. Mohr 1973). Namentlich Voß bestritt den Nachlassverwaltern grundsätzlich das Recht auf Durchsicht und Archivierung der nachgelassenen Korrespondenzen (vgl. Voß 1807, 31). Gleim hatte in seinem Testament eigentlich vorgesehen, dass seine Sammlungen in einer aus seinem Vermögen zu gründenden, gemeinnützigen ‚Schule der Humanität‘ verwahrt und als Anschauungsmaterial genutzt werden sollten. Die Umsetzung scheiterte jedoch, so dass das Briefarchiv in Körtes Privatwohnung (heute Domplatz 48) untergebracht werden musste. 1862 erwarb die ‚Gleim’sche Familienstiftung‘ Gleims Wohnhaus (heute Domplatz 31) und machte die Sammlungen dort einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Seit 1898 sind sie Eigentum der Stadt Halberstadt (vgl. Stört 2010, 203–211). Zweieinhalb Jahre nach Gleims Tod, am 22. August 1805, besichtigte Johann Wolfgang von Goethe (1749‒1832) gemeinsam mit seinem Sohn August in Halberstadt bei Wilhelm Körte die Gleim’schen Sammlungen. Das Briefarchiv scheint ihn beeindruckt zu haben, da er Körte um einige Proben aus der Sammlung bat, die ihm dieser am 3.  September als Zeugnisse „des beliebten goldenen Jahrhundert[s] der Deutschen“ auch zustellte (Hentschel 2010, 688). Es handelte sich um 29 Briefe (u.  a. von Bodmer, Klopstock und Lessing) sowie eine Gedichthandschrift, die Körte zu einem gemeinsamen Heft zusammengeklebt hatte. Goethe antwortete wenige Tage später, das Heft solle „wie es ist, beysammen bleiben“, um die „gegenwärtige und künftige Sammlung“ zu zieren (Hentschel 2010, 689). So wurde Körtes Schenkung zur Keimzelle für Goethes Autographensammlung. Unabhängig von dieser Sammlung eigenhändiger Handschriften prominenter Personen unterhielt Goethe zeitlebens eine Registratur seiner eigenen Korrespondenzen, die in Anspruch und Systematik derjenigen Gleims in nichts nachstand. Sie war Bestandteil seines „Archivs“, wie er die Ablage seiner Papiere analog zu Gleim (und gegen den Wortgebrauch der Zeit, vgl. Flach 1956, 47–48) nannte. 1822 verfasste sein Sekretär Friedrich Theodor Kräuter ein Repertorium über die Goethesche Repositur, das auch eine umfangreiche Abteilung „Correspondenz“ enthielt. So konnte Goethe Anfang 1823 in Kunst und Alterthum befriedigt feststellen, dass ihm nun „sowohl jede vorzunehmende Arbeit höchst erleichtert, als auch denen Freunden, die sich meines Nachlasses annehmen möchten, zum Besten in die

2.5 Der Brief als Sammlungsobjekt 

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Hände gearbeitet ist“ (Goethe 1998, 398). Im nächsten Heft (Juni 1823) berichtete er unter dem Titel „Sicherung meines literarischen Nachlasses“, in Kürze werde eine große Masse sowohl von abgesendeten als eingegangenen Briefen durchgesehen und, wie sie den Jahren nach schon verwahrt sind, geheftet, in sofern dies noch nicht geschehen ist. In Bezug auf die Chronik [die Tag- und Jahreshefte] erhalten sie doppelten Werth und sichern Einfluß, so daß, besonders von 1797 an, sich kaum eine Lücke finden wird. (Goethe 1998, 502)

Für die Jahrgänge ab 1793 sind insgesamt 157 Quartalshefte im Folioformat (ca. 21 × 34 cm) überliefert, in denen die erhaltenen Briefe (bis 1804 auch die Antwortkonzepte) in chronologischer Ordnung abgeheftet wurden (vgl. Schäfer 1996, 196). Goethe arbeitete sie 1824/25 für die Tag- und Jahreshefte durch und erstellte unter Angabe der jeweiligen Folioziffern schlagwortartige Übersichten, die sich zu Teilen erhalten haben (vgl. Goethe 1994, 612–685). Zudem ordnete er ab 1823 seinen über 1.000 Schriftstücke umfassenden Briefwechsel mit Friedrich Schiller, den er 1828/29 in sechs Bänden fast vollständig herausgab (vgl. Oellers 2001). Nach seinem Tod schnitt der Nachlassverwalter Friedrich von Müller mehr als 5.000 der knapp 20.000 überlieferten Briefe und Billetts aus den Quartalsheften heraus, um sie einzeln aufzubewahren (vgl. Schäfer 1996, 86). Damit beschädigte er nachhaltig die Ordnung der Ablage. 1885, nach dem Tod des letzten Enkels Walther Wolfgang, ging Goethes Briefablage mit den anderen Nachlassmaterialien in das Eigentum der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach über. Sie gründete das Goethe-Archiv (seit 1889 Goethe- und Schiller-Archiv), in dem bis heute an der Erforschung und Edition auch der Briefe von und an Goethe gearbeitet wird (vgl. http://www.goethe-biographica.de).

4 Schriftbildlichkeit und Schriftphysiognomik: Autographensammeln im 19. Jahrhundert Nach 1800 veränderte sich das Sammeln von Briefen binnen weniger Jahrzehnte grundlegend, indem die bisher praktizierten Formen von einem neuen Typus überlagert und damit verändert wurden. Bis dahin sammelten vor allem historisch interessierte Privatpersonen, die die Korrespondenzstücke als erhaltenswerte Dokumente ansahen. Nach dem Tod der Bestandsbildner wurden solche Sammlungen, wie berichtet, oft von Bibliotheken übernommen, die die Akquisition von Briefschaften prominenter Personen verstärkt zu ihrer Aufgabe machten (vgl. etwa Lülfing 1961, 333‒339).

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Die primär historisch interessierten Privatsammler*innen und Bibliotheken gerieten im 19.  Jahrhundert allerdings zunehmend in Konkurrenz zur neu entstehenden Gruppe der ‚Autographensammler‘, der es weniger um den Inhalt von Dokumenten als um den Schauwert des Eigenhändigen zu tun war: Die Bedeutung der Eigenhändigkeit gegenüber dem textlich-dokumentarischen Sinn, dem Urkundenwert, machte (und macht) es […] völlig unerheblich, was der Schreiber schrieb, ob Quittung, Rezept, Brief oder Werkentwurf. Wichtig war die Authentifizierung durch die Unterschrift oder einen beglaubigenden Zeugen, eine Zertifizierung gewissermaßen. (Fischer 2017, 12‒13)

Diese unterschiedlichen Motivations- und Interessenslagen betonte bereits 1842 der preußische Diplomat und Autographensammler Joseph von Radowitz (1797– 1853): Autographensammlungen sind keine Archive oder Manuscriptbibliotheken; während bei letzteren allein der gehörig beglaubigte Inhalt des Schriftstücks dessen Bedeutung ausmacht, so beruht dieser für den Autographensammler auf der Handschrift selbst. (Radowitz 1842, 262)

Natürlich sei auch für den archivorientierten Sammler die Eigenhändigkeit von Interesse, so wie der Autographensammler nicht generell unempfindlich gegen den Inhalt des Geschriebenen sei ‒ der „Accent“ des jeweiligen Interesses lasse sich aber doch deutlich unterscheiden. Den Ursprung der neuen Massenliebhaberei, die europaweit binnen kurzem zur Etablierung eines Autographenhandels führte (vgl. Mecklenburg 1963, 78–89), datierte Radowitz für den deutschen Sprachraum auf Anfang der 1820er Jahre (vgl. Radowitz 1842, 262). Da für die Sammler*innen die Zusammenstellung von Prominentengalerien im Vordergrund stand, die nach bestimmten Kategorien geordnet wurden, war die Materialgattung wie gesagt zweitrangig. Briefe erschienen als Sammlungsgut immerhin besonders geeignet, da sie wegen ihrer Streubreite relativ gut erreichbar waren und meist beglaubigende Unterschriften trugen. So wurden Briefwechsel und Korrespondenzarchive systematisch zerschlagen und die Einzelstücke den überall entstehenden Autographensammlungen zugeführt. Die Schreiben selbst wurden zudem oft zerschnitten, um sie auf die begehrten Grußformeln und Unterschriften ‒ und damit letztlich auf Autogramme ‒ zu reduzieren (vgl. Wolbe 1923, 38‒39, 76‒77). Auf diese Weise ging einerseits bei vielen überlieferten Briefen der Zusammenhang verloren, andererseits wurde durch den Ehrgeiz der Autographensammler*innen und des Handels vieles über die Zeiten gerettet (vgl. Plachta 2010, 80). Eine signifikante Figur des Übergangs zwischen den unterschiedlichen Formen des Sammelns war der Nürnberger Jurist, Bibliograph und Vielschreiber

2.5 Der Brief als Sammlungsobjekt 

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Christoph Gottlieb (Theophil) von Murr (1733‒1811). Murr hatte als Universalgelehrter alter Prägung ganz Europa bereist, seine Interessen richteten sich auf alle Weltregionen und Wissensgebiete. Zugleich war er ein Quellenkundler ersten Ranges, aus dessen Beyträgen zur Geschichte des dreyßigjährigen Krieges (1790) unter anderem Schiller in seinem Wallenstein schöpfte. Bei seinen Forschungen stützte er sich nicht zuletzt auf seine umfangreichen Sammlungen, namentlich im Bereich der Druckgraphik, aber auch dem der Handschriften. So edierte er 1799 in dem von ihm herausgegebenen Neuen Journal zur Litteratur und Kunstgeschichte „ex autographis“ 51 Briefe von Leibniz an Justus von Dransfeld, die sich seit 1779 in seinem Besitz befanden (Murr 1799a). Im selben Jahr und am selben Ort bot er als einer der ersten seiner Zeit einen Catalogus Chirographorum zum Kauf an, der auch ein Konvolut mit Briefen von über 300 deutschen Gelehrten des 16. und 17.  Jahrhunderts enthielt. Der Preis für diese Amplissima Collectio Epistolarum autographarum Virorum eruditorum lag bei 300 Gulden (vgl. Murr 1799b, 292‒299). Fünf Jahre später publizierte Murr im Landes-Industrie-Comptoir in Weimar unter dem Titel Chirographa Personarum celebrium die erste deutsche Sammlung mit Handschriften-Faksimiles (vgl. Murr 1804) – eine englische war bereits 15 Jahre zuvor erschienen (vgl. Fenn 1787‒1789, vgl. zu den englischen Brieffaksimiles Douglas 2017, 36‒42). Den Begriff ‚Chirographa‘ wählte er offenbar, um Missverständnisse zu vermeiden, da das spätlateinische ‚Autographa‘ ohne kontextuierende Erläuterung damals für autorisierte Drucke aus der Frühzeit des Buchdrucks (namentlich von Luther) stand. Der aufwendig gestaltete Großfolioband enthielt in Kupfer gestochene Handschriftenproben von 30 europäischen Persönlichkeiten des 14. bis 18. Jahrhunderts (von Petrarca bis zu Katharina der Großen), und zwar fast ausschließlich Briefe. Der Schwerpunkt lag auf den Humanisten und Reformatoren des 16. Jahrhunderts, doch waren z.  B. auch die französischen Enzyklopädisten und vier Regentinnen vertreten. Zu sämtlichen Schriftstücken gab es vollständige Transkriptionen, dann folgten 12 Tafeln mit Abbildungen signifikanter Passagen. Interessant ist, wie der Band in der Öffentlichkeit aufgenommen wurde. Während der französische Kunsthistoriker und Linné-Anhänger Aubin-Louis Millin in seinem Magasin encyclopédique (Bd.  6., 1805, 453‒454) lobte, Murr gebe einen faszinierenden Einblick in ein Sammelgebiet, das in Frankeich noch wenig geschätzt werde, konstatierte der Rezensent der Allgemeinen LiteraturZeitung (Ergänzungsblätter, 15. Juni 1809, Sp. 568), es handle sich lediglich um „Curiositäten“, die „weder für Geschichte noch Kunst Ausbeute geben“ würden. Die Wiedergabe von Schriftbildern ohne hilfswissenschaftliche Zielsetzung erschien dem Verfasser 1809 noch als wertlos. Nach Murrs Tod wurde immerhin der Ruf laut, das Publikationsprojekt – wie von Murr geplant – fortzusetzen, nun freilich aus dem Nachlass (vgl. Niemann 1813). Gleichwohl ist deutlich, dass der

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Band 1804 zu früh kam. Wenige Jahrzehnte später erfreuten sich Faksimiledrucke großer Beliebtheit, die wiederum beflügelnd auf die Sammlerszene zurückwirkte (vgl. Wolbe 1923, 157). Genannt seien die ebenso umfangreichen wie prächtigen Werke: Isographie des hommes célèbres, ou Collection de fac-similé de lettres autographes et de signatures (Bérard, de Châteaugiron, Duchesne 1828‒1830 [21843]), Autographs of Royal, Noble, Learned, and Remarkable Personages conspicuous in English History (Nichols 1829) und Facsimile von Handschriften berühmter Männer und Frauen (Dorow 1836‒1838). In Murr kreuzten sich zwei unterschiedliche Sammlungskonzepte. Einerseits trug er sein Leben lang forschungsorientiert inhaltlich interessante Stücke zusammen, andererseits handelte er mit bespielhaften Prunkkonvoluten, die er in Form unkommentierter Namenslisten bekanntmachte, und warb mit seinen Chirographa früh für die „Schriftbildlichkeit“ von Handschriften (vgl. Krämer 2014). Einer der ersten, der das Vollbild des neuen, hauptsächlich am Schriftbild interessierten Sammlertypus erfüllte, war Goethe. Im März und im Juni 1790 hatte er Murr in Nürnberg besucht, dessen Sammlungen besichtigt (vgl. Grave 2006, 112) und auf diese Weise (wohl zum ersten Mal) eine erstrangige Autographenkollektion kennengelernt. Anfang Juni 1803 erhielt er von Murr eine erweiterte Fassung des Catalogus Chirographorum, der sich in seiner Bibliothek erhalten hat (vgl. Ruppert 1958, 28). Dass er auf das Kaufangebot nicht einging, hatte seine Gründe: Die Übernahme einer großen, in sich geschlossenen Sammlung hätte dem Sammelehrgeiz widersprochen, zu der auch die individuellen Erwerbungsgeschichten gehörten. Vor allem aber interessierte sich Goethe weniger für die Humanisten als für Personen, die noch lebten oder noch nicht lange tot waren, so dass er zu ihrer geistigen Sphäre ‒ wie vermittelt auch immer ‒ in Beziehung stand. Genau dies bot ihm 1805 Wilhelm Körtes Schenkung aus Gleims Briefarchiv, die deshalb auch zum Ausgangspunktpunkt seiner eigenen Sammeltätigkeit werden konnte (s.  o.). Nach Murrs Tod kamen immerhin 59 Briefe aus dessen Korrespondenzablage (also nicht etwa aus den Zimelien) hinzu, die ein Nürnberger Bekannter im Sommer 1813 für Goethe aus dem Nachlass gezogen hatte (vgl. Hentschel 2010, 717–718). So stammten fast alle Autographen in Goethes zuletzt mehr als 2.000 Stücke umfassender Autographensammlung aus dem 18. und frühen 19.  Jahrhundert. Drei Viertel des Bestandes, den er alphabetisch geordnet in elf Stehsammlern und einem Pappkasten aufbewahrte (vgl. die Abb. in Fischer 2017, 21), waren Briefe. Im Gegensatz zu Murr verband Goethe mit den Stücken keinerlei geschichtliche, editorische oder überhaupt inhaltliche Interessen (vgl. Wolbe 1923, 216). Es ging ihm vielmehr um das, was er als „unmittelbare[s] Andenken“ bezeichnete (vgl. Hentschel 2010, 699, 700, 708). Die Betrachtung der Handschrift in ihrer konkreten Gestalthaftigkeit bot ihm Anlass und Gelegenheit, sich mit der Person des

2.5 Der Brief als Sammlungsobjekt 

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Schreibers in ihrer unverwechselbaren Individualität zu beschäftigen. Auf diese Weise konstituierte die Galerie der Abwesenden eine eigene Welt der Bezüge und korrespondierte zugleich mit der Porträtsammlung, in der teilweise dieselben Personen vertreten waren. Dort gab es ab 1825 sogar Lithographien, auf denen Bildnis und Handschrift kombiniert wurden (vgl. Schmitt 2013). Beides waren Formen der Vergegenwärtigung, die sich wechselseitig ergänzten, so wie es im 19. Jahrhundert generell Mode wurde, Handschriftensammlungen mit Porträts anzureichern (vgl. Günther und Schulz 1856, 165‒178; Wolbe 1923, 70, 265 et passim). Dass Handschrift und Porträt auf unterschiedliche Weise dieselbe Funktion erfüllen konnten, verweist auf einen integrierenden Begriff, der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stark Konjunktur hatte: den ‚Charakter‘. Er entwickelte sich im Zuge der Spätaufklärung zur Bezeichnung der eigentlichen, der inneren Person, die es zu entdecken und zu kultivieren galt. Einen in diesem Sinne unverstellten Einblick in den Wesenskern eines Menschen ermöglichte die Betrachtung der Handschrift (vgl. Bernauer 2018). Was man hier sah, war gewissermaßen authentisch, da es sich nicht ‒ wie der ‚affektierte‘ Gefühlsausdruck ‒ durch die gesellschaftlichen Techniken der Verstellung manipulieren ließ (vgl. Fischer 2017, 11). Die Diskussion um die Möglichkeiten, den Charakter des Menschen in seiner Handschrift sichtbar zu machen, wurde durch Johann Caspar Lavaters Physiognomische Fragmente (1775–1778) sehr befördert. Im Kapitel Von dem Charakter der Handschriften (3. Bd., 1777) führte er aus, „daß (seltene Menschen ausgenommen) jeder Mensch seine eigene, individuelle, und unnachahmbare, wenigstens selten und schwer ganz nachahmbare Handschrift habe“ und der Grund dieser Verschiedenheit „in der würklichen Verschiedenheit der menschlichen Charakter“ liege. Entsprechend seien Handschriften generell „physiognomische Ausdrücke, Ausflüsse von dem Charakter des Schreibers“ ‒ bei Briefen könne man sogar „aus der bloßen Handschrift der Addresse, auf den Charakter des Briefstellers schließen“ (Lavater 1777, 112–113). Am Ende des besagten Kapitels unterzog Lavater 17 faksimilierte Schriftproben einer knappen Deutung, die auf die Evidenz des ersten Eindrucks setzte. Seine eigene Handschrift kommentierte er mit den Worten: „Welch ein Gemisch von Kindheit und gewaltsamer Anstrengung.“ (Lavater 1777, 118) Die Wirkungsgeschichte von Lavaters Einlassungen auf das europaweite Verständnis von Autographen ist kaum zu überschätzen. Tatsächlich gibt es im 19. Jahrhundert kaum einen Text über das Sammeln von (Brief-)Handschriften, der nicht auf Lavater zu sprechen kommt. Die großen Faksimilewerke berufen sich auf ihn (vgl. Nichols 1829, III; Dorow 1836, Heft 1, 1–2) und ebenso die Sammler (vgl. Gräffer 1836, 417), ganz zu schweigen von den frühen Schriftdeutern (vgl. Hocquart (21816 [1812]). Goethe nahm in den Tag- und Jahresheften für das Jahr 1809 halb zustimmend, halb kritisch Stellung, als er (um 1820) über seine wachsende Autographensammlung schrieb:

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Auch eine Sammlung von eigenen Handschriften bedeutender Personen ward dieses Jahr durch Freundesgunst ansehnlich vermehrt, und so bestärkte sich der Glaube daß die Handschrift auf den Charakter des Schreibenden und seine jedesmaligen Zustände entschieden hinweise, wenn man auch mehr durch Ahnung als durch klaren Begriff sich und andern davon Rechenschaft geben könne; wie es ja bey aller Physiognomik der Fall ist, welche bey ihrem ächten Naturgrunde nur dadurch außer Credit kam, daß man sie zu einer Wissenschaft machen wollte. (Goethe 1994, 232)

Deutlich weiter hatte sich bereits 1792 der junge Philosoph Johann Christian August Grohmann exponiert, als er im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (im Anschluss an Lavater und weit über ihn hinaus) die Möglichkeit einer Charakterzeichnung aus der Handschrift wie folgt auf die Spitze trieb: Nichts läßt sich leichter aus der Handschrift erkennen, als der moralische Mensch, seine Gesinnungen, Empfindungen, häuslichen Freuden, seine Religion und sein Handel, weil dies alles für den Anthropologen Erscheinungen des physischen Menschen sind. […] Der Reinliche auch in seiner Handschrift reinlich. Der Geitzige auch in seinem Buchstaben karg und schmutzig. Der Galante auch in seinen Buchstaben galant und geputzt. (Grohmann 1792, 659)

Es gab durchaus Gegenstimmen. So ließ Murr – als Vertreter einer älteren Generation – 1807 den jungen Sammler Karl Preusker wissen: So wie schon die Lavaterʼsche Physiognomik Narrheit ist, die keinen Grund im Reiche der Wahrheiten hat: eben so ist es noch mehr die chirographische. Ich habe z. E. gefunden, dass die ordentlichsten, elegantesten Gelehrten eine hässliche Hand schreiben, da hingegen die, so am zierlichsten schrieben und kritzelten, die unordentlichsten Leute von der ganzen Welt waren. Et sic porro. (Günther und Schulz 1856, 81)

In den 1840er Jahren kam der Handel mit prominenten Handschriften zunehmend in Schwung. Als erster im deutschsprachigen Bereich führte der Buchhändler und Antiquar Franz Gräffer (1785–1852) 1838 bis 1842 in Wien eine Reihe von Autographenauktionen durch. Die erste fand noch in der Musikalienhandlung Artaria & Comp. statt, der Katalog lag europaweit in den Buchhandlungen von Stockholm bis Venedig und von London bis Moskau aus (vgl. Artaria 1838, [II]). Das Ergebnis blieb allerdings hinter den Erwartungen zurück: Die Gruppe der Interessenten war so klein, dass die 927 angebotenen Lose insgesamt nur 1252 Gulden Konventionsmünze erbrachten (vgl. Artaria 1838, Handexemplar des Verkäufers in der Wienbibliothek im Rathaus, Sign. L-86854). Die folgenden Auktionen verliefen noch schlechter, so dass Gräffer den Autographenhandel Anfang 1842 mit dem sechsten Katalog „wegen der unglaublich geringen Anzahl kaufender Sammler“ einstellte (Gräffer 1842, [1]; vgl. Gräffer 1845, 128). Im selben Jahr stellte Radowitz fest, noch sei es „in Deutschland nicht wie in Frankreich dahin gekommen, daß

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die Handschriften ein eigentlicher kurrenter Handelsartikel geworden“ seien (Radowitz 1842, 265). Tatsächlich fanden in Frankreich bereits seit 1820 zahlreiche erfolgreiche Autographenauktionen statt, bei denen Briefe eine erhebliche Rolle spielten (vgl. Fontaine 1836, 67–176), in England vollzog sich diese Entwicklung ab Ende 1824 (vgl. List of Catalogues 1915, 158; Henning 2006, 15‒16). In der österreichischen und deutschen Sammlerszene hingegen herrschte zunächst der Tausch vor (vgl. Gatter 1996, 261), doch auch hier entwickelte sich, zunächst als Nebenzweig des Buchhandels, ein zunehmend florierender Markt (vgl. Mecklenburg 1963, 78‒89). Die sammelnden Institutionen reagierten auf das wachsende öffentliche Interesse, indem sie Teile ihrer Bestände, häufig Briefe, vermehrt in Schauräumen einem größeren Publikum zugänglich machten (vgl. Kaltwasser 1999, 215‒268). Auch wurden nach dem Vorbild der privaten Sammler öffentliche Autographensammlungen angelegt, so etwa an der k.k. Hof- und Staatsbibliothek in Wien ab 1828 durch den Grafen Moritz von Dietrichstein (vgl. Mosel 1835, 356–359; Wolbe 1923, 169–170). Im Bereich der Akquisition waren die Institutionen nicht glücklich über das Konkurrenzverhältnis. Im Juli 1846 schrieb Gottlieb Friedländer, Custos an der Königlichen Bibliothek zu Berlin, an den Oberbibliothekar Georg Heinrich Pertz über den Nachlass des Wolffianischen Philosophen Samuel Formey (23.000 Briefe), bei den Übernahmeverhandlungen sei Eile geboten: „[…] denn das ist sicher ‒ verlautbart die Sache in unserer autographensüchtigen Zeit ‒ so sind wir der Sammlung verlustig.“ (Lülfing 1961, 334) Auch die Korrespondenzpartner*innen klagten zuweilen über die Zudringlichkeit der Autographenszene. In seiner Sammlung Aus Alt- und Neu-Wien 1873 druckte Eduard von Bauernfeld einen Brief seines Jugendfreundes Franz Schubert ab, um empört zu kommentieren: „Das ist zugleich der einzige Brief Schubert’s an mich, der sich noch vorfindet. Die übrigen […] sind in die Hände jener verwünschten Autographensammler gewandert, die nicht müde werden, Einen anzubetteln.“ (Bauernfeld 1873, 86) 35 Jahre später, am 28. Mai 1908, notierte Arthur Schnitzler in seinem Tagebuch, irritiert über ein Gespräch mit dem Dichter und Sammler Stefan Zweig, den er eben kennengelernt hatte: „Er hat vor nicht langer Zeit einen ganz privaten Brief von mir gekauft. Hugo’s [d.  i. Hofmannsthals] und meine Briefe werden augenblicklich 3‒4 Kronen gehandelt.“ (Schnitzler 1991, 336) Verschwiegen sei nicht, dass es auch im 19. und 20. Jahrhundert weiterhin archivorientierte Sammler*innen gab. Zu nennen sind etwa Karl August Varnhagen von Ense (1785‒1858) und seine Nichte (und Erbin) Ludmilla Assing (1821‒1880), die ab 1841 Briefschaften und Nachlässe ihres weitgespannten Umfeldes übernahmen. Auf diese Weise bauten sie ein Privatarchiv von erheblichen Ausmaßen auf, mit dem sie über viele Jahre höchst erfolgreich Erinnerungspolitik betrieben

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

(vgl. Gatter 1996; Pravida 2019). Nach Assings Tod wurde das Archiv gemäß der testamentarischen Festlegung beider Erblasser (vgl. Gatter 1996, 308‒313) als „Varnhagen von Ense’sche Sammlung“ in einem gesonderten Raum der Königlichen Bibliothek zu Berlin (heute Staatsbibliothek zu Berlin) aufgestellt (vgl. Lülfing 1961, 351). Ein bemerkenswertes Beispiel für „Sammler-Philologie“ (vgl. Strobel 2005) ist der Dichter und Sammler Karl von Holtei (1758‒1880), der 1864 eine vierbändige Ausgabe Briefe an Ludwig Tieck veranstaltete und als Gegenleistung die Originalschreiben geschenkt bekam. Später nutzte er seine eigene Korrespondenzablage (Johanna Schopenhauer. Briefe an Karl von Holtei, 1870) und seine Autographensammlung (Dreihundert Briefe aus zwei Jahrhunderten, 2 Bde., 1872) für weitere Publikationsprojekte.

5 Die Zukunft des Sammelns Wenn die Zeichen nicht trügen, geht die Zeit der privaten Briefsammlungen langsam zu Ende. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Die lebendige Beziehung zu einem Medium, das noch vor wenigen Generationen zu den wichtigsten Kommunikationsformen gehörte, ist im Alltag weitgehend verlorengegangen. Mit der Kulturtechnik des Briefeschreibens schwindet eine wichtige Brücke zu den Objekten der Vergangenheit. Zugleich lässt sich auch ein mentalitätsgeschichtlicher Bruch beobachten. Die Faszinationskraft von herausgehobenen Charakteren, deren unverwechselbare Eigenart im Schriftbild sichtbar werden soll, ist mit heutigen Vorstellungen von Individualität nicht mehr vereinbar (vgl. Böhme 2018). Zudem lädt der Kreis der im Handel angebotenen Personen aus Kunst, Wissenschaft und Politik – oft genug Männer – heute nicht mehr zu einer Identifikation ein, auf die sich eine derart zeitintensive und kostspielige Freizeitbeschäftigung gründen ließe. Die lebendige Hausgemeinschaft mit den materialen Schriftzeugnissen vergangener Epochen, der unbedingte Glaube an die Aktualität geistiger Überlieferung, die Teilhabe am Patrimonium der eigenen Nation – all dies scheint nicht recht in die heutige Zeit zu passen. So weicht das einstige Konkurrenzverhältnis zwischen den Privatsammler*innen und den Institutionen immer mehr der Vorstellung, die historischen Materialien seien in Bibliotheken, Archiven und Museen am besten aufgehoben, so dass es keinen Grund gebe, selbst zu sammeln. Entsprechend wird der Umgang mit Briefen und Manuskripten zunehmend zu einem Geschäft unter Profis. Diese Entwicklung ist durchaus problematisch, da unter ihr nicht nur der Autographenmarkt leidet, der für die sachkundige Akquisition von Beständen von erheblicher

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Bedeutung ist, sondern auch die Kenntnis und Wertschätzung von öffentlichen Archivbeständen. Zu beklagen ist nicht zuletzt die schwindende Expertise im Bereich der Postgeschichte und Altbriefforschung (‚Vorphilatelie‘), die in erheblichem Maße von kulturhistorisch bewanderten Privatsammler*innen betrieben wurde (vgl. etwa Helbig 2010). Die Institutionen werden diesen Verlust nicht kompensieren können. Immerhin erzeugen sie seit einigen Jahren durch die konsequente Digitalisierung von Briefbeständen eine neue Form der Öffentlichkeit, in der die Handschriften durch kooperative Erschließung auffindbar und in ihrer Schriftbildlichkeit sichtbar werden. Ob diese Maßnahmen das öffentliche Interesse an Briefhandschriften langfristig retten können, bleibt abzuwarten.

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Online-Quellen https://www.collecta.fr. http://www.goethe-biographica.

Jochen Strobel

2.6 Der Brief als Gabe 1 Thesen In seinem Beitrag zu einer literarischen Anthropologie des Briefs in diesem Band fragt Robert Vellusig, „weshalb Menschen einander Briefe schreiben und weshalb sie dazu geneigt sind, dies zu tun“ – und gibt selbst schon eine Antwort vor: um das Bedürfnis der Distanzregulation zu befriedigen, immer wieder aufs Neue und mit grundsätzlich zwar geregelten, aber im Einzelnen dennoch immer wieder neu auszutarierenden Praktiken, an denen die Beteiligten sich abarbeiten; Praktiken, die Spielräume für Neudefinitionen und Umdeutungen enthalten, obgleich man sich doch dem Glauben an eine gewisse Verlässlichkeit hingibt. Damit wendet sich Vellusig einer weniger beachteten Dimension der Briefkommunikation zu, dem Handeln, das darin besteht, zu schreiben und zu versenden, zu transportieren, auszuliefern, anzunehmen und zu lesen. Hierunter fällt auch das Weggeben und das Annehmen eines Objekts namens Brief. Der Brief ist nicht nur Text, sondern „Ereignis & Objekt“ (vgl. Bohnenkamp und Wiethölter 2008) – ein durch Stellvertreter*innen (etwa Briefträger*innen) zu übergebender Gegenstand. Es lohnt sich, Briefkommunikation mit der von Marcel Mauss in seinem 1950 erschienenen Essai sur le don (vgl. Mauss 1984) begründeten Gabentheorie zu lesen und dabei u.  a. das Spannungsfeld zwischen anthropologischer Invarianz und Geschichtlichkeit ins Kalkül zu ziehen. Von Anfang an stellte sich die Frage nach dem Archaischen und aus europäischer Sicht Anachronistischen der Theorie und doch zugleich ihrer (partiellen) Gültigkeit für damalige ‚moderne‘ Gesellschaften des 20. Jahrhunderts. Mauss’ aktualisierender Ehrgeiz richtete sich auf „die Art und Weise, wie das Sachenrecht noch heute mit dem Personenrecht verknüpft bleibt“ (Mauss 1984, 18). Es sind zunächst Eckpunkte dieser Theorie und der modernistischen Kritik an ihr ins Gedächtnis zu rufen, sodann soll der Konnex zur Briefpraxis hergestellt werden. Diskutiert wird dabei primär der in der ‚klassischen‘ Gabentheorie nicht vorgesehene Fall der Unterbrechung der Gabenzirkulation vor allem anhand des Begriffs des Schweigens. Zu plausibilisieren ist dieser Verknüpfungsversuch anhand ausgewählter Quellen, bei denen Überlieferungsdichte, Schreibfrequenz und Selbstreflexivität gleichermaßen hoch sind – Franz Kafkas Briefe an Felice Bauer und an Milena Jesenská. Es schließen sich Überlegungen zur heutigen elektronischen ‚Nachfahrenschaft‘ von Kafkas Gabenextremismus an, am Beispiel der um 2019 weltweit praktizierten postepistolaren Kommunikation via WhatsApp. https://doi.org/10.1515/9783110376531-015

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Distanz-Marker in einer auf geregelten Austausch von Brief und Gegenbrief angelegten Korrespondenz bieten sich auf den ersten Blick an: nicht schreiben (wo Schreiben erwartet wird) sowie die Verringerung der Frequenz und die des jeweiligen Briefumfangs. Dann erst wäre auf ‚Details‘ zu blicken wie den Text und die Materialität (Wahl der Schreibgeräte und des Papiers, ‚Ausstattung‘ des Briefs etc.). Wenn im Zusammenhang mit dem Schreiben von Briefen über ‚natürliche‘ Anreize menschlichen Handelns – somit auch über Geben und Nehmen – nachzudenken ist, werden die Ränder der Briefkommunikation zuallererst zu betrachten sein, d.  h. die ihr zugrunde liegenden Ereignisse und Entscheidungen. Gabe und Hin-Gabe sowie das Empfangen von Gaben und das Schenken von Gegengaben können als menschliche Bedürfnisse bezeichnet werden. Dass Gaben soziale Beziehungen stiften (aber auch: schwächen oder stärken) können, darf als Prämisse gelten. Dass eine Korrelation von Umfang und Frequenz der Gaben zu Anerkennung und Wertschätzung besteht (wie immer diese in einer Gesellschaft genau aussieht), ebenfalls. Der Brief als etwas, was in einem emphatischen Sinn des Urheber- oder Schöpfertums von seinen Schreiber*innen herkommt oder gar aus ihnen herauskommt und was in deren Abwesenheit diese Schreiber*innen substituiert, gehört mutmaßlich zu den Gaben, die soziale Beziehungen modellieren. Die Vernachlässigung der Relation zwischen Briefkommunikation und vorgängiger oder nachfolgender mündlicher Kommunikation (also den Schreibund Sprechakten) sowie Handeln (vgl. Ehlich 2014) erschwert diese Sichtweise freilich. Eine der Besonderheiten der brieflichen Art des Sprachhandelns und des sozialen Handelns ist der Verlust kommunikativer Vergewisserung einer Kopräsenz der Kommunizierenden (vgl. Ehlich 2014, 24). In sozialen Beziehungen zwischen Menschen sind Briefe nur ein mögliches Medium neben vielen anderen, speziell aber ein interaktionsfreies. Zwischen Briefschreiber*in und Mensch können wir einen Unterschied machen. So kann uns heute ein Mitmensch bei einer Begegnung auf der Straße als ein ganz anderer erscheinen als derselbe als Chatpartner*in. Briefe wie andere Gaben „setzen und unterhalten  […] eine ‚actio in distans‘“, wie Iris Därmann anmerkt, „sie erzeugen eine Anziehungsund Abstoßungskraft“ (Därmann 2010, 24). Beziehungen, an denen Gabentausch beteiligt ist, sind prekär. Gaben verbrauchen sich, sie werden Geschichte, oder sie werden gar aufgezehrt. „Man verbrüdert sich und bleibt einander doch fremd.“ (Därmann 2010, 24)

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

2 Gabentheorie Die, wie es bei Mauss heißt, „archaischen Gesellschaften“, in denen Ethnologen wie Bronislaw Malinowski um 1900 herum Feldstudien betrieben, wiesen diesseits des modernen Warentauschs ein je rituell festgelegtes Verfahren des Wechselns von Geschenken auf. Dessen Prinzip wollte Mauss auch in der alltäglichen Subsidiarität seiner Gegenwart wiedererkennen (vgl. Mauss 1984, 14, 157–170; Därmann 2010, 14); es entspricht, zumindest dem Anspruch nach, jenem ‚give and take‘, mit dem die populäre Kultur der Gegenwart Liebe und Paarbeziehungen umschreibt und auf dem allerdings menschliches Zusammenleben im weitesten Sinn wohl stets beruht. Rituell übertragene Geschenke nach Mauss müssen wechselseitig sein: Der Verpflichtung zu geben korrespondiert sowohl die Verpflichtung zu nehmen als auch die zurückzugeben – und somit an einem schier unendlichen Zirkel des Gebens und Nehmens teilzuhaben. Wer gibt, gibt sich selbst hin, er entäußert sich; und ein Teil von ihm gehört dem Nehmer – doch umgekehrt betrachtet ist der Geber im Nehmer präsent, besitzt ihn, seitdem er ihn beschenkt hat; der Nehmer ist vom Geber ‚besessen‘. Dieser Anspruch magischer Inbesitznahme verbirgt sich hinter dem Phänomen des hau, das ‚Gabe‘ über bloße Dinglichkeit weit hinausdenkt. In der Sache selbst sei Leben, der Geber habe durch die Gabe Macht über den Empfänger; der geschenkte Gegenstand sei „mit geistiger Macht aufgeladen“ (Mauss 1984, 33). Der Austausch von Gaben stiftet von vornherein regulierte Zugehörigkeiten, die das jeweilige Kollektiv betreffen, der Anspruch ist total. Anders als im modernen Recht, aber durchaus so, wie wir es bis heute empfinden, sind in der Gabenpraxis Person und Sache bis zur Identität verschmolzen. Der Brief wäre in dieser Perspektive als Gabe nicht ein kalter Ersatz für warme Körperströme, sondern die Körper, ihr Blut, ihre Tränen, sind gleichsam magisch präsent, sind im und sind der Brief. Diese Gabenzirkulation strebt ein Gleichgewicht an, also stabile Beziehungen, doch gibt es eingeplante ‚Ausreißer‘: Potlatch ist ein Wort der Ureinwohner Nordwestkanadas und Alaskas, das ‚ernähren‘ oder ‚verbrauchen‘ bedeutet und eine bis zu Kampf, (Selbst-)Vernichtung durch Verschwendung reichende Ritualität der Gabe meint (vgl. Mauss 1984, 23–25). Es handelt sich um eine an aristokratische luxuria gemahnende ruinöse Selbstveraus-Gabung, er überschreitet die üblichen Grenzen in seiner Heftigkeit. Doch ist dies eine ins System integrierte Regelüberschreitung, die wieder auszugleichen ist und die die Stoßrichtung des Gebens veranschaulicht: Der sich Verschwendende mehr noch als jeder andere Gebende artikuliert seine Überlegenheit. Geben ist Macht; immer nehmen müssen ist Ohnmacht, heißt sich unterzuordnen. Geben und Nehmen bezeichnet ein im Ganzen als harmonisch gewolltes Verhältnis, das immer wieder neu auszutarieren ist.

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Eine Aktualisierung der Gabentheorie muss sich der Tatsache stellen, dass das aus ethnologischer Sicht den vormodernen Gesellschaften zugrunde liegende Weltbild von Magie bestimmt ist. Es hieße, eine unpräzise Übertragung auf die Gegenwart vorzunehmen, sagte man, dass Wünsche, Projektionen, Ängste in der Praxis des Gebens wie in der des Briefe-Tauschens eine (wechselhafte) Rolle spielen. Und was hieße es, wenn heute von ‚Hingabe‘ oder ‚Selbstpreisgabe‘ gesprochen würde? In dieser Denkfigur sind Person und Sache magisch miteinander verknüpft. Könnte das für eine unerhörte Confessio im Gewand einer WhatsApp-Nachricht gelten, oder sind heutige elektronische Nachrichten nicht allzu ephemer? Trifft im Zeitalter einer Abhängigkeit von der Handy-Nutzung noch (oder schon wieder) der Begriff der Besessenheit? In der Tat reklamiert die weniger harmonistische Lesart der Theorie des Gabentauschs dessen Unsicherheit: Jeder einzelne Akt stiftet Asymmetrie (um letztlich Symmetrie wiederherstellbar zu machen), Dosierungen und Frequenzen müssten betrachtet werden, langfristig können sich Rangordnungen auch einmal verschieben (vgl. Därmann 2010, 25–26). Schon Mauss selbst hat auf die stets lauernde Unsicherheit der Gabe hingewiesen, auf Abweichungen und das Ausbleiben der Gegengabe (vgl. Mauss 1984, 64–69). Geben und Nehmen, Macht und Ohnmacht oszillieren dort, wo soziales Handeln nur begrenzt erzwungen werden kann, wo auch Gaben nicht streng alternieren müssen, selbst wenn es eine gesellschaftliche Verpflichtung dazu gäbe, sich an dem Spiel des Gabentauschs zu beteiligen. Nicht nur Jacques Derrida hat auf die Asymmetrie des Gabentauschs als „riskante[s] Ereignis“ (Därmann 2010, 13) hingewiesen, auch Georges Bataille und Claude Lévi-Strauss haben dies getan (vgl. Därmann 2013, 13). Wäre ein stetiger Kreislauf von give and take so ordnungsstiftend wie langweilig, so wird umgekehrt erst die in der menschlichen Willensfreiheit angelegte Durchbrechung eines angeblich kulturell vorgegebenen Zyklus interessant. Zudem gibt diese, so Derrida, die Zeit: ‚Gabe‘ wäre demnach vor allem Nehmen oder auch – Abwarten, im Zeitverzug sein; alternativ das Extrem: der Potlatch, der nicht erwiderbar ist (vgl. Därmann 2010, 106–113; Derrida 1993). Zweifellos ist es um die Verlässlichkeit der Gabe in einer modernen Welt nicht gut bestellt. Mit der Aufhebung oder Infragestellung einer allerdings allzu beliebigen Unterscheidung zwischen ‚archaischer‘ und ‚moderner‘ Welt verschränken sich die Figuren des Anthropologischen und des Historischen. Möglicherweise hat der stets glückende, ideale Zyklus der Gabe nie existiert. Was aber besagt der ‚magische‘ Anteil des Gabentauschs? Person und Sache nähern sich einander an oder werden als identisch betrachtet, „die Sache selbst hat eine Seele, ist Seele“ (Mauss 1984, 35). Allgemeiner formuliert: „[D]ie Dinge, die einander berühren, sind oder bleiben eine Einheit, Ähnliches bringt Ähnliches hervor, Gegensätze wirken aufeinander.“ (Mauss 1978, 97) Wer die Hand-

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

schrift als tertium comparationis von Brief und Schreiber*in auffasst, wem wichtig ist, dass der Brief in der Hand des Schreibers lag oder gar dass dessen Herzblut in den Brief (hin)eingeflossen ist, der setzt den Glauben an die Magie in Zeiten postgestempelter Privatbriefe hinein fort. Für die Identifikation von Handschrift und Persönlichkeit stand die Graphologie, deren wohl bekanntester Vertreter Ludwig Klages war (vgl. Klages 1923). Insofern der Brief ein indexikalisches Zeichen ist, das auf den Schreiber verweist, bestätigt sich Mauss’ Auffassung von der Magie als soziales Phänomen. Als spätestens im 19.  Jahrhundert weithin geschätztes Sammelobjekt war der Brief Fetisch und unterlag schon daher der Vorstellung, von magischen Kräften durchdrungen zu sein (vgl. Rincón 2001/2010, 735). Doch weniger Ähnlichkeit als Kontiguität, die Figur der Metonymie, ist zwischen Brief und Schreiber*in auszumachen. Von dem Adressaten/der Adressatin als zusammengehörig wahrgenommen werden nicht nur der Brief als Gegenstand und der dahinterstehende Mensch, sondern auch dieser und die ‚Inhalte‘ des Schreibens. Mit Mauss: „Tatsächlich hat es den Anschein, als wäre die Magie eine gigantische Variation über das Thema des Kausalprinzips.“ (Mauss 1978, 94)

3 Brieftausch als Gabentausch? Im alltagssprachlichen Sinn ein ‚Geschenk‘ ist der Brief zweifellos. Bereits in dem Demetrius von Phaleron (4. Jh. v. Chr.) fälschlich zugeschriebenen Text De elocutione (Datierung: zwischen 2. Jh. v. Chr. und 1. Jh. n. Chr.) heißt es: „Man muß den Brief […] ein wenig besser als den Dialog durchgestalten, ahmt doch der Dialog eine improvisierte Stegreifäußerung nach, während der Brief abgefaßt und gewissermaßen als Geschenk übersandt wird.“ (Klauck 1998, 149) Die lang anhaltende gelehrte Kontroverse zwischen Gottfried Wilhelm Leibniz und dem französischen Physiker Denis Papin, die als briefliche Disputation Ende des 17.  Jahrhunderts ausgefochten wurde, kannte eine mildere Phase, in der die „Briefe mit vielen weiteren Nachrichten […] durch Gesten der Gabe, des Vertrauens und der Höflichkeit einen nahezu freundschaftlichen Rahmen“ erzeugten (Kühn 2011, 237). ‚Gabe‘ mochte nicht nur eine materielle Praxis, sondern auch eine Einstellung, eine Kommunikationshaltung bezeichnen. Bronislaw Malinowski hatte den Austausch von Wörtern im Zuge des Gabentauschs als ‚phatische Kommunion‘ zwecks Herstellung und Aufrechterhaltung von Gemeinschaft bezeichnet. Hieran knüpfte Roman Jakobson mit seinem Begriff der phatischen Funktion der Sprache an. In Rede steht hier diejenige Funktion, welche jedem Brief unterstellt werden kann (vgl. Strobel 2006, 226). Selbst wenn er ohne Botschaft auskäme, nur aus Adresse und leerem Blatt bestünde,

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bezeichnete er einen Akt der Hinwendung des Schreibers zum Adressaten, noch nicht einen Akt der Hingabe freilich. Bewerten wir Briefe als getauschte Gaben, dann gehen wir von einem Idealfall der Briefgenese und der Überlieferung aus: von einer seriellen Abfolge von Brief und Gegenbrief ohne erkennbare Finalregel. Der jahrzehntelang zwischen Weimar und Berlin gepflegte, sofort archivierte und nach dem Tod beider Korrespondenten planmäßig edierte Briefwechsel Johann Wolfgang Goethes mit Carl Friedrich Zelter ist ein derart sorgsam gehüteter Spross, obgleich es auch hier einander überkreuzende Briefe oder in mehreren Etappen über lange Zeit entstandene gibt, die ein strenges Ping-Pong bereits konterkarieren (vgl. Kühn 2011). Regelmäßig zu geben und zu nehmen, Briefe zu tauschen, kann auf einer angemessenen Erwartungshaltung beruhen: August Wilhelm Schlegel schreibt in seinem wohl zweiten von vielen Briefen an den neuen Freund Ludwig Tieck im Dezember 1797: „Es ist schön, daß unsre Briefe einander auf halbem Wege entgegen gekommen sind. Die Correspondenz ist also nun förmlich eingerichtet, bis zur persönlichen Bekanntschaft, auf die ich mich lebhaft freue.“ (Schlegel 2014–2020, https://august-wilhelm-schlegel.de/version-07-19/briefid/878) Wie Menschen hatten sich die Briefe auf den Weg gemacht, um einander zu begegnen (was allenfalls die Postillione auf den Poststraßen taten). Diese Begegnung präfiguriert die persönliche (auf die hier alles hinausläuft), doch hat man, wenn man zeitgleich Briefe abschickt, ironisch gesprochen, eine Korrespondenz eingerichtet. Beide Partner haben sich gleichzeitig und gleich heftig an einem Austausch interessiert gezeigt, der von nun an regelmäßig fortzusetzen ist. Eine Korrespondenz einrichten heißt in der Sprache der Zeit, einen Zeitungskorrespondenten in eine entfernte Metropole zu entsenden, damit er von dort regelmäßig berichtet. Von derart geregelten Briefwechseln sprechen wir stillschweigend, wenn wir von Gabentausch reden. Dort entstanden einst leicht Briefschulden, die Pflicht zur Erwiderung wurde gern aufgeschoben, so wie man heute damit kokettiert oder schuldbewusst betont, seinen E-Mail-Eingang niemals ganz leeren zu können. Zu den in der Gabentheorie geschätzten „Gesten und Körpertechniken des Gebens und Nehmens“ (Därmann 2010, 19) zählen gewiss das Verschließen, Siegeln, Öffnen  – das ‚Handhaben‘ von Briefen. Wie von Gaben zu erwarten, besitzt der Brief, solange er nicht zum Sammelobjekt geworden ist, nicht oder kaum einen Gebrauchs- oder gar Nennwert, auch wenn Papier und Porto einst teuer waren. Doch auch Briefeschreiben kann in Quantität, Frequenz, Qualität Verausgabung, kann Potlatch sein und damit eine fortgesetzte Geste der Selbsterhöhung wie der Herausforderung des Gegenübers. Dimensionen des Briefs als Gabe sind vorwiegend: (1) die Konstitution von Zeit in der Latenz zwischen Antwort erwarten und Antwort erhalten oder zwischen Absenden und Erhalten einer Antwort, (2) das Problem des Reziprozität

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

in sozialen Beziehungen (und einhergehend damit Fragen der Selbstdarstellung und der Anerkennung durch den anderen), (3) die Identifikation von Person und Sache  – alle drei Probleme (Zeitordnung; Wertschätzung als soziale Aufgabe; Objektgebundenheit von Wertschätzung) sollten in einer modernen Gesellschaft auch anders lösbar sein als über das Symbolische, das der Briefkommunikation innewohnt, doch die Attraktivität des Briefs und seiner Nachfolgemedien scheint das Bedürfnis zu belegen, durch epistolare Praktiken soziale Beziehungen, aber auch das Selbstverhältnis flexibel und derzeit sozusagen sekündlich aufs Neue zu modellieren. Ergänzt werden können noch (4) der ‚Mythos‘ von der unendlichen Fortsetzbarkeit von Kommunikation, (5) formalisiertes soziales Handeln (das in diesem Fall interaktionsfrei ist) und schließlich (6) das zumindest vorläufige Dementi des Gebrauchswertes (vgl. Därmann 2010, 20–21).

4 Geben, Schweigen und soziale Anerkennung Wenn also der Brief Regulativ eines Spektrums sozialer Beziehungsnuancen von Aufmerksamkeit Gewähren bis Besitzen Wollen sein kann, dann lässt sich auch angeben, wie hier soziale Macht kommuniziert wird: erstens durch übersteigerndes Geben (bis hin zum einseitigen Potlatch, bis zum Kollaps), zweitens aber durch Nichtgeben, man könnte sagen: durch Schweigen, durch Verweigerung. Eine Verschränkung beider Praktiken in einer sich asymmetrisch entwickelnden brieflichen Beziehung könnte so aussehen, dass der machtbewusste Gebende immer weiter schreibt (einen Brief, eine Nachricht nach der anderen), um eine Reaktion zu erzwingen – doch diese kommt nicht, worauf der Geber nur mittels weiterer Gaben (noch längere Briefe, noch mehr Nachrichten) reagieren kann. Geschriebene Briefe, soweit überliefert, sind dokumentierbar, sind sehr häufig genau datierbar; die Verweigerung zu schreiben ist es nicht. Freilich ist nicht immer Verweigerung die Ursache des Nichtschreibens (dies mag eine typische Zuschreibung durch den wartenden Briefempfänger sein); momentane Be- und Verhinderung, Angst vor Selbstentblößung und andere Gründe müssen ins Kalkül gezogen werden. Die von Abwesenden erhoffte und an solche weitergegebene soziale Anerkennung ist ein fragiles Unterfangen. Jede Gabe kann den Empfänger unter psychischen Druck setzen; die Briefkommunikation öffnet irrigen Unterstellungen Tür und Tor. Mit wenigen Worten oder eben auch durch Schweigen kann Wertschätzung entzogen werden oder es kann auch nur so scheinen. Zu viel zu schreiben mag unschicklich sein, sich der aus der Gabe erwachsenden, „emergente[n] Verpflichtung“ (Haferland 2017, 82) zu antworten zu entziehen und fortan zu schweigen, ist aber nicht minder unschicklich. Im Ausbleiben des Reziproken

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beginnt der Briefwechsel als Gabentausch wahrhaft prekär zu werden – hier ist der Spekulation über mögliche Beweggründe Tür und Tor geöffnet. Zweifellos verlangen viele Briefe andere Reaktionen als ausgerechnet Gegenbriefe, doch könnte man wohl verallgemeinernd behaupten, dass jeder Brief eine Geste der Zuwendung und somit immer schon einer gewissen Wertschätzung oder wenigstens des Ernstnehmens ist, die eine Reaktion herausfordert. Für den Geber, der auf die Gegengabe zu warten beginnt, setzt die Sekundärzeit des Briefs ein. Je nach Funktionsfähigkeit des Übertragungsmediums (Bote, Post, Datenkabel) ist ein Zeitfenster auszumachen, in dem die Ankunft des Gegenbriefs schon möglich, wahrscheinlich oder schon beinahe unwahrscheinlich ist. Mit dieser Latenz können weitgehende Ausdeutungen und Unterstellungen verbunden sein. Ein Schweigen des Korrespondenzpartners zu unterstellen, bedeutet, dass der heiß ersehnte Brief etwa nicht unterwegs verlorengegangen sein könnte; es bedeutet, dass der Partner nicht etwa tagelang an einem besonders umfangreichen Brief schreibt, sondern bewusst keine Antwort absendet. Der Fall des nicht eintreffenden Gegenbriefs bezeugt, wie empathisch der Wartende ist oder wie paranoid – Schweigen ist (wenn es sich denn darum handelt) vieldeutig und somit deutungsbedürftig, und es regt zu Deutungen an („Schweigen ist grundsätzlich interpretationsbedürftig“; Schönwandt 2011, 43). Es kann z.  B. Zustimmung signalisieren, Innigkeit, Trotz, Schuldbewusstsein, Scham oder Schmerz, Opportunismus oder Strafe, Komplizenhaftigkeit und anderes mehr (vgl. Assmann 2013, 51–68). Man wird aber eher geneigt sein, Distanzierung (oder gar: Vernachlässigung, Verlassen oder Vergessen) aus dem Schweigen herauszulesen als Annäherung oder Nähebedürfnis. Die elektronischen Nachfahren des Briefs verschärfen derartige Spekulationen: Wenn jemand, der permanent sein Handy bedient, drei Stunden lang nicht geantwortet hat, scheint das Schweigen endgültig geworden zu sein. Doch von jemandem, der sehr häufig chattet, ist nach dem Schweigen irgendwann doch wieder eine Nachricht zu erwarten. Eine Emphase des letzten Briefs, des explizit werdenden Kommunikationsabbruchs mag es noch geben, an Drastik hat sie aufgrund ihrer Wiederholbarkeit eingebüßt (vgl. Beise 2015). Die Diagnose ‚Schweigen‘ fordert also die Klärung der Frage heraus, wann/ob aus einem unterstellten Schweigen ein intendiertes oder gar ein endgültiges geworden sei. Die Lebenserfahrung weiß sich hierzu zu äußern, wenn wir Vermutungen darüber anstellen, ob sich jemand, der sich schon lange nicht mehr gemeldet hat, doch irgendwann noch melden werde.

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

5 Kafkas Hypostase der Gabentheorie Kafka hat Briefe als Geschenke aufgefasst, als Liebesgaben oder als Objekte, vor denen man auf die Knie fällt (vgl. Kafka 1986, 93, 95). Er wusste um die Macht und die Lust des Gebens – und um die Unsicherheit, wenn Gegengaben fällig waren. Milena Jesenská erzählte er eine Anekdote von exzessivem Geben: Ich hatte einmal als ganz kleiner Junge ein Sechserl bekommen und hatte große Lust es einer alten Bettlerin zu geben, die zwischen dem großen und dem kleinen Ring saß. Nun schien mir aber die Summe ungeheuer, eine Summe die wahrscheinlich noch niemals einem Bettler gegeben worden ist, ich schämte mich deshalb vor der Bettlerin etwas so Ungeheuerliches zu tun. Geben aber mußte ich es ihr doch, ich wechselte deshalb das Sechserl, gab der Bettlerin einen Kreuzer, umlief den ganzen Komplex des Rathauses und des Laubenganges am kleinen Ring, kam als ein ganz neuer Wohltäter links heraus, gab der Bettlerin wieder einen Kreuzer, fing wieder zu laufen an und machte das glücklich zehnmal (Oder auch etwas weniger, denn, ich glaube die Bettlerin verlor dann später die Geduld und verschwand mir.) Jedenfalls war ich zum Schluß, auch moralisch, so erschöpft, daß ich gleich nach Hause lief und so lange weinte, bis mir die Mutter das Sechserl wieder ersetzte. (Kafka 1986, 127)

Der Potlatch wird hier durch die serielle Gabe zerdehnt. So funktioniert für Kafka auch das Schreiben von Liebesbriefen, die Bindung herstellen wollen, in sozial vorgeprägter Weise eine soziale Interaktion vorbereiten sollen und im Grunde das Schreiben selbst am allermeisten befördern – folglich die soziale Bindung so lange wie möglich in der Schwebe halten: „Die Korrespondenz, die ursprünglich auf die Verbindung zweier Partner zur Heirat oder zum Zusammenleben angelegt ist, wird mehr und mehr zum Schreiben über das (Brief-)Schreiben.“ (Haring 2010, 395) Die Bettlerin ist eine denkbar gefügige Empfängerin, ihre Gegengabe (ihr Dank) kommt nicht in Betracht. Das narzisstische Selbstwertgefühl des jungen Verschwenders gerät ins Wanken, als sie sich entzieht. Waren die kleinen Beträge schicklicher als der große, so stellte sich angesichts schier endloser Schleifen bei ihr wohl die Auffassung ein, mit Gaben bombardiert zu werden. Die fast traumatisch anmutende Befürchtung, verlassen zu werden, entwickelt sich bei dem jungen Kafka trotz oder wegen des Gabenbombardements. Schweigen und Sich-Entziehen – darin besteht die Macht der Bettlerin, die umso größer ist, als der kleine Franz sich mittellos in die Arme seiner Mutter stürzen muss, die den Potlatch ungeschehen macht. Im folgenden Briefabsatz äußert Kafka, woran dem Gebenden gelegen ist und was er auch von Milena erwartet, dass er nämlich „Deine Nähe fühlen darf“ (Kafka 1986, 127). Indem er soziale Kontrolle in Gestalt der Kontrolle über Frequenz und Umfang zu wechselnder Briefe beansprucht (vgl. Kafka 1986, 133; Kafka 1999, 199), das Gabentauschverfahren also so genau wie möglich festlegt, sucht Kafka ‚Nähe‘

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zu programmieren: Seien es vielleicht nur fünf Zeilen, aber sie müssen täglich geschrieben werden. Der natürliche Lebenszyklus und der Briefzyklus sollen übereinstimmen: ein Tag, ein Brief. Annäherung heißt: mehr und immer längere Briefe. Kafkas narzisstisches Schreiben imaginiert die Lektüre durch die Adressatin, er stellt sich ohnehin permanent vor, wie sie ihre Tage zubringt. Der rastlose Briefschreiber wird vom Gabenspender zum Incubus. Wenn er erwartete Briefe nicht erhält, ist er schnell mit dem Verdacht der Vernachlässigung bei der Hand – und schreibt in noch dichterer Frequenz Briefe, die in anderer als chronologischer Reihenfolge bei Felice Bauer ankommen und einander widersprechen (vgl. Kafka 1999, 193; Siegert 1993, 260–268). Schon kurz nach 1900, zu Zeiten eines Weltpostvereins und mehrmaliger Postzustellungen pro Tag (vgl. Siegert 1993, 250–272), ist die Infrastruktur so zuverlässig, dass dem schweigenden Gegenüber böse, distanzierende Absichten unterstellt werden können. Wo also bleibt die ‚verdiente‘ Gegengabe? Kindlich bettelt er: Jetzt ist Montag ½ 11 Uhr vormittag. Seit Samstag ½ 11 Uhr warte ich auf einen Brief und es ist wieder nichts gekommen. Ich habe jeden Tag geschrieben (das ist nicht der geringste Vorwurf, denn es hat mich glücklich gemacht) aber verdiene ich wirklich kein Wort? Kein einziges Wort? Und wenn es auch nur die Antwort wäre „Ich will von Ihnen nichts mehr hören“. (Kafka 1999, 211)

Dieses nach stetiger Selbstüberbietung rufende Gabensystem muss irgendwann zusammenbrechen. Es ist die Abhängigkeit des sich verausgabenden Gebers von der Gegengabe, die ihn schließlich selbst lieber schweigen als warten lässt. Felice befindet sich in einer doppelten Machtposition, egal ob sie schreibt oder ob sie nicht schreibt. Kafka erteilt widersprüchliche Anweisungen: Hätte ich nur schon Deine Antwort! Und wie scheußlich ich Dich quäle und wie ich Dich zwinge, in Deinem ruhigen Zimmer diesen Brief zu lesen, wie noch kein abscheulicherer auf Deinem Schreibtisch lag! Wahrhaftig manchmal scheint es mir, als zehrte ich wie ein Gespenst von Deinem glückbringenden Namen! Hätte ich doch meinen Samstagsbrief abgeschickt, in dem ich Dich beschwor, mir niemals mehr zu schreiben und Dir für mich das gleiche Versprechen gab. Du lieber Gott, was hat mich abgehalten, den Brief wegzuschicken. (Kafka 1999, 227–228)

Der sich verlassen fühlt, verlässt also lieber selbst und ist somit geneigt, „Sprechakte zu lancieren, die sich selbst in die Luft sprengen“ (Siegert 1993, 265). Und nicht das imaginäre Schweigen, sondern die Briefe, die tatsächlich ankommen und von der wirklichen Person Felice Bauer zeugen (und somit tatsächliche Nähe herstellen könnten), hält Kafka bald nicht mehr aus: Es ist die Angst vor dem Unbestimmten, dem Ungesicherten des Briefs und der erkennbaren Eigenwillig-

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

keit der Schreiberin, die ihn dazu bringt, die Korrespondenz herunterregulieren zu wollen („Ich ertrage nämlich Ihre täglichen Briefe nicht“; Kafka 1999, 227). Ansichtskarten  – als Gaben aufgrund der dem Text beigegebenen Bildlichkeit attraktiv – wären kalkulierbarer. Erkennbar begründet Briefkommunikation als Handeln auch eine soziale Beziehungsebene. Zu erproben (und zu ‚beweisen‘) wäre, ob Anerkennung auf Wechselseitigkeit beruht oder nicht. Kafka ist epistolarer Extremist, doch bringt er unter den technischen und auch literarischen Bedingungen der Moderne das im Brief immer schon Angelegte zur Reife: eine labile, prekäre Beziehung, die in einem komplexen Regelkreislauf von viel, aber nicht zu viel Geben und Nehmen immer wieder neu modelliert werden muss. Mit einem Begriff des Schweizer Psychotherapeuten Jürg Willi ist von einem bestimmten Beziehungstyp zu sprechen, der in der Briefkommunikation angelegt zu sein scheint: der Kollusion, also einer mehr oder weniger unbewusst bleibenden Komplizenschaft, einem „uneingestandene[n], voreinander verheimlichte[n] Zusammenspiel zweier […] Partner auf Grund eines gleichartigen, unbewältigten Grundkonfliktes“ (Willi 1980, 59), das nach glücklichen Anfängen des Gebens und Nehmens mit einem ‚Immer mehr‘ an Gaben oder einer (vermeintlichen) Verweigerung der Antwort dazu führen kann, zu viel zu schreiben und dem anderen aufzubürden. Felice tut in ihrer vermeintlichen Saumseligkeit wohl genau das, was Franz zu seinen Riesenbriefen herausfordert, die er offenbar schreiben will, auch wenn er sie als sein Unglück empfindet. Zu einem letzten Brief kommt es übrigens erst fünf Jahre später. In den ersten Monaten dieser seltsamen Beziehung begleiten die gegebenen und die erhaltenen Briefe den geregelten Vollzug des Lebens, ja, sie geben, so Kafka, jeden Morgen Kraft, den Tag zu überleben (vgl. Kafka 1999, 279) – sie SIND das Leben, erst das Glück, dann der Schmerz (Felices Perspektive kennen wir nicht, ein großes Manko).

6 WhatsApp – ‚briefähnliche‘ Kommunikationsformen heute Falls der Brief ein anthropologisch erwartbares Phänomen ist, muss er in den Kulturen der Schrift und des Bildes im 21. Jahrhundert Nachfolger haben. WhatsApp wird im Jahr 2019 weltweit von 1,5 Milliarden Menschen genutzt (vgl. https:// www.whatsapp.com/about; https://www.statista.com/study/20494/whatsappstatista-dossier/). Es ist beileibe nicht der einzige, aber wohl der erfolgreichste Messenger-Dienst. Die Funktionen von WhatsApp begünstigen Kafkas Fragen ‚Warum schweigst Du, warum verlässt du mich‘ mit allen Deutungsoptionen und Unterstellungen,

2.6 Der Brief als Gabe 

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die die Technik zulässt. Antworten auf diese Frage kann das Profilbild enthalten, der Status, der ‚zuletzt online‘-Stempel (der besagt, dass anderen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als dem Adressaten in spe), die grüne ‚schreibt…‘-Zeile, die schon einmal verschwinden kann, ohne dass eine Nachricht gesendet wird. Wird eine schon begonnene Nachricht gelöscht, dann wird dies dem zeitweilig angezielten Empfänger mitgeteilt. Chatpartner*innen können blockiert werden, Chats können archiviert oder gelöscht werden – manche dieser Distanzierungsgesten wird das Gegenüber je nach aktueller Einstellung wahrnehmen oder erahnen können. Wurde die eigene Nachricht gelesen, die Gabe angenommen? Um das zu erfahren, wurde der blaue Doppelhaken erfunden – doch viele Smartphones zeigen Nachrichten gleich auf dem Display an, sodass der Schreiber nicht wissen kann, ob der Empfänger die Nachricht bereits gelesen hat. ‚Nähe‘ heißt ganz konkret soziale Kontrolle (wie von den jugendlichen Nutzer*innen durchaus erkannt und konstatiert: vgl. Gebel et al. 2015, 19–20) – und Misstrauen, sofern der Verdacht entsteht, der andere schenke dem Geber kein Interesse, oder auch: er stalke ihn. Natürlich sind Frequenz und Umfang der Antwort aussagekräftig – die Antwort sollte eigentlich nach zehn Sekunden da sein; alles andere könnte Indifferenz oder Ablehnung bezeugen. Ob dies zutrifft, hängt von den Dynamiken individueller und auch chatbezogener Kommunikationsmuster ab oder schlicht von persönlichen oder technischen Kontingenzen. Das Zeitfenster des Schweigens kann also sehr rasch angesetzt werden. Ein Mensch mit geschwächtem Selbstverhältnis wird auch eine kurze Antwort auf eine lange Nachricht schwer verkraften, Anreden und Grußformeln werden in aller Regel nicht erwartet. Von Texten, Inhalten ist hier bewusst keine Rede oder nur insofern sie selbst- und medienreflexiv sind. Auf zuverlässige Gegengaben in knappstmöglichem zeitlichen Abstand kommt es an. Was bei Kafka der tägliche Brief war, kann jetzt die minütliche Nachricht sein, die Aufmerksamkeit belegt und Hilfe in einer Situation der Verunsicherung gewährt. In ungefestigten Beziehungen gewinnt der Chat an scheinbarer Beweiskraft, wenn Gesagtes und ‚Verschwiegenes‘ einem Test auf Zuwendung unterzogen werden. Die persönliche Begegnung kann dann in Konkurrenz zum Chatten treten, dessen Evidenz entkräften. Die Projektion des Chatpartners ist realer als die reale Umgebung  – wenn das nicht Magie, wenn das nicht ‚Sich-selbst-Hingeben-und-einem-anderen-Gehören‘ ist?

7 Offene Fragen Es folgt ein Katalog offener Forschungsfragen, die die Anwendbarkeit der Theorie auf Briefe überhaupt betreffen sowie Fragen nach dem Text-/Objektcharakter des

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Briefs, nach der Nachhaltigkeit dieser Art Gabe und nach ‚Magie‘ vs. ‚Profanierung‘ des Rituellen. Die Tauglichkeit der Gabentheorie für die Analyse von Briefen, d.  h. vor allem ja: Briefwechseln, muss sich noch erweisen. Was ‚Sich-selbst-zu-Geben‘ in der Moderne und zudem im Medium des Briefs bedeuten könne, wäre näher zu überlegen. Derridas Kritik an Mauss wäre zudem zu erwägen, denn die zwingende Erwiderung von Gaben, die ‚Schicklichkeit‘ des Schenkens mag in vielen Bereichen des Lebens längst aus der Mode gekommen sein (vgl. Därmann 2010, 109). Noch fundamentaler sind die u.  a. von Derrida geäußerten Zweifel an Mauss’ harmonistischer Lesart der Gabentheorie. Kafkas Briefpraxis zeigt, wie naiv und haltlos die Hoffnung auf den Ausgleich von Wünschen, Geben und Nehmen ist, wie eine geradezu erbitterte Tauschgegnerschaft entstehen kann. Neben einer möglichen Kritik am Anachronismus der Zuordnung bleibt die Textualität des Briefs zu bedenken, fokussiert die Gabentheorie ja den Objektcharakter und lenkt zugleich die Aufmerksamkeit auf die Materialität. Diese Diagnose ist nie ausreichend, wenn es um den Brief geht: Er ist auch Gabe, aber stets mehr als das, und er ist auch nicht nur soziale Praxis. Beispielsweise ist der Brief auch ein Akt der Selbstdarstellung durch Sprache; somit ist er auch eine Formulierungsaufgabe, ähnlich wie das Tagebuch. Wie verhalten sich Brief und idealtypische Gabe hinsichtlich ihrer Konsistenz? Gaben verbrauchen sich, sind oft nur einmal ‚genießbar‘. Dies trifft auf die Erstlektüre von Briefen möglicherweise zu, manchmal werden auch Relektüren mit der Empfindung einhergehen, reich beschenkt worden zu sein. Zugleich können Briefe – das verbindet sie mit anderen Geschenken – auch langfristig als Beglaubigungen einer sozialen Beziehung dienen, als Trophäen oder Erinnerungsstücke etwa, die längst Vergangenes in Gegenwart und Zukunft hineinragen lassen. Und ist der Potlatch, auf den die Gabentheorie doch hinausläuft, überhaupt ein für die Beschreibung brieflicher Beziehungen geeigneter Begriff? Die bis zur Verzweiflung und darüber hinaus getriebene analoge und digitale Briefkommunikation und Nachrichtenübermittlung mögen einen momentanen Bankrott der Schreiber*innen herbeiführen, wohl keinen existenziellen. Und schließlich ist die Profanierung des als rituell zu feiernden Unikates durch Serialität, Kommerzialisierung und generell Veralltäglichung zu denken. Auch bleibt die Briefkommunikation per definitionem interaktionsfrei und somit einsam; das Geschenk kommt ‚nur‘ per Post, und wenn es denn ein Ritual einschließt, dann häufig eines, das der Adressat bzw. die Adressatin mit sich selbst ausmachen muss. Auch Übergaben dieser Art können rituelle Züge annehmen, das Verschließen und das Öffnen von Umschlägen ebenso. Im Genre des Liebesbriefs sind magische Kräfte bis heute erhalten geblieben.

2.6 Der Brief als Gabe 

 267

Zitierte Literatur Assmann, Aleida (2013). „Formen des Schweigens“, in: Schweigen. Hg. v. Aleida u. Jan Assmann. Paderborn 2013: 51–68. Beise, Arnd u. Jochen Strobel (Hg.) (2015). Letzte Briefe. Neue Perspektiven auf das Ende von Kommunikation. St. Ingbert. Bohnenkamp, Anne u. Waltraud Wiethölter (Hg.) (2008). Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 11.9. bis 16.11.2008. Frankfurt a. M. u. Basel. Derrida, Jacques (1993). Zeit geben. 1: Falschgeld. München. Ehlich, Konrad (2014). „Eine kurze Pragmatik des Briefs“, in: Fontanes Briefe ediert. Hg. v. Hanna Delf von Wolzogen u. Rainer Falk. Würzburg: 17–38. Gebel, Christa, Gisela Schubert u. Ulrike Wagner (2015). „‚WhatsApp ist auf jeden Fall Pflicht‘. Online-Angebote und Persönlichkeitsschutz aus Sicht Heranwachsender. Ausgewählte Ergebnisse der Monitoringstudie“, in: JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis 2015 (=ACT ON! Short Report; 1). München; urn:nbn:de:0111-pedocs-126141 (5.10.2019). Haferland, Harald (2017). „Gabentausch, Grußwechsel und die Genese von Verpflichtung. Zur Zirkulation von Anerkennung in der höfischen Kultur und Literatur“, in: Anerkennung und die Möglichkeiten der Gabe. Literaturwissenschaftliche Beiträge. Hg. v. Martin Baisch. Frankfurt a. M. u.  a.: 67–120. Haring, Ekkehard W. (2010). „Das Briefwerk“, in: Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Manfred Engel. Stuttgart u. Weimar: 390–401. Kafka, Franz (1999). Briefe 1900–1912. Hg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt a. M. Kafka, Franz (²1986). Briefe an Milena. Hg. v. Jürgen Born u. Michael Müller. Frankfurt a. M. Klages, Ludwig (⁵1923). Handschrift und Charakter. Gemeinverständlicher Abriß der graphologischen Technik. Leipzig. Klauck, Hans-Josef (1998). Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Paderborn u.  a. Kühn, Sebastian (2011). Wissen, Arbeit, Freundschaft. Ökonomien und soziale Beziehungen an den Akademien in London, Paris und Berlin um 1700. Göttingen. Mauss, Marcel (²1984). Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt a. M. Mauss, Marcel (1978). „Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie“, in: Ders.: Soziologie und Anthropologie. Bd. 1. Frankfurt a. M. u.  a.: 43–182. Rincón, Carlos (2001/2010). [Art.] „Magisch/Magie“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Hg. v. Karlheinz Barck u.  a. Bd 3. Stuttgart u. Weimar: 724–760. Schlegel, August Wilhelm (2014–2020). Digitale Edition der Korrespondenz. Hg. v. Jochen Strobel u. Claudia Bamberg. Dresden u.  a.; https://august-wilhelm-schlegel.de (17.11.2019). Schönwandt, Katja (2011). Das Gegenstück zum Sprechen. Untersuchungen zum Schweigen in der skandinavischen und deutschen Literatur. Frankfurt a. M. Siegert, Bernhard (1993). Geschicke der Literatur als Epoche der Post. 1751–1913. Berlin. Strobel, Jochen (2006). „Peter Gasts Gaben an Nietzsche. Heinrich Köselitz als ­Korrespondent, Mitarbeiter und Editor Friedrich Nietzsches“, in: Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Hg. v. dems. Heidelberg: 219–254.

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Willi, Jürg (1980). Die Zweierbeziehung. Spannungsursachen, Störungsmuster, Klärungsprozesse, Lösungsmodelle. Analyse des unbewussten Zusammenspiels in Partnerwahl und Paarkonflikt. Das Kollusions-Konzept. Reinbek bei Hamburg.

Online-Quellen Statista (2019). WhatsApp – Dossier; https://www.statista.com/study/20494/whatsappstatista-dossier/ (18.7.2019). WhatsApp: https://www.whatsapp.com/about/ (18.7.2019).

Angela Standhartinger

2.7 Briefzensur und Briefgeheimnis in der Neuzeit Das lateinische Wort censura, eigentlich ‚Prüfung‘, ‚Beurteilung‘ erhält in der Neuzeit die Bedeutung „Überprüfung von Geschriebenem“ (Plachta 2011, 864). Der verschlossene Brief intendiert die nicht-öffentliche Kommunikation zwischen Adressat*in und Absender*in und begründet damit in sich das Briefgeheimnis (vgl. Bohn 1997). Nur der bzw.die Absender*in oder seine bzw. ihre Rechtsnachfolger*innen können das Veröffentlichungsrecht beanspruchen. Als rechtlich verbrieftes Grundrecht erscheint es zuerst 1848 in der Paulskirchenverfassung (vgl. Badura 2014, 13). Schon 1690 war das Postgeheimnis als die Verpflichtung der Postboten zur Geheimniswahrung während der Beförderung rechtlich erstmals festgeschrieben worden (vgl. Burgdorf 2015, 1999). Doch blieb der Wirkungsgrad des sittlich oder gesetzlich verbrieften Rechts auf Wahrung der Privatheit in der Kommunikation zu allen Zeiten begrenzt. Die sogenannten schwarzen Kabinette und Postlogen, d.  h. mit der Briefzensur befassten staatlichen Abteilungen, verfeinerten und perfektionierten in der Frühen Neuzeit die Kunst der unbemerkten Brieföffnung und Siegelreduplikation (vgl. Grillmeyer 1999, 58–60; Breyer 2007, 46, 55). Mit der Einrichtung eines überregional organisierten und auch privat nutzbaren Postwesens erwarben die Staaten im mitteleuropäischen Raum die mehr oder weniger rechtsförmig organisierte Möglichkeit, die transportierten Nachrichten zu ‚überprüfen‘ und mitzulesen. Aber auch ohne zentral organisiertes Postwesen und im zwischenstaatlichen Verkehr wurden Nachrichten durch ‚unbefugte‘ Dritte abgefangen, gelesen und gegebenenfalls auch manipuliert. Selbstzensur wird gerade dort geübt, wo der Nachrichtentransport – wie im heutigen Internetzeitalter – nicht (mehr) zentralisiert organisiert ist (vgl. Baltussen und Davis 2015, 1–18).

1 Mittelalter und Neuzeit Marco Polo hatte im 13. Jahrhundert in China ein überregionales Postwesen kennengelernt, das (vielleicht nach antiken Vorbildern) mit fest installierten Posten arbeitete, an denen Kuriere und Pferde gewechselt wurden (vgl. Dallmeier 2002, 224). In Mitteleuropa wurde eine solche festinstallierte überregionale Kurierpost seit dem 15. Jahrhundert eingeführt. Damit wurde die Briefzustellung erheblich beschleunigt. Auf Ludwig XI. (1423–1483) geht die Einrichtung der französischen https://doi.org/10.1515/9783110376531-016

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Post zurück. Im Deutschen Reich wurde die Organisation eines Postkuriersystems von König Maximilian I. 1490 an die Familie von Taxis als Lehen vergeben (vgl. Otto 2012, 435; Dallmeier 2002). Seit 1506 ist die Beförderung von Privatbriefen durch die Taxis’sche Post nachweisbar (vgl. Dallmeier 2002, 233–234). In den theologisch-politischen Auseinandersetzungen der Frühen Neuzeit widmet Martin Luther der Forderung nach der Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses seine 1528 erschienene Schrift „Von den heimlichen und gestohlenen Briefen, samt einem Psalm ausgelegt, wider den Herzog Georg von Sachsen“ (WA 30 Bd. II [14–24] 25–48). Luther wirft dem Herzog, der einen Privatbrief Luthers abgefangen hatte, zum einen Diebstahl und zum anderen Brieffälschung vor: „Ein Dieb ist ein Dieb, er sei ein Geld Dieb oder ein Brief Dieb“ (WA 30 Bd. II 29,3–4; zitiert nach Ebeling 1999, 27). Wer einen heimlichen Brief wider Wissen und Willen seines Herrn offenbar oder einem Fremden zu eigen macht, der verfälscht nicht vier oder fünf Worte darin, sondern den ganzen Brief, dass er hinfort nicht mehr derselbe ist noch heißen kann, weil damit die Gestalt und Art des ganzen Briefes und die Meinung des Schreibers allerdings verkehrt und geändert ist (WA 39 Bd. II 30,13–19; Ebeling 1999, 27–28).

Luther beruft sich also auf ein moralisches Recht zur Wahrung des Briefgeheimnisses (vgl. Ebeling 1999, 27–28). Wenn er die unbefugte Brieföffnung als Fälschung bezeichnet, so reflektiert er eine Rechtsauffassung, wie sie in der Tiroler Landordnung von 1532 und 1603 zur Begründung des hier erstmals rechtlich kodifizierten Postgeheimnisses ebenfalls erscheint, dessen Verletzung diese unter Strafe stellt (vgl. Eberhardt 1930, 12–14). Die Forderung nach einem rechtlich verbrieften Post- und Briefgeheimnis folgt dabei aus der Entwicklung überregionaler auch für Privatbriefe nutzbarer Postverbindungen ab dem späten 15. Jahrhundert. Mit der Einrichtung fester Postrouten wuchs jedoch auch die Möglichkeit der Briefüberwachung. Der Begründer des französischen Postwesens, Ludwig XI., verpflichtete in Artikel  13 des „Édit sur le Postes“ den Postmeister, alle Privatbriefe daraufhin zu überprüfen, ob sie für den König abträglich waren. In England wurde die Einrichtung der Post 1657 mit dem Argument begründet: „The post will be the best means to discover and prevent many dangerous and wicked designs against the Commonwealth“ (Badura 2014, 11). In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts richtete Ludwig XIV. das ‚cabinet noir‘ zur systematischen Briefzensur ein. Briefe mussten über Paris versendet werden. Nach diesem Vorbild richteten auch die Engländer eine ‚black chamber‘ und die deutschen Fürsten ‚schwarze Kabinette‘ und ‚Postlogen‘ ein. Im Habsburgerreich, mit seiner von der Familie Thurn und Taxis organisierten Post, standen schwarze Kabinette in Frankfurt, Augsburg, Nürnberg und weiteren für den Postweg zentralen Städten zur Verfügung (vgl. König 1875; Beyrer 2007). Besonders leistungsfähig erwies sich das

2.7 Briefzensur und Briefgeheimnis in der Neuzeit 

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„geheime Ziffer-Secretariat,“ d.  h. die Postloge in Wien (vgl. Grillmeyer 1999; Beyrer 2007, 51–55). Zur Zeit Metternichs (1773–1859) sollen in Wien pro Jahr 15.000 Abschriften von überprüften Briefen (sogenannte Interzepte) entstanden sein (vgl. Beyrer 2007, 59). Dabei verstand sich die Postloge in Wien insbesondere auch auf das Dechiffrieren verschlüsselter Nachrichten (vgl. Grillmeyer 1999, 58–62). Das Wissen um die systematische Überprüfung der Post führte bei den Absender*innen zu dem Bemühen, ihre Nachrichten zu verschlüsseln. Kaiser Karl V. (1500–1558), der Kaiser Luthers, soll seine Post durchgehend verschlüsselt haben (vgl. Grillmeyer 2005, 420). Im 15. und 16. Jahrhundert entdeckte man antike Verschlüsselungsmethoden wie die Caesarmethode wieder und begann die Kryptographie zu verbessern. Der römische Architekt Battista Alberti (1404–1487) erfand die Chiffrierscheibe, auf der durch ringförmige Anordnung zweier Alphabete ein Text leicht aus oder in Geheimschrift übertragen werden konnte. Andere ersetzten Alphabete durch Zahlen oder andere Zeichen. Der Humanist und Theologe Johannes von Heidelberg, genannt Trithemius (1462–1516), erstellte eine Tabelle, die mit 26 Alphabeten verschlüsselt war, und der Kryptologe Heinrichs III. von Frankreich, Blaise de Vigenère (1523–1598), perfektionierte das System durch die Auswahl der Verschlüsselungsalphabete per Codewort (vgl. Beyrer 2008; Kahn 2 1996 [1967], 71–106).

2 18. und 19. Jahrhundert Seit Ende des 19. Jahrhunderts unterscheidet man auch begrifflich zwischen dem Briefgeheimnis, dem Verbot der Wahrnehmung von brieflich versendeten Inhalten durch Dritte, und dem Postgeheimnis, der Verpflichtung von Postboten zur Verschwiegenheit und zuverlässigen Überbringung der Briefe von der Einlieferung bis zur Auslieferung an den bzw. die Adressat*in (vgl. Eberhardt 1930, 17; Badura 2014, 19–20). Das Briefgeheimnis wurde erstmals als „die getreuewe und richtige Brieffbestellung gegen billiches Postgeld“ im Artikel XXXIV der Wahlkapitulation von Kaiser Joseph I. 1690 gesetzlich geregelt (vgl. Burgdorf 2015, 199; Eberhardt 1930, 23–25). Zuwiderhandlung ist ein Beamtendelikt (vgl. Austermühle 2002, 59). Die preußische Postordnung von 1712 sah als Strafe für das Öffnen von Briefen oder das Aushändigen an fremde Hand die Dienstentlassung der Postbeamten vor, eine Verordnung Ludwigs XV. von 1752 drohte für das Öffnen von Briefen und das Unterschlagen ihres Inhalts zu eigenem Nutzen sogar die Todesstrafe an (vgl. Burgdorf 2015, 199). Die Existenz der Postlogen und schwarzen Kabinette zeigt, dass sich Könige und Fürsten als die Auftraggeber und Dienstherren der Post-

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

boten durch das Postgeheimnis keineswegs in die Pflicht genommen sahen. „Die Geburtsstunde der Posthoheit“ mitteleuropäischer Könige, Kaiser und Fürsten war „zugleich die Geburtsstunde der staatlichen Postzensur“ (Wolter 1966, 52). Im Zuge der Französischen Revolution formulierte die französische Nationalversammlung 1791 erstmals auch das Briefgeheimnis als allgemeines Grundrecht (vgl. Badura 2014, 6; Burgdorf 2015, 199–200). Die Forderung wurde vom deutschen Liberalismus und dann in die Verfassungen der konstitutionellen Staaten, zuerst in Kurhessen 1831, aufgenommen (vgl. Austermühle 2002, 72–80 u. 192; Badura 2014, 6). Artikel 141 und 142 der Frankfurter Reichsverfassung von 1849 suchten den Schutz des Post- und Briefgeheimnisses als Grundrecht zu verankern. Ausnahmen sollten nur auf richterliche Anordnung möglich sein (vgl. Austermühle 2002, 94–108). Nach dem Scheitern der Paulskirchenverfassung verzichtete die Reichsverfassung von 1871 auf Grundrechte. Das Postgeheimnis wurde im Postgesetz, in der Reichstrafprozessordnung (§ 99–101 RStPO; vgl. Austermühle 2002, 173–180) und im Reichstrafgesetzbuch (vgl. Austermühle 202, 184–186) geregelt.

3 20. Jahrhundert und Gegenwart Im zweiten Südafrikanischen Krieg (1899–1902) wurde erstmals die Kennzeichnungspflicht für zensierte Post eingeführt, mit Stempel und Zensur-Verschlusszettel (vgl. Wolter 1965, 18–39; Wolter 1966, 52). Die Praxis war Ende des 18. Jahrhunderts zunächst in England im Kontext der Überprüfung von Gefangenenpost entwickelt worden und setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts auch in Frankreich, Kanada und den USA in diesem Zusammenhang durch (vgl. Wolter 1965, 11–41; Wolter 1966, 56–61;). Im Ersten Weltkrieg unterhielten alle kriegsbeteiligten Nationen offizielle Zensurämter (vgl. Wolter 1965, 43–125; 1968). Im Deutschen Reich waren dies insgesamt 116 Ämter, die sich mit der Zensur der Privatpost befassten (vgl. Wolter 1968, 49). Geöffnete und weitergeleitete Post wurde mit verschiedenen Stempeln und Beschriftungen markiert. 1919 ordnete die Verfassung des Deutschen Reichs das Briefgeheimnis in die Grundrechte des Einzelnen ein (vgl. Eberhardt 1930, 52). Artikel 117 der Verfassung des Deutschen Reichs bestimmt: „Das Briefgeheimnis sowie das Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis sind unverletzlich. Ausnahmen können nur durch Reichsgesetz zugelassen werden.“ Damit verwandelte sich das Brief- und Postgeheimnis von einer Beamtenpflicht zu einem gegen den Staat gerichteten Individualrecht. Die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ (Reichstagsbrandverordnung) vom 28. Februar 1933 setzte das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis sowie weitere Rechte der persönlichen Freiheit außer Kraft.

2.7 Briefzensur und Briefgeheimnis in der Neuzeit 

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In der DDR wurde das Postgeheimnis als Grundrecht wiedereingeführt (Artikel 8 der ersten Verfassung von 1949 sowie Artikel 31 der zweiten Verfassung von 1968 und 1974). Eingeschränkt wurde dieses Grundrecht im Falle der Gefährdung der „Sicherheit des sozialistischen Staates“ oder durch „eine strafrechtliche Verfolgung“ (Zusatzartikel 31 der Verfassung von 1969). Die Deutsche Post unterhielt unter dem Namen „Abteilung/Dienstelle 12“ eine Schnittstelle, die mit der Abteilung M des Ministeriums für Staatssicherheit, der eigentlichen Zensurbehörde, zusammenarbeitete. Sie umfasste 1989 2.200 Mitarbeiter*innen, die systematisch die Post überprüften (vgl. Labrenz-Weiß 2005, 3–5). In der Bundesrepublik zählt die Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis zu den besonders geschützten Grundrechten (Artikel 10 des Grundgesetzes). Es lautete zunächst: „Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden.“ (Badura 2014, 6) Ein Gesetz wurde jedoch zunächst nicht erlassen, sodass das Briefgeheimnis einschließlich des Postgeheimnisses hätte unbeschränkt gelten müssen. Allerdings ermächtigten sich die Alliierten durch Artikel  5.2 des Deutschlandvertrags zur Post-, Telegramm- und Telefonzensur und übten diese extensiv aus (vgl. Foschepoth 2009, 413; Badura 2014, 6). Beispielsweise wurden von 1960 bis 1967 insgesamt 42,1  Millionen Postsendungen an die Amerikaner ausgehändigt (vgl. Foschepoth 2009, 414). Im Rahmen des 1951 wieder eingeführten politischen Strafrechts (§ 93 des Strafgesetzbuchs) und rechtlich im Rahmen des Besatzungsrechts beschlagnahmte auch die westdeutsche Post zwischen 1955 und 1968 100  Millionen Sendungen, vor allem solche, die aus der DDR abgesendet worden waren und in denen man ‚staats- und verfassungsgefährdendes‘ Propagandamaterial vermutete (vgl. Foschepoth 2009, 414–422). Die Postzensur war also in beiden deutschen Staaten Teil ideologischer Abwehrmaßnahmen. Erst 1968 wurde im Rahmen der Notstandsgesetze ein Gesetz zur Regelung der Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegesetzes erlassen, das sogenannte G 10-Gesetz (vgl. Foschepoth 2009, 426; Badura 2014, 70–76). Dabei wurde Artikel 10 des Grundgesetzes um Absatz 2 erweitert, der dem Staat bei Gefährdung der freiheitlichdemokratischen Grundordnung oder des Staates verdeckte Zensur erlaubt (vgl. Badura 2014, 6). Im Strafvollzug ist das Briefgeheimnis ebenfalls eingeschränkt mit Ausnahme von Briefen an Verteidiger und Volksvertreter (§ 29 Strafvollzugsgesetz). Bis zur Strafrechtsreform von 1969 wirkten in Westdeutschland Geistliche bei der Zensur von Gefangenenpost mit (vgl. Böhm 2001, 230). Im Zeitalter elektronischer Kommunikation stellt die Sicherstellung der Übertragungswege zwischen Absender*innen und Adressat*innen (E-Mail, Messenger-Dienste) vor neue, auch technische Herausforderungen. § 202 des Strafgesetzbuchs stellt vorsätzlich ausgeübten unbefugten Zugriff auf persönliche elektronische Daten unter

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Strafe. Allerdings ist das staatliche Monopol auf Briefbeförderung im Internetzeitalter gefallen. Befugnisse und deren Einschränkungen in der Kommunikationsüberwachung durch In- und Auslandsgeheimdienste werden weiterhin diskutiert.

Zitierte Literatur Austermühle, Gisa (2002). Zur Entstehung und Entwicklung eines persönlichen Geheimsphärenschutzes vom Spätabsolutismus bis zur Gesetzgebung des Deutschen Reiches. Berlin. Baltussen, Han u. Peter J. Davis (2005). „Parrhesia, Free Speech, and Self-Censorship“, in: The Art of Veiled Speech: Self-Censorship from Aristophanes to Hobbes. Hg v. dens. Philadelphia: 1–17. Badura, Peter (42014). „Artikel 20“, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz. Bd. 1. Ordner 3 Art. 6.IV-14. Hg. v. Wolfgang Kahl, Christian Waldhoff u. Christian Walter. Heidelberg: 1–87. Beyrer, Klaus (2007). „Die Schwarzen Kabinette der Post“, in: Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Hg. v. Wilhelm Haefs u. York-Gothart Mix. Göttingen: 45–59. Beyrer, Klaus (2008). [Art.] „Kryptographie“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, 7: 248–250. Beyrer, Klaus (2011). [Art.] „Verschlüsselte Kommunikation“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, 14: 200–208. Binder, Gerhard u. Hartwig Heckel (2002). [Art.] „Zensur“, in: Der Neue Pauly, 12.2: 757–760. Böhm, Alexander (2001). [Art.] „Strafvollzug“, in: Theologische Realenzyklopädie, 32: 225–233. Bohn, Cornelia (1997). „Ins Feuer damit: Soziologie des Briefgeheimnisses“, in: Schleier und Schwelle. Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit. Hg. v. Aleida u. Jan Assmann. München: 41–51. Burgdorf, Wolfgang (2015). Protokonstitutionalismus. Die Reichsverfassung in den Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser 1519–1792. Göttingen. Dallmeier, Martin (2002). „Großreich und Kommunikation“, in: Karl V. 1500–1558. Neue Perspektiven seiner Herrschaft in Europa und Übersee. Hg. v. Alfred Kohler, Barbara Heider u. Christine Ottner. Wien: 223–244. Ebeling, Gerhard (1997). Luthers Seelsorge. Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen an seinen Briefen dargestellt. Tübingen. Eberhardt, Waldemar (1930). Ursprung und Entwicklung des Brief- und Postgeheimnisses im weiteren Sinne. Frankfurt a. M. Foschepoth, Joseph (2009). „Postzensur und Telefonüberwachung in der Bundesrepublik Deutschland (1949–1969)“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 57.5: 413–426. Grillmeyer, Siegfried (1999), „Habsburgs langer Arm ins Reich. Briefspionage in der Frühen Neuzeit“, in: Streng Geheim. Die Welt der verschlüsselten Kommunikation. Hg. v. Klaus Beyrer. Heidelberg: 55–67. Grillmeyer, Siegfried (2005). [Art.] „Briefzensur“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, 2: 419–421. Kahn, David (21996 [1967]). The Codebreakers. The Story of Secret Writing. New York. König, Emil (1875). Schwarze Kabinette. Braunschweig. Labrenz-Weiß, Hanna (2005). Abteilung M (MfS Handbuch). Hg. v. BStU. Berlin http://www.nbnresolving.org/urn:nbn:de:0292-97839421301720 (4.10.2019). Luther, Martin (1883–2009). Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Abt. I: Schriften. 80 Bde. Weimar. [WA]

2.7 Briefzensur und Briefgeheimnis in der Neuzeit 

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Otto, Martin (2012). [Art.] „Postgeheimnis“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, 15: 435–437. Plachta, Bodo (2011). [Art.] „Zensur“, in: Lexikon der Geisteswissenschaften. Sachbegriffe – Disziplinen – Personen. Hg. v. Helmut Reinalter u. Peter J. Brenner. Wien u.  a.: 864–870. Wolter, Karl K (1965). Die Postzensur. Handbuch und Katalog I. München. Wolter, Karl K (1968). „Zur Geschichte der Postzensur“, in: Archiv für deutsche Postgeschichte, 1: 49–63. Wolter, Karl K. (1966). „Zur Geschichte der Postzensur“, in: Archiv für deutsche Postgeschichte, 2: 52–61.

Markus Schiegg

2.8 Briefsteller 1 Begriffsdefinition Ein Briefsteller ist ein didaktisches Werk, das Anleitungen und Muster zur Abfassung von Briefen beinhaltet. Seit den 1960ern ist diese Bezeichnung „veraltend“ (Duden 2017, 294; vgl. Nickisch 1997, 258), wohingegen das Bezeichnete weiterhin in Verwendung ist – nun allerdings verstärkt in Form von Ratgebern zur E-MailKommunikation. Ursprünglich wurde mit diesem Ausdruck die Person bezeichnet, welche Briefe stellt, also abfasst bzw. abfassen lässt. Metonymisch wurde diese Bedeutung dann auf ein Lehrbuch übertragen. Im Grimmʼschen Wörterbuch befinden sich noch beide Verwendungsweisen, also auctor epistolae (‚Urheber eines Briefsʻ) und liber epistolaris – mit Erklärung anweisung zum briefschreiben (DWB Bd. 2, Sp. 381). Dies belegt die Existenz beider Bedeutungen im 19. Jahrhundert. Die Wendung ‚Briefe stellen‘ war vor allem in der Frühen Neuzeit geläufig und erschien häufig in brieftheoretischen Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts (vgl. Furger 2010, 38); auch im Grimmʼschen Wörterbuch findet sich noch das Lemma Briefstellen, welches mit lateinisch epistolas scribere (‚Briefe schreibenʻ) erklärt wird (DWB Bd. 2, Sp. 381). Als Bezeichnung für die Quellengattung von Brieflehrbüchern etablierte sich der Ausdruck ‚Briefsteller‘ Ende des 17.  Jahrhunderts und löste dabei Termini wie ‚Formulari‘, ‚Kanzlei-Büchlein‘ oder ‚Epistel-Büchlein‘ ab (vgl. Nickisch 1997, 258). So gilt der im Jahre 1690 von August Bohse (Pseudonym Talander) veröffentlichte Allzeitfertige Briefsteller als frühestes Werk, bei dem mit ‚Briefsteller‘ ein Brieflehrbuch bezeichnet wurde (vgl. Nickisch 1997, 257). Eine Zeit lang existierte der Terminus ‚Secretarius‘ noch parallel dazu, wobei hier der direkte Bezug zum Schreiber, dem Sekretär, aufrechterhalten wurde (vgl. Furger 2010, 40). Auf barocken Titelblättern derartiger Bücher kann oftmals der Ausdruck ‚Schriftstellung‘ gefunden werden, was sich vom ‚Schriftsteller‘ ableiten lässt, der ursprünglich im Auftrag seiner Kunden Schriftstücke verfasst hat (vgl. Furger 2010, 39). Die Bezeichnung ‚Briefsteller‘ war bis zur Mitte des 20.  Jahrhunderts in den Titeln der Briefmusterbücher sowie in der Alltagssprache geläufig, wobei die Textsorte selbst durch die Jahrhunderte hindurch einschneidende konzeptionelle Veränderungen erfahren hat. Ersetzt wurde diese Bezeichnung schließlich durch „verbindlichere, lesernahe Formulierung[en]“ (Ettl 1984, 22), oftmals ‚Briefratgeber‘.

https://doi.org/10.1515/9783110376531-017

2.8 Briefsteller 

 277

2 Historische Aspekte 2.1 Vorgeschichte der deutschsprachigen Briefsteller Die Tradierung von Regeln zur Abfassung von Briefen dürfte genauso alt sein wie das Briefschreiben selbst, wobei zunächst wohl alte und bewährte Briefe als Vorbilder aufbewahrt wurden, die dann als Mustersammlungen für unterschiedliche Zwecke zusammengestellt wurden und die in einem nächsten Schritt eine theoretische Einführung erhielten, welche unterschiedliche Teilaspekte der Briefschreiblehre umfasste. Nickisch (1994, 77) nimmt an, dass die Gattung der Briefsteller im hellenistischen Ägypten des 2. bis 1. Jahrhunderts v. Chr. aufgekommen sei, wobei der älteste uns erhaltene Briefsteller von Pseudo-Demetrios stamme (vgl. Smolak 1980, X). An diesem orientierten sich die griechischen Brieflehrer des 2. bis 5. Jahrhunderts n. Chr. Auch wenn sich in den klassischen lateinischen Schriften nur „beiläufige Hinweise zur Epistolartheorie“ (Nickisch 1994, 77) finden, galt seit der römischen Kaiserzeit das Briefschreiben als ein zentraler Teil der Redekunst. Die mittelalterlichen Briefsteller sind lateinisch verfasst und an die Tradition der antiken Rhetorik angelehnt. Sie geben keine Hinweise zur Abfassung von Privatbriefen, sondern sind im amtlichen Kontext für Urkunden, Manifeste und diplomatische Noten entstanden (vgl. Nickisch 1969a, 18). Im Frühmittelalter hatte insbesondere die um 538 n. Chr. herausgegebene Sammlung von Briefund Urkundenmustern (formulae) Cassiodors, der in der Kanzlei Theoderichs des Großen beschäftigt war, großen Einfluss. Seit dem 11. Jahrhundert wurden zunächst im heutigen Italien derartigen Sammlungen dann theoretische Ausführungen vorangestellt. Von dort gelangten die mittelalterlichen Briefsteller ins heutige Frankreich und schließlich nach Großbritannien und Deutschland, wo seit dem 13. Jahrhundert eigenständige Lehrwerke entstanden. Die sogenannte ars dictaminis wurde hierbei Unterrichtsfach an Lateinschulen (vgl. Nickisch 1994, 77). Zentral ist in diesen Werken das fünfteilige Dispositionsschema, also die geforderte Einteilung des Briefes in die fünf Teile salutatio, captatio benevolentiae, narratio, petitio und conclusio, womit die Struktur antiker Reden übernommen und für die Epistolographie leicht angepasst wurde. Auch der an der Prager Hofkanzlei beschäftigte Johann von Neumarkt (14. Jahrhundert) trug mit seinem handschriftlich überlieferten Formularbuch Summa cancellariae unter Karl IV. zur Entwicklung des kanzlistischen Briefstils in Deutschland bei (vgl. Nickisch 1969a, 18).

278 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

2.2 Deutsche Briefsteller vom 15. bis 17. Jahrhundert Als die deutsche Sprache im 14. und zunehmend im 15.  Jahrhundert auch in offiziellen schriftlichen Kontexten zum Einsatz kam, wurden die lateinischen Briefsteller allmählich von deutschsprachigen abgelöst. Formal und inhaltlich waren diese jedoch noch „ganz von den entsprechenden älteren lateinsprachigen Werken abhängig“ (Nickisch 1994, 78). Während die früh- und hochmittelalterlichen Brieflehren ausschließlich an Geistliche gerichtet waren, sollten nun bürgerliche Schreiber, Notare und Sekretäre in städtischen oder höfischen Kanzleien in der Abfassung behördlicher Urkunden und Briefe unterrichtet werden. Die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert führte zur verstärkten Verbreitung deutschsprachiger Briefsteller, wobei Johann Zainers Formulari (1479) besonderen Einfluss hatte und als Vorbild dieser Textsorte bis ins 16. Jahrhundert gedruckt wurde (vgl. Nickisch 1994, 78). Die im 16. Jahrhundert erschienenen Briefsteller veränderten sich demgegenüber kaum und orientierten sich weiterhin am Kanzleistil; das Titularwesen nahm eine bedeutende Rolle ein, ebenso wie rhetorische Wohlgeformtheit, die sich u.  a. in hypotaktischem Satzbau und angemessener Stillage manifestieren sollte (vgl. Nickisch 1994, 78). Auch in den bedeutenden Werken Johann R. Sattlers (u.  a. 1604) galt noch immer das traditionelle Dispositionsschema (vgl. Nickisch 1969a, 50). Dementsprechend konstatiert Nickisch eine „Stagnation in der deutschen Brieflehre“ (1994, 78) bis ins erste Drittel des 17. Jahrhunderts. Ab etwa 1640 konnte man einen französischen Einfluss auf einige der Briefsteller beobachten, was sich in einer „etwas gelockerte[n] Ausdrucksweise“ und oftmals einem „devot-zierlichen Briefstil“ (Nickisch 1994, 79) zeigte. Neue Impulse gaben dabei die aus dem Französischen übersetzten Briefbücher des französischen Brieflehrers Jean P. de La Serre, etwa sein A La Modischer Secretarius (1645). Seit Mitte des 17. Jahrhunderts erschienen sogenannte Sekretariatsbücher, oftmals mehrbändig und von einem „polyhistorischen, enzyklopädischen Charakter“ (Furger 2010, 41), mit dem sie den Lesern aus der wachsenden Bürger- und Kaufmannsschicht breitgefächerte Perspektiven auf das Briefschreiben vermitteln wollten. Zu erwähnen sind hier die umfangreichen Bücher von Georg Philipp Harsdörffer (Der Teutsche Secretarius, 1655) und Kaspar Stieler (Teutsche Sekretariat-Kunst, 1673), wobei ersterer nun neben dem kanzlistischen Brief auch Briefe in einer „höflich-preziös stilisierten Sprache“ (Nickisch 1994, 79) vorstellte. Neu u.  a. bei diesen beiden Autoren ist dabei der Fokus auf private Briefe, darunter auch Liebesbriefe. Christian Weise leitete Ende des 17. Jahrhunderts mit seinen Curiöse[n] Gedancken Von Deutschen Brieffen (1691) die Zeit der galanten Brieflehre in Deutschland ein. Stark beeinflusst vom französischen Briefstil betrachtete er – zusammen mit August Bohse (Talander) und Christian F. Hunold (Menan-

2.8 Briefsteller 

 279

tes) – den Brief als ein „Mittel galanter Gesellschafts- und Lebenskunst“ (Nickisch 1994, 80). Dabei ging es weniger um eine radikale Neugestaltung, sondern eher um eine Vermischung von Altem und Neuem, wobei Weise durchaus als Wegbereiter einer „freiere[n] Entfaltung des Briefstils“ (Nickisch 1969a, 111; vgl. von Polenz 2013, 109) charakterisiert werden kann. Generell kann man von einer großen Popularität der Briefsteller im 17. und 18. Jahrhundert sprechen, was wohl einem Bedürfnis in der Bevölkerung entgegenkam, gesellschaftlich anerkannten Mustern zu entsprechen.

2.3 Deutsche Briefsteller im 18. Jahrhundert Auch wenn Benjamin Neukirch in seiner Anweisung zu Teutschen Briefen bereits 1709 die Ideale der Natürlichkeit und Vernünftigkeit im Briefwesen propagierte und damit mit der kanzlistischen Tradition brach, dauerte es noch fast bis zur Mitte des Jahrhunderts, bis derartige Neuausrichtungen Erfolg zeitigten. Besonders einflussreich war hierbei das Werk Christian F. Gellerts, mit dem eine „durchgreifende Reform des deutschen Briefwesens um die Jahrhundertmitte“ (Nickisch 1991, 80) verbunden ist. In seinen beiden Schriften Gedanken von einem guten deutschen Briefe (1742) und der Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen (1751) betont Gellert, dass das Briefschreiben lediglich „gesunden Verstand“ voraussetze, den man aber „niemande[m] in einer Regel beybringen“ (Gellert 1751, 48) könne. Er lehnt „die künstlichen Methoden“ (Gellert 1751, 49) der klassischen Briefsteller ab und tritt für die Natürlichkeit des Briefes ein als „eine freye Nachahmung des guten Gesprächs“ (Gellert 1751, 3). Damit löst Gellert den Brief aus den „Fesseln des rhetorischen Dispositionsschemas“ (Klenk 1997, 101) und überantwortet ihn „der Vernunft des einzelnen“ sowie dem „gute[n] Geschmack der Salons der Gebildeten“ (Klenk 1997, 136). Gellerts Werk hatte weitreichende Folgen für Briefsteller. Diese galten nun nicht mehr als angesehene Lehrbücher, sondern stiegen in ihrem Status ab zum „Vorschriftenbuch für Menschen mit geringer Sprachgewalt“ (Brockmeyer 1961, 303). Dennoch waren Briefsteller weiterhin sehr populär, was aus dem Aufschwung des Briefeschreibens im 18. Jahrhundert resultierte; Unterricht im Briefeschreiben war dann sogar Bestandteil von Schulordnungen für Volksschulen (vgl. Klenk 1997, 103). Der Rezipientenkreis von Briefstellern erweiterte sich stetig, verstärkt wurden nun auch Frauen der gehobeneren sozialen Schichten zum Briefeschreiben animiert; der Brief entwickelte sich im 18. Jahrhundert zu „dem ‚weiblichen‘ Medium“ (Furger 2010, 210) schlechthin. Auf die „paradoxe Situation der Unlehrbarkeit seines Gegenstandes“ (Klenk 1997, 106) reagierte der typische Briefsteller nach Gellert, der nun nicht mehr von Gelehrten und Literaten, sondern von ‚Schulmännern‘ verfasst wurde, mit „Prag-

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

matisierung, Didaktisierung und Typisierung“ (Klenk 1997, 106–107). So wurden Gellerts Maximen übernommen, aber auch die vor ihm geltenden Regeln wiederbelebt. Noch gesteigert wurde Gellerts Position in Karl Philipp Moritzʼ Anleitung zum Briefschreiben (1783), der jegliche Regeln für Briefe und damit auch die Benutzung von Briefstellern ablehnte. Infolgedessen vermieden nun anspruchsvollere Autoren das Genre Briefsteller (vgl. Nickisch 1994, 82).

2.4 Deutsche Briefsteller vom 19. bis ins 21. Jahrhundert Die hohe Zahl und Auflagenhöhe von Briefstellern blieb trotz ihrer Trivialisierung im 19. Jahrhundert ungebrochen – die über 250 in diesem Jahrhundert neu- und wiederaufgelegten Briefsteller lassen sich nicht übersehen und galten, so Antes (2016, 35), als die „cash cows“ der Verlage. Besonders erfolgreich wurden die sogenannten Universal-Briefsteller, die als Hausbücher des Bürgertums zu Ratgebern wie Anstands- und Kochbüchern gestellt wurden (vgl. Nickisch 1994, 82). Zu nennen sind hier etwa Otto F. Rammlers Universal-Briefsteller (1834), der 1907 mit insgesamt etwa 320.000 Exemplaren die 73. Auflage erreichte, Wilhelm Campes Briefsteller für alle Fälle des menschlichen Lebens (1833) mit 52 Auflagen sowie auch der 42 Mal aufgelegte Universal-Briefsteller (1843) L. Kiesewetters (vgl. Antes 2016, 27). Seit den 1830ern ließen sich eine ausgeprägte Konventionalisierung und das Ende des „individualisierten epistolaren Sturm und Drang“ beobachten; Briefsteller wurden zu „Werkzeuge[n] des sozialen Aufstiegs“ (Baasner 1999, 23) und erlaubten keine Konformitätsverstöße mehr, vor allem nicht im Bereich der Titulatur und wenn Personen der Oberschicht adressiert wurden (vgl. Klenk 1997, 137). Dabei wurden zahlreiche formale Details geregelt wie etwa – in Abhängigkeit von der sozialen Stellung des Rezipienten – der „Respects-Platz“ (Rammler 1841, 61), also die Größe der leeren Texträume an den Briefrändern und zwischen den einzelnen Briefteilen, sowie auch Schrift- und Briefpapiergrößen und -arten (vgl. Besch 1994). Im 20.  Jahrhundert wurde diese „Respektsemiotik“ (Ehlers 2004, 21) durch DIN-Normen ersetzt. Laut Nickisch (1994, 83) waren die Briefsteller des 19.  Jahrhunderts Teil einer „Art ‚Volksbildung‘ im Sinne des nationalistischen Konservativismus, der das kleindeutsche Kaiserreich ideologisch trug“. Ende des 19.  Jahrhunderts kamen die berufsspezifischen Fachbücher der Geschäftsbriefsteller auf, was einerseits auf die zunehmende Differenzierung der Gesellschaft zurückzuführen ist (vgl. Ettl 1984, 22), andererseits aber auch auf die Verschiebung der Institutionensprache an den Pol der schriftlichen Distanzsprachlichkeit. Das ehemalige ‚Vorsprechen‘ auf dem Amt o.  Ä. wurde dabei durch geschriebene Kommunikation mit räumlich entfernten und oft anonymen Adressaten ersetzt (vgl. Elspaß 2005, 37).

2.8 Briefsteller 

 281

In der Weimarer Zeit nahmen die Geschäftsbrief-Anleitungen weiter zu und die Schreibhilfen für private Anlässe ab; generell legten Briefsteller in dieser Zeit Wert auf eine Versachlichung des Briefverkehrs (vgl. Nickisch 1994, 84; Brüggemann 1968, 97). Briefsteller im Nationalsozialismus vertraten das Stilideal einer „forsch-fröhliche[n] ‚Sachlichkeit‘“ (Nickisch 1991, 86), wobei diese als Medien der Indoktrinierung galten und die Musterbriefe als Instrumente der Gleichschaltung eingesetzt wurden (vgl. z.  B. Elwenspoek 1936; vgl. dazu Ettl 1984, 182–183). Briefsteller nach 1945 sind oftmals bearbeitete Neuauflagen älterer Werke (vgl. z.  B. Elwenspoek 1956) und werfen zwar den „ideologisch-politischen Ballast“ ab, sind aber zunächst noch restaurativ und zeigen „eine neue Form der Untertänigkeit“ (Nickisch 1994, 84). Die Bezeichnung ‚Briefsteller‘ verschwindet nun zwar aus den Titeln der Publikationen, die Textsorte an sich bleibt aber auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr erfolgreich, wobei jedoch die Zahl der Liebesbriefsteller stark zurückgeht (vgl. Nickisch 1994, 84). Vielmehr werden Textmuster angeboten zur Absolvierung „kommunikative[r] Pflichtakte“ (Ettl 1984, 209), also amtlich-offizieller Schreibanlässe wie Klagen, Mahnungen und Beschwerden (vgl. z.  B. Winkler 1964). Die allmähliche Verlagerung der Kommunikation ins elektronische Medium seit dem Ende des 20. Jahrhunderts führte zu einer gewissen Lockerung und Informalisierung einiger Kommunikationsformen, etwa der im Vergleich zum Brief verstärkten Dialogizität und daraus resultierenden konzeptionellen Mündlichkeit der E-Mail (vgl. Dürscheid 2009). Dennoch erschienen in den letzten Jahren zahlreiche Verhaltenscodices, welche eine sogenannte ‚Netiquette‘ (Kofferwort aus Netz & Etikette) insbesondere in offiziellen E-Mails fordern. Diese lehnen sich einerseits bei stilistischen Aspekten oftmals an klassische Briefkorrespondenz an, thematisieren andererseits aber vor allem auch Spezifika, die aus der Kommunikationsform E-Mail resultieren (z.  B. die CCFunktion, die Signatur, Attachments und Emoticons) (vgl. z.  B. Duden 2010).

2.5 Briefsteller in anderen europäischen Ländern In anderen europäischen Ländern lassen sich vergleichbare Entwicklungen bei den Briefstellern beobachten, die jedoch zeitversetzt zu denen in Deutschland in Erscheinung traten. Wie oben erwähnt waren im heutigen Italien bereits früh lateinische Briefsteller im Umlauf, etwa von Alberich von Monte-Cassino (11. Jahrhundert), Henricus Francigena und Hugo von Bologna (12. Jahrhundert) sowie auch Petrus de Vinea und Thomas von Capua (beide 13. Jahrhundert) (vgl. Brüggemann 1968, 11; Nickisch 1969a, 18). Auch volkssprachliche Briefsteller entstanden dort bereits im 13. Jahrhundert, etwa aus der florentinischen Kanzlei von Brunetto Latini (1275). Vom italienischen Raum breiteten sich die volkssprachigen Werke

282 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

aus; allerdings erschien im heutigen Frankreich der erste vollständig in Volkssprache abgefasste Briefsteller erst Mitte des 16. Jahrhunderts (vgl. Große 2003, 139). In Großbritannien waren ebenfalls zunächst lateinischsprachige Briefsteller im Umlauf, besonders einflussreich die 1521 von Erasmus von Rotterdam veröffentlichte Schrift Libellus de conscribendis epistolis, welche auch Anfang des 17.  Jahrhunderts noch empfohlen wurde. Der erste komplett englischsprachige Briefsteller, The Enimie of Idlenesse, wurde von William Fulwood im Jahre 1568 publiziert, wobei es sich hierbei um die leicht erweiterte Übersetzung eines zuvor auf französisch veröffentlichten Werkes handelte (vgl. Austin-Jones 2007, 8). Im Vergleich zu den deutschen Briefstellern waren die im Ausland von ihrer Konzeption her progressiver. Während jene Privatbriefe erst im 17.  Jahrhundert in Briefsteller aufnahmen (siehe oben), beinhaltete bereits Erasmus’ Text Anleitungen zur Abfassung derartiger Briefe. Dies lässt sich mit der intensiven Beschäftigung der Renaissance-Humanisten mit antiken Schriftstellern erklären, insbesondere mit der Entdeckung von Ciceros Privatbriefen in Ad Atticum und Ad familiares, wobei sich der informellere Stil auch auf offizielle Kontexte ausdehnte (vgl. Schneider 2005, 41–42). Dies beeinflusste direkt die englischen und auch die französischen Briefsteller, welche schon in den 1560er Jahren Briefe über „bürgerlich-private Angelegenheiten und Liebesbriefe“ (Nickisch 1991, 77) aufnahmen. Auch die ars dictaminis mit ihren strengen rhetorischen Regeln wie dem Dispositionsschema war in Großbritannien schon im Mittelalter recht schwach und verlor im 15. Jahrhundert deutlich an Einfluss (vgl. Richardson 2001). Bemerkenswert an den englischen Briefstellern ist, dass bereits Fulwoods Text aus dem 16. Jahrhundert weniger für professionelle Schreiber in den Kanzleien gedacht war, sondern dass er – wie er in seinem Vorwort betont – damit die Unwissenden lehren wollte; sein Briefsteller war überwiegend zur schulischen Instruktion bestimmt (vgl. Austin-Jones 2007, 9). Auch wenn die späteren Briefsteller meist für höhere gesellschaftliche Schichten vorgesehen waren, finden sich dennoch einige für mittlere und sogar untere Schichten. William Mathers Young Mans Companion (1681) etwa war für junge Handwerker und Arbeiter bestimmt (vgl. Austin-Jones 2007, 11). Thomas Cookes Universal Letter-Writer (1775) war an gewöhnliche, weniger belesene und in der Grammatik ungeübte Leute gerichtet (vgl. Austin-Jones 2007, 13) und druckte sogar den Modellbrief eines ‚pauper letter‘ ab, also die Petition eines Mittellosen an den Armenrat (vgl. Auer 2015, 140). Ob derartige Briefsteller dann tatsächlich von ihren intendierten Rezipienten genutzt wurden, ist natürlich fraglich und wird im Anschluss an den Forschungsüberblick diskutiert.

2.8 Briefsteller 

 283

3 Forschungsüberblick Die schiere Menge der teils in Dutzenden Auflagen erschienenen Briefsteller macht es nahezu unmöglich, einen vollständigen Überblick über diese Textsorte zu erlangen. Während man in der Forschung der Mitte des 20. Jahrhunderts noch die Marginalisierung sieht, die den deutschen Briefstellern infolge von deren Abwertung zur Gebrauchsliteratur seit der Empfindsamkeit und dem Sturm und Drang zugekommen war, und man die Erforschung von Briefstellern damit „nicht als lohnend erachtete“ (Nickisch 1969a, 12; vgl. Brüggemann 1968, 16), konstatierte Nickisch in den frühen 1990ern, dass dieses Forschungsfeld „recht gut bestellt“ (1991, 240) sei. Mittlerweile sei es, so Schreiber (2016), „in der Sekundärliteratur breit behandelt und bibliographisch teils selbständig, teils unselbständig erschlossen“. Das gesteigerte Interesse der Philologie des 19. Jahrhunderts am Mittelalter spiegelte sich auch in der Erforschung der Briefsteller. So fokussierte die Sekundärliteratur von der zweiten Hälfte des 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert fast ausschließlich auf mittelalterliche Briefsteller und deren Vorläufer und nutzte diese als „Quellen für die Sprach-, Bildungs- und Kulturgeschichte“ (Nickisch 1997, 259). Zu nennen sind etwa die Arbeiten von Wattenbach (1855), Rockinger (1861 und 1863/1864), Joachimsohn (1893) und Bütow (1908). Steinhausen (1889/1891) untersuchte jedoch bereits Briefsteller des 17. und 18. Jahrhunderts. Diese frühe Forschung vertritt oftmals fragwürdige Wertungen; Steinhausen beispielsweise zählte A. Bohse zu den „Schmierern“ (1891, 217) und bezeichnete die Briefsteller des frühen 18. Jahrhunderts generell als „einen erbärmlichen litterarischen Schund“ (1891, 217). Den Briefstellern der galanten Epoche galt dann seit der Jahrhundertwende verstärktes Interesse, etwa in den Einzeldarstellungen zu Hunold (vgl. Vogel 1897), Neukirch (vgl. Dorn 1897) und Bohse (vgl. Schubert 1911) und dann in den breiter angelegten Werken von Wendland (1930) und Roseno (1933). Als Standardwerk zu den Briefstellern generell und speziell im 17. und 18. Jahrhundert gilt weiterhin die Monographie von Nickisch (1969a), die allerdings auch nicht ganz frei von Wertungen und teleologischen Konzepten bleibt, wenn er etwa bei Karl Philipp Moritz von einer „Vollendung der deutschen Brieflehre“ (1969a, 195) spricht und „das Großartige“ (1969a, 200) von dessen Stillehre betont; Nickischs Arbeit ist auch präsent in kleineren Einzelstudien und kurzen Überblicksdarstellungen (Nickisch 1969b, 1971, 1972, 1990, 1991, 1994, 1997, 1999). Zum 17. Jahrhundert siehe auch Erwentraut (1999). Die Forschung zeigte besonderes Interesse an Untersuchungen zu Christian F. Gellerts Einfluss auf die Briefsteller, wobei seine Publikation aus dem Jahre 1751 oftmals als „das Datum ante und post“ im Genre der Briefsteller betrachtet wurde, so Brüggemann (1968, 14) in seiner Briefstelleranthologie. Zu

284 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

erwähnen sind hier die Arbeiten von Eiermann (1912), Brüggemann (1971), ArtoHaumacher (1995), Jung (1995), Kaiser (1996), Klenk (1997) und Reinlein (2003). In den letzten Jahrzehnten wurden schließlich größere Forschungslücken geschlossen; so in der breit angelegten Arbeit von Ettl (1984), die jüngere Briefsteller zwischen 1880 und 1980 untersucht. Furger (2010) analysiert das Medium Brief sowie Briefsteller im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Antes (2016) widmet sich in einer Bibliographie den vergessenen Briefstellern des 19. Jahrhunderts, wobei sie – was natürlich auch der unübersehbaren Menge an Briefstellern geschuldet ist – ebenfalls einige Publikationen übersieht, wie der Rezensent Schreiber (2016) anmerkt, der einige weitere Werke nennt. Zu englischsprachigen Briefstellern siehe  – jeweils mit Literaturangaben zu älteren Werken  – Austin-Jones (2007) und Fens-de Zeeuw (2008); zu französischen und italienischen Briefstellern siehe Große (2003) und Hartmann (2013).

4 Perspektiven Briefsteller reflektieren oftmals die gesellschaftlichen Kontexte ihrer Entstehungszeit. Besonders deutlich wird dies etwa beim Einfluss der französisch-höfischen Gesellschaftsstruktur im 17.  Jahrhundert, die nicht nur auf Kunst und Mode, sondern auch normgebend auf die deutsche Briefkultur einwirkte (vgl. Furger 2010, 173). Korrespondenz wurde zunehmend auf Französisch verfasst und die deutschsprachigen Briefe erhielten ein „französisches Mäntelchen“ (Steinhausen 1891, 23), indem Anreden und Schlussformeln sowie zahlreiche französischsprachige Ausdrücke als à la mode galten und sich Briefsteller an französischen Vorbildern orientierten bzw. diese gleich direkt übersetzt wurden. Übernehmen Briefsteller bestimmte Konventionen älterer Werke, so kann es durchaus zu Anachronismen kommen, was etwa bei den ‚restaurativen‘ Briefstellern nach Gellert beobachtet werden kann. Diese belebten die vor ihm gültigen Regeln wieder und boten dabei Sprachhandlungsanweisungen, die laut Klenk (1997, 137) am „tatsächlichen Kommunikationsbedarf und dem aktuellen Stand der sozialen Beziehungen“ vorbeigingen und damit „nur bedingt die soziale und kommunikative Realität ihrer Zeit“ abbildeten. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass die alleinige Existenz dieser ‚restaurativen‘ Briefsteller gewissermaßen für deren Erfolg spricht und diese in den Kontext einer sich sozial zunehmend verbreiternden Briefpraxis zu stellen sind, von deren Realität Gellert sowie die empfindsame Briefliteratur nur einen Teil abbildeten. Dennoch ist es möglich, anhand von Briefstellern bestimmte gesellschaftliche Praktiken sichtbar zu machen bzw. zu rekonstruieren; dies zeigt beispielsweise

2.8 Briefsteller 

 285

Furger (2010) in ihrer Untersuchung zu Briefstellern als Abbildern von Emotionalität in der Frühen Neuzeit. Nicht nur gesellschaftliche Kontexte, sondern auch andere Textsorten können direkt auf Briefsteller einwirken, was etwa Nickisch anhand des Einflusses von stilbezogenen Dichtungsprinzipien in deutschen Poetiken des 17. und frühen 18. Jahrhunderts auf Briefsteller untersucht. So könne man in dieser Zeit einen „frappierenden Gleichlauf“ (1969a, 233) zwischen brieftheoretischen Stilprinzipien und der normativen Dichtungslehre der Barockzeit feststellen. Dabei wurden etwa die von Martin Opitz verlangten Prinzipien – beispielsweise die Vermeidung von Fremd- und Dialektwörtern – in die Brieftheorie Georg Philipp Harsdörffers übernommen (vgl. Nickisch 1969a, 230). Ende des 18. Jahrhunderts verändern sich allerdings die poetischen Stilprinzipien schneller als die der Brieflehre und werden – wenn überhaupt – nur „merklich bescheidener“ (Nickisch 1969a, 236) von dieser übernommen. Dies illustriert die Auseinanderentwicklung der beiden Textsorten. Inwiefern Briefsteller nun tatsächlich auf Briefe und darüber hinaus auf die allgemeine Sprachverwendung Einfluss hatten, ist schwierig zu beurteilen. Man kann beispielsweise davon ausgehen, dass die genannten französischen Briefsteller Einfluss nahmen auf das Sprachhandeln von Oberschichten und sich dies dann auch auf breitere, nach gesellschaftlicher Anerkennung strebende Bevölkerungsschichten ausbreitete, welche etwa die Anredeformen der Höflichkeit sowie auch anderes Lehngut in ihr sprachliches Repertoire aufnahmen (vgl. von Polenz 2013, 226). Ob auch ‚einfache Schreiber‘ Briefsteller verwendet haben, wird in der Forschung unterschiedlich gesehen. Da im 19.  Jahrhundert kleine und billige Taschenbuchausgaben von Briefstellern auf den Markt kamen, diese in Dutzenden Auflagen erschienen und im Rahmen des Kolportagebuchhandels, also zusammen mit religiösen Schriften, Volksromanen, Rezeptsammlungen etc., von Hausierern vertrieben wurden, gehen Klenk (1997, 106) und Dauphin (1997, 147) davon aus, dass Briefsteller für einfache Leute zugänglich waren und tatsächlich auch verwendet wurden. Die billigeren Ausgaben waren stark gekürzt, lieferten weniger Musterbriefe und Theorie, kamen ganz ohne Ausführungen zur Sprachund Literaturgeschichte aus und dienten damit in der Tat, so etwa Carl Reinhardts (1889) Briefsteller bereits im Titel, Geschäfts- und Privatleute[n] der mittleren und niederen Stände (vgl. Ettl 1984, 25). Allerdings gesteht Klenk ein, dass der Briefunterricht in den niederen Schulen kaum den Ansprüchen der Briefsteller entsprach, sondern sich dieser wohl auf „stumpfe[s] Kopieren gegebener Vorlagen“ (Klenk 1997, 135) beschränkte und dabei keineswegs stilistisch gelungenes Briefschreiben gelehrt wurde. Von der hohen Auflage eines Briefstellers sollte generell jedoch nicht direkt auf dessen tatsächlichen Gebrauch geschlossen werden. Elspaß (2005, 104) hält zu Recht Klenks Annahme für „unrealistisch“, dass Arbeiter des 19. Jahrhunderts nur über Briefsteller Zugang zu Briefmustern hatten; viel

286 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

eher werden ‚einfache Leute‘ alte Briefe verschiedenster Art als Vorlagen genutzt haben, was auch für den damaligen Schreibunterricht erwiesen ist (Elspaß 2005, 195; vgl. Messerli 2000). Aus der Analyse eines Textkorpus von ca. 650 Briefen wurde ersichtlich, dass Stilvorschriften wie die Vermeidung von Routineformeln „in den Briefen einfacher Leute nicht umgesetzt“ (Elspaß 2005, 196) sind und dass Briefsteller wohl nur wenig Einfluss auf die alltagssprachliche Schriftlichkeit hatten. Dies bestätigt sich in Sokolls (2001) Edition von englischen Bittbriefen (‚pauper letters‘), bei denen kein einziger von einem Armen selbst verfasster Brief den Modellen der Briefsteller folgt (vgl. Auer 2015, 143). Generell kann die Erforschung von Briefstellern nicht im Vakuum textimmanenter Analysen erfolgen. Einerseits stehen jene nicht isoliert, sondern sind verwoben mit anderen Textsorten wie rhetorischen Traktaten, Urkunden und Schulbüchern (vgl. Große 2003, 143). Diese beeinflussen sich gegenseitig, teilen bestimmte historische Diskursnormen und können damit als ‚Diskurstraditionen‘ betrachtet werden (vgl. Koch 1997). Andererseits hat jeder Briefsteller einen spezifischen ‚Sitz im Leben‘, ist also eingebunden in bestimmte soziokulturelle Kontexte der jeweiligen Entstehungszeit, von denen er Strömungen aufnimmt und auch wieder Impulse abgeben kann. In welchem Grad Letzteres geschieht, kann nur durch empirische Untersuchungen an tatsächlicher Korrespondenz beantwortet werden. Erst solche, über den Einzeltext hinausgreifende Studien können somit zu einer ‚Rekontextualisierung‘ (vgl. Oesterreicher 2008, 147) der historischen, sehr diversen Textsorte ‚Briefsteller‘ führen und dessen Verwendungskontexte und textuelle sowie außertextuelle Beziehungsgeflechte erfassen. Die mittlerweile recht weit vorangeschrittene bibliographische Erfassung der Briefstellerliteratur bietet gute Voraussetzungen hierfür.

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2.8 Briefsteller 

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2.8 Briefsteller 

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290 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

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Stefanie Bredthauer

2.9 Fingierte Briefe und Brieffälschungen: Sprachliche Verstellungen in inkriminierten Briefen 1 Einleitung Sprachliche Verstellungen in inkriminierten Texten wie Erpresser- und Drohbriefen stellen einen signifikanten Teilbereich fingierter Briefe und Brieffälschungen dar, da sich Gutachter*innen im forensischen Kontext häufig mit den daraus resultierenden Sprachprofilen konfrontiert sehen. Mit dem Ziel der Identitätsverschleierung manipulieren die Autor*innen der inkriminierten Briefe ihren Sprachgebrauch oder imitieren den anderer Personen bzw. Personengruppen. Dieser Beitrag fasst Ergebnisse einer Untersuchung zu Merkmalen solcher sprachlicher Verstellungen zusammen, die auf der Grundlage eines Datenkorpus des Bundeskriminalamtes (BKA) durchgeführt wurde.

2 Forensisch-linguistischer Kontext Unter inkriminierten Texten versteht man Texte, die selbst eine Straftat darstellen können, und/oder Texte, die im Kontext einer Straftat relevant sind. Dieser Beitrag bezieht sich auf Texte des ersten Typs, das heißt Erpresserbriefe, Drohund Bekennerschreiben u.  ä. Neben zahlreichen anderen Bemühungen, die von den Autor*innen unternommen werden, damit kein Verdacht auf sie fällt, werden in diesen Briefen auch immer wieder sprachliche Verstellungen von den Autor*innen genutzt, um ihre Identität zu verschleiern. Die Verstellungen erfolgen entweder durch die bloße Verfremdung des eigenen Stils, z.  B. durch vollständige Kleinschreibung, oder durch die Nachahmung des Sprachgebrauchs einer anderen Person/Personengruppe, beispielsweise den eines Kindes oder eines Nicht-Muttersprachlers: „Bei dem im forensischen Kontext stets aktuellen Aspekt der Stilverstellung sind zwei Problemkreise grundsätzlich zu trennen: (1) Die Verstellung im eigentlichen Sinne mit dem Ziel einer Unkenntlichmachung des eigenen Stils und (2) die Verstellung im Sinne einer Fälschung mit dem Ziel, das fragliche Schreiben einer bestimmten Person zuzuweisen.“ (Braun 1989, 162) Die Erforschung dieses Phänomens ist der Forensischen Linguistik zuzuordnen, genauer gesagt dem Bereich der Autorschaftsanalyse. Ziel der Autorschaftshttps://doi.org/10.1515/9783110376531-018

292 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

analyse ist, durch Analyse des Sprachgebrauchs in inkriminierten Texten Aussagen über bestimmte Merkmale des Autors bzw. der Autorin treffen zu können, z.  B. das Alter: „Autorenerkennung ist die linguistische Bewertung fraglicher schriftsprachlicher Texte in forensischen, kriminalistischen oder in sonst einer Form sicherheitsrelevanten Kontexten.“ (Dern 2009, 19) Es werden u.  a. linguistische Gutachten für Gerichte und polizeiliche Ermittlungen erstellt. Bei der Erstellung solcher Gutachten sehen sich die Gutachter*innen immer wieder mit dem Phänomen der sprachlichen Verstellung konfrontiert, so dass es in der forensisch-linguistischen Forschungsliteratur häufig genannt wird. Dennoch war es bisher selten Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen: „In der Literatur finden sich zahlreiche Hinweise auf die Problematik der Verstellung, im Mittelpunkt einer Falldarstellung oder etwa einer empirischen Untersuchung steht sie jedoch selten. Erkenntnisse zu Wesen und Ausprägung der Verstellung schriftsprachlichen Verhaltens […] liegen bisher nicht vor.“ (Dern 2009, 79) Basierend auf dieser Ausgangslage wurde eine Untersuchung durchgeführt und die Ergebnisse im Jahr 2013 unter dem Titel Verstellungen in inkriminierten Schreiben – Eine linguistische Analyse verstellten Sprachverhaltens in Erpresserschreiben und anderen inkriminierten Texten (Bredthauer 2013) veröffentlicht, die sich vor allem mit der Frage beschäftigt, welche Merkmale sprachliche Verstellungen in inkriminierten Texten aufweisen. Das Datenkorpus für diese empirische Untersuchung wurde vom Bundeskriminalamt zur Verfügung gestellt, in die Analyse gingen 70 deutschsprachige inkriminierte Texte ein, die aus den Jahren 1999 bis 2007 stammen. Im Folgenden werden die Ergebnisse dieser Untersuchung zusammengefasst.

3 Merkmale sprachlicher Verstellungen in ­inkriminierten Briefen Der Analyse des Datenkorpus ging die Auswahl für den Untersuchungsgegenstand geeigneter Methoden und Merkmale voraus, da die Autorenerkennung eine noch sehr junge Teildisziplin ist; linguistische Gutachtertätigkeit gibt es im forensischen Bereich erst seit einigen Jahrzehnten und bisher existiert auf diesem Fachgebiet noch keine standardisierte Methode: „Eine standardisierte Methode, wie sie mit Einschränkungen im Bereich der Sprechererkennung gegeben ist, existiert im Bereich der Autorenerkennung nicht.“ (Dern 2003, 51) Die Auswahl erfolgte auf Grundlage der in der forensisch-linguistischen Forschungsliteratur bereits genannten Merkmale, anschließend wurde anhand des Datenkorpus die Eignung für den speziellen Untersuchungsgegenstand geprüft.

2.9 Fingierte Briefe und Brieffälschungen 

 293

Daraus resultierend wurden die inkriminierten Texte anhand der gewählten Merkmale einer Stil- sowie einer Fehleranalyse unterzogen und die Ergebnisse qualitativ und quantitativ ausgewertet. Folgende Merkmale erwiesen sich im Rahmen der Untersuchung als kennzeichnend für das Phänomen der Verstellung (für eine Detailanalyse vgl. Bredthauer 2013): (1) Inhaltsebene: – Inhaltliche Verstellungshinweise: Manche Autoren nutzen die inhaltliche Ebene des Textes, um ihre Verstellungsstrategie zu stützen. Sätze wie „Ich bin der Ulf und 12  Jahre alt“ (Bredthauer 2013, 32) zeigen, welche Person/Personengruppe der bzw. die Autor*in nachahmen möchte. (2) Graphostilistik: – Schriftbild: Die Briefe sind teils maschinenschriftlich, teils handschriftlich verfasst. Bei letzteren wird das Schriftbild oft als Bestandteil der Verstellungsstrategie genutzt, z.  B. wenn der bzw. die Autor*in des Textes „ein Hilfsmittel, etwa ein Lineal, zum Ziehen der Buchstabenstriche verwendet“ (Bredthauer 2013, 36). – Textmenge: Die Textlänge variiert sehr stark, der kürzeste Brief besteht aus unter zehn Wörtern, der längste aus über 2.000 Wörtern. Anhand von Daten zur Textmenge aus einem Vergleichskorpus mit verstellten und unverstellten Texten, die vom BKA zur Verfügung gestellt wurden, wurde ermittelt, dass verstellte inkriminierte Briefe im Durchschnitt kürzer sind als inkriminierte Briefe ohne Verstellung des Sprachgebrauchs. – Textaufbau: Es sind unterschiedliche Zusammensetzungen von Textteilen vorhanden. Einige Briefe bestehen z.  B. nur aus einem Textteil und enthalten keine Anrede, Grußformel etc. Andere Texte sind hingegen als Geschäftsbriefe aufgemacht und enthalten dann u.  a. auch eine Betreffzeile. Je nach Verstellungsstrategie variieren die Textkompositionen demnach stark. Bei Verstellungen als Nicht-Muttersprachler*in des Deutschen wurden z.  B. teilweise ausländisch klingende Namen als Unterzeichnende verwendet, in anderen Briefen hingegen wurde auf eine Unterzeichnung zwecks Anonymisierung verzichtet. – Groß-/Kleinschreibung: Die Groß-/Kleinschreibung wird oft als Stilmerkmal genutzt, z.  B. indem ausschließlich Großbuchstaben verwendet werden. Die Autor*innen können sich hierfür u.  a. entscheiden, weil sie Fehler vermeiden bzw. den eigenen Stil unkenntlich machen möchten. – Interpunktion: Auch für die Untersuchung der Interpunktion ist oftmals die Stilanalyse besser geeignet als die Fehleranalyse, z.  B. wenn Texte keinerlei Zeichensetzung aufweisen. Auch hier werden die Autor*innen

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

vermutlich das Ziel verfolgen, ihren eigenen Stil unkenntlich zu machen oder aber Inkompetenz in diesem Bereich vorzutäuschen. (3) Lexik: – Fachvokabular: Einige Briefe enthalten Fachvokabular, dieses steht immer im Zusammenhang mit Vergiftungen und/oder Verletzungen, so dass den Drohungen damit Nachdruck verliehen werden soll. – Register: In den Briefen werden unterschiedliche Register genutzt, in vielen Fällen schwankt das Register innerhalb eines Textes sogar von sehr informell bis hin zu deutlich formell. Dies spricht für eine Nutzung des Registers im Rahmen der Verstellungsstrategien. – Lexikalische Komplexität: Die lexikalische Komplexität in den Briefen zeigt ähnliche Züge wie das Register, oft ist sie sehr unterschiedlich ausgeprägt, z.  B. von vereinfachten Formen wie ‚Krieg machen‘ bis hin zu einer anspruchsvollen Lexik mit großem Wortschatzspektrum. Dies legt auch eine rege Nutzung dieses Merkmals zur Verstellung des Sprachgebrauchs nahe. (4) Fehlerprofil: – Fehlermenge: Fehlermenge bzw. Fehlerquotient nehmen in den Briefen sehr unterschiedliche Werte an. In manchen Texten werden sie als Verstellungsmerkmal verwendet, manche Autor*innen nutzen hingegen ausschließlich Stilmerkmale bei ihrer Verstellungsstrategie. – Fehlertypen: Die Abweichungen in den Briefen decken verschiedene sprachliche Ebenen ab und sind unterschiedlichsten Fehlertypen zuzuordnen. Einige der gefundenen Fehlertypen kommen in einem Großteil der Texte vor. Der bewusste Einsatz von Fehlern erfolgt sowohl zur Nachahmung des Sprachgebrauchs bestimmter Personengruppen, z.  B. von Personen mit einem niedrigen Bildungsniveau, als auch zur Entstellung des eigenen Sprachgebrauchs. – Konstanz der Fehlerhaftigkeit: Nahezu alle Briefe weisen Veränderungen der Fehlerhaftigkeit im Verlauf auf, die Veränderungen sind den drei Bereichen Fehlermenge, Fehlertypenmenge und Fehlerart zuzuordnen. Hinzu kommt, dass vielen Fehlern korrekte Realisierungen innerhalb desselben Textes gegenüberstehen. Die Untersuchung zeigte, dass sprachliche Verstellungen aufgrund vielfältiger Merkmals- und Ausprägungskombinationen sehr unterschiedlich aussehen, ein Charakteristikum jedoch gemein haben: Die Sprachprofile sind durch Inkon­ sistenz gekennzeichnet und werden dadurch unplausibel (vgl. Bredthauer 2013, 113). Diese Inkonsistenz kann in zweierlei Hinsicht bestehen: (1) Inkonstanz der Ausprägungen eines einzelnen Merkmals:

2.9 Fingierte Briefe und Brieffälschungen 

 295



Ein einzelnes Merkmal weist im Verlauf des gesamten Textes unterschiedliche Ausprägungen auf. Beispiele: (a) Ein Brief enthält zu Beginn sehr viele Fehler, zum Ende hin sind kaum noch Fehler zu finden, die Fehlerhaftigkeit nimmt demnach im Verlauf des Textes drastisch ab. (b) Im Verlauf des Briefs wird die gesamte Registerspanne von informell bis formell abgedeckt. Dies ist z.  B. der Fall, wenn ein Text als Geschäftsbrief aufgemacht und deshalb formell geschrieben ist, punktuell jedoch immer wieder sehr informelle Ausdrücke auftauchen. (2) Inkonsistente Kombination der Ausprägungen verschiedener Merkmale: Die Ausprägungen zweier unterschiedlicher Merkmale passen nicht zueinander. Beispiele: (a) Ein Brief beinhaltet einen inhaltlichen Verstellungshinweis auf ein Kind, das Fehlerprofil im Text ähnelt jedoch dem eines erwachsenen NichtMuttersprachlers des Deutschen und nicht dem eines Kindes. (b) In einem Brief wird Fachvokabular verwendet, um die Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe mit hohem Bildungsniveau vorzutäuschen. Lexikalische Komplexität und Fehlerprofil lassen jedoch auf ein niedriges Bildungsniveau des Autors bzw. der Autorin schließen.

4 Beispiele verstellter Sprachprofile Es werden nun zwei Beispiele aus dem analysierten Datenkorpus angeführt, um die Ausprägungen der Inkonsistenz zu veranschaulichen. Da in vielen Briefen des Datenkorpus eine Verstellung als Nicht-Muttersprachler des Deutschen versucht wird, wurden hierfür Beispiele aus solchen Texten gewählt.

Abb. 1: Beispiel 1 (aus Bredthauer 2013, 105)

Der Autor dieses Briefes gibt vor, nur über schlechte Deutschkenntnisse zu verfügen. Außerdem berichtet er von seinen Freunden, die noch schlechter Deutsch sprächen als er sowie Deutschland bereits verlassen hätten. Es handelt sich

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

demnach um eine Verstellung als Nicht-Muttersprachler des Deutschen. Der Text enthält jedoch nur punktuelle Fehler, denen meist auch korrekte Entsprechungen gegenüberstehen – beispielsweise das „sc“ in „SCREIBEN“, neben dem viele andere normgerechte Realisierungen des „sch“ auftreten (z.  B. „SCHREIBE“, „SCHLECHT“). Darüber hinaus sind zahlreiche Eigenheiten des Deutschen korrekt umgesetzt, z.  B. Dehnungsgrapheme wie in „MEHR“ und „DIESE“. Insgesamt ist das Sprachprofil deshalb inkonsistent und passt nicht zu der vorgegebenen Identität eines Nicht-Muttersprachlers des Deutschen.

Abb. 2: Beispiel 2 (aus Bredthauer 2013, 97)

Dieser Brief weist zahlreiche Auslassungen von Determinativen auf, so z.  B. bei „vor Bank“ und „mit Taxi“. Der Satzbau ist hingegen normgerecht, wie z.  B. „Sie brauchen uns nicht suchen“ zeigt. Auch die lexikalische und die orthographische Ebene enthalten kaum Fehler: Ausdrücke wie „in linke Hand geschnitten“ und „wegen Geheimzahl“ sind nur aufgrund der Determinativauslassungen fehlerhaft, obwohl sie z.  B. orthographisch potentielle Fehlerquellen wie die Auslautverhärtung bei „Hand“ oder Dehnungsgrapheme wie bei „Geheimzahl“ beinhalten. Dadurch entsteht zum einen ein Missverhältnis zwischen sprachlichen Ebenen, die Fehler aufweisen (hier die Syntax), und solchen, die weitgehend abweichungsfrei sind (hier z.  B. die Lexik). Zum anderen liefert auch die syntaktische Ebene in sich kein einheitliches Bild, indem die Abweichungen bei der Determinativverwendung einem normgerechten Satzbau gegenüberstehen. Auch dieses Sprachprofil ist somit inkonsistent und unplausibel.

2.9 Fingierte Briefe und Brieffälschungen 

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5 Ursachenhypothesen zur Inkonsistenz der Verstellungen Es stellt sich die Frage, wieso eine konsistente Verstellung des Sprachgebrauchs eine anscheinend so große Herausforderung darstellt. Erklärt werden kann dies durch die Automatisiertheit von Sprachproduktion. Denn beim Schreiben/Sprechen handelt es sich um eine routinierte Tätigkeit, so dass Teilprozesse unbewusst ablaufen und deshalb für die Verstellung nicht (vollständig) zugänglich sind. Dadurch bedingt kann der Sprachgebrauch von den Autor*innen oftmals nur sehr vordergründig verändert werden und es entstehen inkonsistente Sprachprofile. Nun besteht beim Schreiben von Texten die Möglichkeit, den Sprachgebrauch auch nachträglich noch zu verändern, aber auch das erscheint aufgrund der Automatisiertheit und des mangelnden metalinguistischen Bewusstseins problematisch – wenn auch nicht unmöglich: „Therefore, until more is known about metalinguistic awareness in adults, the theoretical position should be taken that linguistic disguise is possible depending on the author’s particular level of metalinguistic awareness.“ (Chaski 1997, 19) Hinzu kommt die Tatsache, dass das Verstellen des Sprachgebrauchs viel Zeit und Mühe erfordert. Die Autor*innen müssen demnach eine große Konzentration aufbringen und diese kann nicht mit gleichbleibender Intensität aufrechterhalten werden, so dass die Autor*innen teilweise in ihre jeweiligen Sprachgewohnheiten zurückfallen. Auch hier sind das Ergebnis inkonsistente Sprachprofile (vgl. Bredthauer 2013, 114). Die Sprachgewohnheiten jedes*r einzelnen Autors*in sind durch den jeweils eigenen Stil geformt, dieser wird z.  B. durch seine Herkunftsregion und sein Alter geprägt. Zwar gibt es keinen ‚linguistischen Fingerabdruck‘, u.  a. da Sprache nicht wie DNA angeboren ist, sondern erworben wird und sich das ganze Leben lang verändert. Dennoch ist Sprache „ein derart inhärenter Teil unseres Verhaltens und unserer Biografie, dass sie sehr wohl etwas über den Einzelnen aussagen kann“ (Baldauf 2002, 324) – es wird deshalb auch von ‚Ideolekt‘ gesprochen: The idiolect has been referred to as a personal dialect. No two individuals use and perceive language exactly the same way, so there will always be at least small differences in the grammar each person has internalized to speak, write, and respond to other speakers and writers. The idiolect is the individual´s unconscious and unique combination of linguistic knowledge, cognitive associations, and extra-linguistic influences. (McMenamin 2002, 52)

298 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

6 Fazit Resümierend lässt sich sagen, dass die Wahl der Merkmale, die zur Verstellung genutzt werden, sowie welche Ausprägungen der einzelnen Merkmale gewählt werden, so vielfältig ist, dass keine einzelnen Merkmale bzw. Ausprägungen benannt werden können, die das Vorliegen einer sprachlichen Verstellung nahelegen. Verstellungsstrategien scheinen eher intuitiv als sorgfältig geplant zu entstehen, so dass die Wahl der Merkmale oftmals sehr willkürlich erfolgt und diese unterschiedlich ausgeprägt sind. Es scheint jedoch so gut wie unmöglich zu sein, eine konsistente sprachliche Verstellung zu bewerkstelligen, so dass die Inkonsistenz des Sprachgebrauchs in einem inkriminierten Brief als guter Indikator für das Vorliegen einer Verstellung angesehen werden kann (vgl. Bredthauer 2013, 114). Die Untersuchung, aus der in diesem Beitrag Ergebnisse referiert wurden, konnte einen Überblick über einige Merkmale sprachlicher Verstellungen in inkriminierten Texten liefern. Sowohl das Phänomen der sprachlichen Verstellung im Speziellen als auch Brieffälschungen und fingierte Briefe generell bieten jedoch weiterhin viele Forschungsdesiderata, deren Untersuchung u.  a. für die forensisch-linguistische Gutachtertätigkeit sehr hilfreich wäre.

Zitierte Literatur Baldauf, Christa (2002). „Autorenerkennung im BKA – Linguistik unter Zugzwang?“, in: Sprache und Recht. Hg. v. Ulrike Haß-Zumkehr. Berlin: 321–329. Bickes, Hans u. Marijana Kresic (2000). „Fehler, Text und Autor. Zur Identifizierung von Merkmalen der Ausgangssprache bei nicht-muttersprachlichen Schreibern“, in: 2. Symposion Autorenerkennung. Tagungsband des Bundeskriminalamts. Hg. v. Christa Baldauf. Wiesbaden: 110–132. Braun, Angelika (1989): „Linguistische Analysen im forensischen Bereich – zu den Möglichkeiten einer Texturheberschaftsuntersuchung“, in: Symposium: Forensischer linguistischer Textvergleich. Referate und Zusammenfassungen der Diskussionsbeiträge am 8. und 9.12.1988 im Bundeskriminalamt. Hg. v. Bundeskriminalamt. Wiesbaden: 143–166. Bredthauer, Stefanie (2013). Verstellungen in inkriminierten Schreiben – Eine linguistische Analyse verstellten Sprachverhaltens in Erpresserschreiben und anderen inkriminierten Texten. Köln. Busch, Albert u. Susanne Catharina Heitz (2006). „Wissenstransfer und Verstellung in Erpresser­schreiben: Zur Analyse von Verstellungsstrategien auf korpuslinguistischer Basis“, in: Wissenstransfer – Erfolgskontrolle und Rückmeldungen aus der Praxis. Hg. v. Sigurd Wichter u. Albert Busch. Frankfurt a. M.: 83–100. Chaski, Carole E. (1997). „Steps Toward a Science of Authorship Identification“, in: National Institute of Justice Journal, 9: 15–22.

2.9 Fingierte Briefe und Brieffälschungen 

 299

Dern, Christa (2003). „Sprachwissenschaft und Kriminalistik: Zur Praxis der Autorenerkennung“, in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik, 31.1: 44–77. Dern, Christa (2006). „Bewertung inkriminierter Schreiben: Zum Problem der Verwischung von Spuren durch Verstellung“, in: Kriminalistik, 5: 323–327. Dern, Christa (2008). „‚Wenn zahle nix dann geht dir schlecht‘: ein Experiment zu sprachlichen Verstellungsstrategien in Erpresserbriefen“, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik, 36.2: 240–265. Dern, Christa (2009). Autorenerkennung. Theorie und Praxis der linguistischen Tatschreibenanalyse. Stuttgart. Ehrhardt, Sabine (2007). „Disguise in Incriminating Texts: Theoretical Possibilities and Authentic Cases“. Vortrag auf der 8th Biennial Conference of the International Association of Forensic Linguistics. Seattle. Fobbe, Eilika (2006). „Foreigner Talk als Strategie. Überlegungen zu Fehlergenese in Erpresserschreiben“, in: Wissenstransfer – Erfolgskontrolle und Rückmeldungen aus der Praxis. Hg. v. Sigurd Wichter u. Albert Busch. Frankfurt a. M.: 149–165. Grewendorf, Günther (2000). „Gibt es syntaktische Spuren?“, in: 2. Symposion Autorenerkennung des Bundeskriminalamtes. Hg. v. Christa Baldauf. Wiesbaden: 83–96. Heitz, Susanne Catharina (2002). Methoden der Verstellung bei der Produktion von Erpressungsschreiben. Magisterarbeit Universität Mainz. Kniffka, Hannes (2000). „Stand und Aufgaben der ‚forensischen Linguistik‘“, in: Linguistica giuridica italiana e tedesca/Rechtslinguistik des Deutschen und Italienischen. Hg. v. Daniela Veronesi. Padova: 29–46. McMenamin, Gerald (2002). Forensic Linguistics. Advances in Forensic Stylistics. Boca Raton (FL). Olsson, John (2004). Forensic Linguistics. An Introduction to Language, Crime, and the Law. London. Schall, Sabine (2004). „Forensische Linguistik“, in: Angewandte Linguistik. Hg. v. Karlfried Knapp et al. Tübingen u. Basel: 544–562. Shuy, Roger W. (2007). „Language in the American Courtroom“, in: Language and Linguistics Compass, 1.1–2: 100–114. Spillner, Bernd (1990). „Status und Erklärungspotential sprachlicher Fehler“, in: Texte zu Theorie und Praxis forensischer Linguistik. Hg. v. Hannes Kniffka. Tübingen: 97–112. Steinke, Wolfgang (1990). „Die linguistische Textanalyse aus kriminalistischer Sicht“, in: Texte zu Theorie und Praxis forensischer Linguistik. Hg. v. Hannes Kniffka. Tübingen: 321–338.

Jochen Strobel

2.10 Narratologie des Briefs 1 Heuristik brieflichen Erzählens In einem 1909 an Max Brod abgesandten Brief liefert Franz Kafka den Plan einer gemeinsamen Reise als Zukunftserzählung; aus der Sicht der Schreibergegenwart handelt es sich um eine Prolepse: „[…] von 2–½4 gehen wir durch den Wald zu den Stromschnellen auf denen wir herumfahren werden.“ (Kafka 1999, 103) In ein durch eine Umrandungslinie vom Rest der Seite abgetrenntes Segment zeichnet er eine verbogene Schreibfeder und ergänzt: „[D]as ist eine Feder von Sönnecken; die gehört nicht zur Geschichte.“ (Kafka 1999, 103) Dieser Kommentar verweist auf eine wohl schwierige Schreibszene (vgl. Fellner 2010, 147) vor dem Hintergrund einer vermeintlichen Banalität: der fast ausschließlichen Dominanz des Narrativen im ‚eigentlichen‘ Brieftext, dessen Voraussetzung und Gefährdungsmoment das Schreiben und die damit verbundenen Techniken sind. Eine Pragmatik des Briefs hat neben kommunikativen Aspekten wie Bitte, Dank, Aufforderung oder Rechtfertigung auch das Erzählen zu berücksichtigen (vgl. Ehlich 2014, 31), das in der Sprache des Alltags immer wieder eine Rolle spielt. Ebenso hat sich die Literaturwissenschaft mit Formen des Erzählens im Brief und mittels Briefen zu befassen, und zwar faktualen wie fiktionalen Erzählens. Erzählanlass kann die Situation der Briefkommunikation selbst sein, wie es in Kafkas berühmtem ‚Gespensterbrief‘ an Milena Jesenská der Fall ist. Er bedient sich iterativen Erzählens, wenn er den regulären postalischen Weg, den (Liebes-)Briefe zurücklegen, wie folgt umschreibt: „Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken.“ (Kafka 122002, 302) Vielerlei postalische Narrative sind denkbar: In Kafkas Romanfragment Das Schloss etwa, aber auch in Texten wie Der Jäger Gracchus oder Eine kaiserliche Botschaft, wird das Zusammenspiel von Bote, Botschaft und Brief zum Erzählanlass. Diese besonderen Formen und Objekte der Kommunikation sind hier eingebettet in ein fiktionales Erzählkontinuum als in der Textwelt typische und zugleich prekäre Art und Weise des Handelns und des Übermittelns von Zeichen. Der Brief ist keine Erzählform, aber er kann in vielfältiger Weise am Erzählen teilhaben oder erzählende Texte und Textpassagen enthalten wie auch umgekehrt in fiktionalen oder faktualen erzählenden oder auch nur partiell erzählenden Texten enthalten sein. Die Offenheit der Form und die vielfältige Fungibilität in eigentlichem und in uneigentlichem Gebrauch (vgl. Nickisch 1990, 19–22) erleichtern dies. Geschichte und Praxis des Briefs geben zu erkennen, inwiefern Form, Pragmatik wie auch Konventionen des Briefs bestimmte Ausprägungen des https://doi.org/10.1515/9783110376531-019

2.10 Narratologie des Briefs 

 301

Narrativen begünstigt haben. Da zugleich Briefe nicht vorwiegend und selbstverständlich Formen und Medien des Erzählens sind, inkorporieren sie dieses oft nicht einfach bruchlos, sondern müssen es thematisieren, begründen, kontextualisieren, reflektieren. Sie bieten oder bilden keine – bis auf das im 18. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichende literarische Genre des Briefromans – ‚Reinformen‘ des Erzählens, sondern sind auch hinsichtlich des Erzählens Orte des Hybriden. Das macht es immer schon und besonders in der nach ‚Werkausgaben‘ verlangenden Moderne schwierig, sie vom ‚eigentlichen‘ künstlerischen oder auch amtlichen ‚Werk‘ zu trennen, wie man an so gegensätzlichen Briefschreibern wie Bismarck oder Kafka zeigen kann. Private Briefe, amtliche Depeschen, Denkschriften, Anordnungen, Aktennotizen beim einen, amtliche und private Schreiben, Tagebuch, Fiktionales beim anderen – zu der alltäglich zu bewältigenden Schreibtätigkeit gehören Briefe, die mit dem Erzählen eine ebenso alltägliche (und in der oralen Kommunikation omnipräsente) Praxis zwanglos aufrufen. Seit der Antike fließen in persönliche Briefe Erzählungen des vom Schreiber Erlebten ein. Zu den bekanntesten antiken Briefen zählt Pliniusʼ des Jüngeren Bericht vom Ausbruch des Vesuv im Jahr 79 n. Chr., der, wie im Brief nicht anders zu erwarten, in der Ich-Form, doch nicht auto-, sondern heterodiegetisch und mit externer Fokalisierung auf den bei dem Vulkanausbruch getöteten Onkel Plinius d. Ä. erzählt wird. Es gelingt auf diese Weise Unmittelbarkeit des Erlebens zu simulieren, obgleich man ahnen kann, dass der Schreiber seine Informationen von Überlebenden der Katastrophe erhalten hat: „Schon fiel Asche auf die Schiffe, immer heißer und dichter, je näher sie herankamen, bald auch Bimsstein und schwarze, halbverkohlte, vom Feuer geborstene Steine, schon trat das Meer plötzlich zurück, und das Ufer wurde durch Felsbrocken vom Berge her unpassierbar.“ (Plinius 82014, VI, 16 u. 329) Neben das Alltägliche tritt das Einmalige, das katastrophisch oder auch als Erfahrungszuwachs Erlebte, das im privaten Rahmen mitgeteilt wird. Wie könnte man also die spezifischen Möglichkeiten des Briefs hinsichtlich des Erzählens charakterisieren? Briefe können kontextlos (da Schreiber*in und Adressat*in mehr Vorwissen teilen als im Brief angedeutet) und damit voraussetzungsreich erzählen, folglich sowohl anekdotenhaft verkürzend als auch anspielungsreich. Mikrostrukturen können genügen, aber auch sich über viele Seiten dehnende Erzählpassagen sind denkbar. Narrative und nichtnarrative Passagen können unvermittelt wechseln, sie können miteinander verflochten werden. Alltagsbriefe als Ego-Dokumente sind, vergleichbar dem allerdings als kumuliertes Ganzes stärker konturierten Tagebuch, mögliche Orte des Self-writing à la longue und in spontaner Einzelaktion, sprich: in der Summe vieler Briefe und mittels intertextueller Verweise von Brief auf Brief (monologisch und dialogisch), sei es an eine*n oder an viele Adressat*innen, oder in Gestalt des einzelnen Briefs.

302 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Erzählende Briefe oder Briefpassagen dürften sich insbesondere im ‚Privatbrief‘ finden, den Peter Bürgel bereits 1976 als heuristisches Konzept einführte, das sich über Person-to-person-Kommunikation, Fortsetzbarkeit sowie als Spiegelung oder Essenz einer sozialen Beziehung zwischen den Korrespondenzpartner*innen definiert. Im Hinblick auf diese Beziehung ist der Einzelbrief Träger „pragmatischer Intentionalität“ (Bürgel 1976, 289), reagiert auf Handlungen, löst solche aus und ist selbst Substrat einer Handlung (der Übermittlung einer ‚Gabe‘ etwa). Eine der Funktionen eines solchen Privat- oder Alltagsbriefs ist „SelbstÄußerung“ (Nickisch 1990, 13). Zu den Registern des Über-sich-selbst-Redens zählt ganz sicher das (im weitesten Sinne autobiographische) Erzählen, das als menschliche Universalie nicht nur, aber auch überall dort präsent ist, wo Selbstäußerung oder Self-writing geschieht. Nicht vorwiegend einen ästhetisierenden Effekt wird man dem Erzählen im Alltagsbrief zuschreiben, der etwa vom Schreiber auf den Adressaten überspränge, sondern anthropologisch kaum variante Gewinne für die an der Briefkommunikation Beteiligten, also die Simulation der Überwindung räumlicher Distanz sowie Begründung und Sequenzierung einer beherrschbaren Ordnung der Zeit. Welcher Begriff des Erzählens käme hier zupass? Bereits ein enger Begriff, wie ihn Matías Martínez und Michael Scheffel favorisieren, indem sie noch ‚faktuales‘ und ‚fiktionales‘ Erzählen, alltägliche und dichterische Rede unterscheiden, wäre tauglich, nämlich Erzählung als „Rede der Vergegenwärtigung eines vorausliegenden Vorgangs“ (Martinez und Scheffel 32002, 9; vgl. 10). ‚Vergegenwärtigung‘ ist gleich in mehrfacher Hinsicht Aufgabe und Leistung des Briefs, umso mehr, wenn er gleich mehrere Zeitebenen umspannen und in Beziehung zueinander bringen muss: also etwa den Zeitpunkt eines zu referierenden, zu erzählenden Vorgangs, der vor dem Schreibvorgang stattgefunden hat, die Zeit des Schreibens sowie die des Lesens durch den Adressaten. Silke Lahn und Jan-Christoph Meister öffnen ihre Definition, wenn sie den Akt des Erzählens und „Formen verknüpfenden Berichtens über […] Geschehen und menschliches Handeln“ ansprechen (vgl. Lahn und Meister 2008, 88). Hier knüpft Jochen Golz’ Definition des Briefs an, den er als Sprachhandlungsmuster und als soziales Phänomen charakterisiert (vgl. Golz 31997, 254). Ein inklusiverer, kognitionswissenschaftlich inspirierter Begriff des Erzählens ist allerdings noch geeigneter. Der Plot-bezogene engere Begriff erweitert sich auf plausible Weise, wenn er auf ‚Bewusstsein‘ und ‚Bewusstseinsdarstellung‘ beharrt. Alles, was erst durch Bewusstseinsprozesse entsteht, ist grundlegend fiktional (vgl. Fludernik 42013, 73). Entsprechend betont Fludernik, dass die Erzählung eine „Darstellung“ sei von Figuren, die „(zumeist) zielgerichtete Handlungen ausführen (Handlungs- und Plotstruktur)“ (Fludernik 42013, 15). Zwar steht immer noch die Repräsentation eines Ereignisses im Blickpunkt, doch

2.10 Narratologie des Briefs 

 303

rückt das Bewusstsein (eines Erzählenden und eines Erzählten) in den Vordergrund. Der Erzähltheoretiker David Herman hatte mit Blick auf Bewusstseinsdarstellung die Dichotomie von faktualem und fiktionalem Erzählen einzuebnen versucht. Innensicht des Figurenbewusstseins ist keine exklusive Leistung der fiktionalen Literatur, Menschen besitzen normalerweise das Vermögen, mittels Worten, Mimik, Gestik und Kontextualisierungen Innensicht in fremdes Bewusstsein mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erfahren (vgl. Schmid 2018, 204–205). Das Briefeschreiben als dialogische und auf alltägliche Pragmatik bezogene Praxis der Bewusstseinsdarstellung bietet einen freilich auf die Schrift begrenzten Zugang vor allem (aber nicht nur) zum Bewusstsein des Schreibers bzw. der Schreiberin, der bzw. die als erzählendes und als erzähltes Ich im Brief aufzutreten vermag. Eine weitere Überlegung, die aus literaturwissenschaftlicher Enge herausführt, betrifft die in die gesellschaftliche Praxis hineinwirkende Verdoppelung der wirklichen Welt durch die Alltagspraxis des Erzählens, das also keineswegs nur oder vorwiegend exklusive Kunstübung ist (vgl. Koschorke 22012, 25). In jedem Fall sind Briefe als Vermittler von Wirklichkeitserzählungen auszumachen. Sie konstruieren zwar eine neue Wirklichkeit, beziehen sich aber zugleich auf eine intersubjektiv gegebene, vorgängige Wirklichkeit (vgl. Klein und Martinez 2009, 1), die beide Briefpartner teilen und die nun mit dem ‚Neuen‘, das der Schreiber an den Adressaten weiterreichen möchte, eine zusätzliche, vielleicht irritierende Nuance bekommt. Ein Fiktionspakt wird zwischen Schreiber*in und Adressat*in nicht geschlossen, eher schon ein ‚autobiographischer Pakt‘, wie Philippe Lejeune ihn definiert hat. Briefschreiber*innen beteuern in der Regel nicht, ihr Leben wahrheitsgemäß zu erzählen, doch gehen wir als Leser*innen zunächst aus von einer „formale[n] Identität von Autor, Erzähler und Hauptfigur“ (Martinez und Scheffel 32002, 83), innerhalb einer Reihe von Briefen: ein und desselben Ichs. Vielmehr bilden mikrologische wie makrologische narrative (autobiographische) Passagen in Briefen geradezu eine Herausforderung zu verklären, zu verkürzen, auszuschmücken oder auch unvermittelt zu fingieren. Gleichwohl sind sich die Narratolog*innen einig über die pragmatische Funktion des Alltagserzählens, die das Biographische einschließt (vgl. Lahn und Meister 2008, 9) und im Brief eine Selbstvergewisserung des Subjekts mit der an den Adressaten gerichteten Anregung einer gemeinsamen Normierung von Kultur und Weltbild zu verbinden weiß. Der Selbstentwurf des erzählenden Subjekts ist in narrativen Formaten der Psychotherapie angezielt; dass in solchen Therapieformen auch das Schreiben fingierter Briefe zum Einsatz gelangt, bestätigt die Nähe von autobiographisch-faktualem Erzählen und der Kommunikationsform Brief (vgl. Scheidt und Stuckenbrock 2018, 529, 538). Die Autobiographieforschung hat darauf hingewiesen, dass der Brief vor allem zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert ein wichtiges Genre autobio-

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

graphischen Selbstausdrucks gewesen sei. Diese These schließt ein, dass der Brief nicht als Einzeltext oder Einzelobjekt betrachtet wird, sondern das Briefeschreiben als oft längerfristiges Projekt gilt (vgl. Enenkel 2019, 565–566). Plinius d. J. kann gemäß gegenwärtigem Forschungsstand als Erfinder der brieflichen Autobiographie gelten, hat er doch eine Sammlung eigener Briefe an ein Publikum gerichtet; die Mehrheit dieser Texte „clearly reflect a literary and autobiographical ambition“ (Enenkel 2019, 567). Geschehensillusion und Erzählillusion triggern Kognitionsprozesse, besonders Erzählillusionen befördern Immersion und generell ‚Naturalisierung‘ (Jonathan Culler). Auch der Brief als Form, seine persönliche und zugleich amtliche Anmutung, befördert eine Rezeptionshaltung, die von seiner Künstlichkeit und Gemachtheit eher ablenkt. Naturalisierung heißt aber wiederum: Der jeweilige Adressat unterstellt bei der Lektüre, dass dem Brief ein Bewusstsein zugrunde liegt. Brief und Erzählen legitimieren sich unter diesen Auspizien gegenseitig. Das Erzählen unterstützt Naturalisierungsstrategien, die dem Brief ohnehin obliegen, er wirkt noch ‚natürlicher‘. Die Kommunikationsform Brief ist umgekehrt für das Erzählen ein geeigneter Ort, da er sich Speicher- und Übertragungsbedürfnissen der beteiligten Personen problemlos anschmiegt. So ist er für Reisen über viele Jahrhunderte das passende Erzählmedium, verträgt er doch Mikronarrative wie auch ausführliche, mit Ich-Modellierung einhergehende Reiseberichte. Das im Brief Erzählte als schriftlich – als Text – Vorliegendes wirkt glaubhaft.

2 Brief und Erzähltext Die Affinität von Brief und literarischem Erzählen belegt zunächst die reiche Tradition der Briefeinlagen, also die kompositorisch begründete Integration so bezeichneter ‚Briefe‘ in das Kontinuum fiktionaler Erzählerrede. Es handelt sich dabei in der Regel um intradiegetisches Erzählen: Die Erzählinstanz muss zunächst erklären, dass und warum ein Wechsel der Erzählstimme eintritt. Mit Beginn des Briefs setzt dann die Rede einer neuen Sprechinstanz ein, die des Brief-Ichs. Der Brief als Text in toto wird zitiert, als Gegenstand kann er durch den extradiegetischen Erzähler plausibilisierend ‚eingeführt‘ werden. Narrativ ausgestaltet ist einerseits diese Rahmung, andererseits sind es erzählende Passagen im Brief selbst, die die Handlung des Erzähltexts insgesamt vorantreiben, der Figurencharakteristik dienen, etwa neue Figuren einführen und vorstellen und eine Perspektivierung vornehmen, insofern Brief-Ich und Erzählinstanz der rahmenden Erzählung dasselbe Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven (und mit unterschiedlichem Wissens- und Deutungsanspruch) berichten können.

2.10 Narratologie des Briefs 

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Fiktion in Briefen gibt es seit der Antike, Ovids Heroides gelten als modellbildend. Die Renaissance kannte mehrere Typen fiktionalen Erzählens, die sich des Briefs bedienten (vgl. Fludernik 2008, 277). Briefeinlagen kennen bereits die polyhistorischen Romane des Barock (vgl. Nickisch 1990, 43). Der komplexe polyperspektivische Briefroman des 18.  Jahrhunderts wird hier also prinzipiell vorbereitet. Dabei besteht allerdings der Reiz des letzteren darin, dass die Hierarchisierung von ranghöherem extradiegetischen und untergeordnetem intradiegetischen Erzählen in einer modern anmutenden je autodiegetischen, in ihrem Wissen begrenzten und auf Introspektion hinweisenden Stimmenvielfalt aufgehoben ist. Gottfried Honnefelder unterscheidet in seiner Monographie zum Brief im Roman den Brief als Akt (und somit Handlungselement), als Aussage und Ausdruck (handlungsbegleitend) sowie als Teil von Briefwechseln, also Bauelement des Romanganzen (vgl. Honnefelder 1975). Galt in der Frühen Neuzeit vor allem das Prinzip der amplificatio, also einer Aufschwellung der Handlung, so haben Einlagebriefe in Erzähltexten seit dem 18.  Jahrhundert zunehmend mimetische Funktion, dienen also der Unterstützung der erzählten Geschichte. Im modernen Roman verlagert sich das Interesse zunehmend auf Reaktionen des Empfängers (vgl. Füger 1977, 628–631). Briefe als „eingestreute Realitätspartikel“ (Füger 1977, 634) erfüllen eine wesentliche brieftypische Funktion, nämlich Wirklichkeitseffekte (‚l’effet du reel‘: Roland Barthes) zu produzieren. Formal konventionell sind noch die zahlreichen Briefeinlagen im Erzählwerk Fontanes, die die genannten Funktionen erfüllen, mit Schwerpunkten auf Innendarstellung sowie auf einer Korrelierung von Gespräch und Handeln (vgl. Schmidt-Supprian 1993). Ein Beispiel aus der Zeit ‚nach‘ dem Briefroman ist E. T. A. Hoffmanns Novelle Der Sandmann. Drei Briefe führen eingangs im Wechselspiel zwischen dem Phantasten Nathanael und seiner vernunftorientierten Verlobten Clara in gegensätzliche, dabei jeweils sehr subjektiv dargestellte Erfahrungswelten ein (was insbesondere Nathanels Schilderung des niemals verwundenen Kindheitstraumas einschließt). Sodann aber setzt ein zwischen heterodiegetisch und homodiegetisch, zwischen Nullfokalisierung und interner Fokalisierung unentschiedener Erzähler auf unsicherem Grund fort, was nur scheinbar noch unsicherer (und unzuverlässiger) begonnen hat. Nicht einfach ein Wechsel zu allwissendem extradiegetischen, somit dominantem Erzähler von dem sehr begrenzten Ich eines Einlagebriefs wird hier inszeniert, sondern die den Leser*innen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bekannten Anhaltspunkte für mehr oder weniger hochgradige Verlässlichkeit der Erzählinstanz werden systematisch untergraben. Dabei geht es in den so unterschiedlich beglaubigten Segmenten der Novelle stets um die (Auto-)Biographie Nathanaels und deren Rätsel. ‚Nach‘ dem Briefroman sind Experimente mit der Fiktionalisierung authentischer Briefe möglich, die sowohl das Einpassen narrativer Passagen in eine neue

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

holistische Hybridform erproben als auch ein Gesamtnarrativ erst ausprägen, obgleich authentische, redigierte und fingierte Briefe neben- und hintereinanderstehen. Mit dem Respekt vor der Kommunikationsform Brief und der (veraltenden) literarischen Form ‚Briefroman‘ gebrochen und dennoch ein kanonwirksames Ganzes geschaffen zu haben, ist das Verdienst Bettine von Arnims. Sie führte in Gestalt von Goethes Briefwechsel mit einem Kinde den Historismus des 19. Jahrhunderts mit der nun auch als Archivalie lesbaren Form ‚Brief‘ nicht zuletzt aufgrund von dessen erzählerischem Potential zusammen. Was im Entpragmatisierungs- und Ästhetisierungsprozess bei allen von der Empfängerin vorgenommenen Retuschen (vgl. Bunzel 2013) bleibt und vielleicht die Eignung von Briefen zu Versatzstücken für ein Buch-Ganzes ausmacht, ist das mit unbegrenzten serialisierten Anlagerungen zu versehende Erzählen von ‚Leben‘, im Einzelbrief und in der (fingierend ‚ergänzten‘) Briefreihe. Auf der anderen Seite dient die Form des Briefs bis mindestens in das frühe 20.  Jahrhundert hinein als Versatzstück für Experimente der Moderne, so im Werk Hugo von Hofmannsthals der ohne autobiographisches oder autofiktionales Erzählen nicht auskommende „Chandos“-Brief von 1902 oder die das Muster des Reisebriefs aufgreifenden Briefe eines Zurückgekehrten von 1907. Die bereits zu Lebzeiten unter dem Titel Erfundene Gespräche und Briefe zusammengefassten Texte verschmelzen in je unterschiedlicher Weise Kritisch-reflexiv-Essayistisches und Narrativ-Fiktionales. Die narrativen Züge der Texte verstärken bei den Leser*innen den Eindruck des Fiktionalen, der der Briefform ja gerade widerspricht, wohingegen die Hybridisierung von narrativen und reflexiven Passagen bis hin zum Essayistischen in der Briefform gut aufgehoben ist und dort auch den Leseeindruck des (auto-)biographisch Tingierten erzeugt. Dabei ist der Brief neutral genug, um voreilige Gattungszuschreibungen bei den Leser*innen zu unterbinden; er regt ein Spiel um Behauptung und Negation der individuellen, adressierten, kommunikativ aufgeschlossenen Aussage an. Um 1900 war der Brief längst als (editorisch und anthologisch aufbereitetes) Dokument zur Normalität für den gebildeten Leser geworden (vgl. Rispoli 2016).

3 Konfigurationen brieflichen Erzählens: ­Einzelbriefe und Briefreihen Der einzelne Brief entsteht aus dem Moment heraus. In der bürgerlichen Kommunikation des 19. Jahrhunderts z.  B. ist ‚Plaudern‘ – gerade auch in Briefen – ein „ungeschützt kommentierende[s] Erzählen[], das dem Bedürfnis geschuldet

2.10 Narratologie des Briefs 

 307

ist, einen Menschen, mit dem man freundschaftlich verbunden ist, am eigenen Leben teilhaben zu lassen, mit ihm Ansichten, Gedanken und Gefühle zu teilen, die Dritten vorenthalten bleiben“ (Wich-Reif 2012, 612). Zur Verhaftetheit des Briefs im Augenblick gehört die unterstellte Spontaneität des Schreibvorgangs, die Unverstelltheit und dabei durchaus den Wechsel des Temperaments und der Stimmung zulässt. Bereits der erste Leser wird den empfangenen Brief auch als Intertext in Bezug auf vorausgegangene Briefe lesen (vgl. Ewert 2014, 179). Er ist Sprechakt und Handeln, ist also wiederum auf vorausgehende und folgende Sprechakte wie auch vorgängiges und nachgängiges Handeln zu beziehen (vgl. Ewert 2014, 180). Wohlgemerkt: es ist nicht zu erwarten, dass sich aus einer Reihe aufeinanderfolgender Briefe eine lückenlose Reihe von Sprechakten und Handlungen rekonstruieren lässt. Mithilfe des Inferierens ausgesparter, aber im Text angelegter und kontextuell möglicherweise zu ergänzender Informationen kann allerdings eine Reihe von Briefen ein Narrativ formen, das sich aus der Summe wechselseitig gerichteter Sprechakte, versprachlichter Handlungen und originär narrativer Passagen konstruieren lässt. Die ursprünglichen Adressat*innen werden ein anderes Narrativ konstruieren als spätere Lesende, die die Reihe der Briefe vermittelt durch Herausgeber*innen o.  ä. zur Kenntnis nehmen. Aus der Zusammenschau von Brief und Antwortbrief kann sich dialogisches Erzählen ablesen lassen, etwa insofern beide Briefpartner*innen an einer Geschichte schreiben oder auch ein Geschehen aus unterschiedlichem Blickwinkel erzählen oder bewerten. Der polyperspektivische Briefroman bietet hierzu die Folie. Das metaphysische Dimensionen erreichende Narrativ des Bruderhasses zwischen Thomas und Heinrich Mann bietet, gelesen in der Edition der Korrespondenz, repetitives Erzählen einer „Tragödie unserer Brüderlichkeit“, wie Thomas am 3.  Januar 1918 schreibt (Mann und Mann 1995, 176). Heinrich hingegen lehnt in seinem nicht abgeschickten Antwortbrief vom 5. Januar 1918 diese metaphysische Lesart ab, spricht von einseitiger Abwendung des Bruders und hebt psychologisierend die eigene Indifferenz vom Hass des brüderlichen Spiegelbildes ab (vgl. Mann und Mann 1995, 178–180). In einer ‚etablierten‘ Briefbeziehung, die sich durch eine starke Erwartungshaltung hinsichtlich Serialität oder auch Fortsetzbarkeit des jeweils aktuellen Briefs auszeichnet, kann sich der Schluss des einzelnen Briefs zum folgenden wie ein Cliffhanger am Ende der Einzelfolge eines in Fortsetzungen erscheinenden Erzähltexts verhalten: Der Adressat wird auf den Folgebrief vertröstet (der erst zu erwarten ist, wenn er, der Adressat, geantwortet hat). Von Station zu Station fortgesetzte Reisebriefe können so funktionieren. Regelmäßiges Briefeschreiben kann zu einer Annäherung an alltagschronistische Formen führen, die in Fortsetzung geboten wird, dabei aber Kulminations-

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

momente erleben kann. Novalis legte in einem langen Brief an den Vater vom 9. Februar 1793 eine Art Generalbeichte bis hin zur Beteuerung einer Lebenswende ab (vgl. Novalis 1975, 104–112). Von diesem Brief aus lässt sich das überlieferte Corpus insgesamt vorwärts und rückwärts als autobiographisch lesen. Relektüren von Einzelbriefen wiederholen den Kognitionsvorgang des ursprünglichen Adressaten, der erzählende Passagen wie den gesamten Brief zwar in Kenntnis des vorausgehenden Briefwechsels wahrnimmt, aber den gerade empfangenen Brief in seiner besonderen Aktualität als isolierte Gabe und für sich stehenden Text auffasst und erzählende Passagen des Brief-Ich auch pragmatisch auf sein eigenes Leben bezieht. Solche erzählenden Passagen eines Einzelbriefs werden kaum abgeschlossene Narrative enthalten, vielmehr sind Vor- und Nachgeschichten sowie Kontexte zu inferieren  – das hierfür benötigte Wissen steht dem Adressaten zur Verfügung. Der Alltagsbrief ist oft nicht nur auf eine Zukunft des Gelesen- und Beantwortetwerdens gerichtet, sondern auch auf eine solche der potentiell endlosen Fortsetzung einer Kette aus Briefen und Gegenbriefen. Briefe möchten ihre Zukunft gleichsam erzwingen. Ist der Briefroman auf die Vollständigkeit des Plots gerichtet und zugleich auf Redundanzvermeidung, so sind die Zukunft und der Schluss einer authentischen Korrespondenz unplanbar, oft von banalen Zufällen abhängig. Epische Hartnäckigkeit ist kennzeichnend für manche prominente Briefschreiber*innen, sei sie zielgerichtet wie die Goethes, der die jahrzehntelang geführte Korrespondenz mit seinem Freund Zelter zu Lebzeiten als gemeinsames postumes Buchprojekt plante, oder sei sie auch nicht final gerichtet wie Kafkas Briefschwall an seine Verlobte Felice Bauer. Diese Insistenz zeugt doch von der Energie, das Ende des Schreibens und des Erzählens oder besser: des Narrativs, das aus der Korrespondenz im Entstehen begriffen ist, hinauszuschieben, einen Schluss zu verhindern. Die Alternativen lauten: endloses Weiterschreiben oder Kommunikationsabbruch – die Emphase, mit der ‚Letzte Briefe‘ (ähnlich wie ‚Letzte Worte‘) geäußert, gesammelt, gelesen wurden, spricht für sich (vgl. Matthews-Schlinzig 2012; Strobel 2013, 78–79; Beise und Strobel 2015). Aus dem erschriebenen – und somit: gelebten Leben entspinnen sich (biographische) Erzählungen, wenn nicht für die schreibenden Beteiligten, so doch für spätere Lesende. Der mitunter mehrstufige Überlieferungsprozess spielt hier die entscheidende Rolle. Texte sind als „Teile sprachlichen Handelns“ Ausdruck „einer zerdehnten Sprechsituation“ (Ehlich 2007, 493). Briefe in ihrer Textualität überliefern eine sprachliche Handlung zunächst exklusiv für den Adressaten, das ist auch wörtlich zu verstehen im Sinne postalischen Überbringens des Briefs als Objekt. Falls sich aber der Überlieferungsprozess fortsetzt und der Brief oder die Briefe sekundäre Leser*innen erreichen, dann kann sich aus einer solchen Vielzahl sprachlicher Handlungen ein Narrativ zusammensetzen.

2.10 Narratologie des Briefs 

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Als erzählende Texte werden publizierte Briefreihen auch öffentlich wahrgenommen, denn diese Briefreihen oder besser ihre ordnenden und deutenden Herausgeber*innen bereiten kulturell bedeutsame Narrative auf, also Dichter-/ Künstlerleben zwischen Vollendung und Scheitern, Geschichten von Freundschaft, Liebe/Partnerschaft/Ehe und Trennung, den Austausch zwischen Gelehrten, die Aufrechterhaltung des Kontakts zwischen unabänderlich oder temporär voneinander Getrennten, soziales Außenseitertum und Versuche des Ausbruches aus sozialer Isolation. Auch epistolare Narrative werden auf ihre kulturelle Bedeutsamkeit hin transparent gemacht, so das erzählte Erlebnis eines Briefschreibers als Element autobiographischen Erzählens zwecks Geltendmachens des gesellschaftlich Exemplarischen oder auch gerade der Einmaligkeit von Person und Erleben. Aus der Bündelung, Neuanordnung und Kommentierung überlieferter Briefe als Korrespondenzen zwischen zwei Personen oder als die Biographie begleitende Briefreihe einer Person (seien es Briefe von dieser oder an diese oder auch über diese Person) entstehen seit dem späten 18. Jahrhundert Anthologien und zunehmend Editionen. Ein vor allem dem 19.  Jahrhundert verpflichtetes kompilatorisches Modell aus chronologisch angeordneten und durch Herausgebertext ergänzten Briefen ist das ‚Leben in Briefen‘ (vgl. Nickisch 1990, 109–111) das bis heute die biographische Darstellung in popularisierender Absicht zu ersetzen vermag. Die biographische Narration wird durch Briefe unterbrochen oder vielmehr unterfüttert, ergänzt, veranschaulicht und beglaubigt. Man könnte den Charakter dieses Buchtyps auch anders verstehen: Um ein Corpus aussagekräftiger Briefe herum entsteht ein verbindender biographischer Text. Michael Maurers Lebensbild in Briefen über Sophie von La Roche setzt mit einer knapp 30-seitigen Kurzvita ein, ehe als deren Authentizität generierende Amplificatio knapp 250 Briefe von und an La Roche, chronologisch angeordnet und in Lebensstationen untergliedert, folgen, versehen jeweils mit knappem Stellenkommentar (vgl. Maurer 1983). Ein anderes Modell bildete beispielsweise der einst populäre, im Erscheinungsjahr 1869 in drei Auflagen publizierte und sofort ins Englische übersetzte Band Das Buch vom Grafen Bismarck, das der frühe Hagiograph George Hesekiel vorlegte. Die Darstellung wird mit fortschreitender Biographie immer öfter unterbrochen, um durch (wohl vollständige) Briefe die vorausgegangene Passage zu dokumentieren. Als dies erstmals geschieht, wird es damit begründet, dass die Briefe „einen Einblick in das eigenthümliche Wesen des jungen Mannes gestatten und ihn von verschiedenen Seiten besser kennzeichnen, als das unsere eigene Schilderung vermöchte.“ (Hesekiel 21869, 105) Reisebrieffolgen erscheinen seit dem 18. Jahrhundert im Druck und ergänzen die eigens in Buchform verfassten aufklärerischen Reiseberichte der Zeit (vgl. Nickisch 1990, 113–119).

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder berichten 1793 von ihren Reisen aus der Zeit des gemeinsamen Erlanger Studiums, die zur Vorgeschichte der Romantik gehören, in insgesamt neun umfänglichen Briefen; in der Historisch-kritischen Wackenroder-Ausgabe sind diese fälschlich als „Reiseberichte“ gekennzeichnet, als seien es für die Publikation bestimmte Texte gewesen. Doch die Vertrautheit mit einem Brieftypus, der nichts als eine Reisebeschreibung in chronologischer Folge bietet, ist evident. Wackenroder beginnt seinen mehr als 20 Druckseiten umfassenden Brief wie folgt: „Theuerste Aeltern, Hier haben Sie eine kleine Beschreibung der Reise, die ich mit T. in den Pfingstferien, ins Baireuthische vorgenommen habe, u die uns so viel Vergnügen gemacht hat.“ (Wackenroder 1991, 156) Reisebriefe sind nur ein Beispiel dafür, dass bereits seit dem publizierten Sendbrief der Frühen Neuzeit, mehr dann seit den veröffentlichten Privatbriefen des 18.  Jahrhunderts und der wachsenden Bedeutung des Briefs für fiktionale Texte gilt: „Der Brief selbst wird Literatur und wirkt als Literatur. […] Das Schreiben des Briefes wird zu einer literarischen Übung“ (Ehlich 2014, 33). Mehr noch: Der Brief „ist textart-geschichtlich eine Art Übungsfeld für die Entwicklung einer ganzen Gruppe von literarischen Figuren.“ (Ehlich 2014, 36) Nicht zuletzt Autor*innen, aber nicht nur diese, dürfen damit rechnen, dass ihre Briefe zu einem späteren Zeitpunkt auch ein Publikum erreichen. Diese Entwicklung wiederum begünstigt weiterhin die Fiktionalisierung des Briefs, zweifellos aber auch die Aufladung mit Erzählendem. Zur Vorbildhaftigkeit des Publizierten gehört auch das Serielle und das Werkhafte – noch nicht mit Anthologien wie den Freundschaftlichen Briefen, aber mit Briefbänden als Anhängseln zu Werkeditionen wie der ersten Lessing-Werkausgabe, in der 1794 in vier Bänden der Briefwechsel mit dem Bruder Karl Gotthelf Lessing, mit Moses Mendelssohn, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Karl Wilhelm Ramler, Theodor Eschenburg und Friedrich Nicolai erschien (vgl. Lessing 1794). Übergänge zwischen gesammelten und publizierten ‚authentischen‘ Reisebriefen und für ein Publikum eigens konzipierten Briefen dieser Art sind bereits für das 18. Jahrhundert zu verzeichnen, etwa mit Georg Christoph Lichtenbergs Briefen aus England von 1777/78 (vgl. Nickisch 1990, 114). Freilich nimmt im 19. Jahrhundert die Neigung zu, zwischen Sammlungen und Anthologien dieser Art und sich philologisch distanziert gebenden Briefeditionen zu unterscheiden, was etwa die Vollständigkeit des dargebotenen Materials angeht, wenngleich zwischen der Verwirklichung dieses Ideals und der Rücksichtnahme auf die Rechte beteiligter, insbesondere noch lebender Personen abwägend vorgegangen wurde. Übergänge zwischen Einzelbrief und hier so genannter ‚Briefreihe‘ gibt es also viele, sie können bereits im Zuge des Briefeschreibens und -tauschens selbst angelegt sein. Dem schon genannten Briefprojekt Goethes mit Carl Friedrich

2.10 Narratologie des Briefs 

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Zelter lag eine implizite Selbstverpflichtung beider Beteiligter zu kontinuierlichem, mitunter fast tagebuchartigem, autobiographisch berichtendem Austausch zugrunde. Es beruhte auf dem idealtypischen Prinzip der potentiell unendlich fortgesetzten Kommunikation. Die Prinzipien des Autographensammelns, -archivierens und des Zusammenstellens zu einer postum zu realisierenden Edition führen darüber hinaus neben den vielen Mikroerzählungen auch mehrere große Narrative ein: das von Goethes, das von Zelters Leben, das von der Freundschaft beider und das von der Stiftung eines gemeinschaftlichen Werkes. Leser*innen der in sechs Bänden 1833/34 erschienenen Ausgabe konnten für sich alle diese Erzählungen entdecken. (vgl. Goethe und Zelter 1833/1834) Briefschreiber*innen können zu Autor*innen werden, indem sie eigene Briefe in einer Reihe publizieren. Immer mehr sind es Herausgeber*innen, die dieses Geschäft übernehmen. Typische Briefreihen sind: (1) sämtliche überlieferte Briefe eines Schreibers an einen Adressaten; (2) ein möglichst vollständiger Briefwechsel zwischen zwei Personen (eventuell auch zwischen mehreren); (3) möglichst alle überlieferten Briefe eines Schreibers; (4) möglichst alle von einer Person geschriebenen und an sie gerichteten Briefe. Alternative Auswahlkriterien könnten in einem Ereignis liegen, einem brieflich sich artikulierendem Personennetzwerk etc. Im Zuge der Digitalisierung der Briefedition rücken Optionen wie die zuletzt genannten in den Bereich des Möglichen und Wünschenswerten. Die konventionellen Optionen (1) bis (4) konstituieren spezifische Narrative, nämlich (3) und (4) je die Biographie der zentrierten Person, (1) und (2) jeweils die Beziehung zwischen beiden Personen (auch wenn die Briefe der einen fehlen), sofern der Briefwechsel sehr langlebig ist: beider Biographien. In der Buchform sind diese Narrative insofern angelegt, als lineares Lesen grundsätzlich suggeriert wird; die digitale Edition ist in diesem Sinne weniger suggestiv. Überall dort, wo zwei Briefe und mehr zu einer Sequenz zusammengestellt werden, impliziert dies viel mehr als adressierte Distanzkommunikation, nämlich überlieferndes Eingreifen (mindestens) eines Dritten; ein Arrangement, dem (gewiss oft unintendiert) auch ein Narrativ zugrunde liegt. Zusätzlich zu der – in der vollständigen zweipoligen Briefausgabe – Vielstimmigkeit der Brief-Ichs erhebt der bzw. die Herausgeber*in mit einem quasi-erzählerischen ‚showing‘ seine bzw. ihre Stimme. (Ein zusätzliches ‚telling‘ mag biographischen Einleitungen etc. vorbehalten sein.) Die Einzelerzählungen Brief für Brief setzen sich bei der Lektüre zusammen, so ein möglicher Leseeindruck. (Zweifellos beschränkt sich in der Praxis die Nutzung von Briefausgaben oft auf Stellenlektüren oder die Lektüre eines Einzelbriefs.) Doch die Edition beutet gewissermaßen das Material aus, auf dem sie beruht. Sie legt bestimmte Nutzungspraktiken nahe, die in ihrer Struktur angelegt sind (nicht nur im Material selbst). Das Material ist gleichfalls nicht ‚unschuldig‘: Der

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

elektronische Chat des 21. Jahrhunderts ist zwar als speicher- und überlieferbares digitales Objekt grundsätzlich analog zur Briefreihe dafür geeignet, ein Narrativ zu konstituieren. Er dürfte allerdings aufgrund seiner sprachlichen Reduziertheit und situativen Gebundenheit für Dritte noch viel weniger verständlich sein als ein ‚klassischer‘ Briefwechsel. Doch auch der Online-Chat kann den Verlauf einer zwischenmenschlichen Beziehung, und sei sie virtuell, erzählen. Ob er z.  B. als Dialog überhaupt nachlesbar ist, hängt wiederum mit dem Datenmodell und der Präsentationsoberfläche zusammen, die der Anbieter gewählt hat. Die Oberfläche von WhatsApp beispielsweise wie auch die SMS-Darstellungen simulieren und dokumentieren einen quasi-mündlichen Dialog.

4 Narratologische Fragestellungen an Briefreihen Folgende Instanzen können beim authentischen (Einzel-)Brief unterschieden werden: [1] Brief-Ich (somit die Erzählinstanz, aufzuspalten in erzählendes Ich und erzähltes Ich, letzteres deckt vorgängig Erlebtes und nun im Brief Erzähltes ab) und imaginierter Adressat; dieses Brief-Ich erhält im Rahmen der Kommunikationsform Brief Freiheiten zur Selbstkonstitution; [2] empirischer Schreiber und empirischer Adressat; [2a] empirischer Schreiber und sekundäre empirische Adressaten (Mitleser*innen; Nachwelt, an die bereits mitgedacht wird); [3] Herausgeber*innen (die Einzelbriefe zu Briefreihen zusammenstellen) und sekundäre Adressat*innen (Leser*innen der Edition). Im Unterschied hierzu lassen sich bei fiktionalen Briefreihen, namentlich Briefromanen, folgende Instanzen unterscheiden: [1*] Brief-Ich (wiederum erzählendes und erzähltes Ich; ein homo- und autodiegetischer Erzähler, dessen Erzählen im Einzelbrief einen hohen Anteil an Gedankenrede besitzen dürfte) und imaginäre, fiktive Adressat*innen; im polyperspektivischen Briefroman handelt es sich um mehrere Brief-Ichs; [2*] briefschreibende (und in Briefen thematisierte) Romanfigur und adressierte Romanfigur; [3*] Romanerzähler und textweltinterne Adressaten; [3a*] beglaubigende Zwischeninstanz des fiktiven Herausgebers, Briefsammlers etc.; [4*] impliziter Autor und implizite Leser; [5*] empirischer Autor und empirische Leser; [6*] evtl. Roman-Herausgeber*in und Leser*innen der Edition.

2.10 Narratologie des Briefs 

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Briefreihen kennen meist wechselnde Ich-Erzähler, die gemeinsam eine Geschichte voranbringen, etwa indem sie handeln, schreibend handeln, retrospektiv berichten. Handelt es sich um eine Korrespondenz zwischen zwei Schreibern, dann wird die Geschichte sequenzierend vorangetrieben, aber auch wechselseitig kommentierend. Nachlesbar wird sie aber erst, wenn auf Grundlage guter Überlieferung die Grice’sche Kommunikationsmaxime der Quantität erfüllt ist, also Verständnis möglich wird aufgrund hinreichender Informationsfülle – eine in der Praxis vermutlich nicht häufige Gegebenheit, deren Mangel durch Stellenkommentare oder Einleitungen von Anthologisten und Editoren ausgeglichen werden muss. Mittels Auswahl und Anordnung begründet der Herausgeber die Erzählzeit des entstehenden Textes und zugleich die Relation zur erzählten Zeit. Sofern er weitere Briefschreiber flankierend zur Sprache kommen lässt, ‚erfindet‘ er auch die Konstellation der Erzählerstimmen. Ein Briefwechsel kann gelesen werden als Erzählung zweier alternierend sprechender, aufeinander angewiesener extradiegetischer Erzähler (oder, falls eine vermittelnde Erzählerstimme laut wird: intradiegetischer Erzähler), in deren Verlauf beide wiederholt oder besser: seriell und alternierend mit der Möglichkeit eines unverfügbaren Schlusses dieses kollektiven Erzählens konfrontiert sind. Sobald ein Brief abgeschlossen (und versandt) ist, gibt der Schreiber die Chance auf eine Fortsetzung aus der Hand. Ein Konstituens des Briefwechsels ist die Unüberwindlichkeit einer topographisch nachvollziehbaren Trennung. Hieraus ergibt sich die Komplexität der Zeitrelationen. Neben Erzählzeit (die im Einzelfall mit einer Zeit des Erlebens bis hin zu simultaner Niederschrift konvergieren kann) und erzählte Zeit (die im Einzelbrief Binnennarrative betrifft) tritt die psychologisch sehr wichtige Zeitordnung der Sendung, des Verzugs, des Wartens auf Antwort, eben eine spezifische ‚Briefzeit‘, die je nach postalischen und medialen Bedingungen, Schreibgewohnheiten, finanziellen Möglichkeiten für erfahrene Briefpartner*innen in etwa vorhersehbar ist. Man weiß auch im 18. Jahrhundert schon, wann eine Antwort längst hätte eingetroffen sein müssen. Die durch Phasenverzug bestimmte ‚Briefzeit‘ ist textanalytisch (und psychologisch) hochinteressant, weil Schweigen und Warten eigene Codes und Praktiken ausprägen, Letzteres zum Beispiel in Gestalt des Absetzens mehrerer Briefe in Folge, ohne dass auch nur eine einzige Antwort eingetroffen wäre. In Kauf genommen werden Überschneidungen und somit Alinearitäten in Schreiben, Senden, Lesen. Für die späteren Leser*innen befördert ein entsprechender editorischer Befund Zweifel an der Linearität des Gesamttexts, obgleich die Ordnung des Sendens wie auch die des Empfangens Linearität zum Ausdruck bringt, nicht aber die finale chronologische Anordnung durch einen Herausgeber (die eine Ordnung des Sendedatums ist, nicht z.  B. eine

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Ordnung des Lesedatums). Die übliche Reihenfolge in der Edition ist die absolute Chronologie des Versendens, nicht die Aktualisierung der Brieftexte in der möglicherweise von postalischen Störungen bedingten Abfolge der Lektüre durch den Adressaten. Wer aber Briefe entgegen der Entstehungsreihenfolge bekommt und liest, fällt aus der Ordnung der Zeit heraus, ebenso derjenige, welcher sich dem Turnus von Frage und Antwort verweigert. Er hält die Zeit an. Für den Wartenden virulent ist der auf die Zukunft hin offene Zeitrahmen, für den die Frage zählt, ob jemals eine Antwort kommen werde. Wird anachronisch erzählt? Blickt das Brief-Ich auf schon Erlebtes zurück und setzt es dies in Beziehung zu seiner aktuellen Gegenwart, dann liegt eine Analepse vor. Prolepsen des Brief-Ich sind naturgemäß sehr zukunftsungewiss, doch ist hier an das den Brief schließende prospektive ‚Fortsetzung folgt (hoffentlich)‘ zu erinnern. Imaginiert der Schreiber den Zustand des Lesers im Augenblick des Brieferhalts und zugleich den eigenen Zustand zum selben Zeitpunkt, verdoppelt sich die Perspektive einer Vorausdeutung. Der Schreiber eines Abschiedsbriefs kann mehr oder weniger genüsslich die Leseszene imaginieren, die nach dem eigenen Tod liegt. Sofern Erleben und Erzählen simultan möglich sind (in einem isochronischen Erzählen/Schreiben nämlich), können Briefe zeitdeckend erzählen. Ein Mittel der Zeitkonstruktion ist die Erzählfrequenz. In Alltagsbriefen ist u.  a. mit iterativem Erzählen zu rechnen. ‚Frequenz des Erzählens‘ innerhalb einer Korrespondenz kann auch die Frequenz der Sprechakte, also der getauschten Briefe, meinen. Eine Analyse der Makroebene des Erzählens könnte zunächst der Diegese gelten, also der erzählten Welt des Texts, den Topographien, die der räumlichen Trennung der beiden Schreiber (und somit streng genommen: den beiden Diegesen) zugrunde liegen, der Konfiguration über die beiden Ichs hinaus. Ist die in Briefen präsentierte Welt von der authentischen Lebenswelt des Schreibers, signifikant zu unterscheiden? Kennen wir die erzählte Geschichte aus anderen Quellen, liegt mimetische Unzuverlässigkeit der oder einer der beiden Erzählinstanz(en) vor? Mit hochgradiger Motivierung des erzählten Geschehens ist nicht zu rechnen, mit kausaler Motivierung allenfalls selten, mit finaler Motivierung möglicherweise aus Sicht des Herausgebers ex post. Sofern eine Korrespondenz nicht geplant ist, wird man nicht mit sinnhaften Verfahren der Erzählstimmen rechnen dürfen, eine in sich stimmige Geschichte zu komponieren. Allerdings können auch viele kleine Anekdoten, die Briefpartner einander mitzuteilen haben, Zeugnisse aus der Alltagswelt sein und auf eine semantisierende Schilderung von Ereignissen dieser Welt hin perspektiviert sein. Erfahrungsgemäß nutzen Briefschreiber*innen die Offenheit dieser Kommunikationsform: Mehr oder weniger unverbunden kann

2.10 Narratologie des Briefs 

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eine Vielzahl von Themen angeschnitten werden. Eine motivierte Handlung wäre gegeben durch Frage und Antwort von Schreiber zu Schreiber sowie durch ein Erzählen in Fortsetzungen: Sich länger hinziehende Ereignisse und Lebensabschnitte, biographische Ereignisse werden angesprochen, Rekurse auf frühere Briefe sind dabei möglich. ‚Arbeiten‘ Goethe und Zelter schließlich bewusst am gemeinsamen ‚Werk‘, dann ist der Plot der Korrespondenz finalisiert, freilich muss dem Erscheinen der Korrespondenz der Tod beider Schreiber per definitionem vorangehen. Motiviert sind eher schon Einzelbriefe, deren konkrete Ziele und Funktionen benannt werden können. Doch im Unterschied zu einem Briefroman zeichnet sich die aus authentischen Briefen bestehende Briefreihe in aller Regel durch ‚blinde Motive‘, also: unmotivierte Passagen aus, die, kontextlos, auch für den späteren Lesenden nur schwer zu verstehen sind. Dies folgt mündlichem Erzählen: „In mündlichen Kulturen sind Erzählungen relativ wenig kausal motiviert.“ (Martinez und Scheffel 32002, 118) Im Brief bleibt etwa in dieser Hinsicht (und nicht nur in dieser) ein Rest an konzeptueller Mündlichkeit bestehen. Dennoch ist jede Textrezeption durch kognitive Verstehensprozesse begründet und durch den Versuch, eine kohärente Textbedeutung zu stiften. Das ist auch so bei der Lektüre von Briefeditionen. Die Mühen einer solchen Lektüre lassen sich gewiss auch mit der Frustration erklären, die aus solchen Kohärenzbildungsprozessen hervorgeht, denn die Leser*innen erwarten Lücken ebenso wie Redundanzen. Aus der Sicht eines sekundären Lesers sind Brief-Ichs mimetisch unzuverlässig, nicht weil sie jenem Leser etwas vorenthalten wollten, sondern weil sie sich gar nicht an ihn, sondern an den besser informierten Adressaten richten. Beim Herausgeber liegt hingegen tendenziell axiologische Unzuverlässigkeit vor (zu den Begriffen mimetische und axiologische Unzuverlässigkeit vgl. Kindt 2008, 41–66), d.  h. seine Werte stimmen nicht mit denen des Texts überein, anders gesagt: Er selektiert, wertet, wertet aus und zwar aus seinem eigenen Verständnis der Briefpartner und von deren Textwelt, nicht von deren Selbstverständnis her. Insofern der Herausgeber eine nicht einmal immer nur auf showing sich beschränkende Erzählstimme im Gefüge der edierten Textreihe ist, handelt es sich um eine Stimme, die der durch die Brief-Ichs vermittelten Textwelt nicht unbedingt gerecht wird. Ist das Brief-Ich als Vermittler einer erzählten Geschichte gut einzuordnen, so tritt die eine Briefreihe organisierende Instanz nicht immer explizit hervor. Der Herausgeber ‚spricht‘ in der Einleitung zu seiner Edition, bei der Begründung der Textauswahl und der Editionsprinzipien, im Kommentar und in Briefe verbindenden Textpassagen in Sammlungen mit Anthologiecharakter. Es bleibt festzuhalten, dass eine solche vermittelnde Instanz zwischen überliefertem Material und präsentiertem Text wie auch zwischen Handschriftenbesitzer und künftigem

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Leser agiert. Tritt diese Instanz stark zurück, wäre von dramatischem Erzählen zu sprechen dergestalt, dass die Briefe selbst Personenreden in einem Dialog nahekämen. Wird man bei einer Briefreihe insofern von Nullfokalisierung sprechen, als die Herausgeberinstanz sich als weitestgehend über Kontexte und Hintergründe informiert gibt, so liegt in den Einzelbriefen interne Fokalisierung vor, sofern das Ich von sich, externe Fokalisierung, sofern es von anderen Personen erzählt. Auch wenn Briefe das Erzählen begünstigen, ist ihre Nähe allein zur erzählenden Literatur keineswegs ausgemacht, könnten sie doch aufgrund ihres Charakters als simulierter Dialog als Briefreihe in der Nähe zum Dramentext gelesen werden. Eine Situierung des Briefs zwischen Erzähltext und Dramentext, die eigentlich eine transgenerische Textanalyse provoziert, ist durch das Brief-Ich als Erzähler, als Handelnder und als Dialogpartner gerechtfertigt. Narratologische Dramentheorien haben uns gelehrt, Dramentexte als auf Lektüre hin konzipierte Sprechaktbündel zu lesen, die in der Summe einen Plot stiften. Als mimetische Narrative kommen Dramen ohne Vermittlungsinstanz aus, realisieren aber, wie Briefe, Geschichten, die durch die Rekonstruktion des Plots auch erzählt werden können. Dass viele Dramen auch im engeren Sinne narrative Anteile besitzen, belegt indirekt einmal mehr den transgenerischen Status, der insbesondere seriell ausgetauschten Alltagsbriefen immer schon zu eigen ist (vgl. Strobel 2013, 85; Muny 2008, 24, 188).

5 Narratologische Kategorien – Beispiellektüren Den Jugendbrief Goethes an den Leipziger Studienfreund Ernst Wolfgang Behrisch vom 10.-13.11.1767 (Goethe 1988, 57–64) hat Albrecht Schöne musterhaft als Einzelbrief interpretiert (vgl. Schöne 2015, 73–122). Goethes Brief reklamiert (wie das Erzählen grundsätzlich!) Souveränität über die Zeit bei drohender Übermächtigung durch ein widerspenstiges, die Ordnung des Lebensvollzuges in Frage stellendes Liebesobjekt. In hochexpressiver Weise, alle Register epistolaren Erzählens überhaupt ziehend, drückt der Schreiber Liebesglück und Liebesschmerz aus, indem er zwischen wechselnden Erzählpartikeln, Zeitebenen und emotionalen Verfasstheiten wild hin und her oszilliert. Schöne reklamiert diesen Brief als Vorstufe eines ‚Werks‘ oder besser als Übergangsprodukt zwischen pragmatischem Alltagsbrief und einer Vorstufe zum Werther-Roman von 1774 (vgl. Schöne 2015, 98). Indem das Brief-Ich zwischen seiner Schreib-Gegenwart und vorgängig Erlebtem wechselt, ergibt sich ein Leseeindruck maximaler Unmittelbarkeit. Das scheinbar spontan aus purer Affektivität heraus Entstandene und

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durch den Adressaten wie noch heutige Leser*innen mühelos Naturalisierbare, das zusammen mit den anderen Briefen Goethes an Behrisch in der Summe eine „autobiographische Erzählung“ (Schöne 2015, 119) ergibt, ist doch ein höchst artifiziell durchgeplanter Text. Nach dem Vorbild Rousseaus bemüht sich das Ich den Eindruck zu erwecken, im Vollzug des Schreibens das soeben Wahrgenommene sogleich zu überliefern. Genaue Zeitangaben machen den über Tage wachsenden Text zu einem immer wieder fortgeführten Tagebuch. Mikronarrative dienen der ‚Erholung‘ von Schreiber und Leser, ehe Ersterer zu dem großen Narrativ der unglücklichen Begegnung mit der Angebeteten ausholt: „Stille, stille ich will dir alles in der Ordnung erzählen.“ (Goethe 1988, 58) Dieses Erzählen wird immer wieder durch Apostrophen an den Adressaten unterbrochen, zugleich erweist sich die Erzählung als aufbauende Analepse, die bis in die Gegenwart des Erzählers hineinreicht. Erzählendes Ich und damit auch Adressat sollen sich nach wie vor ganz nah am intensiven Erleben des erzählten Ich bewegen. Das liebeskranke Ich hält doch die Fäden des Erzählens in der Hand. Es verfügt nicht über das Mädchen, aber über die Zeit; und es gewinnt seinen Adressaten: „Ich habe eine Viertelstunde auf meinem Stuhle geschlafen. Ich binn würcklich sehr matt. Aber das Blatt muß diesen Abend noch voll werden. Ich habe noch viel zu sagen.“ (Goethe 1988, 60) Sprünge in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft präsentieren einen Schreiber ‚von Sinnen‘, der seine Assoziationen und das Erlebte schreibend und erzählend zu organisieren beginnt: „Mein Brief hat eine hübsche Anlage zu einem Werckgen.“ (Goethe 1988, 63) Als Beispiel für ein bekanntes, editorisch begründetes Briefnarrativ diene hier Erich Hellers Edition der Briefe Franz Kafkas an Felice Bauer (zu einigen Thesen vgl. Strobel 2014), die inzwischen durch die Briefbände der Kritischen Kafka-Ausgabe philologisch ersetzt ist; doch wird hier aufgrund ihrer jahrzehntelangen, bis heute anhaltenden Wirkmächtigkeit Hellers Ausgabe herangezogen (vgl. Kafka 1988). Bereits die Auswahl ist hochproblematisch. Enthalten sind zahlreiche Briefe anderer Schreiber*innen und Empfänger*innen aus dem Freundes- und Familienkreis (bis hin zu Grete Bloch, einer Freundin Felice Bauers). Hellers Geschichte ist die einer aus der Sicht der Familie missglückten Heirat, während Kafka als Briefschreiber vor allem Geschichten von seinem Briefeschreiben und -empfangen, die Geschichte von sich selbst als Schreibendem, erzählt (vgl. Siegert 1993, 250–272). Für Felice Bauer erzählt er sie anders als für deren Freundin Grete Bloch. Aufgrund der Überlieferungslage kommt Felice niemals zu Wort, erfahren wir die ‚Geschichte‘, als sei dies selbstverständlich, aus der Feder Franz’. Hellers Einleitung betreibt Rezeptionslenkung; längst vor dem postmodern turn denkt sich dieser Herausgeber Kafka als mittelalterlichen Minnesänger, „eine[n] der ersten, die eine Sprache des Liebens sprachen und sangen, in welcher

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

trûren und wân, die vertrauensselige Erwartung überirdischer, aber darum nicht unwirklicher Seligkeit über jegliche Erfüllung der Liebe ist.“ (Heller 1988, 34) Das Thema Briefkommunikation selbst begründet das Script der durch die Briefreihe aufgespannten Erzählung. Kafka schildert in aller Ausführlichkeit je einmalige (sich prinzipiell aber wiederholende) Erlebnisse und Wahrnehmungen um Felices Briefe, deren Ankunft oder Ausbleiben und die deswegen durchlittenen Qualen. Typische erzählte Handlungsmuster sind der Alltag im Büro, nächtliches Schreiben, Spaziergänge und Begegnungen mit Freunden, der Alltag mit der Familie oder kurze Dienstreisen, also die kleinen, meist rekurrenten Ereignisse, die das Alltagsleben ausmachen und strukturieren. Mit der Verringerung der Frequenz kommt es zunehmend zu unmotivierten Passagen, zu den besagten ‚blinden Motiven‘. Aus dem brieftypischen Script von Schreib-, Versende- und Leseszene – oft Mikronarrative, die im Opener oder Closer Platz finden, demnach den Übergang von der salutatio zur narratio oder einen Teil der peroratio ausmachen – machen Kafkas Briefe an Felice Bauer ein immer aufs Neue zu variierendes Dauerthema. Die Grenzen der ‚Geschichte von Franz und Felice‘ sind nicht allein durch das Narrativ in Briefen gegeben, und das Ende der Geschichte ist höchst kontingent. Nachdem eine ungeheuer dichte Schreibfrequenz das Leben beider von Tag zu Tag zugleich konstituiert und nacherzählt hat, bezeugen die seit 1914 nur noch ­vereinzelt überlieferten Briefe ein langsames Auslaufen der kommunikativen (Fern-)Beziehung zwischen beiden, auch wenn es keinen emphatischen Abschiedsbrief gibt. Eine Besonderheit ist, dass der Briefschreiber Kafka immer wieder aufs Neue nicht nur seine Wünsche nach Briefen von Felice artikuliert, sondern proleptisch mal das Ende, mal die möglichst unendliche Fortsetzung vorwegnimmt. Das in vielen Briefen ausgeschriebene Paradoxon ist etwa in folgender Passage eingefangen: „Felice, ich kündige es an, es kommt einer jener Briefe, von denen ich letzthin einmal geschrieben habe, daß Du sie beim zweiten oder dritten Satz zerreißen sollst. Jetzt ist der Augenblick, ihn nicht zu schreiben, aber leider wirst Du ihn ebenso sicher lesen, wie ich ihn schreiben werde.“ (Kafka 1999, 269) Die Diegese hinter dieser Briefreihe ist geschlossen, zwischen den Lebenswelten der beiden Protagonisten liegt eine kaum zu überwindende Grenze; Leben und Lebensvollzug beschränken sich weitgehend auf den Akt des Schreibens inklusive des Briefverkehrs. Das Brief-Ich gibt sich sozial isoliert und imaginiert sich zugleich so intensiv in das Leben seiner Briefpartnerin hinein, dass es deren Leben gleich (spekulativ) miterzählt, wenn es schreibend an sein Gegenüber denkt. Felice Bauer sind damit Freiräume genommen; es fügt sich zu diesem totalitären Schreib- wie Erzählgestus Kafkas, dass Bauers Briefe verloren sind. Ein hoher Grad an Fiktionalisierung in Kafkas Briefen an Felice zeigt sich an den Metalepsen, also den Grenzüberschreitungen zwischen Diegese und Welt

2.10 Narratologie des Briefs 

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des empirischen Autors, eine Grenze, die es beim faktualen Erzählen nicht geben kann. Kafka steigert sich in die Welt des (Briefe-)Schreibens so sehr hinein, dass die geplanten Begegnungen (die teils katastrophisch enden) wie ein zu befürchtendes Erwachen nach langen Träumen anmuten.

Zitierte Literatur Beise, Arnd, Jochen Strobel u. Ute Pott (Hg.) (2015). Letzte Briefe. Neue Perspektiven auf das Ende von Kommunikation. St. Ingbert. Bürgel, Peter (1976). „Der Privatbrief. Entwurf eines heuristischen Modells“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 50.1–2: 281–297. Bunzel, Wolfgang (2013). „Die Kunst der Retusche. Ein Originalbrief von Goethe an Bettine Brentano und seine Überarbeitung in Bettine von Arnims teilfingierter Quellenedition ‚Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde‘ (1835)“, in: Briefkultur. Texte und Interpretationen – von Martin Luther bis Thomas Bernhard. Hg. v. Jörg Schuster, Jörg u. Jochen Strobel. Berlin u. Boston: 169–182. Ehlich, Konrad (2014). „Eine kurze Pragmatik des Briefes“, in: Fontanes Briefe ediert. Hg. v. Hanna Delf von Wolzogen u. Rainer Falk. Würzburg: 17–38. Enenkel, Karl (2019). „Epistolary Autobiography“, in: Handbook of Autobiography/ Autofiction. Bd. I: Theory and Concepts. Hg. v. Martina Wagner-Egelhaaf. Berlin u. Boston: 565–578. Ewert, Michael (2014). „Uneigentliche Briefe. Zum Verhältnis von Briefen, Reisebriefen und Brief-Essays im Werk Fontanes“, in: Fontanes Briefe ediert. Hg. v. Hanna Delf von Wolzogen u. Rainer Falk. Würzburg: 176–189. Fellner, Friederike (2010). „‚Zwitter zwischen Gegenwart und Entfremdung.‘ Schreib-Szenen in Briefen Kafkas“, in: Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 11.9. bis 16.11.2008. Hg. v. Waltraud Wiethölter u. Anne Bohnenkamp. Frankfurt a. M. u. Basel: 147–163. Fludernik, Monika (2008). „Letters as Narrative“, in: The Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. Hg. v. David Herman et al. London u.  a.: 277. Fludernik, Monika (42013). Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt. Füger, Wilhelm (1977). „Der Brief als Bau-Element des Erzählens. Zum Funktionswandel des Einlagebriefs im neueren Roman, dargelegt am Beispiel von Dostojewski, Thomas Mann, Kafka und Joyce“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 51.4: 628–658. Goethe, Johann Wolfgang (1988). Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 6 Bänden. Bd. 1: Briefe der Jahre 1764–1786. Hg. v. Karl Robert Mandelkow. München. Goethe, Johann Wolfgang von u. Karl Friedrich Zelter (1833/1834). Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1796 bis 1832. 6 Bde. Berlin. Golz, Jochen (31997). [Art.] „Brief“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd.  I. Hg. v. Klaus Weimar et al. Berlin u. New York: 250–254. Heller, Erich (1988). „Einleitung“, in: Franz Kafka. Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hg. v. dems.  u. Jürgen Born. Frankfurt a. M.: 9–34. Hesekiel, George (21869). Das Buch vom Grafen Bismarck. Bielefeld u. Leipzig.

320 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

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2.10 Narratologie des Briefs 

 321

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Sibylle Schönborn

2.11 Brief und Tagebuch/Brieftagebuch 1 Überlegungen zu einer hybriden Form Brief und Tagebuch stehen sich gattungsgeschichtlich in mehrfacher Hinsicht nicht nur nahe, sondern bilden vielfach hybride Formen aus, die Textkorpora ebenso als Briefe wie als Tagebücher oder aber als Brieftagebücher lesbar machen: Bei beiden Gattungen wird im Regelfall die (sukzessive) Entstehung in einzelnen in sich abgeschlossenen Texten über eine (Orts- und) Datumsangabe dokumentiert; beide sind dialogisch angelegt, denn auch das Tagebuch (vgl. Schönborn 1999) richtet sich wie der Brief (vgl. Foucault 2007b, 149) entweder an eine höhere Instanz (Gott, Gewissen), einen abwesenden Partner (Lebende wie Tote) oder an sich selbst, ein imaginäres alter ego (Ich-Ideal, Über-Ich), den sogenannten „grausamen Partner“ (Canetti 1975). Lejeune stellt wie Foucault (2007) die enge Beziehung zwischen Brief und Tagebuch am Beispiel seiner eigenen Tagebuchführung heraus: „Sie [die Tagebücher] hatten dasselbe Verhältnis zur Zeit wie Briefe, wobei die Textsorte Brief sogar das Vorbild für mein Tagebuch war: ‚Briefe an mich selbst‘ lautete die Überschrift, die ich jedem Blatt gab.“ (Lejeune 2014, 316) Beide erheben über die Identität von Autor, Erzähler und Protagonist einen Referentialitätsanspruch; beide gehören als Ego-Dokumente zu den autobiographischen  – richtiger: autofiktionalen Gattungen der Selbsterforschung (vgl. Foucault 2007b, 154). Zudem reflektieren Tagebuch und Brief vielfach gattungspoetische Fragen; beide haben die Tendenz zur Überschreitung der engen Grenzen faktualen Erzählens in Gebrauchstexten hin zu Formen literarischer Fiktionsbildung wie dem Brief- und Tagebuchroman oder dem fiktionalen Brieftagebuch als z.  B. beliebte Form in der Kinder- und Jugendliteratur. Während das Tagebuch im engeren Sinne zunächst nicht zur Publikation bestimmt, nicht auf ein anonymes Lesepublikum hin entworfen wird, und damit sein direkter oder imaginärer Adressat nur implizit als vorgestellter präsent ist, zeichnet sich der Brief ursprünglich durch eine personale Adressierung und Expedierung aus. Brief und Tagebuch gehören damit zu den primär privat-intimen oder halb-öffentlichen Gebrauchsgattungen, die erst sekundär durch ihre nachträgliche Publikation zu öffentlichen werden. Im Zuge der Literarisierung und Fiktionalisierung beider Gattungen wird nicht nur ihre eingeschränkte Gebrauchsfunktion, sondern auch die eindeutige Grenzziehung zwischen beiden Gattungen obsolet. So zirkulieren z.  B. im 18. Jahrhundert Tagebücher wie Briefe zunächst in einem ausgewählten Adressatenkreis wie im Falle Lavaters (vgl. Schönborn 1999, 127) oder Briefe werden nachträglich als Tagebücher (vgl. La Roche 2006) publiziert. https://doi.org/10.1515/9783110376531-020

2.11 Brief und Tagebuch/Brieftagebuch 

 323

Unter Brieftagebüchern sollen daher – faktual berichtende/erzählende sowie fiktionale – Texte verstanden werden, bei denen das Schreibersubjekt und das Objekt der Beschreibung zusammenfallen, eine authentifizierbare oder fiktive Adressierung und eine Gliederung des Textes in Tageseinheiten (oder ähnliche überschaubare Zeiteinheiten) vorliegen. Dazu zählen auch Texte, die im Paratext eine der beiden Gattungsbezeichnungen aufweisen und zugleich Merkmale der anderen Gattung auf sich vereinen bzw. eine oder beide Gattungen reflektieren und als Selbstbeschreibung verwenden. Brieftagebücher sind darüber hinaus theoretisch sowohl als autobiographische als auch als autofiktionale, d.  h. immer schon fiktionale Texte (vgl. de Man 1993; Bourdieu 2011; Strobel 2013) zu begreifen, die gegenüber dem Briefroman und/oder Tagebuchroman nur durch die Authentizität vs. Fiktionalität der Schreiber*innen und Adressat*innen voneinander abgegrenzt werden können. Dabei bleiben die Grenzen zwischen Brieftagebüchern und Brief- bzw. Tagebuchromanen insofern durchlässig, als auch für Brieftagebücher Mischformen zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen konstitutiv sind, so dass es am Ende der Entscheidung der Leser*innen überlassen bleibt, ob er/sie einen Text als autobiographisches Lebenszeugnis oder literarische Autofiktion oder eben als beides lesen möchte (vgl. Frank 1986). Zu beschreiben wäre daher für jeden einzelnen Text seine Prägung durch gattungspoetische Traditionen des Tagebuchs, Briefs und Romans und deren Reflexion, seine transitäre und hybridisierende Aneignung der Gattungen, seinen jeweiligen Fiktionalitäts- und Poetizitätsgrad und seine intertextuellen und diskursiven Beziehungen zur Tagebuch- und Briefliteratur. Eine Gattungstheorie und -geschichte zum Brieftagebuch wie zum Tagebuchroman (vgl. Kellner 2014) sowie eine systematische Sammlung von Brieftagebüchern gibt es – möglicherweise wegen der grundsätzlichen Heterogenität der Texte und der Abgrenzungsproblematik gegenüber anderen Gattungen aufgrund ihrer Hybridität – bisher (noch) nicht. Hier besteht ein Desiderat literaturwissenschaftlicher Forschung. Denn eine interdisziplinäre literatur-, kultur- und medienwissenschaftliche Forschung zum Brieftagebuch könnte einen zentralen Beitrag zur Geschichte hybrider und transitärer Formen von Tagebuch, Brief und Roman, zu einer historischen Autobiographie- und Autofiktionalitätsforschung und zur Geschichte literarischer „Selbsttechnologien“ (Foucault 1993) als Beitrag zur Diskursivierung von Subjektivität liefern. Trotz der Heterogenität dieser hybriden Form und der Diversität der Einzeltexte lassen sich in der Literaturgeschichte jeweils unterschiedliche gattungstypologische und diskursive Verknüpfungen und Beziehungen verfolgen, die z.  B. zwischen Johann Wolfgang von Goethe, Sophie von La Roche, Else Lasker-Schüler, Anne Frank und Rolf Dieter Brinkmann verlaufen. Ihre Gemeinsamkeiten bestehen in gattungspezifischen Merkmalen, narrativen und diskursiven Mustern und deren Reflexion; ihrer Verwischung der

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Grenzlinien zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen und der Mischung von Formen der Erzählung, des Berichts und der Reflexion von unmittelbarer Selbstund Umweltbeobachtung.

2 Anne Franks Brieftagebücher zwischen Zeugenbericht und Adoleszenzroman An den sogenannten Tagebüchern von Anne Frank wird die Besonderheit des Brieftagebuchs als hybride Form zwischen faktualem Bericht und literarischer Überformung, zwischen „Kunstwerk und Dokument“ (Lejeune 2014, 196) in seinen weitreichenden Konsequenzen idealtypisch deutlich. Denn hier handelt es sich um ein Tagebuch aus fiktiven Briefen an eine imaginäre Adressatin, dessen Schreibersubjekt sich namentlich mit der Autorin identifiziert. Als Tagebuch dient der Text zunächst der Selbsterforschung seiner jugendlichen Schreiberin, die ihre Strategien der Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis im Tagebuch reflektiert. Wie aus dem Tagebuch sehr schnell ein Brieftagebuch wird, dokumentiert der Text aufs Genaueste: So adressiert Frank ihre Tageseinträge zunächst exklusiv an das intime Tagebuch selbst, das sie unmittelbar anspricht und dem sie sich vorstellt, indem sie ihm ihre Geschichte erzählt: „Liebes Tagebuch ich hoffe daß niemals jemand dich liest außer meinem lieben süßen Mann“ (Frank 1988, 268). Ab September 1942 wechselt das Tagebuch in die Briefform, aus dem Tagebuch wird ein Brieftagebuch, das zunächst noch an verschiedene fiktive Adressatinnen, später mit dem Beginn des 2. Tagebuchhefts im Dezember 1943 ausschließlich an „Kitty“ gerichtet wird (Frank 1988, 492). Dass das personifizierte Tagebuch und die fiktive Adressatin identisch sind, reflektiert Version b, wenn Frank bekennt, sie wolle „dieses Tagebuch, die Freundin-selbst-sein lassen und diese Freundin heißt Kitty.“ (Frank 1988, 221) Die erfundene Adressatin ist Ersatz für eine fehlende intime Gesprächspartnerin und zugleich Spiegel des Selbst, ein nach Außen projiziertes alter ego. Die Wahl der Form des Brieftagebuchs kommt allerdings dabei nicht von ungefähr, sondern folgt einem literarischen Vorbild, dem Brieftagebuch in der Jugendliteratur, dessen begeisterte Leserin Anne Frank war, wie Waaldijk, Schroth und Lejeune für die fiktiven Adressatinnen gezeigt haben, die nach dem Vorbild von Cissy Marxveldts Jugendbuchserie Joop ter Heul entworfen sind (vgl. Waaldijk 1993, 331–335; Schroth 2006, 313; Lejeune 2014, 198). In der als Augenzeugenbericht geplanten Überarbeitung (Version b) werden diese fiktiven Charaktere aus der Jugendbuchserie nachträglich getilgt, beibehalten wird jedoch die Form des Brieftagebuchs an die eine imaginäre Adressatin. Mit ihm ist die narrative Form gefunden, nach der Frank ihre Aufzeichnungen gestal-

2.11 Brief und Tagebuch/Brieftagebuch 

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tet und die sowohl ihrer Selbstbeobachtung als auch ihrem Augenzeugenbericht einen narrativen Rahmen gibt. Während das Tagebuch, genauer Brieftagebuch, lange Zeit fast ausschließlich als Augenzeugenbericht über die Verfolgung und Vernichtung der Juden in den Niederlanden während der deutschen Besatzung gelesen wurde und noch gelesen wird, müssen Anne Franks nachgelassene Schriften über ihre Funktion der Zeugenschaft hinaus auch als literarische Texte verstanden werden. Denn erst mit der kritischen Ausgabe des Rijksinstituuts voor Oorlogsdocumentatie wurde 1986 nicht nur die Existenz sich deutlich voneinander unterscheidender Fassungen bekannt und nachvollziehbar, sondern auch ihre Entstehungsgeschichte überliefert (vgl. Frank 1986, 67–89; Lejeune 2014), die eindeutig darauf hinweist, dass Anne Frank ihr Brieftagebuch (Version a) bewusst für eine spätere Publikation unter dem Titel Het Achterhuis (Version b) literarisch überarbeitet hat. Ihre Publikationsabsicht muss aber schon recht früh während des Schreibprozesses mit der bewussten Nachahmung der Form des Brieftagebuchs aus der Jugendbuchliteratur und nicht erst mit dem Aufruf des niederländischen Außenministers am 28. März 1944 zur diarischen Dokumentation der nationalsozialistischen Verbrechen entstanden sein. Doch überliefert das Brieftagebuch ab diesem Zeitpunkt erst explizit ganz unterschiedliche Publikationspläne für das Tagebuchmaterial entweder als ‚Adoleszenzroman‘ unter dem Titel „Die Bekenntnisse eines häßlichen jungen Entleins“ (Frank 1988, 687) oder als dokumentarischer „Roman vom Hinterhaus“ (Frank 1988, 658, 735). Frank reflektiert wiederholt über die Funktion ihres Schreibens, so z.  B. wenn sie ihm eine Berichts- und Aufklärungsfunktion gegenüber ihrer fiktiven Adressatin als Stellvertreterin einer späteren allgemeinen Leserschaft attestiert: „Da du noch nie einen Krieg mitgemacht hast, Kitty und du trotz all meiner Briefe doch noch wenig vom Verstecken weißt, werde ich dir zum Spaß mal erzählen was der erste Wunsch von uns acht ist wenn wir wieder mal hinauskommen.“ (Frank 1988, 667) Dazu entwickelt sie ein Selbstverständnis als Autorin (Frank 1988, 668–669). Auf diese Weise geben sich die erhaltenen Fassungen von Anne Franks Brieftagebüchern als hybride Formen aus intimem Brieftagebuch an fingierte Adressaten (Version a) und dessen Umschrift für die Publikation (Version b), von Augenzeugenbericht und empfindsamem Adoleszenzroman in jeweils graduellen Abstufungen zu erkennen, so dass es gerade auch in der Version a bereits als literarischer Text wahrgenommen werden muss. Der Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg und die Shoah werden darüber hinaus in Tagebüchern aus unterschiedlichsten Perspektiven dokumentiert, unter denen auch eine Reihe von Brieftagebüchern, wie Margret Boveris Tage des Überlebens. Berlin 1945 an die „Freundin Gert Reiss“ und als „Rundbrief für meine Freunde“ (Boveri 1968, 7) verfasst oder Alfred Anderschs Tagebuch in Briefen an Hedwig Andersch, zu finden sind (vgl. Sederberg 2015).

326 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

3 Brieftagebücher des 18. Jahrhunderts 3.1 Goethes Tagebuch der Italienischen Reise für Frau von Stein Tagebücher haben wie Briefe im 18. Jahrhundert Konjunktur und werden zunächst überwiegend für den privaten Gebrauch, z.  T. allerdings auch bereits im Bewusstsein und mit der Option einer nachträglichen Publikation verfasst. Insbesondere auf Reisen werden tägliche Aufzeichnungen für daheim gebliebene Adressaten verfasst, die in regelmäßigen Abständen mit der Post versendet werden. Das wohl berühmteste Beispiel für ein solches Brieftagebuch ist Goethes Tagebuch der Italienischen Reise für Frau von Stein aus dem Jahr 1786, das sich durch seine Form ganz wesentlich von der später auf dieser Basis entstandenen Italienischen Reise I von 1816 unterscheidet. Denn das Brieftagebuch zeichnet sich zunächst durch den dialogischen Bezug auf die abwesende Adressatin aus, die die Wahrnehmung des Reisenden prägt, wenn er sich auferlegt, mit ihren Augen zu sehen. So lässt er es sich zur Routine werden, seine Tage mit der Aufzeichnung des Vortages für Charlotte von Stein zu beginnen: „Mein erstes ist dir das Gute des vergangnen Tages mitzutheilen“ (Goethe 1993, 612), oder im epistolaren Dialog mit ihr zu beenden: „Du kannst immer dencken daß ich dir bey einbrechender Nacht schreibe, denn da ist mein Tagewerck vollbracht.“ (Goethe 1993, 669) Gleichzeitig drückt er wiederholt sein Bedauern aus, die Eindrücke der Reise nur schriftlich mit der Adressatin teilen zu können, führt Klage über ihre Trennung: „Wie sehnlich wünsch’ ich dich einen Augenblick neben mich, damit du dich mit mir der Aussicht freuen könntest die vor mir liegt.“ (Goethe 1993, 630) Schließlich reflektiert er über die Differenz zwischen unmittelbarer Anschauung und brieflicher Schilderung: „Einige Mühlen über dem reißenden Strom waren völlige Everdingen. Wenn ich dir sie nur vor die Augen hätte stellen können.“ (Goethe 1993, 624) Als epistolare Kommunikation erfüllt der Text seine Funktion, die Beziehung über die persönliche, räumliche Trennung hinweg aufrechtzuerhalten, über die Vergegenwärtigung des Anderen in der direkten Adressierung. Als Tagebuch folgt der Text seiner zentralen gattungspoetischen Funktion der Selbstreflexion und des Selbstbekenntnisses und betreibt ‚Selbsttechnologie‘ im Sinne Foucaults. Goethe konzipiert das Reisetagebuch damit konsequent entlang der Gattungsnorm als autobiographischen Bericht der Überwindung einer Persönlichkeitskrise, wenn er der Adressatin Rechenschaft über die einzelnen Stationen seines psychischen Heilungsprozesses von der „alten hockenden und schleichenden […] Manier“ (Goethe 1993, 608) bis hin zum Wiedergeburtserlebnis in Rom ablegt: „Gewiß ich hoffe auf dieser Reise ein Paar Hauptfehler, die mir ankleben, loszuwerden.“ (Goethe 1993, 607) Analog

2.11 Brief und Tagebuch/Brieftagebuch 

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zur Annäherung an das Reiseziel dokumentiert das Brieftagebuch die Persönlichkeitsentwicklung und künstlerische Ausbildung seines Schreibers. So beschreibt Goethe seinen Zustand in der „Sorge um sich“ (Foucault 1993, 41) beim Aufbruch als pathologisch, dem er mit der Reise therapeutisch begegnen will: [M]ir ists nur jetzt um die sinnlichen Eindrücke zu thun, die mir kein Buch und kein Bild geben kann, daß ich wieder Interesse an der Welt nehme und daß ich meinen Beobachtungsgeist versuche, und auch sehe wie weit es mit meinen Wissenschaften und Kenntnissen geht, ob und wie mein Auge licht, rein und hell ist, was ich in der Geschwindigkeit fassen kann und ob die Falten, die sich in mein Gemüth geschlagen und gedruckt haben, wieder auszutilgen sind. (Goethe 1993, 626)

Das Brieftagebuch gerät so zur Chronik eines kontinuierlichen Heilungsprozesses, der mit seinen zentralen Stationen der Reise zusammenfällt. In Padua diagnostiziert und reflektiert er seine Verfassung unter dem normativen Zwang zum authentischen Selbstbekenntnis gegenüber seiner Adressatin mit dem Geständnis, „daß meine Existenz wie ein Schneeball wächst, und manchmal ists als wenn mein Kopf es nicht fassen noch ertragen könnte, und doch entwickelt sich alles von innen heraus“ (Goethe 1993, 674). So amalgamiert Goethes Tagebuch der Italienischen Reise für Charlotte von Stein als Brieftagebuch Rhetoriken, Erzählmuster und Schreibverfahren autobiographischer Gattungen mit den zentralen Funktionen beider Gattungen (vgl. Foucault 1993, 40). Goethes Brieftagebuch folgt daher doppelten Gattungsvorschriften, wenn er seine Rhetorik der Selbsterforschung an eine exklusive Adresse richtet, vor der er nicht nur Rechenschaft über sich selbst ablegt, sondern auch zugleich mit dem intimen Selbstbekenntnis eine intensive Beziehung in absentia stiftet.

3.2 Sophie von La Roches Reisebrieftagebücher Sophie von La Roches Reisetagebücher an ihre Töchter stehen in der Tradition von Goethes empfindsamem Reisebrieftagebuch. Alle drei Reisen, in die Schweiz, nach Frankreich und in die Niederlande und England, die Sophie von La Roche unternimmt, dokumentiert sie in ausgedehnten an ihre Töchter adressierten Briefen, die von Beginn an bereits auf ihre nachträgliche Publikation als Reisetagebücher hin angelegt sind. So tragen die ersten beiden Briefe neben Ortsangabe und Datum noch die abgesetzte direkte Anrede „Geliebte Töchter!“ und „Guten Morgen, liebe Kinder!“, die den Briefcharakter des Reisetagebuchs durch die erzeugte Unmittelbarkeit mit der Reflexion auf die Situation der Abwesenden markiert. Das Journal einer Reise durch Frankreich leitet La Roche mit einer direkten Leseanweisung an die Töchter ein:

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Hier, liebe Töchter, empfahet wieder ein Tagebuch von einer neuen grösern Reise Eurer Mutter, welches für euch noch angenehmer seyn wird, als dies von der Schweiz.  […] Ich wünsche aber, meine lieben Töchter, daß Ihr diese zwey Tagebücher als Umrisse von Gemälden ansehen möchtet, wovon eines die Wunder der Natur, und das andre die Wunder der Kunst in sich faßt, so wie sie von Eurer Mutter in einem kurzen Zeitraum bemerkt werden konnten. (La Roche 2006, 77)

La Roche spielt in ihren Reisebrieftagebüchern mit der doppelten – privaten wie öffentlichen – Adressierung, die ihren besonderen Reiz für das allgemeine Lesepublikum ausmacht, da sie den Leser*innen versprechen, in der Lektüre exklusiv an privater Kommunikation partizipieren zu können. Bei der dritten „Schweizerreise“ (La Roche 1793), die La Roche nach dem Tod ihres Sohnes auf Anraten ihrer Töchter unternimmt, tritt die Tagebuchfunktion in den Vordergrund, da das Schreiben hier insbesondere der Auseinandersetzung mit dem Tod (vgl. Foucault 2007a, 135; Lejeune 2014, 359), der Trauerarbeit und Selbsttherapie, dient. Der Text stellt daher die Selbstreflexion des schreibenden Subjekts ins Zentrum und vergleicht seine Wahrnehmungen auf der Reise mit denen der ersten. Die Analyse des inneren Erlebens der Schreiberin dominiert über die Schilderung der äußeren Welt und reproduziert noch einmal die empfindsame Semantik autobiographischer Selbstexploration, wie La Roche bereits eingangs eingesteht: Schönheit und Größe der Natur sollten mich trösten und stärken, Freunde mich zerstreuen: aber liebe Kinder! so war es nicht. Mein Herz ist in seinem Innersten getroffen. Ehmals war ein Blick auf eine schöne Gegend – Erquickung, im größten Leiden meiner Seele; und gewiß Kinder! Meine Tagen waren oft sehr traurig, […] ach, die schöne mir sonst so liebe Erde ist nun nichts, als das Grab des besten edelsten Sohns. (La Roche 1793, 4)

Während der Reise formuliert sie die Funktion ihres Schreibprozesses: „Diese Blätter meine Töchter! sollen zu Ergiessung meiner Seele dienen, und nach meiner Rückkunft mich über mich selbst belehren.“ (La Roche 1793, 54) Was im Erleben auf der Reise nicht gelingt, leistet vielmehr der Schreibprozess, der das frühere Erleben einer erhabenen, Gottes Schöpfung feiernden Natur zum dunklen melancholischen Seelenspiegel in Erinnerung an den Verlust des Sohnes umcodiert (Schönborn 1999, 167–187).

2.11 Brief und Tagebuch/Brieftagebuch 

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4 Hybridisierungen von Brief, Tagebuch und Roman 4.1 Cornelia Goethe: Correspondance secrète. Tagebuch für Katharina Fabricius 16. Oktober 1767 bis 16. August 1769 Cornelia Goethe gehört wie viele gebildete Frauen des 18. Jahrhunderts zu denjenigen, die nicht nur von der allgemeinen Literalisierung profitieren, sondern sich auch selbst auf die Autorenrolle hin entwerfen. Dabei gehören der Brief und das Tagebuch zu den bevorzugten Gattungen weiblicher Autorschaft, wie sie z.  B. von Christian Fürchtegott Gellert und Cornelia Goethes Bruder propagiert wurden. Die Schwester verfasst zwischen 1767 und 1769 Briefe, die sie als „geheimes“ Tagebuch an ihre Freundin Katharina Fabricius adressiert. In diesem epistolaren Diarium entwirft sich ein weibliches Ich nach dem Vorbild des empfindsamen Briefromans (vgl. Prokop 1985; Bär 2000) und schreibt sein Leben in einzelnen Episoden zum Roman nach dem Muster Samuel Richardsons und Jean-Jacques Rousseaus um. Auf den Vorbildcharakter des empfindsamen Romans für ihr eigenes Schreiben weist die Briefschreiberin explizit im ersten autoreflexiven Brief hin und steckt damit zugleich den Horizont ab, in dem sie ihren eigenen Text verorten möchte: Schon lange habe ich diesen geheimen Briefwechsel beginnen wollen, mittels dessen ich Ihnen alles berichtenwill [sic!] was hier vorgeht; aber die Wahrheit zu sagen ich habe mich immer geschämt Sie mit Lappalien zu belästigen  […]. Zuletzt habe ich diese Bedenklichkeiten überwunden, als ich die Geschichte von Sir Charles Grandison las, ich gäbe alles in der Welt darum wenn es mir in einigen Jahren gelänge der vortrefflichen Miss Byron auch nur ein ganz klein wenig ähnlich zu werden. (Goethe 1990, 43)

Diese Ähnlichkeit stellt sie – wenn auch nicht im Leben – so dafür im Schreiben her, indem sie ihre Briefe als unmittelbaren und authentischen Ausdruck eines empfindsamen weiblichen Subjekts an eine gleichgesinnte „zärtliche Freundin“ (Goethe 1990, 118) annonciert: „Sie dürfen in diesen Briefe nichts Vorbedachtes erwarten, es spricht das Herz, und nicht der Verstand.“ (Goethe 1990, 44) Eben dies hatte Gellert in seiner empfindsamen Brieflehre gefordert, die sein junger Hörer an der Leipziger Universität an seine Schwester weitervermittelt. Romanhafte Züge nimmt das Brieftagebuch mit seinen dialogisch ausgestalteten Erzählungen, seiner empfindsamen Semantik und der für Rousseau typischen Unmittelbarkeitsgeste im Zusammenfallen von Schreiben und Leben, aber vor allem durch die Konstruktion einer homogenen, in sich geschlossenen Erzählung im ersten Teil an, bei der das Disparate und Kontingente des Tagebuchs in den Hintergrund tritt. Cornelia Goethes Correspondance secrète steht damit als unpubli-

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

ziertes Romanfragment auch in direkter Korrespondenz mit dem Erfolgsroman des Fräulein von Sternheim von Sophie von La Roche.

4.2 Goethe: Die Leiden des jungen Werthers Goethes erster Roman wird gemeinhin als Beitrag zu der für das 18. Jahrhundert typischen Form des Briefromans gelesen. An ihm fällt allerdings auf, dass er entgegen der Gattungstradition nicht aus einer Sammlung von Briefen zweier oder mehrerer Dialogpartner, sondern ausschließlich aus Briefen des Protagonisten an einen stummen Partner besteht, so dass dem Roman die dialogisch-vielstimmige Natur des Briefromans fehlt. In der Forschung wird der Roman gattungstypologisch daher zwischen „Briefmonolog“ (Miller 1968, 204), „lyrischem Monolog“ (Mattenklott 1997, 69), „monologischem Tagebuch“ (Miller 1968, 212), „an intimate journal much more closely than the similarly constructed novels“ (Martens 1985, 86) oder zuletzt als Form der „Autokommunikation“ zwischen der Gattung des „Selbstgesprächs“ (Wittler 2014, 506–510), dem „Monodrama“ (Wittler 2014, 510– 516) und dem „lyrischen Gedicht“ (Wittler 2014, 529–532) positioniert. In diesem Sinne weist Valk auf die „eigentümliche[], zwischen brieflichem Dialog und diaristischem Monolog“ liegende Form des Romans hin (Valk 2012, 194). Denn es geht im Werther gerade nicht um die Korrektur eines Selbstentwurfs im Dialog mit dem Briefpartner und damit für die Leser*innen um ein multiperspektivisches Erzählverfahren, das die Aussagen des Protagonisten kritisieren oder gar infrage stellen könnte. Dagegen haben wir es hier mit einem gegen die Gattungskonvention verstoßenden rein monologischen Briefroman zu tun, der gerade das, was ihn zu einem solchen macht, nämlich seine Dialogizität, nahezu vollständig vermissen lässt (vgl. Günther 2009, 81–82). Auch fehlt jede Adressierung der Briefe, der Name des Adressaten, Wilhelm, wird zum ersten Mal am 29. Juni erwähnt, er selbst kommt im Roman nicht oder nur über Werther vermittelt zu Wort, wie in dem Brief vom 8. August (vgl. Goethe 1994, 86–87). So tendiert der Roman schon rein formal durch die um Anrede und Grußformel reduzierte Briefform und seine monologische Anlage zum Tagebuch. Denn der Adressat bleibt weitgehend schemenhaft, wird immer mehr zum Phantom, so dass er fast als Phantasieprodukt des um seine Identität ringenden Helden erscheint, der sich mit Wilhelm ein alter ego, eine Spiegelfigur erschafft, die ausschließlich still im Hintergrund agieren und Entscheidungen treffen darf (Goethe 1994, 114). Diese diaristische Tendenz des Briefromans lässt nicht nur die Pathologie der Figur unmittelbarer und unkontrolliert hervortreten, sondern leistet auch einer unkritischen, identifikatorischen Rezeption Vorschub. Als Brieftagebuchroman gelesen folgt die Figur Werther aber als pathologischer Fall der Empfindsamkeit noch einmal den gattungspoetischen

2.11 Brief und Tagebuch/Brieftagebuch 

 331

Regeln der Selbstthematisierung und Selbstspiegelung im doppelten Sinne (des Briefes und des Tagebuchs), auf deren Potenzierung im Roman Terence J. Reed hinweist, wenn er über die Funktion der parallelen Tagebuchführung Werthers und des kurzen Tagebuchauszugs in der Zweitfassung reflektiert. So trägt der Roman Züge eines Brieftagebuchromans wie des ‚lyrischen Gedichts‘, des ‚Monodramas‘ oder des ‚Selbstgesprächs‘, ohne doch selbst auf eine dieser Formen sich ausschließlich festlegen zu lassen, und weist in dieser Unentscheidbarkeit auf seine grundsätzliche gattungspoetische Hybridität hin. Sophie von La Roche bedient mit Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St** aus dem Jahre 1786 diese beliebte homodiegetische Form eines an eine exklusive Adresse gerichteten monologischen Briefromans in Werther-Nachfolge, der zweifelsfrei als Tag für Tag chronologisch erzählender Brieftagebuchroman gelesen werden kann. Ein Beispiel für einen Brieftagebuchroman des 20. Jahrhunderts liegt in Barbara Honigmanns Alles, alles Liebe! aus dem Jahr 2000 vor, in dem die Protagonistin täglich an verschiedene Adressaten aus ihrem Leben als Theaterregisseurin in der DDR-Provinz berichtet und zugleich aus der Perspektive einer deutschen Jüdin die Geschichte des Nationalsozialismus und ihre Erfahrung der Gegenwart in der DDR reflektiert.

4.3 Else Lasker-Schüler: Briefe nach Norwegen und Mein Herz als Spiel mit der Gattung des Brieftagebuchs In der Zeitschrift Der Sturm veröffentlicht Else Lasker-Schüler zwischen September 1911 und Juni 1912 unter dem Titel Briefe nach Norwegen ein wöchentlich geführtes Brieftagebuch an ihren Ehemann und dessen Begleiter, mit dem sie gleich mehrere Grenzüberschreitungen begeht. In Bezug auf die Gattungen des Briefs und des Tagebuchs überschreitet sie mit diesen Texten die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem, faktualem und fiktionalem Erzählen und vermischt diese darüber hinaus bis zur Ununterscheidbarkeit (vgl. Schönborn 2015). So plaudert sie einerseits scheinbar Intimstes öffentlich im Medium der Zeitschrift aus, nennt die Personen ihres direkten Umfelds in den Briefen mit Namen oder aber verschlüsselt sie leicht erkennbar, beziehungsreich und höchst inkonsequent. Freunde und Bekannte aus ihrem Künstlerumfeld macht sie ebenso zu literarischen Figuren wie sie selbst in Gestalt ihrer literarischen Figur, als Prinz von Theben, auftritt und so die Trennung von Wirklichkeit und Literatur nicht nur aufhebt und ihre Beziehung zueinander umkehrt, indem das Leben die Literatur nachahmt, sondern Literatur im Selbstzitat romantisch potenziert. Mit diesen Formverstößen und Tabubrüchen leistet sie in der Künstlerzeitschrift Der Sturm Kritik an einem Genre des Massenmediums Zeitung, dem

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Feuilleton, wenn sie ihr Brieftagebuch als intime Plauderei eines exzentrischen Schreiberinnen-Ichs über sein Liebesleben im Kontext der Künstler- und Intellektuellenszene um den Sturm und sein Zentrum, das Café des Westens, betreibt. So nutzt sie das Medium Zeitschrift zur kritischen Selbstbeobachtung und -reflexion, hält der Künstlergemeinschaft mit ihren provokanten Enthüllungen und Erzählungen einen Spiegel vor. Mit ihrem geschwätzig-skandalösen Enthüllungsjournalismus eines narzisstischen weiblichen Schreiber-Ichs mischt Lasker-Schüler im fiktiven Brieftagebuch, das auch nach der Rückkehr der Adressaten fortgesetzt wird, Gegensätzliches, wenn sie die Briefe zugleich für kulturkritische Raisonnements nach dem Vorbild von Karl Krausʼ Fackel nutzt. So lassen sich in den Briefen Spuren der traditionellen Sparten des Feuilletons der Zeit wie die Theater(Jedermann-Aufführung) und Ausstellungskritik (Oskar Kokoschka-Ausstellung bei Paul Cassirer) sowie Themen und Gegenstände des Großstadtfeuilletons bis zur Unkenntlichkeit verfremdet wiederfinden wie die Berliner Kaffeehauskultur, die Orientausstellungen im Lunapark und die Weihnachtsausstellung in Castanʼs Panoptikum. Lasker-Schülers Briefe nach Norwegen in der Zeitschrift Der Sturm schließen damit die seit Heines Briefe[n] aus Berlin eingeführte Form des Briefs aus der Metropole im Feuilleton der Tageszeitungen mit dem Brieftagebuchroman aus dem 18. Jahrhundert kurz und lassen daraus eine karnevaleske Mischung des Inkommensurablen entstehen. Die Umschrift des Materials zum Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen unter dem Titel Mein Herz lässt den tagesaktuellen kulturkritischen Diskurs der Sturm-Briefe weitgehend zurücktreten und stellt die vielfältigen Beziehungsgeschichten der Briefschreiberin programmatisch wie ironisch-spielerisch als Beitrag zum ‚Liebesbriefsteller‘ in den Vordergrund: „Ganz recht, ich werde anfangen, meine Briefe an Euch zu sammeln, und sie später unter dem Titel ‚Herzensbriefe, alleinseligmachender Liebesbriefsteller, gesetzlich geschützt‘ herausgeben. Vorwort: Alle bis dahin vorhandenen Liebesbriefsteller hinterlassen Übelkeit und Magendruck.“ (Lasker-Schüler 1996, 312) Mit dieser Absichtserklärung zitiert Lasker-Schüler die Tradition des empfindsamen Romans einer Sophie von La Roche als Medium weiblicher Selbstentwürfe (vgl. Bischoff 1999), wenn sie in Anspielung auf diese Form auf die diskursiven Präfigurationen weiblichen Schreibens hinweist, um sie mit ihrer parodistischen Aneignung kritisch zu unterlaufen.

4.4 Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke Rolf Dieter Brinkmann verfasst im Jahr 1972/73 während seines Aufenthalts als Stipendiat der Villa Massimo in Rom ein – posthum publiziertes – Konvolut von Briefen und Aufzeichnungen, das von der Forschung heute den so genannten

2.11 Brief und Tagebuch/Brieftagebuch 

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„Materialheften“ der letzten Jahre zugerechnet wird. Rom, Blicke trägt keine Gattungsbezeichnung und besteht aus einer Sammlung von tagebuchartigen Aufzeichnungen, beginnend mit der Zugfahrt von Köln nach Rom, Briefen und Postkarten vornehmlich an Maleen Brinkmann, davon zwei über mehrere Tage entstandene, über hundertseitige Briefe aus Rom und Olevano, über fünfzig eng beschriebenen Postkarten z.  T. in Fortsetzung, zwei Briefen und Postkarten an die Freunde Helmut Piper und Henning John von Freyend, des Weiteren aus Fotos, beschriftetem Kartenmaterial und einmontiertem Text- und Bildmaterial. Die Ergänzung von Manuskripten und Typoskripten durch einmontiertes Fremdmaterial oder von Zeichnungen gehört zur verbreiteten Praxis epistolarer Korrespondenz und der Tagebuchführung. Alle Briefe sind mit einem Datum und einer Adresse versehen, die Tagebuchpassagen sind mit Orts- und Datumsangabe überschrieben. Briefe und Tagebuchpassagen zeichnen sich durch die für beide Gattungen konstitutive zeitliche Nähe zwischen Erleben und Schreiben aus. Dass gerade die langen Briefe zum Brieftagebuch tendieren, belegt ihre interne Gliederung durch Zeitangaben wie „später“ (Brinkmann 1979, 109), „viertel vor 5 nachmittags“ (Brinkmann 1979, 90), „5 vor 2 nachts a. m.“ oder: „Jetzt ist es mitten in der Nacht“ (Brinkmann 1979, 306); „Gerade habe ich mit Dir am Telefon gesprochen“ (Brinkmann 1979, 302); „inzwischen sind wieder Tage verstrichen, Tag und Nacht, diese schwarzweiße Show“ (Brinkmann 1979, 278). Ergänzt werden diese genauen Zeitangaben des Schreibprozesses durch Formeln der Unmittelbarkeit wie: „Ich lehne mich auf dem Stuhl zurück: es ist nichts, es ist ruhig, hier bin ich, in diesem Moment, anwesend.“ (Brinkmann 1979, 278) – „Ich tippe und tippe den Brief an Dich.“ (Brinkmann 1979, 296) Damit dehnt sich der einzelne Brief zum Brieftagebuch aus. So fragt sich Brinkmann selbst: „Ist das noch ein Brief? Ich schreibe immerzu an Dich.“ (Brinkmann 1979, 135) Der erste diaristische Eintrag stammt vom 14. Oktober 1972, „Köln Hbf 0 Uhr 12“ (Brinkmann 1979, 6), im Zug unmittelbar vor Reisebeginn verfasst, und dokumentiert wie Goethes Italienisches Tagebuch für Frau von Stein den Moment des Aufbruchs nach Rom. Der erste Brief an Maleen Brinkmann vom 18. Oktober liefert einen Bericht von der Reise, der Ankunft in der Villa Massimo und eine genaue Beschreibung ihrer Topographie. Schauplatz des zweiten ausufernden Briefes wird die Reise zu einer Lesung nach Graz und ein anhand eines Stadtplans genau dokumentierter Erkundungsgang durch Rom. Noch umfangreicher gestaltet sich das epistolarische Tagebuch von Brinkmanns Aufenthalt in Olevano zu Weihnachten 1972. Nur ein Brief fällt aus dem Briefkonvolut heraus, da er den Gegenbrief als Dokument einer Auseinandersetzung unter Dichterkollegen mitliefert. Nur in diesem einen Fall durchbricht das Buch seine monologische Anlage, wenn in dem Briefwechsel zwischen Hermann Peter Piwitt und Brinkmann das diametral entgegengesetzte Literaturverständnis der beiden verhandelt wird. Während Piwitt

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

eine politische Literatur der Studentenbewegung in Bertolt Brecht-Nachfolge vertritt, favorisiert Brinkmann mit Friedrich Nietzsche, Gottfried Benn, Hans Henny Jahnn, Arno Schmidt eine Literatur des Einzelnen jenseits politischer Ideologien und Großtheorien als Provokation des vorherrschenden Literaturverständnisses der 68er Bewegung. Zwischen diesen Briefen und Postkarten finden sich drei Eintragungen ohne direkte Adressierung mit eindeutigem Tagebuchcharakter. Die materielle Authentizität dieses Brieftagebuchs repräsentiert die Ausgabe nur in ganz wenigen Fällen wie z.  B. im reprographischen Nachdruck der handschriftlichen Textpassage zu einem kommentierten Lageplan der Villa Massimo (vgl. Brinkmann 1979, 24–25) und dem Piwitt-Brief (vgl. Brinkmann 1979, 258–267). Im Kontext der beiden anderen Materialbände kann Rom, Blicke als ein Versuch gelesen werden, mit dem Rückgriff auf die Gattungen des Briefs und des Tagebuchs nicht nur die lange Tradition literarischer Romreisen und insbesondere Goethes Italienisches Tagebuch an Frau von Stein fortzusetzen, sondern auch mit der Form des Romans (vgl. Brinkmann 1979, 164) zu experimentieren, an dessen Stelle das Brieftagebuch als neue radikal auf sein Autorensubjekt zentrierte Reflexionsprosa tritt, ergänzt um eine Sammlung alltäglich abfallenden Text- und Bildmaterials. Brinkmanns Brieftagebuch (vgl. Rohde 1998; Amodeo 1999) hat mit dem Goethe’schen seine Entstehungsgeschichte gemeinsam, wenn Brinkmann es auch nicht mehr selbst publizieren konnte. Denn beide entstehen zwar als authentische, adressierte und expedierte Briefe, werden aber bereits im Schreibprozess auf ein größeres, allgemeines Lesepublikum hin entworfen, das beim Schreiben bereits im Hintergrund präsent ist, so dass die Adressierung generell als eine doppelte gedacht werden muss: Die eine richtet sich an das exklusiv im Brief adressierte Gegenüber und die andere an den anonymen Leser. Brinkmann nimmt damit die Tradition (geschichts-)philosophischer, ästhetischer sowie kulturkritischer Beobachtungen, Aufzeichnungen und Reflexionen im Brieftagebuch wieder auf. Die an Maleen Brinkmann adressierten Briefe, die sich zu diaristischen Aufzeichnungen über viele Tage hinweg oder zum Brieftagebuch als Fortsetzungsroman auf Postkarten ausdehnen, konterkarieren die Form von Goethes Reisetagebuch für Frau von Stein zum Roman eines Schreibersubjekts, dem Goethes doppeltes Bildungserlebnis als Subjekt und als Künstler an dem Ursprungsort europäischer Kultur verwehrt bleibt und das sich stattdessen in sein genaues Gegenteil, die Abrechnung mit der Geschichte des Abendlandes wie der Gegenwart, umkehrt. In den Briefen und Postkarten liest Brinkmann die Antike und das christliche Abendland im Stadtbild als Zeichen einer Geschichte wechselnder Herrschaften, die sich zu einer Gegenwartskulisse des Verfalls aus Sex, Geld und Tod zusammenfügt. „Auch ich in Arkadien“ akzentuiert als Motto bei Brinkmann daher die Präsenz des Todes in der Gegenwart und nicht wie bei Goethe ein emphatisches Arkadienerlebnis. Das Subjekt, das sich durch diese Gegenwart bewegt, erfährt die Ewige

2.11 Brief und Tagebuch/Brieftagebuch 

 335

Stadt nicht mehr als Therapeutikum für seine Krise, sondern als dessen genaues angstauslösendes, sein Ich bedrohendes und beschädigendes Gegenteil: „Man müßte es wie Göthe machen, der Idiot: alles und jedes gut finden/was der für eine permanente Selbststeigerung gemacht hat, ist unglaublich, sobald man das italienische Tagebuch liest: jeden kleinen Katzenschiß bewundert der und bringt sich damit ins Gerede.“ (Brinkmann 1979, 115) Brinkmann begreift entgegen Goethe die Antike als „Lumpenschau“ (Brinkmann 1979, 47) und Europa mit Arno Schmidt als dem Untergang geweiht. Das Brieftagebuch wird so zur Gegenwartsdiagnose auf der Basis eines pessimistischen geschichtsphilosophischen Entwurfs und zur Kontrafaktur (vgl. Menke 1998, 204; Adam 1989) von Goethes Reisetagebuch, die der Schreiber aus seinen Lektüreerträgen und Fundstücken der alltäglichen Umwelt zusammenfügt. Brinkmanns Brieftagebuch an wechselnde Adressaten versteht sich als Gegenwartsanalyse aus einer radikal subjektiven Wahrnehmungsperspektive, die von der Lektüre ihrer geschichtspessimistischen Prätexte geprägt ist. Es oszilliert zwischen dem intimen Dialog mit der abwesenden Partnerin, schreibender Selbstvergewisserung, Auseinandersetzung mit Literatur und Lektürespuren und analytischer Gegenwartsbeobachtung. In dieser Hinsicht folgt es als diaristische Selbsttechnologie allerdings wie das Vorbild Goethes (vgl. Rohde 1998, 221; Lange 2000, 275) erneut den doppelten Gattungsnormen von Brief und Tagebuch. Gattungspoetisch tritt das Brieftagebuch neben den anderen beiden Materialbänden an die Stelle eines zweiten geplanten Romans, indem es an nicht erzählende Formen, an ein essayistisches Schreiben auf der Basis diskursiver Intertextualität anknüpft.

5 Ausblick: Blog als Brieftagebuch An Brinkmanns Materialbände knüpfen die digitalen Formate der Selbstpoetik (vgl. Kreknin 2014, 21–22, 263–271) wie Rainald Goetzʼ Abfall für alle als erstes E-Mail-Tagebuch und sein digitales Nachfolgeprojekt, das Blog Klage, oder Alban Nikolai Herbsts Die Dschungel. Anderswelt, Sven Regeners Logbücher oder Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur als neue mediale Formate eines öffentlichen Tagebuchs (vgl. Herbst 2012, 188), adressiert an unbekannte Leser*innen/Nutzer*innen, an. Im Blog sind Spuren gattungspoetischer Muster des Briefs und des Tagebuchs wie die personale und zeitliche Unmittelbarkeit und Authentizität der Kommunikation, die simulierte Mündlichkeit, und die Selbstbeobachtung und Selbstreflexion als mediale Inszenierungen des Selbst (vgl. Hagestedt 2011) nachweisbar.

336 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Zitierte Literatur Andersch, Alfred (1986). „…einmal wirklich leben“. Ein Tagebuch in Briefen an Hedwig Andersch 1943 bis 1975. Hg. v. Winfried Stephan. Zürich. Adam, Wolfgang (1989). „Arkadien als Vorhölle. Die Destruktion des traditionellen ItalienBildes in ‚Rom, Blicke‘“, in: Euphorion, 83.2: 226–245. Amodeo, Ammacolata (1999). „Rolf Dieter Brinkmanns Versuch, ohne Goethe über Italien zu schreiben“, in: Arcadia, 34.1: 2–19. Bär, Gerald (2000). Cornelia Goethe: An Individuality out of Richardson’s Novels. The Novel in Anglo-German Context. Hg. v. Susanne Stark. Amsterdam u. New York: 37–49. Bischoff, Doerte (1999). „Herzensbühne und Schriftkörper. Transformationen des Briefromans in der Moderne am Beispiel von Else Lasker-Schülers ‚Mein Herz‘“, in: Mutual Exchanges: Sheffield-Münster Colloquium II. Hg. v. Dirk Jürgens. Frankfurt a. M. u.  a.: 41–58. Brinkmann, Rolf Dieter (1979). Rom, Blicke. Reinbek bei Hamburg. Bourdieu, Pierre (2011). „Die biographische Illusion“, in: Ders. Theorie der Biographie. Grund­ lagentexte und Kommentar. Hg. v. Bernhard Fetz u. Wilhelm Hemecker. Berlin u. New York: 303–310. Boveri, Margret (1968). Tage des Überlebens. Berlin 1945. München. Canetti, Elias (1975). „Dialog mit dem grausamen Partner“, in: Ders. Das Gewissen der Worte. Essays. Frankfurt a. M.: 54–71. De Man, Paul (1993). „Autobiographie als Maskenspiel“, in: Ders. Die Ideologie des Ästhetischen. Hg. v. Christoph Menke. Frankfurt a. M.: 131–147. Foucault, Michel (1993). „Technologien des Selbst“, in: Ders. Technologien des Selbst. Hg. v. Luther H. Martin, Huck Gutman u. Patrick H. Hutton. Frankfurt a. M.: 24–62. Foucault, Michel (2007a). „Die Hermeneutik des Subjekts“, in: Ders. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange. Ausgewählt u. mit einem Nachwort v. Martin Saar. Frankfurt a. M.: 123–136. Foucault, Michel (2007b). „Über sich selbst schreiben“, in: Ders. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange. Ausgewählt u. mit einem Nachwort v. Martin Saar. Frankfurt a. M.: 137–154. Frank, Anne (1988). Die Tagebücher. Hg. v. David Barnouw u. Gerrold van der Stroom. Frankfurt a. M. Goethe, Cornelia (1990). Briefe und correspondance secrète 1767–1769. Hg. v. Melanie Baumann. Freiburg i.Br. Goethe, Johann Wolfgang von (1994). Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 8. Die Leiden des jungen Werthers. Hg. v. Waltraud Wiethölter in Zus. mit Christoph Brecht. Frankfurt a. M.: 10–268. Goethe, Johann Wolfgang (1993). Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 15/1–2: Tagebuch der Italienischen Reise für Frau von Stein (1786). Hg. v. Christoph Michel u. Hans-Georg Drewitz. Frankfurt a. M.: 599–745. Goetz, Rainald (1999). Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt a. M. Goetz, Rainald (2008). Klage. Vanity Fair 2007/8. Tagebuchessay. Frankfurt a. M. Günther, Hartmut (2009). „Das schriftliche Ich. Goethes Werther“, in: Was bist du jetzo, ICH? Erzählungen vom Selbst. Hg. v. Sascha Löwenstein u. Thomas Maler. Berlin: 77–92. Hagestedt, Lutz (2011). „‚Was darf ich sagen, was nicht‘. Rainald Goetz sondiert die Grundproblematik von Internetliteratur und Tagebuch“, in: text+kritik, 190: 89–99.

2.11 Brief und Tagebuch/Brieftagebuch 

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Herbst, Alban Nikolai (2012). „Das Weblog als Dichtung“, in: Ders. Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I. Berlin: 183–204. Herbst, Alban Nikolai [Alexander v. Ribbentrop] (2004–). Die neue Dschungel. Anderswelt; https://dschungel-anderswelt.de/ (4.10.2019). Herrndorf, Wolfgang. Arbeit und Struktur. https://www.wolfgang-herrndorf.de/ (4.10.2019). Honigmann, Barbara (2000). Alles, alles Liebe! Roman. München u. Wien. Kellner, Renate (2014). Der Tagebuchroman als literarische Gattung. Thematologische, poetologische und narratologische Aspekte. Berlin u. New York: 5–21. Kreknin, Innokentij (2014). Poetiken des Selbst. Identität, Autorschaft und Autofiktion am Beispiel von Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst. Berlin u. Boston. Lange, Wolfgang (2000). „Auf den Spuren Goethes, unfreiwillig: Rolf Dieter Brinkmann in Italien“, in: Deutsche Italomanie in Kunst, Wissenschaft und Politik. Hg. v. Wolfgang Lange u. Norbert Schnitzer. München: 255–282. La Roche, Sophie (1793). Erinnerung aus meiner dritten Schweizerreise. Meinem verwundeten Herzen zur Linderung vielleicht auch mancher traurenden Seele zum Trost geschrieben von Sophie, Wittwe von La Roche. Offenbach. La Roche, Sophie von (2006). Reisetagebücher. Aufzeichnungen zur Schweiz, zu Frankreich, Holland, England und Deutschland. Ausgewählt u. mit Einführungen versehen v. Klaus Pott u. Charlotte Nerl-Steckelberg. Konstanz. La Roche, Sophie von (2013). Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Vollständiger, durchgesehener Neusatz hg. v. Michael Holzinger. Berlin. Lasker-Schüler, Else [2011]. „Briefe nach Norwegen“, in: Der Sturm, 2. Sept. 1911  ff.; online unter: Der literarische Expressionismus online. Zeitschriften, Jahrbücher, Sammelwerke, Anthologien. Hg. v. Paul Raabe; http://db.saur.de/LEX/welcome.jsf (4.10.2019). Lasker-Schüler, Else (1996). „Mein Herz. Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen“, in: Dies. Gesammelte Werke in drei Bänden. Bd. 2. Prosa und Schauspiele. Hg. v. Friedhelm Kemp. Frankfurt a. M.: 286–392. Lejeune, Philippe (2014). „Wie Anne Frank ihr Tagebuch bearbeitete“, in: „Liebes Tagebuch“. Zur Theorie und Praxis des Journals. Hg. v. Lutz Hagestedt. München: 195–236. Lejeune, Philippe (2014). „Kontinuum und Diskontinuum“, in: „Liebes Tagebuch“. Zur Theorie und Praxis des Journals. Hg. v. Lutz Hagestedt. München: 357–372. Martens, Lorna (1985). The Diary Novel. London u.  a. Mattenklott, Gert (1997). „Die Leiden des jungen Werthers“, in: Goethe Handbuch. Bd 3. Hg. v. Bernd Witte u. Peter Schmidt. Stuttgart u. Weimar: 51–100. Menke, Timm (1998). „Die italienische Reise als Schwanengesang auf die alte Welt: Hans Henny Jahnn und Arno Schmidt in Rolf Dieter Brinkmanns ‚Rom, Blicke‘“, in: Reisen, Entdecken, Utopien. Untersuchungen zum Alteritätsdiskurs im Kontext von Kolonialismus und Kulturkritik. Bern: 103–111. Miller, Norbert (1968). Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München. Prokop, Ulrike (1985). Die Melancholie der Cornelia Goethe. Schwestern berühmter Männer. 12 biographische Portraits. Hg. v. Luise F. Pusch. Frankfurt a. M.: 49–122. Reed, Terence J. (2010). „Man stelle sich vor – Werthers Tagebuch!“, in: Neue Einblicke in Goethes Erzählwerk. Nouveaus regards sur l’œuvre narrative de Goethe. Genese und Entwicklung einer literarischen und kulturellen Identität. Genèse et évolution d’une identité littéraire et culturelle. Zu Ehren von/En l’honneur de Gonthier-Louis Fink. Hg. v. Raymond Heitz u. Christine Maillard. Heidelberg: 17–26.

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

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Weiterführende Literatur Strobel, Jochen (Hg.) (2006). Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern: Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Heidelberg.

Gideon Stiening

2.12 Brief und Briefroman 1 Begriffsumfang und -abgrenzung Der Briefroman ist eine eigenständige Form fiktionaler Narration, in der die Darstellung einer fiktiven Handlung durch die subjektive Perspektive eines oder mehrerer Briefschreiber erfolgt, die also sowohl durch die Individualität des oder der Schreiber(s) als auch die Individualität des oder der Adressaten beeinflusst ist. Nach antiken Vorformen erlebte der Briefroman eine Blütezeit vom späten 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Sowohl Terminus als auch Begriff tauchen mit den ersten berühmten Beispielen der Gattung – den Lettres portugaises Gabriel de Guilleragues’ (1669) sowie Aphra Behns Love-Letters Between a Noble-Man And his Sister (1684/85) – in der zeitgenössischen Publizistik auf. Die novel in letters bzw. der roman épistolaire entwickeln sich in Frankreich und England schnell zu einer beliebten Form der Darstellung (verbotener) Liebesbeziehungen. In den deutschsprachigen Ländern werden der Begriff und die Sache erst nach dem europaweiten Erfolg der Romane Richardsons zunächst unter der Formel ‚Roman in Briefen‘ und danach als ‚Briefroman‘ etabliert. Spätestens seit Goethes Werther wird bis in unsere Tage der Terminus ‚Briefroman‘ verwendet.

2 Gattungsgeschichte Schon die griechische Antike brachte Beispiele von historischen Romanen in Briefform hervor, so u.  a. im Kontext des Alexanderromans (vgl. Arndt 1994); auch das Spätmittelalter kannte vereinzelt die fiktive Briefform insbesondere bei Liebesromanen (vgl. Kany 1937, 11–23); als eigenständige literarische Gattung entsteht der Briefroman allerdings erst auf der Grundlage einer neuzeitlichen Briefkultur, deren galant-aristokratische Variante mit den Briefen der Madame de Sévigné literarischen Rang eroberte. Tatsächlich wird die sich durch das gesamte 18. Jahrhundert erstreckende Reform des Privatbriefes einen wesentlichen Einfluss auf die literarische Gattung nehmen (vgl. Brant 2010). Neben den berühmten Exempla Guilleragues’ und Behns müssen die Lettres à Babet Edmé Boursaults (1669) ebenso Erwähnung finden wie Fontenelles Lettres Galantes de Monsieur le Chevalier d’ Her*** (1683), die die Aufnahme der Gattung in den Formenkanon der französischen Aufklärung zum Ausdruck bringen. Um 1700 scheint die https://doi.org/10.1515/9783110376531-021

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Gattung so fest etabliert, dass nicht nur Übersetzungen Boursaults und Fontenelles ins Englische erfolgen, sondern auch arrivierte Erzähler wie Defoe sich der Form epistolarer Darstellung wie selbstverständlich bedienen (The Storm 1704). Einen erheblichen Innovationsschub erhält die Gattung durch Charles de Montesquieus schnell zu europaweiter Berühmtheit gelangenden Briefroman Lettres persanes (1721 [21754]). Wie schon Defoe, so löst auch Montesquieu die narrative Form von dem Inhalt (scheiternder) galanter Liebesbeziehungen und bedient sich des epistolaren Mediums zur kritischen Spiegelung unterschiedlicher Kulturen, weil jene Perser, die in Briefen ihre Erlebnisse in Paris schildern, den für sie befremdlichen Despotismus Europas in ihrem eigenen reflektieren. Darüber hinaus macht der Autor in seiner berühmten Vorrede zur 2.  Auflage deutlich, dass er die Form des roman épistolaire in besonderer Weise schätzt, weil sie die Integration verschiedenster Reflexionsformen und -inhalte erlaube: „Der Autor ist in der glücklichen Lage, in den Roman Philosophie, Politik und Moral einbringen zu können und das Ganze gleichsam mit einer verborgenen Kette aneinanderzubinden.“ (Montesquieu 1988, 277–278) [„L’auteur s’est donné l’avantage de pouvoir joindre de la philosophie, de la politique et de la morale, à un roman, et de lier le tout par une chaîne secrète, et, en quelque façon, inconnue.“] (Montesquieu 1975, 3–4) Montesquieus Ausführungen sind Ausdruck eines zunehmend reflektierten Umgangs der Briefroman-Autoren mit der Gattung, der mit Rousseaus Julie, Goethes Werther oder Hölderlins Hyperion an Komplexität gewinnt. Montesquieus Vorrede datiert aus dem Jahre 1754. Zu diesem Zeitpunkt hatte jedoch eine neue Variante des Briefromans für europaweites Aufsehen gesorgt: Samuel Richardsons Pamela: Or, Virtue Rewarded (1740) und Clarissa. Or, the history of a young lady (1748) treffen in empfindsamem Ton und moralistischem Gehalt den Geschmack der Zeit; dies gilt nicht nur für eine erst im Entstehen befindliche Massenkultur, sondern auch und vor allem für die bürgerliche Hochkultur. Noch in den 1760er Jahren schreibt der als Materialist verschriene Denis Diderot eine weithin beachtete Éloge de Richardson, die den englischen Briefromanautor ob seiner feinen psychologischen Beobachtungsgabe rühmt. Tatsächlich gelang es Richardson, der zunächst an einem Briefsteller arbeitete, den er mit seinem ersten Briefroman zu veranschaulichen hoffte, eine Sprache zu entwickeln, die das intimste Emotionsgeschehen der jüngeren europäischen Generationen um 1750 darzustellen vermochte. Der Konflikt zwischen rein individuellen, ja erotischen Bedürfnissen und den nach Shaftesbury und Hutcheson ebenso im Gefühl gegründeten moralischen Gesinnungen generierte einen Willen zur und eine Kompetenz für Sprache, in der jener Konflikt dargestellt und gelöst werden soll. Clarissas intime Freundin Anne Howe macht dabei deutlich, dass der wortreich ausgetragene Konflikt zwischen individuellen Bedürfnissen und

2.12 Brief und Briefroman 

 341

Gehorsamspflichten gegenüber Familie und Staat Prinzipien tangiert, „they constitute our political union“ (Richardson 1976, I, 341). Es ist Jean-Jacques Rousseau, der mit seinem umfangreichen roman épistolaire Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761) an diese soziopolitische Dimension epistolarer Fiktion anschließt und sie kritisch erweitert. Hatte Richardson nach der monologischen Pamela mit seiner Clarissa der polylogischen Variante der Gattung eine vorbildliche Kontur eröffnet und schon anfänglich auf die Gefahr epistolarer Liebesgeständnisse hingewiesen, so zeigt der Briefwechsel zwischen der jungen Adeligen Julie und dem bürgerlichen Hauslehrer St. Preux, dass es die Möglichkeit epistolarer Kommunikation ist, die eine subversive (Liebes-)Gemeinschaft gegen die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft, Familie und Staat, kultivieren kann. Dazu bedarf es allerdings eines Briefstils, der die Individualität zugunsten einer idealen Vergemeinschaftung emotionalistischer Couleur überhöht: Zu Recht spricht Rousseau in der Vorrede zur zweiten Auflage davon, dass echte Liebesbriefe „nicht mehr Briefe sind, die geschrieben werden, es sind Hymnen“ [„ne sont plus des lettres que l’on écrit, ce sont des hymnes“] (Rousseau 1967, 575; Übers.  d. Verf.). Gegen die Hoffnungen Julies, in der Heirat mit dem älteren Monsieur de Wolmar von diesen Leidenschaften, die sie in den Briefen von und an St. Preux erfuhr, loszukommen, scheitert dieses Leben, kurz vor dem Tode muss sie die unüberwindliche Liebe zu St. Preux (in einem geheimen Brief) gestehen. Rousseau eröffnet mit seinem Roman die sowohl emphatische als auch kritische Perspektive auf die Briefkultur des 18.  Jahrhunderts, werden den Leser*innen doch einerseits die Individualitäten der Briefschreiber plastisch vorgeführt und die Möglichkeit einer epistolaren Idealgemeinschaft beschworen; doch zugleich ist es andererseits eben diese Möglichkeit des Auslebens verbotener Gefühle, die den Brief für seine Schreiber so gefährlich werden lassen. Spätestens in den 1770er Jahren erreicht die Mode der Briefromane auch die deutschsprachige Literatur; mit Sophie von La Roches Fräulein von Sternheim (1771) und Johann Martin Millers Siegwart. Eine Klostergeschichte (1776) wird die an Richardson geschulte empfindsame Variante ausgeführt, die auch das Gros der zahlreich erscheinenden Romane in Briefen auszeichnen. Zu Beginn des Jahrzehnts konnte allerdings der Schotte Tobias Smollett der Gattung eine neue Seite abgewinnen: Zwar hatte schon Oliver Goldsmith mit Citizen of the World (1762) das Modell der Lettres persanes auf England übertragen, doch erst Smollett verknüpft mit seinem The Expedition of Humphry Clinker (1771) den Briefroman mit dem Reise- und dem satirischen Roman. Smollett lässt seine Protagonisten als Reisegesellschaft durch Großbritannien fahren und entwirft dabei ein kritisches Sittengemälde der Gesellschaft im späten 18. Jahrhundert. Indem er allerdings insgesamt fünf Briefschreiber parallel, d.  h. ohne gegenseitige Kenntnisnahme, an Freunde in der Heimat schreiben lässt, entsteht ein letztlich uneinheitliches

342 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Konglomerat subjektiver Perspektiven auf die Welt. Anders als Richardson und Rousseau bedient sich Smollett gerade nicht der Herausgeberinstanz zur Herstellung einer übergreifenden Wahrheitsperspektive; die Wirklichkeit in Humphry Clinker ist eine Konstruktion sich ebenso ergänzender wie aufhebender subjektiver Perspektiven; schon diese Welt epistolar kommunikativen Handelns ist aufgrund ihrer nur intersubjektiven Wahrheitskorrelation ohne göttlichen Beistand und uneingeschränkt egalitär. Die Innovationsleistungen in der deutschsprachigen Gattungsgeschichte gehen nicht von solch humorvollen Reflexionen auf den Zustand der bürgerlichen Gesellschaft im späten 18.  Jahrhundert aus. Goethes Leiden des jungen Werthers (1774) bestechen zunächst durch die streng monologische Perspektivität der gesamten Erzählkonstruktion, weil ausschließlich Werthers Briefe an seinen Freund Wilhelm vorgestellt werden, nicht aber dessen Antworten. Dabei entfalten die Briefe das Psychogramm eines ebenso genialisch wie rücksichtslos Fühlenden, dessen tendenzieller Atheismus in den natürlichen und kulturellen Gefühlswelten religiöse Kompensation sucht. Werthers Liebe zu Lotte, die er sich – wie vieles andere – zuerst in seinen Briefen an Wilhelm eingesteht, wird zum unüberwindlichen Prüfstein dieser ‚asozialen‘ Existenzform, die an den Grenzen der praktischen Vernunft scheitert. Goethe findet für die epistolare Reflexion dieses ‚Seins zum Tode‘ eine Sprache, deren expressive Unmittelbarkeit den Ton der zeitgenössischen Jugend traf; es kam in der Folge nicht allein zu vielfältigen literarischen Wertheriaden, sondern zur suizidalen Nachahmung als Konsequenzen einer sozialen und metaphysischen Desintegration jugendlicher Intelligenz. J. M. R. Lenz’ Fragment gebliebener Waldbruder, ein Pendant zu Werthers Leiden (1776) ebenso wie F. H. Jacobis Allwills Papiere (1776) zeigen nicht allein die Wucht der Wirksamkeit des Werther als Briefroman und Psychogramm; sie zeigen auch das Bedürfnis nach kritischer Reflexion der empfindsamen Generation auf die bedrohlichen Einsichten von Werthers Emotionalismus. Eine dezidierte aufklärerische Kritik an der Empfindsamkeit entwickelt Choderlos de Laclos’ roman épistolaire, die Liaisons dangereuses (1782). In diesem formal bedeutendsten Briefroman des späten 18.  Jahrhunderts wird ein hochkomplexes Netz von Briefwechseln gesponnen, das keineswegs gleichberechtigte Korrespondenten konstituiert, sondern von der zentralen Gestalt, der Marquise de Merteuil, hinter dem Rücken der Schreibenden entwickelt und zusammengehalten wird. Der Brief dient hier als praktisches Instrument der politischen Intrige, das durch die erlernbare Beherrschung diverser Sprachstile Wirksamkeit entfaltet. So zerstört die Marquise, ein Genie der Briefrhetorik des späten 18. Jahrhunderts, eine Reihe von Lebensläufen, indem sie im Verbund mit dem Libertin Vicomte de Valmont durch ihre Briefe verführt. Insbesondere die bürgerliche

2.12 Brief und Briefroman 

 343

Madame de Tourvel, die als empfindsamer Charakter vorgestellt wird, verfällt diesen Liebesintrigen. Paradigmatisch wird hier der empfindsame Emotionalismus in seiner moralisch-praktischen Hilflosigkeit vorgeführt. Die schon von den Zeitgenossen und seither als unmoralische Libertine interpretierte Marquise verdeutlicht in einem zentralen Bekenntnisbrief an Valmont allerdings, dass sie – in ihrer Jugend sexuell missbraucht – sich als Rächerin ihres Geschlechts versteht und deshalb – und so legitimiert – ihr Intrigenspiel in Gang setzt. In den 1790er Jahren entstehen mit Ludwig Tiecks William Lovell (1795), Friedrich Hölderlins Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (1797/1799) und Christoph Martin Wielands Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (1801) in formaler wie inhaltlicher Hinsicht innovative Briefromane. Vor allem Hölderlins idealistischer Roman zeichnet sich durch eine undurchbrochene Stringenz monologischer Perspektive aus; anders als im Werther bedarf der seine Lebensgeschichte epistolar reflektierende Hyperion der Herausgeberinstanz nicht mehr. Wielands aufklärerischer und Tiecks frühromantischer Briefroman zeigen, dass die Gattung zum Austragungsort der zeitgenössischen Denkströmungen avancierte. Noch im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts entstehen mit Clemens Brentanos Godwi oder das steinerne Bild der Mutter (1801), Achim von Arnims Hollin’s Liebeleben (1802), Sophie Mereaus Amanda und Eduard (1803) oder auch Étienne Pivert de Senancours Oberman (1804), Ugo Foscolos Ultime lettere de Jacopo Ortis (1802) und Jane Austens Lady Susan (1805) Briefromane, die der Gattung vor allem inhaltlich neue Dimensionen abgewinnen; so verbindet Austen den empfindsamen polylogischen Briefroman mit der Darstellung einer emanzipierten Frauengestalt, wie sie für das Europa nur um 1800 möglich war. Brentanos und von Arnims Briefromane sowie vor allem Senancours Oberman, der in den 1830er Jahren neu aufgelegt wurde und eine breite Wirkung entfaltete (es war das Lieblingsbuch von Franz Liszt), stellen die Psyche nachrevolutionärer Intelligenz in praxi vor, die für die Krankheit des Jahrhunderts, die Langeweile, und die soziale und politische Ortlosigkeit dieser romantischen ‚Künstlerexistenzen‘ eine expressive Sprache finden. Auch Théophile Gautier stellt in seinem ersten umfangreichen Prosawerk eine solche  – seit Chateaubriands René die gesamteuropäische Literatur bevölkernde  – romantische Künstlerexistenz aus und bedient sich hierzu des Briefromans: Mademoiselle de Maupin (1835), in der auch die geschlechtliche Indifferenz der Romantiker in androgynen Motiven reflektiert wird, gehört zu den großen Erfolgen Gautiers und wurde von Flaubert und Baudelaire außerordentlich geschätzt. Obwohl durch die immense Wirkung des Wilhelm Meister die Briefromanform als obsolet gehandelt wurde, bedienen sich noch Karl Immermann (Papierfenster eines Eremiten, 1821), Walter Scott (Redgauntlet, 1824), Alfred de Musset (Le Roman par lettres, 1833) und Honoré de Balzac (Memoires de deux jeunes mariées,

344 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

1841) wie selbstverständlich der Gattung, um je zeittypische Individualität nicht allein zu beschreiben, sondern schreibend vorzuführen. Henry James (A Bundle of Letters, 1878) erweitert epistolare Fiktion in die Short Story. Auch im 20. und 21. Jahrhundert greifen Autor*innen immer wieder auf die Form des Briefromans zurück; Ricarda Huch (Der letzte Sommer, 1910), Heinrich Böll (Das Vermächtnis, 1982) oder Ingo Schulze (Neue Leben, 2005) zeigen die poetischen Möglichkeiten epistolarer Reflexion in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs; Friederike Mayröcker (Paloma, 2008) eröffnet eine Nähe der Gattung zur Lyrik; auf die mediale Reflexion um 2000 reagierten die Autoren durch erneute Erweiterung der Gattung: Ronald Munsons fan mail (1994) ist als Kriminalroman nur durch E-Mail, Faxe und Mitschnitte von Anrufbeantwortern gestaltet; mit Daniel Glattauers Gut gegen Nordwind (2006) restituierte der E-Mail-Roman die empfindsame Epistolardichtung als Massenware.

3 Darstellung der Forschung Mit seiner Arbeit zu Richardson, Rousseau und Goethe lieferte der Berliner Germanist Erich Schmidt (1875) nicht nur der Gattung ihre erste wissenschaftliche Monographie, sondern gleich dem ganzen Fach eine mustergültige literarhistorische Studie. Bis in die 1970er Jahre dominierte sodann die anglistische Forschung zu Richardson, aber auch zu dessen Vorgeschichte, die eher seltene Forschung zur Gattung. Die Arbeiten von Ernst Theodor Voss (1960) und Natascha Würzbach (1964) eröffneten sodann – allerdings noch unter geringer gattungstheoretischer Reflexion – die germanistischen Arbeiten zum Briefroman, der mit den Studien von Norbert Miller (1968), Hans Rudolf Picard (1971) und Wilhelm Voßkamp (1971) seine ersten komparatistischen Standardwerke erhielt, die form- mit sozialgeschichtlichen Überlegungen korrelierten. Mit den ebenso umfassenden wie methodisch reflektierten Arbeiten von Laurent Versini (1979), Janet Altman (1982), Monika Moravetz (1990) und Thomas Beebee (1999) versuchte die Forschung mit großem Erfolg, der Gattung auch in ihrer vollen historischen Extension gerecht zu werden; insbesondere die Studie von Altman wird der Gattung in ihrer Theorie und Geschichte vorbildlich gerecht. Neuere Ansätze bemühen sich, neben genderspezifischen Perspektiven (vgl. Pabst 2007) und emotionstheoretischen Verortungen (vgl. Lange 2016) auch medien- und wissensgeschichtliche Kontextualisierungen zu erproben (vgl. Stiening und Vellusig 2012). Die in der Forschung seit Jürgen von Stackelberg (1977) und Gerhard Sauder (1997) geläufige These von einer strengen Verbindung von Briefroman und Empfindsamkeit wird derzeit kritisch erörtert.

2.12 Brief und Briefroman 

 345

Zitierte Literatur Altman, Janet Gurkin (1982). Epistolarity. Approaches to a Form. Columbus. Arndt, Christiane (1994). „Antiker und neuzeitlicher Briefroman. Ein gattungstypologischer Vergleich“, in: Der griechische Briefroman. Gattungstypologie und Textanalyse. Hg. v. Niklas Holzberg. Tübingen: 53–83. Arnim, Achim von (1802). Hollin’s Liebeleben. Göttingen. Balzac, Honoré de (1841). Memoires de deux jeunes mariées. Paris. Beebee, Thomas O. (1999). Epistolary Fiction in Europe. 1500–1850. Cambridge. Behn, Aphra (1684–1685). Love-Letters Between a Nobleman and His Sister. London. Böll, Heinrich (1982). Das Vermächtnis. Bornheim-Merten. Brant, Clare (2010). Eighteenth-Century Letters and British Culture. London. Brentano, Clemens (1801–1802). Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria. Bremen. Boursault, Edme (1669). Lettres de respect, d’obligation et d’amour de monsieur Boursault (Lettres à Babet). Paris. Choderlos de Laclos, Pierre (1782). Les Liaisons dangereuses, ou Lettres Recueillies dans une Société et publiées pour l’instruction de quelques autres. Amsterdam u. Paris. Defoe, Daniel (1704). The Storm. London. Fontenelle, Bernard le Bovier de (1683). Lettres Galantes de Monsieur le Chevalier d’Her***. Paris. Foscolo, Ugo (1817 [1802]). Ultime Lettere di Jacopo Ortis. Mailand u. London 1817. Gautier, Théophil (1835). Mademoiselle de Maupin. o.O. Goethe, Johann Wolfgang (1774). Die Leiden des jungen Werthers. Leipzig. Guilleragues, Gabriel Joseph de Lavergne, comte de (1669). Lettres portugaises traduites en français. Paris. Huch, Ricarda (1910). Der letzte Sommer. Stuttgart u. Leipzig Hölderlin, Friedrich (1797–1799). Hyperion oder Der Eremit in Griechenland. Tübingen. Immermann, Karl (1822). Papierfenster eines Eremiten. Hamm. Jacobi, Friedrich Heinrich (1776). „Eduard Allwills Papiere“, in: Der Teutsche Merkur (April, Juli, Dez.). James, Henry (1878). A Bundle of Letters. London. Kany, Charles E. (1937). The Beginnings of the Epistolary Novel in France, Italy, and Spain. Berkeley. Lange, Stella (2016). Gefühle „schwarz auf weiß“: Implizieren, Beschreiben und Benennen von Emotionen im empfindsamen Briefroman um 1800. Heidelberg. La Roche, Sophie von (1771). Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Leipzig. Lenz, Jakob Michael Reinhold (1797). „Der Waldbruder, ein Pendant zu Werthers Leiden“, in: Die Horen (4. und 5. Stück). Mayröcker, Friederike (2008). Paloma. Frankfurt a. M. Mereau, Sophie (1803). Amanda und Eduard. Ein Roman in Briefen. o.O. Miller, Johann Martin (1776). Siegwart. Eine Klostergeschichte. Leipzig. Miller, Norbert (1968). Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München. Montesquieu, Charles de (1975). „Quelques Réflexions sur les Lettres persanes“, in: Lettres persanes. Texte établi, avec introduction, chronologie de Montesquieu, bibliographie, notes et relevé de variantes par Paul Vernière. Hg. v. dems. Paris: 3–5.

346 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Montesquieu, Charles de (1988). Perserbriefe. Aus dem Französischen von Jürgen von Stackelberg. Frankfurt a. M. Moravetz, Monika (1990). Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Richardsons „Clarissa“, Rousseaus „Nouvelle Héloïse“ und Laclos’ „Liaisons Dangereuses“. Tübingen. Musset, Alfred de (1833). Le Roman par lettres. Paris. Pabst, Esther Suzanne (2007). Die Erfindung der weiblichen Tugend. Kulturelle Sinngebung und Selbstreflexion im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts. Göttingen. Picard, Hans Rudolf (1971). Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts. Heidelberg. Richardson, Samuel (1740). Pamela: Or, Virtue Rewarded. In a Series of Familiar Letters from a Beautiful Young Damsel, to her Parents: Now first Published In Order to Cultivate the Principles of Virtue and Religion in the Minds of the Youth of Both Sexes. A Narrative Which has its Foundation in Truth and Nature: and at the Same Time That it Agreeably Entertains, by a Variety of Curious and Affecting Incidents, is Intirely Divested of all Those Images, Which, in too Many Pieces Calculated for Amusement Only, Tend to Inflame the Minds They Should Instruct. In Two Volumes. London. Richardson, Samuel (1976). Clarissa. Or, The History of a Young Lady. Mit einer Einleitung von John Butt. 4 Bde. London u.  a. Rousseau, Jean-Jacques (1761). Lettres de deux amans habitants d’une petite ville au pied des Alpes. Julie ou la Nouvelle Héloïse. Amsterdam. Rousseau, Jean-Jacques (1967). Julie, ou: La Nouvelle Héloïse. Èdition établie par Michael Launay. Paris. Rousseau, Jean-Jacques (1978). Julie oder die neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. Gesammelt u. hg. v. dems. München. Sauder, Gerhard (1997). [Art.] „Briefroman“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissens­ chaft. Hg. v. Klaus Weimar u.  a. Berlin u. New York: 255–257. Schmidt, Erich (1875). Richardson, Rousseau und Goethe. Ein Beitrag zur Geschichte des Romans im 18. Jahrhundert. Jena. Schulze, Ingo (2005). Neue Leben. Berlin. Scott, Walter (1824). Redgauntlet. Edinburgh. Senancour, Étienne Pivert de (1804). Oberman. Paris. Smollett, Tobias George (1771). The Expedition of Humphry Clinker. London. Stackelberg, Jürgen von (1977). „Der Briefroman und seine Epoche. Briefroman und Empfindsamkeit“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 1: 293–309. Stiening, Gideon u. Robert Vellusig (Hg.) (2012). Poetik des Briefromans. Medien- und wissensgeschichtliche Perspektiven. Berlin. Tieck, Ludwig (1795/96). Geschichte des Herrn William Lovell. Berlin u. Leipzig. Versini, Laurent (1979). Le roman épistolaire. Paris. Voßkamp, Wilhelm (1971). „Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 45.1: 80–116. Voss, Ernst-Theodor (1960). Erzählprobleme des Briefromans dargestellt an vier Beispielen des 18. Jahrhunderts: Sophie La Roche: „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“, Johann Wolfgang Goethe: „Die Leiden des jungen Werther“, Johann Timotheus Hermes: „Sophiens Reise von Memel nach Sachsen“, Christoph Martin Wieland: „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“. (Diss.) Bonn.

2.12 Brief und Briefroman 

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Wieland, Christoph Martin (1800–1802). Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Leipzig. Würzbach, Natascha (1964). Die Struktur des Briefromans und seine Entstehung in England. (Diss.) München.

Weiterführende Literatur Adams Day, Robert (1966). Told in Letters. Epistolary Fiction Before Richardson. Ann Arbor. Bray, Joe (2003). The Epistolary Novel. Representations of Consciousness. London u. New York. Bray, Bernard A. (2019): Roman par lettres. Usages poétiques de la première personne dans la littérarure française. Paris. Duyfhuizen, Bernard (1985). „Epistolary Narratives of Transmission and Transgression“, in: Comparative Literature, 37.1: 1–26. Heilmann, Markus (1992). Die Krise der Aufklärung als Krise des Erzählens. Tiecks „William Lovell“ und der europäische Briefroman. Stuttgart. Müller, Lothar (1991). „Herzblut und Maskenspiel. Über die empfindsame Seele, den Briefroman und das Papier“, in: Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Hg. v. Gerd Jüttemann, Michael Sonntag u. Christoph Wulf. Weinheim: 267–290. Rousset, Jean (1962). „Une forme littéraire: le roman par lettres“, in: Forme et signification. Essais sur les structures littéraires de Corneille à Claudel. Hg. v. Jean Rousset. Paris: 65–108. Stiening, Gideon (2005). „Briefroman und Empfindsamkeit“, in: Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen und ihr epochaler Kontext. Hg. v. Klaus Garber u. Ute Széll. München: 161–190. Stiening, Gideon (2005). Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Friedrich Hölderlins Briefroman „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“. Tübingen. Warning, Rainer (2007). „Schreibendes Imaginieren: Glücksphantasien des Briefromans. Richardson/Rousseau/Laclos“, in: Aufklärung. Hg. v. Roland Galle u. Helmut Pfeiffer. München: 375–403.

Daniela Hammer-Tugendhat

2.13 Der Brief in der darstellenden Kunst bis zum 17. Jahrhundert 1 Forschungslage Im Unterschied zu den Literatur- und Medienwissenschaften gibt es in der Kunstgeschichte kaum Forschungsliteratur zum Thema Brief. Die erste umfassende Arbeit ist die unpublizierte Dissertation von Sabine Pénot, Sprechende Bilder – Lesbare Briefe, aus dem Jahre 2001, deren Schwerpunkt allerdings auf dem Verhältnis von Bild und Text liegt. Demzufolge stehen vor allem beschriftete Briefe im Fokus, und es wird nicht differenziert zwischen Brief, cartellino oder geschriebenem Kommentar im Bild. Auch wird die deutsche Kunst nicht berücksichtigt. Dennoch stellt diese Arbeit die erste umfassende Sichtung und Reflexion des Materials aus den Niederlanden, Frankreich und Italien vom 16. bis zum 18. Jahrhundert dar. Vor dieser Dissertation ist lediglich die Publikation von Jean Leymarie Der Brief als Thema der Malerei (1967) zu nennen, die wiederum nur gemalte Briefe ohne Text essayistisch vorstellt. Einige Literaturwissenschaftler*innen haben sich mit dem Brief in der bildenden Kunst befasst, aber das sind keine kunsthistorischen Arbeiten; die Briefdarstellungen werden zu Illustrationen eines literaturwissenschaftlichen Diskurses reduziert. Auch beschränken sich diese Arbeiten auf kurze Artikel (vgl. Bray 1986, 49–59; Dawson 1992, 157–182; Dennefeld 2001, 35–52). Aus kunsthistorischer Perspektive sind einige Monographien zu holländischen Künstlern zu nennen, die sich der Darstellung des Liebesbriefs gewidmet haben. Gudlaugsson würdigt in seinem zweibändigen Werk zu Gerard ter Borch die Pionierrolle des Künstlers zum Thema Brief und diskutiert auch den Zusammenhang mit der zeitgenössischen Literatur (vgl. Gudlaugsson 1959–1960, Bd. 1, 101–102 und Bd. 2, Kat. Nr. 111: 114, 124, 164, 168). Otto Naumann widmet sich in seiner Monographie zu Frans van Mieris auch dem Motiv des Briefs im Werk des Künstlers (1981 Bd. 1, 111–116). Eddy de Jongh untersuchte den Zusammenhang der Liebesbrief-Ikonographie mit der Emblematik und der zeitgenössischen Literatur (vgl. De Jongh 1967, 50–55; 1976, 36–39, 120–121 u. 268–271). Diesem ikonologischen Zugang widersprach Svetlana Alpers im Kapitel Der Blick auf Wörter: Die Darstellung von Texten in der holländischen Kunst ihres Buchs Kunst als Beschreibung, in dem sie die Bedeutung von Text/Sprache für die holländische Malerei insgesamt, auch bei den Brief-Darstellungen, bestreitet (vgl. Alpers 1985, 321–342). In der bemerkenswerten Ausstellung Leselust und dem gleichnamigen Katalog ist der Brief lediglich ein Motiv unter anderen, im Vordergrund steht das https://doi.org/10.1515/9783110376531-022

2.13 Der Brief in der darstellenden Kunst bis zum 17. Jahrhundert 

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Buch (vgl. Schulze 1993). Zum Thema Liebesbrief in der holländischen Malerei liegt mit dem Ausstellungskatalog Love Letters. Dutch Genre Paintings in the Age of Vermeer erstmals eine hervorragende Publikation vor (vgl. Sutton 2003). HammerTugendhat hat sich mit Liebesbriefen in der holländischen Malerei eingehender auseinandergesetzt, insbesondere in dem Buch Das Sichtbare und das Unsichtbare von 2009 (Hammer-Tugendhat 2001, 159–174; 2009). Die Publikation (Dissertation) von Julia Stadter, Der Brief im Spiegel der Künste (2015), fokussiert auf die Funktion des Briefs in Literatur, Theater und Musiktheater, das Kapitel „Briefe in der Malerei“ basiert im Wesentlichen auf den bisherigen Forschungsarbeiten. Die Forschungslage spiegelt die reale Situation insofern, als die Darstellung von Briefen in der Malerei erst in Holland im 17. Jahrhundert relevant und dort der Liebesbrief favorisiert wurde.

2 Entwicklung In der mittelalterlichen und spätmittelalterlichen Kunst finden sich Briefe oder Briefszenen nur ausnahmsweise. Man könnte jedoch das Spruchband, beispielsweise in Verkündigungsdarstellungen, als eine Vorform des Briefs betrachten. In der weitgehend oralen Kultur des Mittelalters ist die Botschaft, die Verkündigung, noch eng mit dem Boten, dem Engel verbunden. Wir sehen den Körper des Boten, der für die mündliche und damit öffentliche Rede steht, und können gleichzeitig die (gesprochenen) Worte selbst lesen. Bestätigen ließe sich diese These durch eine spätmittelalterliche Verkündigungsszene eines oberdeutschen Meisters von etwa 1460, in der der Engel Maria nun in der Tat einen Brief überbringt (vgl. Wenzel 1995, 287–291, 289: Abb. 38). Dieser Brief ist wiederum lediglich als gemalter Brief, als weiße Fläche, zu sehen, der Text selbst ist unsichtbar. An dieser Schnittstelle wird auch die Verbindung von Briefkultur und Privatisierung kenntlich. Auch Schriftrollen können zu Briefen mutieren, wie die Attribute der Propheten in einer deutschen Armenbibel um 1430 (vgl. Hammer 1975). In der profanen Kunst werden meist die Boten dargestellt, die eine Nachricht überbringen. In der Manessischen Handschrift, der wichtigsten Liederhandschrift aus dem 14. Jahrhundert, finden sich mehrere Buchmalereien mit Darstellungen von Rittern, die ihrer Angebeteten einen Brief zustecken (vgl. Hildebrandt 2014, Abb.  44, 45, 58). Dies dürften wohl die ersten Darstellungen des Liebesbrief­ themas sein.

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

3 Der Brief im Porträt als Zeichen von ­Gelehrsamkeit und Kaufmannsgeist Entsprechend der neuen Bedeutung des gelehrten Briefverkehrs unter den Humanisten lassen sich viele Persönlichkeiten seit der Renaissance mit einem Brief als Attribut porträtieren. Die berühmten Erasmus-Porträts von Albrecht Dürer und Hans Holbein d. J. spiegeln die eminente Bedeutung, die Erasmus von Rotterdam neben Martin Luther für die Entwicklung der Briefkultur leistete und die er selbst dem Brief zusprach. Erasmus verfasste eine Anleitung zum Briefschreiben De conscribendis epistulis. Sein Ausspruch „absentium amicorum quasi mutuus sermo“ aktualisierte die antike Definition des Briefs als Gespräch mit abwesenden Freunden, wie sie u.  a. bei Demetrios von Phaleron, Cicero oder Seneca bereits apostrophiert worden war (vgl. Penot 2000/2001, 10–11). In der Auffassung des Briefs als Äquivalent zu einem Gespräch mit Freunden weist dieser Ausspruch auf die Formulierungen des 18.  Jahrhunderts voraus. So wie das 1523 datierte Gemälde Holbeins zeigt auch der Kupferstich Dürers von 1526 Erasmus beim Schreiben eines Briefs.

Abb. 1: Albrecht Dürer, Erasmus, einen Brief schreibend, 1426, Kupferstich, 24,7/19,1 cm

2.13 Der Brief in der darstellenden Kunst bis zum 17. Jahrhundert 

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Der Gelehrte steht an seinem Schreibpult; auf der Brüstung vor ihm liegen mehrere Bücher, eines davon ist aufgeschlagen. An der hinteren Wand ist eine große Tafel angebracht mit einer lateinischen und einer griechischen Inschrift. Die lateinische Inschrift nennt den Porträtierten sowie den Künstler, die griechische Inschrift lautet: „Das bessere Bild werden seine Schriften zeigen.“ Die Schrift im Bild verweist auf das eigentliche Wesen des Erasmus, das in seinen Schriften liegt; Kern dieser Schriften sind nun offensichtlich Briefe, darauf verweist der Brief, den Erasmus im Begriff ist zu schreiben. Ein zweiter, halb gefalteter Brief liegt auf seinem Schreibpult, ein Hinweis auf das abwesende Gegenüber, eben auf das geistige Gespräch. Der Brief spielte nicht nur in gelehrten Humanistenkreisen eine eminente Rolle, sondern ebenso im Leben der Kaufleute in einer Welt, in welcher der internationale Warenverkehr eine immer größere Rolle zu spielen begann. In den Kaufmannporträts von Hans Holbein d. J. aus den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts gehört der Handelsbrief zu den wichtigsten Attributen. Beispielhaft ist das Bildnis des Georg Gisze, Hansekaufmann aus Danzig in der deutschen Handelsniederlassung in London, das Holbein 1532 gemalt hat und das zu den bedeutendsten Porträts der nordalpinen Renaissance zählt.

Abb. 2: Hans Holbein, Der Kaufmann Georg Gisze, 1532, Öl/Holz, 96,3/85,7cm, Berlin, Gemäldegalerie

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Holbein zeigt den Kaufmann in seinem Kontor, umgeben von Gegenständen, die auf seine Profession verweisen: neben Rechnungsbuch, Waage, einer Dose mit rotem Siegellack, Siegelplättchen, einem Handstempel, einer Dose mit Münzen sind es Federkiele und vor allem fünf lesbare Briefe. Aus den beschrifteten Briefen gehen teils die Orte hervor, aus denen die Briefe stammen (Basel und London), der Empfänger, eben Georg Gisze, und auch die Namen der Absender. Auf dem Brief, den Gisze in Händen hält, steht geschrieben: „Dem Erszamen/Jorgen gisze to lundene engelant mynem/broder to handen.“ [Dem ehrsamen Georg Gisze in London England, meinem Bruder, zu Händen.] Die Bedeutung von Briefen als Zeichen der Vernetzung und somit gleichsam als Begründung für den Reichtum, der durch die exquisiten Stoffe, die Kleidung und das Geld verbildlicht werden, wird evident.

4 Höhepunkt der Briefdarstellungen in den Nieder­landen des 17. Jahrhunderts Der erste und nie wieder erreichte Höhepunkt der Briefdarstellungen in der Malerei liegt in den Niederlanden im 17. Jahrhundert. Die holländische Malerei beeinflusste die gesamte weitere Entwicklung, auch in Deutschland und Frankreich, bis ins 18. und 19.  Jahrhundert. Der Kunst entspricht die soziale Praxis: Tatsächlich erreichte die Kultur des Briefeschreibens in Holland bereits im 17. und nicht, wie meist in der Forschung behauptet wird, erst im 18. Jahrhundert ihren ersten Höhepunkt. Selbst Thomas Beebee, der in seinem Band Epistolary Fiction in Europe 1500–1850 (1999) erstmals eine ausdrücklich gesamteuropäisch angelegte Studie vorlegte, geht zwar auf England, Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien ein, erwähnt aber die Niederlande mit keinem Wort. Holland war indessen nachweislich im 17. Jahrhundert das Land mit der höchsten Alphabetisierungsrate Europas, was wiederum durch die expandierende und sich internationalisierende Ökonomie, die Stärke des städtischen Bürgertums und den Einfluss des Calvinismus bedingt war. Constantijn Huygens, der secretaris am Hof von Oranien, soll 78.000  Briefe geschrieben haben; einer der größten holländischen Dichter, Pieter Cornelisz Hooft (1581–1647), korrespondierte täglich mit den Gelehrten Hollands seiner Zeit und einem großen Freundeskreis über die unterschiedlichsten Fragen aus Literatur, Geschichte, Politik, den Wissenschaften oder aber reinen Herzensangelegenheiten (vgl. Adams 1993, 86; Sutton 2003). In der Malerei wird der Brief nun nicht mehr nur als Attribut im Porträt, sondern als Motiv im Stillleben und insbesondere in der neu entstehenden Gattung des Genrebildes relevant.

2.13 Der Brief in der darstellenden Kunst bis zum 17. Jahrhundert 

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4.1 Briefe in Stillleben Briefe werden oft in Stillleben eingefügt, zuweilen ist der Text lesbar, meist nur wenige Worte, die sich oft auf den Auftraggeber oder/und den Künstler beziehen. Der Brief ist vorwiegend als Trompe l’œil eingefügt, der Übergang zum cartellino (Zettel) ist fließend. Als Beispiel sei das Trompe l’œil von Wallerant Vaillant (1623– 1677) genannt (Dresden, Staatliche Kunstsammlungen), wo auf einem Steckbrett nichts anderes zu sehen ist als Briefe mit unterschiedlichen Absendern. Der Künstler führt sein gesamtes Kommunikationsnetz vor. Der beschriftete Brief kann somit als Künstlerselbstporträt eingesetzt werden wie auch bei Samuel van Hoogstraten (1627–1678).

Abb. 3: Samuel van Hoogstraten, Steckbrett, 1666–78, Öl/Leinwand, 63/79cm, Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle

Van Hoogstraten malte ein Steckbrett mit verschiedenen Gegenständen, die sich alle auf ihn beziehen, wie etwa die Goldene Ehrenkette und eine Medaille, die ihm der österreichische Kaiser Ferdinand III. verliehen hatte, sowie Bücher, die van Hoogstraten selbst verfasst hatte. Bei diesem autobiographischen Verfahren

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

der Selbstbeschreibung fehlen allerdings Objekte, die auf das Malerhandwerk verweisen, wie Pinsel oder Palette. Teil des Ambientes ist ein Briefgedicht, unterschrieben von J. W. Stoebenberch, einem österreichischen Literaten. Das Gedicht preist van Hoogstraten durch einen Vergleich mit dem antiken Maler Zeuxis von Herakleia; van Hoogstraten sei es mit seinen Trompe l’œils gelungen, nicht nur die Vögel, sondern den Kaiser selbst zu täuschen. Es ist ein Selbstporträt des Künstlers, das zeigt, dass nicht sein mimetisches Abbild Wesentliches über ihn aussagt, sondern allein seine (augentäuschende) Malerei, seine Bildung und seine Schriften. Der gemalte und damit veröffentlichte Brief fungiert als authentischer Zeuge für seinen Ruhm, das Bild selbst wiederum als Bestätigung dieser Anerkennung (vgl. Penot 2001, 349–355; Brusati 1995). Stillleben mit Briefen, auf denen zusammenhängende Texte zu lesen sind, sind die Ausnahme. In dem Stillleben von Anthony Leemans (1631–1671) von 1655 (Amsterdam, Rijksmuseum) sind neben Gefäßen, Esswaren und einer Geige auch drei lesbare Schriftstücke eingefügt. Ein langer Brief berichtet von dem Sieg des Admirals Tromp über die englische Flotte 1649. Der gemalte Brief entspricht dem Nachrichtenbrief als Vorläufer der Zeitung. Somit verfügt das Stillleben mit beschrifteten Briefen über die Möglichkeit, ein historisches Ereignis zu repräsentieren, ohne dieses Ereignis oder überhaupt menschliche Figuren darzustellen (vgl. Penot 2001, 70–74, 97–98). In den Bücherstillleben von Jan Davidsz. de Heem (1606–1683 o. 1684) geht es vorrangig um die Materialität des Briefes. De Heem setzt sich mit der Oberfläche des Papiers auseinander, mit dessen taktilen und haptischen Reizen, er zeigt Benutzungs- und Alterungsspuren, eingerissenes, gefaltetes, vergilbtes Papier. Dies verweist auf die Thematik der Vanitas: auf die Vergänglichkeit der Dinge, aber auch auf die Frage: Was bleibt? Die Bücher, die Texte, die Malerei, die Kunst? De Heem spielt mit der Differenz von unterschiedlichen Schriften – man bedenke die Bedeutung der Kalligraphie in den Niederlanden! (vgl. Adams 1993) – sowie mit der Differenz zwischen Handschrift und Druck. Die Verbindung von gedruckten Büchern und geschriebenen Briefen lässt an die Beziehung zwischen öffentlicher Buchkultur und privatem Schriftverkehr denken. De Heem thematisiert die Relation zwischen diversen Medien: zwischen Text (Sprache) in den unterschiedlichsten Erscheinungsweisen, Malerei und in anderen seiner Werke durch Einfügung von Instrumenten auch der Musik (vgl. Eipeldauer 2007; Wiethölter 2010).

2.13 Der Brief in der darstellenden Kunst bis zum 17. Jahrhundert 

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4.2 Der Liebesbrief Größte Bedeutung erlangte das Briefthema in der sich entwickelnden holländischen Genremalerei, wobei das Motiv des Liebesbriefs zwischen den dreißiger und siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts zu einem Lieblingsthema der holländischen Malerei avancierte (vgl. Sutton 2003). Dargestellt sind (fast ausschließlich) Frauen in Innenräumen, die Briefe erhalten, lesen, versiegeln, seltener selbst schreiben. Dirck Hals (1591–1656), Willem Duyster (1599–1635), Pieter Codde (1599–1678), Gerard ter Borch (1617–1681), Pieter de Hooch (ca. 1629–1684), Frans van Mieris d. Ä. (1635–1681), Jan Steen (um 1626–1679) – es gibt kaum einen holländischen Genremaler, der sich nicht eingehend mit dieser Thematik befasst hätte. Von Jan Vermeers kleinem Œuvre allein sind nicht weniger als sechs Bilder zu diesem Thema überliefert, von ter Borch sechzehn. Die holländischen Bilder von Frauen mit Briefen stellen eine Analogie zu den sich damals entwickelnden Briefromanen dar. Allerdings gibt es einen fundamentalen Unterschied: Die Bilder sind stumm. In Briefen, im Briefgedicht, im Briefroman lesen wir, was geschrieben steht, wir kennen den Inhalt, wir kennen die Geschichte. In den Bildern geht es um Briefe, um sprachliche Nachrichten, aber es gibt keine Sprache. Die Briefe sind immer nur als weißes Papier sichtbar, zeigen nie lesbar visualisierte Schrift. Der gemalte Brief ist hier ein unsichtbarer Text. Dieser unsichtbare Text lässt jedoch in uns, den Rezipient*innen, Phantasien über mögliche Inhalte und Reaktionen seiner Leserin entstehen. Wir erfinden gleichsam unsere eigene (Brief-)Geschichte. Es gab allerdings eine Möglichkeit, die unsichtbaren Worte des Briefs und die ebenso unsichtbare Reaktion der Lesenden anzudeuten, und zwar durch Bilder im Bild. Diese Bilder in Gemälden mit brieflesenden Frauen zeigen fast ausnahmslos Meerlandschaften mit Schiffen, oft mit einem Schiffer, die See friedlich oder stürmisch. Das Schiff auf See war in Holland eine beliebte Metapher im Liebesdiskurs, in Gedichten und in der Emblematik, meist stand das Schiff oder der Schiffer für den Liebenden, die See für die Liebe (vgl. de Jongh 1967, 50–55; de Jongh 1976, 270). Die Vorstellung von Liebe als Meer und vom Liebenden als Schiffer oder Schiff sind Metaphern, Bilder in der Sprache. Diese Sprach-Bilder werden nun von den holländischen Malern als Bild dargestellt. Die Malerei verweist somit auf die Welt der Liebesbriefe, auf geschriebene und gelesene Texte, auf Worte. Beim Anblick des Bildes werden mögliche Briefinhalte aufgerufen, Erinnerungen an vielleicht selbst verfasste oder erhaltene Briefe, an die Variationen der Briefsteller, an Briefgedichte. Die Betrachter*innen müssen, um das Bild verstehen zu können, in die Kultur der Liebesbriefe eingeweiht sein. Die Phantasie bei der Betrachtung des

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Abb. 4: Gabriel Metsu, Frau einen Brief lesend mit Magd, um 1664– 1667, Öl/Holz, 52,5/40,2cm, Dublin, National Gallery of Ireland

Bildes wird durch die Kenntnis dieser literarischen Gattung genährt, der Bezug auf die Sprache bleibt aber unbestimmt und assoziativ. Das Bild ist keine Illustration eines konkreten Textes; das Bild bezieht sich auf Sprache, dennoch geht es in Sprache nicht auf. Der Inhalt des Briefs (der Worte) erscheint als Bild im Bild, das Bild wiederum bezieht sich auf Worte, die eine Metapher, also ein Bild sind. Das Bild verweist auf Sprache, die ihrerseits auf Bilder verweist, Bild und Sprache bilden eine dialektische Einheit (vgl. Hammer-Tugendhat 2009, 219–250).

4.3 Das Geschlecht der Briefe Ein Charakteristikum von Briefen ist es, dass sie Mittel der Kommunikation sind. Man schreibt Briefe, empfängt Briefe und antwortet auf Antworten. Im privaten Bereich, im Feld der Liebe, mag es vorkommen, dass der bzw. die eine Briefe immer nur schreibt, der bzw. die andere Briefe nur empfängt und liest. Diese

2.13 Der Brief in der darstellenden Kunst bis zum 17. Jahrhundert 

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Form der Einseitigkeit wird man allerdings eher als Ausnahme denn als Regel ansehen dürfen. Mit Sicherheit kann man davon ausgehen, dass jemand einen Brief geschrieben haben muss, wenn es eine*n andere*n gibt, die bzw. der ihn liest. Betrachtet man jedoch die holländische Genremalerei, könnte der paradoxe Eindruck entstehen, nur Frauen hätten Liebesbriefe erhalten und gelesen, selten einen geschrieben; Männer dagegen hätten nie einen Liebesbrief erhalten und nie einen verfasst. In den Werken von Dirck Hals, Pieter Codde, Pieter de Hooch, Jan Steen, Frans van Mieris, Jan Vermeer und anderen sind es ausschließlich Frauen, die solch private Briefe erhalten, lesen, selten jedoch selbst schreiben. Von ter Borch sind vier Gemälde mit Brief schreibenden Männern bzw. einem lesenden Mann überliefert. Allerdings sind es keine bürgerlichen Männer in bürgerlichen Interieurs, sondern ausnahmslos Offiziere, Mitglieder des Militärs. Nur bei zwei von diesen Bildern können wir, aufgrund der am Boden liegenden Pik-Herzkarte, auf einen amourösen Charakter des Briefs schließen. Es sind auch ganz wenige Pendant-Bilder überliefert, eines von ter Borch, zwei von Gabriel Metsu (1629– 1667) (vgl. Sutton 2003, Kat. 8, 9 u. 99–104; Kat. 16, 17 u. 124–125). Die Welt der Briefe war zweigeteilt. Männer korrespondierten im Medium des Briefs über alle erdenklichen Belange der Wissenschaft, Bildung, Religion, wirtschaftlicher und politischer Organisation und durchaus auch über private Themen. Briefe von Frauen hingegen waren auf den privaten Bereich beschränkt. In der Kunst war der Brief ein beliebtes männliches Attribut sowohl in Genrebildern wie in Porträts. Briefe zeichneten die dargestellten Männer als belesen, gebildet und von öffentlicher Bedeutung aus. Werden die dargestellten Briefe allerdings weiblichen Personen zugeordnet, werden sie anders, eben als Liebesbriefe, semantisiert. Briefe fehlen bezeichnenderweise bei weiblichen Porträts, zuhauf finden sie sich dagegen in Genrebildern, bei Frauen in Interieurs. Somit sind keine konkreten weiblichen Persönlichkeiten gemeint, sondern imaginäre Bilder von Weiblichkeit. Die Erfindung des Briefthemas fällt zeitlich zusammen mit der Darstellung von Frauen in ihrem privaten bürgerlichen Heim. Das Interieur wird als der Ort des Weiblichen par excellence definiert. Die männlichen Verfasser der in diesen Interieurs ankommenden Briefe bleiben jedoch – mit den wenigen genannten Ausnahmen  – unsichtbar. Es muss sie allerdings gegeben haben, sonst wäre diese Form der Kommunikation nicht möglich gewesen. Im 17. Jahrhundert beginnt in der holländischen Malerei auf der Ebene des Sichtbaren ein Diskurs, der sich allmählich im 18. Jahrhundert begrifflich verfestigt hat, der den Brief als genuin weibliches Genre definiert. In der sozialen Praxis und im Diskurs war diese Festschreibung – zumindest in Holland im 17. Jahrhundert – nachweislich noch nicht gegeben. Männer von Bedeutung wie Huygens, Hooft und andere brillierten in privater Korrespondenz, Liebesbriefe inbegriffen. Es lässt sich somit zeigen, dass und wie das ‚genuin‘ weibliche Briefschreiben all-

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

mählich produziert worden ist. Briefe wurden im Übergang zum 18. Jahrhundert tatsächlich auch ein Feld für Frauen, das sie produktiv genutzt haben. Zur Entstehung dieses Diskurses haben die gemalten Fiktionen einen nicht unwesentlichen Beitrag geleistet. Die ‚realistische‘ holländische Malerei des 17. Jahrhunderts ist keine Widerspiegelung der damaligen sozialen Realität. Jedoch ist es eben dieser Realismus, der die geschlechtsspezifischen Asymmetrien nicht als soziale Konstrukte, sondern als natürliche Ordnung erscheinen lässt. Die Malerei hat dazu beigetragen, bestimmte geschlechtliche Identitäten, also: ‚Realität‘ zu schaffen (vgl. Hammer-Tugendhat 2009, 251–258).

5 Coda Die holländische Malerei hat aber auch dazu beigetragen, eine spezifische Form von Subjektivität, Privatheit und ‚Innerlichkeit‘ zu produzieren, die von einer sprachzentrierten Forschung erst ins 18.  Jahrhundert datiert wird (vgl. u.  a. Luhmann 1994 (1982); Nickisch 1991; Vellusig 2000; Stauf et al. 2008). Innerhalb der holländischen Malerei lässt sich eine Entwicklung feststellen, die von ‚barocken‘ Versionen der 1630er Jahre zu den verhaltenen Bildern von ter Borch, Vermeer und anderen nach der Jahrhundertmitte führt.

Abb. 5: Dirck Hals, Frau, einen Brief zerreißend, 1631, Öl/Holz, 34, 2/28,3cm, Mainz, Mittelrheinisches Landesmuseum

2.13 Der Brief in der darstellenden Kunst bis zum 17. Jahrhundert 

Abb. 6: Rembrandt, Bathseba, 1654, Öl/Leinwand, 142/142cm, Paris, Louvre

Abb. 7: Jan Vermeer, Briefleserin in Blau, 1662–1664, Öl/Leinwand, 45,5/39cm, Amsterdam Rijksmuseum

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Dirck Hals inszeniert Briefszenen narrativ und dramatisch, Frauen zerreißen Briefe, die entsprechende Emotion kommt in Körperhaltung und Mimik zum Ausdruck, und ein Gemälde mit Seesturm intensiviert die insgesamt düstere Stimmung. Rembrandt dann, in seiner Bathseba, lässt Emotionen im Gesicht, in der Mimik anschaulich werden. In den Beispielen nach der Jahrhundertwende von ter Borch, Metsu und Vermeer erfahren wir hingegen nichts über einen mög­ lichen Briefinhalt oder die Reaktion der Lesenden, weder in ihren Gesten noch im Gesichtsausdruck. Vermeer legt den Fokus auf Konzentration und Aufmerksamkeit, aber nichts verrät etwas über die Gefühlswelt der lesenden Frau. So wird vermittelt, dass Emotionen individuell und privat sind, intim, für andere nicht lesbar. Gleichzeitig wird dadurch die Imagination der Betrachter*innen stimuliert (vgl. Hammer-Tugendhat 2009, 262–299). In den Bildern mit Liebesbrief lesenden Frauen in Innenräumen wird der von der Forschung (vgl. Koschorke 1999) beschriebene Zusammenhang von bürgerlicher Privatheit, Briefkultur, Intimität und Affektmodellierung anschaulich.

Zitierte Literatur Adams, Ann Jensen (1993). „Der sprechende Brief. Kunst des Lesens, Kunst des Schreibens. Schriftkunde und schoonschrijft in den Niederlanden im 17. Jahrhundert“, in: Leselust. Niederländische Malerei von Rembrandt bis Vermeer. Ausstellungskatalog der Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main. Hg. v. Sabine Schulze. Stuttgart: 69–92. Alpers, Svetlana (1985). Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts. Köln. Beebee, Thomas O. (1999). Epistolary Fiction in Europe 1500–1850. Cambridge. Bohnenkamp, Anne u. Waltraud Wiethölter (Hg.) (2008). Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 11.9. bis 16.11.2008. Frankfurt a. M. u. Basel. Bray, Bernard (1984). „La lettre dans l’image“, in: Colloque international Les Correspondance 2. Des mots et des images pour correspondre. Hg. v. Jean-Louis Bonnat. Nantes: 49–59. Brusati, Celeste (1995). Artifice and Illusion. The Art and Writing of Samuel van Hoogstraten. Chicago. Dawson, Deidre (1992). „Visual Image an Verbal Text: Reflections on the letter in 17th and 18th Century Painting“, in: Recherches semiotiques/Semiotic Inquiry, 12.1–2: 157–182. Dennefeld, André (2001). „La lettre et les beaux-arts“, in: La lettre dans tous ses états. Hg. v. Jean Lerat. Straßburg: 35–52. Eipeldauer, Heike (2007). „Books are different.“ Holländische Bücherstillleben im 17. Jahrhundert am Beispiel von Jan Davidsz de Heem: Zum Verhältnis von Bild und Text, Sehsinn und Tastsinn. Wien. (Diplomarbeit.). Feldbusch, Hans (1944). [Art.] „Brief“, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte (RDK). Hg. v. Otto Schmidt et al. Bd. 2. München: Sp. 1172. Gudlaugsson, Sturla J. (1959–1960). Gerard ter Borch. 2 Bde. Den Haag.

2.13 Der Brief in der darstellenden Kunst bis zum 17. Jahrhundert 

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Hammer-Tugendhat, Daniela (2001). „Der unsichtbare Text. Liebesbriefe in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts“, in: Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Hg. v. Horst Wenzel, Wilfried Seipel u. Gotthart Wunberg. Wien: 158–174. Hammer-Tugendhat, Daniela (2009). Das Sichtbare und das Unsichtbare. Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Köln u.  a. Hammer, Ivo (1975). Typologie und frühbürgerlicher Realismus. Die Biblia Pauperum WeigelFelix, New York, Pierpont Morgan Library MS. 230. Wien. (Unpublizierte Diss.). Hildebrandt, Dieter (2014). Die Kunst, Küsse zu schreiben. Eine Geschichte des Liebesbriefs. München. Jongh, Eddy de (1967). Zinne- en minnebeelden in de schilderkunst van de zeventiende eeuw. Amsterdam. Jongh, Eddy de (1976). Tot leering en vermaak. Betekenissen van Hollandse genrevoorstellingen uit de zeventiende eeuw. Ausstellungskatalog, Rijksmuseum Amsterdam. Amsterdam. Koschorke, Albrecht (1999). Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München. Leymarie, Jean (1967). Der Brief als Thema der Malerei. Genf. Luhmann, Niklas (1994 [1984]). Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. Naumann, Otto (1981). Frans van Mieris (1635–1681) The Elder. 2 Bde. Doornspijk. Nickisch, Reinhard M. G. (1991). Brief. Stuttgart. Penot, Sabine (2000/2001). Sprechende Bilder – Lesbare Briefe. Zum Briefmotiv in der Malerei des 16. bis 18. Jahrhunderts. Freiburg i. Br. (Diss. Mikrofiche). Schulze, Sabine (Hg.) (1993), Leselust. Niederländische Malerei von Rembrandt bis Vermeer. Ausstellungskatalog, Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main. Stuttgart. Stadter, Julia (2015). Der Brief im Spiegel der Künste. Briefmotive und Bühnenbriefe in Malerei, Literatur und Musiktheater. Sinzig. Stauf, Renate, Annette Simonis u. Jörg Paulus (Hg.) (2008). Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin u. New York. Sutton, Peter C., Lisa Vergara, Ann Jensen Adams (Hg.) (2003). Love Letters. Dutch Genre Paintings in the Age of Vermeer. Ausstellungskatalog, Bruce Museum of Arts and Science, National Gallery of Ireland. London. Vellusig, Robert (2000). Schriftliche Gespräche: Briefkultur im 18. Jahrhundert. Köln u.  a. Wenzel, Horst (1995). Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München.

Elisabeth Fritz

2.14 Der Brief in der darstellenden Kunst seit dem 18. Jahrhundert 1 Der Brief als weibliches Medium im 18. und 19. Jahrhundert Im 18. und 19. Jahrhundert erfährt das Briefgenre in den bildenden Künsten mit der Entwicklung der bürgerlich-aufgeklärten Briefkultur und -theorie (vgl. Ebrecht et al. 1990; Nörtemann 1990; Nickisch 1999; Vellusig 2000; Golz 2010, 252) in ganz Europa eine Weiterführung und Ausdifferenzierung. Im Sinne eines Mediums der Empfindsamkeit und Identitätskonstruktion (vgl. Reinlein 2003) wird die Konnotation des Briefs, und insbesondere Liebesbriefs, als typisch weibliches Schreiben in Verbindung mit Idealen der Natürlichkeit und Tugendhaftigkeit ausformuliert und gefestigt (vgl. Hämmerle und Saurer 2003; Hammer-Tugendhat 2009, 257; Stauf und Paulus 2013). Als potentieller Freiraum des Denkens und Fühlens kann das Briefeschreiben auch als Ort der Emanzipierung und Selbsterfindung verstanden werden (vgl. Nickisch 2011). Dabei sind die Grenzen zu anderen Szenarien des weiblichen Schreibens und Lesens fließend (vgl. Nies und Wodsak 2000; Goodman 2009; Bollmann 2010). Aufgrund der Bedeutung von privaten Briefen und öffentlichen Korrespondenzen in der französischen Galanterie- und Geselligkeitskultur – beispielhaft sei hierfür der Briefverkehr der Marquise de Sévigné genannt  – spielt in Frankreich das Motiv auch in der malerischen Darstellung von Konversationspraktiken, Liebesbeziehungen und Erotik eine wichtige Rolle. Die Beliebtheit des Briefgenres in der französischen Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts spiegelt sich in der größeren Beachtung des Themas in der französischsprachigen Fachliteratur (vgl. Leymarie 1967; Bray 1986; Buisine 1990; Magnan 1990  ff.; Dennefeld 2001; Dauphin und Poublan 2009; Bocquillon 2010).

2 Französische Genremalerei des 18. Jahr­ hunderts: Imagination und Dekoration Für die Herausbildung der französischen Genremalerei ist die holländische und flämische Kunst des 17. Jahrhunderts maßgeblich prägendes Vorbild, die bei Pariser Privatsammlern gleichermaßen beliebt war (vgl. Vogtherr 2003, 23). Frühe Genrebilder mit Briefen finden sich im Zusammenhang der Inszenierung besonderer https://doi.org/10.1515/9783110376531-023

2.14 Der Brief in der darstellenden Kunst seit dem 18. Jahrhundert 

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Lichtsituationen, wie z.  B. in Jean-Baptiste Santerres Darstellung einer jungen Briefleserin bei Kerzenschein (um 1700, Puschkin Museum, Moskau) oder der ab 1716 in mehreren Versionen ausgeführten Lesenden von Jean Raoux (Musée Calvet, Avignon; Musée du Louvre, Paris). Beide spielen mit der Nahansichtigkeit einer halbfigurigen Leserin mit versunkenem Blick auf einen Brief, wobei bei Santerre durch die Flamme v.  a. das Gesicht gegen das nächtliche Dunkel des Hintergrunds abgehoben wird und bei Raoux eher der aufgefaltete Brief sowie die Brustpartie der Frau und ein Miniaturporträt des vermutlichen Absenders durch eine nicht dargestellte Quelle ins Licht gerückt werden. Jean-Étienne Liotard greift im genrehaften Pastellportrait der Mademoiselle Lavergne (1746, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden) diesen Typus der nahansichtigen Brieflesenden auf. Damit findet im Vergleich zu den niederländischen Vorbildern eine gewisse Herauslösung aus dem detailliert geschilderten häuslichen Umfeld und ein Heranrücken des Bildausschnittes zu den Betrachtenden statt (vgl. Buisine 1990, 78–79). Jean-Siméon Chardins Briefsieglerin (1733, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, Schloss Charlottenburg, Berlin) zeigt einen solchen nahen Einblick in ein zeitgemäßes Interieur. Während die Verfasserin Siegelwachs und Brief bereithält, entzündet der bereits zum Ausgehen gekleidete Bote die Kerze, wodurch auf den Moment des Versiegelns, aber auch das möglichst baldige Überbringen der Nachricht verwiesen wird (vgl. Vogtherr 2003). Eine Erneuerung stellt die Darstellung von Briefszenen im Kontext theatraler Aufführungen dar, wie sie zeitgleich an Beliebtheit auf französischen Bühnen gewannen. Ein frühes Beispiel sind Antoine Watteaus Comédiens François (um 1720, Metropolitan Museum, New York), in dem ein auf dem Boden liegender, zerrissener Brief die Schlüsselrolle in einem von dramatisch gestikulierenden Schauspielern vorgeführten Stück einzunehmen scheint (vgl. Morgan Grasselli und Rosenberg 1985, Kat. 70, 436–439). Theaterhaft ausgestattet und bühnenhaft inszeniert mutet auch Charles-Antoine Coypels Die Überraschung (1733, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, Schloss Sanssouci, Potsdam) an, in dem eine ältere Dame mit auffallender Brille der jüngeren Schreibenden über die Schulter – und weniger auf die heimlich verfasste Botschaft als aus dem Bildraum heraus – blickt, während die andere gedankenverloren nach links oben schaut. So nimmt sie weder die Beobachterin in ihrem Rücken noch die Betrachtenden zur Kenntnis, vor denen sich die gesamte Szene in naher Ansicht abspielt, da der Bildraum nur durch den Schreibtisch abgetrennt ist. Im französischen Rokoko der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erlebt die Verbindung von Briefszenen mit Darstellungen von Verführung und Erotik eine Blütezeit und wird u.  a. in der Druckgraphik durch zahlreiche Künstler verbreitet. Durch die Einbettung des Themas in das von François Boucher geprägte Genre der Pastorale werden die Szenen des Briefschreibens, -lesens und -versendens in die freie Natur versetzt, und das Motiv der Brieftaube gewinnt an zentraler Bedeutung

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Abb. 1: François Boucher, The Love Letter (La lettre d’amour), 1750, Öl auf Leinwand, 81,2 × 75,2 cm, Timken Collection, National Gallery of Art, Washington, Courtesy National Gallery of Art, Washington

in der Liebessymbolik (Abb. 1: La lettre d’amour, 1750, National Gallery of Art, Washington). Zudem sind Briefe ein wichtiges Attribut der erotisierenden Boudoir- und Salonmalerei zur Darstellung elitärer Frauen im privaten Wohnbereich (vgl. Goodman 2009, 28), wie z.  B. bei Bouchers Madame de Pompadour (1756, Alte Pinakothek, München) oder im Kontext der zahlreichen Briefdarstellungen Jean Honoré Fragonards (vgl. Stadter 2015, 124). Die großformatige Szene von Fragonards Le Billet doux (1775, Metropolitan Museum, New York) zeigt eine junge Frau an einem eleganten Schreibtisch beim Fenster, auf dem mehrere Blätter auf einen regen Briefwechsel verweisen. In der einen Hand hält sie das eben erhaltene Blumenbukett, in der anderen den beigelegten Brief, auf dem einzelne Buchstaben-

2.14 Der Brief in der darstellenden Kunst seit dem 18. Jahrhundert 

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folgen lesbar, aber nicht eindeutig zu entziffern sind. Durch die für Fragonard typische pastellige Farbpalette und den dynamischen Pinselstrich wird der Imaginationsraum der angedeuteten Liebesgeschichte zusätzlich aufgeladen. Mit ihrem zu den Betrachtenden gerichteten Blick erklärt die aufwendig zurechtgemachte Dame ihr Einverständnis in deren Teilhabe an der Geschichte (vgl. Faroult 2015). Die Beliebtheit von erotisierenden Liebesbriefszenen ist auch durch die ab der Mitte des Jahrhunderts sich verbreitende neue Gattung des Briefromans zu erklären. Bereits in frühen Ausgaben finden sich Illustrationen der literarisch geschilderten Briefszenen, welche einen eigenen, bisher nicht erforschten Teilbereich der künstlerischen Briefmotivgeschichte darstellen (vgl. beispielsweise die Kupferstiche in der Luxusausgabe von Samuel Richardsons Pamela, or Virtue Rewarded von 1742; die von Gottlieb Leberecht Crusius nach Vorlagen von Hubert François Gravelot gestochenen Darstellungen für die bereits 1761 in Leipzig publizierte erste deutsche Übersetzung von Jean-Jacques Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse oder Daniel Chodowieckis Kupferstiche in der französischen Ausgabe von Samuel Richardsons Clarissa von 1785). Englische Künstler wie Francis Hayman und Joseph Highmore setzten ausgewählte Szenen aus Richardsons Pamela bereits kurz nach dem Erscheinen (1740) in der Malerei um. Auch Illustrationen in Briefstellern sowie Gemälde von briefromanlesenden Frauen, u.  a. von JeanBaptiste Greuze, sind in diesem Zusammenhang von Interesse. Mit der Integration in umfassende Raumgestaltungen erfährt die Verbindung von privatem Innenraum, Konversationskultur und gemaltem Brief schließlich einen Höhepunkt, der jedoch auch zu einer gewissen Abwertung als rein dekoratives Element führt. In dem von Madame du Barry bei Fragonard für den Pavillon de Louveciennes beauftragten 4-teiligen Bildzyklus Les Progrès de l’amour dans le cœur d’une jeune fille (1771–1773, Frick Collection, New York) wird das narrative Moment von Briefen im Kontext der Entstehung einer Liebesbeziehung als Serie ausformuliert. Die Beliebtheit solcher Zyklen mit Liebesbriefen zeigt eine ähnliche Ausstattung von Jean Baptiste Huet im eigens dafür eingerichteten hexagonalen Salon des Hôtel Camondo (um 1776, Musée Nissim Camondo, Paris). Die sich im Mittelpunkt der sie umgebenden Tafeln befindlichen Betrachtenden übernehmen bei der imaginativen Konstruktion einer zusammenhängenden Geschichte eine zentrale Rolle. Die erzählerische Funktion des Liebesbriefmotivs wird im späten 18.  Jahrhundert u.  a. von Louis-Léopold Boilly und Jean-Baptiste Greuze aufgegriffen und dabei teilweise dramatisch zugespitzt oder mit moralischem Unterton verbunden. Die französische Genremalerei und deren Auseinandersetzungen mit dem Briefsujet nimmt zudem Einfluss auf die Entwicklung der Gattung in Italien (Pietro Longhi, Antonio Pietro Rotari), England (Thomas Gainsborough) sowie Deutschland, wo sie sich v.  a. in der bürgerlichen Malerei des 19. Jahrhunderts entfaltet.

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

3 Genremalerei in Romantik und Biedermeier: Individualisierung und Anekdote Ausgehend von der bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts französisch dominierten Briefkultur entwickelt sich in der zweiten Jahrhunderthälfte sowie im frühen 19. Jahrhundert der bürgerliche, private und romantische Brief in Deutschland (vgl. Nickisch 1991, 44–59; Golz 2010, 252). Dabei wird der Brief auch als Medium der Individualisierung und des Ausdrucks ästhetischer Subjektivität verstanden (vgl. Bohrer 1989). Als „eine Art Selbstgespräch“ (Goethe, zit. n. Golz 2010, 253) wird das Briefschreiben zunehmend auch Ort der monologischen Selbstreflexion und des weltverdrossenen Rückzugs des isolierten Künstler-Ichs ins Private (vgl. Vellusig 2000, Kap. 6). Angesichts der Bedeutung des Briefs als Ausdrucksmedium für die Literatur und Lebenspraxis der Romantik überrascht dessen eher seltene explizite Darstellung in deren Malerei. Zu erwähnen sind Szenen des Schreibens in der bürgerlichen Stube, wie z.  B. Georg Friedrich Kerstings Herr am Sekretär (1811, Schlossmuseum Weimar), den man in einer Hinteransicht am ausgeklappten Sekretär mit einer Feder sieht, auf dem sich ein am gebrochenen Siegel erkennbarer Brief befindet. Weder die anderen Attribute auf dem Möbel, die eher an Studienobjekte erinnern, noch der nach vorn gekippte Spiegel, der an der Wand hinter dem Mann kaum sichtbar einen der Gipsabgüsse in verzerrter Ansicht zeigt, geben Auskunft über mögliche Inhalte des von ihm gerade verfassten Schriftstücks oder über eine*n außerhalb des Bildes befindliche*n Empfänger*in. So erscheint der Schreibende, für den vermutlich Kerstings Malerkollege Gerhard von Kügelgen als Modell diente, eher als allein für sich schaffender Künstler denn als romantischer Liebhaber. Die konkrete anekdotische Ausformulierung oder melodramatische Aufladung der bisher eher zur freien Imagination anregenden Narrative gewinnt für das Briefthema in der Genrekunst des 19. Jahrhunderts wesentlich an Bedeutung und findet etwa in volkstümlich-traditionell angelegten Sujets aus dem Bauernmilieu (vgl. Tschoeke 1996, 201; Stadter 2015, 127) oder in detailreich geschilderten Alltagsszenen des Biedermeier Ausdruck. Der Brief übernimmt dabei die Rolle der Übermittlung einer spezifischen Nachricht, die sowohl humorvoll als auch tragisch ausfallen kann. Ein Beispiel für letzteres Szenario ist Peter Fendis Gemälde Traurige Botschaft (1838, Wien Museum), welches eine Frau mit verzweifelt in die Hände gelegtem Gesicht in einer ärmlich ausgestatteten Stube zeigt. Auf ihrem Schoß liegen ein Säugling und ein entfalteter Brief, der von dem eben durch die offene Tür gekommenen Offizier in Uniform überbracht worden ist, zu dem das hinter der Frau stehende Kleinkind aufblickt. Die traurige Botschaft ist ohne Zweifel die Nachricht vom Tod des Ehemanns und Familienvaters.

2.14 Der Brief in der darstellenden Kunst seit dem 18. Jahrhundert 

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Abb. 2: Carl Spitzweg, Der abgefangene Liebesbrief, 1850/55, Öl auf Leinwand, 54 × 32,2 cm, Museum Georg Schäfer, Schweinfurt, Courtesy Museum Georg Schäfer, Schweinfurt

Einen Gipfel der ironisch-witzigen Zuspitzung im Gegensatz zum rührseligen Drama stellen die Briefbilder von Carl Spitzweg dar, in denen der Fokus besonders auf den Boten gelegt wird. Darunter befinden sich die Darstellung eines heimlichen Briefüberbringers mit zum Gruß erhobenem Zylinder hinter der Mauer eines Hausgartens, der von der Brief-Empfängerin mit erhobenem Finger zur Ruhe ermahnt wird, um die schlafende Gouvernante nicht zu wecken (Der

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Liebesbrief (Der Hausgarten), 1845, ehemals Berlin), jene von einem Postboten in einer Gasse mit einem einzelnen Brief in der Hand und mehreren hoffnungsvollen potentiellen Empfängerinnen an den Fenstern der umgebenden Häuser (Der Briefbote im Rosenthal, 1858, Universitätsmuseum Marburg) oder die Ansicht einer Fassade, aus deren oberem Fenster ein junger Mann einen Brief an einer Schnur in das untere Geschoss abzuseilen versucht, was die in Handarbeit vertiefte junge Adressatin nicht zur Kenntnis nimmt, wohl aber ihre erstaunt aufblickende Aufseherin (Abb. 2: Der abgefangene Liebesbrief, um 1850/1855, Museum Georg Schäfer, Schweinfurt). Im Zuge des Aufkommens der realistischen Tendenzen sowie der Entwicklung des modernen und universellen Postwesens erfährt der Brief im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend eine Versachlichung oder eine Tendenz zur Politisierung (vgl. Schwarz 1990; Nickisch 1991, 56–57; Baasner 1999). Das Briefmotiv wird nun in populärkulturellen Medien in hoher Auflage druckgraphisch verbreitet, so z.  B. in Form von Postkarten, Zeitschriftenkarikaturen, pädagogischen Lehrbüchern oder Liedpartituren (vgl. Dauphin und Poublan 2008). Im Rahmen der Bekanntmachung bzw. Bewerbung des sich immer weiter ausbauenden und technisierenden Postverkehrs wird auch dessen Selbstdarstellung zunehmend künstlerischer Gegenstand (vgl. Beyrer und Täubrich 1996). Beliebt sind u.  a. auch Darstellungen des Vorlesens von aus der Ferne kommenden Briefen im Familienkreis (vgl. Tschoeke 1996, 201–204).

4 Porträt und Historie im 18. und 19. Jahrhundert: Der Brief als Attribut und Dokument Während sich die Entwicklung des Briefmotivs in den darstellenden Künsten innerhalb der Genremalerei auch in übergreifenden Zusammenhängen erfassen lässt (vgl. Buisine 1990; Tschoeke 1996), stellt sich dessen Verwendung in den Gattungen Historie und Porträt eher disparat dar. In der Porträtmalerei des 18. und 19.  Jahrhunderts dient der Brief weiterhin als Attribut von Gelehrsamkeit und Kommunikation. Ein bekanntes Beispiel ist Louis-Michel van Loos Porträt des briefschreibenden Denis Diderot (1767, Musée du Louvre, Paris). In origineller Weise macht sich Goya – der auch eine im Freien stehende Briefleserin mit Begleiterin abgebildet hat (1814–1819, Musée des Beaux-Arts, Lille)  – den Brief im Porträt als Ort der Künstlersignatur zu Nutze. So z.  B. in den auffällig informell und persönlich gestalteten Bildnissen des Gaspar Melchor de Jovellanos (1789, Museo del Prado, Madrid), des Don Pedro, Duque de Osuna (1798, Frick Collection, New York) oder des Sebastián Martínez y Pérez (1792, Metropolitan

2.14 Der Brief in der darstellenden Kunst seit dem 18. Jahrhundert 

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Museum, New York). Widmungen wie „El Duque de Osuna. Por Goya“ auf dem in den Händen des Porträtierten gehaltenen Brief verweisen auch auf Goyas eigene Teilhabe als aktiver Briefschreiber an den intellektuellen Kreisen seiner Mäzene am spanischen Hof. In weiblichen Porträts können Briefe zudem narrative Funktionen annehmen, etwa bei Élisabeth Vigée-Lebruns Comtesse de Cérès (1784, Toledo Museum of Art), welche auffordernd zu den Betrachtenden aus dem Bild blickt, oder in Adélaïde Labille-Guiards Gemälde (1787, Musée des Beaux-Arts, Quimper), in dem die Porträtierte durch den lesbaren Inhalt ihres eben verfassten Briefes als sorgsame und liebende Mutter ausgewiesen wird (vgl. Goodman 2009, 21; Stadter 2015, 117, 131–133). Ein interessantes Doppelporträt, bei dem ein Brief Auskunft über eine innige Paarbeziehung gibt, ist Ford Madox Browns Henry Fawcett; Dame Millicent Garrett Fawcett (1872, National Portrait Gallery, London). Es zeigt den erblindeten Ökonomieprofessor mit der auf der Armlehne seines Stuhls sitzenden Frau, die sich wie er für das Wahlrecht der Frau in Großbritannien einsetzte. Millicent hält eine Feder in der über die Schulter ihres blinden Mannes gelegten rechten und ein für ihn verfasstes Schreiben in der linken Hand, die wiederum von ihm berührt wird (vgl. Bollmann 2010, 31). Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert verweisen Briefe als Attribute von Porträtierten zudem auf die Reisetätigkeit und damit verbundene Korrespondenzen, insbesondere im Zusammenhang der für Aristokraten und Bildungsbürger maßgebenden Grand Tour. So stellt das Bildnis des Charles Joseph Crowle von Pompeo Batoni (um 1761–1762, Musée du Louvre, Paris) den englischen Juristen während eines Aufenthalts in Rom dar, der ein als Brief deutbares Schriftstück in der Hand hält. Auf dem prunkvollen Tisch, an dem er in einer Art Loggia mit Ausblick auf eine italienische Landschaft lehnt, befinden sich neben Modellen des Herkules Farnese und der vatikanischen Ariane auch Schreibinstrumente (vgl. Bowron 1985). Eine ähnliche Schilderung eines korrespondierenden Italienreisenden, jedoch im Innenraum mit diversen Ausstattungsstücken, gibt Franz Ludwig Catels Porträt von Karl Friedrich Schinkel in Neapel (1824, Alte Nationalgalerie, Berlin). Zu einer Vermischung von Historie, Porträt und Genre kommt es im 18. und 19.  Jahrhundert in Darstellungen, in denen Briefe als Nachrichten oder Dokumente historischer Ereignisse auftreten. Beispiele dafür sind eine Gefängnisszene von Hubert Robert, die den für seine ebendort verfassten Briefe bekannten Schriftsteller Jean-Antoine Roucher wenige Tage vor der Überführung nach Saint Lazare und seiner Exekution zeigt (1794, Wadsworth Athenneum Museum, Hartfort); Die doppelte Auszeichnung eines aus den Freiheitskriegen zurückkehrenden französischen Soldaten von Pierre-Alexandre Wille (1781, Musée National de Coopération Franco-Américaine, Blérancourt) oder Adolph Menzels Die Bitt-

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

schrift (1849, Alte Nationalgalerie, Berlin) aus dem Zyklus zum Leben Friedrichs II. Das prominenteste Werk in diesem Zusammenhang ist Jacques-Louis Davids Tod des Marat (1793, Musées Royaux des Beaux-Arts, Brüssel), das den Jakobiner als Märtyrer inszeniert. Auf dem Bild sind gleich zwei Schreiben mit lesbarem Inhalt zu sehen: Während der in einem Heilbad befindliche kranke Marat den Brief der Attentäterin Charlotte Corday in der linken Hand hält, liegt auf der als Schreibpult dienenden Holzkiste vor ihm eine Assignate samt Notiz ihrer Bestimmung für eine Kriegerwitwe. Diese symbolisiert einen letzten mildtätigen Akt des Sterbenden und rühmt zudem den ehrenvollen Tod für die Verteidigung der Revolution. Die Schreibfeder befindet sich noch in seiner zu Boden gesunkenen rechten Hand neben der blutigen Mordwaffe des Messers (vgl. Traeger 1986).

5 Malerei der Moderne Mit der Erneuerung der Ausdrucksmittel und den stilistischen Experimenten der Malerei der Moderne kehrt das Motiv des Briefs auch im Stillleben wieder. Edouard Manet integriert einen „À Mlle Berthe“ gerichteten und von ihm unterzeichneten Brief in ein Stillleben (1872, Privatsammlung). Vincent van Gogh nutzt im Stillleben mit Zeichenbrett, Pfeife, Zwiebeln und Siegellack (1889, Rijksmuseum Kröller-Müller, Otterlo) einen an ihn adressierten, umgedrehten Brief seines Bruders Theo als wortwörtlich verkehrte Künstlersignatur und verweist so zudem auf seine schriftlichen Verbindungen zur Außenwelt während des eben stattgefundenen Krankenhausaufenthaltes (vgl. Buisine 1990, 70). Den trompe-l’œil-Effekt niederländischer Steckbrettstillleben übernehmen u.  a. die US-amerikanischen Maler William Harnett und John Frederick Peto. Dabei werden auch im Postverkehr des 19.  Jahrhunderts neu aufkommende Medien dargestellt: der separate Umschlag, der nun anstatt des Siegelns der gefalteten Briefdokumente zum Einsatz kam, sowie die frankierende Briefmarke, welche seit den 1840er Jahren in Europa und den USA Verbreitung fand (vgl. Leymarie 1967, 50–52). In der naturalistischen und impressionistischen Kunst spielen Interieur- und Alltagsszenen eine bedeutende Rolle, wobei es oft Frauen sind, die einfachen Tätigkeiten, wie Spazierengehen im Park, Gesprächen beim Kaffeetrinken, Baden oder eben auch Schreiben und Lesen von Briefen, nachgehen. Dabei liegt der Fokus weniger auf einer ikonographischen Erneuerung des Themas als auf stilistischen und kompositorischen Neuschöpfungen. Einblicke in private Interieurs mit ein oder zwei ins Lesen vertieften oder verträumt bis melancholisch nachsinnenden Leserinnen geben etwa Camille Corot, Alfred Stevens, Émile Lévy, John

2.14 Der Brief in der darstellenden Kunst seit dem 18. Jahrhundert 

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Everett Millais, Otto Scholderer, Émile Munier sowie die zahlreichen Variationen des Motivs bei Auguste Renoir. Auguste Toulmouche nimmt das Sujet zum Anlass für besonders detaillierte Schilderungen von kostbaren Stoffen, Möbeln und Gegenständen. Interessante Varianten sind Edgar Degas’ skizzenhaftes Pastell mit einer ihr langes Haar über dem Kopf knotenden Frau, der von einer aus dem rechten Bildrand kommenden Hand eine Briefnotiz gereicht wird (Femme se coiffant, la lettre, um 1888, Christie’s Auktion 7562, 4.2.2008, London) sowie James Tissots reich gekleidete Dame, die sich verstohlen zum heimlichen Lesen eines Briefs aus dem Blickfeld des Dieners, der eben den im Freien stehenden Kaffeetisch abräumt, in die davor liegende weiträumige Parkanlage zurückzieht (La Lettre, 1876–1878, Museum of Art, Ottawa). Moderne Versionen der Briefschreiberin am Schreibtisch zeigen Pierre Bonnards Der Brief (1906, National Gallery of Art, Washington) in einer ausschnitthaften Aufsicht, Félix Vallottons Porträt der Pariser Kunstmäzenin Misia à son bureau (1897, Musée de l‘Annonciade, Saint-Tropez), der die Szene in großen Farbflächen wiedergibt, sowie Mary Stevenson Cassatts in Mischtechnik ausgeführte Druckgraphik La lettre (1891, National Gallery of Art, Washington). Letztere stellt eine Asiatin beim Anlecken des Kuverts für den vor ihr liegenden Brief dar und erinnert aufgrund der flächenhaften, über das Kleid der Frau wie die Tapete im Hintergrund reichenden Ornamentik an japanische Holzschnitte. Eine Einbindung in Szenen des modernen Großstadtlebens erfährt das Sujet bei Jean Béraud (La lettre, 1908, Privatsammlung) und bei dem in Paris tätigen japanischen Maler Leonard Tsuguharu Foujita (Café, 1949, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris), die beide das Motiv des Briefverfassens samt zugehöriger Schreibinstrumente in ein Café versetzen. Juan Gris zeigt auf einer Gouache im langgezogenen Hochformat ein düsteres Paar an einer Straßenlaterne, bei dem sich das Weiß der aufgefalteten Notiz in der Hand der Frau kontrastreich von der opaken schwarzen Fläche ihres Kleides abhebt (La Lettre, ca. 1909, Christie’s Auktion 1902, 7.11.2007, New York). Edward Hopper überträgt das Thema der einsamen, über einen Brief nachsinnenden Frau schließlich ins Umfeld eines modern-anonymen Hotelzimmers (Hotel Room, 1931, Museo Nacional ThyssenBornemisza, Madrid), in dem die Frau bis auf die Unterwäsche entkleidet neben zwei gepackten Koffern auf dem Bett sitzt. Trotz der intensiven Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Bild, Schrift und Sprache spielt die explizite Darstellung von Briefen für die Malerei des Kubismus und Surrealismus keine zentrale Rolle. Bei Picasso finden sich einzelne Werke zum Thema (z.  B. La Lecture de la lettre, 1921, Musée Picasso, Paris), Juan Gris integriert teilweise Briefe in seine kubistischen Stillleben.

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

6 Künstlerbriefe: Korrespondenzen über Kunst und illustrierte Brief-Kunstwerke Briefe sind seit der Frühen Neuzeit ein zentrales Kommunikationsmedium bildender Künstler*innen und stellen somit eine wichtige kunsthistorische Quelle in Bezug auf die Genese und zeitgenössische Rezeption von Kunstwerken sowie ihre biographischen oder soziokulturellen Kontexte dar (vgl. Guhl 1853, 1856; Pollack 1913; Uhde-Bernays 31957 [1926], 1960, 1963; Hocke 41949). Besonders für die Kunst der Moderne wird der Briefverkehr zum wichtigen Artikulationsorgan bei der Formulierung eines neuen Kunstverständnisses und der Herausbildung von Künstlernetzwerken (vgl. Cassirer 1919; Schwarzer 2010). Zu erwähnen sind z.  B. die Briefwechsel von Wilhelm Leibl, Vincent van Gogh, Henri Matisse, Paula Modersohn-Becker oder der Künstlergemeinschaft Gläserne Kette rund um Bruno Taut. Einen eigenen Forschungsbereich stellt darüber hinaus der illustrierte Künstlerbrief dar, welcher zum intermedialen Experiment beim Aufeinandertreffen von Text und Bild anregt (vgl. Essig und Schury 2003; Wiethölter 2008, 2010; Marny 2012; Knop 2013). Illustrierte Briefe sind u.  a. von Adolph Menzel, Else LaskerSchüler, Ernst Ludwig Kirchner, Franz Kafka, Willi Baumeister, Hannah Höch, Ernst Penzoldt, Antoine de Saint-Exupéry, Rémy Hétreau, Horst Janssen oder Jürgen Brodwolf erhalten. Als beispielhaft kann der bild-textliche Austausch zwischen van Gogh und Gauguin angeführt werden (vgl. Merlhès 1996). In den ab 1968 entstandenen Siebdruckserien von Niki de Saint-Phalle wird der Bilderbrief durch die serielle Reproduktion und Präsentation in Ausstellungsräumen zum eigenständigen Kunstwerk erhoben (vgl. Morineau 2014, 217–244). Die kindlichfröhlich im Stil von narrativen Comic-Bildfolgen oder als Collagen gestalteten Briefe mit erläuternden Kommentaren sind dabei an einen nicht näher bestimmten Liebhaber („My Love“) oder auch an konkrete Personen im Umfeld der Künstlerin adressiert („Dear Diana“, „Salut Caro Pontus“, „Chère Ann Rotzler“, etc.) und thematisieren u.  a. die Sehnsucht nach der abwesenden Person. In einer besonderen Variante der Konzeptkunst werden die Korrespondenz zwischen Künstler*innen, die Praxis des Versendens und Archivierens von Schriftstücken oder Objekten sowie die dadurch erzeugten Netzwerke selbst zum Kunstwerk. Die von Kommunikationstheorien der 1960er Jahre geprägte Mail Art oder Correspondence Art ist insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren von Bedeutung. Sie dient dabei auch als wichtiges Medium subversiver Kunstpraktiken in sozialistischen Staaten Osteuropas, da sie einen Ausdruck und Austausch außerhalb des offiziellen Kunstbetriebs ermöglicht (vgl. Poinsot 1971; Crane und Stofflet 1984; Dittert 2010).

2.14 Der Brief in der darstellenden Kunst seit dem 18. Jahrhundert 

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7 Gegenwartskunst: Der Brief als materielles Objekt Durch die fortschreitende Technisierung der Kommunikation haben das 19., 20. und 21. Jahrhundert zahlreiche neue Medien hervorgebracht, die den Brief tendenziell ablösen bzw. immer mehr zur Sondererscheinung machen (vgl. Ebrecht 1990; Nickisch 1991, 59–70). Für Künstler*innen der Gegenwart stellen Briefe mit all ihren Gebrauchs- und Reisespuren daher ein besonders interessantes Ausgangsmaterial für Collagen, Assemblagen und Installationen dar. Gerhard Hoehme verarbeitet diverse Textfragmente unterschiedlicher Herkunft zu Schriftbildern in Form von großformartigen Collagen, die er als ‚Briefe‘ betitelt (u.  a. Römischer Brief, 1960; Berliner Brief, 1966). Liz Bachhuber schneidet aus Luftpostbriefumschlägen ihrer privaten Korrespondenzen die Silhouetten von Brieftauben aus und installiert diese für die Arbeit Airmail Birds (1989, PS 1, New York) an der Wand rund um einen als Nistplatz erscheinenden alten Briefkasten (Abb. 3). Alain Séchas erschafft sich ein humorvoll-ironisches Künstler-Alter Ego in seiner Installation einer briefschreibenden Katze vor dem Porträt des Katzenvaters (Le chat écrivain, 1996, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris). Darüber hinaus wird das für Briefe als literarische Kunstform typische Spiel zwischen Authentizität und Fiktion (vgl. Anton 1995) in dokumentarischen Ver-

Abb. 3: Liz Bachhuber, Airmail Birds, 1989, Installation mit Rigipsvögeln, Luftpostumschlägen, Messingbriefkasten, PS 1, New York, Courtesy Liz Bachhuber / Foto: T. Charles Erickson

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

fahren der Gegenwartskunst aufgegriffen. In Prenez soin de vous (2007, 52. Biennale di Venezia) macht Sophie Calle den letzten Satz einer E-Mail, in welcher der Partner der Künstlerin seine Trennung von ihr bekannt gegeben hat, zum Werktitel und Ausgangspunkt einer Textanalyse durch 107 Expertinnen aus unterschiedlichen Fachbereichen. So löst sie die Zeile aus dem eigenen autobiographischen Kontext und erhebt sie zu einer kollaborativen künstlerischen Studie über zwischengeschlechtliche Kommunikationsmuster, deren Ergebnisse als Rauminstallation sowie als 420-seitiges Buch präsentiert werden (vgl. Jauffret 2007). In A Tribute to Safiye Behar (9. Istanbul Biennale, 2005) konstruiert Michael Blum wiederum durch ein ganzes Archiv aus zahlreichen ‚Dokumenten‘ die Fiktion der angeblich realen historischen Person einer türkischen Feministin und beglaubigt deren Existenz u.  a. durch ihren vermeintlich stattgefundenen Briefverkehr (vgl. Lambert-Beatty 2009). So geben Briefe in der zeitgenössischen bildenden Kunst ihre Funktion als dargestelltes Motiv auf und werden als reale Gegenstände selbst zum Objekt künstlerischer Gestaltung. Das imaginative Potential der zahlreichen narrativen und symbolischen Verweismöglichkeiten sowie die Materialität von darauf hinterlassenen Spuren macht den Brief dabei ungebrochen zu einem Faszinosum und Schlüsselthema in den bildenden Künsten, dessen gründliche kunsthistorische Erforschung noch aussteht.

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2.14 Der Brief in der darstellenden Kunst seit dem 18. Jahrhundert 

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

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Joachim Helbig

2.15 Historische Kommunikationslogistik: 600 Jahre Briefpostbeförderung 1 Einleitung Die Funktion eines Briefes besteht in der Beförderung einer verschlossenen Nachricht von A nach B. Die grundlegenden Veränderungen in nahezu allen Bereichen des politischen, wirtschaftlichen, aber auch kulturell-wissenschaftlichen Lebens seit der Renaissance ließen für die Herrschenden in England, Frankreich und vor allem Italien die Notwendigkeit effizienter Kommunikationseinrichtungen vordringlich werden. Die frühesten Posteinrichtungen des 14. Jahrhunderts sind in Italien zu suchen, wo sie sich ausschließlich auf die Sendungen des Hofes und Staates beschränkten. Die Städte, Universitäten und Klöster besaßen ihre eigenen Netzwerke, die teilweise sehr effizient und schnell funktionierten. Unter postalischen Einrichtungen verstand man einen straff organisierten Reiter- und Pferdewechsel an festgelegten Poststationen, so dass täglich bis zu 160 Kilometer Postweg bewältigt werden konnten. Ein treffliches Beispiel für eine solche Einrichtung schuf der Markgraf Albrecht Achilles (1414–1486), der von seiner Ansbacher Residenz aus mit seinem Herrschaftsgebiet in Köln in regelmäßig engem Briefwechsel stand (vgl. Walser 2004). Am bekanntesten sind die Posteinrichtungen der Brüder Janetto und Franz von Taxis, die 1490 im Auftrag des römisch-deutschen Königs und späteren Kaisers Maximilian I. das europäische Postwesen gründeten. Für sie, wie auch für die städtischen und staatlichen Beförderer war die Vermittlung von Briefen ein einträgliches Geschäft, das ohne eine intensive Zusammenarbeit der einzelnen Institutionen nicht funktionieren konnte.

2 Entwicklungsstufen Zur Beförderung der Briefe stand eine kostspielige Infrastruktur bereit, angefangen bei Pferden, Reitern, Wagen, Futter, logistischem Sachverstand bis hin zur Pflege der Poststraßen. Dafür entrichteten die Korrespondenten nach Entfernung und Gewicht gestaffelte Gebühren. Im europäischen Fernverkehr waren stets mehrere Postverwaltungen beteiligt, die eine Entlohnung ihrer Beförderungsleistung forderten. Angesichts inkompatibler Postgesetze und Regeln, unterschiedlicher Währungen und Gewichtsmaße waren grenzüberschreitende Vergütungen https://doi.org/10.1515/9783110376531-024

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die Ausnahme. So mussten Briefe aus und nach England, Frankreich, Österreich etc. lange Zeit bis an die Grenze bezahlt werden (Grenzfrankozwang). Das fremde Porto (unbezahlte Gebühr) leistete der Empfänger. Dort, wo gegenseitige Vergütungsmodelle verabredet waren, um die vollständige Frankierung bis zum Bestimmungsort zu gewährleisten, war ihre Gestaltung meist intransparent und für die Korrespondenten nachteilig, vor allem, wenn sie dadurch auf bestimmte Postwege gezwungen wurden. Die napoleonischen Kriege beseitigten zwar das Alte Reich und damit auch die kaiserliche Reichspost, führten aber zunächst dazu, dass die Herrscher die Post als willkommenes Mittel zur Refinanzierung ihrer Staatskassen betrachteten. Allein in den deutschen Staaten bestanden Anfang des 19. Jahrhunderts noch über 20 selbständige Postverwaltungen, die untereinander lediglich durch bilaterale Verträge verbunden waren, ohne dass überstaatliche Regelwerke in die Abmachungen einflossen. Erst das massiv erhöhte Briefaufkommen und der Erfolg der Eisenbahn machten strukturelle Veränderungen notwendig, die ihren Niederschlag in Gemeinschaftsverträgen mehrerer Postverwaltungen fanden und mit dem Postvertrag Bayern – Österreich 1842 erstmals zwei Staaten zu einem einheitlichen Postgebiet vereinten mit einem einheitlichen Regelwerk, das aufwendige Abrechnungen weitgehend überflüssig werden ließ. Daraus entwickelte sich dann der Deutsch-Österreichische Postverein (1849), dem sich Teile Italiens anschlossen. Die damit verbundene Einführung von Briefmarken war der deutliche Ausdruck für die nun stark vereinfachten Speditionsbedingungen, die den kommerziellen Korrespondenten entgegenkamen. Es folgte der Schritt zur globalen Vereinbarung im Weltpostverein (WPV) 1875, der weltweit nur noch zwei Gebühren kannte (hier bezogen auf das Deutsche Reich): 10 Pfennig (rote Marke) für den Inlandsbrief, 20 Pfennig (blaue Marke) für den Auslandsbrief. Möglich wurde dieser Zusammenschluss durch den einleuchtenden Grundsatz, dass normalerweise jeder Brief einen Gegenbrief erzeugt und so die empfangende Postverwaltung, die keine Gebühr für ihre Arbeit fordern durfte, ebenfalls auf ihre Kosten kam. Der WPV prägt unser heutiges Verständnis von postalischer Kommunikation so nachhaltig, dass wir uns so komplexe Logistikbedingungen wie die des 17. bis 19. Jahrhunderts kaum mehr vorstellen können.

3 Postvermerke Bis heute hat sich an den Grundwerten der Transportlogistik: schnell, sicher, günstig und verlässlich zu sein, nichts geändert. Daraus entwickelte sich im

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Laufe von 600 Jahren ein ausgeklügeltes System an Verfahrensweisen und Kontrollmechanismen, um die Einhaltung dieser Prinzipien sowie deren Effizienz zu gewährleisten und transparent überprüfbar zu machen. Bereits aus dem Jahr 1495 sind im Archiv des Hauses Thurn und Taxis Stundenpässe überliefert, in die jede Station Ankunft und Abgang der Post mit Tag und Stunde eintrug. Abweichungen von der vorgegebenen Beförderungszeit zogen empfindliche Geldstrafen nach sich. Zum Nachweis der Aufgabe notierten manche Postverwaltungen jeden Brief in einem Manual. Dieses „Einschreiben“ wurde seit dem 17. Jahrhundert zur gängigen Zusatz-Dienstleistung, die dem Einlieferer gegen eine fixe Gebühr bescheinigt wurde (vgl. Dallmeier 1990, 63–64; zur Rekommandation und Kartierung vgl. Helbig 2010, 89–94). Die herrschaftlichen Briefe blieben als Gegenleistung zu den gewährten Privilegien im Allgemeinen portofrei und durften besondere Postvermerke in Anspruch nehmen. So befiehlt die Postordnung König Ferdinands I. dem Hofpostmeister 1535, „dass sie [die Postboten] in Hinkunft keinen Brief annehmen sollen, darauf Cito oder ein Justitia steht, sie würden denn befinden, dass solche Briefe von den Regierungen […] in den Erblanden gefertigt seien.“ (Effenberger 1913, 3)

Abb. 1: Cito-Vermerk (cito = schnell) und ein Justitia (= Strafandrohung für Verspätungen in Form eines stilisierten Galgens); Privatbesitz J. H.

Wie die früheren Entwicklungsstadien bereits nahegelegt haben, waren die Dienstleistungen der Post eingebunden in ein komplexes Geflecht unterschiedlicher und nicht selten gegensätzlicher Interessen, die auf den postalischen Außenflächen der Briefe als Postvermerke ihren Niederschlag fanden. Deshalb wäre es zu kurz gegriffen, wollte man die Analyse dieser Postvermerke auf die logistische Funktionsebene reduzieren. Sie bilden vielmehr ein breites Spektrum von Intentionen und Taktiken ab, die Kommunikation auch unter schwierigen Umständen gewährleisteten. Ihre Analyse bedarf einer genauen Kenntnis der jeweiligen postalischen und historischen Situation sowie der Zeichensprache der beteiligten Postverwaltungen und der in den Postverträgen vereinbarten Postvermerke. Den

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Grenzpostämtern kam dabei eine wichtige Schlüsselfunktion zu. Sie waren, wie die umfangreichen Circularsammlungen der Oberpostämter z.  B. in Augsburg und Nürnberg belegen, mit erfahrenen Postfachleuten besetzt, die bei der Abfassung und Durchführung der bilateralen Postverträge verantwortlich zeichneten und die Instruktionen für die Subalternen verfassten.

4 Das Verhältnis zwischen Herrschenden und Postbetreibern Die Reichsgewalt legte zur Aufrechterhaltung und Durchsetzung der Regierungsarbeit Wert auf verlässliche, schnelle und bezahlbare Kommunikationsverbindungen. Daher alimentierte Kaiser Maximilian I. 1490 die Einrichtung und den Betrieb des Postkurses von Innsbruck nach den Niederlanden und beauftragte damit Fachleute aus Italien, die ein optimiertes Konzept dafür entwickelten. Darüber hinaus war es für den Kaiser von Interesse, dass seine Postdiener als Informanten fungierten. Das weitverzweigte Netzwerk der Taxis’schen Compagnia war dafür bestens geeignet, denn abgesehen von der an einigen Postämtern systematisch betriebenen Briefspionage (vgl. Mayr 1935) waren ihre Boten stets aktuell informiert und unmittelbar in die Reaktionen und Stimmungslagen der Briefpartner*innen eingebunden. Sie erfuhren auf ihren Reisen die Neuigkeiten und waren Zeugen der Ereignisse. Es lag also nahe, dieses System über den ursprünglichen Postkurs hinaus auf das Reich auszudehnen, und so schritt der Kaiser zur Privilegierung und Monopolisierung der Taxispost, wohl wissend, dass er durch die Art der Umsetzung Widerstand erzeugen würde. Aber es ging neben der Belohnung für die treuen Diener auch um ihre Bindung an die kaiserlichen Belange, denn eine das Reich umspannende kommunikative Infrastruktur darf als bedeutende Machtklammer für die ansonsten divergierenden Reichsstände gesehen werden. Darin zeigt sich die hohe Bedeutung der Reichspost für die kaiserliche Politik. Bemerkenswert ist allerdings, dass Taxis in den habsburgischen Erblanden des Kaisers selbst nicht Fuß fassen konnte. Ein Umstand, den viele Landesherren als Argument für ihre eigene postalische Unabhängigkeit nutzten. So blieb die Idee einer umfassenden, von Landesgrenzen unabhängigen und nach einheitlichen Regeln funktionierenden Kommunikationslogistik zunächst unerfüllt. Unter diesen Umständen wollte sich Taxis nicht auf die kaiserliche Alimentierung alleine verlassen, sondern war auf Beseitigung der städtischen Botenanstalten und auf Expansion in Reichsterritorien bedacht, die sich keine eigene Postorganisation leisten konnten. Dazu bedurfte es der Öffnung für das private Publikum gegen eine nach Gewicht und Entfernung kombinierte Gebühr. Dieser

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Schritt war in den italienischen Staaten bereits vor 1500 vollzogen worden und lässt sich an dem folgenden Brief nachvollziehen. Er ging in Bologna am 6. März 1529 über Padua nach Venedig. Bis Padua mit 2 soldi Porto (Portobeträge bezahlt der Empfänger, Frankobeträge der Absender) belegt (kleine „2“ unter „Venetia“), dazu kam 1 soldo Dazio (eine Art Zustellgebühr) in Venedig, so dass 3 soldi in Rötel angeschrieben wurden, die der Empfänger zu bezahlen hatte. Dieser Portobrief zeigt, dass verschiedene Postbetreiber bereits zu diesem Zeitpunkt miteinander abrechneten, sonst wäre Bologna nicht an seinen Anteil für die Strecke bis Padua gekommen.

Abb. 2: Von Bologna, 6. März 1529, nach Venedig; Privatbesitz J. H.

Dieses Prinzip gegenseitiger Abrechnung galt bis zum Deutsch-Österreichischen Postverein (1849) und gewährleistete den Anspruch eines jeden Beförderers auf Entlohnung, so dass im Gegensatz zur heute üblichen Versendung von frankierten Briefen fast ausnahmslos grenzfrankierte oder gänzlich unbezahlte Briefe abgeschickt wurden. Den Absendern kam dies entgegen, weil die sichere Ankunft eher gewährleistet war, wenn der Zusteller noch einen Geldbetrag zu erwarten hatte.

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5 Die Beziehungen zwischen den Postanstalten In der aufreibenden und wechselvollen Auseinandersetzung zwischen Taxis und den Landes- bzw. städtischen Postanstalten ging es in erster Linie um die Frage von Sicherheit und Konkurrenz. Die städtischen Boten als Stadtbewohner waren jedermann bekannt und bei Problemen leicht in Regress zu nehmen. Wenn dagegen die Reiter der Reichspost an jeder Station wechselten, war ein Grad an Anonymität erreicht, der nach vertraglich festgelegten Ersatzansprüchen bei Verlust oder Verspätung verlangte, auch wenn die jeweils Verantwortlichen juristisch nur schwer greifbar waren. Die Konkurrenz zwischen den Postanstalten gestaltete sich einerseits als intensiv geführter Verdrängungswettbewerb, bei dem die Reichspost oft die Unterstützung des Kaisers einforderte. Andererseits weisen viele Briefe, die Beförderungsvermerke sowohl der städtischen als auch der Reichsposten tragen, auf ein gut funktionierendes gegenseitiges Abrechnungssystem hin, so dass von intensiver praktischer Zusammenarbeit ausgegangen werden kann. Es blieb aber bei wesentlichen Unterschieden in den Speditionsnormen, die nicht selten zu Missverständnissen führten und auf den Briefen vielfältige und eigentümliche Spuren und Postvermerke hinterließen. So schrieb die österreichische Post Franko- und Portogebühren vorderseitig an, während die von der Reichspost beeinflussten Gebiete das Franko stets hinten und das Porto ausnahmslos vorne anschrieben. Beim Wechselverkehr zwischen beiden Systemen kam es deshalb häufig zu Missverständnissen. Denn solange jede Postanstalt auf der Bezahlung ihrer Transportleistung in klingender Münze beharrte, boten die Briefe ein verwirrendes Bild von Abrechnungsstempeln, Leitvermerken (darunter versteht man Verlangen des Absenders nach einem bestimmten Postweg, der etwa als billiger, schneller oder sicherer angesehen wurde, z.  B. auf Briefen aus deutschen Staaten nach Italien ‚via Svizzera‘ oder via Frankreich etc.) und ausführlichen Gebührenaufschreibungen, die ein Laie schwerlich durchschauen konnte. England und Frankreich legten seit Anfang des 18. Jahrhunderts großen Wert auf die Stempelung der Auslands- und Transitbriefe. Damit wollte man sichergehen, dass die Briefe nicht auf unerwünschten Routen liefen und die komplizierte Gebührenberechnung bei Beteiligung mehrerer Postgebiete gelang. Die deutschen Postgebiete waren in dieser Beziehung zurückhaltender, weil weniger Hinweise auf den Briefen auch weniger Anlass zu Nachfragen und Zweifeln mit sich brachten.

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6 Die Beziehungen zwischen den Post­ verwaltungen und den Korrespondenten Über die Zusammensetzung der hohen Kosten für Briefe mit Mehrfachtransiten verlangten die Korrespondenten eine nachvollziehbare Rechnungslegung auf den Briefen. So bildeten sich Regeln für die postalische Nutzung der Briefaußenflächen heraus. Zur Adressierung, die in Form und Umfang dem Absender überlassen blieb, kamen die Manualnummer, Rekommandationszeichen (Einschreiben), Leitvermerke, Frankoabsätze und Gebührenangaben. Unterschiedliche Regelwerke führten nicht selten zu Missverständnissen und Fehlern. Gerade bei der Notiz der Gebühren herrschte wenig Übereinstimmung unter den Postverwaltungen. So notierten die von der Reichspost beeinflussten Gebiete offene Beträge (Porto) vorne und bezahlte Beträge (Franko) immer auf der Briefrückseite (vgl. Abb. 2). In Österreich, Preußen und Sachsen dagegen standen alle Gebühren vorne, gleichgültig, ob es sich um Franko- oder Portobeträge handelte. Dadurch entstanden oft Irritationen. Zwischen den Postverwaltungen gab es meist nur bilaterale Absprachen, die auf die Wahrung der eigenen Vorteile bedacht waren und nur wenig Rücksicht auf die Interessen der Korrespondenten nahmen. Teilfrankierungen bis zur Postgrenze oder bis zu Zwischenorten waren üblich, weil die Gebührensysteme nicht kompatibel waren und mit verschiedenen Währungen, Gewichten und Entfernungen arbeiteten, so dass die Gesamtgebühr eines Transitbriefes nicht im Voraus zu ermitteln war. Aus diesen wenigen Hinweisen wird bereits deutlich, dass sich ohne intensive Kenntnis der einschlägigen Postverträge und ihrer praktischen Umsetzung die Vielzahl an Postvermerken und Gebührenrechnungen nicht erschließt. Einige Postverwaltungen, z.  B. Frankreich, verhinderten die Transparenz der Gebühren durch sogenannte Paketabrechnungen, bei denen die Briefe zunächst nach Gesamtgewicht zu einem vertraglich vereinbarten Satz vergütet und schließlich einzeln nach Gewicht und Entfernung mit einem ausländischen und einem inländischen Anteil taxiert wurden, wodurch die eigenen und fremden Kosten nur intern bekannt waren. Andere verweigerten jede Frankatur über ihre Grenzen hinaus (z.  B. Österreich), um keine Abrechnung mit anderen Postgebieten pflegen zu müssen. Dadurch wurde der geschlossene Transit verhindert und die offene Übergabe zum Zweck der Briefspionage erzwungen. Einzelne Gruppen der Bevölkerung, z.  B. große Handelsunternehmen, erhielten allerdings besondere Vergünstigungen durch informelle Gebührenermäßigung, Stundung und eigens für sie eingerichtete Schnellkurse. Solange die Konkurrenz der Postverwaltungen bestand, mussten die Absender*innen einerseits viel Aufmerksamkeit, Zeit und Geld für die Durchsetzung

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ihrer Bedürfnisse aufbringen, hatten aber andererseits die Freiheit, sich mehrerer Postwege mit unterschiedlichen Gebühren und Geschwindigkeiten oder privater Vermittler zu bedienen. So standen deutschen Versendern für Briefe nach Italien die Wege über Frankreich, Österreich und die Schweiz offen, die je nach Erfordernis von den Absendern auf den Briefen als Leitvermerke verbindlich notiert wurden. Im Gegensatz zu heute bedurfte die Briefversendung bewusster Entscheidungen der Absender. Kriege und territoriale Veränderungen sowie wetterbedingte Probleme behinderten den regulären Postverkehr gelegentlich erheblich. Damit verbundene Umleitungen und Verzögerungen sind durch die Postvermerke gut erkennbar und zeigen, dass selbst unmittelbare Kriegsgegner den Postaustausch respektierten.

Abb. 3: Von Konstantinopel, 10. Januar 1809, nach Marseille; Privatbesitz J. H.

Als Beispiel dafür dient ein Brief aus Konstantinopel vom 10. Januar 1809 nach Marseille, der wegen der Vorherrschaft der Engländer im Mittelmeer den Weg über Österreich und Bayern nahm. Der Kriegsgegner Österreich ließ diese Briefe während der gesamten Zeit der Auseinandersetzungen bis 1814 ungehindert

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passieren. Alle Beteiligten brachten Opfer, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Der Agent in Konstantinopel frankierte den Brief mit 1 piaster 8 para bis zur österreichischen Grenze (verso Bleistift). Das Hofpostamt in Wien vermerkte ‚Turquie‘, um Anspruch auf die mit Bayern 1809 vereinbarte Transitgebühr von 20 kr bis zur bayerischen Grenze machen zu können. Diese 20 stehen als Porto vorne in kr C.M., die nicht in bayerische 24 kr rheinisch umgesetzt wurden, weil der zwischen Bayern und Frankreich geltende Postvertrag von 1801 deren Vergütung nicht vorsah. Bayern begnügte sich also mit der Vergütung seiner Arbeit durch den Paketpreis für Briefe aus Österreich, den der abgeschlagene Stempel ‚d’autriche‘ dokumentiert, und schrieb die österreichische Forderung in Verlust.

7 Forschungsgeschichte und Perspektive Postalische Kommunikationsgeschichte kommt in der Politik- und Sozialgeschichte praktisch nicht vor und führt in der Wirtschaftsgeschichte nur ein Schattendasein. Obwohl die Briefe mit ihren Postvermerken ein anschauliches und eindringliches Bild der am Kommunikationsprozess beteiligten Interessen und Strategien liefern, findet Forschung nur im außeruniversitären Bereich statt, nicht zuletzt, weil die vor 1938 existierenden postgeschichtlichen Universitätsinstitute, z.  B. in Wien, durch die Nationalsozialisten geschlossen wurden. Deshalb ist auch die seit den 1930er Jahren entstandene umfangreiche Literatur weder in öffentlichen noch Universitätsbibliotheken gesammelt worden. Nur die Philatelistische Bibliothek in München verfügt nahezu über alle einschlägige Fachliteratur. Eine der führenden Institutionen zur Erforschung der Briefanalyse und Postvermerke ist der Deutsche Altbriefsammlerverein, der seit 1935 regelmäßig Hefte für seine Mitglieder herausgibt. Wesentliche Fortschritte könnten durch eine systematische Erfassung der Briefe und Postvermerke in Datenbanken erreicht werden. Eine solche Datenbank existiert bereits (privat) mit über 40.000 Briefeinträgen. Durch die Bereitstellung dieses empirischen Materials und ihre Verzahnung mit den archivalischen Quellen kann schließlich eine praxisnahe Beschreibung der tatsächlichen Kommunikationsverhältnisse in den jeweiligen postalischen Perioden gewonnen werden. In jüngster Zeit haben einige Archive begonnen, ihre Großkorrespondenzen zu inventarisieren bzw. zu scannen. Vor allem die Menz-Korrespondenz im Merkantilmuseum Bozen und die Förster & Günther-Korrespondenz im Stadtarchiv Nürnberg sind zu nennen. Die wichtigsten Briefe der Trew-Sammlung der

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Universitätsbibliothek Erlangen wurden von Helbig (2010) publiziert. Es ist zu erwarten, dass die technologischen Fortschritte zur zügigen Erschließung weiterer Korrespondenzen beitragen werden, für deren interpretatorische Aufarbeitung allerdings noch die geeignet vorgebildeten Forscher*innen fehlen.

Zitierte Literatur Behringer, Wolfgang (1990). Thurn und Taxis. München. Effenberger, Eduard (1913). Geschichte der österreichischen Post. Wien. Dallmeier, Martin (Hg.) (1990). 500 Jahre Post – Thurn und Taxis: Fürstliches Marstallmuseum, Regensburg; 12. Mai bis 29. Juli 1990/Ausstellung anlässlich der 500-jährigen Wiederkehr der Anfänge der Post in Mitteleuropa 1490–1990. Regensburg. Helbig, Joachim (2010). Postvermerke auf Briefen des 15.–18. Jahrhunderts. Neue Ansichten zur Postgeschichte der frühen Neuzeit und der Stadt Nürnberg. München. Helbig, Joachim (in Vorb.). Beiträge zur europäischen Postgeschichte. Mayr, Josef Karl (1935). Metternichs geheimer Briefdienst, Postlogen und Postkurse. Wien. Walser, Robert (2004). Lasst mich ohne nachricht nit. Botenwesen und Informationsbeschaffung unter der Regierung des Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg. München.

Anne Baillot

2.16 Digitalisierung und ihre Einflüsse auf den Umgang mit alten wie neuen ‚Briefen‘ in deutscher wie internationaler Perspektive 1 Begriffsbestimmung Unter Digitalisierung im weitesten Sinne fallen neben der eigentlichen Digitalisierung von physischen Gegenständen (Scans von zwei- oder dreidimensionalen Artefakten; vgl. Schreibman et al. 2004, IV.32.) eine Reihe anderer Verfahren und Informationsverarbeitungen, die das so erstellte Digitalisat online auffindbar machen: die Erfassung von Metadaten, die manuelle, semi-automatische oder automatische Extraktion von Textinformationen (inkl. Annotationen) und deren Einbettung in einschlägige Online-Sammlungen (Datenbanken, Repositorien, Editionen). Für forschungsrelevante Materialien hat die digitale Aufbereitung nach etablierten Standards zu erfolgen, welche die Bedingung für die Anerkennung im wissenschaftlichen Bereich ausmachen. Mit den vier o.  g. Schritten sind Techniken verbunden, die sich teilweise noch in der Entwicklung befinden. Hochleistungsscanner ermöglichen es, empfindliche Materialien beim Scannen physisch unberührt zu lassen (vgl. etwa Totes-Meer-Rollen) oder zerbrechliche Materialien einmal zu erfassen, um die Rekonstruktion der Bruchstücke digital nachzuvollziehen und dabei die materielle Quelle maximal zu schonen (wie bei den Elephantine Papyri). Bei Massendigitalisierungen dagegen ist die niedrige Qualität der Scans für die Nutzung und weitere Bearbeitung oft hinderlich (vgl. die Analyse von Klaus Graf zur Scanqualität in der BSB München). Das Qualitätsspektrum ist breit gefächert. Grundsätzlich entwickelt sich die Scanqualität weiter, sodass es sich bei diesem Verfahren zwar um eine Aufbewahrungs- und Schonungsmaßnahme handelt, die aber nicht zwangsläufig mit einem ­einmaligen Bearbeiten verbunden ist. Gegebenenfalls kann (bzw. soll oder muss) ein solcher Gegenstand im Laufe der Zeit wiederholt gescannt werden, um etwa die Digitalisierungsqualität zu verbessern (zu best practices der Digitalisierung vgl. ETH Bibliothek 2016; Neudecker und Rehm 2016). Der digitalen Erfassung des jeweiligen Gegenstandes muss eine Beschreibung bzw. zusätzliche Information an die Seite gestellt werden. Ohne diese Metadaten sind die erstellten Bilder, etwa von Briefhandschriften oder gedruckten Briefen, nicht auffindbar. Die Verbindung von Scans mit Metainformationen über den https://doi.org/10.1515/9783110376531-025

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

Gegenstand (sowie evtl. auch über den Scan selbst, seine Qualität, seine Herstellung oder den bzw. die Rechteinhaber*innen) ist die unerlässliche Bedingung für ihre Online-Auffindbarkeit und -Zuordnung. Die meisten Wissenschaftler*innen kennen Metadaten in der Regel nur aus Bibliotheks- oder Archivverzeichnissen. Vor dem Aufkommen digitaler Methoden wurde ihre Erstellung meist nicht als Teil der Forschungsarbeit betrachtet. Die Einbettung der unterschiedlichen Informationsebenen im Internet macht sie jedoch zu leistungsstarken digitalen Schnittstellen. Es gibt derzeit kein national oder international einheitliches Format für solche Metadaten (vgl. beispielsweise das Europeana Data Model). Für Briefe ist insbesondere zu unterstreichen, dass gemeinsame Bestrebungen von Bibliotheken, Archiven und Forschung derzeit auf die Definition von für Briefe relevanten Grundinformationen und ihrer Kommunizierbarkeit innerhalb von Einrichtungen abzielen: Absender*in, Adressat*in, Absendedatum, Absendeort, Umfang bilden die archivarische Visitenkarte eines Briefes aus und lassen sich sowohl in archivarischen Formaten (EAD, METS) als auch in wissenschaftlichen Formaten (XML/TEI) erfassen. Die Möglichkeit, eine flüssigere Kommunikation zwischen den Metadatenformaten zu konzipieren und umzusetzen, ist ein anerkanntes Desiderat, das u.  a. von einzelnen Kulturerbe- bzw. Forschungsinstitutionen als auch von Forschungsinfrastrukturen (DARIAH Heritage Data Reuse Charter) angegangen wird. Bei gedruckten und handschriftlichen Briefen stellt sich nach dem Scannen und dem Versehen mit Metadaten die Frage nach der Extraktion von Text in ein maschinenlesbares Format, das die weitere digitale Bearbeitung des Inhalts möglich machen wird. Automatische Zeichenerkennung (OCR) ist nach wie vor keine hundertprozentig zuverlässige Technik, sondern verlangt Kontrolle der Ergebnisse und Nacharbeit. Die erreichten Ergebnisse sind bei typographisch einheitlichen und sauberen Texten von weitgehend höherer Qualität als bei Schriftmischungen, Spaltenaufteilungen und welligem Papier (das Projekt OCR-D strebt an, diese Schwächen aufzufangen). Automatische Handschriftenerkennung erreicht trotz des verstärkten Einsatzes von Machine Learning-Methoden (Hidden Markov Models, Deep Learning) noch keine Ergebnisse, die bei der Einbindung in die digitale Verarbeitung im Wesentlichen manuelle Arbeit signifikant ersparen würden. Nennenswert ist in diesem Zusammenhang das neuerdings entwickelte Tool Transkribus, das einen Schwerpunkt in Sütterlin und früheren deutschen Schreib- und Druckformen hat. Mit Transkribus sind zunehmend bessere Ergebnisse zu erzielen, das Tool ist jedoch noch weit davon entfernt, manuelle Handschriftentranskription zu ersetzen (vgl. die Transkribus-Nutzerberichte). Das Zeichenerkennungsverfahren konzentriert sich auf die Zusammenstellung des im jeweiligen Dokument abzulesenden Fließtextes. Aber bei der digitalen Aufbereitung von Informationsextraktion kann man noch einen Schritt wei-

2.16 Digitalisierung und ihre Einflüsse auf den Umgang mit alten/neuen ‚Briefen‘ 

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tergehen. In diesem Fall geht es nicht ausschließlich um die (semi-)automatische Generierung einer Transkription des Fließtextes des Briefes, denn nicht nur Text kann automatisch extrahiert oder manuell gesucht und markiert (‚ausgezeichnet‘) werden, sondern auch im Text enthaltene Informationen. Diese Technik lässt sich auf alle Textsorten anwenden und die Kriterien je nach Bedarf bestimmen. Bei für Briefe relevanten Informationen sind Methoden am besten entwickelt, die es möglich machen, Entitäten (Personen, Orte, Werke) oder linguistische Informationen zum syntaktischen Textaufbau des Textes zu gewinnen. Zu diesen Zwecken können Verfahren verwendet werden: für NER (Named Entities Recog­ nition; z.  B. mit GROBID), zur Lemmatisierung und zum Part of Speech-Tagging (etwa mit dem TreeTagger, vgl. Schmid 1994; Schmid 1995), zu einer Mischung aus linguistischen und semantischen Informationen die französische Plattform TXM. Die Ergebnisse dieser diversen Erkennungsverfahren können im Nachgang für die Strukturierung der algorithmischen Auswertung der betroffenen Texte verwendet werden (vgl. etwa Schöch 2016), für ihre Verbindung mit anderen OnlineRessourcen (vgl. etwa GND-BEACON) oder aber für die Visualisierung bestimmter (Teil-)Informationen (z.  B. mit Voyant). Die Einbettung digitaler Informationen über Briefgegenstände in digitalen Sammlungen kann auf mehreren Ebenen und im Rahmen von unterschiedlichen institutionellen Zusammenhängen erfolgen. Denkbar ist beispielsweise bei einem Brief ein institutionelles Zusammenspiel, bei dem die Metadaten in einer übergeordneten Datenbank wie Kalliope oder Archiv-D verfügbar gemacht werden; ein Scan auf der Webseite der bestandserhaltenden Institution (bspw. digitalisierte Sammlungen der Staatsbibliothek zu Berlin  – Preußischer Kulturbesitz), eine Transkription in einer wissenschaftlichen Edition und eine Visualisierung der Briefdaten in einem Portal, das die Erstellung von Netzwerkvisualisierungen ermöglicht (vgl. bspw. Nodegoat oder palladio). Damit aber diese Instanzen, die alle von demselben Artefakt oder einer Repräsentation desselben ausgehen, miteinander verbunden sein und auf einander verweisen können, müssen die einschlägigen Informationen in einem Format erfasst werden, das die Kommunikation zwischen diesen Instanzen zulässt. Aus diesem Grunde ist ein Scan im pdf-Format eine digital gesehen äußerst informationsarme Ressource, ein digitales Waisenkind. Der etablierte Standard, der es am ehesten möglich macht, dass Briefdaten in Verbindung mit einander gesetzt werden können, sind die von der Text Encoding Initiative etablierten Richtlinien (TEI-P5, vgl. TEI Consortium 2019). Diese dienen der Kodierung von Texten im Allgemeinen, mit einem besonderen Schwerpunkt auf geisteswissenschaftlich relevanten Texten. Neben für alle Textsorten gültige Auszeichnungsmöglichkeiten hat die TEI bestimmte Richtlinien für Briefe entwickelt, beispielswiese für den Brieftext die Elemente , und

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

, um Briefkopf und -ende, die beim Briefeschreiben feste Bestandteile des üblichen modus scribendi sind, sowie Postskripta, festzuhalten. Im Fall von Briefhandschriften kann ebenfalls das TEI-Modul Critical Apparatus für die Erfassung von textgenetischen Phänomenen herangezogen werden (vgl. Burghart 2017). Für die Vernetzung von Briefdaten jedoch ist vor allem das Element von zentraler Bedeutung, da dieses auf Metadatenebene angesiedelt ist und als Plattform für den Austausch von Briefdaten fungieren kann (vgl. Stadler et al. 2016). erfasst Briefmetadaten auf der Ebene der Kommunikationshandlung (Adressat*in, Absender*in, Datum, Ort, Einbettung in eine Gesamtkorrespondenz), während die Beschreibung der handschriftlichen Spezifika (Materialität) innerhalb der Kategorie bzw. erfolgt. Die auf der Grundlage von correspDesc entwickelte Plattform correspSearch ermöglicht die Suche durch Briefkorpora anhand des Metadatenaustauschformats CMIF (vgl. Dumont 2018). Im Rahmen von Linked Open Data-Ansätzen wird auf die semantische Auszeichnung von Briefen verstärkt Wert gelegt. Die Texte werden in der Regel nicht nach den Richtlinien der TEI erfasst, sondern anderweitig annotiert. Aus RDFTriples lassen sich Informationen extrahieren, die beispielsweise für die Visualisierung oder sonstige semantische Analyse der Briefinhalte einschlägig sind. Bei dieser Form der Kodierung ist jedoch die Verknüpfung mit anderen Ressourcen aufgrund der variierenden Ontologien und Vokabularien nicht einfach zu bewerkstelligen. In der Regel handelt es sich um Insellösungen, bei denen jede Ressource für sich im Netz steht, ohne unmittelbar mit anderen verknüpfbar zu sein.

2 Theoretischer Unterbau Das mit digitalen Briefeditionen, -repositorien, -metadatenverzeichnissen und sonstigen -datenbanken zusammenhängende Verlinkungspotential beantwortet ein lange zuvor bereits identifiziertes Forschungsdesiderat der Briefforschung. Briefe sind dadurch charakterisiert, dass sie nicht für sich bestehen, sondern auf externes Material, Ereignisse oder Personen verweisen. Ihre dialogische Struktur bettet Briefe in einen weitergehenden Informationszusammenhang ein. So steht die Verbindung jeder Briefinstanz mit den kontextuell relevanten Quellen und Informationen im Mittelpunkt der Untersuchung und der Arbeit mit Brieftexten. Digitale Methoden bieten mit Blick auf diese Fragestellung die Möglichkeit, sich von in der Printwelt einschränkenden editorischen Herausforderungen bei der Präsentation von Briefmaterial (alle An-Briefe nacheinander, dann alle

2.16 Digitalisierung und ihre Einflüsse auf den Umgang mit alten/neuen ‚Briefen‘ 

 391

Von-Briefe, oder im Dialog; zwischen zwei Protagonist*innen oder alle Briefpartner*innen einschließend etc.) loszulösen und die Dialogizität zwischen Briefen, Korrespondenzpartner*innen und Texten mehrschichtig zu erfassen und wiederzugeben. Ein- und dieselbe Kodierung in TEI-P5 lässt bei entsprechender Bearbeitung unterschiedliche Webanzeigen zu, so dass man nicht mehr auf eine einzige editorische Aufbereitungsform angewiesen ist, sondern aufgrund derselben Erfassungsgrundlage die unterschiedlichen Aspekte etwa der Dialogizität wiedergeben kann (vgl. Baillot und Busch 2014). Dies setzt allerdings voraus, die technischen Optionen, die auf die jeweilige Fragestellung zugeschnitten werden können, auszuloten und gezielt einzusetzen. Ebenfalls setzt es ein (technisches) Zusammenspiel zwischen Online-Ressourcen voraus, die es in der Printwelt nicht gibt, um die notwendige Verlinkung zwischen den Briefinformationen zu gewährleisten. Der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn der Verknüpfung von Briefmaterial führt zur Institutionalisierung von Kooperationen und epistemologisch zu einer größeren Anpassung gemäß den Anforderungen des Materials und denjenigen seiner digitalen Bearbeitung und Präsentation: Was konzeptionell dialogisch ist, wird auch dialogisch umgesetzt. Während die digitale Erfassung von historisch belegbaren, briefbezogenen Informationen im eben geschilderten Sinne zu einer neuartigen Potenzierung von Briefmaterial beiträgt und die Briefforschung neubelebt, ist es nach wie vor ein Desiderat digitaler Methoden, literarische Phänomene gebührend zu erfassen und in diesem Bereich eine Grundlage für Editionen bzw. Auswertungen zu schaffen. Die Literatur- und Kulturgeschichte hat sich eingehend damit befasst, dass es sich bei Briefinformationen nicht um die Schilderung objektiver Fakten handelt, sondern um die subjektive Inszenierung, ja Literarisierung eines BriefschreiberIchs im Kontext der jeweiligen betroffenen Korrespondenzen (vgl. Busch und Görbert 2016). Die Erfassung von dem Briefhabitus geschuldeten Verzerrungsphänomenen (Pseudo-Streichungen, unterschiedliche Informationswiedergabe je nach Korrespondenzpartner*in etc.) lässt sich digital nicht leicht erfassen und auch nicht leicht repräsentieren, sondern verlangt in der Regel einen dem Printhabitus ähnlichen Umweg über die Kommentarfunktion. Die Entwicklung von Auszeichnungsschemata, die auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen zugeschnitten wären, ist ein wichtiges Forschungsdesiderat des beginnenden 21. Jahrhunderts (Ansätze finden sich bislang ausschließlich im Bereich der Auszeichnung von Zeit; vgl. Gius und Jacke 2016). In diesem Kontext wäre die Erfassung und Untersuchung von relevanten literarischen Inszenierungsphänomenen in Briefen ein ertragreicher Anwendungsfall. Briefanalyse entwickelt sich in der Regel in einem Balanceakt zwischen Fallbeispiel und allgemeinen Strukturanalysen. Der Briefhabitus eines Briefschreibers lässt sich nur im Kontext des Briefhabitus seines Umfeldes korrekt

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

interpretieren; zeitgleich ist es die Summe der beobachtbaren Briefhabitus, die diesen Kontext ausmacht (vgl. Busch 2013). Bei der Informationsmenge, über die wir heute verfügen, ist es menschlich nicht möglich, alle für einen bestimmten Kontext relevanten Informationen sowohl im Detail als auch strukturell zu beherrschen. Digitale Methoden erleichtern die Pendelbewegung zwischen Mikro- und Makroanalyse in vielerlei Hinsichten. Sowohl in Worten der epistolaren Netzwerkbildung als auch mit Blick auf die Schreibtechniken lassen sich digital erfasste Briefkorpora miteinander auf einer Ebene vergleichen, die Forscher*innen allein nicht bewerkstelligen können. Eine wissenschaftlich zuverlässige Erfassung des Briefmaterials lässt darüber hinaus die Möglichkeit zu, von der Makro-Ebene bei Bedarf in die Mikro-Ebene einzutauchen, d.  h. mit Methoden des Distant Reading relevante Textstellen zu identifizieren, an denen Close Reading sich als am ertragreichsten abzeichnet. Bemüht man sich um ein inklusives Verständnis des Begriffs ‚Brief‘ (vgl. Bohnenkamp und Wiethölter 2008), fallen unter diesen Begriff ebenfalls originär digitale Kommunikationsformen wie E-Mails, ja gar, nimmt man den Briefbegriff sehr allgemein, andere Kurzformen wie Chat-Nachrichten oder Tweets. Bei diesen sogenannten born-digital Briefquellen stellt sich die Frage nach der Erfassung und Auswertung insofern anders, als sie oft im Rahmen von kommerziellen Angeboten entstehen, die eine dezidierte Informationskontrolle ausüben: Twitter liefert der Forschung immer nur einen Bruchteil der für eine Forschungsfrage relevanten Tweets, ohne deutlich zu machen, nach welchen Kriterien diese sortiert werden. Bei E-Mails stellen sich darüber hinaus Formatfragen: Nach einer gewissen Zeit wechseln Online-Formate bzw. sind nicht mehr miteinander kompatibel, sodass man ältere E-Mails beispielsweise nicht mehr digital lesen kann. So müsste ein forschungsrelevantes E-Mail-Korpus zielgerichtet in ein Format überführt werden, das die Langzeitarchivierung ermöglicht. Da ein Großteil der Forschung, die derzeit solche Korpora in den Fokus nimmt, in den Sozialwissenschaften durchgeführt wird, werden sie an Textformate angelehnt, die den oben geschilderten Ansprüchen der Briefforschung nicht genügen (eine Ausnahme, von der Linguistik ausgehend und auf der TEI aufbauend, ist Beißwenger 2016). Methodisch gesehen stellen born-digital Korrespondenzmaterialien die Briefforschung vor die Herausforderung der schieren Informationsmasse, die täglich produziert wird (vgl. Strobel 2012). Es lässt sich nicht deutlich erkennen, wie sich Briefforschung auf der Grundlage von rein elektronischen Formaten in historischer Perspektive entwickeln wird. Diese Sachlage stellt die Forschung vor die epistemologische Notwendigkeit, sich Konzepten der Archivierung und damit zusammenhängenden Sortierungs-, Filtrierungs- und Umformatierungsphänomenen zu widmen, was noch nicht in dem Ausmaß erfolgt ist, wie es die Arbeit mit diesen Materialien verlangen würde.

2.16 Digitalisierung und ihre Einflüsse auf den Umgang mit alten/neuen ‚Briefen‘ 

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3 Fallbeispiele Die digitale Aufbereitung von Briefmaterial ermöglicht fließende Übergänge zwischen Briefverzeichnissen, -editionen, -anthologien und -analysen. Innerhalb dieser Vielfalt an möglichen Darstellungen lässt sich hauptsächlich zwischen autorzentrierten und vernetzenden Korrespondenzaufbereitungen unterscheiden. Die meisten entstehen im Rahmen von wissenschaftlich bzw. archivarisch definierten und aufbereiteten Textgrundlagen. Eine Ausnahme bildet das Projekt Letters of 1916, das nicht nur die Transkription der Briefe, sondern auch die Zusammenstellung des Materials von den Beiträgen zahlreicher, auch unbekannter Teilnehmer*innen abhängig macht, welche privates Archivmaterial zur Verfügung stellen (vgl. Baillot 2016). Crowdsourcing und soziale Editionen werden bei der digitalen Aufbereitung von Briefmaterial vergleichsweise selten eingesetzt. Autorzentrierte Briefaufbereitung nimmt in der Regel die Form einer Edition an (eine nennenswerte Ausnahme macht hier die archivarische und wissenschaftliche Erschließung von Chamissos Briefwechsel zusammen mit dem Rest des Nachlasses; vgl. Chamisso o.  J.). Die ersten digital aufbereiteten Briefsammlungen sind mit einem digitalen Oberbau dem Printhabitus verpflichtet geblieben. Das ist der Fall bei Portalen, die Retrodigitalisierungen existierender Briefeditionen zusammenführen (vgl. bspw. Heinrich Heine o.  J. oder Friedrich Schlegel o.  J.). Als die ersten, für die Weiterentwicklung von digitalen Briefeditionen konzeptionell entscheidenden Ressourcen gelten die Edition der Briefe Alfred Eschers (vgl. Escher 2015–), die Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe (die einen beträchtlichen Anteil an Briefmaterial enthält; vgl. von Weber o.J) und die Edition der Briefe Vincent van Goghs (vgl. van Gogh 2009). Die Escher- und die Weber-Edition zeichnen sich insbesondere durch die systematische Umsetzung einer TEI-basierten Briefauszeichnung und die Verlinkung mit anderen digitalen Ressourcen über die Gemeinsame Normdatei (GND) aus (vgl. GND; Stadler 2016). Dabei erheben sie Interoperabilität und Austauschmöglichkeiten zu einem grundsätzlichen Anspruch der editorischen Arbeit an und mit Briefen. Der entscheidende Beitrag der van Gogh-Edition seinerseits ist auf der Ebene der Webanzeige anzusiedeln. Erstmalig ist dort die Verbindung von einfachem Zugang und fundierter Recherche in einer digitalen Briefedition gelungen. Die Gegenüberstellung der Scans und der Transkription, die zur Überprüfung des gelieferten Brieftextes sowie zu einer neuartigen Auseinandersetzung mit der Materialität des Briefs (sowie des in den Briefen erwähnten Werkmaterials) einlädt, setzt neue Standards hinsichtlich der an Briefeditionen gestellten Usability-Ansprüche (vgl. die interessante, bis dato einmalige Analyse bei Boot 2011). Ebenfalls nennenswert und autorzentriert ist die Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels, die einen diversifizierteren Einstieg in den Text

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

ermöglicht als die traditionelle chronologische oder alphabetische Sortierung (vgl. Schlegel 2014–2020). Diese Edition geht in der Verlinkung unterschiedlicher digitaler Ressourcen mit der Zusammenführung von Digitalisaten früherer Editionen und von für die digitale Edition eigens geleisteten, neuen Editionsarbeiten, die jeweils unterschiedlichen editorischen Ansätzen folgen, einen Schritt weiter. Andere digitale Aufbereitungen von Briefmaterial gehen über die literaturwissenschaftlich traditionelle, autorzentrierte Herangehensweise hinaus und loten verstärkt das Potential aus, das mit der Verlinkung unterschiedlicher digitaler Ressource-Arten zusammenhängt. So ist es möglich, Briefe mit anderen Briefen, mit in den Briefen erwähnten Werken oder sonstigen Materialien (vgl. van Goghs malerisches Werk) sowie mit in den Briefen erwähnten Personen komplex und in der Tiefe zu verbinden. Die Edition A. W. Schlegels versammelt z.  B. Briefmaterial nicht ausschließlich bzw. vorrangig in Form eines edierten Textes, sondern über einen thematischen Thesaurus (vgl. Biehl et al. 2015). Die so beobachtbaren Netzwerke lassen zwar neuartige Analysen zu den Strukturen der deutschsprachigen Schriftsteller*innen im Exil im Zweiten Weltkrieg zu, lassen sich aber nicht auf andere Korpora eins zu eins übertragen oder leicht erweitern. Auf ähnliche Formatschwierigkeiten bei der Verknüpfung von Briefmaterial stößt ebenfalls das wesentlich umfangreicher angelegte europäische Forschungsvorhaben Reassembling the Republic of Letters, das im Rahmen einer COST-Action Archive, Bibliotheken und Forscher*innen verbindet, die sich mit gelehrten Briefen aus der Zeit zwischen 1500 und 1800 beschäftigen (vgl. Hotson und Wallnig 2019). Besonders einschlägig in diesem Vorhaben ist die Beobachtung einer strukturellen Ähnlichkeit zwischen dem Kommunikationsnetzwerk der intellektuellen Frühen Neuzeit und den neuen Medien. Diese zu verwenden, um jene abzubilden, ist ein in vielerlei Hinsicht reizvolles Unterfangen. Doch selbst diese groß angelegte Verbindung unterschiedlicher Instanzen eines spezifischen und strukturell feingranularen Briefmaterials stößt an die Grenzen der dort vertretenen Methodenvielfalt: In Ermangelung eines gemeinsamen Standards ist es den vielen Archiven, Bibliotheken und Forschungsvorhaben nicht möglich, die Verlinkung ihres jeweiligen Briefmaterials zu operationalisieren. Ein im Umfang viel kleinerer Versuch einer Verlinkung auf mehreren Ebenen (Briefmaterial mit den erwähnten Werken, mit weiterführenden biographischen Informationen zu verbinden; wissenschaftliche Aufbereitung mit archivarischer Erschließung zu kombinieren) ist im Rahmen der Briefedition Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 1800 erfolgt, die ähnlich der Republic of Letters einer Forschungsfrage entspringt und wo das edierte Material auf der Grundlage der vorhandenen Datenstruktur potentiell erheblich weiterwachsen kann (vgl. Baillot o.  J.). Der geringen Menge an tatsächlich edierten Texten ist die Entwicklungsarbeit der editorischen Richtlinien entgegenzusetzen, die eine interoperable

2.16 Digitalisierung und ihre Einflüsse auf den Umgang mit alten/neuen ‚Briefen‘ 

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Erweiterung möglich macht, ja vorsieht (Kodierung nach TEI-P5, Einbettung von Normdaten, Langzeit-Verfügbarmachung der XML-Quelldateien mit einer CC-BYLizenz). In diesem wie in vielen anderen Briefaufbereitungsprojekten befinden wir uns noch vor der eigentlichen wissenschaftlichen Reifezeit. Die Kluft in der Vielfalt der bestehenden Ansätze bei der Digitalisierung von Briefmaterial lässt eher auf die Dauerhaftigkeit von Unternehmen schließen, die auf etablierte, interoperable und offene digitale Formate und Standards setzen. Wie sich dieses Forschungsfeld entwickeln und ob sich die (deutsche wie internationale) Briefforschung dem digitalen Potential gewachsen zeigen wird, ist jedoch noch offen.

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396 

 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

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2.16 Digitalisierung und ihre Einflüsse auf den Umgang mit alten/neuen ‚Briefen‘ 

 397

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 2 Briefpraktiken und methodische Ansätze

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3 Briefgenres

Günter Oesterle

3.1 Billet

1 Der Begriff Billet Der Begriff Billet wurde in der Mitte des 17. Jahrhunderts in Frankreich als Neologismus eingeführt. Zunächst wurden diese im Format kleinen ‚Briefgen‘, die mit einer Kurznachricht versehen waren, entweder als schriftliche Einquartierungsordres für Soldaten eingesetzt oder als Zollabfertigungszettel genutzt, um an der Landesgrenze eine freigemachte Ware zu kennzeichnen (vgl. Schulz 1997, 307). Aus diesen auf kleinen Zettelchen schriftlich festgehaltenen Einquartierungsoktrois bzw. Grenzüberschreitungslizenzen entstand im merkantilisch avancierten Frankreich eine Kurz- und Schnellkommunikationsmöglichkeit in variantenreicher Vielzahl: als Eintritts- oder Visitenkarte, Bestellungs- bzw. Auftragszettel oder Angebinde zu einer Gabe; daneben setzten sich anlassbedingte Billetformen, z.  B. Einladungs-, Gratulations-, Taufbillets und  – besonders beliebt und zahlreich verbreitet – das billet-doux (Liebesbriefchen) und sein schwarzes, gerüchteverbreitendes Pendant, das billet scandaleux, durch. Der Anstoß zur Entstehung des Billets hatte also zu tun mit der Klärung von Zugangsregelungen und -ausschlüssen. Die Funktion des Billets als ‚Türöffner‘ klingt noch nach in dem von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais vorgegebenen Libretto zur komischen Oper Der Barbier von Sevilla von Gioachino Rossini. Im 15. Auftritt des ersten Aufzugs erzwingt der als Militärarzt verkleidete Graf Almaviva seine Einquartierung bei dem heimischen Kollegen Bartolo durch das Vorzeigen eines Billets. Auf vergleichbare Weise hat Stefan George im Januar 1892 mit einem Aufwartungsbillet sich Zugang zur Wohnung des jungen Hugo von Hofmannsthal zu verschaffen versucht. Das Billet trug folgende Aufschrift: „[I]hr dauerndes Schweigen ist mir nicht verständlich. Oder bekommen sie meinen Brief nicht? ich erlaube mir in ihre Wohnung zu gehen um zu erfahren ob sie fort oder in der Stadt sind“ (George und von Hofmannsthal 21953, 12).

2 Das Neuartige der Billets Diese variantenreichen Billetformen, die mit dem Ziel, eine Verabredung zu treffen, eine Bitte anzubringen oder eine Gabe zu adressieren, sich seit Ende des 17.  Jahrhunderts in ganz Europa verbreiten, wurden von den Zeitgenossen als https://doi.org/10.1515/9783110376531-026

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 3 Briefgenres

etwas Neuartiges, als ihre Lebensführung Erleichterndes wahrgenommen. Das Billet als Kurzbriefchen entspricht ganz offensichtlich einem dringenden Bedürfnis. Es erhält nämlich seine Form und sein Format in einer Zeit um 1700, da Briefschreiben extrem aufwendig, umständlich und teuer war. Das beginnt mit der Wahl des Papiers, seinem Format, der Farbe des Siegels und endet mit einer der Titulaturordnung gehorchenden Anschrift entsprechend dem Status des Angeschriebenen sowie einer devoten Anrede und dann einer präzis einzuhaltenden Gedanken- und Argumentationsfolge. In dieser Situation entstand in dem damals intellektuell und ökonomisch führenden Land Frankreich das Bedürfnis, in einem relativ vertrauten Kreise private und geschäftliche Angelegenheiten ohne repräsentativen Aufwand unkompliziert, kurz und „in Eil“ (Zedler 1733, 1843) erledigen zu können. Das Billetschreiben entstand also in Distanz zu der offiziellen und amtlichen Schreibpraxis, um im geschäftlichen und privaten Bereich umstandslos und relativ ‚ungezwungen‘ miteinander kommunizieren zu können.

3 Funktion und Stil des Billets anhand von zwei Briefstellern aus Paris (um 1700) und Berlin (um 1800) Die Briefforschung ist in der günstigen Lage, die Spezifik des Billets als „Handbriefgen“ (Corvinus 1715, 755) mit Bezug auf zwei Briefsteller näher zu erläutern. Es handelt sich dabei um einen 1796 in sechster Auflage erschienenen berlinischen Briefsteller, der im Rückblick auf eine hundertjährige Billetschreibpraxis die vielfältigen Funktionen und Schreibregeln des Billets zusammenfasst, und einen um 1696 in Paris und Brüssel erschienenen Briefsteller, der das poetologisch-ästhetische Know-how des Billets entwirft. Nach dem anonym erschienenen berlinischen Briefsteller lassen sich sechs charakteristische Elemente des Billets sondieren: Billets werden (1) nur eingesetzt im Nahbereich, (2) nur von privaten Boten expediert, (3) meistens mit Billets beantwortet, (4) vornehmlich zwischen standesgemäß Gleichrangigen gewechselt  – Billets an einen Höhergestellten zu versenden galt als „unanständig“ (Rohr 1728, 344). (5) Billets sind kurz gehaltene Briefchen, die sich legitimieren, ‚in Eile‘ verfertigt worden zu sein, woraus sich weitere funktionale Vereinfachungen in der Verwendung des Materials, der Faltung und der Siegelung ergeben. Schließlich ist (6) die Kernlizenz des Billets zu nennen: „Man fängt sogleich mit dem Vortrag der Sache an, und unterschreibt ohne Umstände seinen Namen“ (Bolte 61796, 42). Mit dieser Lizenz dispensiert das Billet den oder die Briefchenschreiber*in von drei bis dahin gül-

3.1 Billet 

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tigen Gepflogenheiten des Briefeschreibens: (1) Von den Titulaturen, denn „die Billets […] unterscheiden sich in der inneren Einrichtung von den ordentlichen Briefen vornehmlich dadurch, daß die weitläuftigere Anrede wegbleibt“ (Heynatz 1781, 660), (2) von den permanent zu setzenden Komplimenten und (3) von der rhetorisch vorgegebenen Argumentations- und Schreibfolge. Wenn man von diesen praktisch-funktionalen Reglements, die im Berliner Briefsteller um 1800 für das Billet festgeschrieben wurden, zurückblickt auf die Genese des Billets hundert Jahre früher, dann fällt auf, dass in dem in Paris und in zweiter Auflage in Brüssel erschienenen Briefsteller von Pierre Richelet (21690/1696) ein anderer Schwerpunkt gesetzt wurde. Richelet eröffnet den Band mit einer Handreichung, ein Billet zu schreiben („Maniere de faire un billet“; Richelet 1696, 1). Zwar nennt er an erster Stelle die damals provokante Neuerung, „sofort zur Sache zu kommen“, dann aber richtet er seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Eleganz des Billetstils. Ursache dafür könnte die Sorge gewesen sein, die im Billet erlaubte Entzeremonialisierung des Briefeschreibens könnte zu einer ‚nachlässigen‘ und unhöflichen Schreibweise führen. Die Angst vor dem Unschicklichen dürfte also der Antrieb für die eigenständige Artifizialität des Billets gewesen sein: „Der Stil soll lebendig und prägnant, einfach und natürlich, aber ohne Pöbelhaftes“ [„Le stile en doit vif et coupe simple et naturelle, mais sans bassesse“] (Richelet 1696, 7; Übers.  d. Verf.) sein. Wenn zu Beginn des Billets das zur Sprache gebrachte „Anliegen in einem ungezwungenen und geistreichen Gestus“ geschrieben sein soll, so fordert Richelet als Ausklang des Billets eine „naive Art, die nicht einstudiert wirken, und die […] auf angenehme Weise das Herz oder den Geist oder beides zugleich“ erregen soll (Richelet 1696, 6). Der galante Schreibstil mit seiner Mischung aus Pointiertheit, Prägnanz, Ungezwungenheit, Naivität und Esprit hat im Billet ein ideales Medium gefunden. Die in der Sattelzeit des 18. Jahrhunderts in Deutschland beobachtbare, in der Gellert’schen Briefreform zum Ausdruck kommende Zurückdrängung des Ingeniösen und Pikanten zugunsten des Natürlichen hat das Billetschreiben kaum tangiert. Die in Deutschland lebende Aristokratie, die führenden Intellektuellen, die in den Berliner Salons verkehrten, pflegten bis weit ins 19. Jahrhundert den Offenherzigkeit und Scharfsinn verbindenden Billetstil. Das Billet hat Konjunktur in einem urbanen Milieu u.  a. in der Form extravaganter Inszenierungen in Paris, wo „billets-doux“ auf den Boulevards durch „fliegende Händler“ von einer Kutsche in die andere überbracht worden sind (Nemeitz 1750, 140) oder gar in Kuchen eingebacken ihr Ziel erreichten (vgl. Arndt 1804, 88). Die wegweisende Einsicht in der Dissertation von Hannah Lotte Lund stützt die These der urbanen Kommunikationserweiterung durch das Billet: „[D]ieser charmante, fast frech zu nennende Ton des Billets [war] vielleicht der einzige, dessen sich eine jüdische Haustochter und ein preußischer Junker im gemeinsamen Gespräch bedienen

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 3 Briefgenres

konnten, wenn sie weder nur Höflichkeiten austauschen noch ein Liebespaar werden wollten“ (Lund 2012, 355). Jedenfalls kann man vermuten, dass es genauso viele artistische Billet- wie Briefschreiber*innen gegeben hat. Georg Christoph Lichtenberg war zum Beispiel nicht nur ein bedeutender Aphoristiker, sondern auch ein virtuoser Billetschreiber. Das bezeugen seine Billets, die der zeitweise am Rande der Universitätsstadt Göttingen in einem Gartenhaus weilende Naturwissenschaftler und Poet seiner jungen Frau in die Stadtwohnung sendet. Man kann an ihnen studieren, wie das vormals von Richelet gegen das Pöbelhafte in Stellung gebrachte, witzig-scharfsinnige Billetschreiben in ein Spiel mit dem Frivolen umgewandelt wird – etwa wenn eines seiner Billets endet: „Gestern habe ich ein galantes Leichtfüßchen gesehen, das sah so aus [es folgt eine zeichnerische Skizze, d. Verf.]. Ich konnte den Branntwein am Fenster riechen.“ (Lichtenberg 1967, 1016) Dass damals ein gutes Gespür für die s­ tilistische Besonderheit der Kleingattung Billet bestand, deutet die Äußerung des Diplomaten und Weltmanns Friedrich Gentz an, wenn er den Billetleser auffordert: „Bewundern Sie meine Papiersparsamkeit und (Wort)-freigebigkeit“ (Gentz 1802, 90) – also die Kunst, auf kleinstem Raum viel und Bedeutendes zu sagen. In eben diesem Sinne schreibt er an den in schwedischen Diensten stehenden Dichter Carl Gustav Brinckmann in Berlin: „Schreiben Sie mir bald wieder ein Billet, es gehört zu meinen größten Ergötzlichkeiten, Ihre Billets aufzunehmen, es steht immer so viel drin, sie riechen so gut.“ (Gentz 1802, zit. n. Lund 2012, 332)

4 Dynamik und Arbeitsteilung zwischen Billet und Brief Brief und Billet verhalten sich in vieler Hinsicht arbeitsteilig. Das Billet, das einen Auftrag oder eine Nachricht oder Neuigkeit enthält und schnell inmitten anderer Arbeit oder Kommunikation verfertigt wird, hat einen anderen Status und Stellenwert als ein langer, in Muße und Zurückgezogenheit geschriebener Brief, etwa an eine*n Briefpartner*in. Wird man letzteren als ‚Spiegel der Seele‘ einschätzen, so wird der Kurzbrief eher begrenzt auf die Funktion, eine Botschaft zu übermitteln. Diese Reduktion des Billets auf bloße Informationsvermittlung verfehlt aber das ästhetisch-artistische Potential des Billets. Gerade weil das Billet eine eindeutige Botschaft zu übermitteln hat, sieht sich der bzw. die Billetschreiber*in genötigt, diese Botschaft nicht plump an den Mann oder die Frau zu bringen, sondern alles zu tun, das direkte Begehren in eine spielerische Form einzuhüllen, um ihm damit den Reiz des Flüchtigen und die Besonderheit der Umstände, in denen es entstand, mitzugeben. Das Billet favorisiert eine Schreibart, die kurz, pointiert,

3.1 Billet 

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prononciert und skizzenhaft verfahren darf, auch Sachfragen witzig-pfiffig und anspielungsreich transportiert, darüber hinaus Insiderwissen und Frivolität mit diplomatischem Werben verbindet. Bei der Kulturpraxis des Billets handelt es sich also nicht um eine alltagspraktische Minimalausgabe des Briefes. Die qualitative Differenz von Kurzbrief und Langbrief, Nahbriefchen und Fernbrief lässt sich an der unterschiedlichen Schreibszene, an der unterschiedlichen Vorstellung der An- bzw. Abwesenheit der Briefadressat*innen sowie an dem unterschiedlich gehandhabten Zeitmodus Gegenwart/Gegenwärtigkeit ausmachen. Die Herauslösung der Briefschreibenden aus der Alltagszerstreuung ist für den ‚ordentlichen Brief‘ konstitutiv. Die meisten Billets sind hingegen mitten im Handgemenge des Alltags geschrieben, oft wartet der Bote auf die Antwort, die schnell zu Papier gebracht werden muss. Da das Billet nur im Nahbereich eingesetzt wird, ist die Abwesenheit der Billetadressat*innen nur vorläufig. Viele Billets enden daher mit dem Stichwort ‚mündlich mehr‘. Während in dem in Zurückgezogenheit geschriebenen Brief die empathische Konzentration auf den bzw. die Briefempfänger*in im Vordergrund steht, damit in dem Brief imaginativ und fiktiv eine Nähe zu dem bzw. der Briefpartner*in erschrieben werden kann, ist im Billet die Präsenz des oder der Schreibenden und seiner Umgebung fast haptisch spürbar. Wenn Rilke an eine adlige Gräfin aus dem „Chateau de Muzot sur Sierre“ am 17. März 1922 einen kleinen Auftrag durch die Darstellung seiner Schreibsituation einleitet: „[D] ieses kleine Briefblatt, für eine Weile rasch zwischen noch feuchte Arbeitsblätter hingelegt, hatte eigentlich nur den Auftrag […]“ (Rilke 1977, 20), dann wird die Adressatin an diesem Billet und seiner Beschriftung die spontane kurze Unterbrechung des Schreibens noch spüren. Die Literatur macht sich die Arbeitsteilung zwischen Brief und Billet in vielfacher Weise zu eigen. In der zweiten Auflage von Johann Wolfgang von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers finden sich innerhalb der durchweg umfangreichen Briefe in die Ferne auch wenige Kurzbriefchen, etwa ein Einkaufszettel, den Lotte Werther mitgibt und den dieser blitzschnell zum billet-doux umwidmet, freilich mit einem höchst komischen Ergebnis (vgl. Goethe 61965, 41). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass über Jahrhunderte die Briefschreiber*innen und die Literat*innen die Differenzqualität zwischen Billet und Brief variantenreich genutzt haben. Umso schwerer wiegt, dass in der Briefforschung eine zweihundertjährige Dynamik des Briefschreibstils, die aus dem Wechselspiel elaborierter Herzensschrift „im ordentlichen Brief“ und kokett pointierter Kurzschrift im Billet resultierte, unterbelichtet oder ausgeblendet wurde.

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 3 Briefgenres

5 Das Verschwinden eines Bewusstseins für die Eigenart der Kleingattung Billet Wir dürfen autobiographischen Bekundungen aus dem 18. Jahrhundert, zum Beispiel der des Autobiographen Friedrich Christian Laukhard, Glauben schenken, dass Billets schon damals in großen Stückzahlen produziert wurden (vgl. Laukhard 2012, 145). Von solcher Massenproduktion sind nur noch wenige Überbleibsel erhalten geblieben. Obwohl es Billetsammelmappen gab, haben die Nachkommen Billets als Wegwerfware behandelt. Auch Philologen haben sie meist als nicht edierenswert abgetan. Wenn Billets in Briefeditionen berücksichtigt wurden, dann häufig in entkernter Form (also unter Ausschluss der Paratexte) und fast immer dadurch, dass sie ihrer spezifischen Gattungseigentümlichkeit beraubt wurden, indem sie ganz allgemein unter ‚Briefe‘ subsummiert wurden. Als Beispiel kann die Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe genannt werden (vgl. Schlegel 1985, 19–20, 23, 26–28). Damit geht das Bewusstsein für eine spezifische, medientechnisch und materiell, ästhetisch und kommunikationsstrategisch eigenständige kleine Gattungsform verloren. Zugleich verschwindet die Aufmerksamkeit für die Arbeitsteilung und das ästhetische Widerspiel zwischen Brief und Billet. Als Beispiel lassen sich moderne Übersetzungen anführen. Friedrich Schiller publizierte in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Rheinische Thalia eine Teilübersetzung aus Denis Diderots Jacques le fataliste et son Maitre. Selbstverständlich hatte Schiller in dem ihm vorliegenden Text den wichtigen Unterschied zwischen drei Billets und zwei Briefen begrifflich markiert (vgl. Schiller 2002, 552–557). Nicht so die heute im Reclam Verlag zugängliche Übersetzung: Der Begriff der Kleingattung Billet wird dort durch die Bezeichnung „ein paar Zeilen“ (Diderot 1972, 176) ersetzt. Die Konsequenzen sind erheblich: Friedrich Schillers Don Carlos und Oscar Wildes An Ideal Husband liegen entstehungsgeschichtlich und gestalterisch weit auseinander. In beiden Dramen ist aber der dramaturgische Drehpunkt abhängig von der darin mitinszenierten Differenz von Brief und Billet. Nur weil im Don Carlos ein ‚billet inconnu‘ von der Prinzessin Eboli lanciert wird, kann der Prinz irrtümlicherweise als Absenderin seine inbrünstig geliebte Mutter imaginieren und sich so auf katastrophale Weise verraten. Nur weil das von Lady Chiltern in der Komödie An Ideal Husband in größter Verzweiflung an den besten Freund ihres Mannes gesendete Billet – typisch für diese Kleingattung: ohne Personenansprache und auf rosa Papier – nur folgende Zeile enthält: „I want you, I trust you. I am coming to you. Gertrude“ (Wilde 2013, 128), kann es für die Absenderin als ehebrecherisches, ein ‚Date‘ verabredendes Billet fehlinterpretiert werden. Zugleich kann wiederum am Ende des Stückes, als sich alles zum Guten gewen-

3.1 Billet 

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det hat, nur dieses unadressierte Billet von Gertrude an ihren wiedergewonnenen „ideal husband“ umgewidmet werden. Das wäre bei einem ‚ordentlichen‘ Brief ohne Streichung oder Emendation nicht möglich gewesen. Ein Desiderat bleibt die Erforschung des Billets in Literatur und bildender Kunst. Die Literatur nutzt das handliche Potential „eines kleinen Billets“ (Tieck 1795/96, Bd.  3, 60), etwas heimlich „zuzustecken“ oder „unbemerkt“ (Börne 1964, 547) fallen zu lassen. In der Komödie dient die Unadressiertheit des Billets ­abenteuerlichen oder komischen Verwechslungen (vgl. Nestroy 1978, 35–40). Eine Aussage Fontanes – seine „Freude über die Normal-Billets […]; endlich mal fünf Zeilen statt fünf Seiten“ (Fontane 1976, 14) – legt es nahe, dass bestimmte literarische Epochen das lakonische Billet dem ‚empfindelnden‘ Brief vorgezogen haben.

Zitierte Literatur [Bolte, Johann Heinrich] (61796). Berlinischer Briefsteller für das gemeine Leben. Zum Gebrauch für deutsche Schulen und für jeden, der in der Briefstellerei Unterricht verlangt und bedarf. Frankfurt a. M. u. Leipzig: 42–43. Börne, Ludwig (1964). Briefe aus Paris 1833. Hg. v. Inge u. Peter Rippmann. Darmstadt. Corvinus, Gottfried Siegmund (1715). Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon. Leipzig. Diderot, Denis (1972). Jacques le Fataliste und sein Herr. Stuttgart. Fontane, Theodor (1976). Briefe. Hg. v. Walter Keitel u. Helmuth Nürnberger. Bd. 1, Abt. IV. München. Gentz, Friedrich (1990). „Brief an Karl Gustav Brinckmann. Berlin 5. März 1802“, in: Briefe von und an Friedrich von Gentz. Hg. v. Friedrich Carl Wittichen. München u. Berlin. George, Stefan u. Hugo von Hofmannsthal (21953). Briefwechsel. Hg. v. Robert Boehringer. Düsseldorf u. München. Goethe, Johann Wolfgang (61965). Die Leiden des jungen Werther, in: Ders. Werke. Bd. 6. Hg. v. Erich Trunz. Hamburg. Heumann, Konrad (2014). „Salesianergasse. Die Verwandlung der Welt“, in: Hofmannsthal. Orte. 20 biographische Erkundungen. Hg. v. Wilhelm Hemecker u. dems. Wien: 13–31. Heynatz, Johann Friedrich (1781). Handbuch zu richtiger Verfertigung und Beurteilung aller Arten von schriftlichen Aufsätzen des gemeinen Lebens überhaupt. Bd. 1. Wever. Laukhard, Friedrich Christian (2012). Magister F. Chr. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 1. Hamburg. Lichtenberg, Georg Christoph (1967). „An Margarethe“, in: Ders. Schriften und Briefe. Hg. v. Wolfgang Promies. Bd. 4. München: 1015–1016. Lund, Hannah Lotte (2012). Der Berliner „Jüdische Salon“ um 1800. Berlin u. Boston. Richelet, Pierre (21690/1696). Les plus belles Lettres des meilleurs Auteurs Francais. Paris u. Brüssel. Rilke, Rainer Maria (1977). Die Briefe der Gräfin Sizzo (1921–1926). Hg. v. Ingeborg Schnack. Frankfurt a. M.

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 3 Briefgenres

Rohr, Julius Bernhard von (1728). Ceremonialwissenschaften der Privatpersonen. Bd. 1. Berlin. Schiller, Friedrich (2002). „Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache. Aus einem Manuskript des verstorbenen Diderot gezogen“, in: Ders. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 7: Historische Schriften und Erzählungen II. Hg. v. Otto Dann. Frankfurt a. M.: 543–557. Schlegel, Friedrich (1985). Kritische Ausgabe seiner Werke. Hg. v. Ernst Behler. Bd. 24, Abt. 3: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel; Die Periode des Athenäums: 25. Juli 1797–Ende August 1799. Mit Einleitung und Kommentar hg. v. Raymond Immerwahr. Paderborn. u.  a. Schulz, Hans (1997). [Art.] „Billet, billettieren, Billet-doux“, in: Deutsches Fremdwörterbuch. Bd. 3. Berlin u. New York: 307–310. Tieck, Ludwig (1795/96). Die Geschichte des Herrn William Lovell. Bd. 3. Berlin u. Leipzig. Wilde, Oscar (2013). An Ideal Husband. Hg. v. Russell Jackson. London. Zedler, Johann Heinrich (1733). [Art.] „Billet“, in: Großes vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste. Bd. 3. Halle u. Leipzig: 1843.

Weiterführende Literatur Mick, Ernst Wolfgang (1982). Goethes umränderte Blättchen. Dortmund. Oesterle, Günter (2010a). „Schreibszenen des Billets“, in: Schreibszenen Kulturpraxis – Poetologie –Theatralität. Hg. v. Christine Lubkoll u. Claudia Öhlschläger. Freiburg i. Br: 115–135. Oesterle, Günter (2010b). „Diabolik und Diplomatie. Freundschaftsnetzwerke in Berlin um 1800“, in: Strong Ties/Weak Ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie. Hg. v. Natalie Binczek u. Georg Stanitzek. Heidelberg: 93–110.

Anett Holzheid

3.2 Die Postkarte als text- und bildkommunikatives Phänomen 1 Modernitätsmedium Postkarte Als gewöhnliches Kommunikationsmedium ist die Postkarte, deren informatorisches Spektrum von der sachlichen Kurznachricht bis zum nonverbalen Bildgruß reicht, obsolet geworden. In der elektronischen Moderne besitzt sie allenfalls Nischenfunktion, denn zu einer auf digitale Applikationen gestützten KurztextMessaging-Praxis steht die handschriftlich produzierte und von menschlichen Bot*innen übermittelte Karte in signifikanter medientechnischer und kommunikationskultureller Differenz. Wo das kommunikative Paradigma der digitalen Kultur vorherrscht und das Prozessieren von Daten in Form von mobiler Fernkommunikation in Echtzeit von einem Bewusstsein für die Relation von rasanter Datendistribution, Textkürze und geringer Rezeptionszeit begleitet wird, das u.  a. durch Informationsmarkierungen wie Lektüreminutenangaben für Online-Texte oder kommentierende Kurzformeln wie ‚TLTR‘ (too long to read) geschärft wird, ist die Postkarte als historische Kommunikationsform ausgewiesen. Genuin postkartenspezifische Charakteristika wie: (1) Bestandteil eines global vernetzten Systems an staatlichen Postmonopolen, (2) offene Postsendung im präfabrizierten normierten Kleinformat zur Optimierung einer komplikationslosen Handhabung der Botschaft im Produktions-, Distributions- und Rezeptionsprozess sowie (3) materialästhetische Eigenschaften zeugen jedoch ihrerseits von Modernitätsmerkmalen wie ökonomische Rationalität und Geschwindigkeit, von neuartiger visueller Kommunikation und entformalisierter brieflicher Schriftlichkeit an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Während die Postkarte vor dem Hintergrund digitaler Alltagsmedien die Dignität eines positiv konnotierten historischen Differenzmediums erlangt, ist zugleich ihr genealogischer Bezug und Vorläuferstatus zur medialen Situation im 21. Jahrhundert gegeben.

2 Begriffsdefinition Das von der Institution Post für kurze schriftliche Mitteilungen konzipierte und standardisierte Produkt, dessen offene und somit semi-öffentliche Versendungsform ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal zum Brief darstellt, ist seit 1872 offiziell als Postkarte deklariert. Aus der ursprünglichen Bezeichnung für https://doi.org/10.1515/9783110376531-027

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 3 Briefgenres

die postamtlich als Correspondenz-Karte/Korrespondenzpostkarte (seit 1869 in Österreich-Ungarn, seit 1870 in Deutschland) zugelassene und als Briefsendung (neben Brief, Drucksache, Warenprobe) klassifizierte Karte geht ihre Funktion als Korrespondenzmittel zur schriftlichen Kommunikation hervor. Eine Entwicklung zum anerkannten Bildmedium war in der ursprünglichen Medienprägung nicht angelegt. Gemäß der Definition des Deutschen Wörterbuchs (vgl. Grimm und Grimm 1889, Bd. VII, Sp. 2030) handelt es sich unter Bezug auf die deutsche Postverordnung von 1879 bei der Postkarte um „eine karte in briefform, die auf der vorderseite die adresse, auf der rückseite die correspondenz enthält und von der post für die halbe brieftaxe befördert wird.“ In Aktualisierung dieser historischen Definition ist die Postkarte eine für Kurzmitteilungen aus Schrift- und Bildelementen bestehende Karte. Beschaffenheit und Gestaltung des Trägers (Format, Grammatur des Kartons, Aufdrucke) sowie dessen Handhabung (Art und Platzierung obligatorischer und fakultativer Schriftzusätze, Frankatur) unterliegen den jeweiligen postalischen Beförderungsrichtlinien. Seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts bezieht sich der Begriff ‚Postkarte‘ primär auf Motiv- und Ansichtspostkarten mit vornehmlicher Nutzung als Reise- oder Grußkarte, auch wenn weiterhin offizielle Postkartenformulare als Teilnahmekarten an Preisausschreiben, Rundfunkwunschsendungen oder für Bestellaufträge in reichlicher Zahl in Gebrauch waren, ehe diese Funktionen seit Ende der 1990er Jahre an das E-MailFormat übertragen wurden. Die Entwicklung des Postkartenkonzepts von einem ursprünglichen Textmedium zu einem Medium, das prototypisch Bildelemente enthält, zeigt sich auch in eben jener Postkartenpraxis der konkurrierenden Teilnahme. Strategisch wurde die schlichte Sachinformation (z.  B. Lösungswort) anstelle auf einer schmucklosen Postkarte auf einer Bild- oder Ansichtskarte verschickt, um durch ästhetisierenden Mehrwert und visuell-haptisch aufmerksamkeitsheischende Funktion einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen. Das historische Novum des Bildzusatzes, sei es als offizielles Postkartenformular mit Reklamezudruck oder als privatindustriell hergestellte Bildpostkarte, wurde ab 1895 von Bezeichnungsvarianzen begleitet: u.  a. Bildpostkarte, Postkarte mit Ansicht, illustrierte Postkarte, Kunstpostkarte, Künstlerkarte, Bilderkarte. Seit 1925 ist ‚Bildpostkarte‘ ein postalischer Terminus für offizielle Postkartenformulare, die als Maßnahme der Tourismusförderung zusätzlich auf der Adressseite einen kleinen landschaftlichen oder städtischen Bildaufdruck aufweisen. Aus der generellen Entwicklung der Postkarte zu einem präfabrizierten visuellen Medium, das aufgrund von Bildästhetik, -inhalt und -aussage den Anreiz bot, erworben, betextet, versendet und gesammelt zu werden, resultiert eine archivalische Definition, die den Bildaspekt zum Leitkriterium erklärt. Gemäß des im deutschsprachigen Raum von Bibliotheken und Museen zugrunde gelegten Normdatenvokabulars (RDA), ist die Postkarte ein „[u]nbewegtes Bild,

3.2 Die Postkarte als text- und bildkommunikatives Phänomen 

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das aus einer Karte besteht, auf die eine Nachricht geschrieben oder gedruckt sein kann, zum Postversand ohne Umschlag“ (Gemeinsame Normdatei GND, in: RDA 7.2.1.3). Neben der Unterscheidung zwischen ‚Kunstpostkarte‘ (Reproduktion eines Kunstwerks, Abb. 1) und ‚Künstlerpostkarte‘ (künstlerisch gestaltete Karte, Abb. 2) werden bildspezifische Kriterien wie technische Verfahren (Lithographie, Lichtdruck, Fotografie, Halte-vors-Licht-Karten, gezeichnete Unikate), Motivik (z.  B. Landschaftsdarstellung, Porträt, humoristische Szenen, Erotik, Fortschrittssymbolik) oder Stilistik (z.  B. dokumentarisch, fiktional) zu weiterer Klassifikation herangezogen.

Abb. 1 a und b: Kunstpostkarte von Julius Engelhard, Spitzentanz, Haus der Kunst, München, Verlag Heinrich Hoffmann, München; als Feldpostkarte am 20. August 1942 von Wien nach Bremen-Huckelriede/Scharnhorst-Kaserne an „Kan Franz Kachmanowitsch“. Text: „VI.,/19. VIII. 42/Liebes Burla! Schicke dir jetzt viele viele Busserln die der Briefträger mitnehmen kann. Bringt er mir etwas kriegst du selbst verständlich noch ein schönes Brieferl von mir, sonst weiß ich dir nichts zu schreiben. Gesund sind wir ja und hoffen auch daß du es bist. Also Burla / Bussi/Dein Weibi“ (Bestand: A.H.)

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 3 Briefgenres

Abb. 2 a und b: Künstlerpostkarte von Hellmut Eichrodt am 2. Februar 1897 von München nach Karlsruhe an „Albert Mozer, Schriftsteller in Karlsruhe, Baden, Westend“ (Stadtarchiv Karlsruhe: 7/Nl Mozer-073 73)

3 Historische Aspekte 3.1 Kurzkommunikation der industriellen Moderne Die Postkarte ist Resultat eines Öffnungs- und Erneuerungsprozesses bürgerlicher Briefkultur und ein nach den Maßgaben der postalischen Ratio gestaltetes Reformprodukt. Eine strategisch-pragmatische Antwort auf die seit Mitte des 19. Jahrhunderts rapide angestiegenen schriftkommunikativen Bedürfnisse repräsentierend, sollte die Postkarte die Vorteile der beiden Leitmedien Brief und Telegramm auf sich vereinen und das bürgerlich geprägte mediensymbolische Spektrum in Form eines schlichten und unkomplizierten Mediums erweitern. Situiert zwischen einem wuchtigen Traditions- und Kunstfertigkeitsanspruch des Briefes einerseits und einer die Moderne verkörpernden elektrischen Telegraphie andererseits, lauteten die originären Funktionen der Postkarte: kommunikative Effizienz und allgemeine Teilhabe an alltagsbasierter Schriftlichkeit. Als basales Intermedium sollten mit ihr diejenigen Aufgaben erfüllt werden, für die sich der Einsatz von Brief oder Telegramm unter pragmatisch-betriebswirtschaftlichen Erwägungen als ineffizient erwies, jedoch die schriftliche Übermittlung einer Botschaft erforderlich war. Vom Aufwand-Nutzen-Kalkül (Einsparung von Personal-,

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Material- und Portokosten) geprägt, trug die Postkarte zu einer durch die Telegrafie bereits maßgeblich veränderten Kommunikationskultur bei. In ihr erkannte Karl Knies (1821–1898) 1857 die „Physiognomie der Gegenwart“, die sich durch „das Streben […] auf dem Felde der Verkehrserleichterungen“ auszeichnete, wobei „Verkehr“ für Knies all das umfasste, „was sich in der Lebensweise der Menschen im Gegensatz zu den Zuständen vollkommener Isolierung des Einzelnen herausbildet“ (Knies 1857, 2 u. 4). Getragen von infrastrukturellen Optimierungsprozessen (Post-, Eisenbahnwesen), drucktechnischen Innovationen sowie einer florierenden Papierindustrie auf Angebotsseite und einer die Nachfrage anheizenden fortschrittsoptimistischen Nutzerschaft erfuhr die Postkarte eine funktional-formale Ausweitung: Vom bloßen Träger für schriftliche Informationsübermittlung wurde sie zu einem schrift-bildlichen Universalmedium, über dessen ubiquitären Gebrauch das Verhältnis von kommunikativem Aufwand, Tempo, Höflichkeit und Verständnis von schriftdialogischer Korrespondenz neu definiert wurde.

3.2 Konzeptionsphase (1865–1869): „Postblatt“ und „Postkarte“ – zwei Entwürfe für niedrigschwellige Schriftkommunikation Auch wenn in populärwissenschaftlichen Dokumenten zur Geschichte der Postkarte der „Erfinderstreit“ je nach nationalem Interesse zugunsten Österreichs oder Deutschlands beschrieben und vermeintlich entschieden wurde, so ist die in historischer Parallelaktion durchgeführte Reform des Briefverkehrs als strukturell angelegte Folgerichtigkeit zu betrachten. Die beiden Akteure, der Berliner Postrat Heinrich Stephan (1831–1897) und der an der Wiener Militärakademie tätige Nationalökonom Emanuel Herrmann (1839–1902), verfügten über profunde Kenntnisse der postalischen Situation und zeitgenössischen Briefpraxis, der Brief- und Telegrammstatistiken, waren vertraut mit der Kulturgeschichte des Briefes und der Briefsorten und berücksichtigten Vorschläge von Verlegern, Geschäftsleuten und Privatpersonen zur Modernisierung des Briefes (vgl. Kalckhoff 1911, 6). Aus ihren Analysen resultierten zwei formal ähnliche Modelle (Stephan: „Postblatt“, Herrmann: „Postkarte“): Stephan schlug in seiner Denkschrift über Einführung des Postblatts (1865) die Einführung eines gedruckten Formulars ähnlich der 1865 in Preußen eingeführten Drucksachenkarten vor, das distanzunabhängig zu einfachem Briefporto verschickt bei Geschäftsleuten wie im „geselligen Gebrauch“ Verwendung finden sollte: „[K]ünftig wird ein Postblatt aus dem Portefeuille gezogen, mit Bleistift im Coupé, auf dem Perron etc. ausgefüllt und in den nächsten Briefkasten oder Eisenbahn-Postwagen gesteckt.“ (Stephan 1865, s.p.) Aufgrund der Tatsache, dass in Stephans Konzept der „nackten Mitteilung“ (Stephan 1865,

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s.p.) lediglich die Angabe der Empfängeradresse, nicht jedoch die des Absenders bzw. der Absenderin vorgesehen war, wurde kommunikativer Missbrauch ebenso befürchtet, wie der bürgerliche Kontrollverlust über die private Botschaft angesichts geschwätziger Mitleser*innen (Hausangestellte, Postbedienstete) kritisiert wurde. Herrmanns Artikel Ueber eine neue Art der Correspondenz mittelst der Post, veröffentlicht am 26. Januar 1869 im Sonderteil „Gewerbe- und Industrie-Zeitung“ der Neuen Wiener Zeitung, propagierte eine „eigene Telegramm-Briefsprache von taciteischer Kürze“, die  – frei von „Floskeln, Aufschriften, Versicherungen der ungetheiltesten Hochachtung“ – auf die „unumgänglich nothwendigen Ausdrücke“ reduziert bleibe. Inklusive Adresse und Signatur der Absender*innen sollte die Textbotschaft analog der Länge eines regulären Telegramms auf 20 Wörter beschränkt sein, das Kartenformat dem eines gewöhnlichen Briefkuverts entsprechen, eine 2-Kreuzer-Portomarke integrierter Bestandteil des Formulars sein und somit eine beachtliche Vergünstigung gegenüber dem Brief (5 Kreuzer) bieten. Die kommunikationsanstiftende und kulturstärkende Wirkung einer günstigen und einfachen Postkarte begründete er damit, dass diese erstmals auch eine Ad-hocVersendung der kleinsten Nachricht erlaubte.

3.3 Einführung der amtlichen Korrespondenzkarte Acht Monate nach Veröffentlichung des Herrmann’schen Entwurfs wurde in der Sonntagsausgabe der Neuen Wiener Zeitung (26. September 1869, 11) die „Verordnung des Handelsministeriums, betreffend die Einführung von CorrespondenzKarten“ für die Verwendung innerhalb Österreich-Ungarns zum 1. Oktober 1869 bekanntgegeben. Die durch die österreichische General-Postdirektion (Vincenz Freiherr Maly von Vevanovič, 1808–1878) verabschiedete Karte basierte auf Herrmanns Entwurf unter Verzicht auf eine telegrammartige Textlängenbeschränkung. Anzumerken ist, dass die Pressemitteilung nicht nur zusätzliche redaktionelle Hinweise enthielt, um Missbrauchsbedenken auszuräumen und zur Verwendung des Novums zu motivieren, sondern ebenfalls auf Stephans Denkschrift von 1865 anspielte: „Insbesondere dürften die [Correspondenz-Karten] für [Eisenbahn-] Reisende schätzenswert sein, […], indem sie die betreffende Notiz […] mit Bleifeder auf die Karte schreiben und  […] in den Briefkasten des fahrenden Postamtes […] hinterlegen.“ In Deutschland vermochte Stephan in seiner neuen Funktion als GeneralPostdirektor des Norddeutschen Bundes und Mitglied des Bundesrates sowie angesichts des Erfolgs der Correspondenzkarte in Österreich-Ungarn sein „Postblatt“-Vorhaben binnen weniger Monate im Gebiet des Norddeutschen Bundes

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umzusetzen. Orientiert an der österreichischen Bezeichnung und als ‚Korrespondenz-Karte‘ verbreitet, wurde mit dieser im Wesentlichen Stephans ursprüngliche Idee verfolgt. Der amtliche Testlauf startete am 18.  Juni 1870 in Berlin, offizielle Einführung innerhalb des Gebietes des Norddeutschen Bundes sowie Bayerns erfolgte zum 1. Juli 1870, die übrigen süddeutschen Staaten folgten. In der Schweiz war die staatliche ‚Carte Correspondence‘ ab 1. Oktober 1870 erhältlich. Mit Ausnahme Frankreichs (Einführung 1873) und Italiens (Einführung 1874) war die Postkarte auch in den übrigen europäischen Ländern und 1876 weltweit in 32 Staaten verfügbar. Ein stabiles Distributionssystem, das aus einer verbesserten postalischen innerstädtischen Infrastruktur (z.  B. in Berlin ab 1880 elf postalische Zustellungen pro Tag), aus nationaler und internationaler Verkehrverknüpfung und global gültigen Beförderungsregelungen (Berner Weltpostvereinsvereinbarungen, Postkarte für den Weltpostverkehr ab 1880) bestand, bot für die Postkarte die Grundlage, um zu einem verlässlichen Schnellkommunikationsmittel zu avancieren. 1885 wurden der Statistik der deutschen Reichspost- u. Telegraphenverwaltung zufolge innerhalb Europas 3.832 Mio. Briefe und 615 Mio. Postkarten befördert. 1895 betrug das Verhältnis von Brief zu Postkarte in Deutschland, Italien und Belgien bereits 2:1, wohingegen in England, den USA und Frankreich dem Brief noch deutlich der Vorzug gegeben wurde (vgl. Weithase 1895, 137).

3.4 Spezifikationen und Varianten Auf den Beginn des Deutsch-Französischen Krieges am 19.  Juli 1870 reagierte Stephan mit einer Feldpostorder, um mobilen Truppen portofreie Kartennutzung zu gewähren. Insgesamt wurden bis Dezember 1870 10 Millionen ‚Feldpost-Correspondenzkarten‘ zwischen den deutschen Truppen und deren Angehörigen verschickt. Durch die ebenfalls an die Zivilbevölkerung vergünstigt abgegebenen Feldpostkarten sollte ein möglichst kontinuierlicher Kontakt zwischen Soldaten und deren Angehörigen erfolgen, um wechselseitig die Akzeptanz für die Kriegssituation zu Hause und die Motivation im Feld zu fördern. Als minimales Lebenszeichen erhielten die drei semiotischen Faktoren der Postkarte immense Bedeutung: (1) Datierung, (2) Handschrift als Index für die Unversehrtheit des Senders, (3) kurze Wohlergehenswünsche und -versicherungen, Ermunterungsoder Verbundenheitsformeln. Indem die Feldpostkarte durch ihre charakteristische existentiell und emotional aufgeladene Verwendungsweise zur allgemeinen Akzeptanz der Postkarte als neue Form privater Kommunikation beitrug, wurde die ursprüngliche funktionale Konzeption des Mediums gravierend ausgeweitet. Entscheidende Modifikationen des Mediums in Deutschland beinhalteten die offizielle

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 3 Briefgenres

Einführung der Bezeichnung ‚Postkarte‘ zum 1. Juli 1872. Die Neubezeichnung war mit einer Verkleinerung des Kartenformats und der Reduktion auf die Hälfte des regulären Briefportos (1/2 Groschen) im gesamten deutsch-österreichischen Postgebiet verbunden. Ebenso wurde die private Produktion von Postkarten gestattet. Diese attraktivitätssteigernden Maßnahmen erfolgten, um dem nach Kriegsende verzeichneten Rückgang an regulärer Kartenbeförderung entgegenzuwirken. War der Zudruck von Abbildungen durch verschiedene Reproverfahren und die Entwicklung einer bildbegleitenden Textpraxis somit bereits möglich, folgte erst 1885 die offizielle Beförderungsbewilligung für Bildpostkarten, was als Indiz für eine zu dieser Zeit etablierte Bildpostkartenpraxis im gewerblichen Bereich zu verstehen ist und zugleich den Beginn der massenhaften Motiv- und Ansichtskartenproduktion darstellt. Einzelne postkartenspezifische Eigenschaften wurden in den 1880er und 1890er Jahren durch die Einführung zusätzlicher Varianten verstärkt, die für kürzere oder längere Zeit erfolgreich waren, beispielsweise: (1) Maximierung der Transportgeschwindigkeit durch Beförderung der Karten im großstädtischen Rohrpostsystem (Rohrpostkarte ab 1875 Wien/1877 Berlin), (2) gesteigerte Antwortgeschwindigkeit durch bequeme Responsmöglichkeit (Doppelkarte mit perforierter, abtrennbarer bereits bezahlter Antwortkarte, in Deutschland seit 1872, Abb.  3), (3) Schutz der brieflichen Privatheit (Postkartenbrief mit gummierter Verschlussklappe zum Briefporto befördert; in Österreich postamtlich ab 1886, in Deutschland privatindustriell hergestellt).

4 Systematische Aspekte Die Postkarte entwickelte sich zunächst zu einer Kommunikationsform der Informationssicherung über kurze und mittlere Distanzen. Sie steht für eine raumzeitliche Verdichtung von Kommunikation durch Sofortreaktion mit dem Ziel der Komplexitätsreduktion, Irritationsvermeidung sowie Beziehungs- und ImageArbeit. Aus den im Austausch zwischen Sender*innen und Empfänger*innen entstandenen Standards und Routinen für Kurzbotschaften wurden präfabrizierte industrielle Massenbild- und Textzudrucke abgeleitet. In dieser Eigenschaft als Hybrid aus vorgefertigter Massenbotschaft und individuellem Korrespondenzmedium eröffneten sich neue Möglichkeiten für kommunikative Effizienz. Zudem eröffneten sich über die medienspezifischen Eigenschaften Spielräume für die Gestaltung von Botschaften, die komplementär oder konkurrierend zur Briefform standen. Mit diesem erweiterten Funktionsspektrum wurden die Karten vermehrt auch für Fernkommunikation transkontinental populär.

3.2 Die Postkarte als text- und bildkommunikatives Phänomen 

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Abb. 3 a und b: Rückantwortpostkarte der Deutschen Reichspost am 3. Juni 1875 von Eisenach nach Karlsruhe an „Hochwohlgeboren Herr Generalarzt Dr. Hoffmann, Carlsruhe in Baden“. Text: „In ergebener Beantwortung Ihrer werten Karte, theilen Ihnen mit, daß wir schon viele Anmeldungen zum Ärzte Congreß haben, so daß wir uns nicht mehr für bestimmtes Logis binden können, sollten wir bei Ihrer Ankunft noch freie Zimmer haben, so wird es uns großes Vergnügen machen diese dann noch offerieren zu können / Hochachtungsvoll Carl & Ed. Röhrig“ (Stadtarchiv Karlsruhe: 7/Nl Hoffmann-IV 202 1824)

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 3 Briefgenres

4.1 Offene Versendungsform Aufgrund der offenen Versendungsform konnten die Mitteilungen innerhalb behördlicher, betrieblicher und Dienstleistungskommunikation in Vertretung der Empfänger*innen von Mitarbeiter*innen gelesen und beantwortet werden. Ähnliches galt für private Postkartentexte, die zu Grüßen an die primären Adressat*innen auch übermittelnde Verbundenheitszeichen für das Umfeld der Empfänger*innen enthielten. Entsprechend wurden die Karten weitergereicht, wodurch gruppenkonsolidierende Kommunikationsnetze entstanden. Die distributive Offenheit bot die notwendige Legitimation für Öffentlichkeit, wenn etwa in Verbandszeitschriften die Inhalte der an die Redaktion geschickten Reisepostkarten zitiert oder Botschaften nicht zustellbarer Postkarten aus der Anfangszeit des Mediums in der Rubrik „Postalisches“ des Wiener Abendblattes (14.2.1870, 138) wiedergegeben wurden, um Sender*innen oder Empfänger*innen im Ersatzmedium Zeitung über missglückte Kommunikationsversuche zu informieren: „,Theuerste Eltern  – ich habe in 14  Tagen Prüfung.‘ Unterschrift wie Jannu.“/ „Lieber Freund  – eine Halsentzündung hat mich verhindert dir zu schreiben. Franz Berger.“/„Ihr Kaprunerthal ist im Satze. Wird in Nr. 4 oder 5 erscheinen. Jäger.“ Entscheidend war, dass die mediale Offenheit eine stilistische Offenheit begünstigte und neue Formen strategischer Kurzkommunikation ausprobiert wurden. Anstelle eines verbalen brieflichen Aussagens konnte ein metaphorisches Zeigen oder Insinuieren praktiziert werden, indem Bildkarten im Sinne einer Hinzuschreibung oder Affirmation einer vorgedruckten Aussage nur um eine Signatur oder einen Gruß ergänzt wurden. Ein allusiver Stil konnte aus Diskretion gegenüber dem ländlichen sozialen Umfeld oder aus geschäftiger Eile inmitten der anonymen Großstadt motiviert sein. Zugleich wurde die kleine Korrespondenzbühne für bürgerliche Selbstinszenierung genutzt, indem eine Handschrift und Stilistik oder stenographisches oder fremdsprachliches Geschick präsentiert wurden. In einer Zeit, in der die bürgerliche Konvention des 19. Jahrhunderts vorgab, eine Porträtfotografie vor den Augen der Öffentlichkeit geschützt als Briefbeigabe im Umschlag zu versenden, wurde es möglich, eine plakativ gestaltete Bild-Textbotschaft als Zeigegeste zu nutzen beziehungsweise den Eindruck offenkundiger Transparenz der Absichten gegenüber der Mitleserschaft der Empfänger*innen per Text auszuspielen. In der Flirt- und Liebeskommunikation wiederum wurden Privatheit inszeniert und Intimität spielerisch durch privatcodierte Chiffren (Zahlen, Buchstaben-Zahlenkombinationen) auf offener Karte hergestellt. Gegenüber dem vom Briefgeheimnis geschützten intimen Brief konnte die Grußbildkarte mit unverfänglicher Kurzbotschaft dem Kontrollblick der Familienangehörigen standhalten und dennoch als Liebesmedium durch-

3.2 Die Postkarte als text- und bildkommunikatives Phänomen 

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gehen, indem die Liebesbotschaft im kleinen Feld unter der Briefmarke versteckt wurde. In ähnlicher Weise nutzten die sogenannten inoffiziellen Mitarbeiter (IM) im Kontrollapparat des DDR-Regimes die unauffällige Ansichtskarte als Kassibermedium, um unter der Briefmarke auf Mikrofilm verkleinerte Nachrichten an die Staatszentrale zu senden (vgl. Holzheid 2006). Die systemische Nähe zwischen Privatbrief und Karte wird auch durch einen während des Schreibens vollzogenen Medienwechsel ersichtlich. Sei es, dass sich die zur Verfügung stehende Schreibfläche der Karte für das Mitteilungsbedürfnis als zu gering erweist oder der Text im Schreibprozess eine vertraulich-brisante Wendung erfährt, aus der eine Versendung im Kuvert resultiert, wie z.  B. in einer Sendung Paula Modersohn-Beckers: „Dieser Brief sollte eigentlich eine Postkarte werden, aber die Tonart wurde um einen Stich zu warm für die Worpsweder Postboten“ (zit. nach Ohms 1948, 27). Indem vertrauensbildend sowohl Geschäfts- als auch Verwandtschaftsbeziehungen, Freundschaften und Liebesbeziehungen per Postkarte gepflegt wurden, manifestierte sich das Image eines Mediums für harmlos-heitere Botschaften. In staatlichen Verwaltungskontexten wiederum war es Usus, per Postkarteneinsendungen Daten für statistische Befunde zu sammeln (z.  B. 1888 Unfallstatistik des Schweizer Bundesrates, Bericht über Getreideernteerträge, Krankheiten). Aus beiden Praktiken leitete Adolf Eichmann (1906–1962) einen pervertierten Postkartenzwang für NS-Konzentrationslager ab. Nicht nur bot die Postkarte grundsätzlich das effiziente Mittel für streng restriktive Korrespondenz- und Zensurmaßnahmen, wodurch letztlich nur noch der kommunikative Anschein von privater Postkartenkommunikation stattfinden konnte. Bei Ankunft im Lager oder vor Tötung wurden Häftlinge zudem instruiert, die verteilten Postkarten mit Wohlergehensbestätigungen oder gar mit einer Einladung zu versehen und an Angehörige zu adressieren. Auf diese Weise wurden massenhaft Adressdaten erhoben. Zudem konnten die zu einem beliebig späteren Zeitpunkt verschickten Karten bei den Adressat*innen den Eindruck erwecken, es handele sich in der Kombination aus aktuellem Poststempel und vertrauter Handschrift der Sender*innen um ein aktuelles Lebenszeichen.

4.2 Stabilisierung alltagsbasierter Schriftlichkeit: Aktualität und Koordination Zu den frühen Kernfunktionen regulärer Postkartenkommunikation zählt die Stabilisierung von Kommunikation und die Koordination von Personengruppen inmitten einer als dynamisch erlebten Gegenwart. Ein Postkartenkommunikat war als eine Art Alltagstelegramm aus dem Moment heraus veranlasst, auf ein

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 3 Briefgenres

punktuelles Anliegen bezogen und diente grundsätzlich der Prozesssteuerung und fokussierten Aktualität zwischen den Kommunikationspartner*innen. Medien­symbolisch unterschied sich das private Telegramm von der privaten Postkarte durch markierte Dringlichkeit (Eiltelegramm) sowie durch repräsentative Exklusivität und außeralltägliche Valenz der Botschaft (feierliche Ehrerbietung, festtägliche Würdigung, erbetene oder zugesagte Nothilfe). Ob Telegramm oder Postkarte, die getroffene Wahl für eine der medialen Varianten impliziert feingradige nonverbale Markierungen und rahmt die Botschaft aus Sicht des Senders: „L.[ieber] A.[dolf]/Durch Telegramm zeigt Paul seine morgen Montag erfolgende Ankunft an. Wir treffen die nöthigen Vorsehungen und werde ich dir, sobald ich kann, weitere Mittheilung machen. Mit Grüßen von Haus zu Haus/Dein Schwager Louis./den 27.6.[18]92.“ (Textmitteilung auf einer Postkarte von Lichtenthal nach Karlsruhe, Stadtarchiv Karlsruhe: Nl Hoffmann-V 391 2486) Vor der Folie bürgerlicher Briefkultur und einer sich ausdifferenzierenden urban geprägten Kommunikationspraxis entsprach die Postkarte insgesamt den im 19.  Jahrhundert männlichen pragmatisch-sachorientierten Aufgaben. Während Frauen aus den unterbürgerlichen Sozialkreisen die Postkarte vorbehaltlos zum Einsatz brachten (z.  B. Entschuldigungsschreiben: „Euer Hochwürden mit der ergebensten Mittheilung, daß Ernst sehr stark an Husten leidet. S. den 4.3.[18]95. Achtungsvollst grüßt Beer“), erschien private Postkartenkorrespondenz mit dem kommunikativen Selbstbild statusbewusster Bürgerinnen wenig vereinbar. Postkartengebrauch (ohne Bildelement) auf derselben sozialen Ebene galt als Fauxpas, akzeptabel waren Direktiven zur Regelung der Belange des großbürgerlichen Haushalts. Diese Praxis spiegelt sich u.  a. in den literarischen Gesellschaftsporträts des bürgerlichen Realismus (Theodor Fontane, Marie von Ebner-Eschenbach) wie auch in der Erzählung „Zur Direction berufen. Eine gewöhnliche Geschichte in Briefen“, publiziert als Fortsetzungsfolge im Feuilleton der Wiener Verkehrs-Zeitung (o.A. 14.12.1879, 394). Der fiktive Wortlaut entspricht der damaligen Postkartendiktion: „Correspondenzkarte. Madame Elise an den Delicatessenhändler Meininger in R. | Herr Meininger!/Schicken Sie mir mit dem nächst abgehenden Zuge 1 Fässchen Caviar, 5 Flaschen guten Bordeaux, 1 Gansleberpastete, 1 Flasche süssen Liqueur und Theegebäck. Geld gegen Nachnahme. Ihre u.s.w.“ Jenseits dieser anfänglichen Vorbehalte bot die Postkarte ein Format zur kommunikativen Organisation der sich entfaltenden städtisch geprägten Konsumgesellschaft ebenso wie zur Verortung des modernen Subjekts in multiplen Interessengemeinschaften, sozialen und kulturellen Netzwerken (Kaffeekränzchen, Vereinssitzungen). Dies umfasst das Reklamieren von Aufmerksamkeit für Produkte, Veranstaltungen, Mitgliedschaften: „Einige Zeilen auf einer Postkarte an die literarische Anstalt in Freiburg genügen, um den Wunsch des Eintritts in den Verein zu erklären“ (Schweizerische Kirchen-Zeitung 1878, 93),

3.2 Die Postkarte als text- und bildkommunikatives Phänomen 

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„Niemand unterlasse die Bestellung (Postkarte genügt)“ (Der Nebelspalter 1888, s.p.). Druckereien reagierten auf die sich herausbildenden umfänglicheren Funktionsanliegen und versahen die Postkartenformulare mit Zudrucken zur Markierung der Verwendungskontexte (Sortimentslisten, Bestell-, Einladungskarten zu Sitzungen).

4.3 Kleinformat und sprachliche Kürze Das Telegramm, getrieben von einem maschineninduzierten Ethos und einer Ökonomisierung des geschriebenen Wortes, verkörperte das Ideal der dromologischen Rationalisierung des Alltags. Die Monetarisierung von Zeichen (Worttarif) durch forcierte Textkürze machte den lakonischen Stil der Mitteilung, der die Etablierung von Sprachformeln zur Folge hat, zum Wert an sich und zu einer dem Briefideal konträren neuen Norm. Diese bildete sich vermehrt über den Einsatz von Geschäftstelegrammen heraus. 1901 lag der Anteil an österreichischen Telegrammen des Geschäftsbereichs (Handel, Börse, Schifffahrt) bei 54,05  Prozent gegenüber denen des privaten Bereichs bei 21,31  Prozent (vgl. Handwörterbuch der Staatswissenschaften 1901, 70). Die allgemeine Tendenz zur minimierten Zeichenzahl auf Geschäftstelegrammen zwischen 1876 und 1913 trug als indirekte Einflussgröße zur Akzeptanz der Kurzform des Postkartentextes bei. Als „Nachrichteninstrument […] des modernen Menschen der Sachlichkeit“ (Risch 1948, 44) folgte Postkartenkommunikation dem Ideal des Telegramms grundsätzlich in den beiden wesentlichen Kriterien der sprachlichen Direktheit und Kürze des Ausdrucks. Legt man die Unterteilung von Telegrammtexten in kurze (bis zu sieben Wörter), mittlere (bis zu 21 Wörter) und Langtexte für Textbotschaften auf Postkartenformularen zwischen 1875 und 1890 zugrunde, zeigt dies eine große Streubreite der für Kartenbotschaften verwendeten Wortanzahl. Tendenziell weisen geschäftliche Postkartentexte eine kurze und mittlere Textlänge auf, wohingegen privat veranlasste Botschaften eher als mittlere oder Langtexte gestaltet wurden. Wenngleich die Postkarte mit sozialsymbolischer Valenz als „Armen-Telegramm“ (Fremden-Blatt, 19.1.1877, Nr. 17, 6) oder „Telegramm des kleinen Mannes“ bezeichnet wurde, so folgten reguläre Postkartenbotschaften nicht den morphologisch-syntaktischen Textreduktionsstrategien von Telegrammen, sondern blieben briefstilistisch orientiert, mochten sie auch lediglich aus einer syntaktischen Phrase (Abb. 4) oder einem Satz bestehen (Abb. 5). Die Postkarte für eine maximale Kurzbotschaft zu nutzen, womit sich die Sender*innen geschäftig, modern, souverän zeigten und gegebenenfalls sogar den Telegrammstil imitierten, bot nur eine unter vielen Möglichkeiten.

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Abb. 4 a und b: Postkarte am 20. Juni 1905 von Braunschweig nach Emmendingen an „Frau Marie Schloss, Emmendingen“. Text: „Freundlichsten Dank! Wilhelm Raabe“ (Stadtarchiv Karlsruhe: 7/Nl Schloss2-325 45)

3.2 Die Postkarte als text- und bildkommunikatives Phänomen 

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Abb. 5 a und b: Postkarte am 25. August 1893 von Weinheim nach Karlsruhe an „Herrn Generalarzt Dr. Adolf Hoffmann, Karlsruhe (Baden) Hirschstraße“. Text: „Lieber Onkel! Ich komme Morgen Noch Nicht. Deine Julie“ (Stadtarchiv Karlsruhe: 7/Nl Hoffmann-V 507 2602)

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 3 Briefgenres

Während eine Optimierung von formelhaftem Sprachgebrauch auf Postkarten eingeübt wurde, so gilt zugleich, dass die sprachliche Verfasstheit einer Postkartenbotschaft für ein- und dasselbe Anliegen um die Jahrhundertwende in Zeichenzahl und Stilistik außergewöhnlich variantenreich war. Beispielsweise erhielt ein Karlsruher Arzt 1894 auf die Anzeige der Verlobung seiner Tochter mehrere Glückwunschbezeugungen aus dem Bekanntenkreis per bildlosen Postkarten oder Ansichtskarten, deren Textbotschaften zwischen 13 und 220 Wörtern umfassten. Ebenso wie die Gestaltung der Botschaft von der Sender-EmpfängerBeziehung und den Kommunikationsidealen der Sender*innen abhing, galt das Prinzip, dass Verkürzungen in Postkartentexten trotz aller Sachorientiertheit niemals den Bereich der Höflichkeit gegenüber den Empfänger*innen berührten. Postkartenkürze unter dem Primat der Direktheit des Sachanliegens (Frage, Antwort) wurde für geschäftliche und wissenschaftliche Korrespondenz geschätzt und in privaten Kontexten entsprechend abgemildert. Eine Marginalisierung von Sprache wurde durch die zunehmenden Bildanteile bei Ansichts- und Motivpostkarten befördert, war aber auch da wiederum keine notwendige Folge, sondern eine Option. Zugleich wurden kurzbriefähnliche Langtexte in mikroskopischer Perlschrift sorgsam in freie Bildzwischenräume eingetragen und ein komponiertes kunstfertiges Kleinformat erzeugt. In bürgerlichen Kreisen entwickelte sich ein Faible für die kreative Inszenierung von Kommunikation und ein ausgeprägtes Bewusstsein im Umgang mit sprachlichem Material, wobei spielerisch auf briefliche Muster rekurriert, zugleich jedoch das Ex tempore der schnellen Mitteilung ausgespielt werden konnte. Das etymologisch-semantische Brevis (lat. ‚kurz‘) des Briefes wurde mit der Postkarte modern interpretiert. Die zur Kompensation der Kürze der Mitteilung entwickelten Strategien wie Wahl einer sprachlich-poetischen Form (gereimter Vierzeiler) oder Hinzufügung einer Illustration (Handzeichnung, aufgeklebte Fotografie) bereiteten den Weg zu den mannigfaltigen von der Postkartenindustrie vorgefertigten Bild-Text-Grüßen.

4.4 Briefliche Entformalisierung Die Postkarte repräsentierte den neuen Zeitgeist, der nicht länger „jedes Ereignis des Privatlebens als eine Haupt- und Staatsaction“ (Kruschwitz 1874, 259) verstand, sie bot somit ein „heilsames Correctiv gegen die Krankheit der [brieflichen] Empfindsamkeit“, wirkte statt auf einen „deducierenden“ auf einen „thetischen“ Briefstil hin und diente der Einübung von „logischem Denken, sachlicher Klarheit und Deutlichkeit bei möglichster Kürze des Ausdrucks“ (Kruschwitz 1874, 259). Die Entformalisierung briefbasierter Schriftlichkeit umfasst nicht nur den Verzicht auf Anredeformeln und Personentitel, sondern betraf alle Elemente der

3.2 Die Postkarte als text- und bildkommunikatives Phänomen 

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Korrespondenztätigkeit wie Entwurfsphase, graphostilistische Symbolik und ästhetische Präsentation. Wohingegen ein Brieftext Entwurf und Übertragung in Reinschrift verlangte, konnte die Kurzbotschaft direkt auf die Karte geschrieben werden, inklusive Durchstreichungen und Korrekturen. Wo das Angebot an Papieren, Kuverts, Schreibgeräten zu Zeiten der Hochphase der Luxuspapierindustrie (ca. 1870–1910) dazu diente, die briefliche Korrespondenz mittels Typographie und Layout zu einem Produkt der Selbstpräsentation sowie zu einer den Empfänger*innen schmeichelnden Gabe zu stilisieren, war die Postkarte grundsätzlich von diesen Konventionszwängen befreit. Statt gemäß brieflicher Konvention feine symbolische Nuancen über die Wahl von blauer oder schwarzer Tinte oder soziale Hierarchien zwischen Sender*innen und Empfänger*innen über eine Respektssemiotik (vgl. Ehlers 2004, 7 u. 24; Holzheid 2011, 78–81) aus den Elementen von unbeschriebener Papierfläche, Rändern und Zeilenabstand zu vermitteln, konnte die Mitteilung gemäß der Gebrauchshinweise auf den offiziellen Postkartenformularen wahlweise mit Tinte, Bleifeder oder farbigem Stift geschrieben sein, solange für die Deutlichkeit und Dauerhaftigkeit der Schriftzüge Sorge getragen wurde. Die Entscheidung blieb den Sender*innen vorbehalten, je nachdem, inwieweit sie ihre Mitteilungen an formale und inhaltliche Briefkriterien anpassen oder diese dazu in Distanz bringen wollten.

4.5 Mobilitäts- und Interimsmedium Die Nutzung der Postkarte als Mobilitätsmedium markiert einen wichtigen Schritt zur Entwicklung der ästhetisch und durch Freizeit gekennzeichneten bebilderten Ansichtskarte. Die Postkarte begleitet eine Kultur der sich ausweitenden Zeiten beruflicher Mobilität sowie des Aufsuchens öffentlicher Räume der Bildung und des kommerziellen Vergnügens. Ebenso wie die Reisestationen per Bildmotivkarte kommuniziert wurden, beinhalteten die Reisevorbereitungen Postkartenkorrespondenz, so etwa die Zimmerreservierungsbestätigung des Hotels von 1893: „Theile Ihnen hierdurch ergebenst mit daß ich Ihnen auf die genannte Zeit, Zimmer reservieren werde. Hochachtungsvoll Mayer/Hotel Krone/St. Blasien/31.8.93“ (Postkarte, Stadtarchiv Karlsruhe 7/NI Hoffmann-V 509). Analog zur Sondersituation der Reise, die durch Zeitmangel und Anstrengung gekennzeichnet war, legitimierten Krankheit, Rekonvaleszenz oder berufliche Belastung das Mittel der Postkarte anstelle eines kompositorisch und rhetorisch anspruchsvollen Briefs. Um das stattliche Pensum an schriftlicher Kommunikation innerhalb eines zunehmend getakteten Alltags zu bewältigen, wurden Strategien entwickelt, um unter Beibehaltung des brieflichen Ideals mediendifferenzierend auch auf die Vorteile, die sich aus der Postkartennutzung ergaben, nicht

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 3 Briefgenres

verzichten zu müssen. In den aufgeschlossenen bildungsbürgerlichen Kreisen wurde die Postkartennutzung maßgeblich definiert. Medienkonform wurde ein Brief mit einem Brief, eine Karte mit einer Karte beantwortet. Als besonderer Ausdruck höflicher Bescheidenheit den Empfänger*innen gegenüber galt daher, in einem Brief lediglich eine kurze Antwort per Postkarte zu erbitten. Aus einem Brief des Pathologen Rudolf Klemensiewicz (1848–1922) an seinen Lehrer, den Physiologen Alexander Rollett (1834–1903), vom 30. Mai 1878 geht die mediensymbolische Höflichkeit hervor: „Ich füge noch die Bitte bei […] mir für den Fall als Sie Muse [sic] finden, ein paar Zeilen auf einer Korrespondenzkarte zuzusenden.“ (Höflechner und Wagner 2012, 577) Um die Postkarte deutlich als Interimsmedium zwischen zwei Briefen auszuweisen, waren explizite mediale Referenzen in Form von Relativierungsformeln („Heute nur diese Karte“), Begründungen der Medienwahl in Kombination mit Entschuldigungsformeln, üblicher Textbestandteil. So schrieb der Autor und Komponist Heinrich Köselitz (1854–1918) am 17. Februar 1893 an den Theologen Franz Overbeck (1837–1905): „[I]ch bitte Sie dringend, mir die Benutzung dieser Postkarte zu verzeihen.“ (Overbeck und Köselitz 1998, 376)

4.6 Demokratisierung und kommunikative Teilhabe Wenngleich das jeweilige Postkartenkommunikat in der Art der Nutzung (über Themen, gewählte Bildmotivik und -technik, Kommentierungen, sprachliche Stile, Sendeanlässe, -orte) die Zugehörigkeit von Sender*innen und Empfänger*innen zu spezifischen sozialen Kreisen und Interessengruppen kennzeichnete, so wurde das Medium schicht-, generationen- und professionsübergreifend verwendet und ist gegenüber Brief oder Telegramm somit als niederschwelliges demokratisches Medium zu verstehen. Allein durch die Wahl einer (Bild-)Postkarte konnten Sender*innen ästhetische und inhaltliche Vorlieben, Interessen und Ansichten kommunizieren. Das Massenbildmedium Postkarte wird bei postalischer Versendung zum Ausdruck einer Haltung des Senders bzw. der Senderin und zu einer Einladung an die Empfänger*innen, diese zu teilen (z.  B. Ansichts-, Humor-, Propagandapostkarte). Die Hinzuschreibung und Kommentierung vorgefertigter Postkartenbotschaften hatte gruppenkonsolidierende wie individuelle Selbstversicherungsfunktion in einer sich rasant verändernden Welt, die sich in vielerlei Hinsicht zumindest per Bildweltenangebot auf Postkarten grenzenlos zu öffnen schien. Die Positionierung zur Moderne mittels Medienpraxis ließ sich angesichts des nahezu unbegrenzten Bildangebots als freiwillig getroffene Wahl erleben und gestaltete sich zugleich als ein Training für gemeinschaftliche Blickfindungen und Orientierungen. Darüber hinaus erlaubte das Medium demokratische Partizipation unter Einsatz der Bürgerbewegungskarten (z.  B. Reichstagswahlkampf 1912) und orga-

3.2 Die Postkarte als text- und bildkommunikatives Phänomen 

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nisierter Unterschriftenaktionen. In ihrer Folgewirkung beispielhaft hervorzuheben ist eine Postkartenaktion der Adenauer-Ära, an der sich Bürgerinnen und Arbeiterinnen gleichermaßen beteiligten. Mit ca. 1.700 an den Parlamentarischen Rat der Bundesrepublik Deutschland adressierten Postkarten sprachen sich die Absenderinnen für den vom Ratsmitglied Elisabeth Selbert (1896–1986) verfochtenen Gleichheitsparagraphen „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ (Artikel 3, Absatz 2, Satz 1) aus, der infolge dieses öffentlich manifestierten Drucks im Parlamentarischen Rat am 3.  Januar 1949 noch einmal vorgebracht werden konnte und schließlich in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Obgleich die Postkarte als Medienphänomen der industriellen Moderne universale Akzeptanz erfuhr, ist dennoch das meist kulturkonservativ motivierte Monitum herauszustellen, wonach Kürze, Offenheit, Entformalisierung und Standardformeln als Ausdruck intellektuellen Niedergangs erachtet wurden. Das ‚gemeine‘ Medium zog den Vorwurf des Unreinen und Unfeinen auf sich, da es auf dem Weg zu den Empfänger*innen von vielen Händen und Augen indiskret behandelt werden konnte. Exemplarisch für dieses Krisenbewusstsein steht eine Aussage Karl Gutzkows (1811–1878), der in der Rubrik „Zeitfragen & Anregungen“ des Deutschen Montagsblattes vom 25. Juni 1877 die Postkarte als Medium des Kulturverfalls identifizierte: „Denker, […], die nach den Ursachen forschen, warum Alles so dreist, so sicher, so rücksichtlos […] jetzt hergeht, mögen sich […] all die Hintansetzungen zarter Sitte […] vergegenwärtigen, die im genauer und tiefer betrachteten Wesen der Postkarte liegen.“ Die Kritik an exponierter Oberflächlichkeit des Mediums hallt auch in mediengeschichtlicher Perspektive nach, die weniger von der Entwicklung einer medialen Ausdifferenzierung gelenkt ist, als vom Sieg des neuen über das alte Medium ausgeht. So etwa in einer ambitionierten mediengeschichtlichen Dekonstruktion, die sich auf die häufig zitierten philosophischen Reflexionen zur Postkarte von Jacques Derrida (Die Postkarte von Sokrates bis an Freud, und jenseits. 1. Lieferung, 1980) und James Joyce (Finnegans Wake, 1939) beruft, wenn es u.  a. heißt: „Die Postkarte thematisiert den Brief, indem sie ihn dysfunktionalisiert. […] Die Postkarte ist ‚ein Brief, insofern von ihm nichts bleibt, was ist oder gilt‘, was in die Archive des ‚Willens zur Wahrheit‘ Eingang finden könnte – eine Letter also, die ein Litter ist.“ (Siegert 1993, 159) Die zugespitzte medienwissenschaftliche Aktivierung der historischen Dichotomie zwischen dem Brief als Inbegriff der Wahrhaftigkeit einerseits und der reklamierenden oberflächlich geschönten Postkartenbotschaft andererseits ereignete sich in einem historischen Moment, als der Brief in Gestalt der E-Mail eine die Kommunikation erweiternde Novität darstellte, demgegenüber die Postkarte an einem historischen Tiefpunkt angekommen war. Lediglich noch in Form der Teilnahme an einem Preisausschreiben oder einer Rundfunkwunschsendung war sie mit Gewinnhoffnung verbunden.

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 3 Briefgenres

5 Visualisierungsschub: Bildpostkarte Der in der Entwicklung der Postkarte um 1900 stattfindende Visualisierungsschub macht das Medium zu einem Hybridmedium, in dem die der Schrift verpflichtete Kurzmitteilung und die im 19. Jahrhundert sich rapide herausbildende visuelle Massenbildkultur (Fotografie, Zeitschriften, Werbung, Kino) zusammenkamen. Die Bildmotivik verhalf dem Medium zu explosionsartiger Popularität als Kombination von Individualkommunikation und Massenbild (Ansichts-, Kunst-, Motivpostkarte). Üblich waren Bildzusätze auf Postkarten seit 1875, um 1895 äußerte sich der ästhetische Zugewinn auch sprachlich, indem die bildlose Karte nur noch als „gewöhnliche Correspondenzkarte“ (Centralblatt für AnsichtskartenSammler 1899, 44) gegenüber der mit dekorativen, informativen und piktoralen Zusätzen ausgestatteten „Luxuspostkarte“ (Hotel-Revue, 6.8.1898, 1) tituliert wurde. Schnell wandelte sich das Verhältnis von Bild zu Text von kleinen Bildzusätzen zu konkurrierenden und gleichwertigen Anteilen; schließlich wurde dem Bild eine ganze Seite zur Verfügung gestellt, wodurch die Mitteilung auf die nun zweigeteilte Adressseite verdrängt werden sollte (in Deutschland ab 1905, international ab 1906/07). Insbesondere in der Übergangszeit um 1905 wurde auf das bewährte Muster zurückgegriffen, den Sendertext als „Himmelsschrift“ auf der Ansichtsseite unterzubringen (Abb. 6).

5.1 Mediale und postalische Reflexion, mediale Maskierung und explorative Bildwelten Inmitten der nicht zu überblickenden Vielfalt an Bildpostkarten reflektiert ein erheblicher Anteil um 1900 Kommunikation mittels einer Briefträger-, Brieftaubenoder Telefonatszene auf der Bildseite. Thematisiert wird damit die neumediale Konkurrenz sowie der Nicht-Brief-Status der Karte. Daneben finden sich Motive medialer Mimikry, in denen die Karte humorvoll als Telegramm ausgewiesen wird. Der Umgang mit der Bildmotivvielfalt auf Postkarten fügt sich insgesamt in eine ikonographisierende Kultur, die eine bis heute laufende Genealogie bereitstellt. Insgesamt wurde die Postkarte als Carte blanche begriffen, die passend zu dem andeutenden Charakter der verbalen Kurzbotschaften mit allen erdenklichen Visualisierungen, populären oder hochkulturellen Bildungszitaten ebenso wie mit eigenen hinzugefügten launig gereimten Vierzeilern und Kurzkommentaren aufgewertet werden konnte. Dabei überwogen affirmative Bildaussagen in Korrespondenz mit positiven Darstellungen in den Postkartentexten. Die in hohen Auflagen vertriebenen Karten repräsentierten durch die hinzugefügte Grußsignatur des Senders gleichsam eine adressierte visuelle Emp-

3.2 Die Postkarte als text- und bildkommunikatives Phänomen 

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Abb. 6 a und b: Ansichtskarte am 19. Mai 1906 von Alland nach Wien an „Wohlgeboren Frau Johanna Riedel, VII. Karl Schweighofergasse 4“ (Bestand: A.H.)

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fehlung, die als sinnlich, kulturell oder imaginär bedeutsam markiert war. Neben modernen Infrastrukturen, idyllischen Landschaften und ausgewiesenen Orten der Unterhaltung, d.  h. realen Erfahrungsräumen, eröffneten sich Imaginationsräume oftmals in szenischer Darstellung, als Kombinationen aus Textzitaten und Illustrationen (z.  B. Victor von Scheffels populärer Trompeter von Säckingen, eine romantisch unglückliche Liebesbeziehung in Reimform). Von der Massenbildpostkarte hob sich das persönlich gestaltete künstlerische oder kunstnahe Unikat ab (Fotografie, Zeichnung), das in der besonderen Ausprägung als Mailart oder Correspondence Art mit politischem Anspruch seit den frühen 1970er Jahren Künstler in Ost- und Westeuropa in Verbindung brachte, wobei u.  a. Zensurmechanismen spielerisch unterlaufen oder provoziert wurden.

5.2 Bild-Text-Kombinationen Zusammenfassend sind drei reguläre Funktionen der Bildelemente in Relation zu Textelementen zu unterscheiden: (1) Aufwertung der kleinen sprachlichen Botschaft in Konkurrenz zu brieflicher Länge durch das Hochwertmedium des Bildes im Sinne einer nicht thematisch im Text verankerten Dekorationsfunktion, die sich bisweilen über besondere Materialität (z.  B. Materialapplikation, Prägedruck, Sonderfarben) auszeichnet. (2) Das Bildelement fungiert als deiktischer Verweis auf das Hier-und-Jetzt des Senders, zeigt z.  B. eine Ansicht des Ortes, den der bzw. die Sender*in besucht hat. Eine briefliche Beschreibung der Landschaft wird durch das präfabrizierte Bild einer Ansichtskarte mit der impliziten Aussage „Hier ist es schön!“ ersetzbar oder durch einen zusätzlichen verbalen Kommentar nachdrücklich markierbar. An die Stelle der Erzählung über Welt tritt mit der Postkarte der mögliche Modus der in der Regel lustvollen, geteilten Betrachtung von Welt. Der fotografische Bildbeweis bietet die Alternative zu verbaler Ausführung und Argumentation. Ebenso wie eine Textbotschaft aus dem Alltag durch ein Bildmotiv aufgewertet werden kann, lassen sich außeralltäglich erfahrene Momente durch ein in die Heimat verschicktes und signiertes Bild teilen und an den Alltag rückbinden, wodurch eine Vermittlung von Ordnung und Außerordentlichem erfolgen kann. Über die visuelle Dominanz des Bildes entwickelt sich die Ansichtskarte zu einer ‚Gruß-aus-Karte‘, d.  h. zu einem maximal textreduzierten Bildgruß oder signierten Bild (Abb. 7). Oftmals enthielten Grußkarten die Unterschriften mehrerer Personen, die ein Erlebnis (z.  B. Ausflug, Vereinstreffen) teilten. Mit gruppenkonsolidierender Funktion wurden die Teilnehmer*innen namentlich gelistet, um zu dokumentieren, dass der bzw. die abwesende Adressat*in mittels Grußaktion vor Ort gedanklich in das Gemeinschaftserlebnis miteinbezogen wurde.

3.2 Die Postkarte als text- und bildkommunikatives Phänomen 

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Abb. 7 a und b: Präfabrizierter Bildhybrid aus Gruß-aus-Karte und Wünschen zum Jahreswechsel mit zusätzlichem optischen Bildeffekt der Halte-vors-Licht-Karte am 31. Dezember 1892 innerhalb Karlsruhes adressiert an „Herrn Christian Holzer, Bad. Registratur Assistent, Karlsruhe“. Signatur: „Er!“ (Stadtarchiv Karlsruhe: 7/Nl Holzer-07)

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 3 Briefgenres

(3) Aus Bild-Text-Gefügen, in denen beide Anteile als gleichwertig präsentiert werden, ergaben sich historisch neuartige Kommunikationsformen mit entsprechend neuen Dekodierungsanforderungen. Explizite Bildkommentare, Anspielungen oder implizite Leerstellen zwischen Bild und Text forderten von den Empfänger*innen Vervollständigungsleistungen. Statt brieflicher Linearität und Explizitheit steht Postkartenkommunikation für impressionistische, zuweilen collagierte Botschaften (künstlerisch überformt z.  B. bei Peter Altenberg). Da die Bildpostkarte einen Imperativ der Auswahl enthält, kommt den betrachtenden Empfänger*innen die Rolle zu, diese Auswahl zu würdigen. Geschmackskonventionen, Kontextwissen, situatives Wissen über das abwesende Sendersubjekt werden relevanter, sobald die komplexen Code-Übereinkünfte des Briefverkehrs entfallen. Sender*innen haben die Aufgabe, zu gelingender Kartenkommunikation beizutragen, indem sie das Bildmotiv nicht nur als Selbstausdruck auffassen, sondern inhaltliche Anschließbarkeit und ästhetischen Zuspruch auf Rezipientenseite berücksichtigen.

5.3 Vom Sach- zum Beziehungsmedium Mit der Entwicklung der variantenreichen Bildpostkarte öffnet sich das Augenblicksmedium Postkarte für Beziehungsaspekte. Über das adressierte Bild wird die Karte zur Gabe (mit Glückwünschen, Grüßen zu persönlichen Anlässen oder Festen des Jahreslaufs) oder zur spontanen Aufmerksamkeitsgeste für Empfänger*innen. Initiiert durch einen glücklichen Bildmotivfund stellt diese Art der Postkartenkommunikation die andere Seite der kommunikativen Notwendigkeit dar, d.  h. das Kommunikat geht nicht aus einem Mangel an Ressourcen hervor, sondern ist vielmehr Beleg einer doppelt motivierten Aufmerksamkeit für die Postkartenbildwelt und die Empfänger*innen. Sei es, dass die kostbare Lithographie als Ausweis des guten Geschmacks diente und zugleich zu einem gefälligen Kompliment für die Empfänger*innen wurde, sei es, dass die Fotopostkarte, auf welcher der bzw. die Sender*in oder Familienangehörige abgebildet waren, eine starke Selbstaufwertung vermittelte – mit der Dominanz des Bildmotivs wird die ursprüngliche Postkartenlogik der Sachmitteilung, die bestmöglich auf schmückende Anrede- und Grußformeln verzichten sollte, ad absurdum geführt und in der Umkehrung zum reinen Grußmedium, einem phatischen Medium. Es ist ein Zeichen der durch stetige Veränderungen und von Neuigkeitserwartungen geprägten Moderne, dass zwischenmenschliche Beziehungen mit kommunikativem Aufwand zu pflegen und Zeiten des Nicht-Kontakts durch Fernkommunikation zu überbrücken sind. Die Bildpostkarte, in hoher Taktung verschickt, bot das geeignete Mittel, um den Kanal zwischen Sender*innen und Empfänger*innen zu testen und Folgekommunikation vorzubereiten. An die Stelle des

3.2 Die Postkarte als text- und bildkommunikatives Phänomen 

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Bedarfs, eine Information zu senden, tritt die Postkarte mit der Information, dass aktuell kein dringliches Informationsanliegen bestehe. Der Mangel an Information der Botschaft wird durch eine Bildinformation kompensiert.

5.4 Liebeskommunikation Die Qualitäten der Postkarte als ein Freundschafts- und Liebesmedium wurden bereits 1874 betont: „Für wahrhafte Freundschaft und besorgte Liebe ist die Postkarte unbedingt eine köstliche Errungenschaft. Sie trägt etwas von der Beweglichkeit, Liebenswürdigkeit und Wahrhaftigkeit an sich, mit der wir uns die himmlischen Boten der Vorzeit ausgerüstet denken.“ Gegenüber dem „schwerfälligeren Bruder“ Brief ist sie – „schnellfüßig“ – weniger für „conventionelle Lüge und Heuchelei“ geeignet (Kruschwitz 1874, 260). Eine Leichtigkeit in der Beziehungskommunikation wurde jedoch erst in ganz eigener Weise mittels Bildpostkarten praktiziert, die speziell für Liebeskommunikationszwecke in großer Varianz angeboten wurden. Die üppig ausgestatteten industriell hergestellten Text-Bild-Kombinationen eigneten sich nicht nur, um Alltagskommunikation mit Liebesbotschaften effizient zu vereinen (Abb. 8). Die Versendung eines gefälligen szenischen Wunschbildes bot den passenden Grad an Indirektheit, um individuelle Beziehungsaspekte oder Wünsche zu thematisieren, ohne dabei eigenständig zu formulieren, d.  h. um die Aufmerksamkeit der Empfänger*innen zu lenken und dabei doch im Schutz der fiktionalen Allgemeinheit und Konvention des Bildes bleiben zu können. Die Versendung von mehrteiligen Serienbildkarten in sukzessiver Folge mit individualisierten Botschaften setzt an die Stelle der kommunikativen Pause im schriftlichen Verkehr ein Zeichen der Verbundenheit. Über die Kombination aus Motiv-Text-Konstrukt und Sendefrequenz wurden die Grade von Freundschaft, Flirt und Liebesbeziehungen symbolisierbar. Die besondere Intensität von Liebespostkarten wurde über Mehrfachkodierung (Briefmarkensymbolik, Bildmotivik, Beduftung) sowie über Mehrfachsendungen pro Tag ebenso wie mittels eines über mehrere Karten sich erstreckenden Langtextes erzeugt. Die getaktete Kommunikation enthielt das Versprechen auf eine Bildkollektion, die als Ausdruck besonderer Gefühlsdichte gedeutet werden konnte. In dem Maße, wie die Postkarte das formalisierbar Wiederkehrende, das zur Routine Formbare und massenhaft Reproduzierbare auf Text- und Bildmotivebene verkörpert und somit Ansichten visuell und intellektuell vermittelt (z.  B. Rolle von Mann und Frau), schafft sie ebenfalls Raum für die feine Adaption, Nuancierung, Varianten und Einmischung. Das spielerisch Ikonische und Spontan-Heitere der Ausschmückung, d.  h. die individuelle Aneignung einer vermeintlich objektiven und dokumentarisch-codierten Welt in Gestalt eines kleinen unkonventionellen

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 3 Briefgenres

Abb. 8 a und b: Bildmotivkarte am 16. März 1905 von Blankenburg (Harz) nach Börnecke an „Frl. Minna Böhme bei Frau Wahlert, Börne[c]ke am Harz, Langensteinerstraße N. 3“ [Die Maschinenschreiberin. Stenographie-Verlag Franz Schulze, Berlin N. 31 Gesetz. geschützt]. [Es schwirren die Finger im schnellen Takt / Kaum hörbar über die Tasten; Ich sitze dabei, mir flimmert der Blick / Ob des Zauberspiels ohne Rasten. […] Was hilft es mir, ich seh’ es klar, / Ihr meine Liebe zu klagen: / Sie verdient den Tag drei Thaler bar, / Da braucht sie nach mir nicht zu fragen.] Text: „Liebe Minna! Ich möchte dir schreiben daß ich am Sonntagabend gut zuhaus gekommen bin hoffentlich Du auch. […] schreib bald wieder wie du zu haus angekommen bist. Grüße Alle von mir Dein Herrmann. Sei gegrüßt und geküßt von deinem dich liebenden Herrmann“ (Bestand: A.H.)

3.2 Die Postkarte als text- und bildkommunikatives Phänomen 

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Inserts oder einer Umcodierung der präfabrizierten Zeichen durch einen MiniKommentar in Form eines Frage- oder Ausrufezeichens, machte die Postkarte als kreatives und durchaus unkonventionelles Kommunikationsmedium für die nach Beziehungen strebende Jugend attraktiv.

6 Forschung und Perspektiven Nachdem die Postkarte zunächst in postgeschichtlichen Beiträgen (vgl. Veredarius 1885; Grosse 1896; Kalckhoff 1911; Täubrich 1996) thematisiert und über sozialgeschichtliche Zugänge (vgl. Grimberg und Hölscher 1989) die Schriftlichkeit ‚kleiner Leute‘ untersucht wurde, während sich medienwissenschaftliche Studien (vgl. Hartwig 1976; Riha 1979) dem Massenmedium Bildpostkarte in Abgrenzung zum Brief widmeten, kulturwissenschaftliche Erkenntnisse aus Produktion und Genres der Ansichts- und Motivkarten gewonnen wurden (vgl. Haack 1988; Walter 1995, 2001; Tropper seit 2010; Starl 2014) und das Trägermedium klassifizierten (vgl. Pieske 1983), mentalitätsgeschichtliche systematische Annäherungen an die Bildseite stattfanden (vgl. May seit 1998), das Medium in der Linguistik und BildText-Forschung (vgl. Diekmannshenke seit 2002; Holzheid seit 2003) als Gegenstand entdeckt und als künstlerisches und Mail-Art-Medium (vgl. Hedinger 1992; von der Schulenburg 2013) betrachtet wurde, ist sie nun verstärkt zum transdisziplinären Interessengegenstand erhoben worden, wobei die Vorbehalte, es handele sich um einen unterkomplexen Forschungsgegenstand, sich verringerten. Digital gestützte Archivierungsprojekte, Online-Präsentationen und annotierbare Korpora schaffen die notwendigen infrastrukturellen Voraussetzungen. Mit computergestützten korpuslinguistischen Methoden der Digital Humanities werden gelaufene, d.  h. adressierte und postalisch verschickte Urlaubspostkarten (vgl. Hausendorf 2008) ausgewertet. Postkarten werden als Form der ­künstlerischen Sendung (vgl. Berswordt-Wallrabe 1997), als Medium der Schriftsteller, als literarische Kleinform und Motiv der Literatur (vgl. Sauer-Kretschmer 2018) ebenso untersucht wie Korpora von Kriegspostkarten (vgl. Kilian 2001; Brocks 2008) und Kolonialpostkarten (vgl. Axter 2014) erschlossen worden sind. Perspektivisch zu erforschen ist die Postkarte neben der Analyse noch unbearbeiteter spezifischer Postkartenkorpora und der Frage nach der differenzierten künstlerischen Verwendung des Mediums (z.  B. im experimentellen Film) im interkulturellen Vergleich. Aus medienkultureller Sicht stellt sich die Frage nach der Postkarte als Phänomen des Digital-Detox-Trends. Untersuchenswert ist ein in der jüngeren Generation beobachtbares wachsendes Interesse an der analogen Postkarte. Der vertraute Umgang mit digitalen kurzen Bild-Text-Kombinationen ist

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 3 Briefgenres

leicht auf die analoge Postkarte zu übertragen. Da sich die noch in den 1980er und 1990er Jahren zum gängigen Repertoire der Beziehungspflege zählende Versendung von Urlaubspostkarten auf die elektronischen Text-Bild-Nachrichten verlagert hat, ist die Postkarte gleichsam fremd und funktionslos und somit frei geworden für (1) ein Nutzungsrevival in neuem medialem Verbund, (2) für eine wissenschaftliche Betrachtung, die vor digitaler Vergleichsfolie auch die Fragilität des Speichermediums wahrzunehmen und die Postkarte als kulturelles Erbe und Wegbereiter moderner Kurzkommunikation aufzuschlüsseln und zu bewahren vermag. Zu Zeiten alltäglicher E-Mail-Kommunikation ist die Postkarte nicht nur Ausdruck von Luxus und Seriosität, etwa wenn die Zahnarztpraxis an den Termin per handschriftlich adressierter Postkarte erinnert. Mittlerweile hat die Postkarte vereinzelt bereits wieder den Status als Beziehungsmedium erlangt: Die Karte als persönliche überraschende Zuwendung in Form der postalischen Sendung bietet eine Besonderheit und bedeutet mehr als nur einen exponierten Beleg für souveräne Balance im Umgang mit dem digital-analogen Medienspektrum. Angesichts einer rasant voranschreitenden kommunikationstechnologischen Entwicklung, in der individueller Gesichtsausdruck, Stimme und typographische Individualstilistik durch KI-Technologien ermittelt und elektronisch für das menschliche Auge nicht mehr unterscheidbar generiert, d.  h. für kommunikative Zwecke kopiert werden können, tritt die individuelle Handschrift als noch nicht künstlich replizierbares Authentizitätsmerkmal hervor und verleiht der Karte kommunikatives Vertrauen.

Zitierte Literatur [anonym] (1869). „Verordnung des Handelsministeriums, betreffend die Einführung von Correspondenz-Karten“, in: Neue Wiener Zeitung, 26. Sept. 1869: 11. [anonym] (1870). „Postalisches“, in: Wiener Abendblatt. Beilage zur Wiener Zeitung, 14. Feb. 1870, 35: 138. [anonym] (1877). Fremden-Blatt, 19. Jan. 1877, 31.17: 6. [anonym] (1878). Schweizerische Kirchen-Zeitung, 23. März 1878, 12: 93. [anonym] (1879). „Zur Direction berufen. Eine gewöhnliche Geschichte in Briefen“, in: VerkehrsZeitung und Internationaler Verkehrs-Anzeiger. Organ für alle Zweige des Eisenbahn-, Post-, Schifffahrts-, Telegrafen-, Bank- und Versicherungswesens, der Handels- und Gewerbeangelegenheiten vom 14. Dez. 1879, 6.50: 393–394. [anonym] (1888). Der Nebelspalter, 1. Dez. 1888, 14.45: s.p. [anonym] (1898). Hotel-Revue. Organ und Eigentum des Schweizer Hotelier-Vereins, 6. Aug. 1898, 7.31: 1. [anonym] (1899). Centralblatt für Ansichtskarten-Sammler, 15. Feb. 1899, 2.4: 44. Axter, Felix (2014). Koloniales Spektakel in 9 x 14. Bildpostkarten im Deutschen Kaiserreich. Bielefeld.

3.2 Die Postkarte als text- und bildkommunikatives Phänomen 

 437

Berswordt-Wallrabe, Kornelia von (Hg.) (1997). Mail Art. Osteuropa im internationalen Netzwerk. Drei Tage rund um alternative Kommunikation. Kongressdokumentation. Schwerin. Brocks, Christine (2008). Die bunte Welt des Krieges. Bildpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg 1914–1918. Essen. Conrad, Johannes, Ludwig Elster, Wilhelm Hector Richard Albrecht Lexis u. Edgar Loenig (Hg.) (1901). Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Bd. 7: Tabak–Zwischenhandel. 2., gänzl. umgearb. Aufl. Jena. Diekmannshenke, Hajo (2002). „,und meld’ dich mal wieder!‘ Kommunizieren mittels Postkarte“, in: Briefkommunikation im 20. Jahrhundert. Hg. v. Ulrich Schmitz u. Eva Lia Wyss. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, 64: 93–124. Ehlers, Klaas-Hinrich (2004). „Raumverhalten auf dem Papier. Der Untergang eines komplexen Zeichensystems dargestellt an Briefstellern des 19. und 20. Jahrhunderts“, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik, 32.1: 1–31. Grimberg, Martin u. Thomas Hölscher (1989). „‚Gruß & Dank Eurer Willy‘. Die Einführung der Postkarte“, in: „Denn das Schreiben gehört nicht zu meiner täglichen Beschäftigung“. Der Alltag kleiner Leute in Bittschriften, Briefen und Berichten aus dem 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch. Hg. von Siegfried Grosse, Martin Grimberg u.  a. Bonn: 100–108. Grimm, Jacob u. Wilhelm (1889). Das Deutsche Wörterbuch. Bd. VII. Leipzig. Grosse, Oskar (1896). „Beiträge zur Geschichte der Postkarte“, in: Archiv für Post und Telegraphie, 24.21: 667–689. Gutzkow, Karl (1877). „Die Postkarte“, in: Deutsches Montagsblatt, 25. Juni 1877, s.p. Haack, Jutta (1988). Bildpostkarten mit Glückwünschen. Zu Typologie und Funktion von Geburtstagskarten zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg. Diss. Hamburg. Hartwig, Helmut (1976). „Zwischen Briefsteller und Bildpostkarte. Briefverkehr und Strukturwandel bürgerlicher Öffentlichkeit“, in: Gebrauchsliteratur. Methodische Überlegungen und Beispielanalysen. Hg. v. Ludwig Fischer, Knut Hickethier u. Karl Riha. Stuttgart: 114–126. Hausendorf, Heiko (2008). „Zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft. Textualität revisited. Mit Illustrationen aus der Welt der Urlaubsansichtskarte“, in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik, 36.3: 319–342. Hedinger, Bärbel (Hg.) (1992). Die Künstlerpostkarte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München. Herrmann, Emanuel (1869). „Ueber eine neue Art der Correspondenz mittelst der Post“, in: Neue Freie Presse, Sonderteil: Gewerbe- und Industrie-Zeitung vom 21. Januar 1869: s.p. Höflechner, Walter u. Ingrid M. Wagner (Hg.) (2012). Alexander Rollett. Seine Welt in Briefen 1844–1903. Bd. 1: Einleitung und Briefe 1844–1880. Graz. Holzheid, Anett (2003). „Das liebe Spiel mit offenen Karten. Die Postkarte als Medium der Liebeskommunikation“, in: liebe.komm. Botschaften des Herzens. Heidelberg: 122–131. Holzheid, Anett (2006). „Wo das Kommunizieren zur Kunst wird. Funktion und Gebrauch der Postkarte in der DDR“, in: Kalba ir kontekstai/Language in Different Contexts, 1.1: 106–115. Holzheid, Anett (2011). Das Medium Postkarte. Eine sprachwissenschaftliche und mediengeschichtliche Studie. Berlin. Kalckhoff, Franz (1911). Die Erfindung der Postkarte und die Korrespondenz-Karten der Norddeutschen Bundespost. Leipzig. Kilian, Katrin Anja (2001). Das Medium Feldpost als Gegenstand interdisziplinärer Forschung. Archivlage, Forschungsstand und Aufbereitung der Quelle aus dem Zweiten Weltkrieg. Berlin.

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 3 Briefgenres

Knies, Karl (1857). Der Telegraph als Verkehrsmittel. Mit Erörterungen über den Nachrichtenverkehr überhaupt. Tübingen. Kruschwitz, P. (1874). „Die Mission der Correspondenzkarte. Culturgeschichtlicher Versuch“, in: Beiheft zum Amtsblatt der Deutschen Reichs-Postverwaltung, 9: 257–260. May, Otto (1998). Deutsch sein heißt treu sein. Ansichtskarten als Spiegel von Mentalität und Untertanenerziehung in der wilhelminischen Ära, 1888–1918. Hildesheim. Ohms, Hans Herbert (1948). Die weiße Brücke. Eine Studie über den Brief. Göttingen. Overbeck, Franz u. Heinrich Köselitz [Peter Gast] (1998). Briefwechsel. Hg. v. David Marc Hoffman, Niklaus Peter u. Theo Salfinger. Berlin u. New York. Pauschardt, Heike (1989). „Kurz und bündig. Stephans Erfindung der Postkarte“, in: Deutsche Postgeschichte. Essays und Bilder. Hg. v. Wolfgang Lotz. Berlin: 215–220. Pieske, Christa (1983). Das ABC des Luxuspapiers. Herstellung, Verarbeitung und Gebrauch 1860–1930. Berlin. Riha, Karl (Hg.) (1979). Massenmedium Bildpostkarte. Siegen. Risch, Friedrich (1948). Heinrich von Stephan. Die Idee der Weltpost. Hamburg. Sauer-Kretschmer, Simone (Hg.) (2018). Postkarten und Literatur. Jahresband von Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft. 48.1+2. Schulenburg, Rosa von (2013). „Mail Art – eine künstlerische Form der Kommunikation“, in: Arte Postale. Bilderbriefe, Künstlerpostkarten, Mail Art aus der Akademie der Künste und der Sammlung Staeck. Hg. v. Rosa von der Schulenburg, Klaus Staeck u. Wolfgang Trautwein. Berlin: 46–88. Siegert, Bernhard (1993). Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751–1913. Berlin. Starl, Timm u. Eva Tropper (2014). Identifizieren und Datieren von illustrierten Postkarten. Wien. Stephan, Heinrich (1865). Denkschrift über die Einführung des Postblatts.  o.O, o.V., vollständig abgedruckt in: Otto Frank Veredarius (1885). Das Buch von der Weltpost. Entwickelung und Wirken der Post und Telegraphie im Weltverkehr. Berlin: 29–30. Täubrich, Hans-Christian (1996). „Alles auf eine Karte. Correspondenz-Postkarte statt Briefkorrespondenz?“, in: Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation. Hg. v. Klaus Beyrer u. Hans-Christian Täubrich. Heidelberg: 112–119. Tropper, Eva (2010). „Bild/Störung. Beschriebene Postkarten um 1900“, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 30.118: 5–16. Veredarius, Otto Frank (1885). Das Buch von der Weltpost. Entwickelung und Wirken der Post und Telegraphie im Weltverkehr. Berlin. Walter, Karin (1995). Postkarte und Fotografie. Studien zur Massenbild-Produktion. Würzburg. Walter, Karin (2001). „Die Ansichtskarte als visuelles Massenmedium“, in: Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900. Hg. v. Kaspar Maase u. Wolfgang Kaschuba. Köln, Weimar u. Wien: 46–61. Weithase, Hugo (1895). Geschichte des Weltpostvereins. Straßburg.

Online-Quellen Lemma „Postkarte“, Begriffsdefinition nach RDA (Ressource Description and Access) in: AH-007. Normierte Begriffe zur Beschreibung des Inhalts, RDA 7.2.1.3, D-A-CH, Version 1.8 (PDF, 28.11.2017); https://wiki.dnb.de/display/RDAINFO/Arbeitshilfen (10.10.2019).

Wolfgang Trautwein

3.3 Bilderbriefe, Künstlerpostkarten und anderes: Autographische Text-Bild-Post 1 Grundlagen Gegenstand dieses Artikels sind persönlich adressierte autographische Mitteilungen, die sowohl Text- als auch Bildinformationen enthalten und auf dem Postweg im Original versandt wurden oder zumindest dazu bestimmt waren. Hierfür gebrauche ich den Kunstbegriff ‚Text-Bild-Post‘, wobei „autographisch“ nicht nur Typoskripte, sondern auch den Bildanteil von Zeichnungen bis hin zu manuell gefertigten Collagen einbeziehen soll. Bei der autographischen Text-Bild-Post kann es sich um Briefe, Postkarten oder Mail Art handeln, nicht aber um (empfangene) Faxe, E-Mails oder anderweitig übers Internet versandte Nachrichten. Verschiedene bereits eingeführte Begriffe erfassen diesen Gegenstandsbereich nicht hinreichend. Der Terminus ‚Künstlerbrief‘ bezieht sich auf von Künstlern verfasste Briefe, gleichgültig ob sie Bildelemente enthalten oder nicht. Zudem kann Text-Bild-Post auch von Nicht-Künstlern stammen bzw. muss keinen künstlerischen Anspruch erheben. Dieses Argument spricht auch gegen einen generalisierenden Gebrauch des speziell für das Phänomen der Mail Art eingeführten Begriffs der „Correspondence Art“, den Ed Plunkett und Ray Johnson für die „New York Correspondence School“ geprägt haben (vgl. Ahrens und Clauß 2012, 126). Die auf Künstler*innen als Absender*innen beschränkte ‚Künstlerpostkarte‘ impliziert nicht notwendig bildliche Anteile, außerdem schließt der Begriff auch Karten mit reproduzierten Bildwerken ein. Ähnliches gilt für die ‚Bildpostkarte‘. Bei den sogenannten Malbriefen haben meist bildende Künstler zusätzlich zum Text gezeichnet oder gemalt, doch deckt der Begriff weder Postkarten noch Sendungen mit eingeklebtem Fotomaterial oder Collagen aus Bild- und Textelementen ab. Letztere bezieht der Begriff ‚Bilderbrief‘ mit ein; beide, Bilder- und Malbriefe, bilden echte Teilmengen des hier Untersuchten. Doch schließt auch der Terminus ‚Bilderbrief‘ die bildlich gestaltete Postkarte ebenso wie Sendungen der Mail Art aus. Da den hier untersuchten Postsendungen vergleichbare Gestaltungsverfahren zugrunde liegen – spezifische Anordnungen von Bild- und Textinformationen auf begrenzten Papierformaten –, erscheint der übergeordnete Begriff der Text-Bild-Post sinnvoll. Er ist seinerseits in den sogenannten Text-BildHybriden enthalten, wobei diese – vgl. Plakate, Comics oder Karikaturen – vom Postverkehr unabhängig sind. Die Text-Bild-Post bleibt an die technologischen und historischen Rahmenbedingungen des Postverkehrs gebunden, der  – https://doi.org/10.1515/9783110376531-028

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 3 Briefgenres

legt man die Kommunikationstheorie zugrunde  – den Kommunikationskanal bildet. Zeichentheoretisch stellt die Text-Bild-Post ein Superzeichen dar, das wiederum selbst Zeichencharakter besitzt. Im Rahmen eines triadischen Zeichenmodells, wie es Morris, Peirce und Bense entwickelt haben, unterscheidet man zwischen dem Mittelbezug (der materiellen Seite von Schrift und Bild), dem Objektbezug (der Bedeutung bzw. Realreferenz) und dem Interpretantenbezug (zum Sender bzw. Empfänger) des Zeichens. Schließlich greift dieser Artikel auf Bühlers Organonmodell der Sprache und dessen Unterscheidung von dreierlei Sprachfunktionen zurück, des – ichbezogenen – Ausdrucks, des – adressatenbezogenen – Appells und der – sachbezogenen – Darstellungsfunktion. Da im gegebenen Rahmen die Zahl der Abbildungen begrenzt ist, verweise ich zur Veranschaulichung ersatzweise auf Abbildungen aus zwei breit angelegten Publikationen Bilderbriefe, illustrierte Grüße aus drei Jahrhunderten (vgl. Essig und Schury 2003) sowie Arte Postale – Bilderbriefe, Künstlerpostkarten, Mail Art aus der Akademie der Künste und der Sammlung Staeck (vgl. von der Schulenburg 2013). Die herangezogenen Beispiele bleiben weitgehend auf den deutschen Sprachraum beschränkt.

2 Idealtypen und Beschreibungsmerkmale Bilder und Texte vermitteln jeweils eigenwertige Informationen. Was bildlich dargestellt wird, kann so nicht beschrieben werden, geschriebener Inhalt nicht gleichwertig abgebildet werden. Das Zusammenwirken von Bild- und Textanteilen, von – im zeichentheoretischen Objektbezug unterschiedenen – ikonischen Abbildern und symbolischem Textzeichen, wobei beide in der Regel indexikalisch aufeinander verweisen, generiert eine neue ästhetische Information. Deren Mehrwert kann auf andere Weise – nur sprachlich oder allein bildlich – nicht vermittelt werden. Vielschichtigkeit und Vielgestalt der Text-Bild-Post machen es unmöglich, eine klar in sich abgegrenzte Typologie zu entwickeln. Die Bild-Linguistik und ihre Verbindung zur Textlinguistik befinden sich derzeit auf einem zu hohen Abstraktionsniveau (vgl. Große 2009), um eine Differenzierung unseres Gegenstandsbereichs zu ermöglichen. Deshalb werden hier eher bescheiden handwerkliche, aber anwendbare Kategorien entwickelt. In grober Näherung lassen sich drei Idealtypen unterscheiden: Text-Bild-Post mit dominantem Textanteil, solche mit dominantem Bildanteil und solche, bei denen Bild und Text in etwa gleiches Gewicht haben. Um darüber hinaus konkrete Einzelstücke beschreiben zu können, wird innerhalb der drei Kapitel ein übergreifendes Spektrum text-bild-

3.3 Bilderbriefe, Künstlerpostkarten und anderes: Autographische Text-Bild-Post 

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licher Darstellungsmöglichkeiten vorgestellt, das unter folgenden Oberbegriffen steht: – Textarten und Bildtechnik – Kommunikative Funktionen von Text und Bild – Text-Bild-Bezüge – Bildpositionen und Gesamtkomposition

3 Textdominanz Wenn der Text das Bildliche dominiert – dieses ist die häufigste Form –, erhält der Bildanteil eine illustrierende Funktion, ohne dabei seinen Eigenwert gänzlich zu verlieren. (Umgekehrt erhält bei dominierendem Bildanteil der Text in der Regel eine kommentierende Funktion.) Der Textanteil ist mit den für – postalische – Texte gültigen Kategorien zu charakterisieren, als Liebes- oder Freundschaftsbrief, Urlaubs- oder Geburtstagsgruß usw. Im Einzelnen wird man den Text mit den Mitteln der Stilanalyse untersuchen, auf Stilmittel, Sequenzbildung und Gedankenführung, aber auch auf die Besonderheit der postalischen Kommunikation – das gemeinsame, vom Schreiber vorausgesetzte persönliche Wissen des Empfängers – achten. Zu beschreiben sind insbesondere die – sachbezogenen – Darstellungsfunktionen, – ichbezogenen – Ausdrucks- und – adressatenbezogenen – Appellfunktionen. Die Bühler’schen Kategorien lassen sich auch auf die Bildanteile übertragen, weshalb übergreifend von kommunikativen Funktionen gesprochen wird. Wenn Einar Schleef den auf dem eigenen Schreibtisch liegenden Brief zeichnet, fungiert das als Ausdruck des Absenders. Bei Schwimmers Zeichnung der adressierten Geliebten in leichtbekleidetem Zustand (vgl. Essig und Schury 2003, 21) ist die Appellfunktion unschwer zu erkennen, die zum – begehrlichen – Selbst-Ausdruck hinzutritt. In einer gezeichneten Urlaubslandschaft schließlich spielt  – neben Ausdrucks- und Appellfunktion („ich zeichne für Dich meinen derzeitigen Aufenthaltsort“) – die Darstellungsfunktion eine zentrale Rolle. (Die Bühler’schen Funktionen überlagern einander und sind – eine Besonderheit der postalischen Kommunikation – stets zugleich vorhanden.) Enthält das Poststück nur ein einzelnes Bild, steht dieses häufig am Anfang. Anfangsbilder zeigen gerne den Schreibenden selbst (vgl. Essig und Schury 2003, 109) oder seine Umgebung (vgl. Essig und Schury 2003, 91). Bilder am Textschluss eignen sich besonders für Appellfunktionen, etwa wenn E. T. A. Hoffmann den Schauspieler Devrient zum geselligen Beisammensein einlädt und in der Schlusszeichnung beide einander zuprosten lässt (vgl. Essig und Schury 2003, 31).

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Abb. 1: Einar Schleef an Gertrud Schleef Einar Schleef, Illustration auf Brief an Mutter © VG Bildkunst, Bonn 2020

3.3 Bilderbriefe, Künstlerpostkarten und anderes: Autographische Text-Bild-Post 

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Beliebte Anlässe für Text-Bild-Post mit Wunsch-Appellen sind Geburtstage und Neujahr. Bei Briefen mit mehreren Zeichnungen wird man auf deren Anzahl und die Bildpositionen innerhalb des Textverlaufs bzw. der gedanklichen Sukzession achten. Wo liegen die Schwerpunkte? Und ist, rein äußerlich, die Zeichnung ins Schriftbild so integriert, dass sie die Zeilen verkürzt? Steht sie randständig zum Text oder unterbricht sie das Zeilen-Schriftbild? Wie viele Zeilen sind jeweils betroffen? Der illustrierende Bildbezug bleibt, indem das Bild den Text veranschaulicht, in dessen semantischem Rahmen, wenn etwa Georg Christoph Lichtenberg die im Brief beschriebenen Körperteile und Kleidungsstücke aufzeichnet (vgl. Essig und Schury 2003, 17). Als ein Sonderfall sei gezeichnete Metaphorik, z.  B. ein gezeichnetes Herz für liebevoll herzliche Grüße, genannt. Ein anderes Feld eröffnet die humoristische Konnotation durch karikierende Bildgestaltung (vgl. Essig und Schury 2003, 117). Enthält der Text kein humoristisches Pendant, liegt bereits eine bildliche Zusatzinformation vor. Bildliche Zusatzinformationen weisen über den Textinhalt hinaus und ergänzen ihn, wenn z.  B. Walter Mehring beim Postkartendatum die Stadt Paris nennt und sich zeichnend selbst an einem Bistrotisch mit Weinglas und Zigarette vor Straßenverkehr, Häuserfronten und Eiffelturm porträtiert. Die über die Illustration bzw. die Illustration mit bildlicher Zusatzinformation hinausgehenden Spielarten des Bild-Text-Bezugs – von der semantisch erweiternden Wechselwirkung über den kommentierenden, frei assoziativen bis hin zum fehlenden Bezug – begegnen einem eher bei den anderen Idealtypen. Hier, bei Text-Bild-Post mit Textdominanz, seien noch zwei Sonderformen erwähnt, zum einen die formbildende Collage aus Textstücken wie beim Collagen-Intermezzo im Schreibmaschinenbrief Arno Schmidts an Eberhard Schlotter (vgl. Essig und Schury 2003, 123), zum andern die kalligraphische Gestaltung eines kohärenten Texts, die einen bildlichen Gesamteindruck erzeugt (vgl. von der Schulenburg 2013, 14). Dass im Einzelfall die Charakteristika der jeweiligen Handschrift und – besonders auch bei Schreibmaschinenschrift – typographische Besonderheiten zu beschreiben sind, gilt für alle Arten der Text-Bild-Post.

4 Bilddominanz Bei Bilddominanz, aber auch den anderen Typen der Text-Bild-Post, sind  – ähnlich wie die Stilanalyse bei der Textart  – die gewählte Bildtechnik und deren Anwendungsdetails mit dem Instrumentarium der Kunstwissenschaft zu beschreiben. Ist das Bild mit dem gleichen Schreibgerät – Feder, Füller, Bleistift, Filzstift – gefertigt wie der Text? Oder liegen zusätzliche Techniken bzw. Materia-

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 3 Briefgenres

lien zugrunde: Farbstift, Aquarell, Gouache, Papier- bzw. Text- oder Fotocollage oder darüber hinausgehende Material-Montagen? Oder bildet eine gedruckte Bildpostkarte das Ausgangsmaterial der autographischen Bearbeitung, sei es durch Übermalung oder durch Collagetechniken, wodurch von vornherein eine Bilddominanz gegeben ist? Bei dominantem Bildanteil prägt deren Gesamtkomposition die jeweiligen Blätter, sei es durch ein einzelnes Großbild oder durch eine Verbindung mehrerer Bilder. Drei zunehmend verstörte Selbstporträts füllen beidseitig eine Postkarte von Erich Engel (vgl. von der Schulenburg 2013, 12). Der Textanteil beschränkt sich auf deren Nummerierung und die Worte „Der Einsame“, Selbstausdruck des verliebten Absenders und Appell an die vermisste Adressatin. Neun Bildeinfälle, jeweils mit kurzen Kommentaren versehen, bestimmen die Mitteilungsfolge eines Briefs von Alfred Kubin an Gemma Bierbaum (vgl. Essig und Schury 2003, 77–79) und umkreisen den verstorbenen Schriftsteller Bierbaum, die Adressatin und den Schreiber selbst. Dabei ist die Bildabfolge assoziativ und unterscheidet sich vom Typus der narrativ kohärenten Bildgeschichte. Ein einzelnes, die Gesamtkomposition prägendes Großbild kann wie bei dem von HAP Grieshaber gemalten Papagei (vgl. Essig und Schury 2003, 134) einen kleineren, meist randständigen Teil des Blatts für einen erläuternden Text freilassen. Die Bilddominanz verändert den Text-Bild-Bezug. Anders als beim dominierenden Text, den das Bild illustriert, erläutert der Text das Bild; der Text-BildBezug ist also kommentierend. Bei dem das gesamte Briefblatt ausfüllenden Bild, auf dem sich Hanna Höch (vgl. Essig und Schury 2003, 121) von hinten in ihrem Garten darstellte, liegt eine andere Gesamtkomposition vor. Den Text schrieb sie ins formatfüllende Bild hinein, die Pflanzennamen in deren Umrisse, den engeren Mitteilungstext auf ihre Rückenpartie. Eine auf andere Weise dominierende Bildgrundlage liegt vor, wenn George Grosz eine Ansichtskarte des Dresdner königlichen Militärarsenals durch Montagen und Übermalungen verändert und durch punktuelle Kommentare – in der Appellfunktion – in ein „Ozeum“ zu Ehren des adressierten Künstlerfreunds Schmalhausen uminterpretiert (von der Schulenburg 2013, 24–25). In einer solchen Gesamtkomposition bilden die Textanteile kein gedankliches Kontinuum, sondern schaffen einzelne kommentierende BildText-Bezüge, hier mit dem Sonderfall einer ironisch witzigen Uminterpretation des Bildgegenstands. Bilddominanz und häufig auch – bildliche – Uminterpretationen kennzeichnen Diter Rots massive Übermalungen von Ansichtskarten der Stadt Reykjavik (vgl. Hedinger 1992, 213–214); der Acrylfarbenauftrag erweitert die neu entstandene Bildoberfläche ins Dreidimensionale. Collagetechniken, Übermalungen, Überstempelungen liegen häufig auch den bilddominierten Gesamtkompositionen der Mail Art zugrunde. Deren Textanteil

3.3 Bilderbriefe, Künstlerpostkarten und anderes: Autographische Text-Bild-Post 

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kann – bei Collagen aus Zeitungsausschnitten, Gebrauchsgraphik u.  a. – (vgl. von der Schulenburg 2013, 60) größer sein, ohne dass er ein Textkontinuum bilden würde. Er kann sich aber auch auf einzelne einmontierte Worte beschränken. Zum Teil fungieren diese nur als Collageelemente, sie können aber auch Deutungen anbieten, seien diese konkret politischer Art (vgl. von der Schulenburg 2013, 73) oder eher verrätselt (vgl. von der Schulenburg 2013, 42–43). Bei allegorischen Bildgestaltungen wie in Brentanos Brief über die Zeitung für Einsiedler (vgl. Essig und Schury 2003, 26–30) sind längere Deutungen im Brieftext erforderlich. Dagegen löst Hans Scharouns Spalter-Weihnachtsbaum 1950 die rätselhafte Zeichnung in einem kurzen politischen Kommentar auf. Die Deutung des Bildanteils erscheint dabei als besondere Ausprägung des kommentierenden Text-Bild-Bezugs. Auf der anderen Seite kann der Textanteil der Mail Art im Extremfall bis auf die Adresse zurücktreten; der Übergang zum Versand bildnerischer Arbeiten ist fließend. Wenn jedoch die Text-Bild-Komposition als Postkarte vervielfältigt wird, ist das Abgrenzungskriterium des Autographischen verletzt. Dieses trifft auf die gedruckten Künstlerpostkarten, etwa Emil Noldes Serie der Bergkarikaturen, die Karten der Wiener Werkstätten oder der umfangreichen Künstlerpalette in der Edition Staeck, zu.

5 Gleichwertigkeit von Text und Bild Beim dritten Idealtyp erscheinen Text- und Bildanteile gleichwertig. Dabei müssen sie nicht notwendig semantisch miteinander verknüpft sein. Viele Postkarten von Franz Marc (vgl. Essig und Schury 2003, 83), Ernst Ludwig Kirchner (vgl. Essig und Schury 2003, 69) und anderen Expressionisten tragen auf der einen Seite kleine aquarellierte Kunstwerke, auf der anderen Seite eine Mitteilung, die hierauf keinerlei Bezug nimmt. Dennoch ist – im Gegensatz zu Bildern als Beilage von Briefen  – der Zusammenhang auf dem gemeinsamen Blatt gegeben, die Bildgröße durch das Kartenformat gesetzt. In anderen Fällen besteht eine inhaltliche Verbindung zwischen beschriebener Vorder- und illustrierter Rückseite der Postkarten. Eine collagierte Zeichnung Anita Rées (vgl. Essig und Schury 2003, 99), die u.  a. zwei Brüste darstellt, und der rückseitige assoziative Text, in dem von der „erste[n] Doppelbusenkarte“ die Rede ist, fügen sich zu einem Text-Bild-Bezug, der als „semantisch erweiternde Wechselwirkung“ bezeichnet sei. Beide Anteile, Text wie Bild, geben einander wechselseitig (und damit auch dem Ganzen) zusätz­ liche ästhetische Bedeutung. (Rée setzt dabei das Wissen der Empfänger über die Schwierigkeiten voraus, die ihr die nackten Brüste auf einem Wandgemälde der törichten Jungfrauen bereitet hatten.) Dieses unterscheidet sie sowohl vom illus-

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 3 Briefgenres

Abb. 2: Hans Scharoun, Spalter-Weihnachtsbaum 1950

3.3 Bilderbriefe, Künstlerpostkarten und anderes: Autographische Text-Bild-Post 

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trierenden wie vom kommentierenden Text-Bildbezug. (Bei ersterem bildete der Text den übergeordneten Rahmen des Bildanteils, beim zweiten ist es umgekehrt.) Eine Gesamtkomposition, bei der Text und Bild auf derselben Blattseite ineinander übergehen, kann die semantisch erweiternde Wechselwirkung auch äußerlich verdeutlichen. Das geschieht in Götz Godes Bildbrief an Wolfgang Knop (vgl. Essig und Schury 2003, 153); die deformierte martialische Halbfigur mit einem auf den Rücken gehefteten Orden und die im umschließenden Text angesprochene Auflösung der DDR wirken zusammen und geben der Information vom Umsturz eine eindrückliche Radikalität. Bei der semantisch erweiternden Wechselwirkung laden sich also Bild und Text wechselseitig mit ästhetischem Mehrwert auf, wobei der Informationsgehalt – im Unterschied zum frei assoziativen Text-Bild-Bezug – noch sprachlich umschrieben werden kann. Ein Gemenge aus kleinen Menschen- und Tierfiguren, durchdrungen von separaten Einzelbuchstaben, die sich zur Anrede zusammenfügen, und der in die blattfüllende Gesamtkomposition hineingeschriebene Text prägen Jean Tinguelys Brief an Rainer Gross (vgl. Essig und Schury 2003, 142). Bild- und Textverweise auf Tinguelys Werke verstärken einander auf eine nicht mehr verbalisierbare Weise, so dass ich von einem frei assoziativen Text-Bild-Bezug spreche. In einem anderen Beispiel zeichnet Christoph Bernoulli drei diagonal angeordnete Rechtecke aufs Briefpapier und malt sie mit abstrakten Formen aus. Um sie herum schreibt er einen konventionellen Brieftext an Carl Zuckmayer (vgl. Essig und Schury 2003, 129). Die Verbindung von Text und abstrakten Formen ist, als eigener Fall, gleichfalls dem frei assoziativen Text-Bild-Bezug zuzuordnen. Markante Sonderfälle, meist des gleichwertigen Text-Bild-Typus, bilden Briefe, in denen Künstler zeichnend und schreibend von ihrem Werk berichten, so z.  B. die Briefe des Bildhauers Gustav Seitz an Christa Sammler. Seltener gibt umgekehrt, wie Ernst Penzoldt im Brief an Ulrich Groethuysen (vgl. Essig und Schury 2003, 111), ein Autor über ein literarisches Werk Auskunft; bei der Darstellung markanter Szenen seiner Erzählung lässt er Bild und Handschrift einander durchdringen. Was Bildpositionen, -fläche und Gesamtkomposition betrifft, sind beide gleichwertig und erweitern ihre Semantik wechselseitig zu einem übergeordneten Ganzen. Dieses trifft auch auf die briefliche Bildergeschichte zu, mit der August Macke seiner späteren Frau Elisabeth seinen Alltag schildert (vgl. Essig und Schury 2003, 67). Den Impuls für die neuen Erzähleinheiten, die sich – wie im Comic – zeilenweise hintereinanderreihen, setzen jeweils Bild und Text gemeinsam. Im Unterschied zu dieser Zeilen-Anordnung setzt der Struwwelpeter-Erfinder Heinrich Hoffmann im Brief an seinen Enkel (vgl. Essig und Schury 2003, 53–55) die kongenial synchronisierten Text-Bild-Einheiten, gewissermaßen in einer Spalte, untereinander.

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 3 Briefgenres

Abb. 3: Gustav Seitz an Christa Sammler

3.3 Bilderbriefe, Künstlerpostkarten und anderes: Autographische Text-Bild-Post 

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Die obigen Beispiele zeigen auch das Spektrum der verschiedenen Bildpositionen und Gesamtkompositionen auf. Bilder können Anfangs- oder Endpositionen einnehmen und in unterschiedlicher Anzahl in den Textablauf eingefügt sein. Die Trennung von Bild und Text durch eine gerade Zeilengrenze ist ebenso möglich wie die Anpassung der Zeilen an die Bildkonturen oder ein Hineinschreiben des Texts ins Bild. Eine besondere Spielart ist die kurvige Zeilenführung um gekrümmte Bildkonturen herum. Bei gerader Zeilenführung können Zeilen gekürzt oder, bei Einbettung des Bilds, unterbrochen werden. Diese Spielarten sind bei allen drei Idealtypen möglich, die ihrerseits die übergreifende Gesamtkomposition prägen. Bei dominantem Text ist der Flächenanteil der Bilder naturgemäß geringer, bei dominantem Bildanteil kann der Text einen vom Großbild ausgesparten Raum füllen oder, wenn sich das Bild über das gesamte Blattformat erstreckt, in dieses hineingeschrieben sein. Gleichwertige Bild- und Textanteile können auf getrennten Seiten stehen, sich dieselbe Seite teilen oder einander – Text eingefügt ins Bild oder Bild eingefügt in den Text – wechselseitig umschließen. Neben der Umschließung ist die Abfolge von Text-Bild-Sequenzen in Zeilenoder in Spaltenanordnung möglich. Es sei nicht verschwiegen, dass die Zuordnungen zum Idealtypus der Gleichwertigkeit oder Dominanz des Bildlichen und die zur semantisch erweiternden Wechselwirkung einen subjektiven Anteil haben. Eine andere Art von Wertung ist hingegen von vornherein als solche kenntlich, die Beurteilung der künstlerischen Qualität des Bild- wie des Textanteils. Beide können sich – auch gegenläufig zueinander – zwischen den Polen des künstlerisch Hochwertigen und des Dilettantischen bzw. Ungeschickten bewegen. Die Zugehörigkeit zur Kategorie der autographischen Text-Bild-Post berührt das aber, auch bei der unbedeutendsten Gelegenheitsmitteilung, nicht.

6 Historische Aspekte Auf die historische Entwicklung der Text-Bild-Post hatten die technischen Rahmenbedingungen von Poststück und Postverkehr wesentlichen Einfluss. Die frühen Beispiele im 18. Jahrhundert, u.  a. von Lichtenberg oder Johann Wolfgang von Goethe (vgl. Essig und Schury 2003, 17, 20), und aus der Romantik blieben aufgrund spröder Schreib- und Zeichenmittel sowie beschränkter Postwege vereinzelt. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts schufen die industrielle Papierfertigung aus Holzschliff sowie die Gründungen des Deutsch-Österreichischen Postvereins und der Reichspost die Voraussetzungen für eine größere Verbreitung auch der Text-Bild-Post. Da diese nur in Ausnahmen und dann aus größerem zeitlichen

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 3 Briefgenres

Abstand publiziert wurde, konnte eine Gattungstradition in dem Sinn, dass sie an öffentlich zugängliche Vorbilder angeknüpft hätte, nicht entstehen. Bemerkenswert bleibt, dass mit Ausnahme von Collage und Übermalung die verschiedenartigsten Darstellungsformen bis hin zur Bildgeschichte (bei Vischer oder L. Hoffmann , vgl. Essig und Schury 2003, 48, 52) bereits in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts ausgeformt waren. Eine wesentliche Neuerung ging vom Medium der 1869/1870 im deutschen Sprachraum eingeführten Postkarte aus. Als erster hat vermutlich der Maler Philipp Franck 1880 eine Postkarte rückseitig bemalt und versandt (vgl. Hedinger 1992, 11). Größere Verbreitung fanden solche mit kleinen Originalen versehenen Postkarten in den Expressionistenkreisen um die „Brücke“ und „Der Blaue Reiter“ insbesondere durch Kirchner, Karl SchmidtRottluff, Erich Heckel, Max Pechstein, Otto Mueller sowie Marc, Macke, Heinrich Campendonk, Paul Klee und Else Lasker-Schüler. Für diese begrenzte Gruppe entstand ein kollektiver Überlieferungszusammenhang. Hiervon ausgehend ordnete Gerhard Wietek die „gemalte Künstlerpost“ nach kunsthistorischen Perioden (vgl. Wietek 1977). Die den Expressionisten vorangegangenen Text-Bild-Autoren subsumierte er, Lovis Corinth im Zentrum, als Impressionisten, während er von der zweiten expressionistischen Generation nach 1918 mit Max Kaus, Walter Gramatté u.  a. die Gegenbewegungen eines kritischen Realismus bei Otto Dix, George Grosz und die der Neuen Sachlichkeit abhob. Eine einschneidende gestalterische Neuerung bedeutete die Montage, mit der ab 1916 die Dadaisten Hannah Höch, Johannes Baader, George Grosz, Raoul Hausmann, Kurt Schwitters, Hans Arp, Sophie Taeuber-Arp u.  a. Postkarten gestalteten und dabei insbesondere Textfragmente und Alltagsabbildungen verarbeiteten. Auch beim Dada-Postverkehr handelte es sich, hierin den Expressionisten vergleichbar, um einen kollektiven Überlieferungszusammenhang einer begrenzten Gruppe. George Grosz führte die Montagetechnik bis in die fünfziger Jahre weiter, ansonsten dominieren – mit noch zu benennenden Ausnahmen – seit den späteren 1920er Jahren jeweils personengebundene Individualstile. Genannt seien aus dem breiten Feld der schreibenden Maler*innen und malenden Schreiber*innen die umfangreichen Text-Bild-Postwerke bildender Künstler wie Olaf Gulbransson, Grieshaber, Horst Janssen, Hans Drescher und Sendungen von Theaterschaffenden wie Schwimmer oder Schleef oder von Literaten wie Penzoldt, Mehring, Peter Rühmkorf oder Sarah Kirsch. Politisch bedingte Sonderformen entstanden im Ersten Weltkrieg und während des Nationalsozialismus (vgl. Hedinger 1992, 191–192, 201–203). Seit den 1960er Jahren kam es, erneut im Medium der Postkarte, zu einem Innovationsschub von internationaler Wirksamkeit. Die Mail Art, deren Gestaltung wesentlich auf dem Prinzip der Montage beruht und die auf Kohärenz der textlichen Anteile verzichtet, entwickelte sich in eigens organisierten Netzwer-

3.3 Bilderbriefe, Künstlerpostkarten und anderes: Autographische Text-Bild-Post 

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ken. Für die Diktaturen Lateinamerikas und des Ostblocks bekam sie zusätzlich eine politisch subversive Funktion: Die Uneindeutigkeit der Mitteilung und die offene Einsehbarkeit der Postkarte forderten den Verschlüsselungsverdacht der Zensoren heraus. Im Zeichen von Fluxus, Konzeptkunst und Intermedia schließlich gingen Anspruch und Funktion von Text-Bild-Postkarten über die generellen Sprachfunktionen im Bühler’schen Sinn hinaus dahin, genuin künstlerischer Ausdruck und Appell zu sein. Beispiele hierfür sind die – oft seriellen – Selbstverortungen und formalisierten Mitteilungen von On Kawara, Hanne Darboven oder Lawrence Weiner. Zum Teil griffen Künstler*innen, etwa Vostell, auch auf handgefertigte Montagen zurück, zumeist wurden aber Reproduktionstechniken jenseits des Autographischen angewandt, dessen Begriffsgrenzen der Gebrauch von Schablonen, Stempeln, Handdruck und individueller Computerverfahren zwischenzeitlich aufgeweicht hat. Die Verwendung von Acrylglas, Blech, Holz, Filz o.  ä. als Schreibgrundlage, durch Joseph Beuys u.  a., erschlossen dem Poststück zusätzliche Materialitäten, ansatzweise auch die dritte Dimension. Aus dem handgefertigten Autographenbereich sei zuletzt James Lee Byars genannt, dessen über 100 Briefe an Beuys am bekanntesten wurden (vgl. Byars 2000). Aus meist zarten und preziösen Materialien und in Formaten bis zu mehreren Quadratmetern schuf Byars ein herausragendes, völlig eigenständiges Text-Bild-Briefwerk.

Zitierte Literatur Ahrens, Carsten u. Ingo Clauß (Hg.) (2012). Ray Johnson: I Like Funny Stories. Sammlung Maria und Walter Schnepel. Ausstellungskatalog Weserburg, Museum für Moderne Kunst. Köln. Byars, James Lee (2000). Briefe an Joseph Beuys. Hg. v. der Stiftung Museum Schloss Moyland, der Sammlung van der Grinten u. dem Joseph Beuys Archiv des Landes NordrheinWestfalen. Berlin. Essig, Rolf-Bernhard u. Gudrun Schury (Hg.) (2003). Bilderbriefe. Illustrierte Grüße aus drei Jahrhunderten. München. Große, Franziska (2009). Bild-Linguistik, Grundbegriffe und Methoden der linguistischen Bildanalyse in Text- und Diskursumgebungen. Frankfurt a. M. u.  a. Hedinger, Bärbel (Hg.) (1992). Die Künstlerpostkarte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München. Schulenburg, Rosa von der (Hg.) (2013). Arte Postale – Bilderbriefe, Künstlerpostkarten, Mail Art aus der Akademie der Künste und der Sammlung Staeck. Berlin. Wietek, Gerhard (1977). Gemalte Künstlerpost, Karten und Briefe deutscher Künstler aus dem 20. Jahrhundert. München.

Julie Prandi

3.4 Brief-Gedichte und Heroiden Brief-Gedichte mögen vereinzelt, in einer Folge oder im Rahmen eines Briefwechsels erscheinen. Eine Sonderform des Brief-Gedichts ist die Heroide, benannt nach den gleichnamigen elegischen Horaz’schen Gedichten, in denen der bzw. die Dichter*in unter dem Namen einer sagenhaften Figur schreibt. Da das BriefGedicht kein reines Genre ist, besteht Ungewissheit und Uneinigkeit darüber, was dazu zählen soll. Metrum, Stilebene und Thematik sind mannigfaltig; oft herrscht Verwirrung, wenn man präzise Abgrenzungen zwischen Episteln, ­Gedicht-Briefen, Brief-Gedichten und poetischen Schreiben etablieren will. Festhalten kann man daran, dass Brief-Gedichte literarische Erscheinungen sind, das heißt, sie sind eher als Kunstwerk denn als autobiographische Quelle zu betrachten; sie zielen auf eine breitere Öffentlichkeit und sind von der Orientierung an den bzw. die Empfänger*in geprägt. Das Brief-Gedicht teilt einem wirklichen oder fingierten, meistens mit Eigennamen ausgestatteten Adressaten etwas mit, was auf die Beziehung zu ihm anspielt und was versucht, durch Bitten, Wünsche oder Ratschläge, Herausforderungen oder Belehrung zu überzeugen. Der bzw. die Rezipient*in muss unmittelbar angesprochen sein. Andere Briefeigenschaften spielen oft eine Rolle (Anfangsgruß, Briefschluss, Hinweise auf Schreiben und Antwort). Ohne weitere Auskunft als die im Brief selbst enthaltenen Mitteilungen soll das BriefGedicht anderen Leser*innen der Zeit im Grunde verständlich sein. Gedichte als Briefeinlagen, die keine Briefgestalt aufweisen, und Versbriefe im Kontext eines Romans oder als Teil eines Prosabriefs sind auszuklammern. Die antiken Muster für Brief-Gedichte sind die Episteln von Ovid und Horaz, deren Metren  – Distichen beziehungsweise Hexameter  – in Brief-Gedichten neuerer Sprachen manchmal imitiert werden. Die für die Liebeslyrik einflussreichen Epistulae Heroidum Ovids verwenden fingierte Briefschreiber*innen und Rezipient*innen aus der Mythologie, die Liebeslust und -leid äußern. Eine Vielfalt an Themen, eine Affinität zur Gelegenheitsdichtung, eine lockere Gedankenfolge, und die Möglichkeit der Selbstdarstellung sind in Horazʼ Epistulae sowohl als in Ovids Tristia und Epistulae ex Ponto vorgebildet. Auf Hindernisse bei der Brief-Gedicht-Erfassung stößt man, weil viele dieser Gedichte entweder als Einzeldruck erschienen, nur als Manuskript zirkulierten oder nur verstreut unter einer allgemeinen Rubrik auffindbar sind. Weil sie häufig in moderne Gedichtanthologien nicht aufgenommen werden, sind Brief-Gedichte auch von bekannten Autor*innen manchmal nicht leicht zugänglich. Während es verhältnismäßig sicher ist, ein Gedicht, das der bzw. die Dichter*in selbst als Brief, Epistel oder Sendschreiben bezeichnet, als solches einzustufen, kann man https://doi.org/10.1515/9783110376531-029

3.4 Brief-Gedichte und Heroiden 

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sich wohl über Gedichte streiten, die keine entsprechende Unter- oder Überschrift tragen. Die Klassifizierung als Brief-Gedicht ist durch das Epochenverständnis und durch sowohl inhaltliche wie formale Maßstäbe bedingt.

1 Mittelalter bis um 1600 Brief-Gedichte in lateinischer Sprache gibt es schon in der Karolingerzeit (Alcuin, Walafrid Strabo). Die Tradition des Liebesbriefes in Versen hebt im 11. Jahrhundert mit lateinischen Briefen an, die als Muster in Klosterschulen gelesen und nachgeahmt wurden. Obwohl die Briefbeispiele aus der römischen Antike meistens in Prosa verfasst wurden, waren auch die ovidischen Heroiden fester Bestandteil des Schulunterrichts; sie wurden von Hofpoeten im Mittelalter bis in die Renaissancezeit adaptiert. Liebes- und Freundschaftsbriefe zwischen Klerusmitgliedern oder von Klerikern an adlige Nonnen wurden manchmal in Versform verfasst, wie die etwa 70 neulateinischen Brief-Gedichte von Balderich von Bourgueil (gest. 1107) aufzeigen. Im frühen 14. Jahrhundert führte der provenzalische Troubadour Arnaut de Mareuil eine neue Art poetischen Liebesbriefes ein, gennant salut d’amour, der eine dem lateinischen Brief fremde höfische Ethik pflegte: „Der salutz [d.  h., salut d’amour] ist unlösbar mit der Konzeption des amour courtois verbunden“ (Ruhe 1975, 117). Der typische salut dʼamour war ein Gedicht, das einen Liebesgruß und eine Beschreibung bzw. einen Preis der Dame einschloss. Die Bitte, der Dame dienen zu dürfen, gehörte auch dazu. Dieser salut dʼamour breitete sich in anderen romanischen Sprachen aus und beeinflusste mittelhochdeutsche Liebesbriefe. Gattungsgemäß ist das Liebesbrief-Gedicht des Mittelalters zu unterscheiden vom Lied (Canzone), Büchlein oder der Ballade durch die unmittelbare Anrede und durch die paargereimte Struktur. In Ulrich von Lichtensteins Frauendienst (ca. 1250) gibt es einige Lieder in Brief-Gedichtform, aber bis zum 15. Jahrhundert tritt der deutsche Minnebrief meistens nicht als eigenständiger Brief auf, sondern als Bestandteil der höfischen Epik. Im späten Mittelalter finden sich anonyme alleinstehende Minnebriefe in handschriftlichen Sammlungen: „[T]he majority of [medieval] verse love epistles are brief, conventional in theme and thoroughly anonymous.“ (Camargo 1991, 165) Eine Ausnahme bilden die poetischen Briefe Hugo von Montforts (gest. 1423) an seine Frau. Die volkssprachliche Nachahmung von Ovids Heroiden wird erst Mode, nachdem Octavien de Saint-Gelais die erste vollständige Versübersetzung (französisch, 1492) in Umlauf setzte, obwohl es vereinzelt Heroiden vorher gab, wie die von Ovid inspirierte Epistel in italienischen Terzinen von Luca Pulci (gest.

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 3 Briefgenres

1470). Im 16.  Jahrhundert folgten Heroiden vor allem auf Französisch (Michel d’Amboise 1541; François Habert 1550), aber auch in anderen Volksprachen (z.  B. Holländisch 1539 von Cornelis van Ghistele; Italienisch 1584 von Marco Filippi; Englisch 1597 von Michael Drayton). Ovids Gesamtopus wurde 1566 bis 1577 ins Englische übertragen, aber die Heroiden wurden am häufigsten übersetzt. Innovationen geschahen durch die Benutzung von Helden aus der Geschichte bei Pulci und Drayton; sowie durch die Anlehnung an biblische Helden im Heroidum Christianarum Epistolae (1524) von Eobanus Hessus, der diese Art Heroide (später Heroides Sacrae genannt) erfand. Neulateinische Brief-Gedichte außerhalb der Liebesthematik wurden unter anderem vom 14. bis ins 16.  Jahrhundert in humanistischen Kreisen verfasst, z.  B. von Petrarca (Epistolae metricae, 1331–1361) und von Deutschen wie Hessus, Georg Sabinus und Ulrich von Hutten. Volkssprachliche gereimte Briefe findet man in Frankreich (Christine de Pisan, gest. 1430; Clément Marot, gest. 1544) und auf Spanisch (Garcilaso de la Vega: „Epístola a Boscán“, 1534), aber wenig auf Deutsch. Nennenswert ist der „Ehrenbrief“ (1462) von Jakob Püterich von Reichertshausen.

2 1600–1715 Da die Hauptdichter des 17. Jahrhunderts in lateinischer Sprache korrespondierten, war es ein kleiner Schritt, Versepisteln im Stil Horaz’ oder Ovids in Landessprachen zu verfassen. Die gängige formelhafte Casualpoesie, durch die enge Verbindung mit dem konkreten Anlass gekennzeichnet, z.  B. Trauerfall, Festtag oder Hochzeit, lieferte viele Versbriefe (manchmal in fremdem Namen als Auftragswerk), aber die vorangehende neulateinische Briefdichtung, wo „sich die Versepistel zum wichtigen Medium der Selbstdarstellung [entwickelte]“ (Heyde 2010, 119), begünstigte auch einen neuen Trend zur Miteinbeziehung autobiographischer Züge. Kategorisiert manchmal als ‚poetische Sendschreiben‘, aber öfters unter vermischten Gedichten (‚poetische Wälder‘) oder bei Gelegenheitsgedichten eingestreut (Martin Opitz zum Beispiel bezeichnet keines seiner Brief-Gedichte als Brief oder Epistel), zeigen sich Brief-Gedichte in der Praxis in paar- oder kreuzgereimten Alexandrinern (oft Achtsilbern in Frankreich) mit Empfängern, die unmittelbar angesprochen und im Titel genannt werden. Weil das Brief-Gedicht die „wichtigste und charakteristischste Dichtungsgattung der Galanten“ (Dorn 1897, 65) war, existiert eine Unzahl Brief-Gedichte in Alexandrinern oder in strophisch gegliederten Vier- oder Fünfhebern in den französischen Salons und in der Liebeslyrik von Christian Hofmann von Hof-

3.4 Brief-Gedichte und Heroiden 

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mannswaldau, Johann Christian Günther und Benjamin Neukirch. Im stilistischen Kontrast zu Günthers strophischen Brief-Gedichten wie „An seine Schöne“ stehen seine erlebnisnahen elegischen Liebesbriefe in Alexandrinern, wie seine Gedichte an Leonore. Am zahlreichsten sind Gedichte an Gönner und Herrscher, die verschiedene Mischungen von Lob, Dank, materieller Unterstützung und politischer Wirkung bezwecken. Solche Verse können durchaus persönliche Erfahrungen einbeziehen (z.  B. bei Simon Dach); aber Brief-Gedichte dienen auch als Unterhaltungs- und Verführungsmittel oder zielen auf moralische Wirkung. Während in England besonders John Donne, aber auch Ben Jonson und John Dryden wichtige Epistelautoren waren, behauptet sich das Brief-Gedicht im 17. Jahrhundert in Frankreich als Hauptgattung, vertreten von Dichtern wie Vincent Voiture, Jean-Baptiste Rousseau, Jean de La Fontaine und Nicolas Boileau. Bei deutschen Dichtern erregen die in der Nachfolge der neulateinischen Briefe des 16. Jahrhunderts stehenden Freundschaftsbrief-Gedichte die Aufmerksamkeit. Nennenswert sind Opitz’ Briefe an Jugendfreunde und andere Künstler, poetische Schreiben von Friedrich von Canitz und Paul Flemings zahlreiche Freundesbriefe, unter anderem eine Folge von Reiseberichtepisteln wie „An Herrn Olearien vor Astrachan…“ (1636), die an Ovids Epistulae ex Ponto erinnern. Mit seinen galanten oder elegischen Liebesbriefen sowohl als mit seinen okkasionsund erlebnisbedingten poetischen Schreiben tritt Günther als der vielseitigste Brief-Gedicht-Autor dieser Ära auf: „nur selten vereinigt ein Dichter in seinen Episteln so sehr die Tradition Ovids und Horaz’ wie Günther“ (Motsch 1974, 67). Versuche mit der Heroide setzen sich im 17. Jahrhundert fort mit biblischen Helden, historischen und zeitgenössischen Fürsten und sogar auch mit Personen von niederem Stand. Erwähnenswert sind die Epistole eroiche von Antonio Bruni (1627) und von Lorenzo Crasso sowohl als holländische Heroiden von Jacob Cats und Joost van den Vondel. Mit seinen Briefpaaren in kreuzgereimten Alexandrinern (Helden-Briefe, 1663) führte Hofmannswaldau die Heroide in die deutsche Literatur ein. Wo Hofmannswaldau in fließend ungezwungener Sprache eine Liebe feiert, die etablierte Standesgrenzen oder Gesetze überschreitet, interessiert sich dagegen Daniel Casper von Lohenstein in seinen sechs gepaarten Heldenbriefen (1680) mehr für gelehrt verschlüsselte Erotik im Rahmen zeitgenössischer Hofskandale. Es gibt auch die mit biblischen Helden versehenen Heroidae Sacrae. Die Heroidensammlung in deutscher Sprache mit der größten Verbreitung war Heinrich Anselm von Ziegler und Kliphausens Helden-Liebe der Schrifft Alten Testaments (1691), die Erbauung geschickt mit Unterhaltung kombiniert. Heroiden dieser Art erschienen auch in Sammlungen von G. C. Lehms (1710) und C. F. Keine (1681) oder als vereinzelte Brief-Gedichte in den Werken vieler Barockdichter.

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 3 Briefgenres

3 Das 18. Jahrhundert In dieser Blütezeit des Brief-Gedichts wird die Gattung von den größten bis zu den bescheidensten Dichter*innen in verschiedenen Gestalten gepflegt. Die Briefe handeln von philosophischen oder kunst-theoretischen Angelegenheiten bis zur Liebes- und Freundschaftsthematik in Ausdrucksformen von scherzhaftem Plauderton bis zum moralisch-didaktischen Ton. Besonders bei zweitrangigen Poeten bleiben Brief-Gedichte Casualpoesie. Die zu erwartende Form ist zuerst ohne Stropheneinteilung. Während man in England den fünfhebigen Paarreimvers (Alexander Pope) und in Frankreich Achtsilber vorzog, herrschte in deutschen Brief-Gedichten der frühen Jahrzehnte der von Opitz empfohlene Alexandriner, der allmählich von einer Mischung von Vier- bis Sechshebern mit wechselnden Reimschemata verdrängt wird. Abgesehen vom seltenen Hexameter (z.  B. bei Christoph Martin Wieland und Johann Jakob Bodmer) gebraucht man kaum ungereimte Zeilen, die zuweilen bei Christian Friedrich Daniel Schubart oder FriedrichLeopold zu Stolberg-Stolberg vorkommen. Im späteren 18. Jahrhundert vermehren sich strophische Brief-Gedichte in gelegentlich komplizierten Gestalten, wie die berühmten Habbie-Strophe-Episteln bei Robert Burns. Obwohl die Anakreontiker viele echte Brief-Gedichte schrieben, entfernen sich ihre schlichten liedhaften Schäfergedichte an Phyllis, Damon usw. zu weit vom Genre Brief-Gedicht. Unter dem Einfluss von Popes Eloisa to Abelard (1717) lebt die Heroide europaweit kurz wieder auf. Dabei verlagert sich das Interesse von dem sinnlichen Überschwang des 17. Jahrhunderts hin zu einer empfindsamen Seelenliebe. Nach Charles-Pierre Colardeaus bahnbrechender französischer Versübersetzung von Popes Gedicht (vgl. Colardeau 1758) erscheinen weitere Pope-Nachahmungen, die „bald als Übersetzung französischer Gedichte (besonders in Spanien und in Rußland), bald als ein Weiterdichten […] weithin in Europa nachzuweisen [sind]“ (Dörrie 1968, 272). In Deutschland liefern Gottfried August Bürger (1793) und Sophie Mereau (1801) die kunstfertigsten Nachdichtungen. Neue Heroiden werden vor allem in Frankreich von Colardeau, Claude Joseph Dorat und Louis Sébastien Mercier, aber auch von Wieland (Briefe von Verstorbenen an hinterlassne Freunde 1753) produziert. Den blassen Ausklang dieser Gattung bilden die stoischen Distichen in „Neoptolemus an Diocles“ (1800) von August Wilhelm Schlegel und die bewegten Trochäen in August von Platens Heroiden, die keinen Nachhall mehr finden. Damit stirbt die Heroide als Brief-Gedicht-Genre aus. Das kritisch-moralische Brief-Gedicht macht große Schule in England mit Popes Epistels to Several Persons (1731–1735), aber auch Freundschaftsbriefe erfreuen sich dort großer Beliebtheit (etwa in den Kreisen um Jonathan Swift, Burns und Pope). Der Briefwechsel in Gedichten zwischen den Schotten William Hamilton und Allan Ramsay gilt als hervorragendes Beispiel der Briefdichtung.

3.4 Brief-Gedichte und Heroiden 

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In Frankreich kleidete Voltaire fast alle seiner Scherz-, Satire- und Lehrgedichte in Brief-Gedicht-Form. Während fingierte Briefschreiber*innen vorkommen, äußern sich die Dichter*innen des 18. Jahrhunderts im Brief-Gedicht (außer bei Heroiden) meistens in eigener Stimme. In Deutschland sind Freundschaftsversbriefe unter Gelehrten mit erlebnisnahen Zügen ebenso wie Brief-Gedichte, die eher um Didaktik und Literaturkritik kreisen, reichlich vorhanden. In zwei Sendschreiben an einen Priester (1737) pocht Sidonia Zäunemann auf das Recht einer Frau als Dichterin hervorzutreten; im Brief-Gedicht „An Herrn Rittmeister Adler“ rät Ewald von Kleist einem Mitoffizier, Waffen und Krieg zu fliehen. Dichter*innen schreiben einander, um auf Horaz’sche Weise das genussvolle Landleben zu preisen (Anna Luise Karsch, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Friedrich Günther von Goeckingk), um Ratschläge zur poetischen Praxis zu geben (Christian Fürchtegott Gellert: „Sendschreiben an den jungen Herrn von H“) oder um literaturkritische Auseinandersetzungen auszutragen. Johann Peter Uz verteidigt seine Liebe-und-Wein-Anakreontik gegen Vorwürfe der Unsittlichkeit im Gedicht „An Herrn Canonikus Gleim“ (1757). In seinem „Schreiben an Herrn ***“ sträubt sich Wieland gegen Johann Christoph Gottscheds einflussreiche Ästhetik. Goethes unvollendeter Versuch, in Friedrich Schillers Horen zwei Episteln in Hexametern zu produzieren (1795), illustriert auch einen an Horaz orientierten Stil. Johann Elias Schlegels „poetische Briefe“ (1740– 1749) und Wielands Zwölf moralische Briefe in Versen (1752) veranschaulichen den didaktischen Brieftypus. Trotz des früheren Entstehungsdatums erscheinen erst 1757 Benjamin Neukirchs Moralische Briefe der alten Philosophen. Während Briefe an Bekannte, Verwandte und andere Künstler das Feld dominieren, gibt es auch patriotische Brief-Gedichte sowie Liebesverse. Vaterlandsliebe oder Kritik erscheint typischerweise in Versen an Herrscherfiguren, aber auch manchmal in Gedichten an das Volk, wie z.  B. Johann Wilhelm Ludwig Gleims „An die Deutschen“. Die Liebesthematik kommt in allen Schattierungen vor: ob platonisch wie Christian Friedrich Daniel Schubarts „An Serafina“ oder homosexuell wie Nikolaus Götz’ „An seinen Freund Damon“, ob leidend oder genussvoll wie in Johann Wolfgang Goethes Versbriefen an Frauen wie Friederike Oeser, Charlotte Buff und Charlotte von Stein. Allerdings sind etliche an Stein abgeschickte Gedichte entweder als kurze okkasionelle Verse einzuordnen oder sind Briefeinlagen anstatt Brief-Gedichte, weil werkimmanente Briefhinweise gänzlich fehlen (z.  B. „An den Mond“ oder „Warum gabst du uns die tiefen Blicke“). Spätere Gedichte, die einen Brief-GedichtWechsel andeuten, sind Goethes Gedichtkreis „Sonette“ und das „Buch Suleika“ im West-Östlichen Diwan. Bei beiden handelte es sich um dialogisch strukturierte Gedichte, in denen die Frauenfiguren zu Briefformen neigen, wo der Liebhaber doch distanziert und kaum briefgemäß in Erwiderung schreibt.

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 3 Briefgenres

Im Laufe des 18.  Jahrhunderts bedurften die Dichter*innen adliger Gönner*innen immer weniger, da sich ein kulturtragendes bürgerliches Publikum mit zunehmender Lese- und Schreibfähigkeit entwickelte. Deshalb öffnete sich das Feld für bisher unbeteiligte soziale Schichten. In deutscher und englischer Sprache hatten Brief-Gedichte „special attractiveness for marginal writers“ (Overton 2007, 32), einschließlich Frauen und Personen von niedrigem Stand. Für Dichter*innen wie Robert Burns, Mary Leapor und Ann Yearsley wie für Zäunemann, Karsch und Schubart waren Briefgedichte ein Hauptgenre, in dem auch neue Themenbereiche erschlossen wurden. Wie Burns in seinen Episteln verteidigt Karsch („An Herrn Uz“) ihre gefühlsbetonte Rezeptionsästhetik in BriefGedichten. Poetinnen wie Zäunemann („Kluger Dichter ein Sendschreiben“) und Leapor („To Grammaticus“) thematisieren die Hindernisse ihres Dichterberufs. Die Würde der Frau, ihr Leben sowie ihre Arbeit werden zum Thema bei Anna Laetitia Barbauld („The Rights of Women“) und Mary Collyer (The Woman’s Labour. An Epistle to Mr Stephen Duck). Während Schubart in „An die Herrscher der Erde“ politisch Stellung nimmt, übt Karsch Sozialkritik in „Über die Vergleichung: An Nanntchen“. Mit der stets zunehmenden Leserzahl in dieser Epoche ergreifen viele die Poetenfeder, um sich vornehmlich in Gelegenheitsdichtung zu üben, die oft Briefgestalt annimmt. Seitens mancher männlicher Dichter entstand ein Bedürfnis, sich von Dichter*innen aus sozial benachteiligten Gruppen abzugrenzen. Während Gottsched am Anfang des Jahrhunderts das Brief-Gedicht noch respektvoll behandelte, wurde diese Gattung am Ende des Jahrhunderts zusammen mit Gelegenheitsdichtung überhaupt abgewertet, immer mehr „als Nichtkunst verachtet“ (Segebrecht 1977, 27).

4 19.–20. Jahrhundert Obwohl seit dem 19.  Jahrhundert das Brief-Gedicht oft zugunsten lyrischerer Genres übergangen wird, gibt es noch namhafte Vertreter*innen, wie George Gordon Byron (Lord Byron) und Victor Hugo, die deutlich zu diesem Genre neigen. Unerwartet und einzigartig ist der rege Brief-Gedicht-Wechsel zwischen Rainer Maria Rilke und Erika Mitterer, Dichterin aus eigenem Recht (Briefwechsel in Gedichten mit Erika Mitterer 1924–1926). Auch wenn ‚Epistel‘ oder ‚Brief‘ in der Gedichtüberschrift steht, können die zu erwartenden Briefeigenschaften fehlen, wie bei Bertolt Brechts „Epistel über den Selbstmord“. Trotzdem ist die so bekundete Gattungsabsicht des bzw. der Dichter*in zu respektieren. Metrik und Strophenbau werden mit der Zeit lockerer und die Gedichte kürzer. Nachdem im 19.  Jahrhundert Brief-Gedichte in antiken Metren (Nikolaus Lenau, Eduard

3.4 Brief-Gedichte und Heroiden 

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Mörike) noch vereinzelt erschienen sind, verschwinden diese Strophen in deutschen Gedichten des 20.  Jahrhunderts. Während Brief-Gedichte mit oder ohne Strophenbau und Reim im ganzen Zeitraum vorkommen, weichen die typischen Metren des 19.  Jahrhunderts (alternierende Vier-bis Fünfheber in England und Deutschland) den freien Rhythmen, unregelmäßigen Reimen und gekürzten Zeilenlängen des folgenden Jahrhunderts. Briefe an Freunde, Geliebte und andere Künstler*innen sind im 19. Jahrhundert noch gut vertreten. Wo im 19. Jahrhundert Victor Hugo, Alfred de Musset und Alphonse de Lamartine als die bedeutendsten Brief-Gedicht-Autoren in Frankreich gelten, kann man Clemens Brentano, dessen „Gedicht-Briefe indes eine neue ‚literarische Qualität‘ [erreichen]“ (Nickisch 1991, 178), und Mörike als die wichtigsten Vertreter in Deutschland nennen. Ästhetische Vorurteile verhinderten lange die Wertschätzung von Mörikes Brief-Gedichten, die eine prominente Stelle in seiner Spätdichtung einnehmen – „a considerable number of [Mörike’s] poems are written in the epistolary manner“ (Doerksen 1973, 134). Während viele seiner poetischen Briefe an bestimmte Freunde oder Verwandte adressiert sind (die er zum großen Teil in seine Lyriksammlungen aufnahm), gibt es andere Gelegenheitspoesie im Briefschema, z.  B. „Quittung“ oder „Rückblick“. Manchmal verwendet Mörike fiktive Adressat*innen, wie bei den bekannten Brief-Gedichten „Erinna an Sappho“ (eine Art Heroide) und „Besuch in der Karthause“. In einem geselligen, aber distanzierten, an Horaz erinnernden Ton schreibt Mörike in seinen Brief-Gedichten über scheinbar belanglose Dinge, die aber von reflektierenden Betrachtungen durchdrungen sind. Im 19. Jahrhundert stammen die berühmtesten poetischen Liebesbriefe von Lord Byron in England, von Clemens Brentano in Deutschland und von Musset in Frankreich. Im 20. Jahrhundert schreiben Frank Wedekind, Joachim Ringelnatz und Erich Fried noch Brief-Gedichte, die von der Liebe handeln. Wo Wedekind mit seinen sinnlichen, oft satirischen Liebesepisteln (u.  a. „Vergänglichkeit“, „Pennal“) wirbt und provoziert, unterhält Ringelnatz mit einer ansehnlichen Zahl lustiger Brief-Gedichte, die um Liebesangelegenheiten kreisen. Unter Frieds vielen Liebesgedichten gibt es einige Liebesbriefe (z.  B. „Brief aus England nach Dalmatien“). Politische und satirische Brief-Gedichte kommen im 19. Jahrhundert schon vor, aber im 20. Jahrhundert übernehmen sie fast das ganze Feld. „FortschrittMänner“ und weitere Brief-Gedichte von Franz Grillparzer prangern gängige politische Meinungen an, während Georg Herwegh oft zur politischen Tat aufmuntert (z.  B. „An die deutschen Jugend“). Am Anfang des 20. Jahrhunderts ereignet sich eine Blüte der feuilletonistischeren Brief-Gedichte, die oft scherzhaft oder gesellschaftskritisch (Die Weltbühne, Kabarettdichtung) ausfallen. Vor diesem Hintergrund entstehen die Brief-Gedichte von Wedekind, Ringelnatz und Erich Kästner.

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 3 Briefgenres

Mit der Tradition des versifizierten Reisebriefes knüpft Ringelnatz mit dem Band Reisebriefe eines Artisten (1927) an, eine Sammlung von Brief-Gedichten, die zuerst in der satirischen Zeitschrift Simplicissimus veröffentlicht wurden. Vor 1933 verwendet Kästner Brief-Gedichte oft für seine satirischen Sittenbilder, die mit Liebesdesillusionierung spielen („Ein Mann gibt Auskunft“, „Der Scheidebrief“) oder kleinbürgerliche Moral persiflieren („Ein Buchhalter schreibt seiner Mutter“). Nach 1930 bleibt Bertolt Brecht im 20. Jahrhundert der bedeutendste BriefGedicht-Autor in deutscher Sprache. Zehn seiner Gedichte tragen entweder das Wort ‚Brief‘ oder das Wort ‚Epistel‘ im Titel; weitere sind mit „An  …“ betitelt, oft an Gruppen adressiert, z.  B. „An die deutschen Soldaten im Osten“, „An die Nachgeborenen“, „An meine Landsleute“. Viele andere Rat erteilende Gedichte reden ein unbestimmtes ‚du‘ oder ‚ihr‘ in briefähnlicher Weise an, mit oder ohne Überschrift: „Vom Geld“, „Ich habe gehört, ihr wollt nichts lernen“, „Über das Urteilen“. Oft verschiebt sich der Rahmen vom Lesen und Schreiben in Richtung Gehörtes und Gesprochenes, wie die Wörter ‚Rede‘, ‚Appell‘, oder ‚Adresse‘ in Titeln bezeugen. Im Kontrast zu Brechts gängigen freien Rhythmen stehen die gereimten regelmäßigen Strophen von Walter Mehring in seinem wenig bekannten Gedichtzyklus Briefe aus der Mitternacht (1937–1941), bei dem er geschickt drei bewährte Elemente des Brief-Gedichtes zusammenbringt: Liebesdichtung, Selbstbespiegelung und Zeitbericht. Die Gattung entwickelt sich in verschiedene Richtungen. Relativ neu ist die Tendenz, sich über den Geschmack des Lesepublikums zu beklagen (Grillparzer: „Euripides an die Berliner“; Kästner: „Und wo bliebt das Positive, Herr Kästner“) oder eine bestimmte Gruppe anzureden (Annette von Droste-Hülshoff, „An die Schriftstellerinnen…“; Brecht, „Epistel an die Augsburger“). Statt des Empfängers wird manchmal im Titel entweder ein fingierter Briefschreiber (Kästner, „Epistel eines Dienstmädchens“) oder die Herkunft des Briefes angegeben (Ringelnatz, „Brief aus Düsseldorf“). ‚Postkarte‘ oder ‚Flugpost‘ in den Brief-Gedichttiteln von Günter Eich, Ringelnatz und Kästner drücken die Tendenz zur Kürze aus. Parallel zu der verminderten Zahl der Brief-Gedichte erscheinen mehr Gedichte, die statt den Anschein des Briefes den eines Vortrags haben. Bemerkenswert sind die vielen Brief-Gedichte an verstorbene Dichter*innen, Freund*innen oder Verwandte: „Another compulsion of the poet community was to pen poems as letters to persons dead“ (Villani 1991, 4). Brief-Gedichte von Hugo, Detlev Liliencron, Grillparzer und Platen honorieren oft tote Poet*innen; andere richten ihre Briefe an verstorbene Eltern oder Freunde, z.  B. Ringelnatz „An meinen längst verstorbenen Vater“. Berühmte englische Gedichte in derselben Kategorie sind Wystan Hugh Audens „Letter to Lord Byron“ (1937) und der Gedichtband Birthday Letters (1998) von Ted Hughes. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nehmen nam-

3.4 Brief-Gedichte und Heroiden 

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hafte Dichter*innen das Brief-Gedicht als Ausdrucksmöglichkeit immer weniger wahr. Danach ist vorauszusehen, dass dieses Genre in der Zukunft weiter eine untergeordnete Rolle spielen wird.

Zitierte Literatur Baudri de Bourgueil (1926). Les Oeuvres poétiques de Baudri de Bourgueil. Paris. Bruni, Antonio (1993). Epistole Eroiche. Hg. v. Gino Rizzo. Galatina. Camargo, Martin (1991). The Middle English Verse Love Epistle. Tübingen. Collier, Mary (1739). The Woman’s Labor. An Epistle to Mr. Stephen Duck. London. Doerksen, Victor G. (1973). „‚Was auch der Zeiten Wandel sonst hinnehmen mag‘: The Problem of Time in Mörike’s Epistolary Poetry“, in: Deutung und Bedeutung: Studies in German and Comparative Literature Presented to Karl-Werner Maurer. Hg. v. Brigitte Schludermann, dems., Robert J. Glendinning u. Evelyn Scherabon Firchow. Den Haag: 134–151. Dorn, Wilhelm (1897). Benjamin Neukirch. Sein Leben und seine Werke. Ein Beitrag zur Geschichte der zweiten schlesischen Schule. Weimar. Dörrie, Heinrich (1968). Der heroische Brief. Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung. Berlin. Fleming, Paul ((1965 [1865]). Deutsche Gedichte. 2 Bde. Darmstadt. Goethe, Johann Wolfgang (1910). Die Briefgedichte des jungen Goethe. Leipzig. Günther, Johann Christian (1964 [1930–1937]). Sämtliche Werke. 6 Bde. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Wilhelm Krämer. Darmstadt. Hamilton, William u. Allan Ramsay (2000). Familiar Epistles between William Hamilton of Gilbertfield in Cambuslang and Allan Ramsay in Edinburgh. Edinburgh. Hessus, Helius Eobanus (1539). Operum Helii Eobani Hessi. Halle. Heyde, David (2010). Subjekt-Konstitution in der Lyrik Simon Dachs. Berlin. Hofmann von Hofmannswaldau, Christian (1680). Helden-Briefe. Leipzig. Hughes, Ted (1998). Birthday Letters. London. Hugo von Montfort (2005). Das poetische Werk. Texte – Melodien – Einführung. Berlin. Karsch, Anna Louisa (1966). Auserlesene Gedichte. Stuttgart. Kästner, Erich (2004). Gedichte. Frankfurt a. M. Mehring, Walter (1971). Briefe aus der Mitternacht, 1937–1941. Heidelberg. Mörike, Eduard (1967–). Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag des Ministeriums f. Wissenschaft, Forschung u. Kunst Baden-Württemberg u. in Zusammenarb. mit dem Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. hg. v. Hubert Arbogast †, Hans-Henrik Krummacher, Herbert Meyer † u. Bernhard Zeller †. Stuttgart. Motsch, Markus (1974). Die poetische Epistel. Bern. Neukirch, Benjamin (1757). Satyren und Poetische Briefe. Frankfurt u. Leipzig Nickisch, Reinhard M. G. (1991). Brief. Stuttgart. Overton, Bill (2007). The Eighteenth-Century British Verse Epistle. Basingstoke. Pope, Alexander (1720). Eloisa to Abelard. London. Pope, Alexander (1951). Epistles to Several Persons. (Moral Essays). London u. New Haven. Pulci, Luca (1505). Epistole de Luca de Pulci al magnifico Lorenzo de Medici. Venedig.

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 3 Briefgenres

Püterich von Reichertshausen, Jakob (1920). Der Ehrenbrief des Püterich von Reichertshausen. Hg. v. Fritz Behrend u. Rudolf Wolkan. Weimar. Rilke, Rainer Maria (1950). Briefwechsel in Gedichten mit Erika Mitterer 1924–1926. Wiesbaden. Ringelnatz, Joachim (1935). Reisebriefe eines Artisten. Berlin. Ruhe, Ernstpeter (1975). De Amasio ad Amasiam. München. Schubart, Christian Friedrich Daniel (1829). Sämtliche Gedichte. Bd. 2. Frankfurt a. M. Segebrecht, Wulf (1977). Das Gelegenheitsgedicht. Stuttgart. Ulrich von Lichtenstein (1888). Ulrichs von Lichtenstein Frauendienst. Leipzig. Villani, Jim (1991). The Epistolary Form and the Letter as Artifact. Youngstown (OH). Wedekind, Frank (1984). Gedichte und Chansons. München. Wieland, Christoph Martin (1752). Zwölf moralische Briefe in Versen. Frankfurt. Wieland, Christoph Martin (1753). Briefe von Verstorbenen an Hinterlassne Freunde. Zürich. Zäunemann, Sidonia Hedwig (1738). Poetische Rosen in Knospen. Erfurt. Ziegler und Kliphausen, Heinrich Anselm von (1691). Helden-Liebe der Schrifft Alten Testaments. Leipzig.

Weiterführende Literatur Dowling, William (1991). The Poetics of the Eighteenth-Century Verse Epistle. Princeton. Tonolo, Sophie (2005). Divertissement et profondeur: L’épitre en vers et la societé mondaine en France de Tristan à Boileau. Paris.

Jonas Hock

3.5 Correspondance littéraire 1 Begriffsabgrenzung und Entstehungsbedingungen Die französische Bezeichnung correspondance littéraire meint ein spezifisches Medium des 18. Jahrhunderts und ist nicht mit der literarischen Korrespondenz im Allgemeinen zu verwechseln, die für jegliche Korrespondenz zwischen Literaten oder Korrespondenzen mit der Literatur als hauptsächlichem Gegenstand stehen kann. Die correspondance littéraire war ein Medium des Kulturtransfers zwischen Paris, der kulturellen ‚Hauptstadt Europas‘, und Fürstenhöfen in ganz Europa. Hintergrund und Bedingung für die Herausbildung dieses Mediums war eine historisch einmalige Konstellation, die sich durch die Vorbildstellung des französischen Hofes, aber auch jeglicher französischer und insbesondere Pariser Kulturproduktion – von Philosophie, Literatur, Musik und Theater bis hin zu Mode und Kulinarik – auszeichnete. Die von literarischen Korrespondenten verfassten Berichte über jeweils neueste Entwicklungen erfüllten das Bedürfnis nicht-französischer, frankophoner Adeliger, zeitnah und regelmäßig informiert zu werden. Darum wurde auch der größte Teil der correspondances auf Französisch verfasst; nicht umsonst lautet der Titel einer von Marc Fumaroli herausgegebenen Anthologie verschiedener solcher Korrespondenzen Quand l’Europe parlait français (2001, dt.: „Als Europa Französisch sprach“). Das Phänomen des literarischen Korrespondententums war nicht auf Deutschland beschränkt, aber hier besonders ausgeprägt, da die zahlreichen Kleinfürstentümer eine Vielzahl an Höfen hervorbrachten, die alle ihren eigenen ‚Kanal‘ nach Paris pflegten. Der Terminus correspondance littéraire setzte sich erst im 19.  Jahrhundert gegen bis dahin synonym gebrauchte Bezeichnungen wie feuilles oder nouvelles littéraires bzw. gazette oder commerce littéraire, aber auch bulletin oder mémoires durch. Einerseits wurde der Medientypus bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der ersten gedruckten Auflage von Friedrich Melchior Grimms Correspondance littéraire, philosophique et critique identifiziert, andererseits wurde erst gegen Ende des Jahrhunderts von der literaturhistorischen Forschung versucht, den Terminus auch als Gattungsbegriff zu verwenden (vgl. Schlobach 1985, 221– 222). Wegweisend war hier Gustave Lanson, der in seiner französischen Literaturgeschichte auch die das Medienphänomen bedingende Grundkonstellation betonte: „Jene, die nicht ins gemeinsame Zentrum aller klugen Köpfe kommen oder zurückkehren konnten, wurden von Frankreich aufgesucht. Zunächst gab https://doi.org/10.1515/9783110376531-030

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 3 Briefgenres

es die correspondances littéraires […]“ (Lanson 31895 [1894], 811; Übers.  d. Verf.). Zwar konzentriert sich Lanson weitgehend auf Grimms Correspondance, die er als „Meisterwerk der Gattung“ (Lanson 31895 [1894], 811) bezeichnet, deutet jedoch an, wie verbreitet das Phänomen im 18. Jahrhundert durchaus war: „Zahlreiche andere französische Schriftsteller oder Schreiberlinge waren Privatkorrespondenten von Herrschern, Fürsten, Edelmännern, deren intellektuelle Heimat Frankreich war“ (Lanson 31895 [1894], 812). Die Rede davon, dass nicht nur anerkannte Schriftsteller, sondern auch ‚Schreiberlinge‘ sich als Korrespondenten verdingten, verweist auf einen sozioökonomischen Aspekt. Die Entstehung der correspondance littéraire erfolgte soziologisch betrachtet auch vor dem Hintergrund der Notwendigkeit mittelloser bürgerlicher hommes de lettres, sich durch ihre zunehmende Ablösung von direkten Abhängigkeits- und damit sicheren Finanzverhältnissen neue Einkommensquellen zu erschließen. Die zeitweilige Allianz zwischen aufklärerischen Pariser philosophes und absolutistischem europäischem Adel ist durchaus auch auf diese neuartige Korrelation von Geldströmen in die eine und Informationsströmen in die andere Richtung zu verstehen. Aus dieser spezifischen Konstellation erklärt sich die zeitliche Begrenztheit des Phänomens, das etwa die 1730er Jahre bis zur Jahrhundertwende umfasst, wobei die Hochphase für die Zeit zwischen der Hochaufklärung um 1750 (Beginn der Arbeit an der Encylopédie) und der Französischen Revolution anzusetzen ist. Mit der Revolution, spätestens aber mit den Napoleonischen Kriegen und Besatzungen verschiebt sich die geopolitische Grundsituation massiv, was unmittelbare Auswirkungen auf die politisch-ökonomische Situation der correspondance-Empfänger*innen sowie auf die Arbeitsbedingungen der Korrespondenten vor Ort hat.

2 Systematische und historische Aspekte Lanson wirft Ende des 19. Jahrhunderts die Gattungsfrage auf, ohne sie jedoch weiter zu diskutieren. So präzisiert er nicht, ob er mit correspondance littéraire eine literarische, journalistische oder eine Brief-Gattung meint, wobei seine positivistische literaturgeschichtliche Perspektive Ersteres nahelegt. Schlobach knüpft explizit an Lanson an, verbleibt bei der Bezeichnung „Genre“, die er der deutschen „Gattung“ vorzieht, verwendet sie jedoch parallel zu „Medium“ (Schlobach 1985, 224; Schlobach 1987, 1). Abrosimov optiert in einer breiteren, kommunikationsgeschichtlichen Perspektive für den Begriff „Medientypus“, welcher der Hybridität des Gegenstandes, dem Merkmale sowohl des handschriftlichen Privatbriefs als auch des gedruckten Pressewerks zukommen können, besser gerecht

3.5 Correspondance littéraire 

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wird (Abrosimov 2014, 13–19). Da die correspondance littéraire an den Rändern der Briefkultur des 18.  Jahrhunderts anzusiedeln ist (vgl. Hock 2016), ist die Bestimmung als Briefgenre durch Abgrenzung von angrenzenden epistolarischen Gattungen sowie anderen Medientypen zwar möglich, eine eindeutige Festlegung von Definitionskriterien jedoch nicht. Correspondances littéraires unterscheiden sich immer in einigen, nie aber in allen Merkmalen von Gelehrtenbriefen, Zeitschriften, nouvelles à la main, Diplomatenkorrespondenzen und Privatbriefen, da deren Spezifika teils integriert und geteilt werden (vgl. Abrosimov 2014, 19–40). Zur genaueren Bestimmung und Einordnung einzelner correspondances müssen daher verschiedene Einzelmerkmale herangezogen werden, von denen einige als Spannungspole betrachtet werden können. In Erweiterung der von Schlobach (1985; 1987, 31–45) entwickelten Kriterien lassen sich folgende, hier nach dem Kommunikationsmodell gruppierte Fragen an das jeweilige Korpus stellen. Nachricht: Erfolgt die Sendung unregelmäßig oder kann eine gewisse Periodizität festgestellt werden (wöchentlich, 14-täglich oder monatlich)? Ist ein Normumfang festgelegt und ist der Aufbau standardisiert (z.  B. ein Hauptartikel, gefolgt von Aktualitätsmeldungen) oder nicht? Wird die Sendung als Diplomatenpost zugestellt; sind Stil und Adressierung eher persönlich oder unpersönlich gehalten? Sender: Ist der Absender bürgerlich und liegt ein direktes Abhängigkeitsverhältnis zum Empfänger vor bzw. handelt es sich um ein Freundschafts- oder Dienstverhältnis? Erfolgt eine (eventuell vertraglich festgelegte) Bezahlung und wie hoch ist diese? Gibt es einen Verfasser oder mehrere und werden die Manuskripte von diesem bzw. diesen selbst aufgesetzt oder von Kopisten abgeschrieben? Empfänger: Gibt es einen oder mehrere Empfänger, d.  h. wie groß ist der Kreis der Adressaten bzw. wird die Sendung anderen Personen zugänglich gemacht? Welche Geschlechter und Standeszugehörigkeiten lassen sich auf der Empfängerseite ermitteln? An drei correspondances littéraires soll beispielhaft die Spannbreite veranschaulicht werden, die der Medientypus im Laufe nicht einmal eines Jahrhunderts entfaltete. Als erster correspondant littéraire gilt gemeinhin Nicolas Claude Thieriot (1697–1772), der im Herbst 1736 vom Kronprinzen und späteren preußischen König Friedrich II. engagiert wurde. An dieser Verbindung zeigt sich bereits, wie eng die Rolle des Korrespondenten oft mit der des Agenten verknüpft war; so sollte Thieriot insbesondere durch die Beschaffung von Büchern dabei helfen, die Bibliothek des Kronprinzen auf Schloss Rheinsberg auszustatten, seine Aufgabe erstreckte sich aber bis hin zur Lieferung von Käse. Die dafür versprochenen 1.200 Pfund jährlich erhielt er nur unregelmäßig und oft mit großer Verspätung, so dass Verstimmungen darüber als möglicher Grund für den Abbruch der Korrespondententätigkeit 1748 angesehen werden. 1766 nahm Thieriot seine Aufgabe wieder auf

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 3 Briefgenres

und setzte sie bis zu seinem Tod 1772 fort. Die Überlieferungslage dieser ersten verbrieften correspondance ist schlecht, eine eigene vollständige Edition liegt nicht vor, die Manuskripte der zweiten Periode sind nicht überliefert. Einige Briefe Friedrichs an seinen Korrespondenten wurden 1912 von Emil Jacobs herausgegeben und kommentiert, ansonsten ist man auf die gesammelten Korrespondenzen Friedrichs sowie auf Erwähnungen der correspondance littéraire in der Privatkorrespondenz Voltaires mit seinem engen Freund Thieriot sowie mit Friedrich II. zurückgeworfen (vgl. Ziechmann 2011; Krieger 1912; Jacobs 1912). Die marginale Stellung Thieriots in der französischen Literatur- und Kulturgeschichte hat dazu geführt, dass seine correspondance immer im Schatten anderer Briefwechsel, insbesondere desjenigen zwischen Friedrich und Voltaire stand. Wehinger (2005) erwähnt Thieriot in einem Überblicksartikel über Friedrichs „literarische Korrespondenz“ beispielsweise gar nicht. Relevant für die Geschichte der correspondance littéraire ist, dass Thieriots Sendungen sich zunächst eng an den Konventionen des Privatbriefs orientierten, unregelmäßig und nicht normiert erfolgten, gleichzeitig aber eindeutig als Dienstleistungen verstanden wurden und auch keine ausgewogene Wechselseitigkeit im Briefverkehr mit seinem Auftraggeber vorlag. Wie sich aus Briefen Thieriots an Voltaire rekonstruieren lässt, sollte sich das in der zweiten Periode verändern: Eventuell unter dem Einfluss Grimms oder anderer Vertreter des in den 1760er Jahren deutlich etablierteren Medientypus folgt die Korrespondenz nun einem wöchentlichen Rhythmus und enthält jeweils standardmäßig ein halbes Dutzend Kurznachrichten bzw. Rezensionen sowie einen Abschlussartikel. Diese Tendenz zur Periodizität überrascht noch weniger, wenn man beachtet, dass der preußische König von 1763 bis 1766 Friedrich Melchior Grimms Correspondance littéraire bezogen hatte, die eine umfassende Vorbildwirkung entfaltete (vgl. Moureau 2003). Der gebürtige Regensburger Grimm, der Mitte des 18. Jahrhunderts als Sekretär in Diplomatenkreisen nach Paris gelangt war und früh Kontakte zu den Aufklärer-Kreisen hergestellt hatte, übernahm 1753 unter nicht näher bekannten Umständen Abonnenten von Abbé Raynals Nouvelles littéraires und baute konsequent sein Empfängernetz aus, das zeitweise mehr als ein Dutzend Adelige in ganz Europa umfasste. Ein Spezifikum Grimms liegt in diesem gleichzeitig umfangreichen wie auf Adelige beschränkten Empfängerkreis sowie in der ausgewogenen Preispolitik – jeder Hof zahlte je nach seinen finanziellen Möglichkeiten, aber auch abhängig von der persönlichen Nähe zu Grimm. Die hohe ‚Auflage‘ machte den Einsatz von Kopisten sowie die Wahl eines unpersönlichen Stils notwendig, mit den meisten Empfängern seiner Correspondance littéraire führte Grimm ohnehin parallel eine Privatkorrespondenz. Während Umfang und Aufbau der einzelnen Sendungen stark variieren konnten, wurden sie theoretisch 14-täglich versandt  – die Periodizität anzeigende Datierung korrelierte jedoch

3.5 Correspondance littéraire 

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nicht immer mit dem eigentlichen Erscheinen, das durchaus unregelmäßig sein konnte. Hervorzuheben sind zuletzt zwei Besonderheiten, die Grimms Correspondance am deutlichsten von anderen unterscheiden: Einerseits verpflichtete er die Empfänger der als Diplomatenpost versandten Sendungen zu strenger Geheimhaltung, um so gleichsam ein Arkanum zu schaffen, das einen geschützten Raum zur Diskussion auch heikler Gegenstände bot. Andererseits kann phasenweise von einer kollektiven Redaktion, der Beteiligung der eng mit Grimm befreundeten Denis Diderot und Louise d’Épinay ausgegangen werden, die ihn bei Abwesenheit auch vertraten. Grimm gab die Redaktion seiner Correspondance littéraire Mitte der 1770er Jahre schließlich schrittweise an Jakob Heinrich Meister ab, der sie sogar bis 1813, allerdings von Zürich aus und weniger unter dem Zeichen der Pariser Aufklärung als der Romantik fortführte (vgl. Abrosimov 2014; Kölving 2006; Moog-Grünewald 1989). Abschließend sei die sogenannte Correspondance littéraire de Karlsruhe erwähnt, die in den Jahren 1757 bis 1783 an Karoline Luise von Baden adressiert wurde. Während Grimms Medium als ‚redakteurszentriertʻ bezeichnet werden kann, war die an die Markgräfin gerichtete Korrespondenz ‚empfängerinnenzentriertʻ. Die Auftraggeberin schrieb den Aufbau der Sendungen genau vor und verlangte in jedem Brief (1) die katalogische Aufstellung aller Neuerscheinungen, (2) Berichte von Ausstellungen und Bühnenspektakeln, (3) „historiettes plaisantes“ (zit. n. Schlobach 1987, 62), d.  h. die Wiedergabe von mondänem Klatsch. Über die vier sich ablösenden Korrespondenten und deren insgesamt mehr als 600 Briefe hinweg blieb es bei diesem Aufbau, lediglich die inhaltliche Gewichtung konnte je nach den persönlichen Interessen der Sender schwanken. Formal waren die Briefe weitgehend unpersönlich gehalten und enthielten keine Höflichkeitsfloskeln, wurden außerdem von Kopisten abgeschrieben. Für jährlich 360 Pfund berichtete aus Paris alle 14 Tage ab dem 15. Januar 1757 zunächst ein erfahrener correspondant: Pierre de Morand (1701–1757), der, Thieriot ablösend, zwischenzeitlich auch die correspondance für Friedrich II. geführt hatte. Nach Morands Tod bot sich Antoine Maillet-Duclairon (1721–1809) der Markgräfin an, der, nachdem er einen Posten in Holland angenommen hatte, die Aufgabe an Claude Pougin de Saint-Aubin (ca. 1721–1783) übergab, von dem sie Jean-Louis Aubert (1731–1814) übernahm, der die correspondance bis zum Tod Karoline Luises 1783 fortführte. Hervorzuheben ist die beinahe vollständige Überlieferung der Karlsruher correspondance (vgl. Schlobach 1987, 61–66).

468 

 3 Briefgenres

3 Bisherige Forschung und Perspektiven Die Erforschung der correspondances littéraires sah sich trotz deren (potentiellem) Status als reichhaltige Quelle für Geschichtswissenschaft, Germanistik und Romanistik lange Zeit zwei Problemen gegenüber und wurde entsprechend als eigener Forschungsgegenstand vernachlässigt. Einerseits ließen die Philologien diesem nicht-literarischen Medientypus durch die problematische Gattungsbestimmung wenig Aufmerksamkeit zukommen, andererseits stellte sich die Frage der Zugänglichkeit der Manuskripte. Durch die Handschriftlichkeit lagerten correspondances littéraires tendenziell vereinzelt in Fürstenbibliotheken – erst durch umfassende Beschreibungen und Editionen verschiedenster Exemplare konnte die correspondance als Medientypus konstituiert und in ihrer Spezifik erforscht werden. Die entscheidende Rolle spielte hier Jochen Schlobach, dessen Beschäftigung bei Grimms Correspondance ihren Ausgangspunkt hatte (vgl. Schlobach 1974). Grimm bildet insofern eine Ausnahme, als dessen Correspondance littéraire, philosophique et critique bereits 1812, also während der Nachfolger Jakob Heinrich Meister sie noch aktiv betrieb, gedruckt und unter dem Titel Correspondance inédite de Grimm et de Diderot verbreitet wurde. Der große buchhändlerische Erfolg führte im Laufe des 19.  Jahrhunderts zu mehreren Ausgaben, die alle gemein hatten, unvollständig, zensiert und überhaupt verschiedensten Eingriffen unterworfen worden zu sein. Eine erste verlässliche Textgrundlage schuf Maurice Tourneux mit seiner 16-bändigen Ausgabe (1877–1882), deren Titel Correspondance littéraire, philosophique et critique par Grimm, Diderot, Raynal, Meister, etc. bereits auf die komplizierte Autorschaft verweist. Erst seit 2006 wird am Centre international d’étude du XVIIIe siècle unter der Leitung von Ulla Kölving eine auf 20  Bände angelegte moderne, kritische und ausführlich kommentierte Edition der Correspondance in den Jahren unter Grimms Leitung (1753–1773) herausgegeben. Jenseits von Grimm nahm Schlobach mehrere Editionen weniger umfangreicher correspondances littéraires vor, begonnen bei der Überblickssammlung Correspondances littéraires inédites (1987), mit der bei Champion-Slatkine die Reihe Correspondances littéraires, érudites, philosophiques, privées ou secrètes eröffnet wurde. Seit den Pionierarbeiten Schlobachs werden insbesondere die umfangreicheren correspondances littéraires nach und nach erschlossen, so z.  B. die Correspondance de Karlsruhe, von der bei Champion mittlerweile in vier Bänden die Jahre 1757–1771 vorliegen. Die Karlsruher correspondance wurde zudem im Rahmen eines umfassenden Projekts zu Karoline Luise von Baden digitalisiert und liegt mittlerweile online vor (vgl. https://www.karoline-luise.la-bw.de). Dass diese correspondance littéraire nun gemeinsam mit der gesamten Korrespondenz der Markgräfin schrankenlos digital abrufbar ist, erleichtert die Forschung, nicht zuletzt

3.5 Correspondance littéraire 

 469

das Herstellen von Bezügen einerseits ungemein, andererseits liegen die Digitalisate bisher ausschließlich als Faksimiles vor. Die Möglichkeiten, die eine Transkription und Textauszeichnung insbesondere bei umfassenden KorrespondenzSammlungen bieten würden, können so nicht ausgeschöpft werden. Zukünftige Herausforderung wird sein, über die Zugänglichmachung von correspondances hinauszugehen und die Quellen so aufzubereiten, dass neue Forschungsfragen formuliert und unentdeckte Zusammenhänge am Material sichtbar gemacht werden können. So ist etwa davon auszugehen, dass stilometrische Analysen mit Hilfe digitaler Methoden künftig Verfasserattributionen ermöglichen werden, wo sie bisher noch nicht möglich waren. Mit geeignetem Instrumentarium ließen sich zudem, auch nach Integration weiterer (privater, geschäftlicher, diplomatischer) Korrespondenzen, umfangreiche (Meta-)Datenmengen zusammenführen, die zu Netzwerkdarstellungen und -analysen in bisher nicht üblichem Ausmaß genutzt werden könnten – indirekte Beziehungen einzelner Akteure und Gruppen und komplexe Informationsflüsse würden so leichter rekonstruierbar. Kaum untersucht sind bisher das Ende der meisten correspondances littéraires nach der Französischen Revolution und der Übergang zu einem strukturverwandten journalistischen Genre, d.  h. die Verwandlung des literarischen Korrespondenten von der persönlichen Bezugsfigur eines Fürsten bzw. einer Fürstin oder mehrerer Höfe zum bezahlten Abgesandten einer Redaktion, dessen ‚Briefe‘ nur noch gedruckt werden und eine Öffentlichkeit erreichen, für die der correspondant littéraire nie geschrieben hatte.

Zitierte Literatur Abrosimov, Kirill (2014). Aufklärung jenseits der Öffentlichkeit. Friedrich Melchior Grimms „Correspondance littéraire“ (1753–1773) zwischen der „république des lettres“ und europäischen Fürstenhöfen. Ostfildern. Fumaroli, Marc (2001). Quand l’Europe parlait français. Paris. Grimm, Friedrich Melchior von u. Denis Diderot (1812–1813). Correspondance littéraire, philosophique et critique adressée à un souverain d’Allemagne depuis 1770 jusqu’en 1782, par le Baron de Grimm et par Diderot. 5 Bde. Hg. v. Jacques-Barthélemy Salgues. Paris. Grimm, Friedrich Melchior (1877–1882). Correspondance littéraire, philosophique et critique par Grimm, Diderot, Raynal, Meister, etc. revue sur les textes originaux. 16 Bde. Hg. v. Maurice Tourneux. Paris. Grimm, Friedrich Melchior (2006–). Correspondance littéraire. 1753–1773. 20 Bde.(geplant). Hg. v. Ulla Kölving. Ferney-Voltaire. Hock, Jonas (2016). „Das Strategische Potenzial des Briefes. Friedrich Melchior Grimms Correspondance littéraire zwischen Privatbriefkultur und Pressewesen“, in: Cahiers d’études germaniques, 70: 71–82.

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 3 Briefgenres

Jacobs, Emil (Hg.) (1912). Briefe Friedrichs des Großen an Thieriot. Berlin. Kölving, Ulla (2006). „Introduction générale“, in: Friedrich Melchior Grimm. Correspondance littéraire. Bd. 1: 1753–1754. Hg. v. ders. Ferney-Voltaire: XXI–LXXII. Lanson, Gustave (31895 [1894]). Histoire de la littérature française. Paris. Maillet-Duclairon, Antoine (2016). Correspondance littéraire de Karlsruhe. 2 janvier 1760–20 juin 1766. Hg. v. Sébastien Drouin, Henri Duranton, Béatrice Ferrier, Cyril Francés u. Alexis Levrier. Paris. Moog-Grünewald, Maria (1989). Jakob Heinrich Meister und die „Correspondance littéraire“. Ein Beitrag zur Aufklärung in Europa. Berlin u. New York. Morand, Pierre de u. Antoine Maillet-Duclairon (2015). Correspondance littéraire de Karlsruhe. 15 janvier 1757–15 décembre 1759. Hg. v. Samy Ben Messaoud, Henri Duranton u. Myrtille Mericam-Bourdet. Paris. Moureau, François (2003). „Correspondants et correspondances allemandes de Paris à l’époque de Grimm“, in: L’Allemagne et la France des Lumières. Mélanges offerts à Jochen Schlobach par ses élèves et amis. Hg. v. Michel Delon u. Jean Mondot. Paris: 167–183. Pougin de Saint-Aubin, Claude u. Jean Louis Aubert (1995). Correspondance littéraire de Karlsruhe. 15 juillet 1766–15 décembre 1768. Hg. v. Jochen Schlobach. Paris. Pougin de Saint-Aubin, Claude u. Jean Louis Aubert (2016). Correspondance littéraire de Karlsruhe. 1er janvier 1769–31 décembre 1771. Hg. v. Sébastien Drouin, Myrtille MéricamBourdet u. Caroline Vernisse. Paris. Schlobach, Jochen, Bernard Bray u. Jean Varlott (Hg.) (1974). La correspondance littéraire de Grimm et de Meister (1754–1813). Paris. Schlobach, Jochen (1985). „Literarische Korrespondenzen“, in: Aufklärungen. Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert. Bd. 1. Hg. v. Gerhard Sauder u. dems. Heidelberg: 221–232. Schlobach, Jochen (1987). Correspondances littéraires inédites: études et extraits. Suivies de Voltairiana. Paris u. Genf. Wehinger, Brunhilde (2005). „Zwischen Literatur und Politik. Zur literarischen Korrespondenz Friedrichs II.“, in: Geist und Macht. Friedrich der Große im Kontext der europäischen Kulturgeschichte. Hg. v. ders. Berlin: 61–72. Ziechmann, Jürgen (2011). „Thiériot, Nicolas Claude“, in: Fridericianische Encyclopédie. Friedrich der Große und seine Epoche: das Lexikon. Ereignisse, Personen, Sachverhalte. Hg. v. dems. Bremen: 637–638.

Online-Quellen Korrespondenz der Karoline Luise von Baden: https://www.karoline-luise.la-bw.de/dokumente. php (17.11.2019).

Thomas Wallnig

3.6 Gelehrtenbriefe 1 Zur Terminologie So häufig in den einschlägigen Texten der Vormoderne der Begriff commercium litterarium/litterarum/epistolicum ist, so selten findet sich der Begriff epistola(e)/ littera(e) docta(e)/erudita(e). So umfassend die Erkenntnisse der Forschung zu den verschiedenen medialen, beziehungsökonomischen und epistemischen Dimensionen von Gelehrtenkorrespondenzen sind (vgl. Gierl 2004; Kempe 2004; Stuiber 2012, 199–331), so vergleichsweise wenig ist zum Gelehrtenbrief geschrieben worden. Hilfreich ist die von Monika Ammermann vorgenommene Unterscheidung zwischen Freundschaftsbrief und Abhandlungsbrief (eben epistolae doctae: vgl. Ammermann 1983, 90), doch ist diese Trennung naturgemäß nicht streng operationalisierbar. Nichtsdestoweniger gehen die folgenden Ausführungen vom Text des Gelehrtenbriefes aus, nicht von seiner Funktion. Sie behandeln innere und äußere Merkmale, charakterisieren Inhalte, bevor die getätigten Beobachtungen wieder relativiert und kontextualisiert werden. Ein abschließender Abschnitt versucht, diese Gemengelage im Hinblick auf bestehende Forschungsansätze zusammenzufassen. Dass freilich auch in der vormodernen Wahrnehmung der Gelehrtenbrief weniger als eigenes Genre denn als spezifisches Anwendungsszenario verschiedener Modi des allgemeineren Genres Brief durch eine bestimmte Personengruppe und unter bestimmten pragmatischen Voraussetzungen aufgefasst wurde, zeigen etwa die entsprechenden Einträge in Besolds Thesaurus (vgl. Besold 1629) und, rund hundert Jahre später, in Zedlers Universal-Lexicon (vgl. Zedler 1732–1750); keiner der Einträge weist den Gelehrtenbrief gesondert aus.

2 Merkmale 2.1 Äußere Merkmale Wie die meisten anderen Briefe wurde auch der Gelehrtenbrief sehr oft auf einem links seitlich gefalteten Briefbogen zu zwei Blatt geschrieben. Quart- und Oktavformat überwiegen, Tinte auf Papier ist prädominant. Selten wurde der Text durch Zeichnungen oder Formeln ergänzt. Briefe konnten auch signifikant länger sein und mehrere Briefbögen sowie eingelegte Einzelblätter umfassen, besonders dann, wenn der Brief den Charakter einer thematischen Abhandlung annahm. https://doi.org/10.1515/9783110376531-031

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 3 Briefgenres

Dies konnte, etwa mit Entschuldigung für die allzu große prolixitas oder den Verweis auf drängende Boten oder teure Beförderungskosten, auch autoreferentiell thematisiert werden. Eine Vielzahl an Übermittlungswegen stand zur Verfügung. Mitversendung mit anderen Briefen per Post oder durch Überbringer (oft Klienten, etwa Reisende bzw. Studierende auf der grand tour), diplomatische, kirchliche oder Handelsboten. Besonders im Fall religiös oder philosophisch dissidenter Gruppen (etwa Hugenotten) kam der Diskretion und Sicherheit dieser Übermittlungswege besondere Bedeutung zu. Hingegen prägte im Fall enger institutioneller Eingebundenheit von Gelehrten – etwa bei religiösen Orden oder Personen in fürstlich-aristokratischen Diensten – eben diese neben den Kommunikationswegen auch die äußere Aufmachung des Briefes. Wurde der Brief im Rahmen einer postalischen Infrastruktur versendet (siehe Abb. 1), so wurde der Bogen meist so gefaltet, dass in der Mitte der hintersten Seite die dort senkrecht in einem Rechteck geschriebene Adresse sichtbar blieb und der Rest des Papiers auf dieses Rechteck hin gefaltet und umseitig versiegelt wurde. Andernfalls wurden Kuverts verwendet. Die Forschung zu Siegeln auf Gelehrtenbriefen steht ebenso am Anfang wie eine systematische Auseinandersetzung mit Briefadressen, Postvermerken (wie Freimachungen, Vermerken über die Postrouten oder die exakten Destinationsorte, etwa Häuser in Städten) oder auch Wasserzeichen (vgl. die Behandlung einiger dieser Aspekte in dem Projekt Signed, Sealed and Undelivered). Briefversendung bedeutete finanziellen Aufwand, bei welchem die Korrespondenten mitunter versuchten, gelehrter Gleichrangigkeit durch Kostenteilung Ausdruck zu verleihen. Zudem sind Portokosten stets in einem Verhältnis zu den breiteren budgetären Rahmenbedingungen gelehrter Tätigkeit zu sehen, etwa der Anschaffung von Büchern und Artefakten oder der Unternehmung gelehrter Reisen. Hier, zumal bei Exkursionen mit semi-offiziellem Mandat, konnte es zur Überschneidung mit amtlicher Korrespondenz kommen. Einmal vom Empfänger geöffnet konnte der Gelehrtenbrief nicht nur beantwortet und abgelegt, sondern auch abgeschrieben, herumgereicht, weiterversendet oder gedruckt werden (siehe Abb. 2). Manchmal, wenn er weiterverwertbare Hinweise und Ideen enthielt, diente er fortan auch als Arbeitsbehelf. Alle diese Verwendungsweisen konnten Spuren in Form von Marginalien und Vermerken, Korrekturen und Unterstreichungen enthalten, zugleich stehen sie im engen Zusammenhang mit der Überlieferungssituation des Briefes: Wurde er gedruckt, ging mitunter das Original beim Drucker verloren; wurde er als Arbeitsbehelf verwendet, findet er sich möglicherweise in gelehrten Kollektaneen; andernfalls wurde er wahrscheinlich in einer gebundenen oder losen Briefsammlung abgelegt.

3.6 Gelehrtenbriefe 

 473

Hinsichtlich der Briefgenese ist zu ergänzen, dass im Rang höherstehende Briefschreiber sich mitunter auch der Hilfe eines Sekretärs bedienten und dann Konzepte korrigieren und die Reinschriften signieren konnten. Auch eigenhändige Briefentwürfe und Briefausgangsprotokolle sind anzutreffen.

2.2 Innere Merkmale Die neuzeitliche Briefkultur nimmt in vielfältiger Weise antike und mittelalterliche Vorbilder auf und entwickelt diese weiter: Von Bedeutung im Hinblick auf die Formelhaftigkeit des Textes und seine potentiell auch juristische Relevanz war auch die Nähe zwischen Brief und Urkunde. Die artes dictaminis, Lehrbücher für Prosa- und insbesondere Briefstil, die im 12. Jahrhundert in Oberitalien aufkamen und während des hohen und späten Mittelalters zusammen mit Briefstellern und Formelbüchern maßgeblich für das Schreiben von Briefen waren, propagierten bereits einen an den Klassikern, besonders an Cicero, orientierten Briefstil, daneben aber auch rhetorische Techniken wie cursus oder colores rhetorici (vgl. Baños 2005). Dies ist vorauszuschicken, weil vor diesem Hintergrund klar wird, dass humanistische Briefliteratur auf dieselben klassischen Vorbilder zurückgriff, diese jedoch puristischer auslegte. Gleichwohl bewegt sich auch der Gelehrtenbrief strukturell in den Bahnen der traditionellen Briefrhetorik, gemäß der Abfolge von inventio, dispositio und elocutio und der Anordnung der Briefteile. In der Frage nach deren spezifischer Ausprägung schwingt somit auch die Frage nach der Abgrenzung zwischen Humanistenbrief und (lateinischem) Gelehrtenbrief mit und eine solche ist, wenn überhaupt, lediglich auf einer pragmatischen, chronologischen und inhaltlichen Ebene, kaum auf einer formalen Ebene zu treffen. Die Anrede des Gelehrtenbriefes kann den Adressaten im Dativ ansprechen, gefolgt vom Absender im Nominativ und einer meist abgekürzten Grußformel, etwa S[alutem] P[lurimam] D[icit]. Diese Form erfordert keine Unterschrift (manchmal vale am Briefende) und tritt oft gemeinsam mit einer Datumsansetzung im lateinischen Kalender auf (Kalenden, Nonen und Iden statt Monatstagen, Verwendung römischer Zahlzeichen statt arabischer Ziffern). Alternativ kann die Anrede im Vokativ stehen und dabei den Adressaten in einer Vielzahl von Weisen zeichnen, abhängig von Stand, Position, Anliegen und Beziehung zwischen den Kommunizierenden. Häufig sind zweigeteilte Anreden, etwa Plurimum reverende et amplissime vir, fautor honoratissime, zu finden. Das Reservoir an Elementen und Kombinationsmöglichkeiten ist groß, aber dort nicht mehr beliebig, wo substantielle Rangzugehörigkeiten abzubilden sind (illustris-

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 3 Briefgenres

sime comes; eminentissime cardinalis). Bei dieser Variante unterzeichnet sich der Briefautor, meist unten rechts nach einer abgesetzten Schlusskurialie, etwa vale et fave devotissimo ac obsequiosissimo nominis tui cultori devoto NN. Daten werden hierbei eher mit Monatstag und Jahr in arabischen Ziffern gegeben. Ersteres Modell ist im 16.  Jahrhundert vorherrschend und nimmt dann, wiewohl noch im frühen 18.  Jahrhundert anzutreffen, deutlich ab; das zweite Modell, das auch den vernakularen Briefformen entspricht, setzt sich hingegen im gleichen Zeitraum zunehmend durch. In den humanistisch geprägten epistulae familiares herrscht die Anrede tu vor, größere Distanz oder Rangunterschiede werden durch vos oder unpersönliche Umschreibungen – etwa vestra excellentia – ausgedrückt. Formal schöpft der (lateinische) Gelehrtenbrief ansonsten aus demselben rhetorischen Reservoir wie der Humanistenbrief, verwendet und variiert also dieselben Briefteile, etwa captatio benevolentiae, narratio und petitio.

2.3 Inhalt Spezifischer erkennbar, wenn auch nicht klar abgrenzbar, wird der Gelehrtenbrief durch seinen Inhalt. Auch hier kennt die traditionelle Briefrhetorik mit dem Briefgegenstand, an den sich der Stil anzupassen habe, sowie der dignitas desselben, eine Referenzgröße. Diese wird freilich umso weniger fassbar, je autoreferentieller die Rede zwischen Gelehrten um gelehrte Inhalte kreist. Emphatisches Betonen von Würde und Bedeutung des gelehrten Gegenstandes – mithin die Evozierung des emolumentum rei publicae litterariae, des bonum commune, des orbis eruditus und anderer Gemeinplätze  – sticht denn auch meistens in den Briefteilen des Beziehungsaufbaus und der -pflege hervor: in den ersten Absätzen, besonders von Einführungsbriefen, sowie in Bitt- und Empfehlungsbriefen. Freilich mischt sich meist gelehrter Inhalt und Habitus mit jenen des Untertanen, Bürgers, Aristokraten, Diplomaten oder Kirchenmannes. Auch nova litteraria  – gelehrte Neuigkeiten  – stehen stets in einem Spannungsfeld von Arbeitsbehelf, Instrument zur Beziehungs- und Netzwerkkonstruktion und unterhaltsamer Klatschspalte. Der bei größerer Vertrautheit vom Formalen durchaus ins Umgängliche schwenkende Stil des Gelehrtenbriefes eignet sich denn auch für Unmutsäußerungen, Ironie und Sarkasmus gegen Dritte (vir bonus – ‚guter Mann‘ – hat meist einen abfälligen Unterton). Agonale Szenarien, bei der ein beobachtendes Publikum mitgedacht wird, bilden einen Sonderfall (vgl. Kühn 2011). Dort, wo Information nicht bloß kleinteilig vermittelt wird, sondern Ideen auch umfassender zur Verhandlung anstehen, werden mitunter Praktiken der

3.6 Gelehrtenbriefe 

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Abwägung und Wahrheitsfindung angewendet, wie sie auch in universitären (disputatio) oder juristischen Kontexten gebräuchlich sind. Solche Gelehrtenbriefwechsel, die sich der Erörterung spezifischer Themen widmen, erscheinen paradoxerweise in eben dieser Fokussierung eher untypisch. Als prominentes Beispiel hierfür kann man die Reihen II und III der Akademie-Ausgabe von Gottfried Wilhelm Leibniz’ Schriften und Briefen anführen, welche den Philosophischen sowie den Mathematischen, Naturwissenschaftlichen und Technischen Briefwechsel beinhalten. Die Gegenstände solcher Wissensverhandlung korrelieren mit den zentralen Themen der frühneuzeitlichen Wissenskultur und -entwicklung. Im selben Ausmaß, wie die Korrespondenzen etwa religiös-philosophische Streitfragen, Kopernikanismus und Newtonianismus, Antiquarianismus, Bibelkritik und historisch-kritische Methodologie, Stilfragen und Ästhetik, natürliche Ethik und experimentelle Physik ins Zentrum rückten, wurden diese Themen zugleich zum ideellen Kernreservoir dessen, was in einem Diskurs der Selbstvergewisserung mit ‚Humanismusʻ, ‚Wissenschaftlicher Revolutionʻ und ‚Aufklärungʻ gleichgesetzt wurde und auch heute noch wird. Es stellt sich das Problem der Abgrenzung gegenüber jenen Gelehrten, die zwar in Form und Habitus des Gelehrtenbriefes korrespondierten, jedoch nur rudimentär oder marginal mit den genannten Themen befasst waren. Im eigentlichen Sinne sind somit auch viele frühneuzeitliche Gelehrte als Verfasser von Gelehrtenbriefen anzusprechen, die nicht als Protagonisten der genannten Bewegungen zu bezeichnen sind oder gar gegen diese anschrieben, weil sie etwa in aristotelisch geprägten Universitätssystemen oder traditionellen höfischen Ambienti tätig waren. Als Illustration für die bisher angesprochenen Merkmale ist in Abbildung 2 der Beginn eines Briefes wiedergegeben, den Leibniz im Januar 1686 an den Gelehrten und Bibliothekar Antonio Magliabechi (1633–1714) schrieb, nachdem er ihn in Florenz besucht hatte. Der Abdruck erschien 1746 postum in einer Sammlung von Briefen „großer Deutscher“ (Clarorum Germanorum, vgl. Targioni Tozzetti 1746) an Magliabechi. Bemerkenswert ist der gekonnte Schwenk des Autors von der allgemeinen Lobrede auf den Adressaten unter Evozierung der üblichen Topoi hin zu einer konkreten Frage zur oberitalienischen Geschichte des 11. Jahrhunderts; bemerkenswert ist ebenso das selbstverständliche Nebeneinander von antiquarischen und naturphilosophischen Themen, wie der Abschnitt über Vincenzio Viviani und Galileo Galilei illustriert. Die gedruckte Briefsammlung ist durch umfangreiche Sach- und Personenregister erschlossen, wodurch nicht nur die Eleganz des Briefstils und die ‚Freundschaftʻ der großen gelehrten Männer im Mittelpunkt stehen, sondern auch die konkrete Möglichkeit geboten wird, gezielt Inhalte nachzuschlagen. Auf diesen Verwendungszweck deuten auch die inhaltlich kommentierenden Fußnoten.

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 3 Briefgenres

Abb. 1: Homann 1729, Tafel 52 (Postkurse im Heiligen Römischen Reich). Quelle: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ homann1729; mit CC-BY-SA 4.0 lizensiert.

3 Problemfelder Bisher ist versucht worden, den Gelehrtenbrief nach Form und Inhalt idealtypisch in einer Weise zu umreißen, die sich nur bedingt in der tatsächlichen Überlieferung niederschlägt. Es handelt sich in beträchtlichen Teilen um ein Bild, das die Gelehrtenrepublik selbst von ihrem bevorzugten Kommunikationsmedium zeichnete. Dieses Bild behält freilich seine grundsätzliche Gültigkeit auch dann, wenn man es im Lichte einschlägiger Problemfelder relativiert.

3.1 Sprach- und Periodisierungsprobleme Gegenstand dieses Beitrags ist der lateinische Gelehrtenbrief des 16. bis 18. Jahrhunderts, wiewohl während des gesamten Zeitraums und darüber hinaus volkssprachliche Epistolographien existierten, die mehr oder weniger substantiell in den geschilderten Gelehrtendiskurs hineinragten. Der lateinische Humanistenbrief als gemeinsames Referenzmodell rechtfertigt diese Einschränkung, zugleich variierte der Umgang mit diesem Modell stark nach Kontext. So kam es zu voneinander abweichenden Periodisierungsverläufen, die oft eng mit den politischen Gegebenheiten zusammenhingen. Im protestantischen Europa hing im 16. und 17. Jahrhundert der tendenzielle – wenn auch nicht ausschließliche – Aufschwung volkssprachlicher Wissens- und damit auch Gelehrtenbriefkulturen sichtbar mit einer Abkehr von der als römisch empfundenen Latinität zusammen. Ebenso gab es allerdings in katholischen Milieus, wo sich humanistische Ästhetik auch in der Volkssprache entwickelt hatte (besonders im Italienischen, Spanischen und Französischen), Modelle volkssprachlicher Gelehrtenkultur.

Abb. 2: Clarorum Germanorum epistolae ad Magliabechium 1746, 1–3. Quelle: Th.W.

3.6 Gelehrtenbriefe   477

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 3 Briefgenres

Als um die Mitte des 18. Jahrhunderts der lateinische Gelehrtenbrief zuletzt auch in den katholischen (bzw. irenisch protestantischen) Reichsteilen zunehmend obsolet wurde, waren der verbindenden humanistischen Matrix neue volkssprachliche Epistolographien gefolgt. Damit verband sich wiederum  – wie im Humanismus  – eine Akzentverschiebung von der inhaltlich-gelehrten hin zur ästhetisch-philosophisch-literarischen Dimension des Briefes. Die aufgeklärte Kritik an der Pedanterie der Gelehrten ist in diesem Zusammenhang zu sehen: Ein anderes, als ‚nüchternerʻ konstruiertes Stilempfinden und eine andere, als ‚aufgeklärtʻ inszenierte Ethik intellektueller Interaktion griffen Platz, überformten dabei jedoch das Vorhandene mehr als es tatsächlich zu ersetzen.

3.2 Heterogene Überlieferungsformen – heterogene Inhalte Gelehrtenbriefe sind an erster Stelle jene Objekte, die den intellektuellen Austausch zwischen einzelnen räumlich voneinander getrennten Gelehrten ermöglichten und dokumentierten. Solch ein Befund ist freilich nach zwei Seiten hin ungenau: Einerseits ist keine strenge Grenze zwischen Briefen und anderen verwandten Quellengattungen zu ziehen, andererseits gibt es keine Gelehrtenkorrespondenz mit ausschließlich gelehrten Inhalten. Neben den erwähnten Vor- und Nachbereitungsstadien des handschriftlichen Briefes existiert eine Vielzahl an Szenarien, in denen Briefe im Druck erscheinen konnten. Diese reichen von Paratexten in Briefform, etwa Dedikationsepisteln an Fürsten, Gönner oder Kollegen, bis hin zu wissenschaftlichen Abhandlungen eigenen Rechts in Briefform. Solche konnten eigenständig erscheinen, waren jedoch auch als Einrückungen in Zeitschriften und Journalen anzutreffen. Die „Mitteilungen“ im Titel vieler Periodika leiten sich hiervon ab. Diese Varianten konnten auch ineinander übergehen, wobei etwa gegenüber einem ‚privatenʻ Gelehrtenbrief die Dedikationsepistel einen merkbar höheren stilistischen Anspruch und Grad an kompositorischer Durcharbeitung aufweist, der Brieftraktat wesentlich länger und oft dialektisch strukturiert ist. Unterschiedliche Überlieferungszusammenhänge verweisen auf unterschiedliche Verwendungsszenarien zurück, was Implikationen für den Gelehrtenbrief als ‚epistemisches Dingʻ hat. Wenn ein Brief in Druckwerken (inklusive Periodika), gelehrten Notizensammlungen oder Briefcodices überliefert ist, so deutet dies auch auf eine Vielzahl anderer Quellentypen der gelehrten Praxis hin, mit denen der Brief organisch interagiert. Briefkorrespondenten können sich in einem Stammbuch verewigt haben, ein Brief kann eilig hingeschriebene Notizen für eine künftige Publikation enthalten (oder in selbiger abgedruckt sein), die

3.6 Gelehrtenbriefe 

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Lektüre von in Briefen erwähnten Büchern kann anhand von Exzerpten nachvollzogen werden u.  ä. Während also Gelehrtenbriefe stets in breiteren gelehrsamkeitsgeschichtlichen Kontexten von Überlieferung zu verorten sind, standen Gelehrte zugleich auch stets in einem Alltag, der sie völlig andere Rollen einnehmen ließ. Wie erwähnt, konnte der Inhalt von Gelehrtenkorrespondenzen ein breites Spektrum von Wissensgebieten umfassen, doch enthält etwa der Leibniz-Briefwechsel auch Schreiben seines Barbiers Conrad Carll. Häufig lassen sich Personengruppen in loser Weise Interessengebieten zuweisen, etwa in der Korrespondenz des Schweizer Naturforschers und Dichters Albrecht von Haller (vgl. Stuber et al. 2005, 127– 169), und hinter jeder gelehrten Interessenkonvergenz konnten weitere gemeinsame politische und weltanschauliche Agenden stehen. Vor diesem Hintergrund kann es von Interesse sein, vermeintlich ‚nichtgelehrteʻ Briefsammlungen auf Elemente gelehrter Korrespondenz (im formalen Sinn), auf gelehrte Korrespondenten (im Sinn von Selbstwahrnehmung und Karriere) oder auf gelehrte Inhalte (im pragmatischen Sinn) hin zu untersuchen. Eine eingehendere Befassung mit Gelehrten im Nahebereich politischer Macht, etwa mit Diplomaten (z.  B. Jean Hotman, 1552–1636), Beichtvätern (z.  B. Emmericus Sinelli, 1622–1685) oder amtsführenden Ministern (z.  B. Anne-Robert-Jacques Turgot, 1727–1781) könnte dabei helfen, das Verhältnis von Expertenwissen und politischer Entscheidungsfindung im vormodernen Europa noch besser zu verstehen.

3.3 Unterschiedliche epistemische Ansprüche Von Beginn der humanistischen Briefkultur an war die potentielle Bekanntmachung und Veröffentlichung von Briefen Teil der gelehrten Repräsentation und des self-fashioning als Gelehrter. Jenseits des ästhetisch-ethischen Anspruchs entwickelte sich jedoch die gelehrte Briefkultur der Vormoderne parallel zu einem Phänomen, das man als ‚Verzeitlichung des Wissensʻ beschreiben könnte. Indem sich vor allem durch die Verbreitung des Buchdrucks und die systematisch ausgebauten Kommunikationswege ein gemeinsamer Raum für Wissensverhandlung jenseits der akademischen Strukturen eröffnete, wurden auch Briefe zunehmend zu einem Medium eben dieser Verhandlung: Wichtige Erkenntnisse wurden im brieflichen Dialog entwickelt. Dabei zählte nicht nur die innere Kohärenz und äußerliche Absicherung eines Arguments, es zählte auch, wer es gegenüber wem ins Treffen führte und vor welchem (impliziten oder expliziten) Publikum dies geschah. Hier kommt den unterschiedlichen Überlieferungsformen des Briefes zugleich auch eine jeweils veränderte epistemische Wertigkeit zu, und vor diesem Hinter-

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 3 Briefgenres

grund ist die zensorische Tätigkeit von Kirchen und Staaten als Versuch der Kontrolle über Wissens-Rede zu lesen. Zensurielle Approbationen und behördliche Druckerlaubnisse bilden somit gleichsam ein institutionelles Gegengewicht zur ‚frei zirkulierendenʻ Gelehrtenkorrespondenz. Andererseits ist auch zu bedenken, dass Gelehrtenbriefe tatsächlich oft ein Gespräch unter Abwesenden fortsetzten, die einander zu anderen Zeiten persönlich gegenwärtig waren. Nicht nur ist somit gelehrte Oralität stets als Gegenstück zur gebundenen gelehrten Rede zu denken, sondern es sind gerade die Briefe, die wie kaum eine andere Quelle durch wörtlich wiedergegebene Passagen aus Gesprächen eine hier meist rhetorisch ungebundene Unmittelbarkeit erzeugen. Nach der Seite der gelehrt-wissenschaftlichen Prosa hin wiederum, die sich über weite Strecken des Betrachtungszeitraums parallel zur Sprache der Gelehrtenbriefe entwickelte, ist, abgesehen von wenigen Ausnahmen (vgl. Almási und Šubarić 2015), eine genauere Untersuchung dieser Wechselbeziehungen noch zu leisten. Eine solche wäre gerade vor dem Hintergrund der sich ‚nationalisierendenʻ Wissenschaftssprachen des 19. Jahrhunderts von Interesse, scheint doch die rhetorische und lexikalische Matrix in unterschiedlichem Ausmaß eine gemeinsame – lateinisch-humanistische – zu sein.

4 Forschungsansätze Mit diesen zuletzt angerissenen Problemfeldern im Hinblick auf Gelehrtenbriefe – Praxeologie, Beziehungsökonomie, Institutionalität, Oralität, ‚Nationalisierungʻ – sind zugleich auch jene Forschungsbereiche angesprochen, die in den vergangenen Jahren die Forschung zu Gelehrtenbriefen bestimmt haben. Diese methodischen Zugänge sind oft zwischen historischer Kulturanthropologie und literaturwissenschaftlich geprägter Wissensgeschichte angesiedelt und werden im Kontext von historischen und philologischen Fächern (Neulatein, Anglistik, Germanistik, Romanistik, Slawistik) ebenso betrieben wie in den einzelnen behandelten Fachbereichen (Theologie, Philosophie, Medizin, Rechtswissenschaften) oder im Kontext wissenschaftshistorischer Metareflexion. Parallel dazu existiert eine konstante bibliothekarische und archivarische Verzeichnungstätigkeit sowie die Fortführung (und mitunter auch Initiierung) zahlreicher EditionsVorhaben von Gelehrtenkorrespondenzen und -nachlässen. Starke Impulse hat die Forschung zu Gelehrtenbriefen jüngst durch digitale Projekte auf internationaler Ebene erhalten. Diese treiben zum einen eine rudimentär standardisierte Erschließung größerer Bestände von Gelehrtenkorrespondenzen, unabhängig von ihrem Überlieferungs- und Publikationszustand, voran

3.6 Gelehrtenbriefe 

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(vgl. Early Modern Letters Online). Zum anderen werden digitale Abfragemöglichkeiten über detailliert annotierte Corpora dafür genutzt, um auch mit quantitativen Methoden an die skizzierten Fragen zu Gelehrtenrepublik und Gelehrtenbriefen heranzugehen. Ein prominentes Beispiel hierfür sind Versuche im Bereich der Netzwerkanalyse (vgl. Mapping the Republic of Letters), ein anderes Beispiel ist die korpuslinguistische Bearbeitung großer Mengen von Gelehrtenbriefen im Volltext, die beispielsweise begriffliche Ko-Okkurrenzen und Praktiken der Wortverwendung in den Fokus nimmt (vgl. ePistolarium). Metrische Stilanalysen im Bereich des (Neu-)Lateinischen stehen in ihren Anfängen (vgl. McGillivray 2014). Interessante Ergebnisse zeitigt der Einsatz von Text-Graph-Visualisierungs-Software bzw. TextReuse-Programmen (vgl. Cytoscape; vgl. Jänicke et al. 2015) im Hinblick auf die Wiederverwendung von Redewendungen und Zitaten, Begriffen und Formulierungen (darunter auch Anreden und Schlusskurialien). Ist also, zusammenfassend, der Gelehrtenbrief bloß eine Vermengung von lateinischem Freundschaftsbrief und handgeschriebener Zeitung (vgl. Keller und Molino 2015), angereichert um Vokabular und Habitus ‚empirischerʻ Forschung der Spätrenaissance? Gerade eine konsequente Distanz zum selbstreferentiellen Duktus des commercium litterarium, unterstützt durch konzeptionell und technisch ausgereifte geisteswissenschaftliche Methodologie, kann hier in der kommenden Zeit für viel Erkenntnisgewinn sorgen.

Zitierte Literatur Almási, Gábor u. Lav Šubarić (2015) (Hg.). Latin at the Crossroads of Identity. The Evolution of Linguistic Nationalism in the Kingdom of Hungary. Leiden u. Boston. Ammermann, Monika (1983). „Gelehrten-Briefe des 17. und frühen 18. Jahrhunderts“, in: Gelehrte Bücher vom Humanismus bis zur Gegenwart. Hg. v. Bernhard Fabian u. Paul Raabe. Wiesbaden: 81–96. Baños, Pedro Martín (2005). El arte epistolar en el Renacimiento europeo 1400–1600. Bilbao. Besold, Christoph (1629). Thesaurus practicus continens explicationem terminorum atque clausularum in aulis et dicasteriis Romano-Germanici Imperii usitarum. Tübingen. Gierl, Martin (2004). „Korrespondenzen, Disputationen, Zeitschriften. Wissensorganisation und die Entwicklung der gelehrten Medienrepublik zwischen 1670 und 1730“, in: Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Hg. v. Richard van Dülmen, Sina Rauschenbach u. Meinrad von Engelberg. Köln u.  a.: 417–438. Homann, Johann Baptist (1729). Atlas novus terrarum orbis imperia et regna et status exactis tabulis geographice demonstrans. Nürnberg. Jänicke, Stefan et al. (2015). TRAViz: A Visualization for Variant Graphs. http://www.informatik. uni-leipzig.de/~stjaenicke/TRAViz.pdf (29.05.2019).

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 3 Briefgenres

Keller, Katrin u. Paola Molino (2015). Die Fuggerzeitungen im Kontext. Zeitungssammlungen im Alten Reich und in Italien. Wien. Kempe, Michael (2004). „Gelehrte Korrespondenzen. Frühneuzeitliche Wissenschaftskultur im Medium postalischer Kommunikationen“, in: Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive. Hg. v. Fabio Crivellari, Kay Kirchmann, Marcus Sandl, Rudolf Schlögl u. Sven Grampp. Konstanz: 407–429. Kühn, Sebastian (2011). Wissen, Arbeit, Freundschaft. Ökonomien und soziale Beziehungen an den Akademien in London, Paris und Berlin um 1700. Göttingen. McGillivray, Barbara (2014). Methods in Latin Computational Linguistics. Leiden u. Boston. Stuiber, Maria (2012). Zwischen Rom und dem Erdkreis. Die gelehrte Korrespondenz des Kardinals Stefano Borgia (1731–1804). Berlin. Targioni Tozzetti, Giovanni (Hg.) (1746). Clarorum Germanorum epistolae ad Magliabechium. Florenz. Zedler, Johann Heinrich (1732–1750). Grosses vollständiges Universal-Lexicon. 64 Bde. Leipzig.

Online-Quellen Cytoscape: http://www.cytoscape.org/ (29.05.2019). Early Modern Letters Online (EMLO): http://ckcc.huygens.knaw.nl/epistolarium/ (29.05.2019). ePistolarium: http://ckcc.huygens.knaw.nl/epistolarium/ (29.05.2019). Mapping the Republic of Letters: http://republicofletters.stanford.edu/ (29.05.2019). Signed, Sealed and Undelivered: http://brienne.org/lettersindex/ (29.05.2019).

Weiterführende Literatur Beaurepaire, Pierre-Yves (Hg.) (2002). La plume et la toile. Pouvoirs et réseaux de correspondance dans l’Europe des Lumières. Arras. Bots, Hans u. Françoise Waquet (1997). La République des Lettres. Paris. Bröer, Ralf (1994). „Grenzüberschreitender wissenschaftlicher Diskurs im Europa der frühen Neuzeit. Der gelehrte Brief des 17. Jahrhunderts“, in: Das europäische Gesundheitssystem. Hg. v. Wolfgang Eckart u. Robert Jütte. Stuttgart: 107–122. Hotson, Howard u. Thomas Wallnig (Hg.) (2019). Reassembling the Republic of Letters in the Digital Age. Standards, Systems, Scholarship. Göttingen. Landtsheer, Jeannine de u. Henk Nellen (Hg.) (2011). Between Scylla and Charybdis. Learned Letter Writers Navigating the Reefs of Religious and Political Controversy in Early Modern Europe. Leiden u. Boston. Stegeman, Saskia (2005). Patronage and Services in the Republic of Letters. The Network of Theodorus Janssonius van Almeloveen (1657–1712). Amsterdam u. Utrecht. Stuber, Martin, Stefan Hächler u. Luc Lienhard (Hg.) (2005). Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung. Basel. Van Houdt, Toon u. Jan Papy (Hg.) (2002). Self-Presentation and Social Identification: The Rhetoric and Pragmatics of Letter Writing in Early Modern Times. Leuven.

3.6 Gelehrtenbriefe 

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Viola, Corrado (Hg.) (2011). Le carte vive. Epistolari e carteggi nel Settecento. Atti del primo Convegno internazionale di studi del Centro di Ricerca sugli Epistolari del Settecento. Rom. Wallnig, Thomas (2004). „Gelehrtenkorrespondenzen und Gelehrtenbriefe“, in: Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.–18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch. Hg. v. Josef Pauser, Martin Scheutz u. Thomas Winkelbauer. Wien u. München: 813–827.

Mariano Delgado

3.7 Der Missionarsbrief Im Windschatten der frühneuzeitlichen Entdeckungsfahrten schlug auch die Stunde der Weltmission: „Niemals zuvor war einer anderen Religion die Möglichkeit zuteil geworden, auf einen so großen Teil der Menschheit Einfluß zu gewinnen“ (Latourette 1956, 47). Zwischen 1500 und 1800 erlebte die Expansion des europäischen Christentums „drei Jahrhunderte des Fortschritts“ (Latourette 1956, 47). Von der globalen Ausbreitung profitiert zunächst vor allem die römischkatholische Variante, während die russische Orthodoxie weniger aktivistisch war und der Protestantismus in den Anfangsstadien seiner Entwicklung mit der Festigung seiner theologischen Position vollauf beschäftigt war. Daher entsteht der Missionarsbrief als Gattung zunächst im katholischen Bereich. Er wurde begünstigt durch andere Rahmenbedingungen der Frühen Neuzeit, etwa durch die allgemeine Beschleunigung der Schriftlichkeitskultur und der Brief-Kommunikation aufgrund der Verbesserung der technischen Bedingungen für die Korrespondenz (Postboten und -routen) wie aufgrund des Subjektivitätsschubs der Epoche, durch den Trend zur Zentralisierung und Koordinierung der Leitungsinstanzen und schließlich durch die Notwendigkeit, räumliche und zeitliche Distanzen zwischen den Mitgliedern einer Institution durch Schriftlichkeit (Instruktionen, Berichte, Briefe) als Kohäsionsmittel zu überbrücken. Der Missionarsbrief steht nicht isoliert da, sondern entspricht den Tendenzen in der weltlichen Verwaltung, wie sie etwa zunächst im spanischen Weltreich und dann auch in anderen ähnlichen Gebilden entstanden. Diese förderten die Schriftlichkeit, nutzten sie als Regierungsinstrument und erließen auch Richtlinien für die Abfassung von Briefen und Berichten an die Zentrale durch die Beamten in den verschiedenen Reichsteilen, aber auch zur Archivierung derselben ad perpetuam rei memoriam.

1 Brieftypologien Der Missionarsbrief steht im Dienste des Missionsziels und nimmt schon im 16. Jahrhundert verschiedene Formen bzw. Typologien an, die wir bei Missionaren aller Orden und Konfessionen finden. (a) Der prophetische Brief. Als solcher können die Briefe von Missionaren verstanden werden, die sich an die zentrale politische Verwaltung wenden, die Missstände und das Fehlverhalten der eigenen Landsleute gegenüber den Eingeborenen in den eroberten Gebieten anklagen und – etwa in der Form https://doi.org/10.1515/9783110376531-032

3.7 Der Missionarsbrief 

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von begleitenden Denkschriften – auch Alternativen für eine gute Regierung vorschlagen. Gute Beispiele dafür finden wir u.  a. in den Schriften des Bartolomé de Las Casas. In seinem ausführlichen Brief an den Indienrat (den spanischen Kronrat, der für die Regierung der Neuen Welt zuständig war) vom 20. Januar 1531 (vgl. Las Casas 1996, 341–359) beschreibt er sehr plastisch die Unterdrückung der Indianer unter der schlechten Regierung der spanischen Amtsträger und erinnert die Mitglieder des Kronrats eindringlich daran, dass ihre Würde auch eine Bürde sei, weil sie verpflichtet seien, durch eine gute Regierung das königliche Gewissen zu entlasten. In verschiedenen Denkschriften und Briefen des Jahres 1542 an besagten Kronrat und an Kaiser Karl V. (vgl. Las Casas 1996, 371–402) mahnt Las Casas zur Aufhebung der Indianersklaverei und macht konstruktive Vorschläge für neue Gesetze unter Anerkennung der Freiheit und Menschenwürde der Indianer. (b) Der Brief über fremde Religionen und Kulturen. Diese Briefe haben verschiedene Adressaten, manchmal auch den Papst oder den König, zumeist aber die eigene Ordensleitung bzw. die eigenen Mitbrüder des Missionars. Darin werden die fremden Religionen und Kulturen aus einer Optik beschrieben, die von der arroganten Geringschätzung, ja Verachtung derselben als teuflischer Götzendienst oder als Ausdruck von unzivilisiertem Heidentum bis zum neugierigen Staunen oder zum Versuch einer wohlwollenden Interpretation derselben als Vorbereitung auf das Evangelium reichen kann – nicht selten sind diese Briefe aber auch wohltuend nüchtern mit einem quasi ethnographischen Blick gehalten. Zugleich werden darin die Chancen und das Ziel der Mission festgehalten und die Adressaten zum Beten und Handeln dafür ermahnt. Solche Briefe enthalten eine Fülle von ethnographischem Material zum Verständnis vieler außereuropäischer Völker und werden in der heutigen Forschung als Gradmesser für die europäische Hermeneutik des Fremden sehr geschätzt. Als Beispiele kann man u.  a. den Brief des Franziskaners Bernardino de Sahagún an Papst Pius V. vom 25. Dezember 1570 mit einem Bericht über Götzen und Götzenriten der Azteken (vgl. Delgado 1991, 120–123) oder die Briefe des Franz Xaver 1549 über seine ersten Erfahrungen und Wahrnehmungen Japans und der japanischen Bonzen (vgl. Franz Xaver 2006, 312–332, 343–359) nennen. (c) Der Brief über die alltägliche Missionsarbeit. Dies ist vielleicht der am meisten verbreitete Missionarsbrief. Die Adressaten sind zumeist die Mitglieder der eigenen Institution, seien es die Oberen oder die Ordensbrüder, aber auch Verwandte und weltliche Gönner; das vorrangige Ziel ist, missionarische Begeisterung hervorzurufen. Solche Briefe enthalten nicht selten Berichte und Statistiken über den Bekehrungserfolg nebst Beschreibungen der Missionsmethoden und unterhaltsamen Anekdoten zur Motivation des Lesers.

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 3 Briefgenres

Die Jesuiten sind die Meister der Gattung. Es genüge hier u.  a. an den Brief des Schweizer Jesuiten Martin Schmid vom 10. Oktober 1744 über seine Arbeit in den Jesuitenreduktionen zu erinnern, wo er, der dort Musikinstrumente und Kirchen baute, begeistert sagt, dass er „singe, psalliere, d.  i. auf Saiten-Instrumenten spiele, und aufspringe“ (Schmid 1988, 95). (d) Der Reise- und Abenteuerbrief. Als Kinder ihrer Zeit teilten die Missionare der Frühen Neuzeit das Reise- und Abenteuerfieber. In ihren Briefen beschrieben sie die Strapazen, die sie bis zum Reiseziel ertragen mussten und denen nicht selten die Hälfte der Gruppe zum Opfer fiel, etwa aufgrund von Schiffbrüchen, Krankheiten oder Überfällen durch Piraten und Heiden, die dann als ‚Martyrium‘ idealisiert wurden. Aber sie fanden auch Platz für das Erzählen von Abenteuern und Anekdoten verschiedenster Art. Als Europäer staunten sie über alles, was sie sahen, und sie beschrieben die Neue Welt als eine sagenhafte, exotische Welt, die die kühnsten Phantasien der Ritterromane übertraf. Ausdrücke wie ‚staunen‘, ‚sich wundern‘ oder ‚so bewundernswerte Dinge‘ sind in den Missionarsbriefen wie in den Chroniken von Entdeckern und Eroberern stets präsent. Zugleich deuteten die Europäer das Neue in Analogie zum Alten und Vertrauten, wie es auch nicht anders sein konnte. Dabei liefen sie oft Gefahr, das Neue als solches nicht zu verstehen. Auch diese Briefe sind heute eine ethnographische Fundgrube für Forschungen über die Kulturbegegnung und die Hermeneutik des Fremden. (e) Der Streitbrief unter Missionaren. Nicht selten kam es zum Streit unter den Missionaren verschiedener Orden, etwa über die Missionsmethoden oder über die Legitimation oder Infragestellung des kolonialen Vorgehens. Abgesehen vom bekannten chinesischen Ritenstreit des 17. und 18. Jahrhunderts zwischen den Mendikanten und den Jesuiten ist ein gutes Beispiel dafür der lange Brief des Franziskaners Toribio de Benavente (genannt Motolinía) vom 2. Januar 1555 an Karl V. Darin beschwert er sich über den Dominikaner Las Casas, der mit seinem Bestehen darauf, dass der Taufe eine gründliche Evangelisierung vorangehen solle, die spanische Herrschaft nur friedlich und unter freier Zustimmung der Indianer erlangt werden dürfe und die in Mexiko lebenden Spanier ihren Reichtum und Besitz zu Unrecht erworben hätten, der Missionsdynamik schade. Motolinía zögert nicht, Las Casas als „aufdringlichen, ruhelosen, lästigen, aufrührerischen und streitsüchtigen Mann im Ordensgewand“ (von der Bey 1995, 332) zu bezeichnen, den der Kaiser und seine Räte nicht länger ertragen sollten. Demgegenüber ermahnt Motolinía den Kaiser, alle mögliche Sorgfalt (d.  h. auch paternalistischen Zwang, wenn es sein muss) darauf zu verwenden, das Königreich Jesu Christi weltweit auszubreiten und das Evangelium den Ungläubigen zu predigen, denn das Ende der Welt sei nahe.

3.7 Der Missionarsbrief 

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2 Der „Jesuitenbrief“ Besonders geprägt wurde der ‚Missionarsbrief‘ von der Gesellschaft Jesu. Denn die Jesuiten haben sich am intensivsten mit der Gattung befasst sowie verschiedene Richtlinien dazu verabschiedet, zudem die meisten Missionarsbriefe der Frühen Neuzeit produziert und diese auch im 18.  Jahrhundert in wohldurchdachten und klug vermarkteten Sammlungen unter der Leitung einzelner Jesuiten gedruckt (s.  u.). Die Briefe wurden von Jesuitenmissionaren aus der ganzen Welt geschrieben. Die meisten davon sind im zentralen römischen Archiv der Gesellschaft Jesu (ARSI) gesammelt, aber auch in verschiedenen Provinzarchiven des Ordens. (a) Richtlinien der Jesuiten für ihre (Missionars-)Briefe. Im Umgang mit dem Medium Schriftlichkeit waren die Jesuiten moderner als die anderen Missionsträger. Schon sehr früh beschlossen sie die Pflege eines Archivs in den verschiedenen Leitungsinstanzen (Generalat, Provinzen) und erließen Richtlinien zur Abfassung von Briefen und Berichten, die mit der 1580 gedruckten Formula scribendi von 1578 eine feste Gestalt annahmen, auch wenn diese bis zur endgültigen Form von 1594 verschiedene Korrekturen erhielt. Bereits für die Zeit des Gründers Ignatius von Loyola kann man von einer „Strukturfunktion“ (Delfosse 2009, 73; vgl. Friedrich 2011) des Briefes im Hinblick auf die Konstruktion einer jesuitischen Identität sprechen. Schon in den anfänglichen Richtlinien (die Instruktion von 1547, die Ratio scribendi von 1559/1560, die zu den Constitutiones gehört, und die erste Formula scribendi von 1565) hält man fest, wer wie und wie oft schreiben soll, aber auch was man zum Wohle des Ordensbildes, seines Gedächtnisses und seiner Identität schreiben oder unterlassen, offenbaren oder verbergen, aufbewahren oder tilgen soll. Wenn etwas z.  B. nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sei, solle man sich einer verschlüsselten Sprache bedienen oder es in separaten Annexen festhalten. Die Praxis wird dann hier und da Korrekturen oder Verschärfungen nahelegen, um dieses Ziel besser zu erreichen. Da die Jesuiten so gut wie frenetisch schreiben, müssen weitere Richtlinien zu einer gut lesbaren Schrift, einer gepflegten Sprache und einem guten Stil ermahnen, denn die Qualität der Lektüre und der Auswertung der Schriften hängt von der Schriftkultur ab. Ein wichtiger Punkt ist die Frequenz (wöchentlich, monatlich) des „vertikal ausgerichteten Informationsflusses“ (Oberholzer 2015, 793) auf dem Dienstweg zwischen Untergebenen und Oberen verschiedener Stufen in der pyramidalen Struktur der Gesellschaft Jesu, der durch den bilateralen, horizontalen Briefverkehr zwischen den Ordensmitgliedern ergänzt wird. Darüber hinaus soll jedes Haus alle vier Monate (später jedes halbe Jahr) einen Bericht an die Zentrale senden, die diesen dann in redigierten Kopien als jährliche ‚Erbau-

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 3 Briefgenres

ungsschriften‘ in den Provinzen verbreiten werde, damit man überall wisse, wie es in den verschiedenen Teilen zugehe, und die Gesellschaft Jesu und ihr missionarisches Wirken gedeihen. Den Überseeprovinzen wird es überlassen, die Frequenz dem Schiffsverkehr anzupassen. Dieses Konzept fördert die Entstehung einer Corporate Identity im Geiste der Uniformität und Kohärenz wie des guten Funktionierens der administrativen Maschinerie. Die Jesuiten, tätig in Übersee wie im alten Europa der Konfessionalisierung, betrachteten die ganze Welt als Missionsziel. In diesem Kontext gewinnt der ‚jesuitische‘ Missionarsbrief deutliche Konturen: Der Schreiber soll darin über die Reise zum Missionsziel, über die Religion und Kultur der Missionierten sowie über den Missionsalltag und die Missionserfolge berichten, und dies in einem Stil, der unterhaltsam, belehrend und erbaulich zugleich ist. Der ‚prophetische Missionsbrief‘ war darin im Prinzip nicht vorgesehen, da die Jesuiten grundsätzlich die realpolitische Haltung befürworteten, die kolonialen Herrschaftsverhältnisse nicht in Frage zu stellen. Gleichwohl bedienten sich einzelne Jesuiten dieser Gattung, um gegen die Versklavung der Guaraní durch portugiesische Siedler zu protestieren (vgl. Koschorke et al. 22012, 255). (b) Gedruckte Sammlungen von Missionarsbriefen aus der Gesellschaft Jesu im 18.  Jahrhundert. Getragen von der Schriftlichkeitskultur der Formula scribendi produzierten die Jesuiten die meisten Missionarsbriefe der Frühen Neuzeit und ließen viele davon in sorgfältig redigierten Sammlungen drucken. Unter diesen ragen zwei hervor: die 34 Bände der Lettres Édifiantes et Curieuses, écrites des missions étrangères par quelques missionnaires de la Compagnie de Jésus, die, gegründet vom französischen Jesuiten Charles Le Gobien, zwischen 1703 und 1776 in Paris erschienen und so etwas wie eine ‚Missionszeitschrift‘ mit den Briefen von Jesuitenmissionaren aus China, Indien, Ostasien und Amerika bilden. Einige Bände wurden ins Spanische, Italienische, Deutsche und Englische übersetzt. In den erbaulichen Aspekten hoben sie – nicht ohne Idealisierung – die Mühen und Erfolge der Missionsarbeit hervor, während sie in den ‚kuriosen‘ Anteilen über Land und Leute mit einem quasi ethnographischen Blick berichteten und so zum besseren Verständnis dieser Kulturen in Frankreich und Europa beitrugen, auch zur Entstehung der Sinologie und der Mode der ‚Chinoiserie‘. Ihr Einfluss auf die Aufklärung ist nicht zu unterschätzen. Das deutschsprachige Pendant ist der vom bayerischen Jesuiten Joseph Stöcklein konzipierte Neue Welt-Bott, der zwischen 1726 und 1761 zunächst in Augsburg und dann in Wien in insgesamt 40 Teilen und fünf Bänden in Folioformat erschien. Auch diese Publikation ist als eine ‚Missionszeitschrift‘ in der Form einer sorgfältig redigierten und eingeführten Sammlung von 812 durchnummerierten Missionarsbriefen aus allen außereuropäischen Tätigkeitsfeldern der Jesuiten mit dem erklärten

3.7 Der Missionarsbrief 

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Ziel der Erbauung und Belehrung der christlichen Leserschaft sowie der Förderung der Jesuitenmissionen zu betrachten (vgl. Borja González 2005, 2011; Dürr 2007). Der Neue Welt-Bott wurde aber nicht nur von Mitgliedern der Gesellschaft Jesu und deren Freunden gelesen, sondern auch von der höfischen Gesellschaft und den Aufklärern, denn er zählte „zu den von den Gelehrten nachgeschlagenen Werken zu überseeischen Missionsgebieten“ (Borja González 2005, 369), auch über die Konfessionsgrenzen hinaus. Die darin gesammelten Missionarsbriefe erweiterten den Wissenshorizont über die außereuropäischen Religionen und Kulturen, wobei sich der „Wissenschaftsoptimismus“ der Jesuiten „von dem Fortschrittsglauben der Aufklärer ihrer Zeit“ kaum unterschied (Dürr 2007, 466).

Zitierte Literatur Bey, Horst von der (Hg.) (1995). „Auch wir sind Menschen so wie ihr!“ Franziskanische Dokumente des 16. Jahrhunderts zur Eroberung Mexikos. Paderborn. Borja González, Galaxis (2011). Jesuitische Berichterstattung über die Neue-Welt. Zur Veröffentlichungs-, Verbreitungs- und Rezeptionsgeschichte jesuitischer Americana auf dem deutschen Buchmarkt im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen. Borja González, Galaxis (2005). „Jesuitische Berichterstattung über die Neue Welt. Zur Verbreitungsgeschichte von Amerika-Nachrichten im Alten Reich am Beispiel der Briefe des Dominikus Mayer“, in: Sendung – Eroberung – Begegnung. Franz Xaver, die Gesellschaft Jesu und die katholische Weltkirche im Zeitalter des Barock. Hg. v. Johannes Meier. Wiesbaden: 355–377. Delfosse, Annick (2009). „La correspondande jésuite: communication, union et mémoire“, in: Revue d’histoire ecclésiastique, 104.1: 71–114. Delgado, Mariano (1991). Gott in Lateinamerika. Texte aus fünf Jahrhunderten. Düsseldorf. Dürr, Renate (2007). „Der ‚Neue Welt-Bott‘ als Markt der Informationen? Wissenstransfer als Moment jesuitischer Identitätsbildung“, in: Zeitschrift für historische Forschung, 34.3: 441–466. Friedrich, Markus (2011). Der lange Arm Roms? Globale Verwaltung und Kommunikation im Jesuitenorden 1540–1773. Frankfurt a. M. u. New York. Koschorke, Klaus, Frieder Ludwig u. Mariano Delgado (42012). Außereuropäische Christentumsgeschichte: Asien, Afrika, Lateinamerika 1450–1990. Neukirchen-Vluyn. Las Casas, Bartolomé de (1996). Werkauswahl. Bd. 3.1: Sozialethische und staatsrechtliche Schriften. Hg. v. Mariano Delgado. Paderborn. Latourette, Kenneth Scott (1956). Geschichte der Ausbreitung des Christentums. Göttingen. Oberholzer, Paul (2015). „Briefkultur als integratives Element vor der Herausforderung eines globalen Sendungsauftrages im Kontext sich wandelnder Herrschaftskonzepte im spanischen Weltreich“, in: Diego Laínez (1512–1565) and his Generalate: Jesuit with Jewish Roots, Close Confidant of Ignatius of Loyola, Preeminent Theologian of the Council of Trent. Hg. v. Paul Oberholzer. Rom: 757–805.

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 3 Briefgenres

Schmid, P. Martin SJ (1988). Seine Briefe und sein Wirken. Hg. unter dem Patronat des Zuger Vereins für Heimatgeschichte. Wissenschaftlich bearb. v. Rainald Fischer. Zug. Xaver, Franz (de Javier, Francisco) (2006). Briefe und Dokumente 1535–1552. Hg. v. Michael Sievernich. Regensburg.

Ulrich van der Heyden

3.8 Briefe evangelischer Missionare seit dem 18. Jahrhundert Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert versuchten – wie schon zuvor katholische Orden – nunmehr auch protestantische Missionsgesellschaften in Europa durch ausgesuchte und/oder ausgebildete Missionare in Übersee das Christentum zu verbreiten. Dafür waren in einigen westeuropäischen Ländern für diesen Zweck spezielle Institutionen, eben Missionsgesellschaften, gegründet worden. Das waren „freie zivile Vereinigung[en] zur Organisation und Förderung von Mission, oft in Spannung zur offiziellen Landeskirche“ (Feldtkeller 2013). Durch die nicht vorhandene Integration der Mission in die regulären Kirchenstrukturen – auch wenn viele Pfarrer die Idee der christlichen Mission mittrugen und unterstützten, etwa durch Zulassung von finanziellen und materiellen Sammlungen (hauptsächlich Kleidung) in ihren Gemeinden –, mussten die Missionsgesellschaften stets nach weiteren Finanzierungsmöglichkeiten suchen. Sie fanden diese vor allem in den an die Heimatgemeinden angeschlossenen Hilfsvereinen sowie in der Durchführung von thematischen Kollekten nach dem Gottesdienst, aber auch bei Sammlungen auf sogenannten Missionsfesten, durch Entgegennahme von Nachlässen und Spenden von Einzelpersönlichkeiten. Zur finanziellen Absicherung ihrer selbstgestellten Aufgabe in Übersee entstanden weitverzweigte Netzwerke der „Missionsfreunde“ (Habermas 2008, 629–679; Eiselen 1986, 49–56). Außer der Tatsache, dass die jeweiligen Missionsleitungen in der Heimat über Fortschritte und Hemmnisse des Missionierungsprozesses auf den Arbeitsfeldern aktuell und intensiv unterrichtet werden wollten, richteten sich die Informationen von den Arbeitsfeldern in Form einer relativ periodischen Berichterstattung der Missionare hauptsächlich aus Asien, Afrika, Nordamerika, Australien und Ozeanien an solche Menschen in der Heimat, die ihre Tätigkeit in der Fremde finanziell unterstützten. Jene hatten oftmals besonderes Interesse an der bereits in der Bibel angemahnten Arbeit in jenen Weltgegenden, in denen die autochthone Bevölkerung unter sogenannten vorkolonialen Verhältnissen lebte. Denn hier vermuteten sie das „tiefste Heidentum“, dort, wo wilde Stämme lebten, deren „Grad […] religiöse[r] und sittliche[r] Fäulnis“ besonders hoch war (Plath 1867, 13). Die dort beheimateten Menschen sollten durch die Verbreitung des christlichen Glaubens daraus bzw. davon befreit werden. Den Heiden sollte mit den ‚Segnungen‘ der ‚Zivilisation‘ Gottes Wort gepredigt werden; zumeist machte man zwischen der Umsetzung der beiden selbst gestellten Verpflichtungen keine Unterschiede. https://doi.org/10.1515/9783110376531-033

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 3 Briefgenres

Die Missionare aller europäischen Gesellschaften waren durch spezielle, von ihren Vorgesetzten erarbeitete Ordnungen aufgefordert  – anhand der Berliner Missionsgesellschaft ist diese Tatsache bislang wohl am besten aufgearbeitet worden –, über Erfolge und Misserfolge im Christianisierungs- und vorgeblichen Zivilisierungsprozess schriftlich zu berichten. Dazu gehörten das Schreiben und Einsenden von Tagebüchern, das Erstellen von kleineren Missionsschriften (sogenannten Traktaten), das akribische Verfassen von Monats-, Quartals- und Jahresberichten sowie Statistiken. Ein großer Teil der abgeforderten Berichte wurde in Briefform erstattet. Der Brief war die wichtigste und oftmals einzige Form der zuweilen monatelang unterbrochenen Kommunikation zwischen dem europäischen Missionar in Übersee und seinen Vorgesetzten, seinen Unterstützergemeinden und Freundeskreisen sowie seiner Familie in der Heimat in Europa. Der Brief als Kommunikationsmittel der Missionare war dadurch gekennzeichnet, dass darin über aktuelle Gegebenheiten, Ereignisse, Prozesse, ethische, linguistische und kulturelle Besonderheiten in einem bestimmten Raum und/oder einem begrenzten Zeitabschnitt informiert wurde. Diese Berichtsform in Gestalt von oftmals recht ausführlichen Briefen wurde dann in nicht wenigen Fällen in den periodischen Publikationsorganen, im Falle der Berliner Missionsgesellschaft in den Berliner Missionsberichten, mehr oder minder leicht gekürzt und redigiert veröffentlicht. Diese Form der Berichterstattung diente dazu, den heimischen Gemeinden mit ihren Unterstützernetzwerken einerseits wirkliche oder vermeintliche Erfolge der Briefschreiber bei der Christianisierung zu vermitteln. Denn ohne sichtbare Erfolge hätten das Missionsinteresse und somit die Spendenbereitschaft erlahmen können. Andererseits musste von den Missionaren auf Schwierigkeiten hingewiesen werden, die dem Missionierungsfortschritt im Wege standen. Denn lediglich euphorische Berichte über Erfolge hätten unter Umständen die Spendenbereitschaft der Gemeinden und somit die Finanzierung der Missionstätigkeit beeinträchtigen oder sogar enden lassen können. Zwischen den beiden Polen zur Notwendigkeit der Berichterstattung wurde Gesehenes, Erlebtes und Geschehenes von Menschen, Kulturen, Religionen, geographischen Begebenheiten, Flora und Fauna aus dem Umfeld des Missionars durch Briefe nach Europa vermittelt, was den heutigen Historikern bei Anwendung der notwendigen Quellenkritik wichtige historische und ethnografische, zum Teil bei Weitem noch nicht ausgewertete Quellen für die Wissenschaft zur Verfügung stellt, wie eine Literaturübersicht über bislang bearbeitete Themen zur Geschichte der Berliner Missionsgesellschaft deutlich macht (vgl. van der Heyden 2010). An die Bedeutung, die damals solche Briefe für die relativ aktuelle Berichterstattung aus Übersee nicht nur für die christlichen Bewohner Europas besaßen, versuchen bis in die Gegenwart hinein verschiedene protestantische und katho-

3.8 Briefe evangelischer Missionare seit dem 18. Jahrhundert 

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lische Missionsgesellschaften und -orden anzuknüpfen und nannten oder nennen noch heute ihre periodisch erscheinenden Informationsmaterialien „Missionsbrief“ oder „Missions-Brief“. Die Bedeutung einer kontinuierlichen zeitnahen Berichterstattung der Missionare in Briefform wurde für die außereuropäische Missionsbewegung schon recht früh erkannt und angewendet, um somit über Land und Leute, aber auch über Notwendigkeiten und Erfolge der Verbreitung des Christentums zu berichten, wie die Briefe eines der ersten ausgesandten evangelischen Missionare, die des Missionars Joseph Stöcklein, belegen (vgl. Stöcklein 1726; Rajan 2006, 1221– 1239). Angesichts des wissenschaftlichen Nutzens der Briefe für die Kenntnisse der außereuropäischen Territorien und dort vorhandenen Kulturen forderte der Nestor der deutschen Missionswissenschaft, Gustav Warneck, unter Hinweis auf die Bedeutung der Briefe für die Bibel, dass die in Briefen übermittelten Berichte aus Übersee als „missionarische Sendschreiben“ verstanden und geachtet werden sollten (Warneck 1897, 189–239). Neben diesen in aller Regel unpersönlichen ‚Berichtsbriefen‘, denn sie waren immer an die Missionsleitung oder an einzelne Vorgesetzte adressiert (die nach ihrem Ermessen die handschriftlichen Briefe zur Veröffentlichung weiterreichten), gab es selbstverständlich noch private Briefe der Missionare an Freunde und Verwandte in der europäischen Heimat. Diese enthielten neben sehr individuellen Mitteilungen aus den verschiedenen Sphären des persönlichen und familiären Lebens auch Informationen vom Missionsfeld, die, wenn sie an Mitglieder der Missions- und Schriftleitung der Berichtsorgane oder an Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen gerichtet und für die breite Masse der Missionsinteressierten bedeutsam waren, sogleich vollständig oder auszugsweise in die „Missionsberichte“ und andere Publikationsorgane gelangten. Wohl alle protestantischen Missionsgesellschaften besaßen solche, in aller Regel periodisch erscheinenden Berichtsorgane (vgl. Jensz und Acke 2013). Briefe ohne allgemein interessierenden Informationsgehalt für Nicht-Familienangehörige gelangten nur in den seltensten Fällen in die Missionsarchive und stehen demzufolge der historischen Forschung heute nur sehr eingeschränkt zur Verfügung. Da jedoch auch persönliche Briefe eine relative Breitenwirksamkeit erlangten, waren das Schreiben und das Versenden solcher Briefe ebenso wie der zu erstellende Inhalt gewissen Vorgaben der jeweiligen Missionsgesellschaft unterworfen. Am meisten findet man diese Briefe in den Nachlässen der Missionare oder von deren Nachfahren. In den sogenannten Missions-Ordnungen der protestantischen Missionsgesellschaften, die zumeist zurückgingen auf die früher hierfür erstellten Regularien, die von der Herrnhuter Brüdergemeine schon Mitte des 18. Jahrhunderts ausgearbeitet worden waren, wurde festgelegt, in welcher Weise der, wie es bei der

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Berliner Missionsgesellschaft hieß, „Verkehr zwischen den Missionaren und dem Comité (dem höchsten Gremium der Gesellschaft – UvdH), dem Missionshause und der heimischen Missionsgemeinde“ zu erfolgen habe. Ermahnt wurden die Missionare hierin ausdrücklich, für ihre Berichterstattung „große Sorgfalt“ zu verwenden (Missions-Ordnung 1882, 66). Von allen versandten Briefen mussten handschriftliche Kopien angefertigt werden. Oftmals wurden die Entwürfe oder ‚Vorschriften‘ der versandten Briefe mit eventuellen Korrekturen, Ergänzungen und Erläuterungen als Kopie verwendet. Für die Wissenschaft kann interessant sein zu vergleichen (falls beide Fassungen noch vorhanden sind), inwiefern die Aussagen der wie auch immer gestalteten Kopien und der versandten Briefe deckungsgleich sind. Ebenso interessant wäre es zu überprüfen, ob die wichtigsten Aussagen aus denjenigen Briefen, die von der Missionsleitung als veröffentlichungswürdig empfunden wurden und in den Berichtsorganen zum Abdruck gelangten, den Originalen entsprachen, also ob eine Zensur durch die Missionsund/oder Schriftleitungen – und in welchem Maße – vorgekommen ist. Neben der Verpflichtung zur Führung von „einzusendenden Halbjahresberichten und jährlich statistischen Nachweisungen“ ist „ein sorgsam zu führendes Tagebuch“ regelmäßig nach Berlin einzusenden. Ausdrücklich wird für den Schriftverkehr angemahnt, dass es als selbstverständlich vorauszusetzen [sei], daß es in keiner Weise die Absicht dieser schriftlichen Mittheilungen sein kann, durch besonders glänzende Auftragung von kalten oder dunklen Farben Bilder hinzuzeichnen, die, obgleich geeignet, das Interesse des Lesers zu spannen und zu fesseln, doch im tiefsten Grunde verzeichnet und unwahr sind. Allerstrengste Wahrhaftigkeit und nüchterne Treue der Darstellung sind Grundbedingungen (Missions-Ordnung 1882, 67).

Unter der Rubrik „Der amtliche und außeramtliche Briefwechsel“ wurde gesondert festgelegt, dass „amtliche an das Comité gerichtete Anträge und Beschwerden […] nicht anderen Personen mitgetheilt werden“ dürfen. Die Leitung der Missionsgesellschaft muss geradezu Scheu vor Kritik gehabt haben, denn, so wird erwartet, selbst in Schreiben, die „über nichtamtliche Angelegenheiten“ informieren, „dürfen solche Briefe nicht Anklagen oder Verdächtigungen enthalten“ (Missions-Ordnung 1882, 68). Um die Einhaltung der aufgestellten Regularien kontrollieren zu können, wurde festgelegt: „Portofrei gehen nur diejenigen Briefe, welche durch die Superintendenten oder Conferenzvorsteher (also die direkten Vorgesetzten der Missionare auf deren Arbeitsfeldern – UvdH) befördert werden; Privatbriefe auch in diesem Falle nur, wenn sie sich mit einem bescheidenen Umfange begnügen.“ Um die Möglichkeit zur Umgehung dieser Festlegung zu verringern, wurde ermahnt: „Es ist mit Fleiß darauf zu halten, daß die in Afrika abzusendenden Briefe ganz

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und völlig frei gemacht werden, weil die Unterlassung dieser Vorsicht der Hauptkasse vielfach großen Schaden bringt“ (Missions-Ordnung 1882, 68–69). In einer später gültigen, überarbeiteten Fassung der Berliner Missionsordnung heißt es eher zusammenfassend: „In seinem Briefwechsel mit der Heimat muß sich der Missionar großer Vorsicht befleißigen. Inssonderheit soll er alles dasjenige vermeiden, was auf die Mission, einzelne Missionare und die Verwaltung der Mission ein übles Licht wirft“ (Missionsordnung 1936, 20). Neben den Briefen, die zur Berichterstattung von den Missionaren in ihre europäische Heimat geschrieben wurden, existierte bei einigen Missionsgesellschaften auch die Praxis, Briefe an autochthone Christen zu schreiben oder an erst noch zu missionierende Angehörige jener Völker. Diese mussten bereits des Lesens und Schreibens kundig sein. So hatten Missionare der Dänisch-Halleschen Mission bereits 1708 damit begonnen, Briefe an Tamilen, eine in Indien lebende Völkerschaft, unter denen sie das Christentum verbreiten wollten, direkt zu schreiben. Es handelte sich überwiegend um sogenannte Sendschreiben, die im Ergebnis von Diskussionen mit den Einheimischen entstanden waren und wohl als verspätete Reaktionen auf vorangegangene mündliche Auseinandersetzungen verstanden werden können. Zuweilen antworteten daraufhin die Tamilen in Briefform. Von einem gezielten brieflichen Dialog kann jedoch nicht ausgegangen werden (vgl. Liebau 1998, 22). Eine Besonderheit stellt jedoch die Malabarische Korrespondenz dar. Darunter versteht man eine 1714 und 1717 publizierte Auswahl von Briefen, in denen Inder in tamilischer Sprache Fragen beantworteten, die ihnen die Missionare zuvor schriftlich gestellt hatten. Diese führten mittels ihrer Briefe Dialoge mit Indern verschiedener Kasten, die Einblicke in Glaubensvorstellungen, gesellschaftliche Ordnungen sowie in Kultur und Alltagsleben der Inder erlauben. Generell lässt sich festhalten, dass in Anlehnung an den Missionshistoriker Julius Richter die Berichterstattung der Missionare in Briefform als ein „wichtiges Mittel apostolischer Leistung und Erbauung“ betrachtet werden sollte (Richter 1920, 15). Von einzelnen evangelischen Missionsgesellschaften ist die Bedeutung der von Missionaren geschriebenen Briefe erkannt worden und es wurden Briefe, nicht zuletzt in Form von Reiseberichten, und unter Umständen weiterführende schriftliche Formen der Berichterstattung ab den 1960er Jahren ediert (vgl. Beck 1992; Bergunder 1999; van der Heyden und Kundler (im Druck); Adick und Mehnert 2001). Insgesamt gesehen ist diese historische Quellenkategorie für Forschungen zur außereuropäischen Christentumsgeschichte, zur Religions- und Missionsgeschichte wie auch in anderen globalhistorischen Wissenschaftsdisziplinen noch nicht in dem erforderlichen bzw. gewünschten Umfang erschlossen worden.

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Zitierte Literatur [anonym] (1882). Missions-Ordnung der Gesellschaft zur Beförderung der evangelischen Missionen unter den Heiden zu Berlin. Berlin. [anonym] (1936). Missionsordnung der Berliner Missionsgesellschaft zu Berlin, I. Teil. Berlin. Adick, Christel u. Wolfgang Mehnert (2001). Deutsche Missions- und Kolonialpädagogik in Dokumenten. Eine kommentierte Quellensammlung aus den Afrikabeständen deutschsprachiger Archive 1884–1914. Frankfurt a. M. u. London. Beck, Hartmut (Hg.) (1992). Wege in die Welt. Reiseberichte aus 250 Jahren Brüdermission. Erlangen. Bergunder, Michael (Hg.) (1999). Missionsgeschichte aus Indien im 18. Jahrhundert. Ihre Bedeutung für die europäische Geistesgeschichte und ihr wissenschaftlicher Quellenwert für die Indienkunde. Halle. Eiselen, Tobias (1986). „Zur Erziehung einer zuverlässigen, wohldisziplinierten Streitschar für den Missionskrieg. Basler Missionsausbildung im 19. Jahrhundert“, in: Mission im Kontext. Beiträge zur Sozialgeschichte der Norddeutschen Missionsgesellschaft im 19. Jahrhundert. Hg. v. Werner Ustorf. Bremen: 49–56. Feldtkeller, Andreas (2013). „Protestantische Mission“, in: Europäische Geschichte Online (EGO). Hg. v. Leibniz Institut für Europäische Geschichte. Mainz; http://www.ieg-ego.eu/ feldtkellera-2013-de (17.11.2019). Habermas, Rebekka (2008). „Mission im 19. Jahrhundert. Globale Netze des Religiösen“, in: Historische Zeitschrift, 287.3: 629–679. Heyden, Ulrich van der (2010). Die wissenschaftliche Nutzung von Archiv und Bibliothek der Berliner Missionsgesellschaft. Eine Bibliographie. Berlin. Heyden, Ulrich van der u. Joachim Kundler (Hg.) (im Druck). Zwischen Missionsauftrag und Afrikanisierung. Der „Missionsdissident“ Johannes Winter in Briefen und Dokumenten. Bremen. Jensz, Felicity u. Hanna Acke (Hg.) (2013). Mission and Media. The Politics of Missionary Periodicals in the Long Nineteenth Century. Stuttgart. Liebau, Kurt (1998). „Einleitung“, in: Johann Ernst Gründler u. Bartholomäus Ziegenbalg. Malabarische Korrespondenz. Tamilische Briefe an deutsche Missionare. Hg. v. dems. Sigmaringen: 7–36. Plath, Carl (1867). Die Erwählung der Völker im Lichte der Missionsgeschichte. Berlin. Rajan, Rekha Kamath (2006). „Cultural Delimitations. The Letters and Reports of Bartholomäus Ziegenbalg“, in: Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India. Bd. 3: Communication between India and Europe. Hg. v. Andreas Gross, Vincent Y. Kumaradoss u. Heike Liebau. Halle: 1221–1239. Richter, Julius (1920). Evangelische Missionskunde. Leipzig u. Erlangen. Stöcklein, Joseph (1726). Allerhand So Lehr- als Geist-reiche Brief, Schrifften, und ReisBeschreibungen: welche meistens von denen Missionariis Societatis Jesu Aus Beyden Indien, und andern über Meer gelegenen Ländern Seit Anno 1642. biß auf gegenwärtiges Jahr in Europa angelangt seynd. Augspurg u. Grätz. Warneck, Gustav (21897). Evangelische Missionslehre. Ein missionstheoretischer Versuch. Bd. 1: Die Begründung der Sendung. Gotha.

Michaela Fenske

3.9 Bürgerbrief 1 Begriff, Spezifika und Geschichte Der Terminus Bürgerbrief stammt aus der politischen Administration. Diese hat den Begriff nach dem Zweiten Weltkrieg im Umgang mit Schreiben aus der Bevölkerung geprägt und bezeichnet damit direkt an Politiker*innen, seltener an politische Institutionen gerichtete Briefe. Kategorisiert werden damit all jene Schreiben, die nicht unter die in Deutschland verfassungsmäßig festgeschriebene Form der Petition fallen. Die Übergänge zwischen Bürgerbrief und Petition sind allerdings fließend. Mitunter werden Bürgerbriefe durch zuständige Behörden nachträglich als ‚Eingaben‘ erfasst und behandelt. Auch hinsichtlich der in Petitionen und Bürgerbriefen behandelten Themen und Inhalte ergeben sich zahlreiche Überschneidungen. Da der Bürgerbrief im Vergleich zu offiziell ­vorgesehenen Formen politischer Kommunikation den Schreibenden allerdings erheblich umfassendere Ausdrucksmöglichkeiten bietet, ist er populärer als andere Genres im Bereich der politischen Kommunikation. Sein Gesamtaufkommen übertrifft das Aufkommen der Petitionen in der Bundesrepublik Deutschland bei weitem. Insgesamt wächst die Schreiblust deutscher Bürger*innen seit dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich, und Bürgerbriefe bilden dabei einen wesentlichen Faktor. Der Bürgerbrief umfasst unterschiedliche Brieftypen, die sich teilweise untereinander mischen bzw. ineinander übergehen. Dazu gehört zunächst die klassische Form des Bittbriefs. Dieser nimmt im 20.  Jahrhundert noch einen quantitativ beachtlichen Teil der Bürgerbriefe ein. Gerade in diesem Genre zeigen sich allerdings hinsichtlich der Schreibhaltung, bei Anreden, Formulierungen und an den Adressaten gestellten Erwartungen starke Veränderungen von Seiten der Schreibenden. Allgemein lässt sich eine zunehmende Versachlichung, auch ein selbstbewussteres staatsbürgerliches Auftreten und Selbstverständnis der Bürger*innen feststellen. Daneben umfasst der Bürgerbrief jedoch auch andere Brieftypen wie Stellungnahmen, Beschwerden, Berichte, Anfragen, Huldigungen oder Schmähungen. Im Vergleich zum Bittbrief ist die Funktionspalette des Bürgerbriefs damit erheblich größer. Die Bandbreite reicht von dem Versuch, persönlich erlittene Nachteile zu kompensieren oder konkrete Hilfestellungen in der Not zu erhalten, über Beschwerden angesichts der Praktiken von Behörden und Verwaltungen oder Kritik an politischen Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen des Regierens bis hin zu Kundgebungen persönlicher Verehrung (mitunter verbunden mit Autogrammwünschen). Auch Beziehungswünsche finden hier unter Umständen ihren Platz, was manche Bürgerbriefe in die Nähe von Liebesbriefen https://doi.org/10.1515/9783110376531-034

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bringt. Umgekehrt finden auch Kritik an Person und Amtsführung bis hin zu Schmähungen ausgesuchter politischer Repräsentant*innen im Bürgerbrief ein geeignetes Medium (Schmähbrief). Obgleich der Bürgerbrief ein von allen sozialen Schichten und Milieus genutztes Medium ist, wird er bevorzugt von Bevölkerungsmitgliedern genutzt, die im Sinne Pierre Bourdieus über wenig wirtschaftliche, soziale, symbolische und kulturelle Kapitalien verfügen. Diesbezüglich setzt der Bürgerbrief die Tradition des Bittbriefs als einer asymmetrischen, gleichwohl auf Reziprozität beruhenden Kommunikation fort. In die wissenschaftliche Diskussion eingeführt wurde der Begriff Bürgerbrief durch den Europäischen Ethnologen Harm-Peer Zimmermann (2005, 2008). Zimmermann wies auf die besondere Position dieses Genres zwischen formalen Vorgaben und eigenwilligen, auch das politische System konkret unterlaufenden Schreiben hin. So besitzt der Bürgerbrief aufgrund seines verfassungsgemäß nicht festgeschriebenen Status einerseits ein besonderes Potential. Direkt an die politisch Verantwortlichen adressiert und im Gegensatz zu Petitionen nicht durch reguläre Verfahrensweisen in das politische System inkorporiert, ermöglicht er einen in den staatlichen Verfassungen nicht vorgesehenen direkten Austausch zwischen Bürger*innen auf der einen sowie Repräsentant*innen des Staates auf der anderen Seite. Bürgerbriefe werden damit zu Mittlern zwischen den Ebenen staatlichen Handelns und lebensweltlichen Erlebens bzw. zwischen konkret sehr verschiedenen Feldern politischer Praxis. Derart werden im jeweiligen politischen System und konkret auch im System der repräsentativen Demokratie angelegte Defizite ausgeglichen. Der vom eigentlichen Handeln der Exekutive und Legislative ausgeschlossene Souverän macht schreibend seine politische Stimme unmittelbar geltend. Zugleich behindern Bürgerbriefe jedoch allein durch ihr massenhaftes Auftreten reguläre administrative Abläufe und bringen dem politischen Apparat eine gewisse Unruhe. Das Störpotential von Bürgerbriefen zeigt sich besonders im Falle von massenhaften Schreiben sogenannter Querulant*innen, einer in politischen Systemen der Moderne geprägten Sozialfigur. Als Mittel einer direkten politischen Kommunikation können Bürgerbriefe damit auch als verfassungsmäßig nicht vorgesehene, jedoch nichtsdestoweniger relevante informelle Instrumente politischer Teilhabe oder Intervention verstanden werden. Andererseits bedingt der irreguläre Rechtsstatus von Bürgerbriefen eine im Vergleich zu anderen Genres eher sporadische historische Überlieferung. Die ‚Archivwürdigkeit‘ dieser Briefe ist aus Sicht der verantwortlichen Behörden und Personen keineswegs immer gegeben. Daraus folgt eine eher zufällige Archivierung im Kontext unterschiedlicher schriftlicher Vorgänge von Behörden, in Nachlässen von Politiker*innen in öffentlichen, aber auch in privaten Archiven. Die bislang eher rudimentäre Erforschung dieses Genres unterstreicht ihren informellen Status.

3.9 Bürgerbrief 

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2 Forschung Der Bürgerbrief gehört in den Zusammenhang der in Zeit und Raum verbreiteten Praxis des Schreibens der Bevölkerung an politische Machthabende. Aufgrund der Universalität dieser Praxis spricht der niederländische Historiker Lex Heerma van Voss von einer allgemein menschlichen Erfahrung (vgl. Voss 2001, 1). Auch in deutschsprachigen Forschungszusammenhängen wurde das engere Genre der Bitt- und Beschwerdebriefe von unterschiedlichen Disziplinen mit jeweils sehr verschiedenen Fragestellungen untersucht. Die Spannbreite reicht von rechtshistorischen Forschungen zur Begründung und Gestaltung des modernen Petitionsrechts (vgl. z.  B. Gamber 1988; Karg 1966) über Aspekte der Alltagsgeschichte (vgl. z.  B. Tenfelde und Trischler 1986), der politischen Kommunikation und hier entfalteter „Gefühlspolitiken“ (vgl. Frevert 2012), der Geschlechtergeschichte (vgl. Hämmerle und Saurer 2003) oder historischer Biographieforschung (vgl. Schulze 1996) bis hin zu literaturwissenschaftlichen Forschungen über Sprache und Formen des Schreibens (vgl. z.  B. Ebert 2001; Grosse et al. 1989). Dabei lag der Fokus der Forschung lange Zeit vornehmlich auf Schreiben aus der Vormoderne und Moderne sowie auf Schreiben in nicht-demokratischen politischen Systemen. Insbesondere für die Vormoderne wurde Bittschriften eine hohe gesellschaftliche und politische Bedeutung zugesprochen. Demnach erschöpft sich die Relevanz der Briefe nicht nur in konkreter Hilfe für schreibende Untertanen, sondern auch in ihrem Beitrag zur Entwicklung moderner Staatlichkeit (vgl. z.  B. Nubola und Würgler 2005). Politische Regimes nutzten etwa die Schreiblust ihrer Untertanen und die dabei bisweilen unter ihnen ausgetragenen sozialen Konflikte auch dezidiert zur Festigung ihrer eigenen Stellung (vgl. Farge und Foucault 1989). Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geriet – dem Interesse der Forschung am Schreiben in nichtdemokratischen Systemen entsprechend – ausschließlich die Eingabepraxis der Bevölkerung in der Deutschen Demokratischen Republik in den Fokus von vornehmlich zeithistorischer Forschung (vgl. Betts 2010; Lüdtke und Becker 1997). Bürgerbriefe blieben dagegen zunächst ein vergleichsweise wenig erforschtes Genre. Erst in jüngster Zeit findet der Bürgerbrief insbesondere in anthropologischen bzw. historisch-anthropologisch arbeitenden Disziplinen Beachtung. Sein besonderes Potential zeigte sich etwa anhand der kulturanthropologischen Analyse der Schreiben, die im Kontext der Misstrauensvoten im Bundestag der Bundesrepublik Deutschland zu Tausenden an die betroffenen Politiker*innen gerichtet wurden. So hat Zimmermann (2005) u.  a. die in den Briefen eingesetzten vielfältigen dramaturgischen Praktiken untersucht. Auch als Raum der Entfaltung von in der Gesellschaft wirkenden unbewussten Haltungen erwiesen sich Bürgerbriefe als fruchtbare Zugänge (vgl. Manke 2008). Zuletzt galt die Aufmerksamkeit dem Bürgerbrief im Zusammenhang der politischen Kultur

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 3 Briefgenres

des deutschen Nachkriegs, konkret den Prozessen der ‚Beheimatung‘ im neuen demokratischen Staat und System (vgl. Fenske 2013; 2015). Mag die Bedeutung des Bürgerbriefs im Vergleich zu regulär vorgesehenen Formen politischer Partizipation auch geringer veranschlagt werden, so wird ihm zunehmend Relevanz als politisches Instrument innerhalb demokratischer Systeme zuerkannt. Aus Sicht einer Anthropologie des Schreibens gilt Schreiben als eine der zentralen Praktiken moderner Gesellschaften (vgl. z.  B. Barton und Papen 2010). Der Bürgerbrief liest sich in diesem Feld ebenso als ein Medium der Weltaneignung wie auch als ein Medium der Weltgestaltung. Schreibende nutzen den Brief ebenso, um Erlebtes zu verarbeiten, wie auch um sich selbst zu ermächtigen, ihr eigenes Leben, ihre Gesellschaft und ihren Staat zu gestalten. Das Verständnis des Bürgerbriefs als Medium einer popularen Schreibkultur, also einer Schreibkultur weniger privilegierter bzw. gering kapitalisierter Bevölkerungsmitglieder, führt verschiedene disziplinäre Ansätze und Fragen zusammen. Dazu gehören etwa Fragen nach der materiellen Kultur, Form, Sprache und dem Inhalt der Schreiben. Derartige Fragen ermöglichen eine zugleich breite wie tiefgehende kulturwissenschaftliche Analyse dieses Briefgenres. Dabei erweist sich der Bürgerbrief aufgrund fehlender formaler Vorgaben einmal mehr als besonderer Möglichkeitsraum.

3 Bürgerbrief als Medium einer popularen Schreibkultur Hinsichtlich seiner materiellen Beschaffenheit weist der Bürgerbrief in der gelebten Praxis im Vergleich zu stärker formalisierten Briefgenres wie der Petition ein besonders breites Gestaltungsspektrum auf. Der Bürgerbrief kann ebenso aus einzelnen oder in Reihung gebrachten Bildpostkarten bestehen wie aus aufwendigen, auch künstlerischen Collagen, Telegrammen oder eher schlichten DIN-A4Papierbögen; Schreibende fügen ihren Briefen Fotos, Gedichte, Musikkompositionen, Zeitungsauschnitte, Lebensläufe oder andere Beigaben hinzu. Die zumeist farblich differenziert vorgenommenen Randnotizen der Empfänger*innen geben gemeinsam mit den zumeist erhaltenen Entwürfen für Antwortschreiben wichtige Hinweise auf die Praktiken des Umgangs mit Briefen auf Seiten der Behörden. Die internen Notizen und verschiedene Entwürfe von Antworten ermöglichen Einblicke in von außen zumeist nicht erkennbare Praktiken des Regierens und Verwaltens. Die Aufmerksamkeit und Sorgfalt, die dabei behördlicherseits unter Umständen auf Bürgerbriefe verwendet wird, dokumentiert deren Anerkennung als ein relevantes Mittel politischer Kommunikation durch politisch Verantwortliche.

3.9 Bürgerbrief 

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Bürgerbriefe sind im 20. Jahrhundert sowohl in handschriftlicher wie zunehmend auch in maschinenschriftlicher, im 21. Jahrhundert auch in digitaler Form verbreitet. Das händische Schreiben, das im Wesentlichen bis in die 1970er Jahre verbreitet war, bietet einer kulturwissenschaftlichen Analyse wesentliche Zugänge (vgl. z.  B. Nikitsch 2014). Handschriftliche Briefe ermöglichen, etwa über die Sicherheit der Schriftführung, Einblicke in die soziale Position, den Bildungsgrad und die Kompetenz wie auch in individuelle Befindlichkeiten der Schreibenden. Die jeweilige Raumnahme auf dem Papier verweist auf Gepflogenheiten des Schreibens in Auseinandersetzung mit formalen Vorgaben wie sie Briefsteller und Briefratgeber seit Beginn der Moderne propagieren. Zugleich offenbaren sich in der Raumnahme auch der Grad des Mitteilungsbedürfnisses (etwa mit Blick auf die Ausnutzung des verfügbaren Raums) oder die emotionale Haltung der Schreiber*innen. Einen wesentlichen Hinweis auf Schreibroutinen und Bildungsstand stellen die jeweils verwendete Orthographie und Grammatik, aber auch die Beherrschung von zeitgemäßen Anreden dar. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein offenbaren sich dabei zahlreiche Unsicherheiten hinsichtlich der Beherrschung von Literalität. Nahe der mündlichen Rede, zugleich aber eingebunden sowohl in Möglichkeiten als auch in Zwänge der Schriftlichkeit, erweist sich das Schreiben von Bürgerbriefen als eine komplexe kulturelle Praxis. Die Beherrschung dieser Praxis bereitete weniger gebildeten Schreibenden mitunter durch heutige Forschung deutlich nachvollziehbar gemachte Mühen. Der Bürgerbrief erweist sich insofern als ein formal eher konservatives Medium, als Schreibende die ihnen mit diesem Genre theoretisch gegebenen Gestaltungsfreiheiten nur teilweise nutzen. Vielfach orientieren sich Schreiber*innen an überlieferten Formen oder allgemeinen Konventionen des Schreibens. Dies gilt zunächst für Anredeformen, Raumnahme oder gewählte Sprache, insbesondere auch für Höflichkeitsformen. In besonderem Maße betrifft dies den formalen Aufbau des Bürgerbriefs. Diesbezüglich dem Bittbrief vergleichbar, folgt auch der Bürgerbrief in seinen verschiedenen Typen und Mischformen mehr oder weniger stark der an antiken Vorbildern geschulten Briefkomposition von salutatio (Begrüßung), captatio benevolentiae (Wegbereitung des Anliegens), narratio (Anliegen, Bericht), petitio (Bitte, ggf. mit Zusage des Dankes) und conclusio (Schlussformel). Bei der Wahl der Begrüßung und Anrede sowie der Schlussformel gehen Schreibende zunächst in der Regel spiegelbildlich vor. Begrüßung und Abschiedsformel entsprechen sich hinsichtlich des Grades der gewählten Höflichkeit, also etwa: ‚An unseren Landesvater‘ und ‚Mit vorzüglicher Hochachtung‘, ‚Sehr geehrter Herr‘ und ‚Mit freundlichem Gruß‘ oder ‚Herr XYZ‘ und bloße Unterschrift. Vergleichbar förmlich fiel bis in die 1960er Jahre die Einführungsformel in der Wegbereitung des Anliegens aus. Eine im Typus des Bittbriefs häufige Schreibstrategie bestand in dieser Zeit auch in der Erhöhung des Gegenübers als beson-

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ders machtvolle Person (der als omnipotent imaginierte Politiker an der Spitze des Staates) bei gleichzeitiger Ego-Erniedrigung (‚kleiner Mann‘). Mit Erstarken ihres staatsbürgerlichen Selbstbewusstseins nutzten die Schreibenden allerdings im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend sachlich-nüchterne Redewendungen und Schreibstrategien. In allen Brieftypen gibt die narratio den Schreibenden weitgehende individuelle Gestaltungsmöglichkeit. Hier finden sich im Bürgerbrief teils ebenso anschauliche wie dramaturgisch gekonnt entwickelte Erzählungen. Diese Erzählungen suggerieren eine besondere Glaubwürdigkeit des jeweils Dargestellten. Orientiert am alltäglichen Erzählen bieten Bürgerbriefe damit auch Einblicke in populare Erzählkunst. Die Frühneuzeithistorikerin Natalie Zemon Davis hat im Zusammenhang ihrer Erforschung von Gnadengesuchen darauf hingewiesen, dass Briefe an Herrschende aufgrund der mit ihnen verbundenen Intentionen der Schreibenden auch eine gewisse Nähe zur Fiktion aufweisen (vgl. Davis 1987). Die Grenzen zwischen nachprüfbaren Fakten und Ausgedachtem, Gefundenem und Erfundenem sind fließend. Als „Produkte des Augenblicks“ (Maurer 2002, 360) halten Bürgerbriefe bestimmte Momente im Erleben und Denken der Schreibenden fest. Sie verkörpern damit anschaulich den Doppelcharakter von Briefen als Gesamtgattung: Sie sind ebenso historische Zeitzeugnisse, die sich durch besondere Ereignisnähe, Direktheit sowie die Weitergabe von im Einzelnen sehr verschiedenen individuellen Sehnsüchten, Bedürfnissen, Einstellungen und Hoffnungen auszeichnen, wie ästhetische Inszenierungen, die sich der Mittel literarischer und alltäglicher Erzählkunst bedienen.

4 Perspektiven Seit Beginn des 21.  Jahrhunderts unterstützen zunehmend spezielle digitale Plattformen und Websites die Kommunikation zwischen Bürger*innen sowie politisch Verantwortlichen. Das Angebot wurde bereits zu Beginn von Teilen der Bevölkerung so begeistert aufgenommen, dass es etwa 2005 bei der Eröffnung der Online-Plattform des Kanzleramts der Bundesrepublik Deutschland zu einer Art „digitalen Verstopfung“ kam (Kuhrt 2010, 46–47). Mit den neuen Medien entstehen auch neue Angebote der Kommunikation wie etwa die Internetplattform Abgeordnetenwatch (vgl. https://www.abgeordnetenwatch.de). Bürger*innen können damit Abgeordnete unmittelbar ansprechen und ggf. zur Verantwortung ziehen  – ein ehemals zwischen politisch Verantwortlichen und Bürger*innen individuell gestaltetes Austauschverhältnis transformiert sich damit in ein Instrument öffentlicher Kontrolle. Im Medium Internet verwandelt sich das ehemalige

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„Körperdokument“ Bürgerbrief (Stauf 2010, 639). Das neue Medium bietet andere Möglichkeiten des direkten Austauschs. In Gestalt neuer Formalisierungen etwa durch spezifische Eingabemasken oder durch den Ausschluss von digitalen Illiterat*innen bzw. Menschen ohne Zugang zur digitalen Technik weist das Medium zugleich neue Ausschlussmechanismen und Schranken auf.

Zitierte Literatur Barton, David und Uta Papen (Hg.) (2010). The Anthropology of Writing. Understanding Textually-Mediated Worlds. London u. New York. Betts, Paul (2010). „Die Politik des Privaten. Eingaben in der DDR“, in: Demokratie im Schatten der Gewalt. Geschichte des Privaten im deutschen Nachkrieg. Hg. v. Daniel Fulda. Göttingen: 286–309. Davis, Natalie Zemon (1987). Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler. Berlin. Ebert, Helmut (2001). „Höflichkeit in Petitionen an den Deutschen Bundestag. Eindrücke und Hypothesen aufgrund eines Ost-West-Vergleichs“, in: Höflichkeitsstile. Hg. v. Heinz-Helmut Lüger. Frankfurt a. M.: 233–246. Farge, Arlette u. Michel Foucault (Hg.) (1989). Familiäre Konflikte. Die ‚Lettres de cachet‘ aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. Fenske, Michaela (2013). Demokratie erschreiben. Bürgerbriefe und Petitionen als Medien politischer Kultur 1950–1974. Frankfurt a. M. Fenske, Michaela (2014). „Schreiben als Praxis der Selbst-Beheimatung. Briefe aus der Bevölkerung an Politiker und politische Institutionen nach 1950“, in: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, 1–2: 125–138. Frevert, Ute (2012). Gefühlspolitik. Friedrich II. als Herr über die Herzen? Göttingen. Gamber, Dieter (1988). Das Recht der Petition an den Landtag von Baden-Württemberg. Probleme der parlamentarischen Praxis. Freiburg. Grosse, Siegfried, Martin Grimberg, Thomas Hölscher u. Jörg Karweick (1989). „Denn das Schreiben gehört nicht zu meiner alltäglichen Beschäftigung“. Der Alltag kleiner Leute in Bittschriften, Briefen und Berichten aus dem 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch. Bonn. Hämmerle, Christa u. Edith Saurer (Hg.) (2003). Briefkulturen und ihr Geschlecht. Zur Geschichte der privaten Korrespondenz vom 16. Jahrhundert bis heute. Wien u.a Karg, Günter (1966). Die Praxis des Rechts der Petition an den Landtag in Bayern. (Diss.) Köln. Kuhrt, Nicola (2010). „Papierstau bei der Online-Petition“, in: Technology Review, 8: 46–47. Lüdtke, Alf u. Peter Becker (Hg.) (1997). Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte: Erkundungen zu Herrschaft und Alltag. Berlin. Manke, Sabine (2008). Brandt anfeuern. Das Misstrauensvotum 1972 in Bürgerbriefen an den Bundeskanzler. Ein kulturwissenschaftlicher Beitrag zu modernen Resonanz- und Korrespondenzphänomenen. Marburg. Maurer, Michael (Hg.) (2002). Briefe. Aufriß der Historischen Wissenschaften. Bd. 4: Quellen. Stuttgart: 349–372. Nikitsch, Herbert (2014). „Handschrift und Tagebuch. Bemerkungen zum (auto)biographischen Erinnern“, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, 117: 83–90.

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 3 Briefgenres

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Andrea Hübener, Jörg Paulus und Renate Stauf

3.10 Liebesbrief/Erotischer Brief 1 Begriffsumfang und -abgrenzung Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon (1732–1754) unterscheidet unter dem Hauptartikel „Liebes-Brief, Lat. Litterae amatoriae“ zwischen „Buhlebrieffe[n]“ und „Jungfer-Briefe[n]“; indes werden nur letztere in diesem Artikel selbst abge­handelt, während erstere noch einen separaten Eintrag erhalten. Allein in „Jungfer-Briefe[n]“ werde „billig“ und „gerecht“ die einzig wahre, nämlich die auf die Ehe zielende Liebe kundgetan (Zedler, Bd.  17, Sp. 994). Der Liebesbrief wird damit in einer Rechtssphäre verortet, in der ihm nach einigen im 17. und 18.  Jahrhundert vertretenen juristischen Positionen bereits Verbindlichkeit im Sinne einer Heiratsverpflichtung zukommt, wohingegen der auf erotische Versprechung und Verführung zielende „Buhlebrieff“ schlicht gegen das Recht verstößt. Ein im Ratsprotokoll der Stadt Werl dokumentierter Rechtsstreit um Liebesbriefe aus dem Jahr 1661 belegt diesen Sachverhalt, der in der 1679 erschienenen und bis weit ins 18. Jahrhundert vielfach wiederaufgelegten Dissertatio Iuridica de literis amatoriis von Peter Müller systematisch dargelegt wird. Wenn 250 Jahre nach Zedler in der Sammlung Deutsche Briefe 1750–1950 dem Abschnitt „Liebe“ die Abschnitte „Männerliebe“, „Entzweiung“ und „Affären“ vorangehen und die Abschnitte „Belehrung der Braut“ und „Ehe“ nachfolgen, dann sind an die Stelle des rechtlichen Dispositivs nicht-dichotomische Zuordnungen der Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit, der Verbundenheit und der Entbindung getreten. Das Phänomen des Liebesbriefs im engeren Sinne wird dabei allerdings historisch limitiert: „Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts gibt es nahezu keine Liebesbriefe“, so statuiert die Einleitung zum Abschnitt „Liebe“ (Mattenklott et al. 1988, 275). Ganz anders urteilt der französische Briefforscher Bernard Bray in der Encyclopedia of Life-Writing, wenn er vom Liebesbrief als von einer Mitteilungsform der Liebe spricht, die überall und zu allen Zeiten existiert habe (vgl. Bray 2001, 552). Der Gegensatz zwischen diesen Positionen beruht auf den unterschiedlichen Auffassungen des mit dem Wort ‚Liebe‘ bezeichneten Phänomens oder Konzepts bzw. den vielfachen Codierungen von Liebe und der Vielfalt der mit diesen Codierungen verknüpften Diskurse (von den Abgrenzungen zwischen eros und agápe über die sich wandelnden juristischen, religiösen und moralischen Auffassungen bis zur Anpassung an multiple Lebens- und Genderkonzepte). Eine kulturwissenschaftlich informierte Liebesbriefforschung wird diese Differenzierungen berücksichtigen; übergreifende Fragestellungen nach Besonderheiten des Genres jenseits seiner ausdifferenzierten Figurationen werden damit jedoch keineswegs obsolet. https://doi.org/10.1515/9783110376531-035

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 3 Briefgenres

Zur diachronen Problemstellung der Liebesbriefforschung kommt eine synchron-systematische hinzu: Wie verhalten sich in diesem Genre Singularität und Originalität zu Norm und Konvention, und zwar sowohl in der existentiellen Selbstzuschreibung wie auch in der wissenschaftlichen Reflexion? Kann ein Liebesbrief tatsächlich nur in der epistolaren Rahmung des Mitteilungsinhalts Originalität beanspruchen, da, wie Bray annimmt (vgl. Bray 2001, 552), für den eigentlichen Ausdruck der Liebe nur ein beschränktes Vokabular zur Verfügung stehe? Der inhärente Essentialismus dieser Annahme entfällt, wenn man mit Niklas Luhmann Liebe nicht als anthropologisch fixiertes Gefühl, sondern als einen gesellschaftlich formierten Code betrachtet (vgl. Luhmann 1982). In der Tat kann ja, entsprechendes Kontextwissen vorausgesetzt, der vermeintliche ‚Kern‘ auch zur äußeren Form werden oder umgekehrt. Generell tendiert die Liebesbriefforschung in jüngerer Zeit zu einer Überwindung dichotomischer Annahmen und zu einer Abkehr von abstrakten Kommunikationsmodellen sowie einer Hinwendung zur Materialität und Gegenständlichkeit des Briefes und damit in Zusammenhang stehenden Aspekten. Liebesbriefe können als eine Ereignisfiguration des Epistolaren begriffen werden, deren Besonderheit in einer Verstärkung der epistolaren Funktionen (Objekthaftigkeit, Schriftlichkeit, Bildlichkeit, Sendungs- und Zustellungsformen) im Sinne einer produktiven Kommunikationsintensivierung (u.  a. erotischer, intellektueller, familiärer Art) besteht. Versteht man den Liebesbrief in diesem Sinne als Grenzphänomen, wird auch die Frage, ob er historisch ubiquitär ist oder sein Auftreten auf bestimmte kultur- oder medienhistorische Epochen begrenzt werden muss, hinfällig. Liebesbrief und erotischer Brief figurieren dabei als historisch und individuell variable Muster-Pole innerhalb einer gemeinsamen Sphäre epistolarer Intensitäten. Diese sind ihrerseits medial flexibel, wie sich an den Re- und Transfigurationen der Liebesbriefkultur in digitalen Medien der Gegenwart zeigen lässt.

2 Systematische und historische Aspekte Liebesbrief-Anleitungen in Briefstellern betonen in der Regel die normativen Differenzen zwischen Liebesbrief und erotischem Brief, so zum Beispiel diejenige des Erasmus von Rotterdam im Abschnitt „De amatoria epistola“ seiner Brieflehre De conscribendis epistolis (1522), in der auch bereits die Kontextabhängigkeit schriftlicher Liebesrede und der prekäre Status einer rhetorischen Formulierung von Liebe hervorgehoben werden. Auch hier aber erweisen sich die amourös-epistolaren Strategien in ihren konkreten Formulierungen als neutral hinsichtlich der Frage, ob sie den Normen einer erlaubten Liebe folgen oder sie unterwandern.

3.10 Liebesbrief/Erotischer Brief 

 507

Erasmus’ Ratschlag „Bald wird man wehklagen, bald wieder schmeicheln, gleich darauf in Verzweiflung sinken, dann wieder geschickt ein Eigenlob anbringen und Versprechungen machen“ (Erasmus von Rotterdam 1980, 243) lässt sich sicherlich nicht allein in Fällen gesellschaftlich akzeptierter Liebesmitteilung zur Anwendung bringen. Während sich Sammlungen wie Die Neu-Aufgerichtete Liebes-Cammer, darinn allerhand höflich verliebte Sendschreiben an das löbliche und anmuthige Frauenzimmer, auch andre Personen, abgefaßt und beantwortet sind (1662) des Polyhistors Erasmus Francisci auf Abschreckung als Publikationsbegründung berufen, stellen sich die Briefsteller zu Beginn des 18. Jahrhunderts einem ‚Missbrauch‘ der Liebesrede durch erneute Fokussierung auf die Ehe als Zweck des nicht-galanten Liebesbriefs entgegen. Christian Fürchtegott Gellerts Skepsis gegenüber der Orientierung an Mustern führt schließlich dazu, dass in der Folgezeit der Liebesbrief als die freieste und zugleich moralisch prekärste Form intimer Kommunikation in maßgebliche Briefsteller gar nicht mehr aufgenommen wird (so z.  B. im Allgemeinen deutschen Briefsteller von Karl Philipp Moritz, 1793). Ein im Jahr 1800 anonym erschienener Briefsteller für Liebende beiderley Geschlechts entschließt sich hingegen zu einem Kompromiss: Es könne in einem Liebesbriefsteller nicht darum gehen, „Liebe a la Epicur anzuempfehlen“, aber auch die Beschränkung auf rein platonische Liebe sei „ein Unding“, wenn es um den Verkehr „zwischen jungen feurigen Personen“ gehe. Nur „eine glückliche Mittelstraße“ könne somit die rechte Wahl sein (Briefsteller für Liebende, VIII). Begründungs- und Publikationsstrategien dieser Art, die sich bis in die Gegenwart und ihre Medien (Liebesbriefsteller im Internet) weiterverfolgen lassen, sind nicht allein als die Begleiterscheinung einer in ihrem moralischen Verhalten stets ambivalenten Gesellschaft zu verstehen, sondern zugleich auch als Folge der unaufhebbaren Rhetorizität, aber auch Literarizität des Liebesbriefs. Die wechselseitige Beeinflussung von Briefen und Literatur äußert sich zum Beispiel in teilweise parallel verlaufenden Privilegierungen spezifischer Aspekte (zum Beispiel des Erotischen), zugleich bedeutet dies aber auch, dass Liebesbriefe bzw. erotische Briefe solche Muster unabhängig von aktuellen Maßgaben des literarischen Diskurses zu (re)aktivieren oder sogar zu präformieren vermögen. Das scheinbar ultimativ private Genre erweist sich im Rückblick auf seinen historischen Verlauf zugleich als ein Musterbeispiel unausgesetzter literarischer Rekursivität, einer Rückbezüglichkeit, die immer Anschluss, Abgrenzung und Verschiebung zugleich ist. So mögen nicht überlieferte antike Dokumente erotischer Briefkunst – wie die dem Sophisten Lesbonax aus Mytilene zugeschriebenen Erotikai Epistolai – und literarisierte Texte – wie die Folge erotischer Briefe des Aristainetus – zunächst wenig Rückschlüsse auf reale Briefpraktiken zulassen (vgl. Kellermann 2012, 576), doch verweisen sie als Projektionstexte im Sinne des oben dargelegten offenen epistemischen Zugangs der Liebesbriefforschung auf

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 3 Briefgenres

spezifische Orte der Intensivierung, die gerade auch in der Rezeption erotischen Schreibens deutlich wird; Gleiches gilt für Texte wie die Cena Trimalchionis des Petronius, durch Wilhelm Heinses Übersetzung (1773) aktualisiert, für die späthellenistischen Liebesromane, die u.  a. Ende des 18. Jahrhunderts von Christian Gottlob Heyne und Christoph Martin Wieland rezipiert werden, vor allem aber für Ovids namentlich in der Spätantike und im Mittelalter wirkungsmächtige Ars amatoria, die den Brief als Medium erotischer Schrift-Wirkung in einer Weise vermittelt, die der Brief- und Lebenspraxis sehr viel näher steht als die philosophisch-diskursiven Liebestheorien der Antike von Platon bis zum Frühchristentum. Neben diesen die erotischen Intensitäten betonenden Rezeptionsspuren, die in der Dichtung der beiden anderen großen römischen Elegiker (Properz, Tibull) ein weiteres wichtiges Relais besitzen (der darin gefeierte Sklavendienst an der Geliebten bildet einen strikten Gegensatz zum römischen Eheideal), stehen die Prä- und Postfigurationen der ‚großen‘, gesellschaftlich, historisch oder ästhetisch anerkannten Liebe, deren wichtigstes antikes Dokument erneut von Ovid stammt. Seine in elegischen Distichen verfassten Epistolae Heroidum waren vor allem vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts europaweit von größter Wirkung, im deutschsprachigen Raum z.  B. in der Gestalt von Christian Hofmann von Hofmannswaldaus Heldenbriefen (1680). Wie im (Liebes-)Briefroman des 18. Jahrhunderts lässt sich auch in der Ovid-Rezeption des Barock jenes doppelbödige Rezeptionsmuster konstatieren: einerseits die Anerkennung der moralischen Exklusivität von Liebesdeklamationen, andererseits die Faszination an Formen der amourösen Abweichung wie Treulosigkeit, Ehebruch, Verrat (vgl. Schmitzer 2010, 579). Wie die Problematik der vielfachen Lesarten von Liebe, so ist auch die Problematik der Authentizität dem Liebesbrief bereits im Vollzug seiner Niederschrift inhärent: Mittelalterliche Liebesbriefe (nachweisbar zunächst vor allem in oft versifiziertem Latein, ab Mitte des 12. Jahrhunderts auch in provenzalischer und altfranzösischer Sprache) stehen retrospektiv nahezu durchgängig unter dem Vorbehalt einer umstrittenen Überlieferung und Zuschreibung (vgl. Kellermann 2012, 577–579), was einer neuzeitlichen Rezeption Grenzen setzte: Diese folgte dem Leitbild einer glaubhaft gemachten Authentizität, die mit den stets rhetorisch geformten mittelalterlichen Liebesbriefzeugnissen nicht vereinbar zu sein schien. Wo hingegen ein Narrativ fassbar wurde, wie im Falle der bezüglich ihrer Authentizität gleichfalls umstrittenen Korrespondenz zwischen Abaelard und Héloïse aus dem frühen 12. Jahrhundert, eröffneten sich auch Anschlussmöglichkeiten einer anti-rhetorischen literarischen und epistolaren Praxis, an denen wiederum lebensweltliche Liebesbriefkulturen sich in breiter Front orientieren konnten. Wegweisend wurden dabei Rousseaus Nouvelle Héloïse (1761) und – in abgeleiteter Version – die Literatur und Liebesbriefkultur verschaltende Brief- und Publi-

3.10 Liebesbrief/Erotischer Brief 

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kationspraxis Jean Pauls, der sich mit seinem frühen Romanfragment Abelard und Heloise (1781) über das Rousseau-Relais gleichfalls auf die mittelalterlichen Briefe bezieht. Beide Autoren, Rousseau und Jean Paul, gewinnen – zusammen mit der englischen Briefromanliteratur seit Richardson und der aus Werk und Person amalgamierten Referenz ‚Goethe‘– für die europäische Liebesbriefkultur des späten 18. und des 19.  Jahrhunderts überragende Bedeutung. Gleiches gilt für die virtuose Permutation von Verführung und Verrat in Choderlos de Laclosʼ Les Liaisons dangereuses (1782) (vgl. Vedder 2002). Das von Gellert vorgetragene Natürlichkeitspostulat als Signum der Authentizität und die allgegenwärtige literarische Infragestellung dieses Postulats werden dabei zum Motor der unablässigen Refiguration von Liebesbriefen, auch über die Empfindsamkeit hinaus. Die Reflexionen des jungen Hegel Über Lessings Briefwechsel mit seiner Frau (um 1793), die das „hinlängliche Auskommen“ statuieren, lassen sich als die Achse ausmachen, um den sich diese exemplarische Korrespondenz dreht („denn die Liebe ist nimmer so stark, daß man miteinander in Wüsteneien zieht, aller Bequemlichkeiten sich entschlägt und nur von der Liebe lebt“, Hegel 1968, 611), vorab das Paradigma des Liebesbriefs im 19. Jahrhundert, das sich im alltäglich-lebensweltlichen Vollzug bürgerlichen Lebens mit dem romantischen, die Liebe absolut setzenden immer wieder kreuzt. Die von Bohrer exponierte und von ihm als zugespitzte Ausnahme verstandene ästhetische Subjektivität des romantischen Briefs (vgl. Bohrer 1987) schreibt sich dabei wohl auch in Korrespondenzen des 19.  Jahrhunderts fort, die das Muster implementieren und zugleich die existentiellen Gefährdungen, die Bohrer an dieses Konzept knüpft, umgehen. Zeugnisse einer solchen lebensweltlichen Kunst der epistolaren Vereinigung des scheinbar Unvereinbaren jenseits der von Autor*innen dominierten Schreibpraxis werden für das 19. Jahrhundert der Forschung zunehmend zugänglich gemacht, sowohl in gedruckter Form (vgl. die Publikation der zwischen Bremen und Brasilien sich entfaltenden Liebeskorrespondenz einer bremischen Kaufmannsfamilie des frühen 19. Jahrhunderts, Klatte 2003) als auch in Gestalt von digitalisierten Archivbeständen, zum Beispiel des Leo-Baeck-Instituts (z.  B.: Moritz Koenigsberger [Fürth]: Letters to his Bride Theresia Berolzheimer in Gunzenhausen 1829–1830). Die epistolare Rezeption von Empfindsamkeit und Romantik wird dabei amalgamiert mit lebenspraktischen Erfordernissen des beginnenden Industriezeitalters. Auch die Refigurationen des Liebesbriefs in den großen literarischen Zeugnissen des 19. Jahrhunderts stehen in der von Hegel exponierten Spannung zwischen der „Poesie des Herzens“ und der „Prosa der Verhältnisse“ (Hegel 1970, 393). Dabei werden Liebesbriefe verstärkt mit Reflexion und Ironie verknüpft. Wenn Heinrich Heine formuliert „Habe mich mit Liebesreden/Festgelogen an Dein Herz,/Und, verstrickt in eignen Fäden,/Wird zum Ernste mir mein Scherz“ (Heine

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 3 Briefgenres

1975, 269), dann wird diese Figur für das moderne Liebesbewusstsein ebenso wegweisend wie die Proklamationen des Weltverdrusses bei Lord Byron oder die Konfrontation des poetischen Liebesbriefs der Tatjana in Alexander Puschkins Versroman Jewgeni Onegin (1825–1831) mit ihrer unbarmherzigen Lektüre durch den Adressaten Onegin. Vor diesem Hintergrund wird zunehmend deutlich, dass auch Liebesbriefe um 1900, die in literarischen Bezügen stehen, wie z.  B. diejenigen Caroline von Humboldts, Karoline von Günderodes, Bettina von Arnims, Caroline Schellings oder Rahel Varnhagens, durchaus gleichzeitig (und oft in einem Zuge) soziale Bezüge und subjektive Reflexionsfiguren im Sinne der romantischen Poetik zu integrieren vermögen (vgl. Berghahn 2008; Hübener 2013; Stauf 2013). Die weit über die dichotomischen Vorstellungen der Briefsteller auch des 19. Jahrhunderts hinausreichenden Spielarten des erotischen Briefes und des Liebesbriefes lassen sich an Liebeskorrespondenzen wie denen von John Keats, Anton Tschechow, Iwan Gontscharow, Hermann von Pückler-Muskau, Annette von Droste-Hülshoff, Eduard Mörike, Adalbert Stifter, Otto von Bismarck, Leopold von Sacher-Masoch, Ernst Haeckel bis hin zu Sigmund Freuds Brautbriefen demonstrieren (vgl. Lach 2012; Hübener 2008; Paulus 2015), die unbesehen der großen Spannweite individueller Ausdrucksweisen in der Grundfigur epistolarer Intensivierung einen gemeinsamen Nenner haben. Die Pluralität von Liebes- und Liebesbriefvarianten, die das 20. und 21. Jahrhundert hervorgebracht hat, ist weniger als Bruch denn als konsequente Fortführung dieser integrativen Variationsfreude unter den Bedingungen einer historisch-politischen und sozialen Dispersion von Lebensentwürfen und Lebensläufen zu verstehen. Auch nach dem oft prognostizierten Ende des Briefzeitalters lässt sich das rhetorisch-dialektische Dilemma der Liebesrede in Wort und Schrift immer wieder für Aktualisierungen intensivierter Briefrede fruchtbar machen (vgl. Barthes 1977 [1984], 65), wobei unterschiedliche Gesellschaftsmodelle und Lebenssituationen durchaus strukturbildend wirken (vgl. Illouz 2007), ohne dabei letztlich limitierend sein zu können. Dies gilt für Korrespondenzen, die die Infragestellung von Geschlechterrollen zur Voraussetzung haben (vgl. Huch 1998 [Briefe an Richard Huch]; Bachmann und Henze 2004) ebenso wie für solche, die von äußerem oder innerem Exil bestimmt sind (vgl. Arendt und Blücher 2013; Bonhoeffer und von Wedemeyer 2006) oder solche, die jenseits der Verfolgung die Permanenz der Vergangenheit erfahren (vgl. Bachmann und Celan 2008) bzw. neuen Formen des gesellschaftlichen Ausgesetztseins begegnen (vgl. Reimann und Pitschmann 2013). Die – zum Teil verlegerisch sehr erfolgreiche – Publikation dieser (und zahlreicher weiterer) Korrespondenzen lässt sich zugleich als Beleg für ein gesellschaftliches Interesse am Thema Liebesbrief deuten, dem auch populärwissenschaftliche Überblicksdarstellungen nachfolgen (vgl. Hildebrandt 2014). Die mit kürzer werdendem Abstand zur Gegenwart schwieriger zu treffende

3.10 Liebesbrief/Erotischer Brief 

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Beurteilung der aktuellen Liebesbriefkultur kann sich an Sammlungen orientieren, die Liebesbriefe aus der alltäglichen Schreibpraxis präsentieren. Dabei fällt auf, dass eine entsprechende Publikation aus der Zeit um die Jahrtausendwende die äußere, graphisch-gestalterische Farbenvielfalt von Liebesbriefen in den Vordergrund rückt (vgl. Schult 2002), wohingegen eine zehn Jahre später erschienene, die nun auch E-Mails aufnimmt, wieder sehr viel stärker am mitgeteilten Text orientiert ist (vgl. Henning und Weber 2012). In einem Forschungsprojekt der Universität Koblenz-Landau wird für eine umfangreiche Sammlung die ikonische und textuelle Repräsentation im digitalen Medium zusammengeführt und historisch, soziolinguistisch (Alter, Geschlecht) und medienlinguistisch (Briefform, Schreibmedium) ausgewertet (vgl. Wyss o.  J.).

3 Bisherige Forschung und Perspektiven Die Erforschung des Liebesbriefs als kulturgeschichtliche Entwicklungsfolge zu begreifen (vgl. Wyss 2003) erwies sich als ebenso unbefriedigend wie der Versuch, ihn rein strukturell zu systematisieren (vgl. Brenot 2000). Liebesbriefforschung kann methodisch als Teilbereich einer Schreibforschung verstanden werden, die Phänomene des ‚Zwischenraums‘ untersucht, wie er in den vergangenen Jahren kulturwissenschaftlich exponiert wurde (vgl. Stockhammer 2005; Wirth 2012; Clare et al. 2018). Wenn Schreiben als eine Praktik verstanden wird, in der und mit der das Leben der/des Schreibenden – augenblickshaft, fragmentarisch oder auch im Ritual und als Übung – spezifische Formen annimmt, die nicht allein soziale oder auch biologische Zwecke erfüllen hilft, sondern ein partielles Absehen von diesen Zwecken erkennbar werden lässt, dann lässt sich auch der Liebesbrief neu im sozialen und historischen Gefüge situieren. Der ästhetische Eigenwert der Liebesrede in Briefen tritt dabei in besonderer Weise hervor, zum Beispiel in Gestalt ihrer Wechselwirkung mit anderen Diskursformationen: familiär-alltagsbezogenen, wissenschaftlichen, juristischen, künstlerischen, religiös-ethischen. Theorien der neueren Briefforschung und Kulturgeschichte sowie der Sprach-, Kunst-, Kultur- und Medienwissenschaft lassen sich dabei mit transmedialen Ansätzen und aktuellen Ergebnissen der Subjektivitätsforschung, der Emotionsforschung und der Materialitätsforschung kombinieren und auch für eine ganz neue Betrachtung editionsphilologischer Zusammenhänge fruchtbar machen, wodurch einerseits bislang unbekannte Dokumente privaten Lebens erschlossen werden können, die wie die Briefe des Georg von und zu Gilsa an Henriette von der Malsburg die freien Verflechtungen von Liebessprache und erotischer Sprache jenseits der briefstellerischen Normen dokumentieren können (vgl. Leuschner

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 3 Briefgenres

2013), andererseits in bereits bekannten Dokumenten wie den Briefen Stefan Georges an Ida Coblenz bisher nicht wahrgenommene Figurationen der Intimität erkennbar werden lassen (vgl. Stauf 2018/2019).

Zitierte Literatur [anonym]. (1800). Briefsteller für Liebende beiderlei Geschlechts. Nebst einer kleinen Orthographie für Frauenzimmer und einem Verzeichnisse gleichlautender Wörter. Leipzig. Arendt, Hannah u. Heinrich Blücher (2013). Briefe 1936–1968. Hg. v. Lotte Köhler. München. Bachmann, Ingeborg u. Hans Werner Henze (2004). Briefe einer Freundschaft. Hg. v. Hans Höller. München. Bachmann, Ingeborg u. Paul Celan (2008). Herzzeit – Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hg. v. Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll u. Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. Barthes, Roland (1977 [1984]). Fragments d’un discours amoureux. Paris. [dt.: Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt a. M.] Berghahn, Cord-Friedrich (2008). „Das Schreiben der Liebe. Wilhelm von Humboldt und Caroline von Dacheröden“, in: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Renate Stauf, Annette Simonis u. Jörg Paulus. Berlin u. New York, 81–106. Bohrer, Karl Heinz (1987). Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München u. Wien. Bonhoeffer, Dietrich u. Maria von Wedemeyer (2006). Brautbriefe Zelle 92. 1943–1945. Hg. v. Ruth-Alice von Bismarck u. Ulrich Nabitz. München. Bray, Bernard (2001). [Art.] „Letter“, in: Encyclopedia of Life-Writing. Autobiographical and Biographical Forms. Hg. v. Margaretta Jolly. London: 551–553. Bray, Bernard (1990). „Treize propos sur la lettre d’amour“, in: L’Épistolarité à travers les siècles, 18: 40–47. Brenot, Philippe (2000). De la lettre d’amour. Paris. Clare, Jennifer, Susanne Knaller, Rita Rieger, Renate Stauf u. Toni Tholen (Hg.) (2018). Schreibprozesse im Zwischenraum. Zur Ästhetik von Textbewegungen. Heidelberg. Erasmus von Rotterdam (1980). Ausgewählte Schriften. Bd. 8. Hg. v. Werner Welzig. Darmstadt. Francisci, Erasmus (1662). Die Neu-Auffgerichtete Liebs-Cammer: Darinnen/Allerhand höflichverliebte Send-Schreiben/ an das löbliche und anmuthige Frauenzimmer/ auch andere Personen abgefasset/ und beantwortet sind. Samt einer Zugabe etlicher Schertz- und Lust-Schreiben. Nürnberg. Gellert, Christian Fürchtegott (1751). Briefe nebst einer pracktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Leipzig. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986). Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Frankfurt a. M. Heine, Heinrich (1975). Historisch kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. v. Manfred Windfuhr. Bd. 1/1: Buch der Lieder. Text. Hamburg.

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Roman Lach

3.11 Der Brautbrief 1 Begriffsbestimmung Der Brautbrief ordnet sich ein zwischen dem reinen Liebesbrief, dessen Funktion das Liebeswerben und die Vergewisserung über die Gefühle des bzw. der Anderen sind, und dem Ehebriefwechsel, in dem es um die Stabilisierung und Erhaltung der Partnerschaft geht. Eine Ehe wurde bereits vereinbart, und beide Partner bereiten sich nun auf ein gemeinsames Leben vor. Ursprünglich bezeichnete man als Brautbrief einen „von der Braut oder der Familie der Braut verfassten Brief, in dem die Mitgift beschrieben wird. Dieser Brautbrief kam damit einer schriftlichen Urkunde gleich, in der festgehalten wurde, was die Braut in den Ehestand mitbringt (Wyss 2010, 88; vgl. Deutsches Rechtswörterbuch, Bd. II, Sp. 465). Im Zuge der empfindsamen Briefkultur „wurde die Bezeichnung allerdings auch für die ‚Briefe an die Brautʻ [bzw. an den Bräutigam, d. Verf.] gebräuchlich“ (Wyss 2010, 88). Auch unter empfindsamen Vorzeichen sind Brautbriefe „Liebesbriefe in der Perspektive einer künftigen Heirat“ (Götze 2016, 184) und zeichnen sich durch diesen Doppelcharakter als Liebesbriefe aus, die zugleich einen normstiftenden Zweck erfüllen und häufig Regeln für die gemeinsame Zukunft entwerfen sollen. Als ein „funktionales Äquivalent“ für Rituale des Übergangs vom ledigen Zustand in den der Ehe wird „der Briefwechsel zwischen Brautleuten“ im 18. Jahrhundert „entdeckt (und im 19. Jahrhundert dann auch konventionalisiert)“ (Vellusig 2013, 53).

2 Systematische und historische Aspekte Häufig sah man die Funktion des Brautbriefwechsels in der „Erziehung der Braut“ (Mattenklott et al. 1988, 297) durch den zukünftigen Ehemann. „Aus dem lebendigen und leidenschaftlichen ‚Backfischʻ wird bereits vor der Ehe eine den Gatten umsorgende Ehefrau“ (Wyss 2010, 91). Berühmtes Beispiel in diesem Kontext sind die pädagogischen Brautbriefe Heinrich von Kleists an Wilhelmine von Zenge, der die Braut „unerträglich schulmeisterte“ (Gundolf 1922, 169; vgl. Schrader 1981/1982 und dagegen Jaśtal 2013, 116, die diese „Belehrung“ positiver im Sinne einer Ermöglichung weiblicher Bildung sieht). Werner Vordtriede beklagt 1946 Theodor Storms „grimmige Pedanterie und ungraziöse Humorlosigkeit“ in den Briefen an seine Braut: „Brautbriefe scheinen eine sehr genaue Goldwaage zu https://doi.org/10.1515/9783110376531-036

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 3 Briefgenres

sein, auf der man mit seinem Gewicht genau bestehen muß“ (Vordtriede 2002, 377–378). Auch Franz Kafka folgt dem Vorbild Kleists, wenn er Felice Bauer als „liebste Schülerin“ anspricht (Preece 2010, 126), und noch Dietrich Bonhoeffer gibt seiner Braut aus dem Gefängnis Literaturempfehlungen (vgl. Stock 2008, 158). Durchaus aber sind Brautbriefwechsel auch „als Ausdruck von Kämpfen um Hegemonie lesbar“ (Götze 2016, 187). Im Austausch über Literatur, Religion und Fragen des Geschmacks werden die Leitbilder und die Rollenverteilung in der zukünftigen Ehe ausgehandelt, etwa im Brautbriefwechsel Otto von Bismarck und Johanna von Puttkamer (vgl. Lach 2012, 79–100). In diesem Sinne liest das späte 19. Jahrhundert gerade auch die ersten publizierten Briefwechsel zwischen Briefschreiber*innen verschiedenen Geschlechts als schriftliche Erziehungsprogramme. So schreibt Wilhelm Fielitz in der Vorrede zum 1879 von ihm in überarbeiteter und ergänzter Form herausgegebenen Briefwechsel zwischen Friedrich von Schiller und Charlotte von Lengefeld: Wenn wir mit Recht Schillers populärstem Gedicht, der Glocke, und in ihr besonders der schönen Schilderung des Familienlebens eine Mitwirkung zuschreiben dürfen bei der Heilung des Schadens, der vor hundert Jahren an der Sittlichkeit der geistig hervorragendsten Kreise Deutschlands fraß [gemeint ist die Empfindsamkeit und konkret die der Verbindung vorangehende Dreierbeziehung zwischen Schiller, Lengefeld und Karoline von Wolzogen, d. Verf.], so müssen wir Lotten dafür danken, und die Zeugnisse des geistigen Processes, der den Dichter auch in dieser Beziehung zu dem Berufe des Volkserziehers fähig machte, dürfen nicht bloß auf unser Interesse, sondern auch auf unsere Ehrfurcht Anspruch machen. (Fielitz, Bd. 1, XI)

Zugleich konnte als aneinander vollzogener Bildungsprozess der Brautbriefwechsel zwischen Wilhelm von Humboldt und Caroline Dacheröden nach der Publikation im Jahre 1918 zu einem regelrechten „Volksbuch der inneren Bildung“ (Berghahn 2012, 201) werden, in dem sich ein „olympischer“ Diskurs realisiert, in dessen Zentrum das „hohe Paar“ steht (Berghahn 2012, 221), eine idealistische Konzeption, die die ursprüngliche Einheit der Geschlechter wiederherzustellen trachtet und auch von Friedrich Schleiermacher und Johann Gottlieb Fichte in ihren Brautbriefwechseln aufgegriffen wird (vgl. Ledanff 1991, 398–400). Die Karriere des Brautbriefs im 18. Jahrhundert geht einher mit der bürgerlichen Aufwertung der Ehe zur Liebesehe im Zuge des Idealismus (vgl. Wienfort 2014, 20; Ledanff 1991, 399) und wird begünstigt durch lange Verlobungszeiten aufgrund von Geldnot und Schwierigkeiten, ein Auskommen zu finden (vgl. Ledanff 1991, 361–362). Seine Funktion als „eheeinleitendes Ritual“ (Wyss 2010, 89) ist auch eine pädagogische. Susanne Ledanff zieht eine Parallele zum gleichzeitig aufkommenden Bildungsroman (vgl. Ledanff 1991, 367). Gerade unter diesen pädagogischen Voraussetzungen verschiebt sich in Brautbriefwechseln, wie Karen Lystra feststellt, das „symbol of ultimate significance“ von Gott auf den Partner oder die

3.11 Der Brautbrief 

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Partnerin (Lystra 1989, 8). Was Ulrike Gleixner für die Korrespondenz zwischen Charlotte Steudel (1813–1861) und ihrem Bräutigam Friedrich Dettinger (1804– 1876) konstatiert, dass sich gegenüber der „gleichberechtigte[n] Position“ beider Partner, die sich durch die „gemeinschaftliche Ausrichtung auf Gott“ bis ins frühe 19. Jahrhundert ergab, im 19. Jahrhundert allmählich „ein neues Geschlechterverhältnis“ (Gleixner 2005, 227), beruhend auf der Vorstellung „weibliche[r] Inferiorität“ (Gleixner 2005, 228), abzeichne, wird von Ledanff präzisiert, die in der sich im deutschen Brautbrief entwickelnden „Psychologie der Idealisierung“ (Ledanff 1991, 396) eine sich allmählich durchsetzende Polarisierung der Geschlechter und der diesen zugeschriebenen Charakteristika ausmacht (vgl. Ledanff 1991, 400). Oft sucht einer der Partner, meist der männliche, einen „Hausgott und Schutz­patron“ (Freud 2011–, Bd. 1, 521; vgl. Paulus 2015, 261) zu implementieren, der über die Beziehung gestellt wird und auf den immer wieder Bezug genommen werden kann. Im Brautbriefwechsel der Humboldts (vgl. Humboldt und Humboldt 1906) gibt zunächst Johann Wolfgang von Goethe der Liebe „semantisches Volumen“ (Berghahn 2012, 209), in Sigmund Freuds Briefen an Martha Bernays ist dies Gotthold Ephraim Lessing (vgl. Paulus 2015, 261), im Brautbriefwechsel der Bismarcks dagegen kommt es zu einem regelrechten Wettbewerb zwischen dem von Johanna von Puttkamer bevorzugten Jean Paul und Bismarcks Favoriten Lord Byron (vgl. Lach 2012, 139–142). Der Brautbriefwechsel unterliegt häufig der Kontrolle durch Familienangehörige (meist die Mutter der Braut), denen die Briefe vorgelesen werden. Grüße an die Familie, sogar ganze Passagen, die sich an andere Familienmitglieder richten, sind daher in vielen dieser Briefe zu finden. Laut Robert Vellusig vollzieht sich im Brautbrief ein „komplexer ‚Angliederungsprozess‘“, durch den als eine Art ‚rite de passageʻ die Anbindung an die Familie des Partners oder der Partnerin erfolge. So finden sich in Moses Mendelssohns Brautbriefen lange Nachschriften an die Familie (vgl. Vellusig 2013, 55). Passagen, die vor dem Rest der Familie geheim gehalten werden sollen, werden, etwa in Eduard Mörikes Briefen an seine Verlobte Luise Rau, dagegen durch den Vermerk „Nur für Dich“ markiert (Preece 2010, 123). Bei Bismarck findet sich auf der Rückseite eines Briefs an Johanna von Puttkamer vom 21. Februar 1847 ein auf Englisch verfasster Text, der offenbar ebenfalls von den Eltern der Braut nicht verstanden werden sollte: „Nur ein Wort noch: when you are about to grow angry, because your father indulges to the flight of [?] curiosity, then always recollect, what our dear friend M. has to suffer by that fatal and incurable incontinence of his father, and how [?] he bears it“ (Otto von Bismarck-Stiftung, NL Otto v. Bismarck, A 1, fol. 55). Es wäre zu pauschal, wie Gert Mattenklott et al. zu behaupten: „Poetisch schrieb nur ein Bräutigam an seine Braut – wie Mörike an Luise Rau –, der nicht im Ernst an die Heirat dachte. Wer es ernst meinte, war in allem Vorgefühl von

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Glück dennoch ängstlich darum besorgt, die passende Ehefrau nach seinem Bild und Sinn zu ‚formenʻ“ (Mattenklott et al. 1988, 297). Karl Heinz Götze zufolge muten viele Brautbriefe hingegen „seltsam[], schulmeisterlich“ an (Götze 2016, 183) und sind zugleich „ein bevorzugter Ort gehobener, ja hochgespannter Empfindsamkeit“, was auf die „Situation des künstlichen Gefühlsstaus“ zurückzuführen sei, aus der heraus sie geschrieben worden seien (Götze 2016, 185). Auch Ledanff spricht von einer „sprachliche[n] Intensität geboren aus Triebverzicht“ (Ledanff 1991, 383). Denn die „Grundsituation des Brautbriefwechsels“ ist Jörg Paulus zufolge die „räumliche Entfernung des Paares, das sich in der Entfernung und über das Gespräch näher kennenlernen soll – eine traditionsgebende Situation, der sich zuvor schon unzählige andere Paare stellen mussten“ (Paulus 2015, 259). Diese Entfernung ist einer Idealisierung des Partners, aber auch der Absicht, diesen nach den eigenen Vorstellungen und Wünschen zu „bilden“ (Götze 2016, 190), förderlich. So kann der Brautbriefwechsel auch als Ausgangsort der im 19.  Jahrhundert und bis in die heutige Zeit (vgl. Beck 2011) so wichtigen Konzeption der „Fernliebe“ (Hagel 2003, 90–91) verstanden werden, die in seinen Voraussetzungen angelegt ist. Schon in Maria Caroline Flachslands Briefen an Johann Gottfried Herder wird aber auch aufbegehrt gegen diese Überhöhung der Abwesenheit des Partners (Ledanff 1991, 384). Der deutsch-jüdische Kaufmann und Bankier Aron Hirsch Heymann schreibt in seinen Lebenserinnerungen (Loewe 1909) über den Brautbriefwechsel: „Zwischen dem Brautpaare  […] mußte jetzt natürlich eine lebhafte Korrespondenz die mündliche Unterhaltung ersetzen“ (Loewe 1909, 196, zit. n. Paulus 2015, 260). Wenn Julian Preece daher von einem „misuse of the genre of the ‚Brautbriefʻ“ (Preece 2010, 129) durch Kafka spricht, weil dieser die physische Begegnung mit der Braut durch lange Briefe aufzuschieben versuche, so übergeht er, dass der Aufschub eine der Funktionen des Brautbriefs ist, auf denen die formalen Eigenschaften des Genres beruhen. Während Wyss für die Mehrzahl der von ihr untersuchten deutschen und schweizerischen Brautbriefwechsel konstatiert, dass „der Briefwechsel zwischen Brautleuten üblicherweise mit der Heirat endet“ (Wyss 2010, 91), ist dies Lystra (1989) zufolge in den USA anders, wo auch nach der Eheschließung Korrespondenzen fortgeführt würden. Die Veröffentlichung von Brautbriefen beginnt (abgesehen von Friedrich Gottlieb Klopstocks Zitaten aus dem Briefwechsel mit seiner Frau in der Einleitung zu Meta Klopstocks Hinterlaßne[n] Schriften (1759)) mit dem von Lessings Bruder Karl Gotthelf 1789 herausgegebenen Freundschaftlichen Briefwechsel zwischen Gotthold Ephraim Lessing und seiner Frau (vgl. Ledanff 1991, 55), zu dessen frühen Leserinnen auch Charlotte Schiller gehörte (vgl. Ledanff 1991, 60). Hier wie in den zwei Jahre später durch den Populäraufklärer Johann Georg Heinzmann publizierten Briefe[n] eines Schweizer-Jünglings an seine Braut zeigt

3.11 Der Brautbrief 

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sich bereits der paar-pädagogische Impetus, der die Publikation und Lektüre dieser Briefwechsel bestimmt. Die Briefe, die Schiller zwischen 1788 und 1789 an seine Verlobte Charlotte von Lengefeld schrieb, werden unter dem Titel Schiller und Lotte als Liebesbriefe erstmals 1856 von deren jüngster Tochter Emilie von Gleichen-Russwurm herausgegeben. Erst in den 1850er Jahren hebt eine Reihe von Editionen an, die den Brautstand der Korrespondenten im Titel hervorheben. 1857 wird Herders Briefwechsel mit seiner Braut von deren Enkel Ferdinand Gottfried von Herder zusammen mit Heinrich Düntzer herausgegeben. Insbesondere Herders Brautbriefe stiften einige der „klassischen epistolographischen Formulierungen“ (Koschorke 2003, 240) des Genres. Die erweiterte Neuausgabe der Schillerʼschen Brautbriefe 1879 durch Wilhelm Fielitz und weitere Neuauflagen leiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen regelrechten Boom von Brautbriefeditionen ein (vgl. Preece 2010, 122–123). Von den Briefen Helmuth von Moltkes an seine Braut und Frau (vgl. Moltke 1892), Bismarcks Briefen an die Braut und Gemahlin (vgl. Bismarck 1900), einem bis in die 1920er Jahre hinein immer wieder aufgelegten, äußerst erfolgreichen Volksbuch, das zu einem beliebten Hochzeitsgeschenk wurde, über Mörikes Briefe an Luise Rau (vgl. Eggert-Windegg 1908) und Storms an Constanze Esmarch (vgl. Storm 1915), Schleiermachers an Henriette von Willich (vgl. Schleiermacher und von Willich 1919) bis zu den Brautbriefen der Fürstin Johanna von Bismarck (vgl. Bismarck 1931), die über 30 Jahre nach der Erstpublikation der Bismarck-Briefe deren Antwortschreiben aus der Zeit vor der Hochzeit öffentlich zugänglich machten (und sich im kleinen Format deutlich als intimeres, ‚weibliches‘ Gegenstück zum hausbuchhaft konzipierten Briefbuch des Bräutigams und Gatten auswiesen), erscheinen zahlreiche Korrespondenzen, die zum Teil sehr erfolgreich sind. Auch Kafka war ein eifriger Leser solcher Brautund Liebeskorrespondenzen (vgl. Preece 2010, 122–123). Im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert stehen in dieser Tradition der als beispielhaft publizierten Brautbriefwechsel noch die von dem jüdischen Theologen und Rabbiner Ismar Elbogen 1936 edierten Brautbriefe von Moses Mendelssohn und in gewisser Hinsicht auch die Brautbriefe Zelle 92, die Dietrich Bonhoeffer 1943–1945 aus der Todeszelle an seine Verlobte Maria von Wedemeyer schreibt (Bonhoeffer und von Wedemeyer 1992). Häufig werden diese von Familienangehörigen der Korrespondenten, meist den Kindern, herausgegeben, was sicher auch der Legitimation einer Übertretung des Briefgeheimnisses dient und zugleich die Aura des Privaten unterstützt, die diesen Publikationen anhaftet. Das auf fünf Bände veranschlagte Editionsprojekt des Brautbriefwechsels von Sigmund Freud und Martha Bernays (2011–) gehört sicher nicht mehr in die Reihe der Brautbriefpublikationen, die ein ehepädagogisches Ziel verfolgen, indem sie Beispielhaftigkeit beanspruchen; die Briefe selbst stehen aber Götze zufolge noch ganz in der Tradition der Brautbriefe des 19. Jahrhunderts (vgl. Götze, 2016, 187).

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3 Bisherige Forschung und Perspektiven Im Nachwort zu ihrer Edition von Brautbriefen des 18. und 19.  Jahrhunderts, der einzigen den (deutschen) Brautbrief übergreifend erfassenden Darstellung, definiert Ledanff den Brautbrief in seiner etwa 200-jährigen Geschichte  – aufgrund der gleichbleibenden Voraussetzungen seiner Funktion und des Vorbildcharakters, den publizierte Briefwechsel haben – trotz stilistischer Varianten als „einheitliche Briefgattung“ (Ledanff 1991, 369) mit einer deutschen „Brautbriefsprache“, die in „der klassischen und romantischen Epoche […] ein einmaliges geistesgeschichtliches Ereignis ist“ (Ledanff 1991, 390). Ausgehend von der Würdigung des Lessing’schen Briefwechsels mit Eva König durch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der den Aufschub der endgültigen Verbindung aufgrund der Sorge um „das hinlängliche Auskommen“ (Ledanff 1991, 359) im Unterschied zu den Verwicklungen des Bildungsromans als eigentliches retardierendes Moment ausmacht, entwickelt Ledanff die These einer sich aus der materiellen Situation, den ethischen Normen und den pädagogischen Ansprüchen des Bürgertums entwickelnden eigenständigen Gattung des Brautbriefs, die sich vom empfindsamen Liebesbrief durch diesen Hintergrund und den idealistischen Bildungsgedanken unterscheidet, der in diesen Briefen realisiert werden soll. Darüber hinaus engen die besonderen Umstände des Brautbriefwechsels diesen im bürgerlichen Kontext zwar einerseits auf die genannte Funktion ein, andererseits erlauben oder erzwingen sie auch zahlreiche Variationen und kreative Interpretationen der Form. Unter den bekannten Briefwechseln finden sich viele Beispiele dafür, dass die prekäre Situation der Ungewissheit oft zu Experimenten führt, in denen stilistisch Neuland betreten wird. Exemplarisch sind hier etwa Georg Büchner oder Mörike zu nennen, von denen besonders ersterer in den Brautbriefen an Wilhelmine Jaeglé über den Rahmen der Schreibkonvention hinausgeht, indem er eine Sprache am „Abgrund der Sprachlosigkeit“ findet, eine Sprache des bewusst riskierten Identitätsverlusts, die „aus dem Gegenpol der Großschriftstellerei und ihrer Nachahmungsversuche“ komme (Schärf 1999, 26). Auch Mörike, dessen Brautbriefe –„de[r] wohl schönste[] Liebesbriefwechsel der deutschen Literaturgeschichte“ (Holthusen 1967, 1131) – ebenfalls zum Teil stark monologisierenden Charakter haben, schreibt in den Briefen an Luise Rau praktisch über die Empfängerin hinweg auch an der zwiegespaltenen Liebeskonzeption fort, die er parallel zu dieser Beziehung in seinem Roman Maler Nolten entwirft, wodurch eine enge Verzahnung von literarischer Produktion und Korrespondenz zustande kommt (vgl. Rheinwald 1994, 45–57; Holthusen 1967, 1131). Der Brautbriefwechsel zwischen Bismarck und Johanna von Puttkamer, der in der nach den beiden Partnern gesondert publizierten Form, in der er überliefert ist, exemplarisch für die im 19. Jahrhundert aufgekommenen Konventionen zu stehen

3.11 Der Brautbrief 

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scheint – Erziehung der Braut, Überbrückung der Wartezeit und Anbindung an die Familie der Braut – offenbart erst in der Rekonstruktion des dialogischen Charakters des Briefwechsels die zahlreichen Konflikte, die hier ausgetragen werden (vgl. Lach 2012, 96–100).

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Renata Šilhánová

3.12 Der Geschäftsbrief 1 Wesen und Grundfunktion des Geschäftsbriefs Im Rahmen des alltäglichen geschäftlichen Verkehrs entsteht der Bedarf, Informationen zu übergeben bzw. diese einzuholen. Diesen Bedarf befriedigen die mündlichen oder schriftlichen Formen der betrieblichen und geschäftlichen Kommunikation, deren Grundlagen in der formal korrekten und gleichzeitig inhaltlich wirksamen Übermittlung von Informationen liegen. Im Laufe der Zeit haben die Kommunikationsformen beträchtliche Veränderungen verzeichnet. Diese Änderungen hängen mit den technischen Entwicklungen und dem immer häufigeren Einsatz von Computertechnologien im 20. und 21. Jahrhundert zusammen. Die klassischen Briefe, Telefonate oder Telegramme wurden in der Zwischenzeit durch moderne Kommunikationsmittel wie z.  B. SMS, Chatten, Videokonferenzen, elektronische Firmenzeitungen, Intranet, Angebote virtueller Unternehmen und hauptsächlich durch E-Mail ersetzt, die früher herkömmlichen handgeschriebenen Briefe machten den Weg für die computergeschriebenen Geschäftsbriefe frei. Die Nutzung des für das konkrete Anliegen passenden Kommunikationsmittels wird von vielen Faktoren bestimmt, z.  B. von Art, Inhalt oder Form der Mitteilung, Verhältnis zwischen den Kommunikationspartner*innen, Zweck und Wesen der Information usw. (vgl. Šilhánová 2011, 26). Die schriftliche Kommunikation im Rahmen des geschäftlichen bzw. behördlichen Schriftverkehrs vertritt der Geschäftsbrief, den man wie folgt definieren kann: Der Geschäftsbrief ist jede schriftliche Mitteilung kaufmännischen Inhalts, die zwischen zwei oder mehreren Geschäftspartner*innen, zwischen Unternehmen und Privatpersonen bzw. im Rahmen des innerbetrieblichen Schriftverkehrs zwischen Abteilungen, Büros oder Zweigstellen verschickt wird und die bestimmte strukturelle und formale Regeln befolgt (vgl. Šilhánová 2011, 42). Neben der rein kaufmännischen Art (Unternehmen – Unternehmen) können an der geschäftlichen Kommunikation auch die Behörden, Institutionen, Privatpersonen, Kund*innen und Unternehmen als Arbeitgeber*innen teilnehmen. Der Geschäftsbrief hat zwei wichtige Funktionen zu erfüllen, die informative und die repräsentative. Als Informationsträger sind die Geschäftsbriefe nach den aktuellsten Tendenzen sachlich und klar abzufassen und übersichtlich zu gliedern. Aus Sicht der Vertretung, der Repräsentation eines Unternehmens – oft sprich man von der Visitenkarte eines Unternehmens – unterliegen Form und Inhalt eines Geschäftsbriefs bestimmten Regeln. Die formalen Festlegungen für die Gestaltung des deutschen Geschäftsbriefs sollten der DIN 5008 entsprechen. https://doi.org/10.1515/9783110376531-037

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2 Geschichte des Geschäftsbriefes Es gibt kaum wissenschaftliche Studien über die Geschichte des deutschen Geschäftsbriefs bzw. des Geschäftsbriefs allgemein. Aufgrund der Ermittlungen und zugänglichen Informationen lassen sich die Anfänge der Geschäftskorrespondenz bis in die Zeit 4.000 v. Chr. datieren, aus der Papyrustexte entdeckt wurden, die nicht nur persönliche Mitteilungen, sondern auch offizielle Texte beinhalteten. Die Vorform des Geschäftsbriefs entwickelt sich im Mittelalter, wo die Briefe und Urkunden zwischen Kaufleuten und Klöstern ausgetauscht wurden. Diese Briefe wurden in der Sprache der kirchlichen und weltlichen Kanzleien abgefasst, in Latein, da dies die Verständigung mit Geschäftsfreunden bzw. -partnern im Ausland ermöglichte. Die stilistischen und formalen Kriterien des Schreibens hingen von den gesellschaftlichen Strukturen und Normen der Kommunikation ab und folgten den für Klöster und Kanzleien üblichen Mustern, die aus der Notwendigkeit entstanden sind, sowohl dem Sprachgebrauch als auch der äußeren Textgestalt eine einheitliche Form zu geben. Bereits im frühen Mittelalter gab es sogenannte Formelbücher oder Briefsteller (Sammlungen von Briefund Urkundenmustern und Formularen, Kanzlei- und Notariatsbücher, neulateinische Brieflehrbücher, Sekretariatsbücher), die bestimmte Regeln für die Abfassung der Texte aufstellten und Anleitungen zum Schreiben formgerechter Briefe oder zur Abfassung von Urkunden und Geschäftsbriefen enthielten (vgl. Klenk 1997, 95). Die Briefsteller hatten also die Möglichkeit, die bereits geschriebenen und bewährten Musterbriefe zu benutzen und dabei den Aufbau, die Form und den Stil einzuhalten, wobei der Wortlaut persönlich gehalten wurde. Strukturell begannen die Briefe mit einem Gruß an den Briefempfänger, dem eigentlichen Inhalt, der sich nach einem sich wiederholenden Plan richtete, am Schluss wurde die Bereitwilligkeit zu Gegendiensten versichert, und schließlich folgten ein christlicher Gruß, Unterschrift, Ort und Datum (vgl. Schirmer 1950, 97). Die schnelle Entwicklung der geschäftlichen bzw. amtlichen Schriftstücke im 14. und 15.  Jahrhundert hing mit der Entwicklung des Handelsverkehrs der Hansestädte und mit dem Bedürfnis der Kaufleute, die geschäftlichen Kontakte mit ihren Geschäftspartnern nicht nur im gesamten Deutschland, sondern auch im Ausland zu pflegen, zusammen. Über den Raum des Hansischen Städtebundes hinaus entwickelten sich deshalb die Schreibtraditionen schneller als im übrigen Deutschland und es kam hier zu einer gewissen Einigung des Schreibgebrauchs. Nach Polenz darf man in dieser Zeit „von einer niederdeutschen Schriftsprache, zumindest von einer deutschen Geschäftssprache sprechen“ (Polenz 2009, 60). Auch in dieser Zeit entstanden die Formelbücher, die „auf die Bedürfnisse des handelstreibenden, städtischen Bürgertums zugeschnitten wurden“ (Klenk 1997, 96) und die die Anweisungen für den Geschäftsverkehr beinhalteten. Der Briefstil,

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 3 Briefgenres

der bis zum Ende des 16./Anfang des 17.  Jahrhunderts eingehalten wurde, war geschäftsmäßiger und formelhafter, zeichnete sich aus durch die „strikte Einhaltung des Dispositionsschemas, ein üppiges Anrede- und Ehrenwörterzeremoniell und äußerte sich auf Satzebene im groß angelegten, vielfach untergliederten, schwerfälligen Schachtelsatz sowie auf Wortebene in sogenannten Zwillings- und Drillingsformulierungen“ (Klenk 1997, 96). Im offiziellen Schriftverkehr dominierte die lateinisch geschriebene Verwaltungskorrespondenz. Der Privatbrief unterschied sich von dem Geschäftsbrief hauptsächlich im Bereich der Stilistik. Diese Unterscheidung verstärkt sich noch im 16. bis Mitte des 17. Jahrhunderts, wo neben dem strikten und umständlichen Kanzleistil auch der für die Privatbriefe charakteristische blumige Stil der französischen Briefstilistik Anwendung findet. Der Kaufmannsstil im Barockzeitalter wurde „mit einer Fülle von Ergebenheitsbezeichnungen und Höflichkeitsversicherungen überladen. Er ahmt damit nur den allgemeinen Stil dieses galanten, durchaus höfisch eingestellten Zeitalters nach“ (Schirmer 1950, 102). Stilistisch hielt sich der Geschäftsbrief an die Schreibregeln und vorgeschriebene Formen, z.  B. wurden die Briefempfänger nicht mehr als liebe oder gute Freunde angesprochen, sondern man bevorzugte Titel und offizielle Anreden (vgl. Schirmer 1950, 202). In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts betonte Paul Jacob Marperger, der die Texte der Geschäftsbriefe, die anhand der durch Briefsteller angebotenen Muster formuliert wurden, für unzulässig hielt, die Wichtigkeit, Briefe stilistisch richtig und dem Zweck angemessen zu schreiben. Er legte drei Hauptkriterien, nach denen man beim Verfassen der Geschäftsbriefe vorgehen sollte, fest. Sehr nützlich sollte die richtige Orthographie sein, da dadurch eine möglichst große Eindeutigkeit der Aussagen erreicht werden sollte und Missverständnisse vermieden würden, die nächste Forderung ist die Schnelligkeit beim Schreiben, um eine rasche Abwicklung der Geschäfte zu sichern, und schließlich forderte er „wohlstylisierte Briefe, die leserlich und reinlich geschrieben sind“ (vgl. Ruppert 1981, 62). Den entscheidenden Durchbruch brachte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Johann Carl May mit seinem Versuch in Handlungsbriefen und großen kaufmännischen Aufsätzen nach den Gellertschen Regeln (1756), der das kulturelle Gestaltungsmuster der Geschäftsbriefe repräsentiert. May formulierte als das Stilkriterium für die Abfassung der kaufmännischen Briefe die ‚Natürlichkeit‘ und die natürliche Ausdruckweise des Gellert’schen Briefstils, die auch eine bestimmte Vertraulichkeit zwischen den Kaufleuten zeigte. Von seinen Auffassungen leitete May drei Hauptregeln ab. Erstens solle der Kaufmann so schreiben, wie er spricht. Zweitens solle er auf Verständlichkeit, eine angemessene Ordnung und Gliederung der Sachverhalte und auf Genauigkeit besonders achten, und drittens solle die Sprache ohne ausländische Sprachbrocken, umständliche Verschachtelungen und rhetorische Floskeln auskommen, um die Eindeutigkeit der Aussage

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sicherzustellen (vgl. Ruppert 1981, 64). Aus diesen drei Regeln ergibt sich, dass die Geschäftsbriefe, die damals Grundlage der geschäftlichen Beziehungen zwischen den örtlich abwesenden Unternehmen waren, praxisbezogen, zweckorientiert und geschmackvoll sein sollten. Gegenüber den Auffassungen zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstanden die Geschäftsbriefe nicht mehr nach den vorgegebenen standardisierten Ausdruckmustern, sondern folgten der Tendenz zur Individualisierung, die die Kommunikationsform prägte (vgl. Ruppert 1981, 64). Es ist an dieser Stelle zu bemerken, dass man in der Forschung tendenziell eher davon spricht, dass im 18. Jahrhundert nicht grundsätzlich standardisierte Muster wegfallen, sondern neue, Natürlichkeit und Individualität propagierende Muster an die Stelle der alten treten. Wesentliche Merkmale des Geschäftsbriefs und seines Wandels im 18. Jahrhundert hat Wolfgang Ruppert herausgestellt: Der Stil des Briefes galt als Ausdruck für die Persönlichkeit. Ein Kaufmann, der gut und richtig geschriebene Briefe abfassen konnte, die der Adressat, also der Geschäftsfreund, leicht und mit Vergnügen lesen konnte, steigerte damit sein Ansehen, er gewann Vertrauen. Wurde dagegen das Brieflesen zur Qual, waren die Sätze umständlich und hölzern formuliert und kaum zu entziffern, so war dies für den Kontakt nicht gerade förderlich. (Ruppert 1981, 61–62)

Wichtig war nach Ruppert der Gesamteindruck, den man besonders bei weiteren Entfernungen, bei denen der Brief die einzige Form der Kommunikation darstellte, gewinnen konnte. Eine wichtige Rolle im 18. Jahrhundert spielten die Börse und die Messen, die die Möglichkeit gewährten, Informationen zu sammeln und das Geschäftsnetz aufzubauen. Zu nennen sind wenigstens die Leipziger Ostermesse und die Frankfurter Messe. Die mündlichen Messeverhandlungen über Angebote, Lieferungen, Arbeitsformen usw., die zum Pflegen der bestehenden und zum Anknüpfen neuer Geschäftsbeziehungen führten, mussten nachher schriftlich gefestigt werden, und zwar mittels Geschäftsbriefen. Über den Geschäftsbrief dieser Zeit bzw. über die Regeln, Normen oder Gewohnheiten der Geschäftsbriefe gibt es kaum wissenschaftliche Studien, man kann nur vermuten, welche Rolle der geschäftliche Briefwechsel in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft spielte. Der Grund dieser Lücke kann die Tatsache sein, dass die Geschäftsbriefe nicht der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wurden, wie es übrigens auch heute der Fall ist (vgl. Faulstich 2002, 83). Die Rolle des Geschäftsbriefs war mit Hinblick auf die Ausweitung des Handels, den sich entwickelnden Kapitalismus und später auch auf die Erfindung des ‚Schreibklaviers‘ sehr bedeutend. Die schriftliche Kommunikation der Fachleute zeichnete sich durch präzise Ausdruckweise, Verständlichkeit, Kürze,

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 3 Briefgenres

Rationalität und durch den zweckmäßigen Geschäftsstil aus. Daneben beinhalteten die Geschäftsbriefe oft auch viele unnötige Formeln, „die zur Zeit ihrer Entstehung bei den Lombarden sinnvoll gewesen, jedoch funktionslos geworden seien“ (Ruppert 1981, 60). Das 19.  Jahrhundert, Zeitalter des Imperialismus, der Industrialisierung, kapitalistischen Wirtschaftsweise, Städte-Entwicklung, Auswanderung und Mobilität, gilt gleichzeitig als das Jahrhundert der Korrespondenz. Die Entwicklung der Industrie, des Freihandels, des Bauwesens oder die Konzernbildungen und die Tatsache, dass die Unternehmer und Geschäftsleute zum wichtigen Teil des Bürgertums wurden, brachten auch intensivere geschäftliche Beziehungen und damit den erhöhten Bedarf an geschäftlicher Kommunikation mit sich. Die große Mobilität der Bevölkerung im 19. Jahrhundert (Auswanderungswellen) und die vielen Kriege bringen ein reges Briefschreiben auch zwischen Menschen mit sich, die nur über sehr geringe Schreibkompetenz verfügen. In diesem Zeitraum und zu Beginn der Moderne, d.  h. im ausgehenden 19. Jahrhundert, hat sich in Europa die Schriftlichkeit auf breiter gesellschaftlicher Basis durchgesetzt. Der Briefwechsel nahm in dieser Periode stark zu, es wurden gleichlautende Briefe an mehrere Empfänger geschickt. Der Stil der Geschäftsbriefe erlangte offiziellen Charakter, und in Bezug auf die zunehmende Knappheit, Klarheit und Kürze der Darstellung bedurfte er neuer Normen, die mit den neuen Anforderungen der Industrie zusammenhingen. In dieser Epoche entstanden neue Berufe wie Prokurist, Korrespondent, Bürodiener, die auch spezieller Büroräume bedurften. Mit der Schreibmaschine änderte sich auch die Position der Frauen, die nun verstärkt in das Berufsleben eintraten. Die Effizienz der administrativen Leistungen beschleunigte die Verbreitung der Stenografie und generell einer einheitlichen Schrift (vgl. Šilhánová 2011, 35–36). Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zeichnet sich durch Sachlichkeit und Vereinfachung der Briefformen im Geschäftsverkehr aus. Seit den 1950er Jahren wird zunächst in Privatbriefe, später verstärkt in Geschäftsbriefe auch Bildmaterial in Form von Symbolen, Zeichen oder einfacher Skizzen integriert, seit den 1970ern kommt vorgedrucktes Briefpapier zur Anwendung, nach 1980 wurde langsam die Kommunikation mittels Faxdienst eingeführt und ab etwa 1990 war der per Fax zugestellte Brief das wichtigste Mittel der schriftlichen Kommunikation zwischen Unternehmen. „Die Gleichzeitigkeit von Senden und Empfangen eines Schreibens verursachte den zu Beginn faszinierenden und sich beschleunigenden Briefwechsel“ (Šilhánová 2011, 36), der mit der Verbreitung des Internets ab Mitte der 1990er Jahre durch die E-Mail „als effiziente und kostengünstige Variante zum klassischen Brief“ (Šilhánová 2011, 36) verdrängt wurde. Die E-Mail wird in ihren Anfängen vor allem für die persönliche Kommunikation genutzt, erst seit Ende der 1990er Jahre kamen auch halboffizielle Textsorten und Werbemails dazu.

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Das 20. Jahrhundert bringt markante Änderungen im Sprachgebrauch, was sich anhand der Textsorte Brief nachzeichnen lässt. Dieser Sprachgebrauchswandel „ist geprägt von einer raschen Ausdifferenzierung von Text- und Gesprächsformen im Spannungsfeld zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ (Schmitz, 2002, 5). Das Briefeschreiben, das durch neue Schreibmedien des 19. und 20. Jahrhunderts – von der Schreibmaschine über das Faxgerät bis hin zum Computer mit Internetanschluss – vereinfacht wurde, führt zu einer Vervielfältigung der Textsorten ebenso wie auch zur Auffächerung in eine Vielzahl von Briefsorten in privaten, geschäftlichen und öffentlichen Handlungsbereichen. Es entstand der „Spielraum und Variantenreichtum zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zwischen dem formellen und freien Formulieren“, der dank der immer schnelleren Technik, der medialen, aber auch sozialen und politischen Entwicklungen, noch mehr erweitert wurde (Schmitz 2002, 5).

3 Standards des deutschen Geschäftsbriefs Einerseits unterliegt der gegenwärtige Geschäftsbrief festen formalen und strukturellen Regeln und Normen, die in der DIN 5008 verankert sind, andererseits dominieren stilistische, lexikalische bzw. syntaktische Gewohnheiten. Die DIN 5008 legt die grundlegenden Schreib- und Gestaltungsregeln für die Textverarbeitung fest, deren Einhaltung keine Pflicht, sondern lediglich Empfehlung bzw. Leitfaden dafür ist, wie man den Text zweckmäßig, lesefreundlich und verständlich gestaltet. Die ersten festen Normen für die Gestaltung der Geschäftsbriefe „Richtlinien für die Behandlung von Geschäftspost“ (Halberstaedter 1928) wurden im Jahre 1928 herausgegeben, im Jahre 1930 folgte das Merkblatt 1 „Der Geschäftsbrief“ der Arbeitsgemeinschaft für wirtschaftliche Verwaltung und im Jahre 1949 das Merkblatt 2 „Regeln für Maschinenschreiben“. Die DIN 5008 erschien im Jahre 1949 und wurde seitdem mehrmals aktualisiert, wobei die letzte Aktualisierung, die die zusätzlich geltende „DIN 676  – Gestaltungsnorm für Geschäftsbriefe“ integriert, vom April 2011 stammt. Seit 1996 berücksichtigt diese Norm die PC-Textverarbeitungsprogramme und seit 2001 wurde auch die E-Mail als Geschäftsbriefersatz aufgenommen. Gleichzeitig erhielt die E-Mail mit Signaturgesetz und -verordnung die rechtliche Grundlage zu rechtsverbindlicher Nutzung. Die Norm 5008 legt nur den formalen Aufbau des Geschäftsbriefs und dessen strukturelle Regeln für die zweckmäßige und übersichtliche Gestaltung fest; sie regelt z.  B. Adressfeld, Bezugszeichen, Datum, Betreff, Anrede, Grußform usw. Diese Norm schreibt keinen Korrespondenzstil vor.

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4 Gebrauchstextsorte und Textsorten des geschäftlichen Schriftverkehrs Vom Gesichtspunkt des Texttyps fallen die Geschäftsbriefe primär in die Kategorie der Gebrauchstexte bzw. -textsorten, d.  h. der nichtliterarischen, mit der Alltagssprache und Fachsprache sich berührenden Texte der Alltagsroutine. Mit der Definition der Gebrauchstextsorten und der Abgrenzung dieser Texte gegenüber anderen Texttypen haben sich u.  a. Steger (1984), Eckard (1993) bzw. Brinker (1992) beschäftigt; die schlüssige, den Geschäftsbrief betreffende Definition legt Annikki Koskensalo vor: „Gebrauchstextsorten sind konventionell geltende Muster für komplexere Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen thematischen und semantisch-syntaktischen Merkmalen beschreiben“ (Koskensalo 2002, 48). Die Gebrauchstextsorten erleichtern hinsichtlich ihres praktischen Zwecks die sprachlichen Äußerungen und den kommunikativen Umgang, „indem sie beispielsweise den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für die Produktion und Rezeption von (schriftlichen) Geschäftsbrief-Texten geben“ (Koskensalo 2002, 48). Die primäre Funktion des Geschäftsbriefs besteht darin, Informationen zwischen den Geschäftspartner*innen auszutauschen, diese gegenseitig in Kenntnis zu setzen bzw. sie zur Ausführung bestimmter Handlungen zu bewegen. Bei Übermittlung der Informationen bedient sich diese Textsorte verschiedener sprachlicher, stilistischer und lexikalischer Mittel, die auf weitere Aspekte der Kommunikationssituation zurückzuführen sind. Somit zählt der Geschäftsbrief zu den Textsorten, „die aber dann je nach funktionaler Verwendung (welche Funktion das Schreiben in der Geschäftsbeziehung primär erfüllt), Kommunikationssituation, Partnerbeziehung, Stellung im Geschäftskorrespondenzprozess, Geschäftsphase (Angebot- oder Auftragsphase) eine jeweilig andere (sprachliche) dominierende Textfunktion haben“ (Koskensalo 2002, 54). Aus der Perspektive z.  B. der Kommunikationspartner*innen unterscheidet man, ob es sich bei der Kommunikation um einander noch unbekannte oder langjährig zusammenarbeitende Geschäftspartner*innen handelt, ob die Korrespondenz zwischen Fachleuten oder zwischen einem Unternehmen und Verbraucher*innen erfolgt. Genauso entwickeln sich die Struktur, der Stil, die lexikalischen und syntaktischen Mittel vom Typ der Kommunikation, die man in die brancheninterne und -externe Firmazu-Firma-Geschäftskorrespondenz, institutionelle Geschäftskorrespondenz, Handelsanbahnungskommunikation und genuine Kundenkommunikation mit nichtbranchen- bzw. Handelsusus-vertrauten Kund*innen/Verkäufer*innen unterteilt. Alle diese Typen bedienen sich jedoch in unterschiedlichem Maße sowohl der

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Fachsprache (Fachjargon und -termini, kaufmännisch-wirtschaftliche, handelsrechtliche, semi-professionelle und technische Ausdrücke) als auch der gemeinsprachlichen Ausdrücke (vgl. Koskensalo 2002). Koskensalo zählt den Geschäftsbrief zu den „situativ-funktional wechselnden Textsorten“ (Koskensalo 2002, 54). Die Variabilität und Vielfältigkeit lässt sich an der Vielzahl von GeschäftsbriefTextsorten beobachten, die in Anlehnung an Buhlmann und Fearns (2000, 307) folgendermaßen in drei Gruppen gegliedert werden: (1) Textsorten der firmenexternen Kommunikation: Kontaktaufnahme, Voranfrage, Anfrage, Angebot, wiederholtes Angebot, Bestellung/Auftrag, Auftragsannahme, Auftragsbestätigung, Annahmeverzug, Zurückziehung/Ablehnung eines Auftrags, Bestätigung über Wareneingang, Terminbestätigung, Versandanzeige, Lieferschein, Eingangsbestätigung, Kreditauskunftsersuchen, Mahnung, Reklamation, Zahlungserinnerung, Zahlungsanzeige, Zahlungsaufforderung, Mahnung, Antwort auf Mahnung, Beschwerde, Reklamation oder Mängelrüge Geschäftsbedingungen, Zahlungs- und Lieferbedingungen, Verträge und Vereinbarungen usw. (2) Textsorten der innenbetrieblichen Kommunikation Rundschreiben, Bericht, Analyse, Protokoll aus der Sitzung, Aktennotiz, Statistik, Arbeitsvertrag usw. Einige Schriftstücke dienen primär dem Verfasser als persönliche Erinnerungsstützen (Gesprächsnotizen, Memos), im Bedarfsfall werden sie jedoch mittels der Kanäle der innerbetrieblichen Kommunikation weitergegeben und bearbeitet, manchmal werden sie sogar aktenkundig gemacht. (3) Textsorten in der Kommunikation zwischen Unternehmen sowie Ämtern und Behörden Briefe mit eher appellativer Funktion, wie z.  B. Antrag, amtliche Verfügung, behördliche Maßnahme, Verordnung; hierher gehören ebenfalls Werbebrief, Klage, Reklamation, Mahnung, Bittschreiben usw.

5 Textmerkmale des Geschäftsbriefs Heutzutage erfüllt der Geschäftsbrief bestimmte Kriterien, die im „Hamburger Verständlichkeitskonzept“ (1973) von Friedemann Schulz von Thun verankert sind. Dieses Konzept wurde mit dem Ziel entwickelt, die grundlegenden Textmerkmale festzustellen, die sich auf die Verständlichkeit der Texte auswirken und die den Verfasser dazu führen, effektive und verständliche Texte zu gestalten, was für den

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Geschäftsbrief fundamental ist. Diese vier Merkmale sind: Einfachheit (einfache, kurze Sätze mit neun bis 13 Wörtern, geläufige und kurze Begriffe, Verzicht auf überflüssige Fremdwörter usw.); Gliederung und Ordnung (folgerichtiger inhaltlicher Aufbau, übersichtliche optische Gliederung, ein Gedanke pro Satz usw.), Kürze und Prägnanz (kein weitschweifiger oder umgekehrt extrem knapper Text, erkennbares Ziel der Mitteilung, Verwendung von Verben anstatt Substantiven usw.); anregende Zusätze (Beispiele, Illustrationen, Analogien, die persönliche Anrede der Leser*innen usw.). Der heutige Stil der Geschäftsbriefe zeichnet sich also durch allgemeine Vereinfachung der Formulierungen und Bestreben nach Kürze und Verständlichkeit aus. Teilweise lässt sich diese Entwicklung auf die durch Computerkommunikation eingeführten Textsorten und Gesprächsformen, wie die E-Mail, die gegenüber dem klassischen Geschäftsbrief für alltägliche Situationen im Geschäftsleben bevorzugt wird, zurückführen. Obwohl die E-Mail für eine Kommunikationsform gehalten wird, die sich durch ihre Nähe zur Mündlichkeit auszeichnet, verfügt sie genauso wie der klassische Brief über die gleichen konstitutiven Textstrukturelemente wie Anrede, Textkörper und Grußformeln, und genauso wie auch der Brief erfüllt sie den rechtlichen Aspekt (siehe die Beweiskraft der E-Mail). Da die E-Mail heutzutage die meistgebrauchte Form der schriftlichen Kommunikation im Geschäftsleben geworden ist, sind einige allgemeine Merkmale der E-MailKommunikation aufzulisten: Zu den außersprachlichen Merkmalen der E-MailKorrespondenz zählen z.  B. die Dialogizität, Schnelligkeit, Vereinfachung des Briefverkehrs, Kostenersparnis; die sprachlichen Merkmale sind z.  B. informelle Anrede- und Schlussformen, kurze, oft elliptische Sätze, Assimilations- und Reduktionsformen, umgangssprachliche Ausdruckweise, Unterlassen der Korrekturen, Tippfehler, orthographische Besonderheiten, Weglassung von Interpunktionszeichen, Anglizismen, Expressivität durch Akronyme und Smileys usw. (vgl. Eichhof-Cyrus 2000, 60).

6 Vereinfachung der Kommunikation Zur Vereinfachung der Kommunikation im Bereich der Geschäftsroutine und Reduzierung des Arbeits- und Zeitaufwands bei der Abwicklung der Geschäfte tragen auch andere moderne Mittel bei wie bspw. die Schablonen, Formulare, Vordrucke bzw. die sogenannten Eingabemasken, die meistens online vermittelt werden. Diese Mittel ermöglichen eine schnelle Ergänzung der erforderlichen Angaben (z.  B. Anfrage, Bestellung), ohne dass ein eigenes Schreiben zu formulieren wäre; überdies garantieren sie die Präzision und Exaktheit der Angaben,

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die nachfolgend schnell bearbeitet werden können. Eine Vereinfachung der klassischen Geschäftsbriefe hingegen bringen die sogenannten Textbausteine, d.  h. vorgefertigte und bewährte Formulierungen, die in den jeweiligen Textsorten wiederkehrende Verwendung finden. Sie können in andere Texte eingefügt werden und sparen die Abfassung von gleichartigen Sätzen oder ganzen Absätzen, die sich in diesen Texten wiederholen (Auftragsbestätigung, Mahnung, Antworten an Kund*innen u.  a.). Darüber hinaus ermöglichen die modernen Textverarbeitungssysteme eine einfache Durchführung von Korrekturen, Änderungen, Kopieren von ganzen Textpassagen, Einfügung von Texten, Speicherung usw. Auch die sprachliche Ebene durchlief beträchtliche Veränderungen. Das Streben nach Höflichkeit, die unnatürliche Förmlichkeiten und veraltete Aus­ drücke mit sich brachte, wurde durch eine der Mündlichkeit nahe lebende Sprache und entsprechende Umgangsformen ersetzt. Die Tendenzen zu Kürze und Verständlichkeit lassen sich bei folgenden Erscheinungen beobachten: Wortwahl (Rückäußerung  – Antwort; Benachrichtigung  – Nachricht); Funktionsverbgefüge (in Abzug bringen  – abziehen; zur Eintragung bringen  – eintragen), Bevorzugung der Verben vor dem Nominalstil genauso wie auch die Verwendung des Aktivs anstatt von passivischen Konstruktionen, Verzicht auf attributive Partizipien, Phraseologismen, Floskeln und Papierwörter. In Anbetracht aller dieser Tendenzen, die nach Ausdrucksökonomie streben, gibt es bei bestimmten Anlässen immer noch den Bedarf, die offizielle und höfliche Ausdrucksweise zu bevorzugen (Briefe an das Gericht, Notar, neue Kunden, offizielle Erklärungen und Mitteilungen usw.). In solchen Schriftstücken kommen gerade die Höflichkeitsformulierungen, phraseologische Termini, Verb-Nomen-Kollokationen oder sogar die Floskeln oft zum Ausdruck. Der Funktion nach bedient sich der Geschäftsbrief auf der lexikalischen Ebene selbstverständlich des Fachwortschatzes diverser Handlungsbereiche: des Bankwesens, Rechnungswesens, Marketings, Außenhandels usw., was sich in der funktional markierten Lexik widerspiegelt. Spezifische Formen und Standardcharakteristika kommen auch auf der grammatisch-morphosyntaktischen Ebene zur Anwendung, siehe z.  B. die Nominalisierungstendenzen, Funktionsverbgefüge, typisierte Anrede- und Schlussformen, nach- und vorangestellte attributive Partizipien, Modalverben, Konjunktive usw. Der frühe Kanzleistil, der nachfolgende Geschäftsstil des 17. Jahrhunderts und der heutige geschäftliche Schriftverkehr haben viele Änderungen verzeichnet: Verzicht auf überflüssige und übertriebene Höflichkeitsformeln, auf veraltete Wörter, die sogenannten Vorreiter (überflüssige Einleitungssätze), umständliche Satzgefüge mit zahlreichen Nebensätzen und Einschachtelungen, Anpassung an die Bedürfnisse der Geschäftsleute usw. Der Geschäftsbrief reagierte immer auf die aktuellen Bedürfnisse des geschäftlichen Verkehrs und erfüllte fortlaufend

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die „Grundanforderungen des Sprachgebrauchs im Wirtschaftsleben, nämlich Klarheit, Vollständigkeit, Kürze und Wirkung“ (Schirmer 1950, 109), was demzufolge verschiedene Stilformen mit sich bringt, und zwar den Sachstil und den Wirkungsstil. Der Sachstil zeichnet sich durch einfache und zweckmäßige sprachliche Formen aus, bringt die Informationen in einer feststehenden Reihenfolge des Gedankenaufbaus, die Mitteilungen sind für beide Partner*innen weniger zeitaufwendig und bedienen sich vereinfachender Mittel wie z.  B. Vordrucken, Schablonen, PC. Jedoch nicht nur der Inhalt und die Struktur des Briefs sind von Wichtigkeit, sondern die weitere Aufgabe des Geschäftsbriefs ist es, den bzw. die Empfänger*in zu bestimmter Handlung zu bewegen (antworten, bestellen, Preis mitteilen, Informationen unterbreiten). In dieser Hinsicht spricht man von dem Wirkungsstil, der mithilfe von entsprechenden sprachlichen Mitteln psychologischen Druck auf die Rezipient*innen ausübt. Denn heutzutage genügt es nicht, Empfänger*innen einen formal richtigen Standardbrief, der alle formalen, stilistischen, grammatischen oder syntaktischen Erfordernisse erfüllt, zu übermitteln, vielmehr wird Nachdruck auf die pragmatisch-kommunikativen Aspekte, d.  h. darauf gelegt, Briefempfänger*innen anzusprechen und seine bzw. ihre Interessen und Anforderungen widerzuspiegeln (vgl. Böhler und Klumpp 2001, 54).

Zitierte Literatur Böhler, Gerhild u. Susanne Klumpp (2001). Kundenorientierter Stil für jeden Geschäftsbrief. Landsberg. Brinker, Klaus (2005 [1985]). Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. Berlin. Buhlmann, Rosemarie u. Anneliese Fearns (2000). Handbuch des Fachsprachenunterrichts. Tübingen. Eckard, Rolf (1993). Die Funktionen der Gebrauchstextsorten. Berlin u. New York. Eichhof-Cyrus, Karin M. (2000). „Vom Briefsteller zur Nettikette: Textsorten gestern und heute“, in: Die deutsche Sprache zur Jahrhundertwende. Sprachkultur oder Sprachverfall? Thema Deutsch. Hg. v. Karin M. Eichhof-Cyrus u. Rudolf Hoberg. Mannheim u.  a.: 53–88. Faulstich, Werner (2002). Die bürgerliche Mediengesellschaft 1700–1830. Göttingen. Halberstaedter, Hermann (1928). Richtlinien für die Behandlung der Geschäftspost (Post­ behandlungsplan). Berlin. Klenk, Marion (1997). Sprache im Kontext sozialer Lebenswelt. Eine Untersuchung zur Arbeiterschriftsprache im 19. Jahrhundert. Tübingen. Koskensalo, Annikki (2002). Der Geschäftsbrief. Zur funktionalen Erklärung einer Textsorte in der Linguistik der Wirtschaftskommunikation. Tostedt. May, Johann Carl (1794 [1756]). Versuch in Handlungsbriefen und großen kaufmännischen Aufsätzen nach den Gellertschen Regeln. Nebst einer Abhandlung von dem guten Geschmack in Handlungsbriefen. Lübeck.

3.12 Der Geschäftsbrief 

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Nickisch, Reinhard M. G. (1991 [1961]). Brief. Stuttgart. Polenz, Peter von (102009 [1961]). Geschichte der deutschen Sprache. Berlin. Ruppert, Wolfgang (1981). Bürgerlicher Wandel. Studien zur Herausbildung einer nationalen deutschen Kultur. Frankfurt a. M. u. New York. Schirmer, Alfred (1950). Der Sprach- und Schriftverkehr der Wirtschaft. Wiesbaden. Schmitz, Ulrich (2002). „E-Mails kommen in die Jahre. Telefonbriefe auf dem Weg zu sprachlicher Normalität“, in: Kommunikationsform E-Mail. Hg. v. Arne Ziegler u. Christa Dürscheid. Tübingen: 33–56. Šilhánová, Renata (2011). Lexikalische und phraseologische Aspekte der Textsorte Geschäftsbrief. Zlín. Steger, Hugo (1984). „Sprachgeschichte als Geschichte der Textsorten/Texttypen und ihrer kommunikativen Bezugsbereiche“, in: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und deren Erforschung. Hg. v. Werner Besch, Oskar Reichmann u. Stefan Sonderegger. Berlin u. New York: 186–204.

Marie-Helene Wichmann

3.13 Der Werbebrief – von ‚König Kunde‘ zum persönlichen Brieffreund? Die schriftliche Kommunikation mittels Brief im umgangssprachlichen Sinne ist im 21. Jahrhundert nicht nur in der privaten Korrespondenz eine wichtige Alltagspraxis, sondern auch in der Wirtschaft. Werden Schreiben wie Rechnungen und Angebote inzwischen oft auch als digitale Post verschickt, so spielt der konventionelle, postalisch zugestellte Brief aber im Direktmarketing oder Dialogmarketing, also in Werbemaßnahmen mit direkter Ansprache der bestehenden und potentiellen Kund*innen zur Kundenbeziehungspflege, immer noch jene bedeutende Rolle, die er bereits im 18. Jahrhundert „für Handel und Warenverkehr ebenso wie für Verkehr von Schrifttum und schriftlichem Gedankenaustausch“ (Sträter 1991, 9) hatte. Daher forderte Reinhold G. Stecher (1969, 11–12) bereits, dass der Werbebrief aufgrund seiner Bedeutung Teil einer „Biographie des Briefes“ sein müsste. Kaum ein Privathaushalt, der heute nicht nahezu jeden Tag personalisierte Werbepost erhält – vom individualisierten Angebot bis hin zur persönlich unterschriebenen, gar kommentierten Glückwunschkarte (vgl. Bausinger 1996, 297). Ist aber der Werbebrief ein Briefgenre? Ob und aufgrund welcher Faktoren und Umstände der Werbebrief als Briefgenre betrachtet werden kann, soll hier heuristisch diskutiert werden. Dazu wird vor allem auf Lehr- und Übungsbücher, Werbebriefsammlungen und Marketingpublikationen zurückgegriffen. Bis ins 14. Jahrhundert hinein waren Kaufmannsbriefe und Geschäftsbücher in Deutschland in lateinischer Sprache verfasst, die Kaufleute oft von gebildeten Schreibkräften verfassen ließen (vgl. Schirmer 1952, 97), und der „älteste erhaltene deutsche Briefeschreibe-Ratgeber stammt aus dem Jahre 1483“ (Bittner 2014, 48). Als dann laut Schirmer (1952, 98) gegen Ende des 14. Jahrhunderts die deutsche Sprache im kaufmännischen Geschäftsbrief aufkam, wurden Stil und Aufbauprinzip aus dem lateinischen Geschäftsbrief übernommen, aber um einen „sehr [frommen] Ton“ und „zahlreiche persönliche Wendungen“ ergänzt, was „kennzeichnend für diese ältesten deutschen Kaufmannsbriefe“ sei (Schirmer 1952, 99): „Im 16. Jahrhundert wird der kaufmännische Stil geschäftsmäßiger und formelhafter, wenn er auch noch manchen persönlichen Bezug beibehält. Die stilistische Scheidung von Privatbrief und geschäftlichem Schreiben wird deutlich.“ (Schirmer 1952, 101) Dazu kam im 17. Jahrhundert ein starker Einfluss auf Geschäftsbriefe seitens des amtssprachlichen Briefes (vgl. Schirmer 1952, 106), „den die Germanistik nicht ohne Abscheu Kanzleistil apostrophiert“ (Delilkhan 1991, 24). So kam der „Kaufmannsstil“ fortan ohne „jede persönliche Prägung der Sprache“ aus und beschränkte sich „auf die nüchterne Mitteilung von Sachverhttps://doi.org/10.1515/9783110376531-038

3.13 Der Werbebrief – von ‚König Kunde‘ zum persönlichen Brieffreund? 

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halten“ (Schirmer 1952, 9) – und verzichtete kaum mehr auf kaufmännische Fachwörter (vgl. Schirmer 1952, 101). Mit dem 17. Jahrhundert wurden aber ästhetische Erwartungen an den Brief geknüpft (vgl. Schirmer 1952, 29). Diesen Ansprüchen konnte der kaufmännische Angebotsbrief als Alltagsbrief nicht genügen, da er nicht als Kunstwerk angelegt ist (vgl. Bürgel 1976, 290), sondern „den Empfänger in den Mittelpunkt des Diskurses [stellt]“ und dazu „Gruß- und Höflichkeitsformeln  […] einen breiten Raum“ einnehmen lässt (Delilkhan 1991, 24). Diese barocke, heute als schwülstig wahrgenommene Höflichkeitskultur schlägt sich im kaufmännischen Geschäftsbrief in Form „einer Fülle von Ergebenheitsbezeigungen und Höflichkeitsversicherungen“ ganz im „Stil des galanten, durchaus höfisch eingestellten Zeitalters“ nieder (Schirmer 1952, 102). Der gesellschaftliche Stellenwert eines Briefes wird auch anhand der Versandkosten deutlich: Das Versenden eines Briefes kostete damals so viel, wie eine Köchin als Wochenlohn verdiente – und musste zu Beginn des Postwesens vom Empfänger gezahlt werden (vgl. Bittner 2014, 48). Im Zuge der Aufklärung setzten Bestrebungen ein, wieder „Klarheit und Natürlichkeit“ ohne „Fremdwörterwulst“ (Bittner 2014, 104–105) in den Geschäftsbrief einziehen zu lassen. Somit gehörte der nicht-literarische (und daher gering geschätzte) deutschsprachige Kanzlei- und Konversationsstil wohl laut Rohith-Gerald Delilkhan (1991, 24, 26) „zu den Voraussetzungen des neuen deutschen Briefes, der im 18. Jahrhundert [entstand]“.

1 Geschäftsbrief und Werbebrief Zwar ist der Brief die Grundform der Quellengattung der Verkehrsschriftstücke (vgl. Schmid 1988, 3), doch sind Geschäftsbriefe, zu denen der Werbe- oder Verkaufsbrief zweifelsohne zählt, aufgrund ihres Entstehungsmotivs und ihrer Funktion zunächst grundsätzlich vom Brief zu unterscheiden, da auf der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert eine Wende in der Wirtschaft hin zu einer „verwaltungsmäßigen Organisation und einer dementsprechenden Schriftgutführung“ (Schmid 1988, 3) einsetzte, in die sicherlich auch das Aufkommen kaufmännischer Vordrucke einzuordnen ist (vgl. Schirmer 1952, 105). Diese ist dadurch charakterisiert, dass die – ursprünglich vom Firmenchef persönlich geschriebenen – Briefe fortan von Angestellten in dessen Auftrag verfasst wurden (vgl. Schmid 1988, 3–4). Schirmer (1952, 158) konstatiert, dass „Werbebriefe im eigentlichen Sinne“ vor dem Ersten Weltkrieg kaum bekannt waren, „ihre Stelle ersetzen gedruckte Rundschreiben oder schlecht vervielfältigte ‚Offertschreiben‘“. Zudem entwickelten sich im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert neue Formen der wirtschaftlichen Ausdrucksweise durch den stilistischen Einfluss des Werbewesens, die sich deut-

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lich vom Kaufmannsstil unterscheiden – so zählt Betcke (1923) in seinem Buch Der kaufmännische Stil die Massenofferte nicht zur Reklame. Im Folgenden werden die Beiträge des Werbebriefwettbewerbs der Züricher Zeitschrift Der Organisator, die „[auf] deutschem Sprachgebiet […] besonders um die Förderung der brieflichen Kundenwerbung bemüht gewesen [ist]“ (Schirmer 1952, 158), näher betrachtet. Trotz Massenherstellung soll ein Werbebrief „den einzelnen Empfänger dennoch mit der Kraft eines persönlich an ihn gerichteten und für ihn geschriebenen Briefes“ (Schirmer 1952, 158) erreichen. Als Indiz für ein persönliches Schreiben könnte die handschriftliche Signatur des Absenders betrachtet werden. In der zweiten Sammlung Schweizer Werbebriefe von 1924, die der Verlag Organisator A.-G. herausgegeben hat und die prämierte Werbebriefe enthält, findet sich als zweitprämierter Werbebrief ausgerechnet der eines Vervielfältigungs- und Adressen-Bureaus, das die eigene Arbeit wie folgt anpreist: „[…] in einer Schrift, die jedenfalls derjenigen Ihrer Schreibmaschine nicht nachsteht. […] Irgendwo müssen Sie ihre Werbebriefe, Preislisten etc. vervielfältigen lassen.“ (Verlag Organisator 1924, 12) Diese Geschäftskundenwerbung ist dabei mit einer Unterschrift des im Briefkopf angegebenen Eigentümers versehen. Postuliert diese Unterschrift nun die persönliche Ansprache durch den Absender oder sein exklusives, persönliches Angebot an den Empfänger? Dies darf wohl bezweifelt werden, da „[auch] in Angeboten und Werbebriefen […] gelegentlich durch die Benutzung der Handschrift (oder ihrer wirklichkeitsgetreuen Nachbildung) gute Erfolge [erzielt]“ wurden, wie Schirmer (1952, 31) ausführt: Wird die Vervielfältigung „noch dadurch verschleiert, daß man in jeden Brief die persönliche Anschrift des Empfängers und eine handgeschriebene Unterschrift einsetzt  […], so erreicht der Werbebrief trotz Massenherstellung die äußere Form des einzeln geschriebenen Briefes“ (Schirmer 1952, 160). Dass wirksame Werbebriefe aber dennoch nicht ohne gattungsspezifische Formalia auskommen und aus Sicht des Umworbenen essentiell für die persönliche Ansprache sind, macht indes der einleitende Text der Sammlung deutlich: „Die Ausführung des Briefkopfes wurde mit beurteilt, wenn sie auch nicht gerade ausschlaggebend war. Briefe ohne Unterschrift fielen ohne weiteres für die Preiszuteilung aus.“ (Verlag Organisator 1924, 4) Werden diese Informationen  – der Briefkopf mit der Anschrift des Empfängers und die Unterschrift des Absenders – zur gattungsspezifischen Bestimmung herangezogen, handelt es sich bei einem Werbebrief um ein historisches Dokument, um ein Verkehrsschriftstück mit einem Absender und einem (oder mehreren) Empfängern (vgl. Schmid 1988, 3). Die Analyse des Inhalts der Werbebriefe auf eine persönliche Beziehung zwischen Sender und Empfänger ist zur gattungsspezifischen Zuordnung wenig fruchtbar, wie wiederum ein Blick in den Lehrtext zur Werbebriefsammlung beweist: „Wir müssen uns also in die Stelle der

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Empfänger unserer Briefe denken, müssen uns selbst bei dem Entwurf des Briefes einmal ganz vergessen und bei Seite lassen, so schwer es auch werden mag.“ Und weiter: „Aber auch mit der einfachen Begrüßung ‚Wie geht’s?‘ ist es im Briefe nicht getan. Verwendet man diese bei der persönlichen Begegnung, so kommen der Handschlag, der Gruß der Augen, die Wirkung der Persönlichkeit hinzu, starke Mittel, die uns bei der Briefwerbung nicht zu Gebote stehen.“ (Verlag Organisator 1924, 5) Das Ziel der Werbebriefe ist dabei der direkte wirtschaftliche Erfolg, der aus den Aussendungen von Einfach- und Mehrfachanschreibungen hervorgeht, wie bereits im Vorwort der Werbebriefsammlung von 1924 ausführlich anhand eines Beispiels unter Einbeziehung von Portokosten und Warenwert vorgerechnet wird (vgl. Verlag Organisator 1924, 3–4). Der Werbebrief, so wird hier deutlich, war in den 1920er Jahren als geschäftliches Angebot, als Offerte zu konzipieren  – und ist damit wohl als Verkehrsschriftstück zu klassifizieren. Dies wird in der Werbebriefsammlung von 1928 noch deutlicher, in der der herausgebende Verlag zufrieden resümiert: „Wer die Sammlungen aufmerksam durchliest, wird zugestehen, daß die Briefe besser geworden sind, besser in der Form und besser in der Werbekraft ihres Inhaltes.“ (Verlag Organisator 1928, 3) Denn Ziel von Werbe- oder Akquisebriefen ist das Herbeiführen einer „Atmosphäre der Kaufbereitwilligkeit“ (Verlag Organisator 1928, 3) bei einem Geschäftskunden oder einem Privatkunden, die in der Sammlung von 1928 eingestuft werden als Wiederverkäufer, also Händler, oder eben private Endverbraucher oder Konsumenten. Letztere sollen hier durch Verkaufsbriefe noch zusätzlich nach Geschlecht unterschiedlich angesprochen werden. „Sprache und Stil des Werbebriefes“, so mahnt Schirmer (1952, 163) an, „müssen sich der Ausdrucksweise und der Umwelt des Lesers lebendig anpassen.“ Dazu gehört auch, dass Kund*innen mehrfach durch Werbebriefe kontaktiert werden müssen, weshalb gelegentlich „Nachfaßbriefe und Werbebriefreihen“ (Schirmer 1952, 170) als Darbietungsformen des Werbebriefes genutzt werden. Aufgrund des Ersten Weltkriegs herrschte ein „[s]charfer Wettbewerbskampf“ (Schirmer 1952, 105), der neben wettbewerbsfähigen Produktpreisen auch günstige Werbeformen wie den Werbebrief förderte: Sind in der Werbebriefsammlung von 1924 noch 98 Werbebriefe abgedruckt, finden sich vier Jahre später bereits 200.

2 Werbung und Werbebrief Das Herbeiführen des optimalen Warenabsatzes war in Wirtschaftsunternehmen zunächst einmal Aufgabe der Vertriebsabteilungen. In Deutschland bestand nach beiden Weltkriegen noch relativ lang mehr Nachfrage als Warenangebot. Daher

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 3 Briefgenres

spielte der Werbebrief hier auch über eine längere Zeit als etwa in der Schweiz, auf deren Werbebrief-Wettbewerb sich die bisherigen Ausführungen beziehen, eine geringere Rolle (vgl. Verlag Organisator 1924, 4). Dennoch gab es zahlreiche Ratgeber und Lehrbücher zum Erstellen von Werbebriefen (vgl. Betcke 1923; Feldkeller 1924; Aa und Schirmer 1930). Neben der Mahnung der rechtschreibformalen Korrektheit (vgl. Verlag Organisator 1924; Schirmer 1952) konstatiert Schirmer für die Wirtschaftssprache der 1920er bis 1950er Jahre Erfordernisse der Sprachanwendung im Wirtschaftsverkehr. Hierzu zählt er als erstes Haupterfordernis ein Wechseln zwischen „der nahezu stillosen Sprachform in Vordrucken und Listen, bis zu der gelegentlich fast ins Dichterische gesteigerten, ja bisweilen sogar durch Rhythmus und Reim gebundenen Sprache des Werbewesens durch verschiedene Stilarten hindurch“ (Schirmer 1952, 10). Dieses stilistische Oszillieren findet sich auch in den prämierten Schweizer Werbebriefen, die sich meist kaum allein einer der stilistischen Formen zuordnen lassen. Das liegt oft daran, dass die Werbebriefe hier nicht einzig eine rein werbliche, also Aufmerksamkeit und vielleicht sogar imagefördernde Funktion innehaben, sondern eben vor allem Verkaufsbriefe sind. Hierfür sind „[alle] für die Kennzeichnung einer Ware wichtigen Merkmale […] lückenlos“ und „unmißverständlich“ (Schirmer 1952, 10) aufzuzählen, da diese Güter- oder Dienstleistungsbeschreibung ja als Grundlage eines möglichen Verkaufs, also des Vertragsabschlusses dient. Neben den Stilformen, der Klarheit und Genauigkeit sowie der Vollständigkeit sieht Schirmer die aufmerksamkeitsbezogene Wirkung durch stilistische Kniffe, die aufgrund der Geschäftsbriefflut als viertes Haupterfordernis des wirtschaftlichen Stils notwendig sei. Mit Blick auf den Werbebrief kann dies wohl als Verknüpfung der werblichen, propagandistischen Sprachstilistik, wie sie aus der konventionellen Anzeigenund Plakatwerbung bis heute bekannt ist, mit dem sachlich-amtssprachlichen Kaufmannsstil interpretiert werden. Die poetische Aufmachung wird sicherlich weniger den ästhetischen Erwartungen an Briefe geschuldet sein als vielmehr der Wirkung, die, ebenso wie die ästhetischen Erwartungen an Briefe, vor allem Novität und Abwechslung verlangt (vgl. Delilkhan 1991, 29). Dementsprechend konstatiert Schirmer (1952, 158), dass „[von] allen im Wirkungsstil abgefaßten Geschäftsbriefen […] der Werbebrief (Verkaufsbrief, das unverlangte Angebot) bei weitem der wichtigste“ sei. Der Werbebrief, der laut Postgebühren-Handbuch ab 1954 als Massendrucksache verschickt werden konnte (vgl. Schwaneberger Verlag GmbH 2015, 245), vereint hier kommunikationsästhetische Ansprüche, die vorrangig die Aufmerksamkeit des Empfängers sichern sollen, mit dem Verkaufsangebot, das seinerseits eine Antwort, nämlich eine Terminvereinbarung oder eine Bestell-, also Kaufaktion, erwirken soll, wie auch der Brief einen Antwortbrief erwartet. Aus dem verkaufsorientiert-sachlichen Offertenbrief des Kaufmanns wurde der poe-

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tisch aufgemachte Werbebrief mit Verkaufsangebot, der nicht nur im Geschäftskundenbereich, sondern auch im Privatkundengeschäft Einsatz fand: „Dem Empfänger des Werbebriefes sucht man die Bestellung zu erleichtern, indem man eine vorgedruckte Antwort- oder Bestellkarte oder einen Bestellschein mit Umschlag beilegt.“ (Schirmer 1952, 161) Diese Entwicklung des verstärkten Einsatzes des Werbebriefes auch im Privatkundenbereich deutet sich bereits in der Analyse der untersuchten Sammlungen der Schweizer Werbebriefe an: Richteten sich von den 1924 prämierten Schweizer Werbebriefen nur 19 Prozent an private Konsumenten, so waren es vier Jahre später bereits fast 28  Prozent der in die Sammlung aufgenommenen Werbebriefe.

3 Marketing und Werbebrief Den Paradigmenwechsel weg von der unternehmensorientierten und hin zur konsumentenorientierten Vertriebspolitik läutete, gerade auch in Deutschland, der Wandel der Absatzmärkte ein. Infolge des wirtschaftlichen und technologischen Aufschwungs in den 1950er Jahren und der sich sättigenden Märkte reichte das bloße Anbieten von Waren nicht mehr aus, um genug Kund*innen für die eigenen Waren zu akquirieren. Hermann Schneider (1953) identifiziert in der fünften Auflage seines abc des kaufmännischen Schriftverkehrs nicht nur verschiedene Briefarten und Anlässe zum Briefschreiben aus kaufmännischer Sicht, sondern geht auch detailliert auf formale Anforderungen ein und mahnt zu beachten, dass die Abhängigkeit des Erfolges eines Werbebriefes auch von der spezifischen Marktsituation abhängt: „Stehen Angebot und Nachfrage z.  B. gerade in einem krassen Mißverhältnis zueinander, wird keine Werbung auf einen befriedigenden Erfolg rechnen können, selbst wenn sie sich an den richtigen Abnehmerkreis wendet“ (Schneider 1953, 40). Der Wandel der Märkte von Verkäufer- zu Käufermärkten beeinflusste daher auch die Werbung: Die unsystematische Kommunikation der 1950er Jahre entwickelte sich zu einer verkaufs- und wettbewerbsorientierten Produktkommunikation (vgl. Bruhn 2009, 5–6). Neben der ‚richtigen‘, d.  h. formal korrekten und „[wirksamen] Sprache im Wirtschaftsleben“ (so ein Buchtitel, vgl. Gerathewohl 1953), weist die Literatur aus dieser Zeit eine stärkere Betonung der (marktorientierten) Professionalisierung auf, welche die wirtschaftlich messbare Wirksamkeit des Werbebriefes in den Fokus nimmt. Die bereits mehrfach zitierte, explizit wissenschaftlich ausgerichtete Darstellung der Sprachanwendung im Wirtschaftsverkehr (vgl. Schirmer 1952) verweist auf die Erfolgsquote – „Ein Erfolg von zwei bis drei Bestellungen auf 100 hinausgesandte Briefe muß schon als gut gelten“ (Schirmer 1952, 161) – und auch auf die Kosten

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 3 Briefgenres

eines Werbebriefes (vgl. Schirmer 1952, 161). Auch Hermann Schneider (1953) setzt weniger auf lehrreiche Beispiele als vielmehr auf Strukturprinzipien und Wirksamkeitskontrolle, für die er die AIDA-Formel  – ein einfaches und auch heute noch verwendetes, jedoch kritisch hinterfragtes Stimulus-Response-basiertes Modell zur Überprüfung der Werbewirksamkeit von gestalteten Werbemitteln – auf den Werbebrief anwendet (vgl. Schneider 1953, 18–19). Auch dessen Versand, die Versandmöglichkeiten und der richtige Versandzeitpunkt werden thematisiert (vgl. Schneider 1953, 82). Mit dem Einzug des Marketingbegriffs, wie wir ihn heute verstehen, in die universitäre Lehre und Forschung wurde in den 1960er Jahren eine marktorientierte Unternehmensführung mit einer Ausrichtung aller Unternehmensprozesse am Kunden programmatisch als betriebswirtschaftlicher Erfolgsmotor proklamiert. Der Marketing-Mix als Instrumentarium und Organisationsprinzip der marktorientierten Unternehmensführung untergliedert die Aufgabenbereiche eines Unternehmens in vier Instrumente: Die Produktpolitik ist für die Güter und deren (kundenorientierte) Beschaffenheit zuständig, die Preispolitik regelt die Preise und Zahlungsbedingungen, die Distributionspolitik übernimmt den Weg der Waren und Güter vom Produzenten bis zum Endverbraucher und die Kommunikationspolitik ist verantwortlich für sämtliche kommunikativen Akte und Aspekte. Letzteres bezieht neben der Massenwerbung auch das Direktmarketing und die Verkaufsförderung mit ein. Für den Werbebrief – ganz gleich, ob er sich an B2B- (Business-to-Business-) oder B2C- (Business-to-Consumer-) Kunden richtet – bedeutet dies, dass fortan nicht mehr die Vertriebsabteilung, sondern die Kommunikations- oder Werbeabteilung im Rahmen der Direktwerbung, deren Entstehen seitens der Werbebranche bis ungefähr 4000 v. Chr. zurückreicht (vgl. Erdman und Raphel 1986, 19), für seine Erstellung zuständig war.

4 Werbebrief als Verkaufsgespräch und Liebesbrief Die Ausgaben für Direktwerbung verzeichneten von 1964 an Zuwachsraten im zweistelligen Prozentbereich und verdoppelten sich im Zeitraum von 1962 bis 1967 (vgl. Stecher 1969, 10): Damit überstiegen die Werbeausgaben für Direktwerbung jene für Zeitschriftenwerbung. Eine Ausweitung der Direktwerbung, die für die Empfänger auch gleichzeitig ein erhöhtes Werbebriefaufkommen im Briefkasten bedeutet, führte sicher auch mit zum Anstieg der empfängerseitigen Erwartungen an die äußere Aufmachung, etwa an die Papierqualität. Dies führte wiederum zu höheren Kosten von Direktwerbeaktionen, wie Stecher (1969, 18) darlegt und

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abschließend resümiert: „Eines aber ist Direktwerbung nicht mehr: eine ausgesprochen billige Werbemethode. Die Werbebrief-Empfänger sind anspruchsvoller geworden.“ Stecher beruft sich hier auf (nicht näher benannte) Untersuchungen, die es aber in den 1970er Jahren detailliert zu diversen Fragen der Markt- und Medienforschung gab (vgl. Bruhn 2009, 6), ebenso wie auf einschlägige Untersuchungen, die belegen, dass Direktwerbung „von 75 % aller Empfänger gelesen“ werde, und räumt auf mit „der vielfach verbreiteten Ansicht: Werbesendungen wandern ungelesen in den Papierkorb“ (Stecher 1969, 17). Dies stützt auch Dieter Schefer (1982, 1502) mit dem Verweis auf eine repräsentative Studie, nach der „der durchschnittliche Privathaushalt im Herbst 1976 nur an jedem zweiten Werktag eine einzeln eingehende Werbedrucksache“ (einschließlich nicht adressierter Werbesachen) erhielt. Der wichtigste Repräsentant der Direktwerbung sei unbestritten der Werbebrief (vgl. Stecher 1969, 10): „Das ist kein Wunder, denn es ist der Brief, der in den zwischenmenschlichen Beziehungen eine bedeutende Rolle spielt.“ (Stecher 1969, 11) Dabei sieht Stecher den Werbebrief im Vergleich zum Vertreterverkauf im Vorteil, weil Wortwahl und Verkaufswirkung als wohldurchdachtes Konstrukt viel unverfälschter bei den Kund*innen ankommen als ein trainiertes Verkaufsgespräch (vgl. Stecher 1969, 14) – der Werbebrief bleibe dennoch ein Verkaufsgespräch mit anderen Mitteln (vgl. Stecher 1969, 13). Stecher verortet den Werbebrief (wie alle epistolaren Kundenkontakte eines Unternehmens, vgl. Stecher 1969, 12), mit der Begriffsbedeutung des Werbens argumentierend, weniger nah am Amtsbrief als vielmehr am Liebesbrief: „Man sollte dennoch die Betonung weniger auf ‚Werbe-‘, sondern mehr auf ‚Brief‘ legen. Letzten Endes ist auch ein Liebesbrief ein Werbebrief. Und jeder Werbebrief sollte wie ein Liebesbrief sein“ (Stecher 1969, 13). Der Liebesbrief, üblicherweise ein intimes und an eine geschätzte Einzelperson gerichtetes Schreiben, ist hier auch als Zeichen der zielgruppenspezialisierten Kommunikation zu sehen, die kennzeichnend für die Unternehmenskommunikation der 1970er Jahre ist (vgl. Bruhn 2009, 6). Das Werbende eines geschäftlichen Briefes, ganz unabhängig davon, ob es sich um eine Reaktion auf eine Reklamation oder einen verkaufsfördernden Werbebrief handelt, wird hier als epistolare, dialogisch ausgerichtete, an sozialer Interaktion und weniger an ökonomischen Absatzzahlen interessierte Kommunikation interpretiert (vgl. Bruhn 2009, 29). Dies zeigt sich auch daran, dass die Erfolgschancen von Werbebriefen nicht an den Kauferlösen oder am Absatzmarkt festgemacht werden, sondern vielmehr mit dem zur Verfügung stehenden Werbeetat, der nach Stecher (1969, 28–29) die Entscheidung für Massenwerbung oder Direktmarketing nach dem ökonomischen Effizienzprinzip bedinge und gerade durch die persönliche Ansprache der Umworbenen einen besseren Werbeerfolg herbeiführe als Massenwerbung. Auf eine Erfolgskontrolle für die Briefwerbung verzichtet

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Stecher in seinem Ratgeber daher natürlich nicht, sondern widmet ihr, ebenso wie der inhaltlichen Gestaltung und dem Versand, in seinem Praxis-Ratgeber ein eigenes Kapitel. In der 14. Auflage von Paul Feldkellers Lehr- und Übungsbuch Der Brief des Kaufmanns, erschienen 1974, findet sich lediglich ein kleines, fast unscheinbares Kapitel zu Angeboten und Werbebriefen, die sich auf den B2B-Bereich beziehen (vgl. Feldkeller 141974, 123–124). Daher werden hier vertragsrelevante Gegebenheiten von Anfragen und unverlangten Angeboten angesprochen und anhand von Beispielen rechtskonforme Formulierungen angeboten (vgl. Feldkeller 141974, 42–48): Der Werbebrief hat also, das zeigt sich sowohl bei Stecher als auch bei Feldkeller, aus betriebswirtschaftlicher Perspektive seine Verortung von der Zugehörigkeit zum angebotsorientierten und damit distributionspolitischen Geschäftsbrief hin zum werbenden Dialogmittel der kundenorientierten Kommunikationspolitik verändert.

5 Werbebrief als Verkaufsgespräch und Geschäftsbrief In den 1980er Jahren, dem Jahrzehnt der Werbung, „standen auch die Kommunikationsinstrumente untereinander im Wettbewerb“ (Bruhn 2009, 6), der auch durch das Auftauchen neuer Kommunikationsinstrumente wie Direct Marketing, Sponsoring und Event Marketing angeheizt wurde (vgl. Bruhn 2009, 6). Dies wird auch in der betriebswirtschaftlichen Literatur deutlich: So definiert Schefer (1982, 1471) Direktwerbung als „gezielte – schriftliche – vervielfältigte – adressierte – durch die Post zugestellte Werbung. Kürzer gefaßt: die adressierte Werbung im Briefkasten  – von der Postkarte bis zu den Katalogen der Versandhäuser.“ Die Direktwerbung ist dabei zu verstehen als „Teil des Direct Marketing (oder auch Response Marketing), das alle marktgerichteten Aktivitäten umfaßt“ (Schefer 1982, 1471). Auf diese Begriffsbestimmung folgt sogleich die Abgrenzung zu anderen Werbeträgern, was durch einen „Intermediavergleich“ geschehe, der Werbemittel und Werbeträger einer „kritischen Überprüfung […] auf ihre spezielle Werbeeignung“ (Schefer 1982, 1471) hin unterziehe. Hier wird der Wettbewerb der Werbemittel deutlich, der damals in die Media-Planung Einzug hielt und auf der Basis des Kosten-/Leistungsverhältnisses entschieden wurde (vgl. Schefer 1982, 1474). Schrattenecker und Schweiger (1986) führen die Direktwerbung in ihrem als Einführung in das Marketinginstrument Werbung gedachten, gleichnamigen Buch erst als letztes und damit als im Rahmen der Streuplanung weniger wichtiges Werbemedium an, das damit in seiner Relevanz hinter den Massenwerbemedien

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Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk, Fernsehen und neue Medien (Teletext) sowie den verkaufsortbezogenen Werbemaßnahmen der Außenwerbung, Schaufensterwerbung, Displaywerbung, Messen und Ausstellungen, aber auch Verpackungsgestaltung, Werbegeschenken sowie der Adressbuch- und Telefonwerbung eingeordnet wird (vgl. Schweiger und Schrattenecker 1986, 154). Schrattenecker und Schweiger strukturieren hier die Relevanz zugunsten der klassischen Werbeträger, die jeweils das Zurateziehen eines Werbefachmanns benötigen. Als großen Vorteil der Direktwerbung beschreiben die Autoren „ihre einfache, flexible und relativ kostengünstige Handhabung“, die auch kleineren Betrieben ermögliche, „bei Bedarf mittels Postkarte oder Werbezettel z.  B. auf eine Sonderaktion aufmerksam zu machen“ (Schweiger und Schrattenecker 1986, 155). Dies wird auch seitens einiger Praxisratgeber unterstützt, die unter hemdsärmeligen Titeln wie Das Do-it-yourself-Handbuch der Direktwerbung auf den Markt gebracht werden und anekdotisch in poppig-‚lauter‘ Werbesprache der 1980er Jahre anhand von kurzen Regeln und Akronymen vor allem die Werbeszene und sich selbst als deren Teil bewerben (vgl. Erdman und Raphel 1986, 5–6, 11–12). Damit suggerieren sowohl Schrattenecker und Schweiger mit ihrer Definition als auch Ken Erdman und Murray Raphel, dass Direktwerbung eine günstige und wenig professionelle Ad-hoc-Werbemöglichkeit darstellt: Eine in der Werbebranche und den Bereichen der Wissenschaft, die sich vornehmlich mit den ästhetischen Ausgestaltungen der bunten Massenwerbemittel auseinandersetzen, sicher weit verbreitete Meinung, die die oft marginalisierte Position des Direktmailings im Feld der Werbung verdeutlicht. Dabei nehme die Direktwerbung „in der Medienpalette eine bessere Position ein, als weithin angenommen wird“, so Schefer (1982, 1495), und belege schon seit vielen Jahren in der Statistik der „Netto-Werbeumsätze ausgewählter Werbeträger“ den dritten Rang hinter den Tageszeitungen und Publikumszeitschriften, aber deutlich vor der Fernsehwerbung. Die Gesamtaufwendungen für Direktwerbung waren im Jahr 1981 jedoch „höher als die Einschaltkosten für Zeitschriftenanzeigen, Funk- und Fernsehspots zusammen“. Die Deutsche Post, damals ja noch Monopolist der Postbeförderung in der Bundesrepublik Deutschland, förderte (nicht uneigennützig) die Direktwerbung durch zahlreiche Erleichterungen für die Werbetreibenden (z.  B. Zulassung verschlossener Massendrucksachen, größere Gestaltungsmöglichkeiten für Briefumschläge, zusätzliche Gewichtsstufen für Massendrucksachen) (vgl. Schefer 1982, 1497). Die Bundespost setzte dazu aber auch auf Marktforschungen zur Verbraucher-Akzeptanz und auf spezielle Kundenberater, die „die Direktwerbung als erstklassigen Werbeträger verkaufen“ sollten (Schefer 1982, 1497). Mit der Deutschen Postreklame GmbH stellte die Bundespost der werbewilligen Wirtschaft (in den Grenzen des 1978 in Kraft getretenen Bundesdatenschutzgesetzes, vgl. Schefer 1982, 1503) außerdem ein

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Adresspotential „von fast 15 Millionen privaten und gewerblichen Anschriften“ zur Verfügung (Schefer 1982, 1503): Alles mit dem Ziel, die Direktwerbung zu dem „Werbemedium der achtziger Jahre“ (Schefer 1982, 1497) zu machen. Als klassisches Anwendungsgebiet wird der Direktverkauf per Post (Versandhandelskataloge) betrachtet (vgl. Schefer 1982, 1475), in dem der Werbebrief erst als Bestandteil im „klassischen Package“ (Schefer 1982, 1482) neben Prospekt, Antwortkarte und Versandhülle auftaucht. Dennoch wird er auch hier als „das zentrale Direktwerbemittel, als Seele des Mailing“ (Schefer 1982, 1482) vorgestellt, weil nur der Werbebrief die direkte Ansprache der Empfänger*innen durch einen standardisierten (ohne Anschrift und persönliche Anrede) oder einen individualisierten Werbebrief leisten könne: „Der Werbebrief sollte  […] einem normalen (Geschäfts-)Brief möglichst ähnlich sehen“ und deshalb dessen typische Elemente (Briefkopf, Adressfeld und Anrede, Textblock und Grußformel mit Unterschrift) als Charakteristika enthalten, so Schefer (1982, 1484). Die Gestaltungsanforderungen an den Werbebrief (vgl. Schefer 1982, 1483) entsprachen den Lesegewohnheiten für Briefe und sollten der mühelosen Orientierung der Zielpersonen dienen. Schefer klassifiziert den Werbebrief als Teil des Werbepackages hiermit als Geschäftsbrief, auch wenn auf „die in einem Geschäftsbrief typische Bezugszeile  […] insbesondere bei der Erstansprache an Zielpersonen“ (Schefer 1982, 1484) verzichtet werden soll. Der werbliche Anteil soll erst im textlichen Inhalt deutlich werden, in dem der Werbetreibende eine „Wiederholung wichtiger Aussagen […] nicht scheuen (betrifft insbesondere USP-Vorteile gegenüber den Konkurrenzprodukten)“ (Schefer 1982, 1485) sollte, so wie es wohl zu einem Verkaufsgespräch per Brief und Antwortkarte und der Dialogmethode (vgl. Vögele 1993) gehört. Die Unique Selling Proposition (USP) zu vermitteln, also den einzigartigen Verkaufsvorteil, der als Alleinstellungsmerkmal den Vorteil gegenüber Konkurrenzprodukten bedeutet, ist laut Manfred Bruhn (2009, 6) ein Charakteristikum der Werbung in den 1980er Jahren.

6 Werbebrief und Direktmarketing In den 1990er Jahren führte die zunehmend kritische Haltung weiter Bevölkerungskreise gegenüber Werbung zu einer ganzheitlichen Betrachtung der Unternehmenskommunikation, in der fortan alle Kommunikationsmaßnahmen strategisch ein einziges, konsistentes und glaubwürdiges Bild des Unternehmens vermitteln sollten (vgl. Bruhn 2009, 6–10; Vögele 1993, 20–24). Hierzu gehörten oft auch alternative Medien wie Events und das Telefax- und Telefon-Marketing (vgl. Bruhn 2009, 6–10): „Das Mailing umfaßt nur die Hälfte aller Aufwendungen

3.13 Der Werbebrief – von ‚König Kunde‘ zum persönlichen Brieffreund? 

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im Direktmarketing. Die andere Hälfte entfällt auf Response-Anzeigen, ZeitungsBeilagen, Direkt-Response-TV, Funk-Spots mit Response-Teil, Kunden-Zeitungen mit Response-Elementen usw.“ (Vögele 1993, 107). Die von Schefer (1982, 1504) für die 1990er Jahre positiv prognostizierte Zukunft der Direktwerbung brachte das Dialogmarketing: Direktmarketing wurde nun auch in Kampagnen gedacht, die als „ein […] ständige[r] Dialog zwischen Firma und Kunde, als ein Wechselspiel von Aktion und Reaktion“ (Vögele 1993, 28) gedacht werden soll – in dem aber das Unternehmen „erfolgreicher Regisseur dieses Dialoges“ (Vögele 1993, 17) sein sollte. Kleine Reaktionsschritte statt einmaliger beratungsintensiver Angebote, Nachfassaktionen (vgl. Brückner 1999, 163) und Nichtreaktionen wurden somit als Teil eines kontinuierlichen Kommunikationsprozesses aufgefasst: „Schreiben Sie Ihren Interessenten und Kunden häufiger als nur dreimal pro Jahr, sonst verschenken Sie mehr als die Hälfte des möglichen Geschäftes“ (Vögele 1993, 104). Damit knüpft das Direktmailing auf den ersten Blick an die Briefkultur als dialogische Kommunikationsform an, jedoch besteht das Mailing nicht mehr nur aus dem Werbebrief allein. In den Direktmarketing- und Werberatgebern setzt sich das Mailing aus den drei essentiellen Bestandteilen Brief, Beilagen und Reaktionsmittel zusammen, die nur gemeinsam ein komplettes Verkaufsgespräch bieten können, bei dem der Brief die Funktion der Kontaktaufnahme übernimmt, während das Fachgespräch über die Beilagen und der Kaufabschluss über den Bestellschein erfolgt (vgl. Vögele 1993, 162). Alle reaktionsauslösenden Elemente sollten dabei – ebenso, wie natürlich die Argumentation des Werbebriefes: „Die Erwartung des Kunden bestimmt den Text“ (Brückner 1999, 40) – von den Kund*innen aus gedacht werden, etwa durch Rückkuverts, aber auch bequeme Zahlungsmöglichkeiten (vgl. Vögele 1993; Brückner 1999, 180–181), deren Gestaltung Aufgabe der Preis- und Konditionenpolitik ist: Im Rahmen des integrierten Marketings ist die Kundenausrichtung aber für alle Abteilungen eines Unternehmens Pflicht geworden. Der Aufschwung des Direktmarketings änderte in den 1990er Jahren die Gestaltung des Werbebriefes, der nun die erste Stufe im Kommunikationsprozess des Mailings darstellte. Wurden in früheren Zeiten noch Papier- und Druckqualität angemahnt, so schlägt Siegfried Vögele (1993, 167) vor: „Wenn also das Gewicht eines Mailings nicht mehr allzu viel Luft läßt, dann reduzieren Sie das Gewicht des Briefes“, was entweder durch eine Änderung des Formats oder durch leichteres Papier erfolgen kann. Die Hochphase der Dialogkommunikation wird in den 2000er Jahren gesehen, in denen der Aufbau von individualisierten Kundenbeziehungen zur Kundenbindung als zentrale Aufgabe der Kommunikationspolitik gesehen wurde (vgl. Bruhn 2009, 6–7; Kloss 2003, 516). Neben den klassischen Werbeformen gewannen die neuen Medien mit Internet- und E-Mail-Werbung an Bedeutung (vgl. Bruhn 2009, 8–10): „Die neuen Medien eröffnen dem Direct Marketing neue Möglichkeiten,

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einen direkten und interaktiven Kontakt zwischen Anbietern und Kunden herzustellen“ (Kloss 2003, 514), der den Kund*innen eine viel aktivere Rolle ermöglicht. Jedoch waren die Möglichkeiten abhängig von den anvisierten Kund*innen und deren technisch-infrastrukturellen Kontaktmöglichkeiten (vgl. Kloss 2003, 514; Rogge 2004, 211). Konventionelle und elektronische Werbebriefe werden im Sinne des Kundenbeziehungsmanagements (Customer-Relationship-Management, kurz CRM) auf der Basis detaillierter Kundeninformationen als ‚maßgeschneiderte‘, d.  h. auf die einzelnen Kund*innen, deren Verhalten, (vermutliche) Bedürfnisse und Interessen abgestimmte Kundenbindungsinstrumente eingesetzt, also zum Aufbau, zur Pflege und zur Ausweitung von Beziehungen zu Kund*innen (vgl. Schweiger und Schrattenecker 82013, 131): „Ziel dabei ist, dem Kunden das, was er braucht, zum richtigen Zeitpunkt anzubieten.“ In der Systematik der Marketinginstrumente, etwa abzulesen in der Struktur der Lehrbücher (vgl. Kloss 2003), sind Werbebriefe damit in der Phase der Dialogkommunikation nicht mehr der Verkaufsförderung verbunden: Ihre Funktion ist damit nicht mehr als rein absatzpolitische, sondern eher als eine werblich-kommunikative zu charakterisieren. Die E-Mail, „elektronische Form des Briefes bzw. des Fax“, weist eine von Hans-Jürgen Rogge (2004, 210) als „offensichtlich“ bezeichnete Parallele zum klassischen (Werbe-) Brief auf. Vorteil elektronischer Briefe ist die kostengünstige Zusendung, da weder Papier noch Umschlag oder Porto veranschlagt werden müssen. In der betriebswirtschaftlichen Literatur über Marketing nimmt der Werbebrief auch in den 2010er Jahren eine eher kleine Rolle neben den konventionellen audiovisuellen Werbemitteln ein, ist dort als ein Mittel neben anderen unter dem Begriff Direktwerbung und Direct-Response-Werbung zu finden (Schweiger und Schrattenecker 8 2013, 131–135). „Ein großer Vorteil der Direktwerbung ist ihre einfache, flexible und relativ kostengünstige Handhabung. Auch kleine Betriebe haben die Möglichkeit, bei Bedarf mittels Postkarte, Werbezettel oder per E-Mail oder in sozialen Netzwerken z.  B. auf eine Sonderaktion aufmerksam zu machen“ (Schweiger und Schrattenecker 82013, 133), wozu ergänzend Stefan Gottschling (2013, 132) angefügt werden kann: „Die Zeit der Mailing-Großauflagen mag vorbei sein, doch in der Zeit des CRM […] senden wir noch immer gezielt Werbepost in eben kleineren Auflagen in den Markt.“ Der Werbebrief oder das Direct Mail wird von Schrattenecker und Schweiger (82013, 131) definiert als „die Ansprache des Umworbenen mittels eines Briefes, dem auch Prospektmaterialien oder Warenproben beigelegt werden können“, wovon aber andere Werbemittel wie Kataloge, Broschüren, Prospekte und E-Mails, „die ebenfalls direkt zugestellt werden“, zu unterscheiden sind. Schrattenecker und Schweiger definieren die E-Mail damit nicht als elektronisches Äquivalent zum Brief, sondern als eigenständiges Werbemittel. Dennoch starb der postalische Werbebrief – in den Zeiten von Bloggern als Meinungsführern und Werbeträgern  – nicht aus: „Sind Werbebriefe eigentlich

3.13 Der Werbebrief – von ‚König Kunde‘ zum persönlichen Brieffreund? 

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noch zeitgemäß? Ja und nochmals ja. Schauen Sie einfach auf Ihren Schreibtisch“, formuliert der Werbetexter Gottschling (2013, 132). Werbe-E-Mails und auch postalische Werbebriefe, die gerne in Kombination eingesetzt werden, ergänzen sich nicht nur, sondern orientieren sich mit der essentiell gewordenen persönlichen Anrede an der privaten Korrespondenz: „So können etwa die Adresse des Empfängers handgeschrieben werden, Sondermarken verwendet oder die Anrede im Brief durch Verwendung des Namens persönlich gestaltet werden“ (Schweiger und Schrattenecker 82013, 132). So berichten Geschäftsführer*innen in einem individuell gehaltenen E-Mail-Text (laut Gottschling 2013, 91, ist der strukturelle Aufbau von postalischem und elektronischem Werbebrief gleich) von den detailreich vorgestellten Parfums aus dem eigenen Sortiment, die sie für Mutter und Tante zu Weihnachten ausgesucht haben, und ein Versandhandel schickt Urlaubskartenähnliche Werbepost mit handschriftlichem Druck und persönlich anmutenden Zeilen: Der Kunde, so scheint es, steht in persönlicher Beziehung zu individuellen Personen aus Unternehmen, die an ihn denken und ihm private Empfehlungen aussprechen. Es ist – ähnlich wie bei den ‚Freundschaften‘ in sozialen Netzwerken  – an den Empfänger*innen, die Existenz einer real existierenden privaten Beziehung zu den Absender*innen zu definieren. Der Dialog reißt im Sinne der dialogischen Kommunikation auch durch eine Nichtreaktion nicht ab, sondern wird durch das Unternehmen aufrechterhalten. Dennoch resümieren WerbeExpert*innen wie Stefan Gottschling (2013, 26): „Der Werbebrief ist kein echter Privatbrief. Doch er sieht seinem Vorbild sehr ähnlich. Und er will stilistisch und durch besondere Produktionstechnik eine (persönliche) Nähe zu seinem Leser herstellen.“

7 Fazit Der Werbebrief entwickelte sich als Offerten- und Akquiseschreiben zunächst aus dem Geschäftsbrief, der sich schon früh stilistisch vom Privatbrief unterschied. Beide gehören jedoch zu den Alltagsbriefen, die nach Peter Bürgel (1976, 289) nicht als spezifische Gattung im literaturwissenschaftlichen Sinn gesehen werden können. Dennoch entwickelten Geschäftsbriefe mit dem kaufmännischen Stil eine eigene Briefästhetik, die die Umwerbung des Adressaten in den Mittelpunkt nahm, um ihm geschäftliche Angebote zu unterbreiten. Wie alle ästhetischen Kulturen war auch die des werblichen Geschäftsbriefes dem Wandel der Zeiten unterworfen, aus denen sich die Ausgestaltung der Gruß- und Höflichkeitsformeln ergaben. Die Fülle der Handbücher und Ratgeber bietet auch stets glänzende Beispiele der Kunstfertigkeit dar – wohl durchaus mit dem Anspruch,

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als eigene Gebrauchskunstform wahrgenommen zu werden. Auch wenn es sich beim Werbebrief unbestreitbar nicht um einen literarischen Brief handelt, so lohnt sich dennoch die Untersuchung von Sprache, Stilgestus und rhetorischen Figuren auch jenseits der betriebswirtschaftlichen Ergebnisoptimierung. Mindestens aber die werbewirtschaftliche und gesamtwirtschaftliche Bedeutung des Werbebriefes macht ihn zu einem nennenswerten Teil der Biographie des Briefes (vgl. Stecher 1969). Denn es gibt eben nicht den Werbebrief an sich, obschon sich die Handbücher in den gestalterischen Anforderungen auch über die Jahrzehnte hinweg kaum stark unterscheiden. Die Fokussierung auf den Umworbenen kann nur sprachstilistische und inhaltliche Diversität hervorbringen, so dass der Werbebrief ein sachlich formuliertes Offertenschreiben, ein (Kalt-)Akquisebrief oder ein imageförderndes Selbstdarstellungsschreiben mit Kontaktmöglichkeit sein kann  – diese Unschärfe des Begriffs erschwert die systematische Einordnung, gerade auch durch seine universalistische Ausdehnung auf alle schriftlichen Kommunikationsformen eines Unternehmens, die das Marketing und steigende gesellschaftliche Kommunikationssensibilität evozieren. Dem kaufmännischen Entstehungsmotiv und ihrer Funktion entsprechend waren die Angebots- und Werbebriefe stets dem Rentabilitätdruck unterworfen und werden deshalb bis heute als Massenschreiben für mehr oder weniger homogene Zielgruppen produziert, den jeweiligen technischen Möglichkeiten der Zeit entsprechend jedoch personalisiert aufgemacht, um so persönlich wie möglich zu erscheinen. Denn der Werbebrief (in Abgrenzung vom kaufmännischen Geschäftsbrief) orientierte sich stets am privaten Brief, versuchte stets, dessen emotionale Involviertheit der Leser*innen zu erreichen, durch eine möglichst persönliche Ansprache und einen mit Unterschrift belegten individuellen Absender. Schon früh war der Werbebrief, ganz wie der private Brief, insofern dialogisch ausgerichtet, als eine Reaktion erzeugt werden sollte. Erst in jüngerer Zeit hat sich daraus in der Marketingkommunikation die Vorstellung entwickelt – wohl auch im Zuge gesetzlicher Novellen, die Werbekommunikation auch an bestehende Geschäftsverbindungen knüpfen –, dass ein Werbebrief der Beziehungspflege diene. Dies rückt ihn intentional nah an den Privatbrief, dem der Werbebrief ohnehin in seiner optischen Gestaltung nacheiferte: Der Werbebrief muss keine Produkte mehr verkaufen, er wirbt um Aufmerksamkeit und Gunst des Umworbenen, weshalb die Analogie zum Liebesbrief immer noch aktuell und auch legitim ist. Wie sich diese Entwicklung durch die Kommunikationsmöglichkeiten des Internets und der sozialen Netzwerke auf den Werbebrief auswirken wird, bleibt abzuwarten: Sicher ist, dass der Dialog mit den Kund*innen durch themen- und zielgruppenspezifische Blogs, YouTube-Kanäle sowie Foren und Facebook-Auftritt auf eine ganz neue Ebene getragen werden kann, auf der weniger Kontrolle über die Kommunikation möglich ist. Dass E-Mail und Online-Medien den Werbebrief nicht überflüssig

3.13 Der Werbebrief – von ‚König Kunde‘ zum persönlichen Brieffreund? 

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machen, sondern ihn als direkte und persönliche Ansprache an ausgewählte, individuelle Kund*innen umso wertvoller für die Kundenbeziehungspflege, hat sich schon herauskristallisiert und findet sich in unseren Briefkästen als komplett in Handschrift mit Unterschrift personalisierter Werbebrief.

Zitierte Literatur Aa, Karl von der u. Alfred Schirmer (1930). Lehrbuch des kaufmännischen Schriftverkehrs mit Vertragskunde. Stuttgart. Bausinger, Hermann (1996). „Die alltägliche Korrespondenz“, in: Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation. Hg. v. Klaus Beyer u. Hans-Christian Täubrich. Heidelberg: 294–305. Betcke, Bruno (1923). Der kaufmännische Stil. Leipzig. Bittner, Günther (2014). Lustbriefe statt Frustbriefe. Die neue Werbebrief-Kultur. Augsburg. Brückner, Michael (1999). Werbebriefe in Textbausteinen. Mailen. Anbieten. Nachfassen. Wien u. Frankfurt a. M. Bruhn, Manfred (2009). Integrierte Unternehmens- und Markenkommunikation. Strategische Planung und operative Umsetzung. Stuttgart. Bürgel, Peter (1976). „Der Brief. Entwurf eines heuristischen Modells“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 50.1–2: 281–297. Delilkhan, Rohith-Gerald (1991). Apologie der Briefkultur. Historische Geltung und hermeneutische Anforderungen der Briefe aus dem Gleimkreis. Konstanz. Feldkeller, Paul (1924). Der Brief des Kaufmanns. Ausführliches Lehrbuch auf logischer Grundlage. Hamburg. Feldkeller, Paul (141974). Der Brief des Kaufmanns. Lehr- und Übungsbuch für den kaufmännischen Schriftverkehr. Wiesbaden. Gerathewohl, Fritz (1953). Wirksame Sprache im Wirtschaftsleben. Anregungen für Werbung, Briefwechsel, Umgang mit Kunden und Mitarbeitern. Ein Praxis-Buch des GeschäftsErfolgs. Stuttgart. Gottschling, Stefan (2013). Werbebriefe einfach machen! Das So-geht’s-Buch für verkaufsstarke Briefe. Augsburg. Kloss, Ingomar (2003). Werbung. Lehr-, Studien- und Nachschlagewerk. München. Raphel, Murray u. Ken Erdman (1986). Das Do-It-Yourself-Handbuch der Direktwerbung. Bonn. Rogge, Hans-Jürgen (2004). Werbung. Ludwigshafen. Schefer, Dieter (1982). „Die Gestaltung und die wirtschaftliche Bedeutung der Direktwerbung“, in: Die Werbung. Handbuch der Kommunikations- und Werbewirtschaft. Bd. 2: Die Werbebotschaften, die Werbemittel und die Werbeträger. Hg. v. Bruno Tietz. Landsberg am Lech: 1469–1506. Schmid, Irmtraut (1988). „Was ist ein Brief? Zur Begriffsbestimmung des Terminus ‚Brief‘ als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung“, in: Editio, 2: 1–7. Schirmer, Alfred (1952). Der Sprach- und Schriftverkehr der Wirtschaft. Wiesbaden. Schneider, Hermann (1953). abc des kaufmännischen Schriftverkehrs. Neuwied u. Berlin. Schweiger, Günter u. Gertraud Schrattenecker (1986). Werbung. Stuttgart. Schweiger, Günter u. Gertraud Schrattenecker (82013). Werbung. Konstanz u. München.

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Dirk Rose

3.14 Offener Brief 1 Definition Unter einem Offenen Brief versteht man eine publizistische Gattung, die in der Regel durch eine Appellstruktur (vgl. zum rhetorischen Hintergrund Pankau 1992) und eine „doppelte Adressierung“ (Essig 2000, 16) gekennzeichnet ist: an explizite, meist namentlich genannte Adressat*innen oder einen Adressat*innenkreis, und als implizite Adressat*innen an das Publikum von Printmedien. Dafür muss der jeweilige Brief den oder die explizite*n Adressat*in nicht notwendig separat erreichen; als Regelfall kann vorausgesetzt werden, dass diese*r von dem Schreiben durch die mediale Öffentlichkeit erfährt. Denn als „entscheidendes Kriterium“ gilt, „daß der Offene Brief zu seiner vollen Sinnkonstitution des intendierten Mitlesens einer Öffentlichkeit bedarf“ (Essig 2000, 16). Bekanntestes Beispiel der Gattung ist zweifellos Émile Zolas Brief an den Präsidenten der Französischen Republik, Félix Faure, der am 13. Januar 1898 in der Pariser Tageszeitung L’ Aurore veröffentlicht wurde und mit dem Zola in die Dreyfus-Affäre eingriff. Berühmt geworden ist der Text unter dem Titel „J’accuse“ (Zola 2019, 127‒143), den der Chefredakteur der Zeitung und spätere französische Ministerpräsident Georges Clemenceau gewählt hat; wohl auch, um das erst ein Jahr zuvor gegründete Blatt skandalträchtig zu positionieren. Der Text exponierte nicht allein seinen bereits etablierten Autor, sondern provozierte eine Reihe von Folgehandlungen. Zwar würde es zu weit gehen, zu behaupten, dass allein aufgrund des Briefes von Zola ‒ der zudem in eine Folge mehrerer Essays und Offener Briefe eingebettet gewesen ist (vgl. die aktuelle Edition Zola 2019) ‒ die Freilassung des zu Unrecht inhaftierten Dreyfus erfolgte. Allerdings stieß er eine Debatte an, welche die Behörden vor den Augen der medialen Öffentlichkeit unter Zugzwang setzte (vgl. Ziegler 1999). Nicht zuletzt aufgrund dieser ‚idealtypischen‘ Wirkungsgeschichte konnte „J’accuse“ zum Muster des Offenen Briefes erklärt werden, das die Macht literarischer bzw. intellektueller Akteure im politischen Feld unter Beweis stellen sollte. Schließlich gilt der Text als „Gründungsmythos der Intellektuellen“ (Essig 2000, 173) und veranschaulicht den engen Zusammenhang zwischen dem Florieren der Gattung und den Strukturbedingungen einer massenmedialen Öffentlichkeit von Printmedien bzw. publizistischer Wirkmöglichkeiten darin.

https://doi.org/10.1515/9783110376531-039

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2 Charakteristika Eindeutige formale Charakteristika des Offenen Briefes lassen sich kaum angeben (vgl. Essig 2000, 331). Die Länge kann von wenigen Zeilen bis zu umfangreichen Buchpublikationen, der Ton von polemischer Aggressivität bis zur freundschaftlichen Unterredung variieren. Immerhin lässt sich festhalten, dass in je unterschiedlicher Intensität bestimmte Merkmale aus der Epistolographie adaptiert und mittels der bereits erwähnten Doppeladressierung in eine mediale Öffentlichkeit transferiert werden. Sie tragen maßgeblich zu der, auf den ersten Blick paradoxen, Grundeigenschaft Offener Briefe bei, ein namentlich adressiertes Schreiben (und Anliegen) in einem öffentlich verbreiteten Medium zu platzieren. Gleichzeitig ist es diese Ambiguität, welche den Offenen Brief anderen publizistischen Formen gegenüber auszeichnet, indem er die Unterscheidung von öffentlich und privat − die sich selbst erst der Etablierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit verdankt − konsequent unterläuft. Als Textsorte, die konkrete Akteure benennt, kommt er darüber hinaus dem massenmedialen Wunsch nach Personalisierung komplexer Sachverhalte entgegen, wie er im Gegenzug seine Verfasser*innen als Produzent*innen massenmedialer Inhalte profiliert. Aus dieser paradoxen Kommunikationssituation leitet sich auch die wesentliche Funktion Offener Briefe ab: Durch sie soll in der Regel aus einer subjektiven Sicht in öffentliche Debatten und Entscheidungsprozesse eingegriffen werden. Das soll überwiegend dadurch erreicht werden, dass der oder die implizite Adressat*in, das heißt das Publikum der Printmedien, gegenüber dem expliziten ­Adressaten eine Position im Sinne des oder der Briefschreiber*in einnimmt und sie massenmedial verstärkt. Nolens volens wird damit aber auch dem oder der expliziten Adressat*in eine entscheidende Wirkmacht zugeschrieben, die betreffenden Debatten oder Entscheidungsprozesse der Briefintention gemäß zu beeinflussen. Offene Briefe richten sich daher oft an Entscheidungsträger*innen oder an Institutionen, denen ein zentraler Einfluss auf Diskussions- und Entscheidungsprozesse zukommt. Insofern können sie durchaus auch als ein Mittel fungieren, obrigkeitsstaatliches bzw. autoritäres Denken zu befördern, das an die Ein- und Durchgriffsmöglichkeiten einzelner Personen gegenüber einer amorphen öffentlichen Debatte appelliert. Dass dies oft im Namen einer publizistischen Instanz geschieht, die ihre Autorität selbst der öffentlichen Meinung verdankt, gehört zu den Idiosynkrasien der Gattung. Beim Offenen Brief handelt es sich also um eine kommunikationstheoretisch vergleichsweise voraussetzungsreiche Textsorte. Sie benötigt Öffentlichkeitsstrukturen, in denen sie lanciert und diskutiert werden kann. Zugleich muss dieser Öffentlichkeit eine spezifische Diskursmacht eignen, damit sie überhaupt als implizite Adressatin Offener Briefe fungieren und Einfluss auf die expliziten

3.14 Offener Brief 

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Adressat*innen ausüben kann. Und schließlich muss diese Öffentlichkeit den Autor*innen Offener Briefe die Möglichkeit einräumen, eine exponierte Sprecherrolle einzunehmen bzw. durch die Publikation eines Offenen Briefes eine solche zu bestätigen. Zola konnte mit seinem „J’accuse“ auch deshalb eine vergleichsweise starke Wirkung erzielen, weil er sich in seiner zwanzigbändigen Romanreihe Les Rougon-Macquart als ernstzunehmender Beobachter und Analytiker der sozialen wie politischen Verhältnisse Frankreichs erwiesen hatte.

3 Historische Entwicklung In der Perspektive einer alteuropäischen Epistolographie kommt der Begriff ‚Offener Brief‘ einer Tautologie gleich; möglicherweise ein Grund dafür, warum er sich in seiner heutigen Bedeutung erst im 18. Jahrhundert in unterschiedlichen europäischen Sprachen etabliert hat (vgl. Essig 2000, 12−14). Bis dato war alle Briefkommunikation, sofern sie nicht den diplomatischen Schriftverkehr betraf, öffentlich in dem Sinne, dass sie meist von mehreren Personen gelesen wurde (vgl. Nickisch 1991, 38–39). Hebt man hingegen auf Appellstruktur und Doppeladressierung als rhetorische wie mediale Textstrategie ab, lassen sich Vorläufer Offener Briefe bis in die Antike rückverfolgen. Als „Prototyp“ (Essig 2000, 23) wird meist das Schreiben von Isokrates an Philipp von Makedonien aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. genannt. Auch das Mittelalter und die Frühe Neuzeit kannten eine Reihe von Textsorten wie Befehl, Mandat oder Supplik, die unter dem Sammelbegriff litterae patentes gefasst wurden, und denen teilweise eine ähnliche Funktion wie dem Offenen Brief zukam (vgl. Essig 2000, 55−67). Dennoch sollte man, ganz abgesehen von der Begriffsgeschichte, mit der Gattungszuweisung unter vormodernen Kommunikationsverhältnissen vorsichtig sein, die weitgehend durch die Dominanz rhetorischer Praktiken und durch das Fehlen einer tagesaktuellen Publizistik gekennzeichnet sind (vgl. Faulstich 1996). Von einer publizistischen Gattung ‚Offener Brief‘ zu sprechen, ergibt daher erst mit Erfindung des Buchdrucks und der Etablierung einer Öffentlichkeit von Printmedien Sinn (so Wellmann 1999, 372). In den Debatten um die Reformation erfahren der Offene Brief bzw. seine Frühformen eine rasche Verbreitung, vor allem die Sendbriefe Martin Luthers, die konkreten Adressaten und zugleich der „reformatorischen Öffentlichkeit“ in ihrer Gesamtheit galten (vgl. Wohlfeil 1982). Einen bemerkenswerten Sonderfall bilden in diesem Zusammenhang die Sendbriefe Ulrich von Huttens, etwa der „Fehdebrief an die Kurtisanen“ vom 4. April 1522, der durch öffentliche Aushänge verbreitet wurde. In ihm wird eine epistolographische Textsorte, die dem Adel vorbehalten war und rechtsverbindlichen

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Charakter hatte, zu einer publizistischen Gattung transformiert, die einen extremen, performativ gewalttätigen Eingriff in die öffentliche Auseinandersetzung intendiert. Als Medium einer intellektuellen Debatte ist der Offene Brief auf eine ihm korrespondierende Öffentlichkeit angewiesen, die sich im deutschen Sprachraum dauerhaft erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etabliert; etwa durch die Briefe, die neueste Literatur betreffend, welche Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn von 1759 bis 1766 in Berlin herausgaben. Allerdings sollte die Briefform nicht darüber hinwegtäuschen, dass man es hier, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht mit Offenen Briefen im engeren Sinn zu tun hat. Die Texte sind zwar in Briefform verfasst, erscheinen aber als fortlaufendes Journal und sind an einen fiktiven expliziten Adressaten gerichtet (vgl. Rose 2015b, 93‒95). Sie partizipieren damit eher an der im 18. Jahrhundert, auch in Zeitschriften, äußerst beliebten Briefliteratur. Anders verhält es sich mit dem Anti-Goeze (1778), einer periodischen Folge von Polemiken in Briefform, die Lessing an seinen Gegner, den Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze, adressiert, und die sich zu einem publizistischen Briefwechsel ausweiten, dem kein realer Briefverkehr zwischen den Kombattanten korrespondiert. In ihm ruft Lessing als impliziten Adressaten eine publizistische Öffentlichkeit an, in der er eine Autorität aufgrund seiner schriftstellerischen Erfolge erlangt hat – während Goeze weiterhin auf der Teilöffentlichkeit einer (theologischen) Gelehrsamkeit besteht (vgl. die betreffenden Kapitel bei Rose 2020). Mit der Profilierung einer intellektuellen Autorschaft gewinnt auch der Offene Brief an Kontur. Spätestens zu Beginn des 19. Jahrhunderts, mit der Eta­ blierung eines differenzierten tages- und wochenaktuellen Zeitungsmarktes und der Figur des „Zeitschriftstellers“ (Ludwig Börne) als Medienproduzenten, wird der Offene Brief zu einer fest etablierten Gattung, die vom ‚symbolischen Kapital‘ von Autoren wie Börne, Heinrich Heine oder Karl Gutzkow profitiert, deren Textproduktion nicht zufällig im Grenzbereich von Literatur und Journalismus angesiedelt ist. Auffällig ist dabei die Adaption ‚offizieller‘ Textsorten wie Denkschrift, Memorandum oder sogar Kriegserklärung, aus der sich die Manifeste der Kulturellen Moderne entwickeln werden (vgl. Rose 2015a). So veröffentlichen die Brüder Julius und Heinrich Hart in ihrer Zeitschrift Kritische Waffengänge einen „Offenen Brief an den Fürsten Bismarck“ (Hart und Hart 1882, 3‒8), in dem sie nicht nur eine „neue Blüthezeit“ der Literatur, sondern auch die Einrichtung eines „Reichsamtes für Literatur, Theater, Wissenschaft und Künste“ fordern. Die Publikationsweise der Manifeste bzw. Offenen Briefe in den Avantgarde-Bewegungen orientiert sich weitgehend an denen öffentlicher Verlautbarungen: Das erste „Manifest des [italienischen] Futurismus“ erschien, äußerst werbewirksam, auf der Titelseite der Tageszeitung Le Figaro am 20. Februar 1909, die erste deutsche Über-

3.14 Offener Brief 

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setzung als Anschlag an Plakatsäulen (vgl. Asholt und Fähnders 1995, 1–2), was an die Vorgeschichte des Offenen Briefes als öffentlicher Anschlag erinnert (vgl. Nickisch 1994, 475–476). Allerdings erstarrte in den Jahren um und nach 1900 die performative Geste, die mit dem Offenen Brief verbunden ist, schnell zum publizistischen „Ritual“ (Essig 2000, 331). Nicht zufällig mokiert sich Karl Kraus schon wenige Jahre nach Veröffentlichung von Zolas „J’accuse“: „Es jacusselt im Feuilleton schon die längste Zeit.“ (Kraus 1911, 62) Hinzu kommt die Beobachtung, dass Offene Briefe selten jene Wirkung erzielt haben, auf deren Eintreten sie ihre publizistische Berechtigung gründen (vgl. Nickisch 1994, 482–483). Gerade die feste Etablierung des Offenen Briefes als publizistische Form und als Mittel der Feuilletondebatte (dokumentiert u.  a. in der Sammlung von Wagenbach 32004) trägt zu seiner Auszehrung als wirkmächtige Gattung maßgeblich bei. Ob die Amalgamierung mit strukturell ähnlichen Formen innerhalb der Netzkommunikation „den Fortbestand dieser eigenwilligen und reizvollen Textform“ (Essig und Nickisch 2007, 16) garantieren kann, bleibt abzuwarten (vgl. auch Essig und Nickisch 2007, 5).

4 Vertreter*innen und Organe Im Prinzip kann jede*r publizistisch Tätige zum bzw. zur Autor*in Offener Briefe werden – oder durch die Veröffentlichung eines Offenen Briefes von der Privatperson zum oder zur öffentlichen Autor*in. Entsprechend lang ist die Liste einschlägiger Vertreter*innen und Texte (vgl. die Quellensammlung von Essig und Nickisch 2007). Für die deutschsprachige Literaturgeschichte exemplarisch sind etwa der Brief Heinrich Heines „An die Hohe Bundesversammlung“ von 1836 (vgl. Heine 1975–1996), mit dem er auf das Verbot des Jungen Deutschland reagierte, der Offene Brief von 93 Intellektuellen „An die Kulturwelt“ vom Oktober 1914, der zum Zeugnis für die „geistige Mobilmachung“ (vgl. Flasch 2000) in Wissenschaft und Literatur im Ersten Weltkrieg wurde, oder die Reaktion Hermann Hesses darauf, die unter dem Titel „O Freunde, nicht diese Töne“ in der Neuen Zürcher Zeitung vom 3. November 1914 erschienen ist. Eine besondere Rolle kommt Thomas Mann als ‚Repräsentanten‘ der deutschen Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu, der nicht nur selbst eine Reihe Offener Briefe verfasste, sondern auch immer wieder als ihr Adressat fungierte (vgl. Essig 2000, 226−229, 250−264). Offene Briefe werden in der Regel in Tages- oder Wochenzeitungen p ­ ubliziert, was mindestens drei Gründe haben dürfte. Erstens reagieren Offene Briefe meist unmittelbar auf eine aktuelle Situation oder Debatte, und ihre Veröffentlichung in tagesaktuellen Medien soll sie als Teil dieses (medialen) Diskussionszusammen-

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 3 Briefgenres

hanges kenntlich machen. Zweitens bedeutet es für die meisten ihrer Autor*innen, die eher aus dem literarischen Feld stammen, einen Prestige- bzw. Geltungsgewinn, wenn sie ihre Texte im politisch-sozialen Feld lancieren können; wie Karl Kraus am Beispiel Alfred Kerrs karikierte: „Denn im Leitartikel wird eine Tat getutet, während im Feuilleton nur eine Tüte gedreht wird.“ (Kraus 1911, 58–59) Und drittens erhöht die Veröffentlichung eines Offenen Briefes in tagesaktuellen Massenmedien die Wahrscheinlichkeit, dass der oder die explizite Adressat*in überhaupt von ihm Kenntnis erlangt.

5 Herausforderungen und Prognosen In den letzten Jahrzehnten hat der Offene Brief zunehmend an Geltung eingebüßt, was nicht allein auf den „Tod des Intellektuellen“ (Bering 2010, 510) als öffentliche Figur zurückzuführen ist. Generell wird die Briefform im Internetzeitalter zunehmend als antiquiert empfunden und verliert an gesellschaftlichem Stellenwert. Das verleiht ihr eine Aura des Authentischen, die sie aber kaum in massenmediale Wirkpotentiale übersetzen kann. Durch die Inflation Offener Briefe, die sich zu beinahe jedem Anliegen finden lassen, und ihre Ritualisierung in Feuilletondebatten ist die Wirkung Offener Briefe generell weitgehend aufgebraucht. Zu beobachten ist jedoch, dass sich einzelne Kommunikationsfunktionen des Offenen Briefes im Internet andere Verbreitungswege suchen. So ist es beispielsweise relativ leicht geworden, sich vor den Augen der Netzcommunity direkt an einen bzw. eine explizite*n Adressat*in zu wenden, ohne dass diese Kommunikation gleich in der relativ komplexen Form eines Offenen Briefes stattfinden müsste. Auch ist das Internet voll von persönlichen Meinungsbekundungen zu allen möglichen Themen und Debatten, so dass der spezifische Mehrwert des Offenen Briefes, nämlich als Privatperson „einen Standpunkt im und zum politischen Geschehen jederzeit spontan öffentlich zum Ausdruck zu bringen“ (Dücker 1992, 32), kaum mehr gegeben ist. Am ehesten sind noch Internet-Petitionen mit dem ‚klassischen‘ Offenen Brief zu vergleichen; nicht umsonst werden beide oft kombiniert, wie etwa bei der hochumstrittenen „Erklärung 2018“, die von prominenten Autor*innen wie Uwe Tellkamp ebenso unterzeichnet wurde wie von tausenden Nutzern sozialer Medien. Angesichts der aktuellen Situation stellt sich der Forschung die Aufgabe, den Auswirkungen des digitalen Kommunikationswandels auf die Gattung des Offenen Briefes nachzuspüren. Im Zentrum sollte dabei die Paradoxie zwischen der globalen Adressierungsoption bzw. viralen Verbreitung auf der einen und dem publizistischen Geltungsverlust auf der anderen Seite stehen. Von Inter-

3.14 Offener Brief 

 559

esse könnte darüber hinaus sein, formale und publizistische Kommunikationslogiken des Offenen Briefes mit denen einer radikal subjektiven Gesellschaftskritik in Verbindung zu bringen, wie sie sich insbesondere in der französischen Öffentlichkeit im Anschluss an Stéphane Hessels Manifest Empört Euch! (2011) herausgebildet haben, das von vielen Rezipient*innen als eine zeitgenössische Variante von Zolas „J’accuse“ begriffen worden ist.

Zitierte Literatur Asholt, Wolfgang u. Werner Fähnders (Hg.) (2005). Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909−1938). Stuttgart u. Weimar. Bering, Dietz (2010). Die Epoche der Intellektuellen: 1898−2001. Geburt, Begriff, Grabmal. Darmstadt. Dücker, Burckhard (1992). „Der offene Brief als Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung“, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 23.1: 32‒42. Essig, Rolf-Bernhard (2000). Der Offene Brief. Geschichte und Funktion einer publizistischen Form von Isokrates bis Günter Grass. Würzburg. Essig, Rolf-Bernhard u. Reinhard M. G. Nickisch (Hg.) (2007). „Wer schweigt, wird schuldig“. Offene Briefe von Martin Luther bis Ulrike Meinhof. Göttingen. Faulstich, Werner (1996). Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter: 800−1400. Göttingen. Flasch, Kurt (2000). Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Berlin. Hart, Heinrich u. Julius Hart (1882). Kritische Waffengänge. Heft II. Leipzig. Heine, Heinrich (1975–1996). „An die Hohe Bundesversammlung“ [28. Januar 1836], in: Ders. Sämtliche Schriften. Hg. v. Klaus Briegleb. Bd. 5. München: 20–21. Hesse, Hermann (1914). „O Freunde, nicht diese Töne“, in: Neue Zürcher Zeitung, 3.11.1914. Hessel, Stéphane (2011). Empört Euch! Berlin. Hutten, Ulrich von (1970). „Fehdebrief an die Kurtisanen“ [4. April 1522], in: Ders. Deutsche Schriften. Hg. v. Peter Ukena. München: 262. Kraus, Karl (1911). „Der kleine Pan röchelt noch“, in: Die Fackel Nr. 321/322 (29. April): 57−64. Nickisch, Reinhard M. G. (1991). Brief. Stuttgart. Nickisch, Reinhard M. G. (1994). „Schriftsteller auf Abwegen? Über politische ‚Offene Briefe‘ deutscher Autoren in Vergangenheit und Gegenwart“, in: Journal of English and Germanic Philology, 93.4: 469−484. Pankau, Johannes G. (1992). [Art.] „Appell, rhetorischer“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen: 836‒839. Rose, Dirk (2015a). „Lessings Krieg. Zum publizistischen und polemikgeschichtlichen Ort der Literaturbriefe“, in: Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien. Hg. v. Stefanie Stockhorst. Hannover: 93–111. Rose, Dirk (2015b). „Kriegserklärungen. Polemisches Material 1882–1914“, in: Materialschlachten. Der Erste Weltkrieg und seine Darstellungsressourcen in Literatur, Publizistik und populären Medien 1899–1929. Hg. v. Christian Meierhofer u. Jens Wörner. Osnabrück: 83–103.

560 

 3 Briefgenres

Rose, Dirk (2020). Polemische Moderne. Stationen einer literarischen Kommunikationsform vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen. Wagenbach, Klaus (Hg.) (32004). Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945. Offene Briefe, Reden, Aufsätze, Gedichte, Manifeste, Polemiken. Mit einem Vorwort v. Peter Rühmkorf. Berlin. Wellmann, Hans (1999). „Der Offene Brief und seine Anfänge. Über Textart und Mediengeschichte“, in: Sprache ‒ Kultur ‒ Geschichte. Sprachhistorische Studien zum Deutschen. Hans Moser zum 60. Geburtstag. Hg. v. Maria Pümpel-Mader u. Beatrix Schönherr. Innsbruck: 361‒384. Wohlfeil, Rainer (1982). „Reformatorische Öffentlichkeit“, in: Ders. Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation. München: 123−133. Ziegler, Karl (Hg.) (1999). Émile Zola, „J’Accuse…!“. Réactions nationales et internationales. Valenciennes. Zola, Émile (2019). La Vérité en marche. L'affaire Dreyfus [1901]. Nouvelle édition augmentée et actualisée. Hg. v. Vincent Duclert. Paris.

Online-Quellen Gemeinsame Erklärung 2018 (2018): https://www.erklaerung2018.de (2.4.2019).

Ulla Fix

3.15 Leserbrief 1 Brief als Kommunikationsform Das Phänomen Brief lässt sich als Gattung/Textsorte/Genre nur schwer festlegen, wie die literatur-, sprach- und kulturwissenschaftliche Diskussion zeigt. Das liegt daran, dass seine Erscheinungsformen und Funktionen äußerst vielfältig sind. Welche Berechtigung könnte es geben, den privaten und den offenen Brief, den Hirtenbrief und den Protestbrief, den Geschäftsbrief und schließlich auch den Leserbrief, obwohl sie so vielgestaltig und funktional so verschieden sind, einer gemeinsamen Kategorie zuzuordnen? Und inwiefern kann man den Leserbrief überhaupt als Brief bestimmen? Ist das nur dadurch gerechtfertigt, dass das Phänomen so genannt wird? Obwohl Gemeinsamkeiten nicht auf der Hand liegen, ordnen wir doch gefühlsmäßig, unserem Alltagsverständnis folgend, alle genannten Erscheinungsformen, auch den Leserbrief, der Kategorie Brief zu. Indem der Leserbrief im Folgenden als eine bestimmte ‚Spielart‘ des Briefes vorgestellt wird, soll nicht nur seine Spezifik herausgearbeitet und auf diese Weise das Phänomen geklärt werden, sondern es soll − als Voraussetzung dieser Überlegungen − die gesamte Kategorie Brief in ihrer Komplexität und Offenheit aus textlinguistischer Perspektive betrachtet werden. Die Sprachgemeinschaft hat im Prinzip das Grundverständnis von Brief, wie es im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (Ueding 1994, Bd. 2, 61) dargestellt wird. Dort heißt es: „Der B. ist eine schriftliche Mitteilung von einer realen, historischen Person an eine andere reale, historische Person, die in der Regel zu einer schriftlichen Gegenäußerung auffordert, was den Ansatzpunkt für einen Briefwechsel (Korrespondenz) bildet.“ Was den Brief vom Gespräch, als dessen Ersatz er vielfach bezeichnet wird, unterscheide, heißt es weiter, sei die Schriftlichkeit der Kommunikation und die räumliche und zeitliche Distanz zwischen Äußerung und Gegenäußerung. Und schließlich werden als die „drei Hauptkonstituenten brieflicher Kommunikation“ Schreiber (Ich-Bezug), Adressat (Du-Bezug), Mitteilung (Sachbezug) genannt. Gemeint ist also eine Art schriftliches, zeit- und raumversetztes Gespräch zwischen zwei Beteiligten. Diese Bestimmung − schriftliche Mitteilung mit Antwort und zwei Beteiligten − wird vielen Spielarten von dem, was wir mit dem Grundwort einer Zusammensetzung (z.  B. Protestbrief, Hirtenbrief, Leserbrief) oder in einer Wortgruppe (z.  B. Offener Brief) als Brief bezeichnen, nicht gerecht. Das zeigt sich beim genaueren Betrachten solcher Fälle: So ist beim Hirtenbrief wie auch beim Offenen Brief eine Antwort der angesprochenen Person bzw. des angesprochenen Personenkreises nicht üblich, zumindest ist sie nicht zwingend. Ebenso erweist https://doi.org/10.1515/9783110376531-040

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 3 Briefgenres

sich die Bestimmung schreibende Person – lesende Person – Sachbezug als nicht hinreichend. Eine solche Konstellation findet sich bei vielen Textsorten, jedenfalls dann, wenn eine reale, historische Person (s.  o.) auch durch eine reale, historische Personengruppe verkörpert wird. Wenn Letzteres zutrifft, dann weisen z.  B. die Textsorte Mitteilung und die Textsorte Aushang in der Kommunikation einer Institution dieselbe Konstellation auf, wie sie das Historische Wörterbuch der Rhetorik für den Brief angibt. Wie geht die Textsortenlinguistik, die sich mit Fragen der Gattungen bzw. Textsorten unter sprachlich-kommunikativ-kulturellem Aspekt befasst, mit diesem Klassifikationsproblem um? Mit der handlungsbezogenen Bestimmung von Textsorte liefert Brinker einen Lösungsansatz. Er nennt Textsorten „konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen“. Sie lassen sich, so Brinker (2014, 139), „als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben“. Sie sind historische Phänomene und gehören zum Alltagswissen der Sprachteilnehmer. Zwar, so Brinker weiter, besitzen sie eine normierende Wirkung, sie „erleichtern aber zugleich den kommunikativen Umgang, indem sie den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für die Produktion und Rezeption von Texten geben“. Man kann Textsorten also danach beschreiben, wie ihre Orientierungsvorgaben, ihre Muster, d.  h. ihre jeweiligen prototypischen Elemente, aussehen. Gemeint sind typische inhaltliche, funktionale und formale Ausprägungen, wie sie für eine bestimmte Sorte von Texten üblich sind. Im Sinne des eben Gesagten ist das, was wir mit Brief meinen, nicht musterhaft. Man kann in diesem Fall nicht von einer Textsorte ausgehen, da sich keine fest abgrenzbaren Gebrauchsbedingungen zeigen. Vor allem kann man keine dominierende Funktion feststellen, die die Textsortenlinguistik (vgl. v.  a. Brinker et al. 82014, 139–140) aber als „Basiskriterium“ für den Charakter einer Textsorte betrachtet. Briefe können sehr verschiedene Funktionen haben (s.  u.). Ebenso wenig wie von einer dominierenden Funktion kann man von typischen Inhalten und von charakteristischen Stilmerkmalen sprechen. Alles ist offen – nur nicht die Tatsache, dass es sich um so etwas wie ein schriftliches Gespräch handelt. Im Gegensatz zu dieser Unbestimmtheit ist der Leserbrief als eine spezifische Ausprägung des Briefes aber durchaus musterhaft. Vor allem ist er klar festlegbar auf eine, nämlich die appellativ-informative Funktion (s.  u.). Wohin ist aber nun der Brief allgemein einzuordnen, wenn er die entscheidende Textsortenbedingung, eine feste Funktion zu haben, nicht erfüllt, wenn er also keine Textsorte ist? Es bietet sich eine Betrachtung nach hierarchischen Stufen an, wie sie im Folgenden dargestellt wird. Wie Texte gestaltet sind, hängt, so Brinker, entscheidend vom Medium ab, das der Gestaltung und der Übermittlung dient. „Die besonderen situativen Merkmale der einzelnen Medien begründen […] verschiedene Arten oder Formen der Kommunikation“ (Brinker et al. 82014, 141).

3.15 Leserbrief 

 563

Da die Briefkommunikation, wie allgemein akzeptiert, als zeitlich und räumlich getrennte, schriftliche Kommunikation einzuordnen ist, kann man den Brief auf der obersten Stufe einer Hierarchie als schriftliche, an ein Gegenüber gerichtete multifunktionale Kommunikationsform einordnen. Die einzelnen Ausprägungen bzw. Arten der Kommunikationsform Brief dagegen gehören als funktional bestimmte Brieftextsorten, die es in ihrer Gemeinsamkeit wie Unterschiedlichkeit zu beschreiben gilt, auf eine tiefere Hierarchiestufe. Diese Stufe bilden nach Brinker die funktional bestimmten Textklassen mit einer jeweils gemeinsamen dominierenden Funktion, so Informationstexte (z.  B. Nachricht, Bericht), Appelltexte (z.  B. Werbeanzeige, Kommentar), Obligationstexte (z.  B. Vertrag, Gelöbnis), Kontakttexte (z.  B. Danksagung, Kondolenzschreiben) und Deklarationstexte (z.  B. Testament, Ernennungsurkunde). Je nach ihrer Funktion lassen sich die spezifischen Brieftextsorten der einen oder anderen Textklasse zuordnen. Zum Beispiel können sie den Appelltexten als appellative Briefe (Mahnbrief, Bittbrief, Leserbrief), in anderen Fällen den Informationstexten als informative Briefe (Geschäftsbrief, viele private Briefe) oder den Kontakttexten als Kontaktbriefe (Glückwunsch, Liebesbrief) zugeordnet werden. Für die Beschreibung ist zusätzlich die Zuordnung zu bestimmten gesellschaftlichen Feldern von Bedeutung, z.  B. zum privaten Bereich (Ausführen privater Rollen: Liebesbrief, Geburtstagsglückwunsch), zum offiziellen Bereich (Ausführen offizieller Rollen: Hirtenbrief, öffentlicher Brief) und zum öffentlichen Bereich (massenmediale Kommunikation: Leserbrief).

2 Textsorte Leserbrief Kommunikationsform Brief: ‚der Brief an sich‘ ↓ Funktional bestimmte Briefklassen: appellative Briefe, informative Briefe, dem Kontakt dienende Briefe etc. ↓ jeweilige Brieftextsorten: Leserbrief, Privatbrief, Geschäftsbrief, offener Brief etc. ↓ Unterarten des Leserbriefs: politikbezogener, kulturbezogener, lebensstilbezogener Leserbrief etc. ↓ Exemplar einer Brieftextsorte: Leserbriefexemplare

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 3 Briefgenres

Wie die Übersicht zeigt, ergibt sich für den Komplex ‚Leserbrief‘ eine fünfstufige Hierarchie, an deren Spitze die Kommunikationsform steht, also der ‚Brief an sich‘. Tiefer in der Hierarchie finden sich die einzelnen funktional bestimmten Briefklassen, also z.  B. die appellativen Briefe. Diesen sind Brieftextsorten untergeordnet. Hierhin gehört der Leserbrief als ein Typ des appellativen Briefs. Die nächst tiefere Hierarchiestufe erfasst die thematisch differenzierten Ausprägungen von Leserbriefen: politisch, kulturbezogen, die Lebensweise betreffend u.  a. Auf der untersten Ebene der Hierarchie denken wir uns die einzelnen Textexemplare, also konkrete Leserbriefe. Was nun zu folgen hat, ist die weitere, ins Einzelne gehende Beschreibung der Brieftextsorte Leserbrief. Es hat verschiedene Versuche gegeben, das Phänomen aufzufächern. Folgt man Buchers induktiv vorgehender Einteilung, so kommt man zu drei Unterarten von Leserbrief. Dies sind der „pressekritische Leserbrief“, der „Diskussionsleserbrief“ und der „Erweiterungsleserbrief“ (Bucher 1989, 295– 296). Diese Einteilung erfasst tatsächlich existierende Arten von Leserbriefen, lässt aber eine ganze Reihe von ebenfalls kommunikationsbezogenen Aspekten unbeachtet. Diese werden im Folgenden ergänzt. Leserbriefe als Textsorte sind nach kommunikationsorientierten Gesichtspunkten zu betrachten (neue Formen wie v.  a. Leserbriefe als E-Mail werden hier nicht einbezogen, vgl. Burger und Luginbühl 42014, 16, 462–464). Unterschieden wird nach dominierenden Funktionen (Kritik, Anklage, Zustimmung oder Selbstvergewisserung), nach dominierenden Adressaten (Zeitung, andere Leserbriefschreiber oder die Öffentlichkeit als Adressat), nach dominierenden Sprachhandlungen (Erörterung/Argumentation, Beschreibung oder, was selten der Fall sein wird, Narration), nach dominierenden Gegenständen (Politik, Kommune, Sport, Kultur), nach der Art des intertextuellen Anschlusses (expliziter Bezug auf einen Pressetext, auf einen vorgängigen Leserbrief, auf eine Politikeräußerung oder ohne einen solchen Bezug, vgl. zur Intertextualität Burger und Luginbühl 42014, 94, Rezipiententext), nach politischen und medieninstitutionellen Rahmenbedingungen (z.  B. demokratisch-pluralistische Gesellschaftsordnung oder autoritäre Systeme) sowie nach dem Einfluss der Redaktion (Auswahl, Bearbeitung, Anordnung). Grundsätzlich gilt, dass Leserbriefe als Textsorte der individuellen Auseinandersetzung des Einzelnen mit Problemen der Öffentlichkeit dienen. Ihre Verfasser sind in der Mehrzahl der Fälle Personen, die bei ihren öffentlichen Äußerungen nicht den Rückhalt eines Amtes oder einer Funktion haben, sondern die in diesem Sinne überwiegend zu den ‚kleinen Leuten‘ gehören (vgl. Fix 2007, 214), eine Benennung, die in keiner Weise herabsetzend gemeint ist. Es handelt sich bei Leserbriefen wohl meistens um Texte, die dem Bedürfnis des Schreibenden nach Vergewisserung seiner selbst, nach Selbstbestätigung und damit der (vermeintlichen) Identitätsfindung dienen. Bestätigung wird schon darin gesehen,

3.15 Leserbrief 

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dass man gedruckt worden ist und durch das Erscheinen des eigenen Namens in der Öffentlichkeit gleichsam einen ‚Nachweis‘ bzw. sogar eine ‚Realisierung‘ der eigenen Existenz geliefert hat. Dies wird ein starkes Motiv vor allem des Typs von Leserbriefschreiber*innen sein, der sich häufig, wenn nicht sogar regelmäßig zu Wort meldet. Indem der bzw. die Leserbriefschreiber*in seine bzw. ihre Meinung zu einem Problem mehrfachadressiert (Problemverursacher, Zeitungsredaktion, Leser*innen, andere Leserbriefschreiber*innen) und mit der Hoffnung auf Zustimmung durch die anderen äußert, sucht er bzw. sie die Bestätigung der eigenen Meinung von außen, die das eigene Selbstkonzept stärken soll. Die informelle Form des Leserbriefs als grundsätzlich jedem offenstehende Möglichkeit, sich über ein allgemein interessierendes Thema öffentlich zu äußern, ist in unserer Vorstellung sehr präsent. Häufig zu hörende Formulierungen, zuweilen sogar drohend gemeinte, sind z.  B.: ‚Das kommt in die Presse‘, ‚Das schreibe ich der Zeitung‘, ‚Da schreibe ich einen Leserbrief.‘ Loreck (1982) stellt fest, dass Leserbriefe bei Umfragen in der Regel als ein Mittel beschrieben werden, das im Grundgesetz festgelegte Recht auf freie Meinungsäußerung zu realisieren und sich ein Mitspracherecht in der Massenkommunikation zu sichern. (Auf die Tatsache, dass mittlerweile eine Fülle computerbasierter Formen der öffentlichen Meinungsäußerung wie E-Mail, Blog, Twitter, Chat und SMS für diese Zwecke zur Verfügung steht, kann hier nicht eingegangen werden.) Die oben getroffene Feststellung erfährt im Folgenden Bestätigung aus der rechtlichen Perspektive: „Die Leserbriefe sind ein Mittel öffentlicher Auseinandersetzung. Sie sollen Gelegenheit bieten, in Rede und Gegenrede Meinungsstreit vor der Öffentlichkeit auszutragen. Sie können auf diese Weise wesentlich zur Bildung der öffentlichen Meinung beitragen.“ (Schwinge 1967, 488) Die Alltagsvorstellung vom Leserbrief spricht also ebenso wie die juristische Bestimmung dafür, ihn als ein relevantes und den Mitgliedern der Gesellschaft, v.  a. den ‚kleinen Leuten‘, rechtmäßig zustehendes Element der Teilhabe am öffentlichen Diskurs zu betrachten. Das gilt in besonderem Maße für den politischen Diskurs.

3 Leserbriefe in der politischen Kommunikation Leserbriefe als Textsorte in politischen Handlungszusammenhängen sind informelle Ausprägungen politischer Partizipation. Es geht bei ihrem Gebrauch um öffentliche politische Äußerungen, die nicht durch Ämter und Funktionen und nicht durch die Offizialität der Situation abgesichert sind, sondern die die Meinung des Einzelnen zur Sprache bringen.

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 3 Briefgenres

Klein (2000, 752–753) hat in einer ausführlichen Beschreibung von Textsorten der Politik eine Gruppe „politikadressierte Textsorten externer Emittenten“ angesetzt. Seinem Raster für politische Texte folgend und es ergänzend, kommt man zur nachfolgenden Beschreibung des prototypischen politikbezogenen Leserbriefs: Der politische Leserbrief ist schriftlich verfasst und wird emittiert von nicht organisierten Bürger*innen. Adressat*innen sind primär die Öffentlichkeit, aber auch andere Leserbriefschreiber*innen und die Zeitung kommen als Adressat*innen infrage. Thema des Briefes ist meist ein vom Emittenten als negativ erachteter Sachverhalt, die Grundfunktion des Textes ist dabei appellativ-konfrontativ. Als Geltungsmodus kann der emittentenseitige Wahrheits- und Richtigkeitsanspruch veranschlagt werden. Adressat*innen sind nicht zur Reaktion verpflichtet, nicht einmal zur Kenntnisnahme. Als dominierendes Texthandlungsmuster kann das ‚Räsonieren‘ gelten. Damit ist gemeint, dass die Emittenten gegenüber den Adressat*innen protestieren, „indem sie einen Sachverhalt, insbesondere eine Entscheidung als in der Verantwortung des primären Adressaten liegend kennzeichnen, sich gegen ihn empören, seine Abschaffung oder Änderung durch den primären Adressaten im Sinne der Emittentenvorstellung fordern und dafür Gründe anführen“ (Klein 2000, 752). Die Themenentfaltung kann im Fall des politischen Leserbriefs deskriptiv, argumentativ, partiell auch narrativ erfolgen. Er ist zumeist zwei- oder dreigliedrig aufgebaut (Darstellung und Forderung), der Emittent schreibt aus der Ich-Perspektive, die Referenz auf die Adressat*innen ist dabei nicht-persönlich. Die Briefe weisen eine allgemeinsprachliche, emotional-expressive Lexik auf, die z.  T. auch fachsprachlich und rhetorisch sein kann. Rhetorische Mittel dienen vor allem der Expression und Zuspitzung. Es finden sich intertextuelle Bezüge zum Zeitungstext, zu anderen Leserbriefen oder Politikertexten. Wenn von politischer Kommunikation die Rede ist, denkt man traditionell an Texte von Parlaments-, Regierungs- und Parteimitgliedern (z.  B. Gesetzentwurf, Regierungsbericht, Wahlrede). Daneben gilt die Aufmerksamkeit Texten der Medienvertreter und auch dem, was Repräsentant*innen von Verbänden, Gewerkschaften, Bürgergruppen und was Expert*innen zu sagen haben (z.  B. Leitartikel, Kolumne, Kommentar, Reden von Verbandsmitgliedern, Protestadressen von Gewerkschaften). Diese Personenkreise haben in politischen Zusammenhängen eine institutionell begründete Position und insofern auch eine mehr oder weniger gewichtige Stimme (vgl. Klein 2000). Wie bereits angedeutet, gibt es neben den Textsorten dieser drei offiziellen Interaktionsrahmen, die den „Trägern solcher Systemfunktionen“ (Klein 2000, 734) vorbehalten sind, aber auch solche, auf die die Adressat*innen politischer Kommunikation, die ‚kleinen Leute‘, zugreifen können. Diese Textsorten stehen ihnen speziell für ihren Anteil

3.15 Leserbrief 

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an der politischen Kommunikation zur Verfügung. Zugänglich sind jedem, der davon Gebrauch machen will, Texte, die dem Widerspruch dienen (vgl. Grünert 1984, 33), wie z.  B. Petition, Protestresolution, Protestparole. Hierhin gehört auch der Leserbrief, sofern er sich politisch äußert. Dies geschieht in der Regel mit dem Sprachspiel (vgl. Grünert 1984) des Räsonierens. Darunter werden alle die Bedeutungsvarianten verstanden, die im Deutschen Wörterbuch von Paul (102002) für dieses Verb aufgeführt werden, also sowohl „(vernünftig) denken, reden, argumentieren, erörtern“ als auch abwertend „spekulieren, vernünfteln“ und „abfällig reden, mäkeln“. Während politische Textsorten des Widerspruchs wie Protestparole und Petition eingebettet sind in Aktivitäten wie Demonstrationen, Sprechchöre, Vorstelligwerden bei Instanzen, besteht im Fall des Leserbriefs die Handlung allein darin, dass er in einer Zeitung oder Zeitschrift publiziert wird. Sein spezifisches Merkmal ist das ganz unabhängig von praktischen Handlungen ablaufende öffentliche Räsonieren, als dessen Funktionen (relativ risikoloses) Argumentieren, Spekulieren und Kritisieren genannt werden können. Dieses Sprachhandeln gibt auch denen, die ohne Machtbefugnisse sind, die Möglichkeit, sich ohne negative Folgen öffentlich zu äußern und Meinungsbeeinflussung zu betreiben. Der Leserbrief ist demzufolge zu verstehen als eine an die Meinungspresse (vgl. Burger und Luginbühl 42014, 57) gebundene, allgemein verfügbare Textsorte, die der Artikulation der – freilich partikularen – öffentlichen Meinung ‚von unten‘ nach ‚oben‘, dient, wobei Folgen in der Regel nicht zu erwarten sind und wohl auch tatsächlich nicht befürchtet werden. Damit befindet sich diese Textsorte in der Gesellschaft des politischen Witzes, der Graffiti und solcher kommunikativer Gattungen wie Klagegespräch, Beschwerdegespräch, Stammtischgespräch, Zuschauerkommunikation u.  ä., deren Funktion vor allem in der politischen Selbstbestätigung und -vergewisserung, in der Suche nach Zustimmung, in der emotionalen Entlastung durch Klagen und Schimpfen und der mit all dem verbundenen Herstellung eines Integrationsgefühls besteht. Dass der Leserbrief an die schriftliche Form gebunden ist, spricht nicht gegen diese integrierende Funktion. Man kann ohne Mühe Leserbrief-Dialoge und Leserbrief-Polyloge finden. Es ist, wie mit Bezug auf das Wörterbuch der Rhetorik (s.  o.) schon gesagt, kennzeichnend für die Leserbriefe, dass sie Gesprächscharakter haben. Einen speziellen Fall politischer Leserbriefkommunikation bilden Leserbriefe in autoritären Systemen (vgl. Boas 1993; Fix 1993). Mit deren Betrachtung eröffnet sich eine andere Perspektive, nämlich die Untersuchung der vom ‚Normalfall‘ abweichenden Funktionen, Formen und Strategien, die Leserbriefe in diesen Systemen mit ihrem eigenen Verständnis von der Rolle der Massenmedien (vgl. Balint 1971) aufweisen. Die traditionellen Aufgaben der Massenmedien – Nachrichten- und Informationsverbreitung sowie öffentliche Artikulation der Mei-

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 3 Briefgenres

nungsvielfalt – werden ersetzt durch die Vermittlung von ideologisch bestimmten Werten und Verhaltensvorschriften, wobei die Wertsetzung immer aus der Sicht der herrschenden Machtinstanz erfolgt. Die Leserbriefe politischen Inhalts fungieren im Rahmen eines asymmetrischen Adressatenverhältnisses, in dem die ‚unten‘ Befindlichen keine Stimme haben. Leserbriefe sind hier also nicht die unzensierte Stimme der ‚kleinen Leute‘. Sie stellen keine spontanen Äußerungen dar, sondern werden zu großen Teilen organisiert, angeordnet, erkauft, auch fingiert (vgl. Fix 1993). Wenn sie aus eigenem Antrieb geschrieben werden, stellen sich die Schreiber*innen, um den Abdruck zu sichern, in der Regel auf die Erwartungen der Machtinstanz in Form und Inhalt ein. Unter diesen Umständen entstandene Leserbriefe müssen demnach, jedenfalls wenn sie aus einem bestimmten politischen Anlass in großer Zahl dasselbe Thema behandeln, als Teil von Inszenierungen betrachtet werden. Die Inszeniertheit der Leserbriefe kann sich in übereinstimmenden angepassten Inhalten und Argumenten wie auch in einer gleichförmigen, an den offiziellen Stil angepassten Sprachgestalt ausdrücken. Der von Straßner (21999, 17) formulierten Leistung des Leserbriefs in der Presse demokratischer Staaten, „der Leseranbindung wie der Diskussion zwischen Lesern und Redaktion bzw. der Leser untereinander“ zu dienen, steht in diesen Texten die werte- und verhaltensvermittelnde Funktion gegenüber.

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3.15 Leserbrief 

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Grünert, Horst (1984). „Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte in ihrer Verflechtung“, in: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Bd. 1. Hg. v. Werner Besch, Oskar Reichmann u. Stefan Sonderegger. Berlin u. New York: 29–37. Klein, Josef (2000). „Textsorten im Bereich politischer Institutionen“, in: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 1. Hg. v. Klaus Brinker, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann u. Sven F. Sager. Berlin u. New York: 732–755. Loreck, Sabine (1982). Leserbriefe als Nische öffentlicher Kommunikation: Eine Untersuchung aus lerntheoretischer Perspektive. Münster. Lüger, Heinz-Helmut (1983). Pressesprache. Tübingen. Paul, Hermann (102002). Deutsches Wörterbuch: Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. Überarb. u. erw. v. Helmut Henne, Heidrun Kämper u. Georg Objartel. Tübingen. Schwinge, Erich (1967). „Der Leserbrief und seine rechtliche Beurteilung“, in: Festschrift für Fritz von Hippel zum 70. Geburtstag. Hg. v. Josef von Esser u. Hans Thieme. Tübingen: 479–490. Straßner, Erich (21999). Zeitung. Grundlagen der Medienkommunikation. Tübingen. Ueding, Gert (Hg.) (1994). Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2. Tübingen.

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Markus Schiegg

3.16 Patientenbrief 1 Begriffsdefinition Ein Patientenbrief ist die schriftliche Korrespondenz im Kontext einer ärztlichen Behandlung, bei der die behandelte Person beteiligt ist. Man kann unterscheiden zwischen dem Brief des Patienten an unterschiedliche Adressaten und dem Brief an den Patienten. Bei letzterem ist der Patient der direkte Adressat, um ihn etwa „nach einem stationären Aufenthalt mit einem Resümee des Behandlungsverlaufs und weiteren Gesundungsratschlägen zu versorgen“ (Thorsen-Vitt et al. 2007, 8). Auch zur Patientenbindung eingesetzte Rundschreiben von Arztpraxen mit Informationen für ihre Patienten werden gelegentlich als Patientenbriefe bezeichnet (vgl. Streit und Letter 2005, 110). Der Fokus dieses Beitrags liegt jedoch auf Briefen, bei denen Patientinnen und Patienten aktiv beteiligt sind. Derartige Briefe verfassen Patienten vor, während und auch nach der Behandlung. Adressaten der Briefe sind nicht nur Ärzte, sondern können auch die Familie oder Bekannte der Patienten sein, insofern durch eine stationäre Behandlung die Situation einer räumlichen Trennung eintritt. Es lassen sich drei Typen von Briefen der Patienten unterscheiden: (a) Konsiliarbriefe bzw. Konsultationskorrespondenz, also Briefe zwischen Arzt und Patient, die aus der Praxis der Fernkonsultation resultieren und insbesondere aus dem 17. und 18. Jahrhundert überliefert sind. (b) Auch die seit dem 19. Jahrhundert in psychiatrischen Anstalten behandelten Patienten verfassten Briefe an ihre Ärzte und die Anstaltsdirektion sowie an ihre Verwandten. Die damalige Praxis der Briefzensur hatte zur Folge, dass eine große Anzahl dieser Briefe in historischen Patientenakten archiviert wurde. (c) Daneben wird die Bezeichnung Patientenbrief manchmal im Sinne einer Patientenverfügung verstanden. Dies ist eine „medizinische Vorausverfügung, in der eine aktuell einwilligungsfähige Person für den Fall einer späteren Einwilligungsunfähigkeit eine Zustimmung oder Ablehnung medizinischer Maßnahmen erteilt“ (Ernst 2012, 47). Diese Verwendung des Begriffs geht auf Uhlenbruck (1978) zurück und stellt das Prinzip der Patientenautonomie in den Vordergrund. Aufgrund des Patientengeheimnisses können in Deutschland Patientenunterlagen in der Regel erst nach einer Schutzfrist von 80 Jahren eingesehen werden (vgl. Schäfer 1997), so dass der Forschungsgegenstand ‚Patientenbrief‘ notwendigerweise ein historischer ist. Dieser Artikel beschränkt sich somit auf (a) Konsultationskorrespondenz und (b) Briefe von Patienten psychiatrischer Anstalten bis ins frühe 20. Jahrhundert. Diese beiden Brieftypen werden im Folgenden in ihren https://doi.org/10.1515/9783110376531-041

3.16 Patientenbrief 

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Entstehungskontexten und ihrer Überlieferungslage dargestellt (Abschnitt  2). Eine Forschungsgeschichte (Abschnitt 3) zeichnet das sich verändernde Interesse an Patientenbriefen nach. Abschließend (Abschnitt 4) werden Perspektiven aufgezeigt, die neuere Projekte zur Online-Publikation von Briefkorpora eröffnen.

2 Systematische und historische Aspekte 2.1 Konsiliarbriefe/Konsultationskorrespondenz Briefe, in denen Patienten Mediziner um Ferndiagnosen und Behandlungsratschläge bitten, sind bereits aus der Antike belegt, etwa im 7. vorchristlichen Jahrhundert bei den Assyrern und im kaiserzeitlichen Rom, wo Galen von Pergamon regelmäßig Fernkonsultationen durchführte (vgl. Ruisinger 2008, 20). Vom mittelalterlichen Petrus Venerabilis ist ebenfalls ein medizinischer Briefwechsel überliefert (vgl. Sirasi 1990, 115). Medizinische Consilia sind vor allem im späteren Mittelalter von italienischen Gelehrten belegt, beispielsweise von Gentilis de Fulgineo (13.  Jh., 1. Hälfte; vgl. Ceccarelli Lemut 2000, 162); vom Mediziner Bartholomaeus de Montagnana existieren über 300 Consilia (14.  Jh., 2. Hälfte; vgl. Schuba 1985, 184). Aus der Frühen Neuzeit liegen ebenfalls Consilia vor (vgl. Graumann 1993). Nach der Reformation entstand ein neues „Selbstverständnis des Landesherren als ‚gnädigem Landesvater‘“ (Vanja 2006, 27), welches es nun allen Teilen der Bevölkerung erlaubte, in Bittschriften bei der Obrigkeit um Hilfe anzufragen. Hier sind nun auch Briefe aus den unteren Gesellschaftsschichten überliefert, wobei sie sich bei der Schilderung ihrer Beschwerden auch an Ärzte wandten. Im Zeitalter der Aufklärung wuchs die Popularität dieses Genres und ein zentraler Teil der medizinischen Praxis erfolgte bei der europäischen Elite über Briefwechsel. Als Blütezeit brieflicher Konsultationen gelten das 17. und 18. Jahrhundert, was auch auf das verbesserte Postwesen zurückzuführen ist (vgl. Stolberg 2000, 169). Häufig sind dabei Konsultationsschreiben von Aristokraten, Landbesitzern und der herrschenden Klasse zu finden (vgl. Shuttleton 2015, 189; Brockliss 1994, 80). Als „Untergrenze der Schichten“, aus denen die Patienten stammten, listet Stolberg (1996, 387) Schullehrer, einfache Landgeistliche, Nonnen und die mittleren militärischen Ränge auf. Dass kaum Konsultationsbriefe ‚einfacher Leute‘ überliefert sind, liegt neben dem geringeren Alphabetisierungsgrad dieser Bevölkerungsschichten auch an den Gebühren, welche die Ärzte für die Fernkonsultation meist schon im Voraus verlangten (vgl. Taddei 2010, 111). Manche Mediziner, etwa der Schotte William Cullen, verzichteten aber bei Patientengruppen

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 3 Briefgenres

wie armen Witwen oder den eigenen Studenten auf die Behandlungsgebühr (vgl. Shuttleton 2015, 189). Konsultationsbriefe hatten sowohl für die Patienten als auch die Ärzte Vorteile. Patienten konnten einerseits dem Ärztemangel auf dem Land begegnen und mühevolle Reisen vermeiden; insbesondere bettlägerigen und alten Patienten wurde empfohlen, den Arzt über den Ablauf der Krankheit schriftlich zu informieren (vgl. Taddei 2010, 104). Andererseits ergab dies für die Patienten die Möglichkeit, eine Zweitmeinung einzuholen, sodass der Patient „in verstärktem Maße zum Dramaturgen seiner eigenen Geschichte“ (Ruisinger 2008, 23) wurde und über sich selbst bestimmte. Oftmals wurde der Expertenrat auch vom Hausarzt des Patienten eingefordert, was jenem nicht nur zur „Sicherung seiner oft permanent gefährdeten eigenen Position“ diente, sondern auch als „eine Art von ‚Türöffner‘ bzw. zur Kontaktpflege in der gelehrten Welt“ (Grosser 2015, 167) fungieren konnte. Für den konsultierten Arzt waren die Briefe eine willkommene Einnahmequelle und boten eine Arbeitserleichterung, indem die „zeitliche Entkoppelung“ (Taddei 2010, 111) es ihm erlaubte, Diagnosen ohne Zeitdruck im „Schutz und Freiraum seines Studierzimmers“ (Schnalke 1997, 219) durchzuführen. Die Konsultationen von höhergestellten Patienten bedeuteten dabei „nicht nur eine quantitative Ausdehnung, sondern auch eine qualitative Aufwertung der Praxisklientel“ (Ruisinger 2008, 29). Das Führen einer Konsiliarkorrespondenz galt damit als Zeichen für die erfolgreiche Etablierung eines Medicus. Diese wurde von den Ärzten nicht nur als privates Nachschlagewerk aufbewahrt, sondern diente auch als Grundlage zur Publikation von Fallstudien (siehe Abschnitt 3). Als Folge dessen sind uns zahlreiche Briefnachlässe von Medizinern erhalten, etwa von Leonhardt Thurneisser, Lorenz Heister, William Cullen und Samuel Auguste Tissot (vgl. Ruisinger 2008, 12–17). Im 19. Jahrhundert erfolgte ein starker Rückgang von Konsultationsbriefen. Einerseits lässt sich dies auf die gestiegene Ärztedichte auch in ländlichen Regionen zurückführen (vgl. Stolberg 2000, 171), andererseits auf ein neues Krankheitsverständnis mit veränderten Diagnoseverfahren. Da im 18. Jahrhundert die Medizin in der Regel als intellektuelle Disziplin und weniger als ein praktisches Handwerk verstanden werden wollte, war es für die Mediziner von Bedeutung, diesen Status als medici puri aufrechtzuerhalten, indem sie den direkten Kontakt mit und die Berührung von Patienten vermieden (vgl. Brockliss 1994, 79). Ohne technische Hilfsmittel führten sie Diagnosen nur durch Befragen des Patienten und eigene Beobachtungen durch (vgl. Huerkamp 1985, 22), was durch briefliche Fernkonsultationen ersetzt werden konnte. Zum 19. Jahrhundert hin erfolgte in Frankreich und einige Jahrzehnte verspätet auch in Deutschland die Wende zu einer „empirisch-analytisch ausgerichtet[en]“ (Huerkamp 1985, 88) Medizin. Krankheiten wurden nun einzelnen Organen zugeordnet und bei körperlichen

3.16 Patientenbrief 

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Untersuchungen diagnostiziert, was mit neu entwickelten Instrumenten wie Stethoskop und Thermometer vor Ort erfolgen musste. Als Folge dieser Neufokussierung nahmen Konsultationsbriefe an die Mediziner stark ab, wobei dieses Genre nicht überall zum Erliegen kam (z.  B. in Tirol: vgl. Taddei 2010). Vertreter alternativer Behandlungsmethoden, die den lokalistischen und pathologisch-anatomischen Auffassungen nicht zustimmten, wurden weiterhin brieflich konsultiert, zumal solche Methoden nicht überall verbreitet waren. Von Samuel Hahnemann (1755–1843) etwa, dem Begründer der Homöopathie, sind mehrere tausend Patientenbriefe überliefert, die er großenteils als Originale in seine Krankenjournale einklebte (vgl. Stolberg 2000, 172). Der Homöopath Léon Vannier führte noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine solche Korrespondenz (vgl. Faure 2002). Als heutige Form dieses Genres könnte man OnlineKonsultationen anführen, die etwa als Video-Chats mit Ärztinnen und Ärzten stattfinden; allerdings untersagt das ärztliche Berufsrecht die ausschließliche Fernbehandlung (vgl. Krüger-Brand 2014, A1846).

2.2 Briefe von Patienten psychiatrischer Anstalten Im Zuge der Professionalisierung der Medizin entstand in den deutschen Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Anstaltswesen, wobei sowohl bestehende ‚Irreneinrichtungen‘ zu Heil- und Pflegeanstalten umgestaltet als auch zahlreiche neue Institutionen insbesondere in Entfernung von Ballungszentren etabliert wurden (vgl. Schott und Tölle 2006, 259). Die Trennungssituation der Patienten von ihren Angehörigen führte zu brieflicher Kommunikation. Unterstützt von Armenverbänden wurden auch mittellose Personen in den öffentlichen psychiatrischen Anstalten versorgt. Beachtenswert dabei ist, dass auch diese das Bedürfnis hatten, Briefe zu schreiben. Briefe, die an Adressaten außerhalb der Krankenhäuser abgeschickt wurden, sind uns nur selten und eher von bekannteren Persönlichkeiten erhalten. Der Schriftsteller Robert Walser etwa, der in der Bernisch kantonalen Irrenanstalt Waldau behandelt wurde, schrieb an seine Ehefrau Briefe, die diese aufbewahrt hat und die in Walsers Gesamtwerk publiziert wurden (vgl. Wernli 2014, 10). Ähnlich sind auch von Hermann Hesse aus der Heilanstalt Stetten, wo jener als Jugendlicher für einige Wochen weilte, einige Briefe an seine Eltern überliefert (vgl. Hesse 2012, 95–111). Viel häufiger sind Patientenbriefe jedoch in den oftmals noch vorhandenen Patientenakten zu finden. Dort wurden die Briefe gesammelt, welche die Patienten an die Anstaltsleitung geschrieben haben, etwa Anfragen und Beschwerden während der Behandlung, Dankesbriefe nach der Entlassung oder auch Rechtfertigungsschreiben während einer erfolgreichen Flucht. Briefe

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 3 Briefgenres

wurden dabei manchmal vollständig oder auch auszugsweise in den ‚Tagesnotizen‘ zitiert (vgl. Nolte 2003, 77). Dazu kam die Praxis, nur ausgewählte Patientenbriefe tatsächlich auch abzuschicken. Als Resultat einer solchen Briefzensur sind uns tausende Briefe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts überliefert. In Deutschland etwa aus Irsee/Kaufbeuren (vgl. Schiegg 2015a), aus Marburg (vgl. Scharfe 2001; Nolte 2003), der Illenau (vgl. Burkhardt 2003) und Gießen (vgl. Riecke 2008). Zensiert wurde z.  B. auch in Österreich (vgl. Grießenböck 2011), der Schweiz (vgl. Wernli 2014), in Italien (vgl. Panattoni 2011), Großbritannien (Andrews 1998; Beveridge 1998; Davies und Kidd 2013; Scrimgeour 2015), den USA (vgl. Hughes 1993), Kanada (Reaume 2000), Australien und Neuseeland (Coleborne 2006) – eine aktuelle und möglichst vollständige Bibliographie hierzu wird auf der Projekthomepage CoPaDocs zur Verfügung gestellt (vgl. Schiegg 2017–). Meist wurde in den Anstaltsstatuten festgelegt, dass der Kontakt zwischen Patienten und Angehörigen in Form von Besuchen sowie Briefkorrespondenz vom ärztlichen Direktor kontrolliert wurde, der die Briefe öffnete und ggf. nicht weiterleitete, was zum Teil bis weit ins 20.  Jahrhundert hinein so praktiziert wurde (vgl. Wernli 2014, 16). In manchen Ländern war dies in der Gesetzgebung verankert, etwa im Schottischen Lunacy Act von 1866 (vgl. Beveridge 1998, 434), wobei dort an den Sheriff adressierte Briefe ähnlich wie die in England an den Lord Chancellor oder das Lunacy Board gerichtete Schreiben von der Zensur ausgeschlossen blieben (vgl. Andrews 1998, 270). Hauptgrund der Briefzensur war die Praxis, Form und Inhalt von Patiententexten als Belege für psychische Krankheiten heranzuziehen. Patientenbriefe erlaubten eine „Momentaufnahme des seelischen Zustandes einer Person“ (Ankele 2009, 57) und lieferten zudem Informationen über gewisse Strebungen wie Selbstmordgedanken und Entweichungsabsichten (vgl. Scharfe 2001, 165). Auch galten sie als nützliche Belege für eventuelle Rechtsstreitigkeiten im Anschluss an die Behandlung (vgl. Andrews 1998, 270). Die Institutionen vermieden es zudem, dass Briefe, in denen Kritik am medizinischen Personal, der Unterbringung und Verpflegung geübt wurde, nach außen gelangten (vgl. Nolte 2003, 76). Außerdem wurde damit argumentiert, dass es unverantwortlich sei, wenn Informationen über Mitpatienten veröffentlicht würden (vgl. Scharfe 2001, 165), sowie dass gewisse Briefe insbesondere von weiblichen Patienten im Nachhinein bereut würden (vgl. Reaume 2000, 88). Da die Institutionen von der Finanzierung durch die Angehörigen abhängig waren, sollten besonders kritische Briefe diese nicht erreichen (vgl. Andrews 1998, 269). Oftmals wünschten Angehörige auch selbst keine Briefe (vgl. Reaume 2000, 89). Briefe an bekannte Personen der Regierung und Kirche wurden meist generell nicht abgeschickt (vgl. Beveridge 1998, 434). Das Schreiben von Briefen wurde gelegentlich als schädlich für die Kranken betrachtet, die dadurch in Unruhe versetzt würden (vgl. Nolte 2003,

3.16 Patientenbrief 

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77), ebenso wie gewisse Informationen von der Außenwelt „auf das Heilverfahren störend wirken könnten“ (Niedergassel 1977, 164). Dies erklärt die Nichtweiterleitung einiger Briefe an Patienten. Die Patienten waren sich der Briefzensur oftmals nicht bewusst, was wiederholte Nachfragen bezüglich der Nichtbeantwortung von Briefen belegen. Manchmal wurde ihnen nur erlaubt „ordentliche Briefe“ (Nolte 2003, 81) zu schreiben. Die Verwendung „unerwünschter Ausdrücke“ (Burkhardt 2003, 191) konnte zu Schreibverbot führen, Rufschädigung der Anstalt sogar zu einem Fasttag und Einsperrung (vgl. Niedergassel 1977, 164). Die Entdeckung solcher Briefe wurde ebenfalls als Anlass zur Aufenthaltsverlängerung verwendet (vgl. Nolte 2003, 79). Die Patienten versuchten die Zensur zu umgehen, indem sie Briefe heimlich schrieben und versteckten und dann Besuchern oder beurlaubten bzw. zu entlassenden Mitpatienten gaben. Auch das in den Anstalten beschäftigte Pflegepersonal und Lieferanten waren gelegentlich bei der Beförderung behilflich. Zum Teil gaben Patienten ihre Briefe bei Ausgängen auf (vgl. Hughes 1993, 38; Nolte 2003, 77). Inhaltlich sind diese Briefe recht vielfältig; man erhält detaillierte Einblicke in die Gedankenwelt der Patienten sowie in den Alltag des Mikrokosmos Psychiatrische Anstalt (vgl. Schiegg 2019). Jedoch haben die Briefe in der Regel weniger deskriptiven als appellativen Charakter. Häufig bitten die Patienten ihre Adressaten um Freilassung, erwarten den Besuch von Angehörigen oder wünschen die Zusendung von Kleidung, Lebensmitteln oder anderen Dingen aus ihrer Heimat. Die Beschreibungen ihrer Lebenskontexte, also Gesundheitszustand, Behandlungsmethoden und Anstaltsalltag, sind meist diesen Appellen untergeordnet und werden damit oft überzeichnet dargestellt, um den Briefen besonderen Nachdruck zu verleihen.

3 Forschungsgeschichte Patientenbriefe dienten den zeitgenössischen Ärzten und Psychiatern als Grundlage ihrer Veröffentlichungen. Konsiliarkorrespondenz wurde oftmals in Form von Fallsammlungen publiziert, wobei etwa Lorenz Heister zwei Bände in deutscher Sprache veröffentlichte, die sich an den ärztlichen und chirurgischen Nachwuchs richteten (vgl. Ruisinger 2008, 48). Während im frühen 19. Jahrhundert Briefe von Patienten psychiatrischer Anstalten meist lediglich zur Illustration und Bestätigung der bereits bestehenden Beobachtungen dienten (vgl. Andrews 1998, 277), wuchs am Ende des 19. Jahrhunderts das wissenschaftliche Interesse an Patiententexten. Ewald Hecker etwa entwickelte sein Konzept der ‚Hebephrenie‘ im Jahre 1881 anhand der detaillierten Untersuchung von Patientenbriefen (vgl. Wübben

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 3 Briefgenres

2010). Auch einflussreiche Lehrbücher der Psychiatrie, beispielsweise das von Emil Kraepelin (11883), stützten sich auf die Analyse von Patiententexten (vgl. Schiegg und Thorpe 2017). Im Laufe des 20. Jahrhunderts verlagerte sich das Inter­ esse auf die bildnerische Produktion von Patienten, die etwa im Fokus von Hans Prinzhorns Die Bildnerei der Geisteskranken (1922) und Leo Navratils Schizophrenie und Kunst (1965) sowie der Kunstströmung der Art brut standen (vgl. Ankele 2009). In der Medizingeschichte kam es mit Porters programmatischem Aufsatz „The Patient’s View“ (1985) zu einem Perspektivenwechsel von der traditionell ärztefixierten und auf Fortschritte und Entdeckungen fokussierten Geschichtsschreibung hin zu den Leidenden und deren Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmustern. Besondere Aufmerksamkeit richtet eine solche Medical History from Below dabei auf Selbstzeugnisse der Kranken. Ernst (1999) bewertet diesen Vorstoß als den Beginn einer kulturhistorischen Wende in der Patientengeschichte, die sich, so Wolff (1998, 312), an die zeitgleich in der Geschichtsforschung ablaufenden Trends anschließen lässt, also die Wende von der Herrschafts- und Ideengeschichte hin zur Alltags- und Mikrogeschichte (vgl. Bacopoulos-Viau und Fauvel 2016). In diesem Kontext entstanden zahlreiche medizinhistorische Studien (siehe Abschnitt 2), die eine dezidiert patientenfokussierte Perspektive einnehmen und dabei auch Patientenbriefe als Untersuchungsobjekte integrieren, da diese als „einzigartige Dokumente subjektiver Wahrnehmungen von Krankheit, des Lebens in der Anstalt und der sozialen Beziehungen außerhalb der Anstalt“ (Nolte 2003, 25) gelten können. Das Literarische und Künstlerische an Patiententexten diskutieren u.  a. Steinlechner (2002) und Tebben (2009) anhand von Material aus der Sammlung Prinzhorn (vgl. Jádi 1985). Auf die Relevanz von Laien-Texten in psychiatrischen Krankenakten für die Sprachwissenschaft machte Riecke (2008) aufmerksam. In Patientenbriefen sind regionale und dialektale Formen verschriftet, die für die historische Sprachwissenschaft bislang ‚unsichtbar‘ waren (vgl. Schiegg 2015b). Der soziolinguistischen Forschung bietet die Untersuchung dieser Texte beispielsweise die Möglichkeit, die Varietätenkompetenz und schriftsprachliche Flexibilität von Personen einfacher Herkunft nachzuweisen (vgl. Schiegg 2015a).

4 Perspektiven: Online-Korpora Die existierenden Untersuchungen zu Patientenbriefen sind als zeitlich und räumlich klar eingegrenzte Einzelstudien zu charakterisieren, welche auf die historischen Kontexte einer Arztkorrespondenz oder einer bzw. weniger psychiatri-

3.16 Patientenbrief 

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scher Anstalten fokussieren und dabei ausgewählte Briefe in die Argumentation einbetten; eine komparative Perspektive fehlt bislang. Dies ist einerseits dem Forschungsgegenstand geschuldet. Patientenbriefe sind in unterschiedlichen Archiven aufbewahrt und müssen oft erst zwischen hunderten von Seiten anderen Aktenmaterials ausfindig gemacht sowie transkribiert werden, bevor eine wissenschaftliche Untersuchung möglich ist. Aus Zeitgründen ist die Beschränkung auf eines oder wenige Archive damit kaum vermeidbar. Die Publikation der Ergebnisse im Printmedium erfordert zudem die exemplarische Auswahl von Briefen, die dann oft ohne Faksimile abgedruckt sind. Damit ist die Qualität der Transkriptionen nicht nachprüfbar und diese sind von der weiteren Forschung nur eingeschränkt verwendbar, insbesondere dann, wenn sie – bewusst oder unbewusst – an die heutige Standardsprache angepasst worden sind (siehe z.  B. die Transkriptionen bei Davies und Kidd 2013, 27; Scrimgeour 2015, 266). Online-Publikationen können die aktuelle Forschungslage deutlich verbessern. Seit einigen Jahren existiert auf den Servern der University of Virginia eine Sammlung u.  a. von knapp 700 transkribierten Briefen inkl. Digitalisaten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, geschrieben von Patienten und deren Angehörigen an den Arzt James Carmichael (1771–1831) und seinen Sohn in Fredericksburg, Virginia (vgl. University of Virginia 2005). Das an der University of Edinburgh angesiedelte Cullen Project veröffentlicht die mehreren tausend Briefe zwischen dem Arzt William Cullen (1710–1790) und seinen Patienten, ebenfalls als Editionen mit Digitalisaten (vgl. Shuttleton et al. 2015). Während diese zwei Projekte Konsultationskorrespondenz untersuchen, widmet sich Markus Schieggs Corpus of Patient Documents (2017–) Texten aus psychiatrischen Anstalten. Ziel dabei ist es, gut 2.000 Briefe und autobiographische Texte von Patienten aus deutschen psychiatrischen Anstalten des 19. und frühen 20.  Jahrhunderts im XMLFormat aufzubereiten und als Edition mit Volltextsuche zusammen mit Digitalisaten zu publizieren. Auch Archive veröffentlichen allmählich Bestände online, deren Schutzfristen abgelaufen sind, wobei die Wellcome Library in London eine Vorreiterrolle spielt und über 800.000 Seiten Archivmaterial aus ehemaligen psychiatrischen Anstalten digitalisiert. Darunter finden sich auch zahlreiche Patientenbriefe, etwa aus dem York Retreat und dem Gartnavel Royal Hospital in Glasgow (https://wellcomelibrary.org; vgl. Mitcham 2018). Die Online-Publikation von größeren Mengen an Patientenbriefen schafft wichtige Grundlagen für weiterführende Forschungsprojekte und macht diese Briefe auch der interessierten Öffentlichkeit zugänglich.

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Paweł Zarychta

3.17 Trostbrief/Kondolenzbrief/Trauerbrief 1 Begriffliches Briefe, die in Reaktion auf einen Todesfall oder andere traumatische Erfahrungen zwecks Beileidsbekundung und mentaler Erbauung geschrieben wurden, gehören zu den ältesten epistolaren Sorten schlechthin. Trostbriefe (gr. logos paramythetikos, lat. consolatio) werden schon in den zwei ältesten erhaltenen Briefstellern der Antike, den Typoi Epistolikoi (2.  Jh.  v. Chr. bis 3.  Jh.  n. Chr.) des Pseudo-Demetrios und den Epistolimaioi Charakteres (um 5. Jh. n. Chr.) des Pseudo-Libanios als jene Briefform genannt, die verwendet wird, wenn man an Menschen schreiben möchte, die trauern, weil ihnen etwas Unangenehmes zugestoßen ist (vgl. Klauck 2006, 194–199; Smith 1995, 121; Poster 2007, 24–30). Über die Zuordnung zu dieser Sorte entscheidet also seit jeher primär der Anlass des Schreibens, und diese Grundregel wird in den Briefstellern und Ratgebern seit der Antike bis in die Gegenwart wiederholt. So hebt etwa Sommfels (1786, 59) hervor, dass Briefe dieser Art als ihren Hauptgegenstand „nur traurige und betrübte Fälle haben, z.  B.  schmerzliche Krankheiten, Todesfälle und andere Unglücke und widrige Dinge, die einem Verwandten, Freunde oder Bekannten begegnet sind“. Als eines der Hauptmerkmale der hier behandelten Briefsorte werden aber auch deren Intention und kommunikative Funktion herausgestellt: „Milderung des Schmerzes und der Trauer durch herzliches Mitleid [sind] der Zweck dieser Briefe“ – führt ein anonymer Autor in seinem Briefsteller (1842, 183) aus. Ganz ähnlich definiert ein moderner Ratgeber: „Der Sinn eines Kondolenzbriefs ist es, den Hinterbliebenen Beileid über den Tod eines Menschen auszusprechen.“ (Hovermann und Marbach 2016, 188) Der traumatische Anlass, aus dem der jeweilige Brief entstanden ist, sowie die Motivation der schreibenden Person, den bzw. die Empfänger*in des eigenen Mitleids zu versichern und ihm bzw. ihr Trost zu spenden, sind damit als primäre Unterscheidungsmerkmale für die behandelte Briefsorte zu betrachten. Abhängig von dem Aspekt, den man reflektiert oder unreflektiert in den Vordergrund stellen möchte, werden dafür oft alternativ und synonymisch Begriffe verwendet wie Trostbrief, Beileidsschreiben/Beileidsbrief, Kondolenzbrief oder Trauerbrief, deren Definitionen sich oft überschneiden oder gar decken, was dazu führt, dass die semantischen Grenzen zwischen diesen Begriffen als relativ fließend angesehen werden müssen. Gemeinsam sind stets der Bezug auf eine traumatische Erfahrung des bzw. der Adressat*in und, in kommunikativer Hinsicht, eine konsolatorische – tröstende – Motivation des bzw. der Adressant*in. Die Bestimmungswörter der genannten Komposita signalisieren https://doi.org/10.1515/9783110376531-042

3.17 Trostbrief/Kondolenzbrief/Trauerbrief 

 583

jedoch, dass es sich jeweils um Briefe handelt, bei denen thematische Schwerpunkte und kommunikative Zielsetzungen variieren können. In den Vordergrund wird bei einem Trauerbrief der Anlass, bei einem Kondolenzbrief/Beileidsschreiben (lat. condolere  – ‚Schmerz mitempfinden‘) der Ausdruck des ‚Mitleidens‘ mit einer vom schweren Unglück getroffenen Person, und bei einem Trostbrief der kommunikative Zweck des Schreibens selbst gestellt. Es handelt sich also in jedem Fall um Schriften, mit denen versucht wird, „anderen Menschen oder sich selbst die Bewältigung von Leiderfahrungen, d.  h. von Kontingenz- und Grenzerfahrungen, insbesondere der Erfahrung des Todes, zu ermöglichen“ (Bickmann 1998, 266). Ein weiteres wesentliches Merkmal, das Trauerbriefe/Kondolenz- und Beileidsschreiben von Trostbriefen unterscheiden kann, ist die Tatsache, dass die ersteren grundsätzlich auf einen realen Schicksalsschlag rekurrieren und ihr Wirkungsraum meist auf die Privatsphäre eingeschränkt bleibt. Wenn auch das Gleiche durchaus für Trostbriefe gelten kann, so wurde diese Textsorte schon seit der Antike als eine (semi-)öffentliche Form verwendet, um philosophische oder religiöse Reflexionen über Tod und Leiden anzustellen und diese einem breiteren, nicht selten anonym bleibenden Publikum zu präsentieren, um damit Hoffnung und Erbauung zu spenden oder negative Affekte mildernd zu beeinflussen. Das fiktionale Moment sowie der Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Argumentation, die vielen solchen Trostbriefen innewohnten, sorgten dafür, dass diese Briefsorte seit der Antike, über das christlich geprägte Mittelalter und die Reformationszeit bis hin zum Barock auch als eine Form literarischen, philosophischen bzw. seelsorgerlichen Ausdrucks außerhalb der Privatsphäre genutzt wurde.

2 Systematische und historische Aspekte Texte, deren primärer Zweck in Mitleidsbekundung und Trostspenden liegt, haben eine sehr lange Geschichte und entstammen der Tradition der schon im Altertum bekannten Gattungen der Trost- und Leichenrede (vgl. Eybl 1996; Eybl 2001) bzw. Consolatio (vgl. Grözinger 1994), deren wichtiger Bestandteil seit jeher ein Wort des Trostes und der Erbauung war. Ihrem Charakter nach sind solche Texte in rhetorischer Hinsicht dem genus demonstrativum, also der epideiktischen Gattung, zuzuordnen. Nach Aristoteles wird in diesem Genus „über Tugend und Laster, über Schönes und Häßliches“ gesprochen (Aristoteles 1995, 47), und der persuasive Zweck besteht hier nicht in der Ermutigung zu einer Entscheidung oder Handlung, sondern allein in Lob bzw. Kritik, die durch die Verwendung der rhetorischen techne bestimmte Affekte in Bezug auf die thematisierte Person amplifizieren bzw. mildern sollen. So liegt der rhetorische Zweck von konsolato-

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 3 Briefgenres

rischen Darbietungen, ob in schriftlicher oder mündlicher Form, nicht in der persuasiven Überführung, nicht in der Argumentation, die die Hörer*innen zu einer Tat oder Entscheidung provozieren sollte, sondern in einem Gedankengang, der der verstorbenen Person positiv zu gedenken und die negativen Emotionen des Publikums abzubauen sucht. Der Trost kann damit, wie Bickmann (1998, 267–268) in Anküpfung an Jan Assmann ausführt, als ein Handlungselement kultureller Identität, „welches auf die Integration der Erfahrung und die Stabilisierung der Identität zielt“, und als ein reflexiv gewordenes Bekenntnis zu „einem kollektiven Wirklichkeitskonstrukt und seinen kulturellen Ausformungen“ begriffen werden. Die Fähigkeit, Trost durch Worte zu spenden, wurde schon in der antiken Rhetoriklehre von einem guten Redner als unabdingbar gefordert, so z.  B. bei Cicero und Quintilian (vgl. Grözinger 1994, 368). Auch ist es schon die antike Rhetorik- und Brieflehre, die die charakteristischen Teile und Sprechakte nennt, die in konsolatorischen Reden oder Schreiben anzutreffen sind. Nach PseudoDionysios sind es: (a) der enkomiastische Teil (Enkomion), in dem ein Bild des bzw. der Toten, seine bzw. ihre Rolle und Stellung im sozialen und familiären Umfeld in lobender Absicht gezeichnet werden; (b) der protreptische Teil, in dem an das Publikum appelliert wird, der im Enkomion konstruierten Darstellung zu entsprechen und diese zu teilen; (c) der paramythetische Teil, der ausdrücklich für den Trost vorgesehen ist und sich in der Regel am Ende einer konsolatorischen Darbietung befinden soll. Es ist auch der Teil, in dem die Perspektive aufs Jenseits gerichtet und die Idee einer ewig bestehenden Gemeinschaft von Menschen über die Grenzen des Todes hinaus zum Ausdruck gebracht werden kann (vgl. Bickmann 1998, 282–283). Mit dieser Grundstruktur geht ein festes Repertoire an Topoi einher, die als Argumentationsquellen oder -schemata seit eh und je verwendet wurden und in konsolatorischen Schriften und Reden immer wieder anzutreffen sind. Es sei hier nur eine kleine Auswahl in Anlehnung an Grözinger (1994, 369) genannt: Geduld und Beständigkeit aufbringen; Trost aus Vorbildern schöpfen; der Tod beseitigt alles Übel; Gedenken soll ehrenvoll sein; die Seele ist unsterblich; die Zeit heilt den Schmerz; übermäßige Trauer ist nicht angebracht; Trauer kann ein Zeichen von Undankbarkeit sein; der Tod erlöst von der Mühsal des Lebens u.  ä. In der christlichen Ausprägung wird die Liste um Topoi ergänzt, die eine religiöseschatologische Begründung aufweisen: der Tod entspricht dem Willen Gottes; Leben ist eine Leihgabe Gottes; der Tod ist für alle unausweichlich; der Tod ist eine Befreiung; der Tod ist der einzige Weg zur Auferstehung; die Trauer kann den Toten nicht zurückholen u.  ä. (vgl. Mennecke-Haustein 1989, 103–105). Diese Topik wird wiederum den Grundfunktionen der Funeralrhetorik im Allgemeinen untergeordnet, d.  i. dem Ausdruck von Trauer (lamentatio), Lob (laudatio), Dank (gratiarum actio) und eben Trost (consolatio) (vgl. Eybl 1996, 478).

3.17 Trostbrief/Kondolenzbrief/Trauerbrief 

 585

Die genannte Grundstruktur mit ihren charakteristischen Topoi findet ihren Widerhall sowohl in Trost-/Leichenreden als auch nahezu unverändert in den verschriftlichten Beileidsbekundungen in Form von Trost- bzw. Kondolenzbriefen. Durch Einheitlichkeit von Anlass und Zweck, die sowohl bei der mündlichen Kommunikation als auch in der Schrift gegeben ist, werden in beiden Darbietungsformen ähnliche Sprechakte realisiert. Anders als bei einer Rede, die durch ihre Simultaneität, Direktheit und Momentaneität charakterisiert ist, liegt es jedoch in der Natur des Briefs, und dies seit dem Anbeginn auch der hier besprochenen Briefsorte, dass die zeitlichen und räumlichen Grenzen sowie das Momenthafte des Ausdrucks überwunden werden können und auf die Mitteilung über eine längere Zeitperiode hinweg zurückgegriffen werden kann: „Der Brief verwandelt Abwesenheit in Anwesenheit von Dauer“ (Bickmann 1998, 287). „Ein guter Kondolenzbrief ist ein großer Trost und hält noch vor, wenn alle Kränze schon verwelkt und abgeräumt sind. […] Das Geschriebene […] überdauert die Zeit der Verwirrung; es kann später in Ruhe wieder gelesen werden und bleibt deshalb ein dauernder tröstlicher Besitz“ (Leisi und Leisi 1993, 97). Charakteristisch für die konsolatorischen Briefe ist daher oft das Beklagen der physischen Abwesenheit des bzw. der Schreibenden einerseits und eine rhetorische Vorspiegelung von tatsächlicher oder doch unbedingt gewünschter Anwesenheit andererseits. Gemeinsam sind diesen Verfahren, wie Plett ausführt, Merkmale des Fiktionalen, des Künstlichen und des Affektiven. Simulation und Dissimulation […] dienen allein der zweckgerichteten, affektiven Persuasion: Zusammenwirken der drei Komponenten Fiktionalität, Artifizialität und Affektivität im Akt der Verstellung begründet ein Theatrum Rhetoricum, in dem der Redner Schauspieler, der Zuhörer empathischer Zuschauer, die Darstellung dramatische Illusion, die Wirkung Pathos ist. (Plett 1993, 328–329)

Die Notwendigkeit solch eines rhetorischen Schauspiels mit seinen oben genannten Bestandteilen – ob in mündlicher oder schriftlicher Form – resultiert nicht nur aus der Erfüllung des officium consolandi, des Trostdienstes, sondern auch aus der Erkenntnis, dass Trauma und Trauer eine Beziehung gefährden können, die es jedoch aufrechtzuerhalten gilt. Trost-/Kondolenzbriefe werden daher auch oft als ein subtiles Mittel angesehen, den Kontakt mit Hinterbliebenen auf eine nicht aufdringliche Art bestehen zu lassen bzw. zu erneuern. Eine weitere damit verbundene Erkenntnis ist, dass ein Fortbestehen der Beziehung und damit auch eine Erfüllung des freundschaftlichen Trostdienstes nur dann möglich sind, wenn der schreibende Consolator in dieser Rolle von Briefempfänger*innen überhaupt akzeptiert wird (vgl. Bickmann 1998, 286). Der Adressant kann seine Berechtigung zum Trost jedoch durchaus selbst begründen bzw. stiften, indem er z.  B. auf die persönliche Beziehung zum bzw. zur Hingeschiedenen und die daraus

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 3 Briefgenres

resultierende Verpflichtung eines letzten Freundschaftsdiensts ihm bzw. ihr gegenüber hinweist. Ein weiteres Mittel dieser Legitimierung ist der Ausdruck der eigenen Betroffenheit und Trauer, vor allem aber der Anteilnahme an Schmerz und Trauma der Hinterbliebenen. Was die historische Entwicklung von Trost-/Kondolenz-/Trauerbriefen angeht, so ist diese eine Zeitlang parallel zur Geschichte der seit der Antike gepflegten Trostrede/-schrift, der Consolatio, zu sehen. Konsolatorische Schriften der Antike wurden geschrieben, um im Todesfall oder bei einem anderen vom Schicksal herbeigeführten Verlust, beim Eingriff der fortuna, Beileid zu bezeigen und den in der Regel konkreten bzw. vorausgesetzten Adressaten zu erbauen. Als Vorbilder dienten dabei u.  a. konsolatorische Passagen aus Homers Ilias oder später aus Platons Phaidon. Der Trost war auch früh der Gegenstand philosophischer Reflexionen, so z.  B. bei Theophrastos von Eresos (um 371–um 287 v. Chr.) in Kallisthenes oder über die Trauer, Cicero (106–43 v. Chr.) in Consolationis liber und in seinen Trostbriefen, bei Seneca (um 1–65) in Dialogen (6, 11, 12) und Briefen (63, 99), bei Plutarch (um 45–um 125) in Moralia und Consolatio ad uxorem sowie bei Plinius d. J. (61/62–um 113/115) in mehreren Trostbriefen auf den Tod von Freunden. Diese und andere Texte versuchen, außer Trost und Hoffnung zu spenden, in erster Linie eine Antwort auf die Frage zu geben, wie der Tod und die daraus resultierende Trauer der Hinterbliebenen philosophisch zu verstehen sind und welchen moralischen Sinn diese haben. Appelliert wird dabei nicht nur an die Gefühle, sondern auch an die Vernunft, und es wird dabei auch auf die Dimension der Gemeinschaftserfahrung hingewiesen. Oft wird der metaphysische Aspekt herangezogen, indem die Möglichkeit gezeigt wird, die Grenzen des Todes durch Religion und Glauben zu überschreiten. Der Tod und die Trauer werden dadurch domestiziert und ins Leben integriert. Im christlich geprägten Mittelalter bekommt das officium consolandi als ein officium humanitatis zusätzlich eine religiös-ethische Begründung durch das mandatum Christi. Das Trostamt wird im nachantiken Verständnis, das besonders durch den paulinischen Aufruf aus Röm. 12,15 („weint mit den Weinenden“) und 15,4 (Hoffnung „durch den Trost der Schriften“) zum Mitleid mit den Leidenden geprägt wird, zu einem der Hauptwerke der Barmherzigkeit, zu dem alle Christen verpflichtet sind (vgl. Mennecke-Haustein 1989, 19–22). Nachantike Briefe konsolatorischen Charakters haben sich daher eher der seelsorgerischen Intention unterzuordnen, damit Menschen in Trauer, Schmerz und Klage angemessen begleitet und im Glauben an Gott und die Gemeinschaft im Jenseits (consolatio eterna) gestärkt werden. Als Trosttopoi werden gern die Lebensgeschichten Hiobs und Christi und als zeitgenössische Anweisungen bzw. formale Vorbilder Cyprians von Karthago (200/210–258) Hirtenbrief De moralitate (223), Hieronymus’ (347– 420) Trostbriefe und das 1. Buch aus Augustinus’ (354–430) De civitate Dei sowie

3.17 Trostbrief/Kondolenzbrief/Trauerbrief 

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Boethius’ (477–524) Philosophiae consolationis libri quinque (524) herangezogen (vgl. Grözinger 1994, 369–370). Neben den herkömmlichen Funktionen, die schon in der Antike als wesentlich für konsolatorische Schriften angesehen werden, werden Trostbriefen des Mittelalters auch weitere, religiös motivierte zugeschrieben: Neben dem Trost Hinterbliebener in Leiden und Trauer (consolatio mortis) geht es auch um die Vorbereitung gläubiger Christen auf den Tod (praeparatio ad mortem), um die Stärkung bei Versuchungen des Teufels (tentatio diabolica) sowie um die religiöse Dimension des Kummers (tristitia religiosa) (vgl. Mennecke-Haustein 1989, passim). Überliefert sind authentische und fiktive Trost-/ Kondolenzbriefe von Ennodius von Pavia (474–521), Ruricius von Limoges (um 440–um 510), Petrus Venerabilis (1092–1156), Hildegard von Bingen (1098–1179) und Arnulf von Lisieux (1104–1184). Darüber hinaus wurden Editionen von Trostbriefen mit Mustercharakter von Thomas von Capua (1185–1239) und Petrus von Vinea (vor 1200–1249) vorbereitet (vgl. Grözinger 1994, 370–371). Weitere Vorbilder bzw. Argumentationsquellen sind des Johannes von Dambach (1288–1372) De consolatione theologiae (1366), in denen der Autor in erster Linie auf die stoizistischen Argumente zurückgreift und im Angesicht des Todes die christlich fundierte Hoffnung auf das Leben im Jenseits hegen lässt (vgl. Burrows 2010, Kap. II), sowie Jean Gersons (1363–1429) Traité de consolation sur la mort de ses amis (1400, 1499 von Geiler von Kaysersberg verdeutscht). Die humanistische Brieflehre widmet dem Trostbrief relativ wenig Platz und sieht seine Rolle in erster Linie im säkularen Umfeld, in dem Freunde getröstet werden sollen, die Schmerz, Unannehmlichkeiten und Trauer im Diesseits erfahren haben. So argumentieren z.  B. Konrad Celtis (1459–1508) in De condendis epistolis und Erasmus von Rotterdam (1466–1536) in De conscribendis epistolis. Weiterhin wirksam bleiben die antiken und frühmittelalterlichen Vorbilder, vor allem Seneca. Wie Mennecke (1989, 101) ausführt, vermitteln konsolatorische Briefe des Mittelalters und des Humanismus bzw. der Reformationszeit daher im Allgemeinen den Eindruck der Beständigkeit dieser Gattung, da die in der Antike und im frühen Mittelalter festgelegten Argumentationsschemata sich nicht wesentlich verändern und der Vorrat an Trostgründen im Grunde weiterhin derselbe bleibt. Trotzdem führt die Erneuerung der Schriftkultur im europäischen Humanismus zu einer Belebung und zur intensiveren Pflege von konsolatorischen Textsorten, darunter auch Briefen, als einem Experimentierfeld, auf dem Autoren ihre rhetorisch-argumentativen bzw. literarischen Fertigkeiten, aber auch die Kenntnis von antiken Vorbildern demonstrieren können. Als eine wichtige theoretische Anleitung dazu kann das Kapitel De consolatoria epistola aus dem Briefsteller des Erasmus von Rotterdam De conscribendis epistolis (1520) genannt werden. Trost- und Kondolenzbriefe gewinnen auch im Deutschland der Reformationszeit an Popularität. Allein Martin Luther schrieb ca. 90 Briefe konsolatori-

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 3 Briefgenres

schen Inhalts, davon ca. ein Drittel Kondolenzbriefe, die sich auf den Tod von ihm nahestehenden Menschen beziehen (vgl. Mennecke-Haustein 1989, 99–100). Auch wenn diese Schriften durchaus innerhalb der hergebrachten Konventionen der konsolatorischen Gattung bleiben, ist doch neu daran, dass Luther klassische Topoi als Argumentationsquellen nur im eingeschränkten Maße anwendet und häufig sogar auf die tradierten Beileidsformeln verzichtet. Auf der inhaltlichen Ebene ist es für den Reformator charakteristisch, dass er eine Parallele zwischen konsolatorischen Briefen und dem Evangelium als „der tröstlichen Botschaft“ zieht und seine Briefe als eine „evangeliumsgemäße Form der Seelsorge“ betrachtet (vgl. Mennecke-Haustein 1989, 12–13, 131). In Bezug auf den Tod wird die divina voluntas, der göttliche Wille, als Rechtfertigung und das Leiden und Auferstehung Christi als der wichtigste Trostgrund herausgestellt. Trostbriefe schrieb auch Philipp Melanchthon, von denen wohl nicht alle erhalten sind; dazu gehören u.  a. jene an Sibylle Baumgartner, Veit Dietrich und Jakob Schwartz (vgl. u.  a. Jung 1998, 182–183). Barocke Trost-/Kondolenzbriefe stehen unter dem Zeichen der Fortsetzung der hier genannten Traditionen sowie eines noch stärkeren Rückgriffs auf die in der Antike ausgearbeitete Topik und Dispositionslehre. Konsolatorische Schriften werden damit strengen formalen Vorgaben unterworfen, die in zeitgenössischen Briefstellern kodifiziert werden. Um 1700 zeichnet sich jedoch eine allmähliche Wende ab, die sich daran beobachten lässt, dass der Trostbrief als eine (semi-)öffentliche Form kaum mehr gepflegt wird und der Spielraum konsolatorischer Briefe sich grundsätzlich auf die Privatsphäre beschränkt. An Bedeutung im öffentlichen Raum gewinnen dagegen die nicht epistolaren Textsorten wie Leichenpredigt, Lob-/Trauer-/Kondolenz-/ Stand-/Grabrede u.  a. Sie werden nicht nur von Priestern oder Angehörigen bzw. Freunden bei der Beisetzung, im Trauerhaus oder am Grab gehalten, sondern im Nachhinein auch gedruckt. Diese Formen der Funeralrhetorik werden mit der Zeit wiederum durch den bis heute gepflegten Nekrolog bzw. Nachruf abgelöst (vgl. Eybl 2001, 147–151; Eybl 1996, 480–482). Die allmähliche Einschränkung des Wirkungsraums von konsolatorischen Briefen aufs Private findet ihren Widerhall auch in präskriptiven Texten, die diese Briefsorte zu regeln suchen. So wird im Allzeitfertigen Briefsteller von 1692 und in August Bohses (1661–1742) Gründlicher Anleitung zu Teutschen Briefen von 1706 ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass in konsolatorischen Briefen persönliche Affekte wie Trauer und Mitleid ausgedrückt werden sollen und unbedingt ein ‚natürlicher Stil‘ zu verwenden sei. Dieser Grundsatz wird in späteren Briefstellern immer stärker aufgegriffen und gefordert, mit Christian Fürchtegott Gellert an der Spitze, der 1751 postuliert:

3.17 Trostbrief/Kondolenzbrief/Trauerbrief 

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Ob gleich alle Briefe natürlich seyn sollen: so müssen es doch die am meisten seyn, in welchen ein gewisser Affekt herrscht. Wenn man also dem andern seine Traurigkeit, sein Mitleiden, seine Freude, seine Liebe, in einem hohen Maaße zu erkennen geben […] will: so lasse man sein Herz mehr reden, als seinen Verstand; und seinen Witz gar nicht! (Gellert 1751, 79)

Der Theoretiker fordert für Briefe, die aus einem traurigen Anlass verfasst werden, eine durchaus anti-rhetorische Haltung, die sich im Verzicht auf die techne, die rhetorische Kunst, und im Ausdruck authentischer Emotionen und Affekte äußern sollte. Dem Usus gemäß versieht Gellert seine Ausführungen mit einer Reihe von Beispielen für Kondolenzbriefe, die Zeitgenossen als Muster gelten sollten. Die genannten Empfehlungen Gellerts gelten in erster Linie für die Epistolographie des späteren 18. Jahrhunderts, sie bleiben aber im hohen Maße weiterhin auch für die Briefkultur nach 1800 verbindlich, zumal sie in wenig veränderter Form auch mehrmals in den Briefstellern des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wiederholt werden; so z.  B. in der Anleitung zum Briefschreiben (1783) von Karl Philipp Moritz oder im Allgemeinen Schriftsteller von Georg Carl Claudius (1822), der auch auf eine neue Sitte im Bereich schriftlicher Beileidsbekundung hinweist, wonach Angehörige des Dahingeschiedenen in den Todesanzeigen oft ausdrücklich darum baten, auf Beileidsbezeugungen zu verzichten. Dies markiert auch eine Zäsur in der Tradition des Trost-/Kondolenzbriefs, der immer stärker auf die Privatsphäre, auf den Umkreis naher Verwandtschaft und vertrauter Freunde des/der Hingeschiedenen eingeschränkt wird. Wenn auch hier weiterhin subtile stilistisch-rhetorische Regeln gelten, sodass die seit der Antike tradierte Topik in ihrem Kern und die Schemata der dispositio erhalten bleiben, so lässt sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts anhand der Lektüre von ausgewählten Beileidsbekundungen von zwei Linien in der weiteren Entwicklung des Trost-/Kondolenzbriefs sprechen: einer regelkonformen und einer experimentellen bzw. emanzipatorischen. In der ersten Lesart bleiben viele Autor*innen den Lehren der klassischen Rhetorik, der zeitgenössischen Briefsteller sowie den Konventionen in ihren Beileidsbekundungen verpflichtet. Diese Tendenz ist auch vorherrschend. In der zweiten Entwicklungslinie liegen Kondolenzbriefe, welche in der Nachfolge der romantischen Ästhetik die Gepflogenheiten und strengen Regeln, die gemeinhin bei diesem heiklen Genre erwartet werden, missachten und verwerfen. Streng genommen wird erst in dieser zweiten Lesart das Postulat der Natürlichkeit und der sich an den Affekten orientierenden Unmittelbarkeit des Ausdrucks, das für dieses Genre seit Gellert gestellt wurde, in einem größeren Ausmaß umgesetzt (vgl. Zarychta 2013, 322). Wie zahlreiche Ratgeber belegen, hatten und haben Kondolenz- bzw. Trostbriefe des 20. und 21. Jahrhunderts vor allem Gebrauchscharakter. Der gegebene Todesfall stiftet die Notwendigkeit, dazu schriftlich Stellung zu nehmen und in einer in der Regel stark konventionalisierten Form sein Beileid zu bekunden

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 3 Briefgenres

(vgl. Müller et al. 2009). Ein gutes Beispiel dafür, wie wenig sich das rhetorische Repertoire und die Gepflogenheiten des Kondolenz- und Trostbriefs noch im 20. Jahrhundert trotz allem verändert haben, kann der Kondolenzbrief von Hans Jonas an Fania Scholem vom 24. Februar 1982 sein. Seine Beileidsbekundungen und den Nachruf auf den verstorbenen Gershom Scholem eröffnet Jonas unter Verwendung von genretypischen Begriffen wie „Trauer“, „Verlust“, „Nicht-mehrdasein“, „Lücke“ (Scholem 1999, 462). Aufgegriffen wird auch der persönliche Bezug zum Verstorbenen, indem häufig der herkömmliche Ornatus aus dem genus demonstrativum, mit gehörigem, hyperbolischem Pathos, verwendet wird. Nicht vermieden wird die Topik der vorgetäuschten Ratlosigkeit, der rhetorisch bedingten Simulatio, Praeteritio, Ellipse u.  a. Gegenwärtig beschränkt sich die Behandlung von Kondolenzbriefen (von Trostbriefen ist kaum die Rede) in modernen Ratgebern auf praktische Aspekte. So wird dazu geraten, dass ein Kondolenzbrief Bestürzung und Anteilnahme, Würdigung der Leistungen und Charakterzüge des Verstorbenen zum Ausdruck bringen sowie Trost spenden und Beileid bekunden soll. Ratsam sei es auch, Hilfe anzubieten und gegebenenfalls einen Besuch anzukündigen. Abgeraten wird davon, den Kondolenzbrief offen oder als Postkarte zu verschicken. Beileidsbekundungen sollen umgehend und ohne weitere Einlagen versandt werden. Die schwarze Umrandung des Briefpapiers sei ausschließlich dem Trauerhaus vorbehalten (vgl. Hovermann und Marbach 2016, 188–189).

3 Forschungsstand und Perspektiven Briefe konsolatorischen Inhalts werden relativ selten zum Gegenstand der Forschung, insbesondere der literaturwissenschaftlichen. Trotzdem finden sich Arbeiten, die in erster Linie Trost- bzw. Kondolenzbriefe unter literaturgeschichtlichen, rhetorischen, linguistischen und theologischen Gesichtspunkten untersuchen. So analysiert z.  B. Juan Chapa (1998) in seiner Studie die auf Papyri überlieferten altgriechischen und -römischen Kondolenzbriefe unter qualitativen und quantitativen Aspekten, wie Autor, Provenienz, sozialer und religiöser Hintergrund, Begrüßungsformeln, Aufbau u.  a. Chapa beschränkt seine Analysen mit Absicht nur auf Briefe, die aus realem Todesanlass und als Kondolenz- und nicht als Trostbriefe verfasst wurden, und belegt, dass unter ca. 2.000 privaten Papyrusbriefen der Antike nur zwölf bzw. dreizehn aus der Zeit zwischen dem 1. und 7. Jahrhundert n. Chr. als solche zu betrachten sind. In ihrem Aufbau weisen die meisten jedoch schon die charakteristischen Merkmale der Kondolenzbriefe auf, von denen oben die Rede war, so z.  B. Ausdruck des Mitgefühls und der eigenen

3.17 Trostbrief/Kondolenzbrief/Trauerbrief 

 591

Trauer, Thematisierung des Briefs als Ersatz für physische Anwesenheit, Worte der Erbauung u.  a. Als einen interessanten Brauch nennt Chapa (1998, 32) das Mitschicken von Lebensmitteln, die als ein materielles Zeichen des Mitgefühls, der Hilfsbereitschaft und des Trostes bzw. als eine Opfergabe für den Toten anzusehen waren. Chapa listet auch die typischen Topoi des Kondolenzbriefs auf, die sich größtenteils mit den oben genannten decken. Als Trostbriefe werden in der Forschung häufiger die paulinischen Briefe analysiert. So befasst sich z.  B. Jutta Bickmann (1998) mit der Briefpragmatik, untersucht in einem Kapitel ihrer Studie den Ersten Brief Paulus’ an die Thessalonicher als Trostbrief und weist auf dessen Anpassung an die Konventionen dieses Genres hin, die die Inhalte kommunizierbar machen und es den Adressaten ermöglichen, ihre „Erfahrung von Leid und Tod“ gedanklich zu bewältigen (Bickmann 1998, 101). Luthers Trost- und Kondolenzbriefe wurden mehrfach herausgegeben (so z.  B. Blail 1982) und sowohl von der theologisch, als auch von einer philologisch interessierten Forschung untersucht. Als Beispiel kann etwa die umfangreiche Studie von Mennecke (1989) genannt werden, in der ausgewählte Briefe des Reformators in die Tradition der mittelalterlichen consolatio mortis gestellt werden. Die Autorin analysiert dabei Trostbriefe an Kranke und Leidende, Kondolenzbriefe an Hinterbliebene sowie andere Trostschriften Luthers, die vor den ausführlich beleuchteten theologischen, rhetorischen und historischen Kontexten interpretiert werden. Private Kondolenzbriefe als solche bilden kaum einen Gegenstand eigenständiger Forschung, sondern werden in der Regel in größeren Sammelarbeiten oder im Rahmen von umfassenderen Untersuchungen thematisiert, so. z.  B. im Beitrag Albrecht Schönes (1963) über den Kondolenzbrief Goethes vom 3.  Januar 1832 anlässlich des Todes von Thomas Johann Seebeck, in dem Schöne einerseits die historischen Kontexte des Briefs beleuchtet, andererseits auf die Anpassung an das „gesellschaftlich Übliche“, auf „die vornehm kühle Zurückhaltung“ und die „steife, konventionelle Förmlichkeit“ (Schöne 1963, 94) Goethes in dieser Briefsorte hinweist. In der Studie von Oliver Janz (2009) werden Kondolenzbriefe im Kontext des Gefallenenkults in Italien nach dem Ersten Weltkrieg und des damit in Zusammenhang stehenden symbolischen Kapitals als Formen der Anteilnahme am Leid der Hinterbliebenen kursorisch besprochen. Mit der Poetik des Trauerbriefs nach 1800 befasst sich Zarychta (2013) am Beispiel der Kondolenzbriefe Rahel und Karl August Varnhagens von Ense. In den modernen Briefstellern und Ratgebern wird der Kondolenzbrief in der Regel als eine besondere Form des Briefs gesehen, bei dem das Papier weiterhin das Nonplusultra bleibt. Die Besprechung dieser Briefsorte beschränkt sich auf praktische Aspekte und Beispiele für Eröffnungs- und Schlussformeln, Zitate und passende Gliederung (so z.  B. Gillmann 2015, 167; Duden 2016).

592 

 3 Briefgenres

Der Überblick über die Geschichte und Erforschung von Trost-/Kondolenzbriefen scheint zu belegen, dass dieser Briefsorte, vor allem in ihrer zweitgenannten Variante, durch den konkret gegebenen traumatischen Anlass und die Rücksicht der Schreibenden auf Trauer und Leiden von betroffenen Adressat*innen ein weitgehend formaler und inhaltlicher Konformismus innewohnt. Nicht unwesentlich ist dabei der Mangel an brauchbaren bzw. gesellschaftlich akzeptablen Alternativen. Wurden Trostbriefe eine Zeitlang auch als eine Form philosophischen bzw. theologischen Ausdrucks verwendet, um über den Sinn des Todes zu reflektieren, so lässt sich daher bei den Kondolenzbriefen von der Antike bis in die Gegenwart eine grundlegende formale und inhaltliche Kontinuität feststellen. Obwohl es Versuche gab, auch diese Briefsorte von Konventionen zu befreien, bleibt sie doch literarischen Experimenten grundsätzlich verschlossen. Dies wird wohl auch in Zukunft aus den oben genannten Gründen so bleiben (müssen).

Zitierte Literatur [anonym] (1842). Neuester und vollständigster deutscher Universal-Muster-Briefsteller […]. Wien. Aristoteles (1984). Die Nikomachische Ethik. Übers.  u. hg. v. Olof Gigon. München. Aristoteles (1995). Rhetorik. Übers., mit einer Bibliographie, Erläuterungen u. Nachwort v. Franz G. Sieveke. München. Bickmann, Jutta (1998). Kommunikation gegen den Tod. Studien zur paulinischen Briefpragmatik am Beispiel des Ersten Thessalonicherbriefes. Würzburg. Blail, Gerhard (1982). Vom getrosten Leben. Martin Luthers Trostbriefe. Stuttgart. Burrows, Mark Stephen (2010). Jean Gerson and De Consolatione Theologiae (1418): The Consolation of a Biblical and Reforming Theology for a Disordered Age. Eugene. Chapa, Juan (1998). Letters of Condolence in Greek Papyri. Firenze. Duden (2016). Passende Worte im Trauerfall. Trauertexte stilsicher formulieren. Berlin. Eybl, Franz (1996). [Art.] „Funeralrhetorik“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 5: L–Musi. Tübingen: Sp. 478–484. Eybl Franz (2001). [Art.] „Leichenrede“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 3: Eup–Hör. Tübingen: Sp. 145–151. Gellert, Christian Fürchtegott (1751). Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Leipzig. Grözinger, Albrecht (1994). [Art.] „Consolatio“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 2: Bie–Eul. Tübingen: Sp. 367–373. Heuschele, Otto (Hg.) (1954). Trostbriefe aus fünf Jahrhunderten. Stuttgart. Hovermann, Eike u. Claudia Marbach (Hg.) (2016). Das große Buch der Musterbriefe. Für die erfolgreiche geschäftliche und private Korrespondenz. Hannover. Janz, Oliver (2009). Das symbolische Kapital der Trauer. Nation, Religion und Familie im italienischen Gefallenenkult des Ersten Weltkriegs. Tübingen.

3.17 Trostbrief/Kondolenzbrief/Trauerbrief 

 593

Jung, Martin H. (1998). Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon: das Gebet im Leben und in der Lehre des Reformators. Tübingen. Klauck, Hans-Josef (2006). Ancient Letters and the New Testament: A Guide to Context and Exegesis. Waco. Krauss, Rudolf (1920). Deutsche Trostbriefe. Stuttgart. Lausberg, Heinrich (2008). Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart. Leisi, Ernst u. Ilse Leisi (Hg.) (1993). Sprach-Knigge oder wie und was soll ich reden? Tübingen. Mair, Paul (1966). Die Trostbriefe Basileios des Grossen im Rahmen der antiken Konsolationsliteratur. Innsbruck. Mennecke-Haustein, Ute (1989). Luthers Trostbriefe. Gütersloh. Moos, Peter von (1971–1972). Consolatio. Studien zur mittellateinischen Trostliteratur über den Tod und zum Problem der christlichen Trauer. 4 Bde. München. Moritz, Karl Philipp (2008). Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe. Bd. 9: Briefsteller. Hg. v. Anneliese Klingenberg, Albert Meier, Conrad Wiedemann u. Christof Wingertszahn. Tübingen. Müller, Joachim u. Claudia Hovermann (2009). Taktvolle Kondolenzbriefe. So reagieren Sie in einem Trauerfall richtig; 31 stilvolle und einfühlsame Kondolenzbriefe, die Trost spenden. Bonn. Plett, Heinrich F. (1993). „Theatrum rhetoricum. Schauspiel – Dichtung – Politik“, in: Renaissance-Rhetorik. Hg. v. Heinrich F. Plett. Berlin u. New York: 328–367. Poster, Carol (2007). „A Conversation Halved. Epistolary Theory in Graeco-Roman Antiquity“, in: Letter-writing Manuals and Instruction from Antiquity to the Present: Historical and Bibliographic Studies. Hg. v. Carol Poster u. Linda C. Mitchell. Columbia: 21–52. Reinert-Schneider, Gabriele (2001). Kondolenzbriefe stilvoll und persönlich schreiben. Anleitungen und Mustertexte für Briefe und Anzeigen. Niedernhausen. Rittgers, Ronald K. (2012). The Reformation of Suffering. Pastoral Theology and Lay Piety in Late Medieval and Earl Modern Germany. Oxford. Schöne, Albrecht (1963). „Über einen Kondolenzbrief Goethes“, in: Literatur und Gesellschaft vom 19. ins 20. Jahrhundert. Festschrift Benno von Wiese. Hg. v. Hans Joachim Schrimpf. Bonn: 83–112. Scholem, Gershom (1999). Briefe III. 1971–1982. Hg. v. Itta Shedletzky. München. Smith, Abraham (1995). Comfort One Another: Reconstructing the Rhetoric and Audience of 1 Thessalonians. Louisville. Sommfels (1786). Neuester Briefsteller auf alle Fälle: nebst einem Anhange von einem deutsch-, latein- und französischen Titularbuche, auch einem Verzeichnisse von den Namen der Personen und vornehmsten Städte. Wien u. Leipzig. Zarychta, Paweł (2013). „‚Ich würde anwesend schweigen‘. Zur Poetik des Trauerbriefs am Beispiel der Briefe Rahel und Karl August Varnhagens an Rosa Maria und David Assing“, in: Gesprächsspiele & Ideenmagazine. Heinrich von Kleist und die Briefkultur um 1800. Hg. v. Ingo Breuer, Katarzyna Jaśtal u. dems. Köln u.  a. Zacker, Christina (2005). Richtiges Verhalten im Trauerfall. Kondolenzbriefe, Todesanzeigen, Trauerreden und Beileidsbezeugungen. München.

Stefanie Bredthauer

3.18 Erpresser- und Drohbriefe 1 Einleitung Erpresserbriefe stellen vielfach die erste Spur im Rahmen von Erpressungsstraftaten dar, so dass ihre Analyse im forensischen Kontext von großer Relevanz ist. Eine Schwierigkeit resultiert hierbei aus dem Dilemma der fehlenden Konvention, welches so weit reicht, dass selbst die Existenz einer Textsorte Erpresserbrief umstritten ist (vgl. Dern 2009). Eng damit verbunden ist die Frage, ob zwei unterschiedliche Textsorten – Erpresserbrief und Drohbrief – zu postulieren sind, zumal die Drohhandlung in Erpresserbriefen eine maßgebliche Rolle einnimmt, die Handlungsziele indes differieren. Konsens herrscht jedoch darüber, dass Erpresserbriefe spezifische Charakteristika aufweisen, welche inzwischen verschiedentlich im Rahmen von linguistischen Textanalysen beschrieben wurden (vgl. Artmann 1996; Brinker 2000; Busch 2006). Diese lassen sich mittels des textanalytischen Konzepts von Brinker auf kommunikativ-pragmatischer, thematischer sowie sprachlicher Ebene charakterisieren.

2 Erpresser- und Drohbriefe im Kontext von Straftaten Erpresser- und Drohbriefe zählen zur Gruppe der inkriminierten Texte, da sie eine Straftat darstellen können, und bilden einen Forschungsgegenstand der forensischen Linguistik, welche die Methoden der Sprachwissenschaft auf forensische Fragestellungen anwendet: „Forensic linguistics covers a wide range of topics, including the language used in trials by judges, lawyers and witnesses; the language of the law itself; the language used in civil cases; and the language used in criminal cases.“ (Shuy 2007, 101) Bei Erpresser- und Drohbriefen handelt es sich um Tatschreiben, für welche konstitutiv ist, dass sie: (1) schriftlich realisiert sind, (2) als Instrument zur Begehung einer Straftat dienen (kommunikativer Zweck), (3) meist nicht öffentlich zugänglich sind und (4) häufig anonym verfasst sind (vgl. Busch 2006, 51). https://doi.org/10.1515/9783110376531-043

3.18 Erpresser- und Drohbriefe 

 595

Zahlreiche Aspekte von Erpresserschreiben lassen sich aus der Phänomenologie der Erpressung ableiten, da diese den Handlungsraum der Textproduktion darstellt (vgl. Dern 2009, 145–150): Die Schreiben können den drei Phasen einer Erpressung – Kontaktphase, Verhandlungsphase, Übergabephase – zugeordnet werden, und die Taten sind von Abstraktheit geprägt. Erpresserschreiben erfordern als Tatwerkzeug keine physische Gewalt sowie insgesamt verhältnismäßig wenig Einsatz. Die Sprache wird zur Waffe, welche aus der Anonymität heraus genutzt und in erster Linie gegen Opfer aus der gewerblichen Wirtschaft eingesetzt wird. Oftmals steht hierbei die Herstellung vermeintlicher Gerechtigkeit im Vordergrund, was wiederum damit zusammenhängt, dass der bzw. die typische Täter*in nicht finanzstark ist. In Bezug auf die Berufsgruppe besteht hingegen keine Homogenität bei den Täter*innen. Aus Perspektive der Kriminalistik kommt der Analyse von Erpresserbriefen eine besondere Relevanz zu, da sie häufig die erste Spur in Erpressungsstraftaten darstellen. Die Analyse von Drohbriefen nimmt in der bisherigen Forschungsliteratur hingegen eine weit weniger prominente Rolle ein. Dies wird durch Zweifel daran befördert, ob es sich – wie im Folgenden erläutert werden soll – bei Erpresser- und Drohbriefen um zwei unterschiedliche Textsorten handelt.

3 Textsorte Erpresser- und Drohbriefe Die Analyse von Erpresser- und Drohbriefen wird durch die Tatsache erschwert, dass es sich um kaum durch Konventionen geprägte Texte handelt. Dies ist außergewöhnlich und führt so weit, dass selbst die Existenz einer Textsorte Erpresserbrief oder Drohbrief von zahlreichen Fachkundigen angezweifelt wird. Für Erpresser- und Drohbriefe existieren keine konventionell geltenden Muster. Während ihres Sozialisationsprozesses erwerben Angehörige einer Sprachgemeinschaft Textsortenwissen in Bezug auf Liebesbriefe, Kochrezepte und viele andere Textsorten; es ist allerdings eher unwahrscheinlich, dass die Rezeption und Produktion von Erpresser- und Drohbriefen geübt wird. Anstelle einer eigenen Textsorte wird aus diesem Grund oftmals von der Orientierung an anderen Textsorten des Alltags ausgegangen (vgl. Dern 2009, 151). Busch stellt bei der Analyse des LiKtORA-Korpus, welches ein 1.500 Tatschreiben umfassendes Korpus des Bundeskriminalamtes (BKA) ist, beispielsweise fest, dass Erpresserschreiben oftmals an das Textmuster „Geschäftsbrief“ angepasst sind (vgl. Busch 2006, 59). Wenn hingegen angenommen wird, dass es sich bei Erpresser- und Drohbriefen um eigene Textsorten handelt, ergibt sich eine neue Frage – und zwar, ob sie

596 

 3 Briefgenres

zwei unterschiedliche Textsorten darstellen oder ob es sich um eine gemeinsame Textsorte handelt. Auch hierüber konnte bislang kein Konsens erzielt werden: Artmann (1996) beispielsweise postuliert zwei Textsorten. Brinker (2000) hingegen steht dem aufgrund der prominenten Rolle von Drohhandlungen in Erpresserbriefen kritisch gegenüber. Dern (2009) merkt indes an, dass das ultimative Handlungsziel bei Erpresser- und Drohbriefen tatsächlich nicht identisch ist und deshalb das Erreichen des Ziels ggf. unterschiedliche Strategien erfordert: Drohungen sind nicht zwangsläufig mit Forderungen verbunden, sondern sollen unter Umständen ‚nur‘ Angst einflößen. Dern geht deshalb davon aus, dass Drohbriefe teils anders realisiert werden als Erpresserbriefe.

4 Charakteristika und Elemente von Erpresserund Drohbriefen Unumstritten ist hingegen, dass Erpresser- und Drohbriefe spezifische Charakteristika aufweisen. Diese wurden im Rahmen textlinguistischer Analysen verschiedentlich beschrieben – genannt seien hier vor allem Artmann 1996, Brinker 2000, Busch 2006 sowie Hansen 2011. Meist wird hierbei das textanalytische Konzept Brinkers zugrunde gelegt, welches drei Ebenen der Textbeschreibung unterscheidet (vgl. u.  a. Brinker 2005; Brinker 1990): (1) die kommunikativ-pragmatische Ebene (welche Textfunktion liegt vor?) (2) die thematische Ebene (welche Themen[-entfaltungen] lassen sich ermitteln?) (3) die sprachliche Ebene (durch welche sprachlichen Mittel werden die Textfunktion signalisiert und die Textthematik ausgedrückt?) Da bei Erpresserbriefen der Akt der Drohung als konstitutives Element im Zentrum steht, können sie auf kommunikativ-pragmatischer Ebene als Kombination von appellativer/direktiver Textfunktion (zur Umsetzung der Aufforderung) und kommissiver/selbstverpflichtender Textfunktion (zur Umsetzung der Handlungsankündigung) beschrieben werden (vgl. Brinker 2000, 40). Die nachfolgende Tabelle gibt eine Übersicht der obligatorischen und fakultativen Komponenten von Erpresserschreiben einschließlich ihrer Textfunktion sowie Beispiele der jeweiligen sprachlichen Realisierung (vgl. Brinker 2000, 37–40). Die Textbeispiele stammen aus einem Datenkorpus des BKA (vgl. Bredthauer 2013).

3.18 Erpresser- und Drohbriefe 

 597

Nr.

Textkomponente/Funktion

Art

Bsp. Sprachliche Realisierung

1

Aufforderung (direktiv)

obligatorisch

„Zahlen sie 1,5 Millionen DM (…)“

2

Handlungsankündigung (kommissiv)

obligatorisch

„(…) oder wir verfeinern ihre Produkte auf unsere Art!!!“

3

Zuschreibung der Verantwortung

fakultativ

„Falls nicht haben sie einen Mord im Gewissen.“

4

Versicherung der ­Ernsthaftigkeit

fakultativ

„Das alles ist kein Witz ich meine es sehr Ernst“

5

Selbstdarstellung

fakultativ

„Söldnergruppe, sehr gut bewaffnet“

Die ersten beiden Komponenten werden auch als „erpresserisches Konditionalgefüge von Forderung und Drohung“ (Busch 2006, 55) bezeichnet, welches oftmals durch individuelle Situierungsangaben wie Ort, Zeit, Ausführungsbedingungen und Übermittlungskontext ergänzt wird. Dies zeigt auch die von Brinker identifizierte Grundform der thematischen Struktur (vgl. Brinker 2000, 41–43): (1) Aufforderung und Handlungsankündigung (in konditionaler Verbindung); (2) thematische Entfaltung der Aufforderungskomponente (Übergabemodalitäten u.  ä.); (3) Wiederholung bzw. Entfaltung der Handlungsankündigung. Das erpresserische Konditionalgefüge ist in der Regel im Erstschreiben (auch Solitär genannt) zu finden. Die übrigen thematischen Komponenten können auch in ein Folgeschreiben ausgelagert sein bzw. dort wieder aufgegriffen werden. Nicht immer wird eine Briefserie verfasst, teilweise folgen auf das Erstschreiben keine weiteren Briefe – im LiKtORA-Korpus ist dies bei einem Fünftel der Texte der Fall (vgl. Busch 2006, 56). Andere Varianten wie Absagen der Erpressung sind hingegen nur sehr selten anzutreffen. Der sprachlichen Ebene kommt bei der Textanalyse laut Brinker lediglich eine dienende Funktion zu, da „die sprachlichen und stilistischen Mittel nur im Hinblick auf die kommunikativ-funktionalen und thematischen Konzepte des Textes sinnvoll untersucht werden können“ (Brinker 2000, 43). Bei Erpresserbriefen kommt es, wie bereits erläutert, häufig zu Anlehnungen an Geschäftsbriefe oder auch Behördenbriefe, so dass oftmals für diese Textsorten typische Formulierungsmuster verwendet werden. Aufforderung und Handlungsankündigung werden in aller Regel durch ein Konditionalgefüge wie „wenn (nicht)…, dann…“ realisiert; sprachlich variabler gestaltet sind dagegen die fakultativen Textkomponenten (vgl. Dern 2009, 159–162).

598 

 3 Briefgenres

Neben der bereits beschriebenen Problematik der fehlenden Konvention ergibt sich bei der Analyse inkriminierter Texte häufig eine weitere Schwierigkeit aus den Versuchen der Autor*innen, ihre Sprache zu verstellen, um so ihre Anonymitätswahrung zu stärken. Dies geschieht entweder durch die Imitation des Sprachgebrauchs einer anderen Person bzw. Personengruppe oder durch die bloße Verfremdung des eigenen Sprachstils (vgl. Bredthauer 2013, 15–16). Die Bemühungen zur Verschleierung der eigenen Identität durch den bzw. die Autor*in sind vermutlich auch Ursache dafür, dass Erpresser- und Drohbriefe in der Regel eher kurz gehalten sind – meist umfassen sie weniger als 200 Wörter (vgl. Schall 2004, 553).

5 Beispiel eines Erpresserbriefs Zur Veranschaulichung zeigt die nachfolgende Abbildung einen Erpresserbrief, der einem Datenkorpus des BKA entstammt. Zu Anonymisierungszwecken wurden Angaben wie der Adressat, Orte oder Daten unkenntlich gemacht.

Abb. 1: Beispiel eines Erpresserbriefs (aus Bredthauer 2013, 103)

Dieses Beispiel eines Erpresserbriefs zeigt eine mögliche Form der Orientierung am Textmuster des Geschäftsbriefs – sowohl durch die Anordnung der verschiedenen Textbestandteile als auch auf sprachlicher Ebene, beispielsweise durch die Registerwahl bei Anrede und Grußformel (‚Sehr verehrte…‘, ‚Hochachtungsvoll‘). Das erpresserische Konditionalgefüge findet sich in diesem Beispiel erst am Ende des Textes und ist wie folgt realisiert: ‚Die Belästigungen sind bis zum [Datum] einzustellen. Andernfalls setze ich diese Drohung in die Tat um!‘ Neben

3.18 Erpresser- und Drohbriefe 

 599

diesen obligatorischen Textkomponenten wurden zwei der genannten fakultativen Elemente verwendet: eine Versicherung der Ernsthaftigkeit ‚Ich hoffe das reicht als Beweis‘ und eine Selbstdarstellung ‚Ich bin Arzt für innere Medizin‘. Des Weiteren wird in diesem Erpresserbrief eine simulatorische Verstellungsstrategie eingesetzt, indem der Autor vorgibt, Arzt für innere Medizin zu sein (vgl. Bredthauer 2013, 103).

6 Fazit Unabhängig davon, ob im Fall von Erpresser- und Drohbriefen von zwei eigenständigen Textsorten, einer gemeinsamen Textsorte oder lediglich von der Orientierung an anderen Textsorten auszugehen ist, stellt das Fehlen konventionell geltender Muster eine Schwierigkeit bei der Analyse dieser Tatschreiben dar. Denn nur vor der Folie des Erwartbaren lassen sich Besonderheiten einzelner Textrealisierungen bestimmen und somit Rückschlüsse auf Autorenmerkmale ziehen. Angesichts der Relevanz von Tatschreibenanalysen im forensischen Kontext ist weitere Forschung in diesem Bereich sehr wünschenswert, um beispielsweise bei der Erstellung von forensisch-linguistischen Gutachten im Rahmen von Ermittlungs- und Gerichtsverfahren auf eine breitere empirische Grundlage zurückgreifen zu können.

Zitierte Literatur Artmann, Peter (1996). Tätertexte – eine linguistische Analyse der Textsorten Erpresserbrief und Drohbrief. (Diss.) München. Bredthauer, Stefanie (2013). Verstellungen in inkriminierten Schreiben. Eine linguistische Analyse verstellten Sprachverhaltens in Erpresserschreiben und anderen inkriminierten Texten. Köln. Brinker, Klaus (1990). „Textanalytische Voraussetzungen forensisch-linguistischer Gutachten“, in: Texte zu Theorie und Praxis forensischer Linguistik. Hg. v. Hannes Kniffka. Tübingen: 115–123. Brinker, Klaus (2000). „Zum Problem der Autorenerkennung aus textlinguistischer Sicht (am Beispiel von Erpresserschreiben)“, in: 2. Symposion Autorenerkennung des Bundeskriminalamtes. Hg. v. Christa Baldauf. Wiesbaden: 34–53. Brinker, Klaus (2005). Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. Berlin. Busch, Albert (2006). „Textsorte Erpresserschreiben“, in: Wissenstransfer – Erfolgskontrolle und Rückmeldungen aus der Praxis. Hg. v. Sigurd Wichter u. Albert Busch. Frankfurt a. M.: 1–65.

600 

 3 Briefgenres

Dern, Christa (2009). Autorenerkennung. Theorie und Praxis der linguistischen Tatschreibenanalyse. Stuttgart. Hansen, Sandra (2011). Erpresser- und Mahnbriefe – ein Textsortenvergleich. Saarbrücken. Schall, Sabine (2004). Forensische Linguistik“, in: Angewandte Linguistik. Hg. v. Karlfried Knapp et al. Tübingen u. Basel: 544–562. Shuy, Roger W. (2007). „Language in the American Courtroom“, in: Language and Linguistics Compass, 1.1–2: 100–114.

Marcus Willand

3.19 Gefängnisbrief/Kassiber 1 Systematik Der Gefängnisbrief teilt alle konstituierenden Merkmale der Textgattung ‚Brief‘: Schriftlichkeit, Monologizität der Kommunikationsrichtung, räumliche Getrenntheit von Schreiber und Adressat und die Ungleichzeitigkeit von Textproduktion und -rezeption (vgl. Gätje 2008, 352). Darüber hinaus jedoch wird der Gefängnisbrief durch das notwenige Merkmal bestimmt, dass der bzw. die Verfasser*in des Briefs Insasse einer totalen Institution ist: des Gefängnisses bzw. seiner ­historischen Vorformen wie des Kerkers, der Festungszelle, der Gefängnisinsel, des Gefängnisschiffes, des Hexenturms, des Karzers, des Zuchthauses, der Erziehungs-, Detentions- und Irrenanstalt, des Strafgefangenen- und Konzentrationslagers, des black jail (geheimen Gefängnisses) usw. Das Strafvollzugsziel setzt dabei in der Regel auch die Rahmenbedingungen der Inhaftierung und damit die Möglichkeit fest, legalen Zugang zu Schreibmaterial und die Erlaubnis zur Briefkommunikation nach innen und außen zu haben. Gefängnisbriefe sind immer dann, wenn sie der Zensur unterliegen, als doppelte Kommunikation zu verstehen. Briefe aus Gefangenschaft haben also mindestens zwei Adressat*innen: Die eigentlichen Empfänger*innen einer (gegebenenfalls verschlüsselten) Botschaft und die Zensurinstanz, die Einfluss auf die Form des Gefängnisbriefs hat (aber eventuelle klandestine Botschaften nicht verstehen darf). Diese Form der Kommunikation setzt dann voraus, dass Sender*in und intendierte*r Adressat*in den gleichen Code kennen, um die eigentliche Botschaft zu decodieren. Unabhängig davon, ob die intendierte Botschaft privaten, amourösen, politischen, revolutionären usw. Inhalts ist, die doppelte Adressiertheit aufgrund der beständigen Gefahr potentieller Zensur lässt die spezifische Form des Gefängnisbriefs entstehen – die sich im englischsprachigen Raum in der Frühen Neuzeit zu einer eigenständigen Gefängnisbriefkultur entwickelte (vgl. Anselment 1993; Potter 1989). Jede wissenschaftliche Beschäftigung mit Gefängnisbriefen muss dementsprechend in einem ersten Schritt die Entscheidung treffen, ob die sprachliche Oberfläche des Briefs als direkter Ausdruck der Senderintention verstanden werden kann oder ob diese nur Medium einer verschlüsselten, eigentlichen Botschaft ist.

https://doi.org/10.1515/9783110376531-044

602 

 3 Briefgenres

2 Sonderform: Kassiber ‚Kassiber‘ bezeichnet, wie auch der Gefängnisbrief, die Mitteilung von einem oder an einen Insassen einer totalen Institution. Beim Kassiber wird in der Forschung häufiger jedoch als beim Brief die Materialität des Trägermediums berücksichtigt. Definiert werden sollte der Kassiber insbesondere aber über die o.  g. Spezifika des Gefängnisbriefs, wobei es in der Forschung als Konsens gilt, dass im Gegensatz zum Gefängnisbrief auch diejenigen Mitteilungen zu den Kassibern zählen, die von außen nach innen, d.  h. an eine*n Gefangene*n gerichtet sind. Das Wort führt über das Rotwelsche (einer Gauner- und Geheimsprache) kassiwe zurück zu dem jiddischen Wort kessaw für ‚Brief‘, ‚Geschriebenes‘. Die Funktion des geheimen Informationsaustauschs im Beisein Dritter ist noch immer Teil der heutigen Wortbedeutung, was durchaus dafür spricht, auch mündliche und andere nicht papiergebundene Kommunikationsformen zu den Kassibern zu zählen. Versucht man die sprachliche Gestaltung des Kassibers zu beschreiben, so wird deutlich, dass „das Schreiben aus der Haft oder gegen das Diktat des Schreibverbots  […] zu Texten von hoher Verdichtung“ führt (Raulff und Raulff 2012, 7). Die materiale Knappheit, bedingt durch den Mangel an Schreibmaterial, oder die vorauszusetzende geheime Transportierbarkeit trotz ständiger Überwachung, mündet in einer Sprache, die geprägt ist von Ellipsen, Asyndeta, Elisionen, also Sparsamkeit als oberstes Prinzip verfolgt (vgl. Gätje 2008, 365). Eines von unzähligen Verstecken von Kassibern beschreibt Helmuth Schmidt, 1987 zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, da er seinem Engagement gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann mit Flugzetteln Ausdruck verlieh: „Aus zwei Streichholzschachteln fertigte ich einen doppelten Boden, in dem ich meinen geknifften Brief verstaute“ (Schmidt und Weischer 2006, 128). Die sicherlich vollständigste Sammlung dieser Kommunikationsform im 19. Jahrhundert findet sich bei Avé-Lallemant (1858; 1862, hier 1862, 92–93), der mit geradezu dokumentarischem Eifer die Kreativität der Gefangenen beschreibt und dabei u.  a. als Verstecke anführt: Wäschenähte, Kartoffeln, Klöße, das Mark eines Fleischknochens, das Maul eines gebackenen Fischs, Rüben, Birnen, unter Tellern und Schüsseln, auf dem Grund von Suppenschalen usw. Dass Kassiber im besten Fall nach der erfolgreichen Übermittlung zerstört werden, ist freilich ein Problem für deren Untersuchung, wobei sich nicht alle Formen des Kassibers als so ‚unmögliche Forschungsobjekte‘ materialisieren wie etwa Klopfzeichen (durch die Wand oder über die Heizung) und Bauchrednertechniken (die es zum Schweigen verdammten Gefangenen erlauben, beim Mittagessen zu plaudern; vgl. Goffman 1972, 245–247). Im Sinne eines weiten Begriffsverständnisses können durchaus auch Epigraphen und Graffitis an den Zellenwänden als Kassiber verstanden werden (vgl. Lombroso 1899; Cherubim 2007, 739; Fleming 2001). Bei diesen Randphä-

3.19 Gefängnisbrief/Kassiber 

 603

nomenen, die sich zwischen Dekoration und Kommunikation bewegen, muss allerdings auch die grundsätzlich beim Gefängnisbrief zu diskutierende Frage gestellt werden, inwiefern es ein notwendiger Aspekt der Gegenstandsdefinition sein muss, dass Sender*in und intendierte*r Adressat*in unterschiedliche Personen sind. Der funktionsorientierte Blick auf diese Kommunikationsformen kann das Argument plausibilisieren, dass vor allem die psychische Dimension des ‚gefangenen Schreibens‘ ausschlaggebend für die Gestalt des Gefängnisbriefs/ Kassibers sind. Die Geschichte des 1588 gestorbenen Spions William Herle zeigt zwar auf, dass Kassiber durchaus Relevanz für die höchsten politischen Ämter haben können (wie die Ridolfi-Verschwörung zur Ermordung Elisabeth I. und der Einsetzung Maria Stuarts; vgl. Adams 2009); angesichts der Tatsache, dass viele Gefangene und Übermittler*innen mit Kassibern drakonische Strafen riskierten, enthalten diese Texte häufig jedoch „überraschend Alltägliches und sogar Banales“ (Barnert et al. 2012, 41). Daher ist anzunehmen, dass ein nicht zu vernachlässigender Aspekt imprisionärer Kommunikation neben der tatsächlichen Übermittlung von Informationen auch die tröstende Selbstvergewisserung des/ der Gefangenen ist, in Systemen totaler Überwachung überhaupt kommunizieren zu können.

3 Funktionen Zwar können Briefe eine Vielzahl von Funktionen für ihre*n Verfasser*in übernehmen, im Falle der spezifischen psycho-physischen Produktionssituation imprisionären Schreibens ist jedoch generell von einer besonderen Relevanz psychologisch erklärbarer Funktionen auszugehen. Die ersten kriminalanthropologischen (vgl. Lombroso 1899) und „[p]hänomenologische[n] Studien an literarischen Selbstzeugnissen ehemaliger Häftlinge“ (Sievert 1929) zeigen, dass in der Forschung schon früh ein Bewusstsein für die positiven Auswirkungen schriftlicher Kommunikation in Gefangenschaft einsetzt. Eine der psychologisch bedeutendsten Funktionen des Gefängnisbriefs ist die Erfahrung und Kommunikation von Zuneigung in der Zeit der Isolation. Von Michail Bakunin (1814–1876) etwa ist ein Kassiber aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert erhalten, in dem er seinen „teuren Freunde[n]“ trotz der „schrecklichen Gefahr“, der er sie mit dem Brief aussetzt, seine Sehnsucht nach Nähe kommunizieren muss: „Daraus könnt Ihr schließen, wie groß für mich der Zwang ist, mich vor Euch auszusprechen“ (Bakunin 1988, XIII). Ganz ähnlich zeigen die ziemlich genau einhundert Jahre später geschriebenen Briefe des Black Guerrilla Family-Mitglieds George Jackson (1941–1971) an die Gefangenenaktivistin und Rechtsanwältin Fay Stender (1932–

604 

 3 Briefgenres

1980), dass auch formale Kommunikationskontexte stark emotionale Züge annehmen können: „Sie sind eine sehr kluge, feinfühlige und wunderbare Frau, deren Vermittlerrolle […] mich teils begeistert, teils erbittert. Warum muß gerade ich von einer so schwachen Position aus Beziehungen knüpfen“ (Brief vom 5.3.1970, zit. n. Lüderssen und Seibert 1978, 204). Kaum zu trennen von dieser Funktion des Ausdrucks von Emotionen ist die Kanalisierung des Bedürfnisses, die Probleme im Umgang mit der eigenen Situation zu kommunizieren. Die unmenschliche Behandlung des/der Gefangenen als entsozialisiertes Objekt kommt dabei immer wieder zur Sprache. Oscar Wilde (1854–1900) etwa schreibt mit De Profundis voller Demut einen „buchlangen“ Brief (Koppenfels 2014, 122, Anm. 62) aus dem Zuchthaus an seinen Liebhaber Lord Alfred Bruce Douglas. Erniedrigungserfahrungen werden durch ihre Vermittlung an einen oder mehrere reale oder fiktive Adressaten reflektiert, abstrahiert und teilweise auf das ‚epistolare Ich‘ übertragen. Diese Praxis des Selbstschutzes durch Rollenübernahme (des bzw. der Dokumentierenden, des Sprachrohrs usw.) ist besonders häufig bei Autor*innen in Lagerhaft zu beobachten. Der alternative Selbstentwurf setzt dabei das brieflich kommunizierte Ich in einen Zusammenhang mit der adressierten Gesellschaft, die für den bzw. die Autor*in aufgrund der Inhaftierung eben nicht zugänglich ist. Deutlich wird hierbei, wie sehr der materielle Raum auf die Psyche des bzw. der Schreibenden wirkt. Dies kann wie bei Ernst Tollers (1893–1939) Briefe[n] aus dem Gefängnis (1978) zu der vermeintlich paradoxalen Situation führen, dass die Mangelerfahrung im Gefängnis durch Utopiebildung erträglich zu machen versucht wird. Grundsätzlich verdeutlicht diese unvollständige Aufzählung der Funktionen imprisionären Schreibens bereits das zentrale Problem jeder textquellenbasierten Biographieforschung, die die Bedeutung der Gefangenschaft für das Leben eines Menschen im Kontext der Annahme eines als stabil gedachten Subjekts denkt (vgl. Apitzsch und Kammerer 2007, 220). Es besteht in der nur schwer auflösbaren Differenz von realem und – in diesem Fall – epistolarem Selbst des bzw. der inhaftierten Autor*in. Gefängnisbriefe können jedoch nicht nur der Verarbeitung erfahrener Erniedrigung dienen, sondern auch Ausdruck des Triumphs nach Jahren der Unterdrückung werden. So publiziert der 1834 im Schloss Babenhausen inhaftierte Wilhelm Schulz (1797–1860) zwölf Jahre nach seiner Flucht den Briefwechsel eines Staatsgefangenen mit seiner Befreierin (1846) nicht zuletzt, um nun auch dem „wachsamen Auge des Herrn Obristen und Commandanten der Festung zur Schau“ zu stellen, dass er hinter deren Rücken erfolgreich konspirativ korrespondierte (Schulz 1834, VI; vgl. ähnlich Tibbutt 1949). Gelegentlich wurde in der Forschung die Unterscheidung von schreibenden Delinquenten und inhaftierten Intellektuellen gemacht (vgl. Weigel 1982, 17 in

3.19 Gefängnisbrief/Kassiber 

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Auseinandersetzung mit Zahl und Schnell 1979). Obgleich diese Kategorienbildung problematisch und bisweilen unscharf ist (vgl. etwa Jack Unterweger, der sich in Haft vom Delinquenten zum Intellektuellen entwickelt), markiert sie eine charakteristische Differenz der Forschungsperspektiven auf die Gefängnisliteratur allgemein. Während die Haftzeit für den bzw. die Intellektuelle*n nur als Lebensstation mit besonderen Herausforderungen für die Person und das Schreiben betrachtet wird, degradiert die Delinquenten-Forschung diesen „zum Objekt“ meist soziologischer oder psychologischer Studien (Weigel 1982, 11). Doch auch hier sind bemerkenswerte Korpora überlieferter Gefängnisbrief-Kommunikation zu verzeichnen. Hierzu zählt insbesondere die Korrespondenz der Publizistin Birgitta Wolf (1913–2009) mit Strafgefangenen. Die 60.000 Briefe sind im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung zugänglich und geben vor allem Einblick in die Alltagssorgen der Inhaftierten, zeigen aber auch, wie lyrische und graphische Verarbeitungsstrategien brieflich kommuniziert werden (vgl. Wolf 1967; Wolf 1968; Wolf 1972). Neben rein psychologischen Funktionen hatten Gefängnisbriefe schon immer auch Auswirkungen auf die Realität außerhalb der Gefängnismauern. Häufig geht es dabei um Rechtsangelegenheiten, wie auch im Falle des 1660 während eines Gottesdienstes verhafteten und für zwölf Jahre eingesperrten Baptistenpredigers John Bunyan (1628–1688; vgl. Lynch 2009). Für vor der Inhaftierung schon tätige Autor*innen journalistischer oder literarischer Texte verschärfen sich in Gefangenschaft Probleme, die mit der Drucklegung zusammenhängen. Nachdem beispielsweise Christian Friedrich Daniel Schubart (1739–1791) auf der Festung Hohenasperg zwischen den Jahren 1777 und 1780 „in enger Haft gänzlich verstummt“ ist (Schubart 1849, Bd. I, 350), darf er in den letzten Jahren seiner Kerkerzeit (1785–1787) poetischem und epistolarem Schreiben nachgehen und in seiner Korrespondenz mit dem Obristen von Seeger etwa einen Besuch des zukünftigen Druckers seiner „poetischen Werke“ einfordern, um mit ihm über „Papier, Format, Verzierungen, Korrektur und die Anzahl der Exemplare“ zu sprechen (Brief vom 19.4.1885; in Schubart 1849, Bd. II, 183). Eine in ihrer Drastik selten so positive Konsequenz hatten die Zuchthausbriefe (1927) des seit 1919 aktiven KPD-Mitglieds Max Hoelz (1889–1933), der 1921 zu Unrecht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Der als „rasender Reporter“ in die Geschichtsbücher eingegangene Journalist Egon Erwin Kisch (1885–1948) publizierte die in Gefangenschaft geschriebenen Briefe Hoelz’, was zu der öffentlichen Forderung vieler Intellektueller nach einer Revision des Urteils führte (dazu gehörten Bertolt Brecht, Albert Einstein, Lion Feuchtwanger, Heinrich und Thomas Mann, Erich Mühsam. u.v.m.). Bereits ein Jahr nach der Publikation seiner Gefängnisbriefe wurde Hoelz amnestiert und konnte in die damalige UdSSR emigrieren (vgl. Plener 2015).

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 3 Briefgenres

4 Strafsysteme als Kommunikationsbedingung Es sind die historisch und national stark uneinheitlichen Regulierungen des Umgangs mit Inhaftierten, die zu der Form- und Funktionsvielfalt des Gefangenenbriefs führen. Daher wird es auch keine Gattungsgeschichte des Gefangenenbriefs geben, die nicht gleichsam die unstete Geschichte totaler Institutionen berücksichtigt. Ein Problem für die Forschung stellt hierbei die beschränkte Reichweite wissenschaftlicher Beschreibungskategorien dar, die sich in der Regel auf einzelne, nur bedingt vergleichbare Bestrafungs- und Inhaftierungssysteme beschränken muss. So lässt sich zwar die Kerkerhaft schon seit der Antike (obgleich nur in untergeordneter Rolle) und im Mittelalter etwa für Boethius nachweisen, als theoretisch reflektiertes Instrument des Strafvollzugs wurde die kategorial vergleichbare Isolierungshaft aber erst mit dem solitary system in den 1820er Jahren in Pennsylvania eingeführt. Während der Kerker zuvor nur die Flucht des Gefangenen bis zur eigentlichen Bestrafung verhindern sollte – in legitim regulierter Weise seit spätestens 534 n. Chr. nach dem Corpus Iuris Civilis –, wird im 19. Jahrhundert zunehmend die Haft selbst als Bestrafungs- und Besserungsinstrument verstanden. Dabei stand nun die Rehabilitierung oder Resozialisierung des Inhaftierten im Fokus. Nach den religiösen Vorstellungen der Quäker hatten die Gefangenen durch den Strafvollzug den Weg zurück zu Gott zu finden; die Bibel als einzig erlaubter Besitz in der Zelle sollte diesen Weg über Reue und Buße bereiten. Nahezu zeitgleich, aber in Reaktion auf dieses Konzept, entstand in New York das Auburn’sche silent system, das der nächtlichen Isolation die gemeinsame, aber schweigsame Arbeit am Tage zur Seite stellte. Auch hier war der Zugang zu Schreibmaterial nicht vorgesehen, weshalb wenige Gefängnisbriefe aus diesen Gefängnissystemen überliefert sind. Die umfassenden und langwierigen deutschen Gefängnisreformen des 19. Jahrhunderts, die vom Preußischen Landrecht ausgehend die Leibesstrafe zunehmend durch Gefängnisstrafen ersetzten, wären nicht ohne eine Orientierung an den progressiveren Strafsystemen im europäischen Ausland und Amerika denkbar (vgl. Nutz 2001; Schauz 2008; Kesper-Biermann und Overath 2007). Dies hat letztlich zu vergleichbareren Haftbedingungen in großen Teilen des globalen Nordens geführt. Dennoch gibt es freilich nationale Spezifika und gesetzliche Handlungsspielräume. So kann etwa das in Deutschland im vergangenen Jahrhundert kaum veränderte Recht auf unbeschränkten Schriftverkehr in Haft, das Briefkommunikation in quantitativ unlimitierter Weise ebenso gewährleistet wie das durch Art. 10 des Grundgesetzes geschützte Briefgeheimnis, drei Formen von Einschränkung erfahren (festgelegt durch die Gesetze § 196 StVollzG, Art. 207 BayStVollzG, § 130 HmbStVollzG, § 202 NJVollzG): (1) die Untersagung des Schriftwechsels mit bestimmten Personen, (2) die Überwachung, (3) das Anhalten von Schreiben (vgl. Laubenthal 52008, 283).

3.19 Gefängnisbrief/Kassiber 

 607

Beispielsweise wurde Robert Scholl (1891–1973) – dem Vater von Sophie Scholl – der private Briefverkehr mit seiner ebenfalls 1943 im Gefängnis Ulm inhaftierten Tochter Inge verboten. Da er aber seine Tätigkeit als Steuerberater und Wirtschaftsprüfer weiterführen durfte, konnte er seiner ihm assistierenden Tochter Geschäftsakten zukommen lassen, die ihnen als Couvert (frz. couvrir = bedecken) für Kassiber erbaulich-privaten Inhalts dienten (vgl. Scholl 1993). Während sich für die Frühe Neuzeit im deutschsprachigen Raum verhältnismäßig wenig überlieferte Zeugnisse von Gefangenenliteratur (im weitesten Sinne) nachweisen lassen und es entsprechend wenig Forschung gibt, lässt sich mit Spearing (1992) und Freeman (2009) konstatieren, dass im englischsprachigen Raum des 15. Jahrhunderts ein Gutteil der kanonischen Literatur von Gefangenen produziert wurde. Diese Unterschiede sind zurückzuführen auf unterschiedliche Haftsysteme und Inhaftierungsfunktionen. Ahnert (2009) etwa erwähnt den in Deutschland lange Zeit nicht denkbaren unlimitierten Zugang zu Stift und Papier adeliger Gefangener im Tower of London zur Zeit der Reformation (ca. 1530–1558); Potter (1989) und De Groot (2009) belegen Gleiches für die ein Jahrhundert später, während des Civil War, gefangengenommenen Royalisten. Dass man im 16. und 17. Jahrhundert außerhalb der Gefängnismauern ein großes Interesse an jeglicher Form von prison writing hatte, schuf offensichtlich einen Markt, der von den Gefangenen derart gut bedient wurde, dass nicht nur die hochgradig populäre Schreibkultur der Gattung ‚Gefangenenbrief‘ entstand, sondern sich unter den Zeitgenossen auch das Gerücht verbreitete, es gäbe im Tower of London eine geheime Druckerpresse. Unabhängig von dem Wahrheitsgehalt dieses Narrativs schafft es eine (wenn auch nur anekdotische) Evidenz für die Verbreitung von Gefangenenliteratur, die überhaupt erst ermöglicht wurde durch das Zugeständnis an den aristokratischen, royalen (usw.) Gefangenen, auch im Tower der höfischen Praxis epistolarer Kommunikation nachzukommen. So besteht kein Zweifel an der Aussage von Reichardt (2006, 116), dass der quantitativ bedeutendste Teil der Gefangenenliteratur dieses Jahrhunderts aus Briefen und Bittschriften besteht. Obgleich viele dieser Briefe an eine größere, meist die höfische – im Fall des Predigtbriefs (1643) von John Vicars (1582–1652) aber auch eine religiöse  – Öffentlichkeit mit-adressiert waren, erreichten diese selten die Popularität von James Howells (ca. 1594–1666) Epistolae Ho-Elianae (oder Familiar Letters, 1645), die er hauptsächlich in den 1640ern während seiner acht Jahre in Haft im Fleet Prison schrieb. Eine vollständige Beschreibung des Gefangenenbriefs darf es nicht unterlassen, dessen erhoffte oder tatsächlich realisierte Anschlusskommunikation zu berücksichtigen. So schreibt Rudolf Sieverts (1929, 86) noch im 20. Jahrhundert, dass Briefe und Besuche von Angehörigen häufig „die einzigen Eindrücke [sind], die der Gefangene von der Welt außerhalb der Mauern empfängt.“ Ein eindrück-

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 3 Briefgenres

liches Zeugnis dieser in heutigen deutschen Gefängnissen nicht mehr vorstellbaren Erfahrung von Informationsmangel liefern Felix Fechenbachs (1894–1933) Bilder aus dem Zuchthaus (1925): „Briefe [waren] das einzige Mittel, das die Verbindung mit der Welt ‚draußen‘ aufrechterhalten konnte. Was unter solchen Umständen ein ankommender Brief […] bedeutet, kann man sich außerhalb der Zuchthausmauern nur schwer vorstellen.“ (Fechenbach 1925, 84) Die hier nur angerissene Bedeutung liegt für ihn in dem Wachrufen von vergessen geglaubtem Erinnerungsmaterial: Der Brief ins Gefängnis „beschäftigt die Gedanken ­tagelang, führt im Geiste mit dem Briefschreiber zusammen und weckt Erinnerungen an frohe Kindheits- und Jugendereignisse oder an gemeinsames Schaffen und Wirken, an sonnige Tage der Freiheit und des Lebens“ (Fechenbach 1925, 86; vgl. ähnliche Schilderungen bei Berkmann 1927, insb. 114). Festzuhalten bleibt, dass das Wissen um die spezifische Produktionssituation von Autor*innen in Gefangenschaft das Verständnis literarischer und epistolarer Dokumente befördern, teilweise auch überhaupt erst ermöglichen kann. Selten wird – trotz der vielfältigen Formen von Haftsystemen und daran zu bemessenden Kommunikationsformen – das Briefeschreiben durch die Jahrhunderte auf vergleichbare Weise stark institutionellen Bedingungen unterliegen wie im Fall des Gefängnisbriefs.

Zitierte Literatur Adams, Robyn (2009). „‚The Service I am Here for‘: William Herle in the Marshalsea Prison, 1571“, in: Huntington Library Quarterly, 72.2: 217–238. Ahnert, Ruth (2009). „Writing in the Tower of London during the Reformation, ca. 1530–1558“, in: Huntington Library Quarterly, 72.2: 168–192. Anselment, Raymond A. (1993). „‚Stone Walls‘ and ‚I’ronbars‘: Richard Lovelace and the Conventions of Seventeenth-Century Prison Literature“, in: Renaissance and Reformation, 29.1: 15–34. Apitzsch, Ursula u. Peter Kammerer (2007). „Was geschieht mit den Besiegten? – Die Biographie Antonio Gramscis aus der Sicht der Gefängnisbriefe“, in: Das Argument, 270: 220–232. Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt (1858; 1862). Das deutsche Gaunerthum in seiner social-politischen, literarischen und linguistischen Ausbildung zu seinem heutigen Bestande. 3 Bde. Leipzig. Bakunin, Michail A. (1988). Brief aus dem Gefängnis: die „Beichte“. Berlin. Barnert, Arno, Katja Buchholz, Ulrich von Bülow, Jan Bürger, Heike Gfrereis, Ulrich Raulff u. Ellen Strittmatter (Hg.) (2012). Kassiber. Verbotenes Schreiben. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Literaturmuseum der Moderne, Marbach am Neckar, 27.9.2012 bis 27.1.2013. Marbach am Neckar. Berkmann, Alexander (1927). Die Tat. Gefängniserinnerungen eines Anarchisten. Berlin.

3.19 Gefängnisbrief/Kassiber 

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Cherubim, Dieter (2007). [Art.] „Graffiti“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hg. v. Klaus Weimar, Harald Fricke, Klaus Grubmüller u. Jan-Dirk Müller. Berlin: 738–740. De Groot, Jerome (2009). „Prison Writing, Writing Prison during the 1640s and 1650s“, in: Huntington Library Quarterly, 72.2: 193–215. Fechenbach, Felix (1925). Im Haus der Freudlosen: Bilder aus dem Zuchthaus. Berlin. Fleming, Juliet (2001). Graffiti and the Writing arts of Early Modern England. Philadelphia. Freeman, Thomas S. (2009). „The Rise of Prison Literature“, in: Huntington Library Quarterly, 72.2: 133–146. Gätje, Olaf (2008). „Formen unerlaubter Kommunikation in totalen Institutionen“, in: Verschlüsseln, Verbergen, Verdecken in öffentlicher und institutioneller Kommunikation. Philologische Studien und Quellen. Hg. v. Steffen Pappert, Melanie Schröter u. Ulla Fix. Berlin: 349–374. Goffman, Erving (1972). Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a. M. Hoelz, Max (1927). Briefe aus dem Zuchthaus. Hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Egon Erwin Kisch. Berlin. Howell, James (1645). Epistolæ ho-elianæ; familiar letters domestic and forren. Divided into six sections partly historicall politicall philosophicall upon emergent occasions. London. Huber, Johann Ludwig (1798). Etwas von meinem Lebenslauf und etwas von meiner Muse auf der Vestung. Ein kleiner Beitrag zu der selbst erlebten Geschichte meines Vaterlandes. Stuttgart. Kesper-Biermann, Sylvia u. Peter Overath (Hg.) (2007). Die Internationalisierung von Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik (1870–1930). Deutschland im Vergleich: Fachtagung am Centre Marc Bloch, Deutsch-Französisches Forschungszentrum für Sozialwissenschaften in Berlin am 17. und 18.2.2005. Berlin. Koppenfels, Werner von (Hg.) (2014). Aus den Kerkern Europas. Poetische Kassiber von François Villon bis Ezra Pound. München. Laubenthal, Klaus (52008). Strafvollzug. Berlin u. Heidelberg. Lombroso, Cesare (1899). Kerker-Palimpseste. Wandinschriften und Selbstbekenntnisse gefangener Verbrecher. In den Zellen und Geheimschriften der Verbrecher gesammelt und erläutert. Hamburg. Lüderssen, Klaus u. Thomas-Michael Seibert (Hg.) (1978). Autor und Täter. Frankfurt a. M. Lynch, Kathleen (2009). „Into Jail and into Print: John Bunyan Writes the Godly Self“, in: Huntington Library Quarterly, 72.2: 273–290. Nutz, Thomas (2001). Strafanstalt als Besserungsmaschine. Reformdiskurs und Gefängniswissenschaft 1775–1848. München. Plener, Ulla (2005). „Vorwort der Herausgeberin“, in: Max Hoelz: „Ich grüße und küsse Dich – Rot Front!“. Tagebücher und Briefe, Moskau 1929 bis 1933. Hg. v. ders. Berlin: 9–52. Potter, Lois (1989). Secret Rites and Secret Writing: Royalist Literature, 1641–1660. Cambridge. Raulff, Helga u. Ulrich Raulff (2012). „Vorwort“, in: Kassiber. Verbotenes Schreiben. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Literaturmuseum der Moderne, Marbach am Neckar, 27.9.2012 bis 27.1.2013. Hg. v. Arno Barnert et al. Marbach am Neckar: 6–11. Reichardt, Dosia (2006). „The Constitution of Narrative Identity in Seventeenth-Century Prison Writing“, in: Early Modern Autobiography. Theories, Genres, Practices. Hg. v. Ronald Bedford, Lloyd Davis u. Philippa Kelly. Ann Arbor: 115–129.

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 3 Briefgenres

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Ingo Breuer

3.20 Reisebriefe Eine genuine Reisebriefforschung existiert nicht. Der Begriff des Reisebriefs hat sich bisher weder in der Briefforschung noch in der Forschung zur Reiseliteratur nachhaltig etabliert, sondern wird meist stillschweigend als Sonderform des jeweiligen Genres verstanden und damit in der Regel den Sachtexten zugerechnet, außer wenn berühmte Literatennamen wie Johann Wolfgang von Goethe, Johann Gottfried Seume, Heinrich Heine oder Ludwig Börne das Titelblatt schmücken. Grundsätzlich dürften sehr zahlreiche Briefe auf Reisen entstanden sein, doch als definierbarer Untersuchungsgegenstand wird ein Genre ‚Reisebrief‘ – so die Hypothese – vor allem dort fassbar, wo er über ausreichende textliche und paratextuelle Signale verfügt, die eine Reise als wesentliches Thema erkennen lassen, und ihm explizit ein Werkcharakter zugeschrieben wird, z.  B. indem er einzeln oder als Konvolut in Zeitungen, Zeitschriften oder Büchern publiziert wird. Sie unterscheiden sich von anderen Arten der Reisebeschreibung durch die Briefform und von der Briefsammlung durch das zentrale Reisethema, auf das im Idealfall bereits im Titel hingewiesen wird. Und sie unterscheiden sich von den zahlreichen postum publizierten Briefsammlungen berühmter Persönlichkeiten dadurch, dass sie mit dem genannten thematischen Fokus von den Autoren publiziert wurden bzw. genügend Indizien für eine Publikationsabsicht vorliegen.

1 Forschung Reinhard M. G. Nickisch nimmt in seinen „Sammlung Metzler“-Band zum „Brief“ ein Kapitel zum Thema „Reisebriefsammlungen“ auf und liefert dort eine konzise Literaturgeschichte der Gattung mit einer Vielzahl an Beispielen, wenn auch ohne strikte Systematisierung (vgl. Nickisch 1991, 113–122). Er sieht Reisebriefe als Sonderform von Briefen, die den Duktus eines Berichts an die Familie oder Freunde in der Heimat behalten, aber meist bereits im Hinblick auf eine Publikation geschrieben wurden, wobei die Grenze zur reinen Fiktion oft unbestimmbar bleibt (vgl. Nickisch 1991, 113–115). Trotz aller Differenzierungen reduziert er die Gattung jedoch auf die Buchform (vgl. Nickisch 1991, 113–114) und blendet dabei z.  B. die zahlreichen in Periodika publizierten Reisebriefe aus. Clare Brant widmet das sechste Kapitel ihrer Studie zum Brief in der britischen Kultur des 18. Jahrhunderts dem „Writing as a Traveller“ (vgl. Brant 2006, 213–245, 380–387). Auch sie verzichtet auf Systematisierungen und konzentriert sich auf eine interkulturelle Lesart, die sich in ihrem Fokus auf Orient- und Amerika­ https://doi.org/10.1515/9783110376531-045

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 3 Briefgenres

reisen widerspiegelt. So sieht sie im Personal der Reisebriefe weniger individuelle Charaktere als fiktionale Masken (vgl. Brant 2006, 215). Dies gilt besonders für Werke wie die Persischen Briefe von Charles Louis de Secondat, genannt Montesquieu, von 1722, dessen Pointe in der Inszenierung des fremden Blicks als einem satirischen Blick auf die vermeintlich aufgeklärte Zivilisation des Westens liegt (vgl. Brant 2006, 218). In Thomas Campbells A Philosophical Survey of the South of Ireland: In a Series of Letters to John Watkinson von 1777 dagegen dient die Handlung in den Briefen einer Darstellung der Entwicklung des Protagonisten, in der sich die Korrektur des Irlandbilds widerspiegelt (vgl. Brant 2006, 223). Der intendierte Lernprozess der Leser*innen wird im Briefe schreibenden Ich-Erzähler präfiguriert; die eigene Auseinandersetzung mit der Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden während der Reise wird auf die Auseinandersetzung des Lesers mit dem Text projiziert, so dass Reisen und Lesen zu analogen Erkenntnisformen werden. Fremdheitsbilder früherer Reisetexte werden anhand gedruckter Quellen und eigener Beobachtung kritisch reflektiert. Der Verzicht auf überkommene Images der Fremde schlägt sich laut Brant bei einigen Reisebriefen in der Form nieder, wenn Verfasser*innen die ‚Irregularität‘ der Briefe betonen und sich die emotionale und die geographische Landschaft einander annähern (vgl. Brant 2006, 230–233, 237–238). Dennoch legt Brant in ihrer Darstellung den Fokus weniger auf solche Reflexionen über ästhetische Konsequenzen der Darstellung als auf die politische, vor allem postkoloniale Ebene, was für einen großen Teil der Reisebriefforschung gilt, wenn sie sich nicht gerade auf biographische Fragen kapriziert. Hervorzuheben ist zudem die Studie von Jean Viviès mit einem Kapitel zu Tobias Smolletts Reisebrief-Werken, das durchaus verallgemeinerungsfähige Aussagen enthält: Die Reisebrief-Publikationen präsentieren per se (und damit deutlicher als später entdeckte und publizierte Privatbriefe) ein narratives Ich als genre-spezifische Maske quasi-autobiographischer Erzähler*innen, die Signale von Augenzeugenschaft und Authentizität aussenden und deren Apostrophe die fiktionalen Briefempfänger*innen, eine implizite Apostrophe der realen Leser*innen, darstellt. Dabei bildet die epistolare Fiktion nicht nur den Rahmen unterschiedlicher Themen und z.  T. bruchstückhafter Erzählungen, sondern erweckt auch den Eindruck einer sukzessiven Entdeckung und zunehmenden Erkenntnis, die den Erkenntnisprozess der Leser*innen gleichsam simuliert (vgl. Vivies 2016, 57). Anders als bei realen Reisebriefen werden in den publizierten Werken Reisewege zu Lektüre- und Erkenntnisprozessen. Die Akkumulation der Briefe suggeriert quantitativen Zuwachs an Wissen, die pure Chronologie qualitative Stationen der Erkenntnis. Damit nähert sich das im Bereich der EgoDokumente angesiedelte Genre zugleich dem Roman an, von dem es sich im Wesentlichen durch das Fehlen eines konsistenten Plots und eines dramaturgisch zugespitzten Endes unterscheidet (vgl. Vivies 2016, 103).

3.20 Reisebriefe 

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Die Germanistik hatte sich bereits früh der spätaufklärerischen epistolaren Reiseliteratur und den Briefen deutscher Reisender aus Paris während der Französischen Revolution gewidmet, z.  B. Johann Heinrich Campes Briefen aus Paris von 1790 und Georg Kerners Briefen über Frankreich, die Niederlande und Teutschland von 1797. Wolfgang Griep sieht in einem Literaturgeschichtsbeitrag zur Reiseliteratur im 18. Jahrhundert für die letzten drei Jahrzehnte eine „Abkehr vom enzyklopädischen Prinzip“ durch einen „bewußte[n] Verzicht auf umfassende Beobachtung und ordnende Information“, wobei die Darstellungen ein Spektrum von empfindsamer Beobachtung, in der sich Empfinden und Landschaft wechselseitig spiegeln, bis hin zur unterhaltenden Vermittlung einer „pragmatischen Wahrheit“ aufweisen (Griep 1984, 750–751). Die „Briefform“ soll nicht nur die „Realitätsnähe des Mitgeteilten“ (Griep 1984, 754), sondern auch Privatheit und damit unbedingte Aufrichtigkeit des Verfassers gegenüber den Leser*innen suggerieren. Die vermeintliche Unmittelbarkeit erweist sich fast durchgängig als kunstvolle Komposition, bei der durchaus auch nicht besuchte Regionen beschrieben bzw. mehrere weit auseinanderliegende Reisen zu einer einzelnen zusammenhängenden Tour kompiliert werden (vgl. Griep 1984, 754). Jana Kittelmann präsentiert als Fazit ihrer Studie vor allem zu Hermann von Pückler-Muskaus und Fanny Lewalds auf Briefen basierenden Reisebüchern Briefe eines Verstorbenen bzw. England und Schottland wichtige theoretische Reflexionen zur Literarisierung von Reisekorrespondenz. Den Prozess vom Brief zum Buch beschreibt sie mit den Begriffen „Distanzierung“, „Anonymisierung“, „Fragmentarisierung“, „Fiktionalisierung“, „Poetisierung“, „Semantisierung“, „Aktualisierung“ und „Standardisierung“ (vgl. Kittelmann 2010, 291–304). Biographische Details oder sogar die Identität von Sender*innen und Empfänger*innen werden gegenüber den Originalbriefen ausgespart, sie werden zu „anonymen Repräsentanten einer […] Öffentlichkeit“ stilisiert bzw. die Identität der Sender*innen wird als literarische Autorfigur neu konstituiert, so dass sich das epistolare „Grundgerüst Sender-Nachricht-Empfänger“ zu einer „Autor-TextLeser-Beziehung“ verschiebt, die nicht mehr auf einen bekannten Empfänger, sondern auf eine „heterogene[] Leserschaft“ ausgerichtet ist (Kittelmann 2010, 293–294). Bereits vorhandene Elemente erhalten dadurch eine neue Funktion: Die Datierung wird ein „funktionales Gestaltungselement“ für eine „übersichtliche und leserfreundliche Strukturierung des Textes“ (Kittelmann 2010, 295) mit seinen Kürzungen und Streichungen, Hinzufügungen und Neuanordnungen. Einzelne Ereignisse und Erlebnisse werden an zeitgenössische politische oder soziale Fragen, an Musik-, Kunst- oder Literaturdiskurse, selbst an Gartentheorie und Landschaftsmalerei zurückgebunden, um die Verallgemeinerungsfähigkeit der singulären Beobachtungen sicherzustellen (vgl. Kittelmann 2010, 297–299). Damit ist für zwei bedeutende Texte jeweils der Transformationsprozess vom

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 3 Briefgenres

privaten Brief zum öffentlichen Reisebriefbuch beschrieben, der jedoch nicht uneingeschränkt verallgemeinerbar ist: Eine „Fragmentarisierung“ im Sinne einer „an Sterne und Heine anknüpfende[n] Strategie skizzenhaften Erzählens“ bei Pückler-Muskau und Lewald (Kittelmann 2010, 294) findet sich nicht vor dem späten 18. Jahrhundert. Und Lewald transformiert ihren u.  a. aus Briefen entstandenen Text – so der Untertitel – in ein „Reisetagebuch“, so dass der epistolare Charakter der Quelle – trotz aller struktureller Ähnlichkeiten von Brief und Tagebuch – getilgt ist. Ein besonders gut erforschtes Beispiel für dieses Problem stellen die Briefe Heinrich von Kleists dar, die er von seinen Reisen durch Deutschland, Frankreich und die Schweiz verschickt hat und die genau die Grenze dessen überschreiten, was hier nicht mehr als Reisebrief gefasst wird. Seine Reisekorrespondenz, vor allem die Briefe an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge und an einige Familienangehörige, stellen mehr als nur private Mitteilung gemischt z.  B. mit touristischen Beobachtungen dar. Sie lassen ganz im Sinne Kittelmanns auf allen Ebenen eine starke Stilisierung erkennen. Kleist dramatisiert Ereignisse und schmückt sie aus, widmet breite Passagen den Landschaftsbeschreibungen, die oft einen metaphorischen Charakter tragen und z.  B. Sinnbilder für die Beziehung mit seiner Verlobten als Briefempfängerin oder gar allegorische Darstellungen (populär-)philosophischer Weisheiten bieten. Den stark gestalterischen Zug lässt allein schon der zeitliche Verzug erkennen, mit dem Kleist berichtet: Noch fast zwei Wochen nach seiner Ankunft in Paris und nach dem Besuch der Jahrfeier zum Beginn der Französischen Revolution füllt er den Brief mit ausführlichen Begründungen seiner Reise und vor allem mit Informationen über frühere Reisestationen, vor allem die dramaturgisch mit Sturm und drohendem Schiffbruch spannend gestaltete Rheinreise von Mainz nach Bonn, und schließt mit der Bemerkung: „künftig etwas von Paris“ (Kleist 1997, 248), worauf sie aber noch mehrere Briefe und Wochen warten muss. Nicht die reine Informationsvermittlung steht im Vordergrund, sondern erstens (populär-)philosophische Traktate, mit denen seine Briefe an die Verlobte oft beginnen, und zweitens höchst stilisierte Reisebeschreibungen, die offenbar eine längere Bearbeitungszeit in Anspruch nehmen und entsprechend häufig mit großem Verzug abgeschickt werden. Zudem mahnt Kleist seine Verlobte, ihre Korrespondenz aufzubewahren, da sie die Basis für ein „kleines Ideenmagazin“ für das von ihm angestrebte „schriftstellerische Fach“ darstelle (Kleist 1997, 164), womit er wohl weniger ‚dichterische‘ Werke meinte als z.  B. populärphilosophische Abhandlungen und Reiseberichte, eventuell in Briefform, die jedoch nicht überliefert sind. Während Briefe beim Schreiben und in der Schrift grundsätzlich einer Selbststilisierung bzw. Konstitution dessen, was im Brief als „Ich“ fungiert, unterliegen, wird hier sogar der Brief zum Experimentierfeld unterschiedlicher Genres, Stile und Themen, bei denen durch geringe Ein-

3.20 Reisebriefe 

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griffe in den Text das Genre vom Brief zum Traktat wechseln kann (vgl. Breuer 2018). Im Folgenden wird jedoch – auch wenn ‚Text‘ grundsätzlich dynamisch als Gesamtheit des Prozesses verstanden wird – aus pragmatischen Gründen weder von solchen epistolaren Potentialen noch von Privatbriefen auf Reisen und deren literarisierten Elementen die Rede sein, sondern ausschließlich von publizierten Gestaltungen von Reisetexten in Briefform, also manifesten Überschreitungen intimer oder halb-öffentlicher hin zu öffentlicher Kommunikation in Form einer i.  d.  R. autorisierten Veröffentlichung.

2 Gattungsprobleme Der publizierte Reisebrief lässt sich als Literarisierung eines auf Reisen verfassten Privatbriefs in die Heimat fassen, aber erweist sich, wie das Briefgenre insgesamt, als ein ‚blurred genre‘ (Geertz 1983, 19–35): Der „Brief in uneigentlicher Verwendung [weist] keinen gattungsmäßig geschlossenen Charakter mehr auf“ (Nickisch 1991, 99), und besonders der Reisebrief steht an der Grenze zu diversen anderen Briefformen wie dem Liebes-, Freundschafts- oder allgemein Privatbrief, dem Gelehrten- oder publizistischen Brief; aber gerade auch zu anderen Textformen wie dem geographischen, ethnologischen oder naturkundlichen Bericht, dem Tagebuch oder der Autobiographie, dem politischen oder philosophischen Traktat, gelegentlich auch dem Roman, wenn man an Ludwig Tiecks umfangreichen Briefroman William Lovell mit seiner Vielzahl an Reisebriefen denkt. Überhaupt ist eine strikte Trennung zwischen Literarizität und Faktizität oft wenig sinnvoll. Dies gilt für offensichtlich fiktionale Reisetexte, nicht zuletzt viele Dysund Utopien, aber auch für Goethes Briefe aus der Schweiz, die er 1808 im elften Band der bei Cotta erscheinenden Werkausgabe zusammen mit dem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers abdrucken ließ – mit der Vorbemerkung des fingierten Herausgebers, dass man diese Briefe in Abschrift im Nachlass Werthers gefunden habe (vgl. Goethe 1808, 199). Da damit unklar bleibt, ob Goethe oder Werther diese Reise unternommen hat, entsteht ein Vexierspiel mit der Autorschaft und den Gattungsgrenzen. Reisebriefe sind grundsätzlich, wenn nicht als fiktionale, so doch zumindest wie fiktionale Texte zu lesen, insofern selbst die Publikation eines Privatbriefs einen eklatanten Wandel der Kommunikationssituation ausmacht und infolgedessen die originalen Reisebriefe für die Veröffentlichung meist deutlich überarbeitet werden. Publizierte Reisebriefe sind folglich nicht als authentische Äußerungen innerhalb einer intimen epistolaren Kommunikation aufzufassen, sondern als Konstruktionen von Wirklichkeit für eine Öffentlichkeit, wobei bereits

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 3 Briefgenres

evtl. dafür benutzte Originalbriefe adressatenbezogen verfasst waren. Der veränderte Referenzrahmen führt zu einem anderen Umgang mit dem Vorwissen der Rezipient*innen, zu veränderten Kontextualisierungen mit politischen, sozialen, wissenschaftlichen und kulturellen Diskursen der jeweiligen Zeit. Zu unterscheiden ist trotz aller Grauzonen der unpublizierte bzw. der nicht auf eine Publikation hin geschriebene private Reisebrief vom publizierten Reisebrief, dessen Spektrum von einem in einer Zeitschrift veröffentlichten Einzelbrief bis hin zu einem mehrbändigen Reisebuch in Briefen reichen kann. Diese sind in der Regel entweder bereits auf eine Publikation hin geschrieben oder auf eine solche hin modifiziert worden (vgl. Arto-Haumacher 1995, 276–280), ohne dass sie damit immer bedeutende inhaltliche und formale Unterschiede zu privaten, unveröffentlichten Briefen aufweisen müssen, die sich schließlich ebenfalls literarisierter Ausschmückungen, konventionalisierter Erzählschemata und Topoi bedienen. Dieses Problem ist bereits in der Briefkultur angelegt: Briefe galten nicht erst seit Christian Fürchtegott Gellert als eine sprachlich-stilistisch und inhaltlich geschliffenere Fortsetzung des Gesprächs und zielten meist nicht nur auf einen einzelnen Adressaten ab, sondern wurden auch von seinem Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis rezipiert. Meist fehlt zudem die Möglichkeit, die (vermeintlichen) Brief-Handschriften und die Brief-Publikationen zu vergleichen, so dass in solchen Fällen diesbezügliche Aussagen spekulativ bleiben. Dabei kann durchaus die Suggestion einer (nun offengelegten) intimen Kommunikation aufrechterhalten werden, sei es, um an der Popularität des Briefs an sich oder aber des überaus populären Briefromans teilzuhaben, oder als rhetorische Strategie im Sinne einer Inszenierung von Authentizität. Reisebriefe tendieren zur Konstruktion von Kohärenz. Diese kann in der Herstellung bzw. Korrektur eines Länder-Images oder der Entwicklung einer Staatstheorie für das eigene Land anhand von Beobachtungen fremder Länder bestehen, in der Produktion einer Identität des Individuums und/oder eines Kollektivs, eines Landes oder einer Nation. Die Kavalierstour und mehr noch die Bildungsreise setzen voraus, dass der Reisende gewandelt zurückkehrt, weshalb die Reise zur gängigen Kollektivmetaphorik für eine Persönlichkeitsentwicklung zählt, also die Reiseerzählung (mit Briefen und ohne) als dem Entwicklungs- und Bildungsroman komplementäres Phänomen gelten kann. Nicht zuletzt konstituieren Reisebriefe eine Art implizites Gattungsbewusstsein, gerade auch durch die Orientierung an musterbildenden Leittexten, die sich häufig bereits paratextuell, z.  B. in der Titelgebung, werbewirksam manifestiert. Es können also grundsätzlich unterschieden werden: (1) fiktionale und nonfiktionale Reisebriefe, (2) publizierte und zu Lebzeiten unpublizierte bzw. nicht für den Druck vorgesehene Briefe, (3) im Fall einer Publikation der Publikationsort, z.  B. als Einzelbrief oder Brieffolge in einer Zeitschrift, als ‚kleine‘ Publika-

3.20 Reisebriefe 

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tion im Rahmen eines Sammelwerks oder als eigener Band sowie in allen Fällen der Verlag bzw. die Zeitschrift, (4) verschiedene Arten der Autorschaft, sowohl im Hinblick auf die Namensnennung (anonym, unter Pseudonym oder mit Klarnamen) als auch auf die Funktion bzw. die Selbstinszenierung der Reisenden (als junger Mensch auf Kavalierstour oder Bildungsreise, Gelehrter, Diplomat, Politiker, Geflüchtete*r usw.), auf Ziel und Route der Reise sowie die benutzten Verkehrsmittel (z.  B. zu Fuß, mit Pferd oder Kutsche, innerhalb des üblichen Postsystems, per Extrapost oder mit privatem Equipment) und damit eng zusammenhängend (5) die Gattungen und Textsorten, in deren Umfeld sich die Reisebriefe bewegen, z.  B. Tagebuch oder Autobiographie, geographische, naturkundliche, ethnologische oder staatspolitische Studie, Forschungsbericht.

3 Geschichte, Formen, Themen Der Ursprung der Reisebriefe im engeren Sinn, also der publizierten Reiseberichte in Briefform, dürfte sich im selben zeitlichen Umfeld wie der Briefroman, im frühen 18. Jahrhundert, festmachen lassen; ihre Popularität verlieren sie fast schlagartig mit dem Beginn der Moderne, aber ohne deswegen völlig zu verschwinden. Voraussetzung ist ein klares Gattungsbewusstsein, das so eng zusammenhängende Phänomene wie Reisebericht, Privatbrief, Nachrichten (die ‚newe zeytung‘) und schließlich Reisebriefe zu differenzieren vermag, was zumindest für die ersten drei Fälle spätestens im 16. Jahrhundert beobachtbar ist (vgl. Voß 2016, 85–102). Eine zweite Voraussetzung dürfte in der zunehmenden Popularität nicht nur des realen Briefs, sondern auch seiner Indienstnahme für künstlerische und literarische Zwecke seit der Frühen Neuzeit liegen, so z.  B. in der Bildenden Kunst und v.  a. im Briefroman, wozu sich eine erste Überschneidung in Christian Fürchtegott Gellerts Leben der schwedischen Gräfin von G*** von 1746 findet, dessen zweiter Teil im Wesentlichen aus Briefen besteht, die von der Verschleppung des Grafen nach Sibirien handeln, erst nach der Heimkehr des Opfers eintreffen und damit erzählerisch eine nachgeholte Vorgeschichte des prekären Wiedersehens liefern. Eine dritte besteht in einer Aufwertung des individuellen Blicks zunächst als Mittel der Herstellung von Evidenz mit dem Empirismus und Rationalismus, dann im 18.  Jahrhundert als Ausdruck von (bürgerlicher) Subjektivität und kreativer Individualität. In der Frühen Neuzeit existiert keine ausgeprägte Produktion von Publikationen über Reisen mit Briefcharakter. Reiseberichte geben sich sach-, nicht erzählerorientiert. Am Anfang stehen Dokumentationen von bedeutenden Reisen, in denen auch wichtige Briefe abgedruckt sind. Hierzu zählen Berichte über Ent-

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 3 Briefgenres

deckungsfahrten wie die deutsche Übersetzung von Angelo Maria Bandinis Americus Vespucci, eines florentinischen Edelmanns, Leben und nachgelassene Briefe von 1748 oder Missionarsreisen wie Herrn Bartholomäi Ziegenbalgs und Herrn Heinrich Plütscho [richtig: Plütschau]/Kön. Dänischer Missionariorum, Brieffe/Von ihrem Beruff und Reise nach Tranqvebar von 1708 (3. Auflage) und Neuer Welt= Bott Oder Allerhand So Lehr- als Geist-reiche Brief, Schrifften und Reis=Beschreibung, Welche von denen Missionariis der Gesellschaft Jesu/aus Beyden Indien und anderen Über Meer gelegenen Ländern  […] in Europa angelangt seynd, die Joseph Stöcklein, Franz Keller, Peter Probst und Karl Meyer 1726–1761 als eine Art jesuitische Missionszeitschrift herausgeben; der titelgebende Bote findet sich als christianisierter Hermes auf dem Frontispiz, der auch „aller hand nachrichten“ verspricht. Zu nennen wären aber auch allgemein Briefe im Umfeld diplomatischer Missionen, so in den 1837 von Leopold von Orlich herausgegebenen Briefen aus England über die Zeit von 1674 bis 1678, die aus Gesandtschaftsberichten des Ministers Otto von Schwerin d. J. an Friedrich Wilhelm von Preußen bestehen. Gerade solche nachträglichen Briefsammlungen sollen im Folgenden jedoch ausgeklammert bleiben. Die frühen Reisebriefe aus den ersten beiden Dritteln des 18. Jahrhunderts zeigen bereits eine folgenreiche inszenierte Kombination des individuellen und des fremden Blicks. Dies gilt insbesondere für Daniel Defoes zuerst 1724–1727 anonym publiziertes dreibändiges Werk A Tour Thro’ the Whole Island of Great Britain, das im Gegensatz zu seinem Roman Robinson Crusoe wohl nicht nur wegen seines patriotischen Impetus sofort immensen Erfolg verbuchte. Defoe betont in seiner Vorrede besonders die Aktualität seiner Beschreibung von Geographie und Städtebau, Gesellschaft, Handel und Kultur, die durch Augenzeugenschaft und gewissenhafte Erforschung der „Instructing and Diverting Objects“ ihren besonderen Wert erlange (Defoe 1724, III). Er macht vor allem deutlich, dass es nicht so sehr um frühere Leistungen des Landes, die „Antiquity“, gehe, sondern um die „Novelty“, um die aktuellen Verbesserungen in Kultur und Architektur, Handel und nationalem Reichtum, das Bevölkerungswachstum und andere Fortschritte (Defoe 1724, III–IV). Der optimistische Aufklärer verspricht eine moderne Gegendarstellung zu den ‚antiquierten‘ (Reise-)Beschreibungen und, wie es im Untertitel heißt, „A Particular und Diverting Account of Whatever is Curious and worth Observation“. Hier dominiert, wenn nicht der fremde, so doch der neue Blick eines erzählenden Beobachters, der sich seiner Beschränktheit bewusst ist, indem er als Einzelner nur kleine Ausschnitte präsentieren könne. Die geforderte Kollektivkreativität folgte bald: Samuel Richardson, der als Verfasser von epochemachenden Briefromanen wie Pamela, or Virtue Rewarded oder Clarissa hervortrat, sicherte sich schon für die zweite Auflage die Rechte an Defoes Projekt, das mit fast jeder Auflage im beträchtlichen Umfang Aktualisie-

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rungen und Erweiterungen erlebte. Bereits in der zweiten Auflage ändert der neue Herausgeber nach eigenen Angaben den zuvor umständlichen Stil und passt ihn dem familiären Duktus der Briefe an den (fiktiven) Freund an (vgl. Defoe 1738, IX). Die Briefform sichert nicht nur die für die Aufklärung zentrale Darstellung aufgrund eigener gewissenhafter und unparteilicher Beobachtung, sondern auch den Unterhaltungswert des kolloquialen Briefstils gegenüber der Rhetorizität des Abhandlungsstils, den Richardson seinem Schriftstellerkollegen Defoe implizit vorwirft. Hier konstituiert sich eine nur diffus lokalisierbare und vielleicht gerade dadurch besonders produktive aufklärerische Schreibweise innerhalb einer Gattungstrias von Abhandlung, Brief und Roman. Ob die „Entwicklung des sentimentalen Briefromans durch Samuel Richardson“ als „eine der gattungsgeschichtlich folgenreichsten Innovationen“ im 18. Jahrhundert durch die „Reiseliteratur seit dem späten 17.  Jahrhundert“ mit ihrer „Episodenstruktur“ inspiriert ist (Meier 1999, 240) oder ob das Spektrum vom hohen höfischen bis zum Abenteuerroman des 16. und 17. Jahrhunderts mit seinen Irrfahrten der Protagonisten (um nicht sogar antike Beispiele von Homer bis Heliodor zu bemühen) als kohärenzbildendes Modell für die unzusammenhängenden Serien von Einzelbriefen gewirkt hat bzw. umgekehrt der Abenteuerroman als Episodenfolge von brieflichen Berichten gedacht war, dürfte allerdings kaum zu klären sein. Eigener Blick und fremder Blick gehen eine paradoxe Einheit ein, indem die Reise in das Eigene einen neuen Blick angesichts bisheriger Trugbilder provoziert. So wurde diese epistolare Reisedarstellung auch im deutschsprachigen Bereich zum Modell einer Reihe von kritischen Kommentaren über das Eigene und das Fremde. Dies gilt nicht nur für Reisen in das eigene Land (s.  u.), sondern auch für Reisen in fremde Länder. So lehnt sich noch 1781–1782 der wohl berühmteste deutschsprachige Reiseschriftsteller des 18.  Jahrhunderts, Johann Jacob Volkmann, in seinem vierbändigen Werk Neueste Reisen durch England, vorzüglich in Absicht auf die Kunstsammlungen, Naturgeschichte, Oekonomie, Manufakturen und Landsitze der Großen. Aus den besten Nachrichten und neueren Schriften zusammengetragen eng an das Werk von Defoe und Richardson an. Er habe „die äußerliche Einrichtung in Briefen […] beybehalten“, ebenso die Einteilung in „Tours“, aber zahlreiche Veränderungen und Ergänzungen vorgenommen und dabei auch „die Zahl der Briefe […] geändert“ (Volkmann 1781–1782, I, *4v). Das Werk dient laut Vorbericht sowohl als zuverlässige Information für Reisende als auch „zur Unterhaltung anderer Leser“ (Volkmann 1781–1782, I, *2r). Deutlich ist die formale Zäsur gegenüber Volkmanns erster Reisebeschreibung, den Historisch-kritischen Nachrichten aus Italien (1770–1771), an denen sich noch Goethe in seiner Italienischen Reise (1816–1829) abarbeitete: Er übernimmt nun die Briefform und damit Defoes Grundkonzept auch für die weiteren Reisewerke: Neueste Reisen durch die Vereinigten Niederlande von 1783, Neueste Reisen durch Schottland und

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Ireland von 1784, Neueste Reisen durch Spanien von 1785 und Neueste Reisen durch Frankreich von 1787–1788. Hier handelt es sich um Produkte eines professionellen Reiseschriftstellers, die eine doppelte Serialität andeuten: erstens die binnenstrukturelle Gliederung in Briefe und Reiseetappen, die auch dazu führen wird, dass immer wieder Serien von Reisebriefen in Zeitschriften abgedruckt wurden, und zweitens der Fortsetzungscharakter der Reisebeschreibung durch eine potentiell fast endlose Kette von immer neuen touristischen Zielen. Volkmanns Reiseziele umfassen einerseits die Länder der traditionellen Grand Tour, vor allem Frankreich und Italien, daneben die Niederlande und die Schweiz, aber auch England als das neue Reiseziel aufgeklärter Reisender, denen er jeweils z.  T. mehrbändige Werke widmete. Beliebt bleiben auch umfassendere Reisetexte wie z.  B. Johann Friedrich Karl Grimms Bemerkungen eines Reisenden durch Deutschland, Frankreich, England und Holland: in Briefen an seine Freunde von 1785 und Jacob Christian Gottlieb Schäffers Briefe auf einer Reise durch Frankreich, England, Holland und Italien, in den Jahren 1787 und 1788 geschrieben von 1794 sowie – mit eher unterhaltsamem Charakter – Briefe, welche das Merkwürdigste von seinen Reisen und die Eigenschaften derjenigen Personen, woraus die vornehmsten Höfe von Europa bestehen, in sich enthalten, die Karl Ludwig von Pöllnitz, Autor von galanten Reisebeschreibungen (z.  B. Das galante Sachsen), 1783 in drei Bänden publizierte. Das Interesse an England bedeutet für die Reisebriefe eine Zäsur, indem Frankreich und Italien als zentrale Ziele der Grand Tour ihre Leitfunktion verlieren bzw. einen Bedeutungswandel durchmachen: zum politischen bzw. kulturellen Reiseziel. Denn Reiseziele stellen in publizierten Reisedarstellungen nur selten eine mehr oder weniger zufällige Kette von Stationen dar, sondern sind Bestandteile einer zumindest impliziten Kohärenz, meist einem kritischen Vergleich der besuchten Regionen, in dem sich das eigene kulturelle und politische Programm mehr oder weniger direkt offenbart. Béat Ludwig de Muralt legt mit seinen 1725 erschienenen Lettres sur les Anglois et les François et sur les Voiages einen wesentlichen Grundstein für die Anglomanie des 18. Jahrhunderts, indem er seiner Kritik an der kulturellen Hegemonie und politischen Macht Frankreichs ein überaus positives England-Kapitel folgen lässt. Auch Volkmann kontrastiert Italien und England. Besonders berühmt war Johann Wilhelm von Archenholz’ Reisebeschreibung England und Italien von 1785, in der Italien  – von wenigen Regionen abgesehen  – zum paradigmatischen Fall schlechter Herrschaft und politisch geförderten Aberglaubens wurde, von dem sich England als weitgehend positives Beispiel vorbildlicher Politik, prosperierenden Handels und blühender Landschaften absetzte. Zu den prominentesten epistolaren Englanddarstellungen, die einem solchen positiven Image weitgehend folgten, zählen Helfrich Peter Sturz’ Briefe, im Jahre 1768 auf einer Reise im Gefolge des Königs

3.20 Reisebriefe 

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von Dänemark geschrieben von 1777–1778 und Georg Christoph Lichtenbergs Briefe aus England von 1776–1778, die jeweils zunächst in Heinrich Christian Boies Deutschem Museum erschienen waren. Der positiven Einschätzung Englands folgte auch Karl Philipp Moritz, der 1783 Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782 publiziert, aber er dokumentiert in seinen 1792–1793 publizierten Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788, die auf Moritz’ Italienaufenthalt, teils zusammen mit Goethe, zurückgehen, auch die Renaissance Italiens als Reiseziel. Nachdem Italien als obligatorisches Reiseziel zeitweise seine zentrale Bedeutung verloren hatte, da die frühneuzeitliche Kavalierstour ausgedient und Italien an politischer und kultureller Bedeutung stark eingebüßt hatte, setzte im Gefolge von Johann Joachim Winckelmanns klassizistischer Italienbegeisterung eine Art kultureller Neuprogrammierung des Italienbilds ein. Hierfür finden sich zahllose Beispiele, neben vielen Übersetzungen, wie die von Georg Forster übersetzten Briefe aus Italien vom Jahr 1785 Charles Mercier Dupatys von 1789–1790, beispielsweise Christian Joseph Jagemanns Briefe über Italien von 1780, Philipp Joseph Rehfues’ Briefe aus Italien während der Jahre 1801, 1802, 1803, 1804, 1805 mit mancherlei Beilagen von 1809–1810, Adolph Helfferichs Briefe aus Italien von 1850 und Fanny Lewalds Reisebriefe aus Deutschland, Italien und Frankreich (1877, 1878) von 1880. Die Schweiz spielt bei Darstellungen der traditionellen Kavalierstour eine untergeordnete Rolle, wird dann aber im Gefolge von Albrecht von Hallers Die Alpen von 1729, Salomon Geßners Idyllen von 1756 und Jean-Jacques Rousseaus Zivilisationskritik sowie den Umwälzungen in Naturphilosophie, Gartentheorie und Landschaftsmalerei im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einem der wichtigsten Reiseziele Europas. Sie ist nicht mehr nur Etappe, sondern wird auch zu einem beliebten Ziel mit eigens diesem Land gewidmeten Reiseführern und Reisebriefsammlungen, neben einigen anonymen Werken z.  B. von Johann Gerhard Reinhard Andreae, Christoph Meiner und Sophie von La Roche, oft als Serien in Periodica wie Ollapotrida, Hannoversches Magazin, Friedens=Präliminarien oder Politische Annalen. Berühmt wurden die Briefe, die Schweiz betreffend des damals wohl bedeutendsten Gartentheoretikers Christian Cay Lorenz Hirschfeld von 1776, auch wenn er zugunsten der älteren enzyklopädischen Darstellung auf allzu subjektive Eindrücke verzichtete. Goethe veröffentlicht seine Briefe auf einer Reise nach dem Gotthardt 1794 in Friedrich Schillers Zeitschrift Die Horen und seine Briefe aus der Schweiz 1808 in seiner Werkausgabe. Die Kavaliersreise hatte dem individuellen Blick noch kaum einen Raum geboten. Die Reiseroute mit ihren abzuarbeitenden Stationen war theoretisch vorgegeben: eine Kette von Lernorten. Erst das reisende empfindsame Individuum, bei dem die subjektive Erfahrung zum mitteilungswürdigen Gegenstand wird, und der politische Reisende, der bestehende Images mit seiner unparteilichen Beob-

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achtung und empirischen Erfahrung kritisch konfrontiert, verändern die Funktion der Reise und die daraus entstehenden Dokumente. Auch wenn Reiseliteratur weiter die Funktion eines Reiseführers haben konnte, wird sie immer stärker auch zu einer Anleitung ‚neuen Sehens‘, für die der Privatbrief eine beliebte Genremaske darstellt. Dies gilt gleichermaßen für die traditionellen Reiseziele. Frankreich war traditionell Bestandteil jeder Kavalierstour und Bildungsreise, jedoch erhielt seit der Französischen Revolution nicht nur das Reiseziel Paris eine neue Qualität, sondern auch der Reisebrief eine neue Dimension. Die Revolution wird für den deutschen Reisenden automatisch zum Ort der Alterität, nicht nur 1789 und in den Folgejahren, sondern bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Dies gilt vor allem bei Autoren des Jungen Deutschland und Vormärz wie Ludwig Börne mit seinen Briefen aus Paris bzw. Neuen Briefen aus Paris von 1832– 1834 und Karl Gutzkow mit den Briefen aus Paris von 1842, bei denen Paris stets realer und symbolischer Ort von Revolutionen blieb – und damit Gegenbild zu den deutschen Verhältnissen. Johann Heinrich Campes Briefe aus Paris während der Französischen Revolution geschrieben erscheinen fast tagesaktuell in einer Zeitschrift, bevor er sie 1790 in Buchform herausbringt. Überhaupt wird der in Zeitschriften abgedruckte Brief zu einem wesentlichen Bestandteil der revolutionären Medienberichterstattung. Georg Kerner publizierte 1795 bzw. 1797 umfangreiche Konvolute von Reisebriefen u.  a. aus Paris in den Zeitschriften Klio bzw. Die Geißel, Andreas Friedrich Georg Rebmann seine Parisbriefe 1798 ebenfalls in Die Geißel sowie in Die Schiltwache, Heinrich Zschokke 1796 Auszüge aus Briefen eines Norddeutschen an einen Freund in Z. aus Paris im April 1796, Campe veröffentlicht Briefe aus Paris, während der Revolution geschrieben 1789–1790 zunächst im Braunschweigischen Journal und Friedrich Schulz diverse Reisebriefe vor und nach 1789 im Deutschen Museum und Teutschen Merkur (bzw. Neuen Teutschen Merkur). Hierzu zählen im weiteren Sinne auch Friedrich Schlegels mit über 130 Druckseiten recht umfangreiche Briefe auf einer Reise durch die Niederlande, Rheingegenden, die Schweiz und einen Teil von Frankreich, die er zunächst im Poetischen Taschenbuch auf das Jahr 1806 publizierte. Die Briefform scheint als eine typische Form der politischen Berichterstattung besonders aus dem Ausland angesehen worden zu sein, auch wenn es keine entsprechenden Titelsignale gab. Gerhard Anton von Halem veröffentlicht 1791 seine Blicke auf einen Teil Deutschlands, der Schweiz und Frankreich bei einer Reise vom Jahre 1790, deren teilweise Vorabveröffentlichung 1790 in unterschiedlichen Zeitschriften noch als Briefe an die Herausgeber der Blätter vermischten Inhalts bzw. Schreiben aus Paris an den Herausgeber des [Neuen] Teutschen Merkur angekündigt worden waren. Im letzten Fall sind nach Angaben des Bielefelder Digitalisierungsprojekts von Zeitschriften der Aufklärung Mitverfasser J. F. Cordes,

3.20 Reisebriefe 

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der bereits 1786 in der Zeitschrift Deutsches Museum Reisebriefe aus England publiziert hatte, und Konrad Engelbert Oelsner, der Verfasser des zweibändigen in Briefform geschriebenen Werks Luzifer oder Gereinigte Beiträge zur Geschichte der Französischen Revolution von 1797, die zunächst 1792–1793 in Johann Wilhelm von Archenholz’ Zeitschrift Minerva erschienen. In denselben beiden Jahren erscheinen auch die Vertrauten Briefe über Frankreich. Auf einer Reise im Jahr 1792 geschrieben des Komponisten Johann Friedrich Reichardt, der bereits 1774–1776 die Briefe eines aufmerksamen Reisenden die Musik betreffend publiziert hatte, aber dann zu einem der bedeutendsten Verfasser von politischen Reisebriefen seiner Zeit wurde. Es folgten nicht nur weitere Werke über Frankreich, wie 1802–1803 eine dreibändige Fortsetzung der Vertrauten Briefe und schon 1795 das ebenfalls mehrbändige Werk Frankreich im Jahr 1795. Aus den Briefen Deutscher Männer in Paris, sondern auch über weitere Regionen. Hierzu zählen die Vertrauten Briefe, geschrieben auf einer Reise nach Wien und den Oesterreichischen Staaten zu Ende des Jahres 1808 und zu Anfang 1809 sowie die Fortsetzungsreihen Berlin vor und nach dem Tode Friedrichs des Zweitens; in Briefen eines Reisenden und Briefe auf einer Reise durch Sachsen nach Franken geschrieben. Die Zeitschriften seit den 1770er Jahren, also bereits vor der Französischen Revolution, zeichnen sich generell durch eine hohe Dichte von Reisebriefen aus, allen voran die berühmten Zeitschriften Deutsches Museum und Teutscher Merkur, aber auch die zahlreichen regionalen und weniger bekannten Periodika. Die Berlinische Monatsschrift druckt 1783 Karl Philipp Moritz’ Ein Brief aus London als Vorabdruck seiner oben genannten Englandbriefe und 1784 Friedrich Nicolais Ein Brief aus und über Bamberg; in einem pädagogischen Periodikum mit dem Titel Briefwechsel der Familie des Kinderfreunds erscheint 1789 Christian Felix Weißes fiktionaler Brief Lottchen an Herrn Spirit von einer Reise in die Schweiz, um nur einige wenige Beispiele zu nennen – allein die Datenbank der Digitalen Sammlung Zeitschriften der Aufklärung an der Universität Bielefeld verzeichnet fast 500 Einträge zur Lemma-Kombination „Reise“ und „Brief“. Das epistolare Genre vermischt sich gerade in politisch brisanten Zeiten offensichtlich direkter als bereits üblich mit dem Nachrichtenwesen, und noch in den Buchpublikationen bleiben Stil und Charakter der oft zuvor in Zeitschriften publizierten Briefe meist erhalten, selbst wenn im Titel nicht mehr darauf explizit verwiesen wird. Die genuine serielle Abfolge von Reisestationen und Briefsendungen kommt offensichtlich der publikationstechnischen Serialität der Periodika stark entgegen. Aber auch die ‚kleine Form‘, als deren Grenzphänomen sich der Brief verstehen lässt, macht ihn zu einer genuin für Zeitschrift und Zeitungen mit ihrer Diversität unterschiedlicher spannender Genres geeigneten Textform. Das häufige Verschmelzen der im 18. Jahrhundert besonders populären seriellen Textformen Brief und Zeitschrift, aber auch des Reiseberichts und gelegentlich

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 3 Briefgenres

des Romans, kann geradezu als Synergieeffekt gewertet werden, der das massive Auftreten der Reisebriefe mitbegründet hat.

4 Der fremde Blick Orientalische Reisende und Berichte darüber gab es tatsächlich in Europa, so beispielsweise in der anonym publizierten Relation, Oder Eigentliche Erzehlung/ auß Gottorff/ Welcher Gestalt der Persianische Legat auß der Königlichen Haupt-Stadt Hißpahan  … zusampt denen in Anno 1635. im Monat Octobris/ von Ihrer Fürstl. Gn. dahin abgefertigte an Personen starcke Legation/ nach vollendeter weiten Reise anhero/ widerumb glücklich an- vnd zu Hauß kommen/ empfangen worden; Nebenst angehengten zweyen Brieffen/ so der König in Persien an den Groß-Fürst in Rußland abgehen lassen von 1639. Der Text allerdings zählt zu den dokumentarischen Texten, die Briefe sind Bestandteile einer Fakten- und Materialienkompilation. Daneben existiert jedoch eine breite Produktion an eindeutig fiktionalen Reisebriefen mit literarischen Qualitäten, die teilweise dem Briefroman zugerechnet werden und meist orientalische Reisende in Europa fingieren (vgl. Nohe 2018). Das Muster bilden die höchst erfolgreichen, 1721 anonym publizierten Persischen Briefe (im Original: Lettres Persanes) Montesquieus, die erst 1759 ins Deutsche übersetzt werden. Zu den Vorläufern zählen Giovanni Paolo Maranas L’esploratore turco von 1684 und seine Fortsetzung A continuation of letters written by a Turkish Spy at Paris von Daniel Defoe. Bereits kurz nach der Erstveröffentlichung erscheinen Nachfolgewerke, so George Lyttletons Letters From a Persian in England, to His Friend in Ispahan von 1735, Oliver Goldsmiths The Citizen of the World, or, Letters from a Chinese Philosopher von 1760, selbst Friedrich II. von Preußen (genannt: der Große) publiziert im selben Jahr unter Pseudonym einen Briefroman mit dem Titel Relation de Phihihu Emissaire de l’Empereur de la Chine en Europe, traduit du Chinois. In Österreich erscheinen 1785 zweibändig Joseph Richters Briefe eines Eipeldauers an seinen Herrn Vetter in Kakran über d’Wienstadt und 1787 Wilhelm Friedrich von Meyerns Abdul Erzerum’s neue persische Briefe, die früher Johann Pezzl zugeschrieben wurden, der jedoch 1784 mit seinen Marokkanischen Briefe eine eigene Variante publizierte. Ansonsten finden sich nach dem gleichen Muster in der internationalen Literatur zahllose weitere persische, marokkanische, aber auch chinesische und andere Briefe. Besonders bemerkenswert sind Isaac Euchels Briefe des Meschullam, 1789/1790 im 6. Heft der Zeitschrift Ha-Me’assef auf Hebräisch unter dem Titel Iggerot Meschullam ben Uria ha-Eschtemoi veröffentlicht, die eine Reise von Aleppo nach Italien zum Thema haben. Da Meschullam wegen eines Sturms zunächst in Spanien an Land geht

3.20 Reisebriefe 

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und danach erst nach Italien gelangt, bietet diese Handlungskonstruktion die Möglichkeit, die Geschichte und die Lebensbedingungen der Juden in Spanien und Italien scharf zu kontrastieren (vgl. Schatz 2008/2009). Und noch 1840 erscheint das dreibändige Werk Ben Mussa’s, des Abgesandten von Abdl-Kadr, Briefe über Frankreich, Holland, Belgien und England, frei nach dem Beduinischen von August Jäger, dem ersten Biographen des Reiseschriftstellers Hermann von Pückler-Muskau. Das Muster des fingierten Fremden auf Reisen im Land des Lesers wird jedoch auch innereuropäisch umgesetzt, z.  B. in Karl Ludwig Klöbers Auszüge aus den Briefen eines reisenden Engländers, die 1780 anonym im Deutschen Museum erschienen und ebenso auf einer realen Reise basierten wie Nikolaj Michajlovič Karamzins Briefe eines russischen Reisenden, die zunächst in seiner Moskauer Zeitschrift auf Russisch erschienen, dann 1797–1801 in Buchform, ab 1800 mit großem Erfolg auch in deutscher Sprache, obwohl das Ziel der Reisebriefe laut Vorwort vor allem darin lag, die Beobachtungen zur westeuropäischen Kultur für die russische nutzbar zu machen. Ein auch international überaus einflussreiches Beispiel sind die zunächst anonym publizierten Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder zu Paris Johann Kaspar Riesbecks von 1783, bei denen sich der Verfasser gattungstypisch nur als Herausgeber und Übersetzer, zudem verborgen hinter dem Kürzel „K. R.“, zu erkennen gab. Diese Briefe verbanden „politische Offenheit mit pikanten Anekdoten und genaue (aber nicht immer richtige) statistische Angaben mit pittoresken Landschaftsbeschreibungen“ und beinhalteten „moderne journalistische Formen wie Reportage und Interview“, was ihnen einen immensen Erfolg sicherte (Riesbeck 2013, 665, Anhang). Auch in einer weiteren Hinsicht kann dieses Werk als bahnbrechend bewertet werden. Riesbeck betont im ersten Brief, dass die üblichen Reiseschriftsteller „nur die großen Höfe besuchen“ und in ihren „wohlverschlossenen Wagen“ auf den gut gepflasterten „Heerstraßen“ im „Gewölk ihrer Ausdünstungen Grillen aus[brüten], die sie uns dann für echte Produkte des Landes geben“ (Riesbeck 2013, 13). Damit wendet er sich zum einen gegen Laurence Sterne, der in seiner Sentimental Journey von 1768 subjektive Erfahrungen und Empfindungen vermittelte, aber keinerlei substantielle Kenntnisse der bereisten Länder, zum anderen gegen die konventionelle Reiseliteratur mit ihrer weitgehenden Fokussierung auf repräsentative politische und kulturelle Institutionen. Als Alternative werden die Fußreise und eine bewusste Ziellosigkeit des Reisens als ein Sich-Einlassen auf die Bedingungen der Fremde empfohlen, die zugleich einer modernen, ungeordneteren Schreibweise entgegenkommt. Die neue Bewegungsform steht im Wechselverhältnis mit einer neuen Wahrnehmungsform und generiert eine neue Ästhetik, die gleichwohl z.  B. schon in Goethes Werther und der nach eigener Aussage mäandernden Schreibweise seines Protagonisten präfiguriert ist. Kohärenz stellen sehr bald nur noch

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 3 Briefgenres

das reisende Subjekt als Absender und die temporale Struktur der Brieffolge her, während nicht nur die Reiseroute als geographisches Ordnungssystem, sondern manchmal auch geläufige Erklärungsmodelle labil zu werden drohen. Zum literarischen Paradigma einer radikal anderen Reiseform, der vermeintlich ziellosen Fußreise, wird Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 von 1803, in dem subjektiver Blick und genaue Beschreibung der politischen Verhältnisse wie des Alltagslebens zusammengehen, aber die Briefstruktur keine dominante Rolle spielt (vgl. Griep 1984, 748–755). Defoe hatte das Modell geliefert für Reisen in das doch überraschend ferne Eigene und Michel de Montaigne für den fremden Blick auf das Eigene: Diesen Impetus nehmen auch deutschsprachige Autoren auf, allerdings mit zeitlicher Verzögerung und verändertem Fokus, häufig als deutlich satirische bis offen sozialkritische Briefe in Deutschland reisender Deutscher. Hierzu zählen u.  a. Werke wie Adolph Knigges Briefe, auf einer Reise aus Lothringen nach Niedersachsen geschrieben von 1793, Georg Friedrich Rebmanns Briefe über Erlangen bzw. Briefe über Jena von 1792–1793 und Heinrich Heines Briefe aus Berlin von 1822, am Rande auch noch Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein von 1791–1794. Montesquieus und Riesbecks Muster folgt Carl Ignaz Geiger in seiner anonym veröffentlichten Reise eines Engelländers von 1789, deren erster Brief mit der polemischen Bemerkung anhebt, dass „die Verfassung teutscher Reichsstädte im Durchschnitte die Elendste ist, die’s unterm Monde geben kann“, und „ein paar Dummköpfe ‚Hanswurst als König‘ spielen“ (Geiger 1789, 5). Diese Reisebriefe unterscheiden sich deutlich von früheren Texten wie Johann Friedrich Karl Grimms dreibändigen Bemerkungen eines Reisenden durch Deutschland, Frankreich, England und Holland: in Briefen an seine Freunde von 1775 und Bemerkungen eines Reisenden durch die königlich preußischen Staaten in Briefen von 1779, die noch stark enzyklopädischen Charakter tragen, aber auch den Fokus des Autors als Mediziner (z.  B. im starken Interesse an Heilbädern) erkennen lassen. Nur am Rande erwähnt seien z.  B. die Diplomatenreisen, die ebenfalls publizierte Reisebriefsammlungen nach sich gezogen haben.

5 Ausblick So diffus gelegentlich die Grenze zwischen wirklichem Brief, fiktionalem Roman und non-fiktionalem Reisebrief bei einzelnen Werken oder in bestimmten Passagen sein mag, so sehr bleibt fast durchweg ein deutliches Bewusstsein für die Unterschiede erhalten. Die Mehrzahl der Reisebriefe verfügt nicht über einen dominant literarischen Charakter oder zählt sogar zu literarischen Werken im

3.20 Reisebriefe 

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engeren Sinne, vielmehr handelt es sich vielfach um dezidierte Mischformen, in denen jedoch der Informationsgehalt des Reiseberichts – und sei es im Sinne einer mehr oder weniger subjektiven Neubewertung des Reiseziels – meist dominant bleibt. Richardson und Defoe, Volkmann und Campe, Moritz und Reichardt, Heine und Pückler-Muskau verstanden ihre Reisebriefe wahrscheinlich selbst als eine Sonderform des Reiseberichts. Dies ändert sich auch in der Folgezeit nicht. Auch wenn vereinzelte Werke wie z.  B. in Alfons Paquets Briefen aus Moskau von 1919, Frida Rubiners Briefen aus der Sowjetunion von 1923–1924 und Ernst Tollers Russischen Reisebildern von 1926 zu finden sind, spielt der publizierte Reisebrief in der bisherigen Form seit dem 20. Jahrhundert keine große Rolle mehr. Allerdings finden sich Einzelfälle, in denen die im 18. und 19. Jahrhundert beliebte Form zum Teil deutlich transformiert wurde. Hierzu zählen W. H. Audens und Louis MacNeices Letters from Iceland von 1937 mit einer Collage von Prosatexten, Gedichten, Tabellen, Photographien und Briefen (auch an einen Verstorbenen wie Lord Byron) sowie Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke von 1972–1973, das erst 1979 postum erschien und als collageartiges Reisewerk der Popliteratur zu wesentlichen Teilen aus Briefen v.  a. aus Rom besteht und zudem Abbildungen von Ansichtskarten enthält (vgl. Nickisch 1991, 117–118). Zu ergänzen wären Herbert Rosendorfers Briefe in die chinesische Vergangenheit von 1983 und die Fortsetzung Die große Umwendung von 1997 über eine Reise durch Raum und Zeit: von China nach Bayern bzw. Köln, Leipzig und New York sowie aus dem 10. Jahrhundert in die Gegenwart vor bzw. nach der deutschen Wiedervereinigung. Rosendorfer bedient sich für eine (allerdings gemäßigte) Gegenwartskritik bei Montesquieus Modell der Persischen Briefe, das bereits in den beiden vorangegangenen Jahrhunderten zum Modell einer offensichtlich fiktionalen Reisebriefsammlung wurde, die damit die Grenze des Romans immer wieder überschreiten konnte. Der Untergang des Reisebriefs als semi-literarische Gattung dürfte nicht zuletzt auch bedingt sein durch die medialen Veränderungen in der Telekommunikation. In die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fällt die Erfindung der Correspondenz-Carte, also der Postkarte, mit den Sonderformen Ansichtskarte und Feldpostkarte, als neuer epistolarer Kurzform (vgl. Täubrich 1996). Sie erlaubt Kurzmitteilungen banalerer Form, gerade auch weil die Postkarte unverschlossen, also für alle Postbediensteten lesbar ist, und neigt zu einer textlichen Kürze, gerade wo graphische oder bildnerische Elemente den Schreibraum so extrem limitieren wie auf der Ansichtskarte, die dann nur noch Raum für formelhafte touristische relevante Wendungen übrig lässt. Ebenso industrialisiert und normiert wie der Tourismus ist nun auch die epistolare Botschaft an die Daheimgebliebenen (vgl. Hartwig 1979, [7]). Entsprechend verwundert es nicht, dass sich

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 3 Briefgenres

keine nennenswerten literarischen Anverwandlungen dieses neuen Mediums finden, dafür aber umso stärker bildkünstlerische Experimente (vgl. Wiethölter 2008; Breuer und Ketelsen 2018). Mit dem Siegeszug elektronischer Kommunikation, aber auch der Professionalisierung des Journalismus, verliert der Brief als Medium für Nachrichten aus der Ferne zunehmend an Bedeutung und fristet nun sein Nischendasein als Leserbrief. Für die letzten Jahrzehnte sind die sozialen Netzwerke (z.  B. Facebook, GooglePlus, Instagram, Pinterest, Snapchat, tumblr, Twitter, WhatsApp, YouTube sowie Blogs) von entscheidender Bedeutung, in denen Texte und Bilder, Audio- und Videomaterial von Reisen z.  T. in Echtzeit für Einzelpersonen oder einen definierbaren Rezipient*innenkreis publiziert werden. Hier verwischen die Grenzen zwischen privater und öffentlicher Kommunikation sowie zwischen den Gattungen und Medien, und gerade der hohe Grad an Intermedialität macht diese Formen wohl nicht mehr rückübersetzbar in so etwas wie publizierte Reisebriefe, auch wenn die ‚geposteten‘ Reiseerlebnisse sehr häufig noch einen textbasierten Kern behalten. Wo der Brief in der aktuellen Literatur noch auf Reisen geht, dürfte er es in der Regel nur noch symbolisch tun. So präsentiert Abbas Khider mit Brief in die Auberginenrepublik von 2013 die erfolglose Reise eines Liebesbriefs sozusagen als impliziten Abgesang auf den Reisebrief: Der Flüchtling wagt es nicht, die Briefe an seine Freundin abzusenden, um ihr keine politischen Probleme zu bereiten; auch der unter großem finanziellen Aufwand geschmuggelte Brief wird sein Ziel nicht erreichen, doch bleibt angesichts aller Verzweiflung ein übrig gebliebener Schnipsel des Briefs das Symbol für eine Utopie der Schrift.

Zitierte Literatur Arto-Haumacher, Rafael (1995). Gellerts Briefpraxis und Brieflehre. Der Anfang einer neuen Briefkultur. Wiesbaden. Brant, Clare (2006). Eighteenth-Century Letters and British Culture. Basingstoke. Breuer, Ingo (2013). „Reisebriefe und Gartenkünste. Vorüberlegungen zu Heinrich von Kleists ‚Ideenmagazin‘“, in: Heinrich von Kleist und die Briefkultur um 1800. Hg. v. Ingo Breuer, Katarzyna Jaśtal u. Paweł Zarychta. Köln u. Weimar: 157–182. Breuer, Ingo u. Thomas Ketelsen (2018). Der Brief und die Zeichnung. Köln. Breuer, Ingo (2018). „Hybride Kommunikation? Eine Miszelle zu Heinrich von Kleists Brief an Wilhelmine von Zenge vom 16./18.11.1800“, in: Bestände der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin in der Jagiellonen-Bibliothek: Forschungsstand und Perspektiven. Hg. v. Monika Jaglarz u. Katarzyna Jastał. Krakau: 169–179. [Defoe, Daniel] (1724). A Tour Thro’ the Whole Island of Great Britain […], By a Gentleman. Bd. 1. London.

3.20 Reisebriefe 

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[Defoe, Daniel u. Samuel Richardson] (1738). A Tour Thro’ the Whole Island of Great Britain, Divided Into Circuits or Journies. Bd. 1. London. Geertz, Clifford (1983). Local Knowledge: Further Essays in Interpretive Anthropology. New York. Geiger, Karl Ignaz (1789). Reise eines Engelländers durch einen Teil von Schwaben und einige der unbekanntesten Gegenden der Schweiz. Herausgegeben von seinem Teutschen Freunde L. A. F. v. B. Amsterdam. Goethe, Johann Wolfgang von (1808). Werke. Eilfter Band: Die Leiden des jungen Werthers/ Briefe aus der Schweiz. Tübingen. Griep, Wolfgang (1984). „Reiseliteratur im späten 18. Jahrhundert“, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789. Hg. v. Rolf Grimminger. München: 739–764, 919–924. Hartwig, Helmut (1979). „‚Weiter nichts neues andermal Mehr‘. Kommunikation per Postkarte“, in: Massenmedium Bildpostkarte. Hg. v. Karl Riha. Siegen: [unpaginiert, 3–14]. Kittelmann, Jana (2010). Von der Reisenotiz zum Buch. Zur Literarisierung und Publikation privater Reisebriefe Hermann von Pückler-Muskaus und Fanny Lewalds. Dresden. Kleist, Heinrich von (1997). Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 4: Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793–1811. Hg. v. Klaus Müller-Salget u. Stefan Ormanns. Frankfurt a. M. Meier, Albert (1999). „Textsorten-Dialektik. Überlegungen zur Gattungsgeschichte des Reiseberichts im späten 18. Jahrhundert“, in: Neue Impulse der Reiseforschung. Hg. v. Michael Maurer. Berlin: 237–248. Nickisch, Reinhard M. G. (1991). Brief. Stuttgart. Nohe, Hanna (2018). Fingierte Orientalen erschaffen Europa. Zur Konstruktion kultureller Identität im Reisebriefroman der Aufklärung. Paderborn. Riesbeck, Johann Kaspar (2013). Briefe eines reisenden Franzosen. Hg. v. Christian Döring et al. Berlin. Schatz, Andrea (2008/2009). „Kleider auf Reisen. ‚Nachahmung‘ und Transkulturation in Isaac Euchels Briefen des Meschullam“, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden, 18/19.2: 321–338. Täubrich, Hans-Christian (1996). „Alles auf eine Karte. Correspondenz-Postkarte statt Briefkorrespondenz?“, in: Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation. Hg. v. Klaus Beyrer u. dems. Frankfurt a. M. u. Nürnberg: 112–119. Viviès, Jean (2016). English Travel Narratives in the Eighteenth Century. Exploring Genres. London. Volkmann, Johann Jacob (1781–1782). Neueste Reisen durch England vorzüglich in Absicht auf die Kunstsammlungen, Naturgeschichte, Oekonomie, Manufakturen und Landsitze der Großen. Leipzig. Voß, Andrea (2016). Reisen erzählen. Erzählrhetorik, Intertextualität und Gebrauchsfunktionen des adligen Reiseberichts in der frühen Neuzeit. Heidelberg. Wiethölter, Waltraud (2008). „Ikono-Graphie“, in: Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 11.9. bis 16.11.2008. Hg. v. Anne Bohnenkamp u. ders. Frankfurt a. M. u. Basel: 117–190.

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Online-Quellen Zeitschriften der Aufklärung: Digitalisierungsprojekt der Universität Bielefeld, Universitätsbibliothek, Digitale Sammlungen, http://ds.ub.uni-bielefeld.de (27.05.2019)

Ursula Lehmkuhl

3.21 Das Genre Auswandererbrief 1 Begriffsdefinition und -geschichte Auswandererbriefe sind ein Phänomen und eine Quelle des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Das Gros der Briefe stammt aus dem 19. Jahrhundert, der Zeit globaler Massenmigration. Zwar ist es historisch gesehen immer wieder zu Bevölkerungsverschiebungen durch Massenwanderung gekommen, die Wanderungsbewegungen des 19. Jahrhunderts stellen jedoch im historischen Vergleich eine Besonderheit dar. Insbesondere die Arbeits- und Siedlungswanderung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert steht im Zeichen von und ist Ausdruck einer ersten Globalisierungswelle (vgl. Oltmer 2012; Hoerder 2002). Zusammen mit der Einführung moderner Transporttechnologien, insbesondere Dampfschifffahrt und Eisenbahnen, und unterstützt durch die Errichtung internationaler Organisationen zur Regelung des globalen Schiffs- und Postverkehrs, wie etwa des 1874 gegründeten Weltpostvereins (vgl. Cotreau 1975; Lyall 2011), entwickelte sich im Kontext der globalen Migrationsbewegungen des 19. Jahrhunderts der Auswandererbrief zum Medium globaler Massenkommunikation. Als wichtigstes, wenn nicht sogar einziges Kommunikationsmedium waren Auswandererbriefe nicht nur Mittler zwischen der Neuen und der Alten Welt. Auch japanische und chinesische Einwanderer in Amerika oder europäische Einwanderer in Australien und Neuseeland schrieben Briefe an ihre daheim gebliebenen Familien. Auswandererbriefe sind mehr als reine Informationsträger. Sie sind ein Medium des Kulturtransfers und der Sinnstiftung in Kontexten abrupter und häufig traumatisch wirkender Differenzerfahrung. Sie sind ein wichtiges Instrument zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung familiärer und nachbarschaftlicher Beziehungen über große geographische Entfernungen hinweg. Als weltumspannendes und unterschiedliche Weltregionen verbindendes Medium der Massenkommunikation schufen sie transnationale Sozialräume (vgl. Schiller et al. 1992) jenseits bzw. komplementär zu lokal existierender Face-to-Face-Kommunikation. Der Quellenwert von Auswandererbriefen für die Migrationsgeschichte, die Soziolinguistik und die Soziologie wird seit den 1980er Jahren diskutiert (vgl. Helbich 1984, 1987, 1988, 1990, 1995, 1997; Gerber 2000; Elliott et al. 2006; Gerber 2005; Schuster und Strobel 2013; Lehmkuhl 2014c).

https://doi.org/10.1515/9783110376531-046

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2 Systematische und historische Aspekte des Themas 2.1 Auswanderer als Briefeschreiber Im Unterschied zum Gelehrten Brief oder zum Politischen Brief stammen Auswandererbriefe vor allem aus der Feder einfacher Menschen. Die englischsprachige Forschung spricht hier von „marginally literate people“ (Elliott et al. 2006a, 3). So wird etwa aus den Berufsangaben deutscher Auswanderer deutlich, dass diese sich überwiegend aus den Unterschichten und unteren Mittelschichten rekrutierten (vgl. Helbich et al. 1988, 13). Ohne die migrationsbedingte geographische Trennung von der daheim gebliebenen Familie, den Nachbarn und Freunden, hätten die Autoren dieser Briefe kaum geschrieben und somit keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. Aus diesem Grund sind Auswandererbriefe nicht nur für die sozial- und kulturhistorische Forschung, sondern auch für andere Disziplinen, wie beispielsweise die Soziolinguistik, von großer Bedeutung (vgl. Elspaß 2005). Orthographie, Syntax, Semantik/Lexik und der argumentative Aufbau der Briefe entsprechen nur in den seltensten Fällen den Konventionen bildungsbürgerlicher Briefkultur. Im Gegenteil: die epistolarischen Praktiken internationaler Migranten unterscheiden sich deutlich davon (vgl. Elliott et al. 2006a, 3–4), wenngleich bestimmte Elemente der bürgerlichen Briefkultur auch in Auswandererbriefen enthalten sind: Datumszeile, Grußformel und Unterschrift rahmen auch den Auswandererbrief. Es ist deshalb anzunehmen, dass Auswanderer, auch wenn sie häufig ungeübte Schreiber waren, Wissen über die Konventionen des Briefschreibens besaßen. Während es sich bei den Autoren Gelehrter Briefe oder Politischer Briefe in der Regel um Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens handelt, deren Biographien bekannt sind und vielfach erforscht wurden, bleiben die eruierbaren biographischen Informationen über Briefschreiber*innen und -empfänger*innen von Auswandererbriefen in vielen Fällen sehr unvollständig. Zudem ist von den allermeisten Korrespondenzen nur eine Seite, in der Regel die Empfängerseite, vorhanden. In amerikanischen Sammlungen und Archiven finden wir häufig die ‚America Letters‘, also Briefe, die etwa von Europa in die USA geschrieben worden sind; in europäischen Sammlungen und Archiven lagern vornehmlich die ‚Homeland Letters‘, Briefe, die von den Auswanderern zurück in die alte Heimat geschrieben wurden. Gleiches gilt für chinesische und japanische Auswandererbriefe (vgl. Liu 2005). Unvollständige Kontextinformationen über Herkunft der Briefeschreiber und ihrer Migrationsbiographie zusammen mit der Tatsache, dass es sich um eine zweiseitige Kommunikation handelt, bei der offen bleibt, inwie-

3.21 Das Genre Auswandererbrief 

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weit der Schreiber den Erwartungen des Adressaten entgegenzukommen sucht, erschweren die historische Arbeit der Kontextualisierung und Interpretation der Briefinhalte (vgl. Helbich 1984). Auch das Problem, dass wir nicht wissen, was der Briefschreiber in seinen Berichten bewusst oder unbewusst nicht erwähnt, stellt eine große Schwierigkeit für die Interpretation von Auswandererbriefen dar (vgl. Gerber 2006, 8).

2.2 Auswandererbrief-Sammlungen und Editionen: Die Materialität von Auswandererbriefen Auswandererbriefe lagern nur selten in öffentlichen Archiven. Sie befinden sich in der Regel in Privatbesitz und werden von den Besitzern häufig als sehr persön­ liche Dokumente der eigenen Familiengeschichte wahrgenommen. Die Sammlung von Auswandererbriefen ist eine sehr aufwendige Arbeit, die zudem erhebliches Fingerspitzengefühl im Umgang mit den Briefbesitzern erfordert (vgl. Lehmkuhl 2011, 2014a). In Europa wurde mit der Sammlung von Auswandererbriefen bereits während der Zeit der Massenauswanderung im 19. Jahrhundert begonnen. Briefe, die die deutsche Amerikaauswanderung im Zeitraum von ca. 1800 bis ca. 1980 dokumentieren, sind in der Deutsche Auswandererbriefsammlung (DABS) der Forschungsbibliothek Gotha archiviert und werden dort der Forschung zugänglich gemacht. Die mittlerweile mehr als 11.000 Briefe umfassende Sammlung repräsentiert alle deutschen Auswanderungsregionen. Neben gut 1.000 Briefserien von mehr als drei Briefen eines Autors bzw. einer Autorin und oft mit mehreren Autor*innen aus einer Familie enthält die Sammlung mehr als 800 Einzelbriefe von deutschen Auswanderern in den USA. Daneben konnten Auswandererbriefe aus Lateinameri­ka, insbesondere Brasilien, sowie Briefe aus Australien und Malaysia gesammelt und archiviert werden (vgl. http://www.auswandererbriefe.de). Die Briefe sind transkribiert, inhaltlich erschlossen und in den meisten Fällen biographisch recherchiert worden. Ein Stichwortkatalog hilft bei der Nutzung der Briefsammlung. Editionen von Auswandererbriefen gibt es seit ca. 1800, in Deutschland seit ca. 1830 (vgl. Lange 1834; Duden 1829). Ihre Zahl schwankte von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, war aber das ganze 19. Jahrhundert hindurch erheblich. Ihre Formen waren vielgestaltig, redaktionelle Eingriffe die Regel (vgl. etwa Gillhoff 1918, 1939 [1918]; Knuth und Gillhoff 2005). Sie dienten meist der Propagierung der Auswanderung oder aber der Warnung davor. Der erste Band mit wissenschaftlichem Anspruch, herausgegeben von Karl Larsen, erschien 1912 in Kopenhagen und wurde sogleich ins Deutsche übersetzt (vgl. Larsen 1913). Es folgten in den 1920er und 1930er Jahren vor allem skandinavische Briefsammlungen in den USA, herausgegeben

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von Historikern, die den Beitrag ihrer Nationalität zur Entwicklung der USA dokumentieren wollten, danach ein gutes Dutzend weitere. Erst 1972 erschien das Werk von Charlotte Erickson zu britischen Auswanderern, das heute generell als die erste tatsächlich wissenschaftliche Edition gilt (vgl. Erickson 1972). Der Reigen der ‚nationalen‘ und regionalen Bände (z.  B. Wales Conway 1961; Tessin Cheda 1976, 1981) endete im Wesentlichen 1988 mit einer späten, aber mustergültigen deutschen Edition (vgl. Helbich et al. 1988; Kamphoefner et al. 1991). Bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts war die Edition die mit Abstand wichtigste Form der wissenschaftlichen Arbeit mit Auswandererbriefen sowie ihrer Veröffentlichung. Die besten unter ihnen zeichneten sich durch akribische Texttreue und umfassende biographische und sachliche Kontextualisierung aus (vgl. Cheda 1976; Helbich et al. 1988; Kamphoefner et al. 1991; Fitzpatrick 1994; Helbich und Kamphoefner 2002; Miller 2003; Kamphoefner und Helbich 2006). Unter den neueren Editionen lassen sich grob sechs Typen unterscheiden: 1. die nationale, regionale oder lokale Edition, die eine gewisse Repräsentativität für die entsprechende Wanderungsbewegung bieten soll (vgl. Cheda 1981; Helbich et al. 1988); 2. die biographiezentrierte Edition zu einer bestimmten Wanderungsbewegung (vgl. Fitzpatrick 1994); 3. die biographiezentrierte Edition zu einer Person (vgl. Kessel 1965); 4. die didaktische Edition, die bei Wahrung wissenschaftlicher Mindeststandards Zweck und Zielgruppe angepasst ist (vgl. Helbich 1985; Jarck et al. 2000); 5. die Thesenedition zur Untermauerung einer wissenschaftlichen Aussage (vgl. Fender 1992); 6. die Themenedition, bei der (alle verfügbaren) Briefe so ausgewählt sind, dass sie bestimmte Sachverhalte, Fragestellungen oder Mentalitäten erhellen (vgl. Helbich und Kamphoefner 2002; Kamphoefner und Helbich 2006).

2.3 Die Repräsentativität von Auswandererbriefen Diejenigen Briefe, die heute in europäischen und teilweise auch amerikanischen Archiven und Bibliotheken noch erhalten sind oder über moderne wissenschaftliche Briefeditionen der Forschung zugänglich gemacht wurden, stellen nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Korrespondenz über den Atlantik dar, den man für die transatlantische Korrespondenz mit 1 von 10.000 beziffern kann. Zahlen zum Umfang transpazifischer Korrespondenz liegen noch nicht vor. Auch Briefe, die die mittel- und südosteuropäische Auswanderung dokumentieren, werden von der Forschung erst allmählich entdeckt (vgl. Brunnbauer 2016).

3.21 Das Genre Auswandererbrief 

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Hinsichtlich der deutschen Auswandererbriefe lässt sich festhalten, dass die in der Deutschen Auswandererbriefsammlung (DABS; http://www.auswandererbriefe.de) archivierten deutschen Auswandererbriefe einen deutlichen ‚class bias‘ aufweisen. Zwar gehören zum heutigen Bestand auch Schreiben von Menschen sehr geringen Bildungsstands, aber gemessen an der sozialen Verteilung der deutschen Auswanderer insgesamt sind Briefe aus dem Mittelstand deutlich überrepräsentiert. Insgesamt ist festzustellen, dass der erhalten gebliebene Briefbestand im Ganzen gesehen eher für diejenigen repräsentativ ist, die die Briefe aufbewahrt und der Forschung zur Verfügung gestellt haben, als für die historischen Briefschreiber und -empfänger selbst (vgl. Helbich und Kamphoefner 2006). Ähnliches lässt sich für die Frage der geschlechtsbezogenen Verzerrung (‚gender bias‘) sagen. Die erhalten gebliebenen deutschen Auswandererbriefe sind zu fast 80 Prozent von Männern geschrieben. Frauen schrieben dann Briefe, wenn sie alleinstehend waren oder wenn ihre Männer aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage waren, selbst zu schreiben. Offen bleibt eine für das Genre praktikable Definition von Repräsentativität wie auch die Frage nach dem Stellenwert von Repräsentativität bei Auswandererbriefen überhaupt.

2.4 Auswandererbriefe und Auswanderungspolitik: Die Medialität des Auswandererbriefs Auswandererbriefe sind ein Medium der Alltagskommunikation. Sie geben Aufschluss über Motive, Verlauf und Strukturen der Migration, Fragen von sozialer, nationaler bzw. religiöser und regionaler Identität, über den familiären Alltag, häusliche Produktion und Geschlechterrollen sowie den Kreis der primären sozialen Beziehungen im Heimatland und im Einwanderungsland. Sie berichten über Religion und ethnisches Eigenleben, Wahrnehmungen und Erfahrungen mit der amerikanischen Gesellschaft, insbesondere über das soziale Leben und die Kultur sowie über rechtliche, politische und administrative Gegebenheiten; sie reflektieren die wirtschaftliche Situation des Briefeschreibers, seinen ökonomischen Status sowie seine Erfahrungen mit der amerikanischen Arbeitswelt, mit Industrie, Gewerbe und ökonomischen Produktionsbedingungen und sie geben Auskunft über Formen und Verlauf der Anpassung und Integration in die neue Gesellschaft. Dabei stehen Spracherwerb, Heiratsmuster, alltäglicher Lebensstil, insbesondere Kleidung, Nahrung und Freizeitverhalten im Zentrum. Fast alle genannten Aspekte werden häufig vergleichend kommentiert, so dass aus den Briefen auch die transnationale Vergleichsdimension der genannten Alltagsbereiche erschlossen werden kann. Die von den Auswandererbriefen gezeichneten

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Bilder von der amerikanischen Wirklichkeit hatten einen maßgeblichen Einfluss auf das in Deutschland herrschende Amerikabild (vgl. Helbich 1990, 1991). Auswandererbriefe wurden in der Regel in der gesamten Familie, teilweise auch in der dörflichen Nachbarschaft weitergereicht und gelesen. Sie weisen insofern ein eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit auf. Einerseits dient der Brief der Bestätigung und der immer wieder neuen Herstellung familiärer Nähe und Verbundenheit; andererseits enthält er wichtige Informationen für potentielle Auswanderungswillige. Der Informationsgehalt und die Schilderungen der Situation im Einwanderungsland in Auswandererbriefen wurden aufgrund der Vertrautheit mit der Person des Briefeschreibers von den Lesern häufig als authentischer und verlässlicher bewertet als Informationen in offiziellen Auswanderer-Ratgebern. Umgekehrt wurde das Genre ‚Auswandererbrief‘ im Rahmen der Auswanderungspolitik der deutschen Staaten aber auch politisch instrumentalisiert, um Auswanderungswillige von der Auswanderung abzuhalten. Tatsächliche oder fingierte Auswandererbriefe, die vor der Auswanderung warnten, wurden in Zeitungen zur Abschreckung abgedruckt und entsprechend kommentiert (vgl. Helbich 1988).

3 Bisherige Forschung 3.1 Der Auswandererbrief und die sozialhistorisch orientierte Migrationsgeschichte Bis Anfang der 1980er Jahre waren Auswandererbriefe vornehmlich Gegenstand von Briefeditionen oder wurden zur Illustration in eher quantitativ-strukturell argumentierenden migrationshistorischen Studien genutzt. Ab Mitte der 1980er Jahre entdeckte die sozialhistorisch orientierte Auswanderungs- und Migrationsforschung Auswandererbriefe als wichtige zusätzliche Quelle. Dabei spielte der oben skizzierte historische Aussagewert der Briefe eine bedeutende Rolle. Diese Arbeiten knüpften an Fragestellungen der ersten soziologischen Arbeit mit Auswandererbriefen von William B. Thomas und Florian Znaniecki (1918) an. The Polish Peasant in Europe and America gilt bis heute als wichtige Referenz für die sozialhistorisch orientierte Migrationsgeschichte. Mit der Einbeziehung von Auswandererbriefen als migrationshistorische Quelle verschoben sich die Forschungsinteressen. Vermehrt rückten nun Fragen etwa nach der Motivation und dem wirtschaftlichen Hintergrund der Auswanderung, beruflichem Fortkommen und Sozialstatus, ethnischem Eigenleben in Vereinen, Schulen, Kirchen, Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft und ihren Minderheiten, besonders Arbeitswelt,

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Lebensstandard, Diskriminierung und Politik, Strukturen von Siedlung und Kettenwanderung sowie Integration, Wertewandel und der Akkulturationsprozess insgesamt ins Zentrum des Interesses. Eine besondere Bedeutung haben Auswandererbriefe für die Rekonstruktion der subjektiven Erfahrungsdimensionen, der Beziehungen zwischen den Ausgewanderten und den Daheimgebliebenen sowie den Identitäten und Emotionen von Migrant*innen. Die Beschäftigung mit Auswandererbriefen hatte einen maßgeblichen Anteil daran, die Migrationsgeschichte von einer strukturell-quantitativ ausgerichteten Disziplin weiterzuentwickeln in Richtung einer für Forschungsperspektiven der Kulturgeschichte und der Geschichte der Emotionen offenen, transnational orientierten Sozial- und Alltagsgeschichte. Seit Mitte der 1990er Jahre wurde im deutschen Sprachraum zur Amerika-Auswanderung keine Dissertation eingereicht und kein wissenschaftliches Buch publiziert, das auf das Heranziehen der Aussagen in Auswandererbriefen verzichtet hätte (vgl. Häberlein 1993; Hoerder und Nagler 1995; Reich 1997; Fertig 2000; Schmahl 2000; Krebber 2014).

3.2 Auswandererbrief-Forschung Die Arbeit mit Auswandererbriefen im Sinne der Briefforschung steckt noch in den Kinderschuhen. So beschäftigte sich 2003 erstmalig eine internationale Konferenz mit dem Thema Reading the Immigrant Letter. Ausgehend von der Erfahrung mit der Sperrigkeit des Quellenmaterials und den Schwierigkeiten seiner Erschließung und Interpretation sollten sich gut 50 Referenten aus elf Ländern mit innovativen Ansätzen bei der Auswertung von Auswandererbriefen beschäftigen. Tatsächlich geschah dies auf der Konferenz jedoch nur ansatzweise (vgl. Helbich 2003). Dies belegt auch der Konferenzband Letters across Borders, der drei Jahre später publiziert wurde (vgl. Elliott et al. 2006b). Hier verweisen die Herausgeber*innen erneut auf die problematische Zugänglichkeit des Genres und den diffusen Charakter des Auswandererbriefs als historische Quelle und unterstreichen sein historisches Potential insbesondere für die Erfassung der subjektiven Dimensionen der Auswanderungserfahrung: „[H]owever great the interpretive issues, they [the letters] provide access to the immigrant’s attitudes, values, aspirations, and fears as no other source has the potential to do.“ (Elliott et al. 2006a, 4) Damit wurden bestehende Ansätze und Forschungsperspektiven bestätigt. Ein Paradigmenwechsel hin zu einer tatsächlichen AuswandererbriefForschung blieb jedoch aus. Einen ersten wichtigen Schritt in Richtung einer Briefforschung im engeren Sinne stellt die ebenfalls 2006 erschienene Publikation Authors of their Lives dar (vgl. Gerber 2006). David Gerber beschäftigt sich in dieser Monographie mit

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 3 Briefgenres

dem Quellentyp und der Textgattung ‚Auswandererbrief‘ und den Möglichkeiten seiner Interpretation. Ausgehend von der Theoriedebatte im Rahmen des cultural turn schlägt Gerber eine theoretisch fundierte historisch-anthropologische Interpretationsperspektive vor. Dabei verdichtet er soziologische, sozialanthropologische und auch literaturwissenschaftliche Ansätze zu einer Forschungsheuristik, die darauf zielt, den Auswandererbrief „on its own terms“ zu verstehen „and not as the servant of other projects“ (Gerber 2006, 28). Damit setzte er sich deutlich von der dominierenden sozial- und kulturhistorischen Auswertung von Auswandererbriefen ab. Gerber rekonstruiert auf der Grundlage des Briefmaterials die Lebensgeschichten von vier Auswanderern und untersucht die Beziehungen zwischen den Korrespondenten und ihren Familien mit dem Fokus auf Identitäten und Beziehungsgeflechte. Während Gerbers theoretische Überlegungen ebenso wie seine Interpretationen in Rezensionen weitgehend Zustimmung fanden, stieß die Distanzierung von der Nutzung von Auswandererbriefen für die Beantwortung sozialhistorischer Fragestellungen auf deutlichen Widerspruch (vgl. Dauphinais 2007; Fitzpatrick 2007; Gorman 2006; Griffin 2007; Kröller 2007; Noël 2006; Soyer 2007; Van Vugt 2006). Das eigentliche Verdienst Gerbers, nämlich theoretisch fundierte Perspektiven für die Lektüre und Interpretation von Auswandererbriefen eröffnet zu haben, geriet im Eifer des Gefechts wieder aus dem Blickfeld.

4 Forschungsperspektiven Knüpft man an die von David Gerber umrissenen Fragestellungen und Herangehensweisen an, lassen sich unter Berücksichtigung von kulturhistorisch fundierten und transnational orientierten Perspektiven auf das Phänomen ‚Migration‘ eine Reihe von Forschungsperspektiven entwickeln, die neue Zugänge zum Genre ‚Auswandererbrief‘ eröffnen. Insbesondere zwei Forschungstraditionen bieten für die Entwicklung neuer Forschungsperspektiven in der Auswandererbrief-Forschung wichtige Anknüpfungspunkte: (1) die soziologische Lebensgeschichtsforschung und (2) die historische Netzwerkanalyse. Auch die Erinnerungsgeschichte oder die Geschichte der Emotionen hat die Beschäftigung mit Auswandererbriefen heuristisch informiert und perspektiviert. Für eine Diskussion dieser beiden Ansätze sei auf die einschlägigen Publikationen verwiesen (vgl. Cancian 2010; Lehmkuhl 2014b).

3.21 Das Genre Auswandererbrief 

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4.1 Lebensgeschichtliche und narratologische Ansätze Die soziologische Lebensgeschichtsforschung erlebte in den späten 1980er Jahren einen großen Aufschwung, der dann jedoch wieder abebbte. Daniel Bertaux, Jerome Bruner, Martin Kohli, Thomas Luckmann und Fritz Schütze haben Forschungsansätze entwickelt, die es erlauben, Erzählkonventionen und -muster mit Fragen nach sozialen Konventionen zu konfrontieren und damit Ideologie und Praxis beispielsweise auch weiblicher Lebenserfahrungen ins Verhältnis zu setzen (vgl. Bertaux und Kohli 1984; Bruner 1991; Kohli 1978; Kohli und Robert 1984; Luckmann 1988; Schütze 1976). Diese lebensgeschichtlichen Ansätze bieten wichtige Anknüpfungspunkte insbesondere für die Analyse von Briefserien, in denen unterschiedliche Autor*innen aus einer Auswandererfamilie ihre Lebenserfahrung und Erfahrungswelten im Rahmen brieflicher Kommunikation narrativ verarbeiten und transatlantisch kommunizieren. Die Bedeutung der Serialität schriftlicher Kommunikation im Medium des Auswandererbriefs ist in der bisherigen Auswandererbrief-Forschung noch kaum diskutiert worden. Der kombinierte soziologische und narratologische Zugriff auf die Konsekutivität von Brieftexten und ihrer Narrative öffnet den Blick insbesondere für die zeitliche und räumliche Gebundenheit der sozialen Rahmung subjektiver Erfahrung und bietet damit eine zentrale Brücke zwischen Mikro- und Makroperspektive (vgl. Lehmkuhl 2014c). Über die Auswertung des serialisierten Narrativs von Auswandererbriefen als Medium der schriftlichen Alltagskommunikation erhalten wir Zugang zur narrativen Verarbeitung von Kontinuitäten und Umbruchserfahrungen, die durch die Vermittlung unterschiedlicher Zeit- und Raumschichten und die Erfahrung der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Koselleck 1979) gekennzeichnet sind.

4.2 Historische Netzwerkanalyse Die sozialwissenschaftliche Netzwerkanalyse hat sich im Laufe der 1980er und 1990er Jahre etabliert und ihre methodischen Zugänge, insbesondere im Bereich der quantitativen Netzwerkanalyse, verfeinert (vgl. Knoke und Kuklinsky 1982; Burt und Minor 1983; Héritier 1993; Marin und Mayntz 1991). Ausgehend von der geschichtswissenschaftlichen Debatte über die Grenzen des methodologischen Nationalismus beschäftigt sich seit den 1990er Jahren auch die historische Forschung zunehmend mit Netzwerken, insbesondere solchen mit grenzüberschreitendem Charakter (vgl. Nolde und Opitz 2008; Unfried et al. 2008; Schnurmann 2014). In der Migrationsgeschichte wurde dabei ein Schwerpunkt auf die Entstehung, Entwicklung und den Zerfall sowie die Dynamik sozialer Bindungen in Migrantennetzwerken gelegt (vgl. Hoerder et al. 2005). Dabei geraten zuneh-

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 3 Briefgenres

mend die Bedeutung transnationaler Familiennetzwerke sowie die innerhalb des Netzwerks stattfindenden Transferprozesse und der damit einhergehende bzw. dadurch ausgelöste kulturelle Wandel in den Blick (vgl. McKeown 2001; Roschelle 1997; Liu 2005). In beiden Fällen  – der sozialwissenschaftlichen und der historischen Forschung – zielt die Netzwerkanalyse auf die Erfassung von Kontakten und Verbindungen, den Austausch, die Beziehungen und Zugehörigkeiten einzelner Akteure zu einem sozialen Verflechtungszusammenhang. Im Zentrum des Interesses steht dabei der Verkehr der Netzwerkakteure untereinander. In jüngster Zeit konzentriert sich die Forschung darauf, die Kontakte innerhalb eines Netzwerks zu visualisieren und darüber neue Aufschlüsse über Knotenpunkte zu erhalten (vgl. Gamper et al. 2012; Schönhuth 2013). Dabei kommt zunehmend auch die für den Historiker interessante Prozessdimension des ‚Networking‘ in den Blick und wird im Hinblick auf Voraussetzungen und Restriktionen individuellen Handelns, aber auch hinsichtlich der Chancen (soziales Kapital) analysiert (vgl. Lüdicke und Diewald 2007). Auswandererbriefe, insbesondere Briefserien, stellen eine zentrale Quelle für die Beantwortung von Forschungsfragen historischer und anthropologischer Netzwerkanalyse dar. Auswandererbriefe enthalten zahlreiche relationale Daten und Informationen, die es im Zusammenhang mit der Netzwerkanalyse auszuwerten gilt. Auswandererbriefe können wie ein narratives Interview gelesen und ausgewertet werden. Sie geben Aufschluss über die zentralen Akteure innerhalb eines familiären oder nachbarschaftlichen Netzwerkes und erlauben die Untersuchung der Entstehung und Verdichtung transnationaler Kommunikationsräume. Ausgehend von der Spezifik des Auswandererbriefs als Quelle historischer Netzwerkanalyse wird es in der zukünftigen Forschung insbesondere um die Vermittlung biographisch orientierter und netzwerkanalytischer Forschungsperspektiven gehen. Welche Bedeutung hat die Parallelität brieflicher und Face-toFace-Kommunikation für das Selbstverständnis einzelner Akteure innerhalb des Familiennetzwerkes? Welcher Zusammenhang besteht zwischen der narrativen Lebenslaufkonstruktion und dem Geflecht der sozialen, ökonomischen und ggf. auch politischen Beziehungen innerhalb des Netzwerkes? Welche Koordinationsund Kommunikations- sowie Steuerungs- und Ordnungsleistungen sind mit der brieflichen Kommunikation verknüpft? Zur Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen müssen, neben der relationalen Analyse der biographischen Details der im Netzwerk interagierenden Familienmitglieder, die handelnden Personen im Sinne der Briefforschung immer auch als Autoren geschriebener Texte betrachtet und die Schreibpraxis brieflicher Selbstthematisierung analysiert werden. Weitere zukünftige Forschungsperspektiven sind mit Fragen der digitalen Edition von Auswandererbriefen verbunden. Große digitale Editionsprojekte, die

3.21 Das Genre Auswandererbrief 

 641

sich auf Briefkorrespondenzen konzentrieren, wie etwa Gentz Digital (vgl. Gentz o.  J.), die digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels (vgl. Schlegel 2014–2020) oder das Editionsprojekt Vernetzte Korrespondenzen (http:// exilnetz33.de/de/) könnten Pate stehen für eine neue Form der digitalen Auswandererbrief-Edition, die im besten Falle auch die Verknüpfung und inhaltliche Auswertung unterschiedlicher Datenbestände mit Methoden der Digital Humanities/ Digital History ermöglicht. Erste Versuche, Auswandererbriefe mit Text MiningWerkzeugen auf Veränderungen in der Verarbeitung der transnationalen Migrationserfahrung zu untersuchen, sind 2018 publiziert worden (vgl. Krawatzek und Sasse 2018a, b).

Zitierte Literatur Bertaux, Daniel u. Martin Kohli (1984). „The Life Story Approach: A Continental View“, in: Annual Review of Sociology, 10: 215–237. Bruner, Jerome (1991). „The Narrative Construction of Reality“, in: Critical Inquiry, 18.1: 1–21. Brunnbauer, Ulf (2016). Globalizing Southeastern Europe: Emigrants, America, and the State since the Late Nineteenth Century. Lanham. Burt, Ronald S.  u. Michael J. Minor (Hg.) (1983). Applied Network Analysis. Beverly Hills. Cancian, Sonia (2010). Families, Lovers, and Their Letters: Italian Postwar Migration to Canada. Winnipeg. Cheda, Giorgio (1976). L’emigrazione ticinese in Australia. Locarno. Cheda, Giorgio (1981). L’emigrazione ticinese in California. Locarno. Conway, Alan (1961). The Welsh in America. Letters from the Immigrants. Minneapolis. Cotreau, James Donald (1975). Historical Development of the Universal Postal Union and the Question of Membership. Boston. Dauphinais, Paul (2007). „Review: Authors of their Lives“, in: Historian, 69.3: 584–585. Duden, Gottfried (1829). Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerika’s und einen mehrjährigen Aufenthalt am Missouri (in den Jahren 1824, 25, 26 und 1827), in bezug auf Auswanderung und Übervölkerung, oder, Das Leben im Innern der Vereinigten Staaten und dessen Bedeutung für die häusliche und politische Lage der Europäer. Elberfeld. Elliott, Bruce S., David A. Gerber u. Suzanne M. Sinke (2006a). „Introduction“, in: Letters across Borders. The Epistolary Practices of International Migrants. Hg. v. dens. New York: 1–25. Elliott, Bruce S., David A. Gerber u. Suzanne M. Sinke (Hg.) (2006b). Letters across Borders. The Epistolary Practices of International Migrants. New York. Elspaß, Stephan (2005). Sprachgeschichte von unten. Untersuchungen zum geschriebenen Alltagsdeutsch im 19. Jahrhundert. Tübingen. Erickson, Charlotte (1972). Invisible Immigrants: The Adaptation of English and Scottish Immigrants in Nineteenth-Century America. London. Fender, Stephen (1992). Sea Changes: British Emigration and American Literature. Cambridge. Fertig, Georg (2000). Lokales Leben, atlantische Welt. Die Entscheidung zur Auswanderung vom Rhein nach Nordamerika im 18. Jahrhundert. Osnabrück.

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 3 Briefgenres

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3.21 Das Genre Auswandererbrief 

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 3 Briefgenres

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3.21 Das Genre Auswandererbrief 

 645

Schönhuth, Michael (2013). Visuelle Netzwerkforschung: Qualitative, quantitative und partizipative Zugänge. Bielefeld. Schuster, Jörg und Jochen Strobel (Hg.) (2013). Briefkultur: Texte und Interpretationen von Martin Luther bis Thomas Bernhard. Berlin u. Boston. Schütze, Fritz (1976). „Zur linguistischen und soziologischen Analyse von Erzählungen“, in: Internationales Jahrbuch für Wissens- und Religionssoziologie, 10: 7–41. Soyer, Daniel (2007). [Rez.] „Authors of their Lives“, in: Reviews in American History, 35.1: 32–38. Thomas, William Isaac u. Florian Znaniecki (1918). The Polish Peasant in Europe and America. Monograph of an Immigrant Group. Chicago. Unfried, Berthold, Jürgen Mittag, Marcel van der Linden u. Eva Himmelstoss (Hg.) (2008). Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen. Leipzig. Van Vugt, William E. (2006). [Rez.] „Authors of the Lives“, in: Journal of American History, 93.3: 858–859.

Onlinequellen Deutsche Auswandererbriefsammlung (DABS) der Forschungsbibliothek Gotha, gemeinsam mit weiteren Sammlungen online unter: http://www.auswandererbriefe.de (30.11.2019). Vernetzte Korrespondenzen: http://exilnetz33.de/de/ (27.11.2019).

Anne Katrin Lorenz

3.22 Exilbrief im 19. bis 21. Jahrhundert 1 Begriffsverwendung und -abgrenzung Unter den Titeln der Exilbriefsammlungen stellt die von Sigrid Bauschinger und Helmut G. Hermann 1986 herausgegebene Edition der Briefe Else Lasker-Schülers mit dem Titel Was soll ich hier? Exilbriefe an Salman Schocken eine Ausnahme dar. Statt des Kompositums ‚Exilbrief‘ dominieren Formulierungen wie „Briefe aus dem Exil“ (vgl. Klapdor 2007; Härtling 1991), „Briefwechsel im Exil“ (vgl. Schoenberner und Kesten 2008) bzw. „Literatur im Exil“ (vgl. Kesten 1964) die Titel der einschlägigen Sammlungen. Nach den semantischen Mustern der Nomina directionalia und Nomina loci betonen solche Wortkonstruktionen die Bewegungsrichtung des Substantivs ‚Brief‘ bzw. seine räumliche Verortung und verweisen auf die situativen Bedingungen seiner Entstehung. Gleichzeitig suggerieren sie eine typologische Offenheit, die ein überwiegend abstrakter Begriffsgebrauch des Exilbriefs nicht einlöst. Trotz der in der Forschung vielfach konstatierten Zunahme des Briefverkehrs für die großen historischen Exilperioden im 19. und 20. Jahrhundert (vgl. u.  a. Kucher et al. 2011, 13; Wende 1996, 172–173; Nickisch 1991, 63) ist der Exilbrief in erster Linie Teil des Quellenmaterials biographischer Arbeiten oder Gegenstand thematischer Einzelstudien. Eine umfangreiche, systematische Analyse seines charakteristischen Erscheinungsbilds scheitert bislang an der Heterogenität des Phänomens, die bereits mit der semantischen und bedeutungsgeschichtlichen Unschärfe des Exil-Begriffs beginnt. So findet sich ab dem 19. Jahrhundert neben dem Exilbrief vermehrt die synonym verwendete Bezeichnung ‚Emigrantenbrief‘. Während sich die Begriffsverwendung des Auswandererbriefs meist auf die von der Forschung vornehmlich quantifizierten Briefe ‚einfacher Leute‘ ohne politische Wirkungsmacht und auf eine eher wirtschaftlich motivierte Emigration beschränkt (vgl. Helbich 2004, 77), kommt der Emigrantenbrief spätestens im 20.  Jahrhundert insbesondere im Kontext einer dem Begriffsfeld ‚Exil‘ nahestehenden ‚Zwangsemigration‘ vor (vgl. Sander 1938, VI; Th. Mann 1973 [1938], 192). Dabei verweist er häufig auf eine durch den Singular spezifizierte, geschlossene Gruppierung wie ‚die jüdische Emigration‘, ‚die intellektuelle Emigration‘ oder nur ‚die Emigration‘. Obwohl ‚Exil‘ auch von den postkolonialen Vertretern wie Edward Said und Stuart Hall mehrheitlich als historisch gefasstes und politisch konnotiertes Konzept beschrieben wird (vgl. Said 2002; Hall 1990, 222–237), widerspricht ein essentialistisches Begriffsverständnis den Bestrebungen der gegenwärtigen Exilforschung, den Begriff des Exils im Rückgriff auf transnationale und -kulturelle https://doi.org/10.1515/9783110376531-047

3.22 Exilbrief im 19. bis 21. Jahrhundert 

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Ansätze postkolonialer Studien einer Revision zu unterziehen (vgl. Bischoff und Komfort-Hein 2016). Erschwert wird eine hinreichende Definition des Exils durch weit verbreitete Attribute wie ‚freiwillig‘, ‚geistig‘, ‚imaginär‘, ‚real‘, ‚geographisch‘, ‚wirtschaftlich‘ oder ‚literarisch‘. Als gemeinsamer Referenzpunkt kann schließlich die temporäre und defizitäre Verfasstheit des Exils gelten, die sich in den Bezeichnungen und Metaphern des Transitorischen und der Entfremdung widerspiegelt: „Provisorium“ (Weiss 1982, 658), „Luftexistenz“ (Sperber 1982, 79), „Wartesaal“ (Feuchtwanger (1993 [1939]), „Krankheit“ (Spiel 1975, 438–439) usw. Dabei deuten Dopplungen wie Hans Sahls vielzitierte Formulierungen „Exil im Exil“ (Sahl 1990) und „Exil nach dem Exil“ (Sahl 1987) in seinen autobiographischen Schilderungen die subjektive Dimension einer anhaltenden geistigen Isolation an, die Andrea Reiter (2007) mit dem Begriff der „Exterritorialität des Denkens“ beschreibt. Diese negative Rückbindung des Exils als Geisteshaltung an ein territoriales Element impliziert nicht zuletzt eine räumliche Bezugsgröße, die auch die Voraussetzung für eine sinnvolle Abgrenzung des Exilbriefs bildet. Die große typologische Bandbreite der sich teils überschneidenden epistolaren Formen in den Briefsammlungen Exilierter schließt Liebesbriefe, Abschiedsbriefe, Familienkorrespondenz und private Bittbriefe ebenso ein wie offizielle amtliche Schreiben, Geschäftskorrespondenz und Offene Briefe. Die wenigen allgemeinen Aussagen zum Genre ‚Exilbrief‘ zeugen indessen davon, dass sich die Relativierung der Kategorien, die der Brief durch die Betonung seines hypostatischen Charakters im Derrida’schen Sinn eines „tous les genres“ (Derrida 1980, 54) jenseits streng gattungsbezogener Brieftheorien in thematisch orientierten Einzelstudien längst erfahren hat (vgl. Schuster und Strobel 2013), im kommunikativen Kontext des Exils verstärkt. Für die Herausgeber*innen der Anthologie Deutsche Briefe 1750–1950 ist der Brief das bevorzugte künstlerische Ausdrucksmedium des Exilanten, weil in ihm „der Lebensrohstoff ungeniert an die Oberfläche“ darf, heftige Emotionen „in diesem genus mixtum zwischen Literatur und Leben Formansprüchen weniger stark ausgesetzt sind als in anderen Schreibweisen des Exils“ (Mattenklott et al. 1988, 700). Gleichermaßen bezieht sich Guy Stern im Vorwort zu der von Heike Klapdor herausgegebenen Korrespondenz Paul Kohners auf die Exilbriefe von Literatur- und Künstlergrößen wie Thomas und Heinrich Mann und Alfred Polgar, wenn er die „subjektiven, hochemotionalen Reaktionen der Briefschreiber“ als überwältigend beschreibt (Stern 2004, 8). Ein hohes Maß an Emotionalität konstatieren allerdings Siegfried Grosse, Martin Grimberg, Thomas Hölscher (vgl. Grosse et al. 1989, 121) auch in den Auswandererbriefen. Im Unterschied dazu bildet der Exilbrief jedoch aufgrund des transitorischen Exilzustands das Relais, das sowohl Herkunftsland, Gastland und Exil-Ich-Bewusstsein miteinander verschaltet als auch erinnerten Ursprung und antizipierte Rück-

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 3 Briefgenres

kehr sprachlich vermittelt. Entsprechend markieren die Letzten Briefe (vgl. Beise und Strobel 2015) im Exilkontext ihrer intendierten Wirkung nach entweder den Anfang des Exils oder illustrieren, wie im Fall Walter Hasenclevers (vgl. Hasenclever 1994 [1940], 380–381) oder Stefan Zweigs (vgl. Zweig 2005 [1942], 345), das bis hin zum Tod forcierte Ende vom Gedanken an die Heimkehr. Als ihr Pendant stehen die Ersten Briefe, wie Kucher et al. (2011) die Fallstudien zur epistolaren Wiederaufnahme des abgebrochenen Gesprächs nach 1945 betiteln, für einen gewissen Grad der Akkulturation. Unter Berücksichtigung literatursoziologischer Aspekte ermöglichen die in diesen Briefen unter vertauschten Vorzeichen signalisierten Anfangs- und Endpunkte des Exils, den Exilbrief aus einem differenzierteren Blickwinkel zu betrachten. Denn seine Kontextualisierung innerhalb der Gesamtkorrespondenz eines Exilierten erlaubt einerseits die Loslösung des Exilbrief-Konzepts von einem a priori festgelegten Zeitraum, der auf starren äußeren Zuschreibungen des Exilzustands beruht. Andererseits schützt ein solcher Zugang davor, die spezifischen Unterschiede des Exilbriefs durch eine zu starke perspektivische Entgrenzung des Exil-Begriffs aufzuheben. In der Sammlung Deutsche Briefe 1750–1950 unterstehen die im Kapitel „Exil“ zusammengefassten Briefe durchweg einem der Vernunft verpflichteten moralischen Subjekt: Die durch das Exil zwangsläufig hervorgerufene Zäsur manifestiert sich in einem Akt des Briefeschreibens, der im Spannungsfeld zwischen Exilgemeinschaft, Gast- und Herkunftsgesellschaft immer schon ein mehr oder weniger öffentliches Statement und eine Selbstpositionierung der Schreibenden impliziert und Exilbriefe zu „Formen moralischer Selbstbegegnung“ (Mattenklott 1993, 140) macht. Bei Heinrich Mann mündet die absolute Konsequenz, mit der er das Briefeschreiben im Exilalltag dem ethischen Prinzip gesellschaftlicher Verantwortung unterwirft, angesichts der unmittelbaren Exilerfahrung in den kämpferischen Habitus eines „militanten Humanismus“ (Berendsohn 1937, 92). Im Gegensatz zum sozialkritischen Programm der „Forty-Eighters“ im 19. Jahrhundert, das das im engeren Sinn politische Exil mit der wirtschaftlichen Migration verbindet (Thamer 1993, 244–245), richtet sich der Aufruf zum verbalen Kampf im Namen der Humanität, den Walter A. Berendsohn in einem Offenen Brief an Thomas Mann formuliert, in erster Linie an Kunst- und Literaturschaffende und Intellektuelle (vgl. Berendsohn 1937, 92). Obwohl die Offenen Briefe von Exilant*innen wie Thomas Mann, aber auch von Vertreter*innen des deutsch-deutschen Exils wie Frank-Wolf Matthies ganz im Sinn ihrer intendierten Wirkung öffentlich Aufmerksamkeit erregen (vgl. Grosser 1963; Essig 2000, 255), gilt auch für den im Exil verfassten Privatbrief bei Heinrich Mann zwingend das diskursive Kriterium der öffentlichen Vermittlung, mit dem eine Relativierung der verschiedenen Briefgenres einhergeht: „Durch die Vermittlerrolle des Emigranten erreicht der persönlich-geschlossene Brief

3.22 Exilbrief im 19. bis 21. Jahrhundert 

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die Öffentlichkeit, wird Teil eines ‚offenen Briefs‘“ (Evelein 2011, 27). Denn nicht nur der exilierte Briefsteller sieht sich durch Fremd- oder Selbstzuschreibung immer schon als Teil einer unmittelbar zeitgenössischen wie historischen Exilgemeinschaft und durch den Verlust seiner Bürgerrechte unwillkürlich politisiert, „[a]uch der Empfang solcher Bekenntnisse verpflichtet den Emigranten“ (H. Mann 1973 [1933], 11). Dabei verstärkt sich im Privatbrief die schon bei Georg Simmel angelegte paradoxe Durchdringung von öffentlicher Wirkmacht und privatem Briefgeheimnis unter den repressiven Bedingungen der Zensur in ihr Extrem: „Nie war der Brief ‚öffentlicher‘ als jetzt […] – und nie war seine Öffentlichkeit ‚privater‘“ (Raulff 2005, 12–13). In der begrifflichen Verengung auf den Geltungsbereich des Gemeinwesens erfuhr der Exilbrief als performative Handlung ab 1848 zunehmend eine ‚Politisierung‘, weil er den zum Exil verurteilten Verfasser*innen das ihnen entzogene politische Mitbestimmungsrecht und ihre öffentliche Stimme in der Heimat ersetzte (vgl. Nickisch 1991, 56–58). Unter diesem Aspekt der Performativität rekurriert der Exilbrief auf die Verbindungslinie, die einerseits zwischen der Herausbildung eines übergreifenden Exilbegriffs und der Genealogie eines Staates mit seinen rechtlichen Institutionen (vgl. Kettler 2011, 64), andererseits zwischen diesen staatlichen Entwicklungsprozessen und der Ausprägung der dem Subjekt eigenen, sich selbst konstituierenden Praktiken beschrieben wird (vgl. Foucault 1982). Das Grundmotiv, das Streben danach, die Distanz aufzuheben, ist dem soziologischen Erfahrungszustand ‚Exil‘ und dem Kommunikationsmedium ‚Brief‘ phänomenologisch gemeinsam (vgl. Evelein 2011, 21). Es steigert sich im Schreibakt des Exilbriefs zu einem Akt der Selbstkonstituierung in Anlehnung an Mattenklotts moralische Bestimmung und Foucaults Subjekttheorie und lässt sich über den Kontext des politischen Exils hinaus als Strategie der Selbsterhaltung fassen. Eine tragfähige Analyse dieser dem Exilbrief inhärenten Ersatzfunktionen als Strategie der Selbstverortung leistet eine handlungstheoretische Perspektive, die sowohl das dynamische Konzept des Exils als auch die Multifunktionalität des Mediums ‚Brief‘ berücksichtigt.

2 Systematische und historische Aspekte Das Fehlen einer systematischen, universal gültigen Definition des historischen wie gesellschaftlich-politischen Phänomens ‚Exil‘ in den einschlägigen Lexika und Exilhandbüchern bedingt den in zweifacher Hinsicht undeterminierten Gebrauch des Terminus ‚Exilbrief‘. Einen Ansatz, diese Lücke zu füllen, unternimmt Theo Stammen (2008) in seinem Aufsatz „Exil und Emigration als univer-

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 3 Briefgenres

salhistorisches Problem“. Zum einen hängt die Zuschreibung des Exils beim Brief davon ab, ob er als kommunikatives Ereignis grundmotivisch auf ein ‚geistiges Exil‘ referiert und eine exilspezifische Thematik und das dazugehörige Vokabular aufweist, oder ob er als Objekt faktisch durch den geographischen Entstehungsort ‚Exil‘ und materiell durch den Exilzustand definiert wird. Zum anderen korrelieren diese Zuschreibungsmechanismen mit den systematischen Ansätzen und kontextbezogenen Kategorisierungen der Textsorte ‚Brief‘ nach den unterschiedlichen Aspekten wie Literarizität und Fiktionalität, Materialität und Mediologie, Grad der Formalisierung und Dokumentcharakter sowie Diskursivität und Performativität. Wie die Tendenz des Privatbriefs, nach ethisch-politischen Maßgaben einer Exilgemeinschaft die an eine relative Redefreiheit gebundenen Funktionen des Offenen Briefs zu übernehmen, bei Heinrich Mann zeigt, verlässt ein Aktenschriftstück gleichermaßen den gesicherten Bereich einer institutionellen Geschäftskorrespondenz und findet Eingang in die persönliche Briefsammlung. Das belegen die in den Nachlässen etlicher Intellektueller des 19. und 20. Jahrhunderts persönlich gefärbten Verkehrsschriftstücke, u.  a. von Thomas Mann, Hermann Kesten und Hans Sahl, die unter den Bedingungen einer unsicheren Asylrechtslage und des allgemein episodischen Daseins der Hilfsorganisationen gleichermaßen als Freunde und Amtsträger im Namen der American Guild for German Cultural Freedom bzw. des Emergency Rescue Committee Briefe schrieben (vgl. u.  a. Berthold et al. 1993; Schlawin 2001, 12–14). Der „Grad der Organisiertheit“ der Institutionen sowie das mit der Amtsfunktion verbundene Motiv, die Irmtraut Schmid für eine wissenschaftlich unverzerrte Bestimmung des Briefs ex negativo anführt (Schmid 1988, 4), lassen sich hier als Unterscheidungsgrundlage nur eingeschränkt aufrechthalten. Ebenso schwierig gestaltet sich die Abgrenzung zum literarischen Werk, insbesondere seitdem Said, Vilém Flusser und Ilja Trojanow die Kategorie der Kreativität auf die Grenzüberschreitung zuspitzten und damit die Diskurse Exil und Migration neu belebten (vgl. Said 2002; Flusser 1994, 105; Trojanow 2011; vgl. Schreckenberger 2005). Das schon in den 1950er Jahren von Emile Cioran (1986, 65–66) angeführte kreative Moment des Exils als „école de vertige“ schlägt sich umso mehr in den Briefen nieder, als es vielen der exilierten Intellektuellen an Publikationsmöglichkeiten und öffentlicher Rückmeldung mangelt. Stattdessen sehen sie sich gezwungen, ihre literarischen Werke durch Rundschreiben zu verbreiten, Rezensionen in den Privatbrief an Kolleg*innen zu verlagern und die für diese Gattung typische formale Freiheit auszuschöpfen. Symptomatisch hierfür sind die häufigen Verweise auf beigelegte Manuskripte, Abschriften oder in den Brieftext eingefügte Verse. Eine Beurteilung dieser Briefe aus der konkreten sprachlich-stilistischen Perspektive gibt Frank Wende in seiner kurzen syn-

3.22 Exilbrief im 19. bis 21. Jahrhundert 

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chronen Querschnittsanalyse Briefe im Exil. Während er ihre charakteristische Ausprägung in erster Linie auf ihren exilspezifischen Inhalt zurückführt und Diskontinuitäten innerhalb des persönlichen Schreibstils verneint (vgl. Wende 1996, 172–173), bezeichnet Albrecht Goes sie als „nüchtern und karg, Briefe des Hungers, der Not, der Schicksalsfracht“, und erhebt die existentielle Kategorie zum ästhetischen Kriterium (Goes 1952, 64). Diese unterschiedlichen Aussagen rechtfertigen nicht nur die wissenschaftliche Diskussion um eine mögliche, für das Exil ab 1933 signifikante Diskrepanz zwischen einer im engeren Sinn eher konventionellen Exilliteratur und einer stilistisch unkonventionellen Exilbriefkultur (vgl. Hussong 1998; Evelein 2011, 29); sie verdeutlichen allgemein die Notwendigkeit, auch den Exilbrief als Narrativ zu begreifen und nach dem Prinzip der Autorschaft zwischen Figurationen eines biographischen Exilsubjekts und eines poetischen Ichs zu unterscheiden (vgl. Strobel 2006). Den Exilbriefen aus dem Kreis der Literat*innen und Intellektuellen und denen aus öffentlich weniger exponierten Kontexten thematisch gemein ist die Reaktion auf die organisatorischen Herausforderungen des Exilalltags: Themenfelder wie Pass- und Visumschwierigkeiten, Fluchtwege, Verbleib von Dritten usw. sind ubiquitär. Das Nebeneinander von materiell-praktischen Motiven und ideellen, subjektkonstitutiven Beweggründen bedingt in der gemeinsamen Zuspitzung auf das Existentielle eine gleichermaßen dialogische, auf Informationsaustausch ausgerichtete wie auch eine monologisch-reflexive Struktur des Exilbriefs (Evelein rückt in dem Zusammenhang den monologischen Aspekt u.  a. in die Nähe der Epistulae ex Ponto Ovids, vgl. Evelein 2011, 21). Die von Goes konstatierte eigenwillige Ästhetik der Gebrauchsbriefe im Exil lässt sich schließlich auf die oszillierende Durchdringung des monologischen und dialogischen Aspekts zurückführen, weil die fortwährende Assoziation des Wahrgenommenen mit der persönlichen Exilsituation an die Stelle der verlorenen Stabilität der früheren Lebensgewohnheiten tritt. Bereits ein stereotyper Gesprächstopos wie die Wetterlage verliert seine Bedeutung als ungezwungene Gesprächsanknüpfung und dient im Rückgriff auf das Jakobson’sche Kommunikationsmodell der expressiven Funktion, indem er im geteilten Erfahrungshorizont der Entfremdung entweder unwillkürlich eine metaphorische Interpretation oder einen absurden Eindruck evoziert. Aber auch allgemein briefspezifischere Themen wie der Empfang einer Nachricht und das explizite Anknüpfen an die vorausgegangene Kommunikation als indirekte Rückkopplung und Rückversicherung des dialogischen Gegenparts werden unter den prekären Kommunikationsbedingungen des Exils nicht nur von der gesprächserhaltenden phatischen, sondern maßgeblich von der selbsterhaltenden expressiven Funktion des schreibenden Subjekts bestimmt.

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 3 Briefgenres

Neben der thematischen Determinante lässt sich als gemeinsamer Nenner für den Exilbrief schließlich festhalten, dass sich der spezifische Ausdruck existentieller Not und Verzweiflung auf der formal-sprachlichen und stilistischen, der handlungspragmatischen und der materiellen Ebene manifestieren kann: in der in Zensur, Portokosten, Dringlichkeit oder Akkulturation begründeten sprachlichen Kodierung (z.  B. Metaphern, Fremdsprache, Abkürzungen, sprachliche Interferenzen usw.), in der Unmittelbarkeit des emotionalen Ausdrucks als Ergebnis einer performativen Handlung (Konstruktion von Authentizität, Selbstreflexion, Erinnerungsstruktur usw.) oder in der besonderen äußeren Gestalt (z.  B. Altpapier, dünnes Luftpostpapier, platzsparendes Schriftbild usw.). Der in der Exilforschung omnipräsent diskutierte Konnex zwischen Exil und Sprache gründet insbesondere auf der Notwendigkeit des exilierten Subjekts, sich nach dem gewaltsamen Bruch mit dem angestammten kulturellen Bezugssystem durch Sprache identitäre Zugehörigkeiten zu (re)konstruieren (vgl. Krohn et al. 2014). In diesem identitätsstiftenden Sinn wird das Briefeschreiben im Exil zum stabilisierenden Faktor. Das daraus resultierende Streben nach einer Sprache, in der sich das Exildasein unmittelbar ausdrückt, kontrastiert indessen mit einer mitunter gleichzeitig bewusst eingesetzten, sprachlichen Verfremdung, die der Zensur geschuldet ist. Wenn Heine in einem Brief aus dem Pariser Exil der deutschen Sprache den Vorzug gibt, „die doch immer traulicher, wenigstens ehrlicher klingt als das beste Französisch“ (Heine 1970, 248), lässt sich das als mangelnde sprachliche Akkulturation oder auch als idealisierende Aufwertung der verlorenen Sprachheimat deuten. In Heines überspitzter Bemerkung kommt aber gleichzeitig die für ihn charakteristische ambivalente Haltung zum Ausdruck, die sich wie in seinem Fall als kreatives Potential der Exilerfahrung in der literarischen Produktivität und der poetischen Sprache niederschlagen kann (vgl. Kortstadt 1974). Im Unterschied zu Heine und der Mehrheit der exilierten Schriftsteller*innen, die ihre literarischen Werke auch im Exil fast ausschließlich in deutscher Sprache verfassten, beschränkte sich die Anwendung der Herkunftssprache bei Exilanten wie Klaus Mann schließlich allein auf die briefliche Kommunikation (vgl. Utsch 2007, 107). Sprachwechsel und -vermischungen sowie sprachliche Interferenzen kommen jedoch sowohl in Exilbriefen aus literarisch-geschulteren als auch in denen aus Nicht-Literaten-Kreisen vor und werden häufig als Indizien herangezogen, um den individuellen Grad der sprachlichen Adaption und der Akkulturation zu bestimmen (vgl. z.  B. Andringa 2014, 26–27; Sperber 2013, 495–496; Roy 2011, 166). Das breite Spektrum sprachlicher Variation, die als individuelle Reaktion auf den erzwungenen Sprachkontakt in den Briefen sichtbar wird (z.  B. multilingual bei Hilde Domin, vgl. Domin 2009 [1952], 236–241; ironisiert bei Ernst Toch, vgl. Toch 1939), verdeutlicht allerdings die Notwendigkeit und das Desiderat der neueren

3.22 Exilbrief im 19. bis 21. Jahrhundert 

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transnationalsprachlich orientierten Exilforschung, diese Phänomene differenziert und im plurikulturellen Kontext des jeweiligen Exilverlaufs zu betrachten (vgl. Lamping 1995, 539–540; Spies 1996, 11–30; Bischoff et al. 2014). Unter besonderer Berücksichtigung der Exilbriefe von Kindern an zurückgelassene Eltern können sprachliche Interferenzen darüber hinaus in besonderer Verbindung zum Aspekt der Medialität stehen, wenn die laut- und schriftsprachliche Leere mit selbstgemalten Bildern und Bildzeichen gefüllt wird (vgl. die Kinderbriefe Thomas Häfners, Häfner 1939). Allgemein gewinnen Medialität und Materialität des Briefs, denen angesichts der vorherrschenden digitalen Kommunikationsformen ein verstärktes Forschungsinteresse entgegengebracht wird (vgl. v.  a. Bohnenkamp und Wiet­ hölter 2008; Lukas 2010), im Exil umso mehr an Bedeutung, als die Ressourcen knapp sind, der Postweg unzuverlässig und der Briefschreiber gefährdet ist. Der von Flucht und Entbehrung geprägte Produktions- und Übermittlungsprozess manifestiert sich beim Exilbrief nicht selten materiell in seiner äußeren Gestalt: Beschädigte Briefe, unruhiges Schriftbild, wiederverwendetes Papier oder hochwertiges Hotelbriefpapier geben als para- und nonverbale Zeichen insbesondere dann Zeugnis vom Exilzustand des Schreibers bzw. der Schreiberin, wenn sie von den physisch-materiellen Merkmalen seiner üblichen individuellen Schreibgewohnheiten abweichen (vgl. Lukas 2010, 52). Insofern kommt gerade auch der materialen Dimension des Exilbriefs eine authentische Vermittlungsfunktion zu. Unter der Prämisse, dass im Sinn einer ästhetischen Medientheorie eine mit der Transkription einhergehende typographische und gestalterische Normierung immer auf Kosten seines Informationsgehalts geht, ist das Leitmotiv „Auch die Briefe waren im Exil“ (Kesten 1964, 13), das Hermann Kesten seiner 1964 erschienenen, seinerzeit einzigartigen Exilbriefsammlung Deutsche Literatur im Exil voranstellt, irreführend. Die Personifizierung der Briefe, die „die absurden Schicksale“ (Kesten 1964, 13) ihrer Verfasser*innen teilen, bezieht der zurückgekehrte Exilant Kesten rein medial auf die Stellvertreterfunktion des Briefs und stellt seine Anthologie unter starker Vernachlässigung editorischer Hinweise zu Gestalt und sprachlicher Kodierung des Originaltextes unzweifelhaft in den Dienst einer seinerzeit noch dezidiert literaturwissenschaftlich orientierten Exilforschung. Für die Exilbriefe des frühen 21. Jahrhunderts ist der Aspekt der Materialität umso höher einzuschätzen, als der analoge Brief im privaten Bereich beinahe vollständig von den digitalen schriftlichen Kommunikationsformen Messenger und Chat abgelöst wurde, die einen nahezu synchronen und simultanen Austausch ermöglichen. Trotz der noch dürftigen Quellenlage deutet die Verbreitung des Smartphones in den Exilkontexten der jüngeren Vergangenheit auf ein Nischendasein des Exilbriefs im engeren Sinn hin. Indem einerseits die mobilen audio-

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 3 Briefgenres

visuellen digitalen Medien die rein schriftliche Kommunikation weitreichend ersetzen, andererseits der Einsatz rechtskräftiger qualifizierter elektronischer Signaturen nach wie vor mit großem organisatorischem Aufwand verbunden ist, bleibt der klassische Papierbrief im Exil weitgehend dem Bereich des amtlichen Schriftverkehrs vorbehalten.

3 Bisherige Forschung und Perspektiven Unter dem nachwirkenden Eindruck des bis dato nicht dagewesenen Exodus im 20. Jahrhundert, der alle sozialen Milieus betrifft, erfahren Exilbriefe in der hauptsächlich von Hans-Albert Walter angestoßenen westdeutschen Exilliteraturforschung eine vergleichsweise herausragende erinnerungskulturelle Aufwertung als „Zeitzeugen par excellence“ (Stern 2004, 8), „Dokumente und Mahnrufe“, „Vermächtnis“ usw. (Klapdor 2007, 14). Steht die Exilbriefforschung bis Ende der 1960er Jahre noch unter dem Dach der Exilliteraturforschung, die sich „aus guten Gründen zunächst einmal der ‚Botschaft‘ des Exils verpflichtet fühlte“ (Loewy 1993, 23), wendet sie sich seit dem Paradigmenwechsel in den 1980er Jahren verstärkt dem „Exil der kleinen Leute“ (vgl. Benz 1991) und ihren Exilbriefzeugnissen zu. Hierfür stehen im deutschsprachigen Raum der gleichnamige Sammelband von Wolfgang Benz (1991) und die detaillierte Einzelstudie zur Korrespondenz einer jüdischen Familie von Oliver Doetzer (2002). Mit der Fokusverschiebung auf Transkulturationsprozesse Ende der 1990er Jahre wurde das monolithische nationalstaatliche Exilkonzept zwar durch die Konzepte Alterität, Akkulturation und Hybridität abgelöst (vgl. Bannasch und Rochus 2013; Becker 2013). Für die zukünftige Forschung regt Claus-Dieter Krohn jedoch an, die akkulturationstheoretischen Zugriffe gleichfalls einer kritischen komparatistischen Analyse zu unterziehen und „direkt aus den Zeugnissen der eigenen Untersuchungsgruppe herzuleiten“ (Krohn 2013, 38). Zum Akkulturations- und Hybriditätsansatz kommt das neue NetzwerkParadigma der Digitalen Geisteswissenschaften hinzu, die mit dem Brief auch den Exilbrief verstärkt zum Gegenstand digitaler Nachlasserschließung und Repräsentation macht. Bislang tritt er dort vor allem als Einzelphänomen innerhalb briefgenre- oder gattungsübergreifender digitaler Editionsprojekte und Sammlungen sowie virtueller Ausstellungen in Erscheinung. Entweder kommt er im Rahmen eines personenbezogenen Briefeditionsprojekts vor, in dessen Mittelpunkt die Korrespondenz einer Exilpersönlichkeit steht, z.  B. der vom Erich Mendelsohn-Archiv edierte Briefwechsel von Erich und Luise Mendelsohn 1910–1953 (vgl. Mendelsohn und Mendelsohn o.  J.) und das Heinrich-Heine-Por-

3.22 Exilbrief im 19. bis 21. Jahrhundert 

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tal des Düsseldorfer Heinrich-Heine-Instituts in Zusammenarbeit mit dem Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungsverfahren Trier (vgl. Heine o.  J.), oder als Exponat, etwa in der vom Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek koordinierten virtuellen Ausstellung Künste im Exil. Die virtuellen Darstellungsformate werden der doppelten Überbrückungsfunktion des Exilbriefs als Kommunikationsmedium und der historischen Dokumentation seines Exilzustands als Objekt gleichermaßen gerecht, als sie per se den rein konstruktiven Charakter der Zusammenführung weltweit verstreut liegender Briefe zu Briefwechseln oder Netzwerken reflektieren. Unter der Voraussetzung, dass die digitalen Erschließungs- und Editionsportale als Bereitstellungs- und Suchinstrumente konzeptionell und technologisch anschlussfähig angelegt sind, eröffnen sie auch neue Perspektiven für die Exilbrief-Forschung. Insbesondere für eine interdisziplinär und international ausgerichtete Fachwissenschaft bergen die digitalen Zugangsmöglichkeiten das Potential, auf einer umfassenden empirischen Datengrundlage systematisch sowohl allgemeine überzeitliche Determinanten des Exilbriefs herauszuarbeiten als auch exilepochentypische Differenzen aufzuzeigen. Einen ersten Versuch in diese Richtung unternahm das Kooperationsprojekt Vernetzte Korrespondenzen 2013–2016 (vgl. http://exilnetz33.de). Dazu stellen die aktuellen computergestützten Verfahren der Informationsanreicherung und -vermehrung, die in den digitalen Geisteswissenschaften unter Schlagwörtern wie Semantic Web (vgl. Wettlaufer 2016) und Crowdsourcing (vgl. Falk 2013) kursieren, ein wirksames Zusammenspiel von qualitativen und quantitativen Methoden in Aussicht. Eine komparatistische Exilbriefforschung kann dabei in methodologischer Rückbindung der Darstellung an die Quellentexte auf die Vielzahl digitaler Briefeditionsprojekte aufsetzen, ohne die Singularität und den genuin erinnerungskulturellen Wert der Briefe preiszugeben.

Zitierte Literatur Andringa, Els (2014). Deutsche Exilliteratur im niederländisch-deutschen Beziehungsgeflecht. Eine Geschichte der Kommunikation und Rezeption 1933–2013. Berlin u. Boston. Bannasch, Bettina u. Gerhild Rochus (Hg.) (2013). Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Berlin u. Boston. Becker, Sabina (2013). „Transnational, interkulturell und inter-disziplinär: Das Akkulturationsparadigma der Exilforschung. Bilanz und Ausblick“, in: Literatur und Exil. Neue Perspektiven. Hg. v. Doerte Bischoff u. Susanne Komfort-Hein. Berlin u. Boston: 49–69. Beise, Arnd u. Jochen Strobel (Hg.) (2015). Letzte Briefe. Neue Perspektiven auf das Ende von Kommunikation. St. Ingbert. Benz, Wolfgang (Hg.) (1991). Das Exil der kleinen Leute. Alltagserfahrungen deutscher Juden in der Emigration. München.

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3.22 Exilbrief im 19. bis 21. Jahrhundert 

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3.22 Exilbrief im 19. bis 21. Jahrhundert 

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Band 2: Historische Perspektiven – Netzwerke – Zeitgenossenschaften

4 16./17. Jahrhundert

Regina Dauser

4.1 Brieftheorie der Frühen Neuzeit Briefe gehörten in der Frühen Neuzeit nicht zuletzt angesichts ihrer thematischen Offenheit zu den Textsorten, die im Grundsatz für alle Bevölkerungsschichten relevant waren. Ihre zentrale Eigenschaft, die Ermöglichung der Verständigung von räumlich getrennten Kommunikationspartnern, machte die Verwendung von Briefen unverzichtbar, ob diktiert oder eigenhändig geschrieben – vom (schreibunkundigen oder im Schreiben wenig geübten) Bauern, der mit Unterstützung eines Schreibers einen Bittbrief an seinen Herrn entwarf, bis zum Gelehrten, der mit einem Kollegen wissenschaftliche Erkenntnisse zu diskutieren gedachte. Dieser Vielfalt von Kommunikationspartnern und -anlässen korrespondiert eine ausdifferenzierte Landschaft an zeitgenössischen Ratgebern zur Abfassung von Briefen, die verschiedene Aspekte brieftheoretischer Reflexion spiegeln. Die im Folgenden zur Erläuterung herangezogenen Beispiele werden nicht ausschließlich, jedoch zum größten Teil brieftheoretische Äußerungen deutschsprachiger Autoren repräsentieren, um einerseits einen kompakten Überblick zu ermöglichen, andererseits jedoch auch die Kontexte, die zur Veränderung brieftheoretischer Auffassungen vom späten 15. bis ins 18. Jahrhundert führten, möglichst anschaulich vorstellen zu können.

1 Die ‚Mehrgleisigkeit‘ frühneuzeitlicher Brieftheorie Bereits im 16.  Jahrhundert war der Brief zu einer Gattung geworden, dessen theoretische Ausrichtung von sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Intentionen und Interessen geprägt wurde. Zwar war der Einfluss von Kanzlisten und Sekretären, die den spätmittelalterlichen Prozess der Entwicklung pragmatischer Schriftlichkeit in der obrigkeitlichen Administration maßgeblich getragen hatten, in zahlreichen gattungstheoretischen Erläuterungen der Zeitgenossen – insbesondere, wenn die Kontaktaufnahme mit der obrigkeitlichen Verwaltung Zweck eines Briefes sein sollte – nach wie vor deutlich abzulesen. Doch schon im 15. Jahrhundert gewann der Privatbrief in der Gattungsreflexion der Zeitgenossen einen immer größeren Stellenwert, getragen durch die humanistische Bewegung, die mit der antiken Literatur auch die Briefkultur der römischen Antike verehrte. Neben den Humanisten waren es die Kaufleute, die mit dem Aufstieg des Fernhandels und der Etablierung von europaweiten ökonomischen Netzwerken auch https://doi.org/10.1515/9783110376531-048

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 4 16./17. Jahrhundert

dem Briefverkehr einen gewaltigen Schub verliehen. Mit ihren kaufmännischen Erfordernissen prägten sie ebenfalls die Briefkultur, war doch ohne briefliche Fernkommunikation über Handelstransaktionen und Nachrichten die Aufrechterhaltung ausgedehnter Geschäftskontakte zu einer Vielzahl von Geschäftspartnern bzw. Niederlassungen gar nicht möglich. Entsprechend den unterschiedlichen Nutzergruppen sind also häufig mehrere ‚Stränge‘ frühneuzeitlicher Brieftheorie parallel zu betrachten. In bestimmten Kontexten, für spezifische Gruppen von Schreibern oder Schreibanlässen, konnten sich diese Stränge zeitweise verbinden oder verschränken, so dass Brieftheorie auch stets historische gesellschaftliche bzw. soziale Konstellationen spiegelt.

2 Ars dictaminis und Brieftheorie(n) des 16. Jahrhunderts Die Lehre des Schreibens von Briefen war im Mittelalter als eigene Disziplin entwickelt worden, herausgelöst aus der antiken Rhetoriklehre, wenn auch von ihr weiter profitierend (vgl. Worstbrock 1981; Krautter 1982). Entworfen war diese Brieflehre für den amtlichen Schriftverkehr, fand jedoch auch Eingang in die Lehre vom rechten Schreiben des Privatbriefes. Zwar war ein fünfteiliges Schema des Briefaufbaus entwickelt worden (salutatio – captatio benevolentiae – narratio – petitio – conclusio), angelehnt an die dispositio der antiken Redekunst, doch schon die spätmittelalterliche Brieflehre betonte das Erfordernis der Anpassung dieses Schemas an den jeweiligen Gegenstand (vgl. Worstbrock 1981). An der faktisch dennoch empfohlenen fünfteiligen Disposition des Briefes setzte die Kritik der Humanisten an  – die Gattung sollte mit einer neuen, verstärkten Orientierung auf die vielfältigen Anlässe des (privaten) Briefeschreibens, auf die Intentionen der Verfasser, erneuert werden, wenn auch nicht im Sinne einer Form- oder Regellosigkeit. Der epistolographische Topos vom Gesprächscharakter des Briefes, zurückgehend auf die antike Brief-Definition des Artemon als eines „halbierten Dialogs“, wurde von den Humanisten besonders herausgestellt (vgl. Thraede 1970, 17). Im Zentrum der humanistischen Erneuerung der Briefkultur sollte die kreative, nicht rein imitierende Auseinandersetzung mit antiken Vorbildern stehen, allen voran mit den Briefen Ciceros, aber auch denen Plinius’ d. J. sowie Polizians. Teile ihres brieflichen Nachlasses waren erst im 14. und 15.  Jahrhundert entdeckt worden, sie wurden nun zu wesentlichen Anregern für die humanistische Auseinandersetzung mit dem Brief als Gattung.

4.1 Brieftheorie der Frühen Neuzeit 

 667

Die wohl bekanntesten brieftheoretischen Ausführungen des europäischen Humanismus stammen von Erasmus von Rotterdam (um 1466–1536), der mit seinem Werk De conscribendis epistolis (1980 [1522]) die Inspiration durch antike Vorbilder vorführte, deren Ungezwungenheit und Schlichtheit bei gleichzeitig subtiler, eloquenter und keineswegs formelhaft wirkender Argumentationsführung, angepasst dem Briefanlass, von Erasmus und seinen Zeitgenossen gerühmt wurde. Keiner der humanistischen Brief-Experten des 16. und frühen 17.  Jahrhunderts, so etwa Juan Luis Vives oder Justus Lipsius, sollten mit ihren brieftheoretischen Werken eine vergleichbare Rezeption erreichen. An den Briefgattungen, die Erasmus erläuterte, lässt sich unschwer erkennen, dass der behördlich-administrative Schriftverkehr für die Humanisten keine ernstzunehmende Referenz darstellte, doch das Spektrum war gleichwohl breit. So behandelte Erasmus auch Privatbriefe wie den Liebesbrief oder den Scherzbrief sowie die im frühneuzeitlichen Patronagewesen so wichtigen Bitt- und Empfehlungsschreiben (vgl. Worstbrock 1981). In der deutschen volkssprachlichen Brieflehre dagegen wurde für gewöhnlich am Schema des fünfgliedrigen Aufbaus festgehalten – sie sollte auch kein Wegweiser für die Gelehrten der europäischen res publica litteraria sein, sondern praxisnahes Lehrbuch und Leitfaden für einen breiten Adressatenkreis bürgerlicher und unterbürgerlicher Schichten, insbesondere in der behördlichen Kommunikation bzw. Kommunikation mit der Obrigkeit. Ein festes Aufbauschema, ein Arsenal an sprachlichen Formeln und Versatzstücken, versprach in diesen Handbüchern auch dem rhetorisch Nicht-Versierten Halt und die Vermeidung zeremonieller Fallstricke (vgl. Nickisch 1969). Allein schon durch eine fehlerhaft gestaltete Anrede des Adressaten drohten in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit die Absichten des Briefeschreibers völlig unbeabsichtigt in ihr Gegenteil verkehrt zu werden, wenn sich der Angesprochene nicht seinem gesellschaftlichen Status entsprechend geehrt und damit auch sozial respektiert fühlte: „ein jder so mit seinem schreiben odder reden ungelimpff verhueten will/ auff gebürliche titel/ nicht klein [wenig, R.D.] acht geben muß“ (Frangk 1979 [1531], A2v). Umfängliche Übersichten zur korrekten Anrede von Vertretern jedweden Standes, fein nach ständischen Untergliederungen ausdifferenziert, waren daher wichtiger Bestandteil volkssprachlicher Brieflehren – soziale Angemessenheit rangierte vor eloquenter Brillanz. Routinierte, gebildete zeitgenössische Briefeschreiber suchten sich freilich auch in der Volkssprache ihren Weg: In zahllosen, nicht selten edierten bzw. mittlerweile wissenschaftlich erschlossenen brieflichen Nachlässen finden sich Belege für den recht freien, pragmatischen Umgang mit dem fünfgliedrigen Aufbauschema; meist wurde ein situativ angepasster, schlichter Aufbau, leere Formeln so weit als möglich vermeidend, mit den gesellschaftlichen Erfordernis-

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 4 16./17. Jahrhundert

sen der angemessenen Titulierung und Ehrung des Briefpartners geschickt kombiniert (vgl. Nickisch 1991; Metzler 1987; Dauser 2008). Die von den deutschen Brieflehren unermüdlich wiederholten, wenn auch in den Briefexempeln nicht gerade überzeugend umgesetzten Ideale der Schlichtheit und Natürlichkeit des Ausdrucks fanden so in der Praxis weit häufiger ihren Niederschlag, als es die brieftheoretische Anleitung dokumentierte.

3 Der ‚galante Brief‘ als neues Ideal des 17. Jahrhunderts Doch war es gerade nicht die Tendenz des flexibel dem Briefanlass angepassten, rhetorische Formelhaftigkeiten vermeidenden Schreibens, die sich im Laufe des 17.  Jahrhunderts durchsetzte. Vielmehr waren es Ideale des höfischen Konversationsstils, die, in der Gewandtheit und Galanterie des Hofmanns vermeintlich in idealer Weise verkörpert, vermehrt als vorbildlich wahrgenommen wurden. Der Kunstfertigkeit, um nicht zu sagen Künstlichkeit des Ausdrucks wurde ein hoher Stellenwert zugeschrieben, orientiert an Mustern der ‚Komplimentierkunst‘ bei Hofe, die darauf ausgerichtet war, zu gefallen, sich einem Gegenüber im bestmöglichen Licht zu präsentieren – und die man auch im Brief nachzuahmen versuchte. Zugleich gewann, gerade auch im amtlichen Briefverkehr, mit Vorbildwirkung für die bürgerliche Korrespondenz, der französischsprachige Brief etwa um die Mitte des 17. Jahrhunderts deutlich an Boden, parallel zu der kulturellen Führungsrolle Frankreichs im damaligen Europa – zumindest ein gehäufter Gebrauch von Fremdwörtern, bisweilen in ein etwas krudes deutsch-französisches Gemisch mündend, war in deutschsprachigen Briefen ein Zugeständnis an den vorherrschenden Zeitgeschmack (vgl. Nickisch 1991). Zweifellos gab es auch hierzu entschiedene Gegenbewegungen – nicht nur in der alltäglichen epistolaren Praxis der Zeitgenossen, in der sich nicht allein die Schreiber von kaufmännischen Briefen aus pragmatischen Erwägungen nur wenig ‚modebewusst‘ zeigten, sondern auch durch Verfasser*innen von Privatbriefen wie Liselotte von der Pfalz, Ehefrau des Bruders Ludwigs XIV., die sich aufgrund ihres gesellschaftlichen Status in interner Korrespondenz keinen wie auch immer gearteten formalen Erfordernissen beugen mussten. Entschiedene Verfechter des ausschließlich deutschen Briefes waren nicht selten zugleich Mitglieder der eine deutsche Literatursprache propagierenden Sprachgesellschaften, wie Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) oder Kaspar Stieler (1632–1707). Harsdörffer legte mit dem Teutschen Secretarius bereits 1656 ein Briefhandbuch vor, das der zeitgenössischen Tendenz zur Einflechtung von „complimenten“ zwar

4.1 Brieftheorie der Frühen Neuzeit 

 669

gebührenden Stellenwert einzuräumen suchte; auf fremdsprachige, meist übertrieben künstlich wirkende Stilisierung verzichtete Harsdörffer dagegen bewusst und suchte – in Abgrenzung von der mündlichen Komplimentierkunst bei Hofe – die sprachliche Zurichtung, und das hieß auch: Kürze und Klarheit des Briefes in den Vordergrund zu rücken. Briefhandbücher – der Begriff des ‚Briefstellers‘ für diese Ratgeberliteratur etablierte sich just durch ein entsprechend tituliertes Handbuch August Bohses (Der allzeitfertige Briefsteller, 1692) – riefen pflichtschuldigst Klarheit und Kürze als epistolographische Topoi wieder und wieder auf, verfielen in ihren Beispielsammlungen aber dann doch wieder vielfach der umständlich-gespreizten kurialamtlichen bzw. galanten Ausdrucksweise (vgl. Kiegler-Griensteidl 2015; Vellusig 2011). Der Klarheit des Aufbaus verpflichtet war auch die vereinfachte Gliederung, die besonders wirkmächtig Christian Weise (1642–1708) propagierte. Zwar wurde im Gefolge Weises nun ein ‚nurmehr‘ dreigliedriger Aufbau, nach Weise (Curiöse Gedancken von deutschen Brieffen, 1691) als dreigliedrige „Chrie“ bezeichnet, als Muster der Zweckgerichtetheit und Klarheit gepriesen. Die klare Gliederung Weises in eine den Brief eröffnende These (antecedens), deren Beweisführung (connexio) und einen Schluss (consequens) brach zwar die bis dahin favorisierte Fünfgliedrigkeit auf, bewahrte jedoch nicht vor einer mitunter recht schematischen Anwendung. Nicht nur deswegen, sondern weil Weises Konzept im Grundsatz nicht geeignet war, „die Person als Person […] zur Sprache komm[en zu lassen]“ (Vellusig 2011, 162), wurde es im Laufe des 18. Jahrhunderts Gegenstand mitunter heftiger Kritik.

4 Alles ‚Natur‘? Brieftheorie und Literarisierung der Gattung in der Zeit der Aufklärung Das 18. Jahrhundert wird häufig als ‚Jahrhundert des Briefes‘ beschrieben – zu beziehen ist diese literaturwissenschaftliche Kategorisierung in erster Linie auf den Privatbrief außerhalb des geschäftlich-kaufmännischen Spektrums, nicht auf den amtlichen Brief, den z.  B. noch Weise mit seinen brieftheoretischen Äußerungen im Auge hatte. Im Bereich des Privatbriefes wurde der galante Brief zusehends als künstliche, überlebte Mode empfunden. Er sollte einen neuen, ‚natürlichen‘ Duktus erhalten  – und erlangte nun als Medium des persönlich-intimen Austauschs, als Paradeform der sprachlichen Selbststilisierung, eine im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrhunderten ungekannte Bedeutung. Dies hat nicht vorrangig damit zu tun, dass sich infrastrukturelle Gegebenheiten für den Brieftransport (regelmäßige Postdienste, Porto-Preise) weiter ver-

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 4 16./17. Jahrhundert

besserten; das Verfassen und (Vor-)Lesen von Privatbriefen wurde vielmehr Teil der „Kultivierung geselligen Betragens“ (Vellusig 2000, 9), die untrennbar mit der sozialen Praxis der Aufklärungsbewegung verbunden ist. Robert Vellusig ordnet die Briefkultur des 18. Jahrhunderts deshalb pointiert unter die „große[n] Suchtund Wutkrankheiten“ der frühneuzeitlichen Mediengeschichte ein (zeitgenössisch bezeichnet als „Zeitungssucht“, „Lesesucht“ und „Briefwut“, nach Vellusig 2000, 7–9). Im 18. Jahrhundert wurden Briefe nun auch recht eigentlich zu einer Gattung, in der sich auch Frauen – sehr viel stärker als in anderen Gattungen – als Verfasserinnen hervortun konnten, gerade im kulturellen Kontext des geselligen Austauschs bürgerlicher Bildungseliten. Von der literarischen Strömung der Empfindsamkeit maßgeblich beeinflusst, sollte der private Brief unmittelbaren Einblick in echte, unverfälschte Regungen geben (vgl. Reinlein 2003). ‚Natürlichkeit‘ stellte eines der wohl zentralen Schlagworte der Brieftheorie um die Mitte des 18. Jahrhunderts dar. Gleichwohl, dies zeigt etwa die zeitgenössisch breit rezipierte Brieflehre Christian Fürchtegott Gellerts (Gedanken von einem guten deutschen Brief, 1742; Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, 1751), ging damit nach wie vor ein hoher gestalterischer Anspruch einher. Mit seinem bekannten Diktum, der Brief sei eine „freie Nachahmung eines guten Gesprächs“ (Gellert 1763, 3) erteilte Gellert zwar starren Briefschemata wie der dreigliedrigen Chrie Weises und floskelhaften, hölzernen Wendungen eine Absage. Er brachte durch seine Empfehlungen und Musterbriefe jedoch ein ganzes Arsenal an darstellerischen Strategien bzw. rhetorischen Figuren in Anschlag, um dem Ideal einer lebhaften, der Gesprächssituation möglichst stark angenäherten Ansprache des Adressaten, für gewöhnlich einer engen Bezugsperson des Briefeschreibers, nahezukommen (vgl. Anton 1995; Arto-Haumacher 1996; Staffehl 2011). Ausnahmen  – wie das Briefwerk Lessings, der sich auch in theoretischen Reflexionen gegen briefliche Repräsentationen intimer Selbstentblößung stemmte – bestätigten hier eher die Regel (vgl. Vellusig 2000, 108–125). Mit dem Stellenwert des Briefes für das zeitgenössische Ideal geselliger Kommunikationspraxis korrespondiert nicht nur eine für die Geschichte des Mediums Brief im 18. Jahrhundert kennzeichnende „Ästhetisierung des kommunikativen Alltags“ (Vellusig 2011, 163), sondern auch eine verstärkte Literarisierung für den deutschen Sprachraum  – im Vergleich zu England und Frankreich jedoch verhältnismäßig spät. Freilich lieferten französische und englische Briefeschreiber*innen gewichtige Beispiele, die als Anregungen genutzt werden konnten. Literarisierung meint hier eine Bewegung, die  – durchaus auch angeregt vom Vorbild des humanistischen lateinischen Briefes (vgl. Seidel 2004) – nun nicht nur auf die Volkssprache ausgedehnt wurde, sondern auch auf einen ungleich größeren Kreis von Autor*innen wie auch Rezipient*innen. Für einen bestimmten

4.1 Brieftheorie der Frühen Neuzeit 

 671

Kommunikationsanlass in einem freundschaftlichen Verhältnis eingerichtete, an reale, persönlich benannte Briefadressat*innen versandte Schreiben wurden über den unmittelbaren Briefzweck hinaus in Lesungen für ausgewähltes Publikum, so auch im Rahmen aufgeklärter Salonkultur, zugänglich gemacht und schließlich in nicht wenigen Fällen auf dem Buchmarkt publiziert. Die von Johann Wilhelm Ludwig Gleim 1746 veröffentlichten Freundschaftlichen Briefe machten den Anfang einer ganzen Serie publizierter Briefsammlungen, deren Empfänger und Adressaten jedoch zumeist anonymisiert wurden. Schönheit der Sprache und erbauliche Inhalte im Kontext des zeittypischen Freundschaftskultes waren die zentralen Kriterien für eine Veröffentlichung dieser als vorbildhaft angesehenen Sammlungen. Gleims Vorwort machte die brieftheoretische Programmatik – und die Wendung gegen die alten Muster des galanten Briefs – mehr als deutlich: […] wenn wir etwas beitragen, die Sprache des Herzens und der Vertraulichkeit, an statt der Sprache des Zwangs und der Schmeichelei, unter den Correspondenten unsers Vaterlandes einzuführen; wenn wir folglich unsere Absicht zu unserm gemeinschaftlichen Vergnügen erreichen; so wird uns die Gefälligkeit, womit wir unsern Briefwechsel in diesen Bogen bekannt machen, niemals gereuen (Gleim 1746, Einleitung; vgl. Pott 2012).

Dass Gleim in seiner Einleitung eine weitere Briefsammlung in Aussicht stellte, mit „Briefen unserer Freundinnen, welche beweisen sollen, wie artig witzige Mädchen schreiben“ (Gleim 1746, Einleitung), zeugt freilich von Geschlechter­ stereotypen, die „Herz“ und „Vertraulichkeit“ gerade weiblichen Briefschreiberinnen attribuierten. „Artig“ zu formulieren war unbesehen des Geschlechts ohnehin nach wie vor nur einer verhältnismäßig kleinen, gebildeten Elite zugestanden, man denke etwa an die Briefeschreiberin und Schriftstellerin Sophie von La Roche (1730–1807), die zugleich einen literarischen Salon unterhielt. Doch ohne Zweifel eröffneten sich mit der neuen Hochschätzung des empfindsamen Ausdrucks im Brief Frauen Möglichkeiten der literarischen Betätigung und Bestätigung, wie sie zumindest im deutschen Sprachraum so zuvor nicht bestanden hatten (vgl. Becker-Cantarino 2004). Nicht zuletzt von Frauen wurden nun Briefe als ein Medium genutzt, um Selbstreflexion zu betreiben, Individualität zum Ausdruck zu bringen und tradierte Rollenmuster bzw. gesellschaftliche Konventionen zu hinterfragen oder zumindest im brieflichen Rollenspiel hinter sich zu lassen – so wurde etwa die innige Beziehung zwischen Gleim und der Dichterin Anna Luise Karsch, in der brieflichen Beziehung seine Sappho, nur auf dem Papier gelebt (vgl. Pott 2012). Die unhintergehbaren Rahmenbedingungen brieflicher Kommunikation im Vergleich zur Mündlichkeit – die Abwesenheit des bzw. der Adressat*innen, der charakteristische Phasenverzug zwischen Abfassung und Lektüre (vgl. Nickisch 1991,

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 4 16./17. Jahrhundert

12), die Option der intensiven sprachlichen Stilisierung – verliehen dem neuen Ausdruck von Individualität und unverstelltem, tiefem Empfinden die Möglichkeiten, die Grenzen des öffentlich Sag- und Gestaltbaren zumindest auf dem Papier zu überschreiten (vgl. Kording 2014). Auf ‚Briefsteller‘ im Sinne eines Form- und Regelgerüsts glaubte diese sehr spezifische Kommunikationsgemeinschaft daher verzichten zu können, wollte, wie etwa Karl Philipp Moritz, eine Anleitung zum Briefeschreiben (1783) auch nicht als „Briefsteller“ betitelt wissen (vgl. Vellusig 2011).

5 Stürmisch: Brief und Emphase im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Diese Linie, durch den Brief – und damit über seine ursprüngliche Mitteilungsfunktion hinaus – Selbsterkundung zu betreiben, Selbstentwürfe zu liefern und im Schreiben zu erproben, weist voraus auf die Bewegung des Sturm und Drang. Freilich zeigt sich etwa an den Briefen des jungen Johann Wolfgang von Goethe, dass nun  – in Entsprechung zu den literarischen Konzepten der Stürmer und Dränger insgesamt – noch weitere Steigerungsmöglichkeiten für die Unmittelbarkeit des Ausdrucks gesucht wurden. Auch hier konnte recht eigentlich durch den zwangsläufigen Monolog, den jedes briefliche ‚Gespräch mit einem Abwesenden‘ ermöglichte, die Selbstdarstellung des Schreibenden ins Zentrum des Briefes rücken, ohne durch Einwürfe eines anwesenden Gegenübers relativiert zu werden (vgl. Käser 1987, 122). In einer Intensivierung und „eigenwilligen Momentanisierung des Ausdrucks“ (Vellusig 2000, 129) wurden gedankliche Prozesse in ihrer Gedrängtheit, auch in ihrer Unentschiedenheit, Bruchstückhaftigkeit, stilistisch artikuliert  – beispielsweise durch knappe Satzfolgen, Exklamationen, Interjektionen  – im Brief zum Ausdruck gebracht: „Ich binn unschlüßig! Soll ich bey euch bleiben? Soll ich in die Commödie gehn? – Ich weiß nicht! Geschwind! Ich will würfeln! Ja ich habe keine Würfel! – Ich gehe! Lebt wohl!“ (Goethe 31988, 13–14: Brief Goethes an Johann Jakob Riese vom 20./21.10.1765) Dem individuellen Erleben, das im Brief dem Adressaten so nah als möglich zu bringen war, mit dem sich der Briefschreiber dem Adressaten zugleich auch so vertraut als möglich zu machen suchte, wurde somit ein noch größerer Stellenwert zuteil – sofern diese Individualität denn als sprachlich gestaltbar, als von den gesellschaftlichen Zwängen emanzipierbar, erfahren wurde. Für Heinrich von Kleist, gut 30 Jahre nach den Briefen des jungen Goethe, schien es keinen angemessenen Platz in der Gesellschaft zu geben – und so empfand er auch in seinen

4.1 Brieftheorie der Frühen Neuzeit 

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Briefen die verfügbare Sprache als nicht ausreichend, das „Unaussprechliche […] des Ich“ wurde ihm zur dominierenden Erfahrung (Kording 2014, 328). Für Kleist schienen damit die Ausdrucksmöglichkeiten des Briefes an eine Grenze gekommen – der Briefkult des 18. Jahrhunderts jedoch sollte, ungeachtet der Kleist’schen Sprachskepsis, in der Romantik des 19. Jahrhunderts erneuert werden.

Zitierte Literatur Anton, Annette C. (1995). Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart u. Weimar. Arto-Haumacher, Rafael (1996). Gellerts Briefpraxis und Brieflehre. Der Anfang einer neuen Briefkultur. Heidelberg. Becker-Cantarino, Barbara (2004). „Reliquien empfindsamer Freundschaft. Sophie La Roche, Julie Bondeli und die Schweiz“, in: Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung. Hg. v. Achim Aurnhammer, Dieter Martin u. Robert Seidel. Tübingen: 159–176. Dauser, Regina (2008). Informationskultur und Beziehungswissen. Das Korrespondenznetz Hans Fuggers (1531–1598). Tübingen. Erasmus von Rotterdam (1980 [1522]). Ausgewählte Schriften. Ausgabe in 8 Bänden, lateinisch und deutsch. Bd. 8: De conscribendis epistolis. Übersetzt, eingeleitet u. mit Anmerkungen versehen v. Kurt Smolak. Frangk, Fabian (1979 [1531]). Ein Cantzley und Titel buechlin/Darinnen gelernt wird/wie man Sendebriefe förmlich schreiben/und einem jdlichen seinen gebürlichen Titel geben sol. Orthographia Deutsch/Lernt/recht buchstäbig schreiben. Hildesheim u. New York. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig (Hg.) (1746). Freundschaftliche Briefe. Berlin u. Stralsund. Goethe, Johann Wolfgang (31988). Briefe. Hamburger Ausgabe. Bd. 1: Briefe der Jahre 1764–1786. Textkritisch durchges.  u. mit Anmerkungen vers.  v. Karl Robert Mandelkow. München. Harsdörffer, Georg Philipp (1971 [1656]). Der Teutsche Secretarius. Das ist: Allen Cantzleyen/ Studir- und Schreibstuben nutzliches/fast nothwendiges/und zum drittenmal vermehrtes Titular- und Formularbuch. Bd. 1. Hildesheim u. New York. Käser, Rudolf (1987). Die Schwierigkeit, ich zu sagen. Rhetorik der Selbstdarstellung in den Texten des „Sturm und Drang“ (Herder – Goethe – Lenz). Bern u.  a. Kiegler-Griensteidl, Monika (2015). „Freundschaftsschreiben. Musterbriefe aus deutschsprachigen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Mit einer kurzen Entwicklungsgeschichte“, in: Biblos, 64.1: 63–75. Kording, Inka (2014). „(V)Erschriebenes Ich“. Individualität in der Briefliteratur des 18. Jahrhunderts – Louise Gottsched, Anna Louisa Karsch, Heinrich von Kleist. Würzburg. Krautter, Konrad (1982). „Acsi ore ad os… Eine mittelalterliche Theorie des Briefes und ihr antiker Hintergrund“, in: Antike und Abendland, 28: 155–168. Metzler, Regine (1987). „Zur Textsorte Privatbrief in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts“, in: Untersuchungen zur Pragmatik und Semantik von Texten aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Hg. v. Rudolf Grosse. Berlin: 1–74. Nickisch, Reinhard M. G. (1969). Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie zur Briefschreiblehre (1474–1800). Göttingen.

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 4 16./17. Jahrhundert

Nickisch, Reinhard M. G. (1991). Brief. Stuttgart. Pott, Ute (2012). „Geselligkeit in Briefen. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und die gesellige Briefkultur seiner Zeit“, in: Geselligkeiten im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Überlieferung in Museen und Archiven Sachsen-Anhalts. Hg. v. Sebastian Görtz. Halle: 115–129. Reinlein, Tanja (2003). Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg. Seidel, Robert (2004). „Der empfindsame Freundschaftsbrief und die humanistische Tradition“ in: Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung. Hg. v. Achim Aurnhammer, Dieter Martin u. dems. Tübingen: 75–102. Staffehl, Ulrike (2011). „Natürlichkeitsfiktion im späten 18. Jahrhundert. Gellerts Brieflehre“, in: Textprofile stilistisch. Beiträge zur literarischen Evolution. Hg. v. Ulrich Breuer. Bielefeld: 217–234. Thraede, Klaus (1970). Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik. München. Vellusig, Robert (2000). Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien u.  a. Vellusig, Robert (2011). „Aufklärung und Briefkultur. Wie das Herz sprechen lernt, wenn es zu schreiben beginnt“, in: Das Achtzehnte Jahrhundert, 35.2: 154–171. Worstbrock, Franz Josef (1981). „Die Antikerezeption in der mittelalterlichen und der humanistischen Ars dictandi“, in: Die Rezeption der Antike. Zum Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance. Hg. v. August Buck. Hamburg: 187–207.

Ute Mennecke

4.2 Briefe Luthers 1 Luther als Briefschreiber Martin Luthers Korrespondenz knüpft an verschiedene historisch bereitgestellte Formen und Möglichkeiten des Briefschreibens an. Zum einen stellt sich sein Briefwechsel mit humanistisch gebildeten Adressaten durchaus in die Tradition humanistischen Briefschreibens, wie etwa sein an Erasmus von Rotterdam gerichteter Brief vom 28. März 1519 (vgl. WA BR 1, Nr. 163, 361–363), sprachlich-stilistisch am Humanistenbrief orientiert, zeigt, in dem er um die Freundschaft des Humanistenfürsten wirbt. (Sein zweiter Brief an denselben [vom 18. April?] 1524, vgl. WA BR 3, Nr. 729, 268–271, ist hingegen ein Dokument der inzwischen eingetretenen Entfremdung und der Enttäuschung darüber.) Auch die Praxis, Publikationen repräsentative Widmungsbriefe voranzustellen, wird von Luther ebenso wie von anderen reformatorischen Theologen übernommen. Überwiegend wird in der Praxis aber das auch von Erasmus in seiner Brieflehre De conscribendis epistolis (1522) vertretene Ideal des familiariter scribere, verbunden mit möglichst großer Freiheit gegenüber einengenden Normen, umzusetzen versucht. Zum andern fällt bei Luther eine starke seelsorgerliche Prägung des Briefwechsels auf, die eher in kirchlich-monastischer Tradition anzusiedeln ist. Besonders in der Mystik war bereits auch der deutsche Brief als Mittel religiösen Erfahrungsaustauschs, seelsorgerlicher Anleitung und als Ausdruck geistlicher Gemeinschaft, namentlich zwischen Nonne und Beichtvater, gepflegt worden (z.  B. Heinrich von Nördlingen und Margareta Ebner, Heinrich Seuse und Elisabeth Stagel). Sein spezifisches Gepräge erhält Luthers Briefschreiben jedoch formal und inhaltlich durch eine evangelisch-reformatorische Neuausrichtung. Die Überlieferung der ca. 2.600 erhaltenen Luther-Briefe beginnt mit dem Brief an Johannes Braun vom 22. April 1507, mit dem er diesen zu seiner Primiz einlädt (vgl. WA BR 1, 10, 1–11, 45 [Nr.  3]), und endet mit zwei Briefen vom 14. Februar 1546 aus Eisleben an seine Frau und an Melanchthon (vgl. WA BR 11, 301, 1–302, 16 [Nr. 4208]). Das Briefschreiben, wiewohl das ganze Leben begleitend, erhielt besonders in den (wenigen) Phasen der Abwesenheit eine besondere Bedeutung als Mittel, die Verbindung nach Wittenberg bzw. zu den Wittenberger Theologen zu halten. Hierzu gehört die Korrespondenz der Wartburgzeit (Mai 1521 bis März 1522), vor allem mit Georg Spalatin und Philipp Melanchthon, in der der Brief auch zur Klärung des eigenen Selbstverständnisses als „noch Mönch und nicht mehr Mönch“ (vgl. WA 8, 575, 28: „iam sum monachus et non monachus“) genutzt wird. Sodann fiel ihm besonders während der Coburger Zeit (16. April bis https://doi.org/10.1515/9783110376531-049

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5. Oktober 1530) die Aufgabe zu, die kursächsische Delegation auf dem Augsburger Reichstag zu betreuen und insbesondere den oft kleinmütigen Melanchthon aufzurichten. Aus den letzten, in Eisleben zur Schlichtung von Erbstreitigkeiten verbrachten Lebenswochen (23. Januar bis 18. Februar 1546) stammen die letzten zwölf Briefe, darunter sechs an seine Frau Katharina von Bora. Besonders umfangreich sind die lateinischen Korrespondenzen mit Georg Spalatin (1512–1545), Johannes Lang (1516–1545), Philipp Melanchthon (ab 1518), Nicolaus von Amsdorff (ab 1518), Wenzeslaus Link (1518–1545), Nikolaus Hausmann (ab 1521) und Justus Jonas (ab 1520); die Liste der regelmäßigen Briefpartner ließe sich verlängern. In der Korrespondenz mit ihnen erweist sich der Kreis um Luther als Arbeits- und Glaubensgemeinschaft, die auch im Fürbittengebet füreinander ihre wechselseitige Verbundenheit erweist. In vielen primär dem Informationsaustausch dienenden Briefen treten Familiennachrichten (über Schwangerschaften, Geburten, Krankheiten, Todesfälle u.a.m.) gleichberechtigt neben die die Arbeit betreffenden Informationen, und die Ehefrauen werden in den Austausch der Grüße am Briefschluss einbezogen. Gegenüber den Freunden äußert sich Luther auch über sich selbst als im Glauben Angefochtener, besonders 1527/28, und als Trauernder, besonders nach dem Tod seiner Tochter Magdalena am 20. September 1542 (vgl. WA BR 10, 146–147, 149–140). – Unter den Fürstenkorrespondenzen ragen die mit den Anhaltiner Fürsten Georg (lateinisch!), Joachim, Johann und Wolfgang und die mit den sächsischen Fürsten und Kurfürsten (ab 1518) heraus. Zu erwähnen sind auch außer ca. 44 Briefen an fürstliche und bürgerliche Frauen die 21 erhaltenen Briefe an seine Frau Katharina von Bora, ein Dokument einer von Respekt, Humor und liebevoller Zuneigung geprägten Ehe, und die Briefe an den Sohn Johannes, in denen Luther eine kindgemäße Sprache und Bildlichkeit zu verwenden sucht. Die Luther-Korrespondenz ist damit auch eine (durch die Register in WA BR 15–17 hervorragend erschlossene) hochrangige, im Lauf der Jahre zunehmend reichhaltig fließende Quelle für Luthers Biographie und für die Reformationsgeschichte. Das Deutsche steht gleichberechtigt, etwa in den Briefen an die meisten Fürsten und Laien, neben dem Lateinischen der Gelehrtenkorrespondenz mit Freunden und Kollegen. Das Briefschreiben dürfte täglich mehrere Stunden in Anspruch genommen haben. Luther schrieb meist mit eigener Hand, wie gelegentlich extra vermerkt (vgl. den Kondolenzbrief an Thomas Zink vom 22.4.1532, WA BR 6, 302, 41–42 [Nr. 1930] „mit eigener Hand, wiewohl itzt auch schwach“). Er ging mit seiner Korrespondenz sorglos um; bis auf wenige Ausnahmen, meist Briefe fürstlicher Personen, bewahrte er sie nicht auf und fertigte wohl nur in besonderen Fällen Kopien (vgl. WA 51, 540, 18–19 den Hinweis: „Den selben brieff kann ich noch aufflegen“, bezogen auf seinen Brief an Albrecht von Mainz vom 31.10.1517). Darin zeigt sich Luthers Distanz zum humanistischen Brief-

4.2 Briefe Luthers 

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kult. Gleichwohl nahm er das Briefschreiben selbst sehr ernst und war sich der hohen Verantwortung bewusst, die der Briefschreiber gegenüber dem Adressaten in einer spezifischen Situation übernimmt (WA TR 4, 691, 3; 692, 4 [Nr.  5170]). Luther ist sich als Briefschreiber einerseits durchaus seiner historischen Bedeutung bewusst, andererseits aber uneitel, nicht an Selbstdarstellung interessiert, sach-, situations- und menschenbezogen und ohne Wahrnehmung gesellschaftlicher Schranken dienstbereit, wie zahlreiche Briefe zeigen, in denen Bitten und Anliegen anderer vorgebracht werden; aber auch nicht um Deutlichkeit verlegen, wenn Unrecht benannt werden soll. Insgesamt sind seine Briefe ein Zeugnis seines Glaubensverständnisses, dass der Christ im Glauben niemandem untertan und ein freier Herr über alle Dinge ist, aber zugleich auch in der Nächstenliebe als Knecht allen dienstbar sein soll.

2 Reformation und Brief Der Brief erweist sich schon sehr früh als besonderes Medium der Reformation, erstmalig mit herausragender Bedeutung in Luthers Schreiben an den Erzbischof von Mainz, Albrecht von Brandenburg, vom 31. Oktober 1517, mit dem er ihm die 95 Thesen übersendet. Dieser Brief ist mehr als nur ein Begleitbrief zu den Thesen. In ihm ruft er den Kirchenfürsten eindringlich zur Revision seiner Ablasspraxis auf, andernfalls drohe ihm göttliche Strafe. Er übt unter formaler Beibehaltung des höfischen Briefstils der affectata modestia gegenüber dem Kirchenfürsten ein prophetisches Mahnamt aus, das seine Autorität aus dem Wort Gottes bezieht und das Luther, wie die im Kontext seiner sonstigen Briefpraxis ungewöhnliche subscriptio (Martinus Luther Aug[ustinensis] Doctor S[acrae] Theologie vocatus) deutlich macht, kraft seiner Berufung als Doktor der Theologie wahrzunehmen sich berechtigt weiß. Auch in späteren Briefen an den Kirchenfürsten bringt er diesem gegenüber geradezu demonstrativ eine Haltung von Unabhängigkeit und Freiheit zum Ausdruck. Mit dem Brief vom Oktober 1517 wird präludiert, wie Luther ein eigenes Verständnis des Briefs als eines religiös-literarischen Mediums und damit auch einen eigenen Stil als Briefschreiber entwickelt. Schon sehr früh stellt er seinen Briefen wie eine Widmung die Überschrift „Ihesus“ voran (vgl. bereits WA BR 1, Nr. 5 an Johannes Braun, 17.3.1509). Luther, der durch die Auslegung paulinischer Briefe (Römerbrief, Galaterbrief) seit 1515 zu seiner reformatorischen Einsicht gelangt war, entdeckte daran anknüpfend auch die aktuellen Möglichkeiten des Briefs als Mittel der Evangeliumsverkündigung. Formal wird dies etwa daran sichtbar, dass er die humanistischen Formen der Salutatio „salutem [dicit]“ bzw. „salve“

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variiert (Salutem in Christo, vgl. z.  B. WA BR 2, Nr. 435, 1.11.1521 an Nikolaus Gerbel) und schließlich durch den paulinischen Gruß „Gnade und Friede in Christo“/lat. Gratia et pax in Domino (1 Kor 1,3) zunehmend ganz ersetzt. Erstmals begegnet diese Grußformel im Brief an Karl V. vom 28. April 1521, in dem er begründet, dass seine grundsätzliche Dienstwilligkeit gegenüber dem Kaiser ihre Begrenzung in der Verpflichtung gegenüber der Wahrheit des Wortes Gottes habe (vgl. WA BR 2, Nr. 401; sodann ab Nr. 453 nahezu durchgehend; vgl. aber auch schon an Albrecht von Mainz: „Gratiam & misericordiam dei & quicquid potest & est“, WA BR 1, 110). Auch die subscriptio macht den Wandel von Luthers Selbstverständnis deutlich. Zunächst unterschreibt Luther meist als frater Martinus Augustinianus – und verwendet, sofern angegeben, die ursprüngliche Nachnamensform Luder neben der Form Lutherus, greift aber zum Ende des Jahres 1516 in der lateinischen Korrespondenz vorübergehend die humanistische Mode der Gräzisierung auf, indem er sich als Frater Martinus Eleutherius Augustinianus d.  h. als [sc. durch das Evangelium] „Befreiten“ bezeichnet (WA 1, Nr. 31, vom 31.12.1516 an Spalatin). Er gibt diese Sitte aber wieder auf (vgl. zuletzt WA 1, Nr. 139 an Spalatin, 24.1.1519?), um von nun an nur noch die Namensform „Luther“ zu verwenden, in deren th gewissermaßen der semantische Gehalt der Gräzisierung eingegangen ist. Während der Wartburgzeit geht Luther dann dazu über, nur noch als (tuus) Martinus Luther(us) zu unterschreiben (Bezeichnung als Augustiner zuletzt in WA BR 2, Nr.  431 an Spalatin vom 17.9.1521). Eine programmatische Ausrichtung am paulinischen Brief bekunden sodann bis ca. 1525 zahlreiche Sendschreiben als Trost- und Ermunterungsbriefe an Gemeinden, die wegen ihrer Unterstützung evangelischer Pfarrer und der evangelischen Predigt von der Obrigkeit bedrängt wurden. Diese Briefe wurden meist sofort gedruckt, sollten also öffentlich die evangelischen Kreise unterstützen. Luther stützt sich in ihnen programmatisch auf das Trostamt des Evangeliums nach Römer 15,4, das er selbst auch ausübt. Nachdem solcherart Briefe eher als politische Einmischung diskreditiert worden waren, verschob sich Luthers Briefpraxis stärker auf den Privatbrief. Aus der Hauptintention des Evangeliums, zu trösten und die Gewissen zu befreien, resultiert die gegenüber dem Humanismus stärker hervortretende seelsorgerliche Ausrichtung auch der Privatkorrespondenz. Die Praxis brieflicher (Spezial-)Seelsorge umfasst das Ratgeben in politischen, kirchlichen und privaten Handlungskonflikten wie beispielsweise bei Ehefällen, aber auch Kritik und Zurechtweisung. Luther will Entscheidungen nicht abnehmen, sondern das Gewissen unterweisen und schärfen. In seiner umfangreichen brieflichen Trostpraxis, von der rund 100 erhaltene Briefe zu den Themen Todesvorbereitung, Kondolenz, Leiden, Schwermut oder religiöse Anfechtung zeugen, erschließt Luther dem Brief auch neue sprachliche Möglichkeiten. Dem Angesprochenen wird darin das Evangelium als Quelle von Lebenshoffnung und -freude

4.2 Briefe Luthers 

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zunächst zugesprochen, um ihn daran anschließend aufzumuntern, zu erheitern, ‚getrost‘ zu machen. Indem Luther so die Sprache im seelsorgerlichen Zuspruch als Mittel der Affektlenkung mit dem Ziel der Glaubensstärkung anwendet, durchbricht er das mittelalterliche und auch noch humanistische Verständnis einer primär an die menschliche ratio sich richtenden Sprache, und er entdeckt den Brief als sprachlich-literarisches Mittel menschlicher Zuwendung. Die ganz pragmatischen Funktionen des Briefschreibens wie Informationsübermittlung, Bitten, Empfehlungen u.a.m. werden so in Luthers Korrespondenz in den Rahmen eines umfassenden Briefkonzepts gestellt, das sich als Ausdruck evangeliumsgemäßen Tuns versteht.

3 Der Brief als Literatur Luther ist, als Schriftsteller, eher ein Meister der kleinen Form als der großen, und insofern ist die Gattung Brief besonders geeignet, seine schriftstellerischen Fähigkeiten zu entfalten. So kann er auch die Form des fiktiven Briefs benutzen, etwa in seinem „Brief an den Heiligen Stuhl“ (1522; WA 8, 691–694) zum Zweck der Papst-Satire, oder in der „Ausschreibung eines heiligen freyen christlichen Concilii“ in der Form des Himmelsbriefs (1534, WA 38, 280–289); im Gegenstück „Beelzebub an die Heilige päpstliche Kirche“ (WA 50, 126–130; 1537) in der Form des Höllenbriefs. Andererseits können im echten Brief auch gedankliche Einfälle oder ein sprachliches Bild so ausgreifend entfaltet werden, dass „von der Fiktion her die Briefform nahezu gesprengt wird“ (Brecht 1990, 43, zu WA BR 2, 448–449 an Friedrich den Weisen). Eindrückliche Beispiele dafür sind Luthers Briefe von der Veste Coburg vom 24. April 1530 an Justus Jonas und an Georg Spalatin, in denen er den Eindruck der die Burg kreischend umfliegenden Vögel literarisch umsetzt, zum einen als lautstarke Versammlung seiner diversen Gegner (vgl. WA BR 5, 289–290), zum andern mit Bezug auf den nach Augsburg einberufenen Reichstag als Bericht vom „Reichstag der Dohlen“ (WA BR 5, 290–291). Im Brief an den Sohn Johannes vom 24.  April 1530 erzählt Luther eine Geschichte vom Paradiesgarten, um den Adressaten zu richtigem Verhalten zu motivieren. Dieses sind besondere Einzelfälle. Häufiger ist zu beobachten, dass Luther in echten Briefen die vorgegebene Form, das fünfteilige Briefschema (Adresse – exordium/salutatio – narratio/argumentatio – petitio – conclusio, zusätzlich subscriptio), aufgreift, aber literarisch gestaltend abwandelt. Er orientiert sich formal an der von ihm bereitgestellten relativ offenen Struktur, kann sie aber in allen ihren Facetten auf den jeweiligen Fall zugeschnitten anwenden. Dabei entstehen zum Teil spannungsvolle Kontraste zwischen ‚Norm‘ und individueller ‚Abwei-

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chung‘, die sich, wie etwa in den Briefen an Albrecht von Brandenburg, auch auf das inhaltliche Anliegen des Briefes bzw. seine Stellung zum Adressaten beziehen lassen. Für Luther eröffnet sich in diesen Möglichkeiten des Variierens ein sprachlicher Gestaltungsspielraum, den er kreativ nutzt und durch den er seinen ihm zur Verfügung stehenden Raum der – christlichen – Freiheit wahrt. Luther kann seine Lust an Wortspiel und sprachlichem Variieren etwa in der salutatio betätigen, um zusätzlich zum gesellschaftlichen Rang ein besonderes persönliches Verhältnis des Adressaten zu ihm zum Ausdruck zu bringen. Insbesondere in einigen Briefen an seine Frau, darin wohl einmaligen Briefdokumenten seiner Zeit, wird das sprachliche Variieren der Briefformeln zum zweckfrei heiteren Spiel mit Rollen, das durch die besondere Vertrautheit der ehelichen Beziehung ermöglicht wurde und diese spiegelt.

4 Bestand und Überlieferung Die Sammlung und Sicherung des Bestands der Luther-Korrespondenz, ebenso wie die anderer Reformatoren, durch Abschriften und Drucke stellt eine große, sich über Jahrhunderte erstreckende überlieferungsgeschichtliche Leistung dar, mit der bereits Mitarbeiter Luthers begannen (vgl. Veit Dietrich, WA BR 14, 356; Michael Stifel ebd., Johann Aurifaber, Georg Rörer). Luther selbst widerstrebte dem Ansinnen, insbesondere seine Privatbriefe im Druck herauszugeben (vgl. WA TR 4, 691, 31–692, 4 [Nr. 5170]). Dennoch erschienen bereits zu Lebzeiten einige Briefsammlungen; die erste, von Vinzenz Obsopoeus herausgegebene, Martini Lutheri Epistolarum Farrago (1525) beschränkte sich auf bereits veröffentlichte Sendschreiben. Die folgenden Drucke waren vor allem Sammlungen von Trostschriften mit tröstlich-erbaulicher Absicht. Anknüpfend an Caspar Crucigers bereits auch Privatbriefe (u.  a. Luthers Trostbriefe an seinen Vater Hans vom 15. Februar 1530 und an seine Mutter Margarethe vom 20. Mai 1531, beide inzwischen verstorben) enthaltende Sammlung Etliche Trostschrifften und predigten, fur die so in tods vnd ander not vnd anfechtung sind (1545) veröffentlichte Georg Rörer 1545 eine wesentlich erweiterte Trostbriefsammlung. Auch die von ihm angelegte Handschriftensammlung enthielt umfangreiches Briefmaterial. Im zweiten bis achten Deutschen Band der Jenaer Lutherausgabe (1558–1562) wurden auch die Briefe aus seiner Trostbriefedition übernommen. Kirchenpolitische Interessen verfolgte hingegen die von dem Gnesiolutheraner Matthias Flacius Illyricus 1549 lateinisch und deutsch herausgegebene Sammlung von Luthers Coburgbriefen (1530), die Melanchthon, Befürworter des Leipziger Interims, als glaubensschwach bloßstellen sollte.

4.2 Briefe Luthers 

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Der bedeutendste Sammler und Herausgeber von Luther-Briefen im 16. Jahrhundert war Johann Aurifaber. 1547 und 1550 gab auch er Trostschriften und -briefe heraus; vor allem aber ist die lateinische Luther-Briefausgabe als Anhang zur Jenaer Luther-Ausgabe sein Werk (2 Bde., Jena 1556, Eisleben 1565 umfassen die Briefe bis 1528 und das Manuskript des 3. Bandes 1575 sowie zwei Eislebener Nachtragsbände mit deutschen Briefen 1564 und 1565). Von dieser Ausgabe profitierte auch die bereits 1539 begonnene Wittenberger Ausgabe, die in den ersten beiden Bänden der lateinischen Reihe (1545/46) auch lateinische Briefe Luthers gebracht, aber auf die Edition deutscher Briefe aufgrund von Luthers Verdikt zunächst verzichtet hatte. Aurifabers Sammelleistung bildete für zwei Jahrhunderte den Grundbestand der bekannten Luther-Korrespondenz. Die Fortführung seiner unvollendeten Ausgabe der lateinischen Briefe gelang erst Johann Franz Buddeus (Supplementum Epistolarum Martini Lutheri, 1705). Einen weiteren Meilenstein bildete die von Johann Georg Walch herausgegebene 24-bändige deutsche Hallische Lutherausgabe 1740–1753, in der zu den bisher bekannten Briefen (586 deutsche und 891 lateinische) noch 152 ungedruckte hinzukamen, allerdings in drei verschiedenen Abteilungen gedruckt. Die erste vollständige und kritische Ausgabe der Lutherbriefe, herausgegeben von Wilhelm Martin Leberecht de Wette (5  Bde., Berlin 1825–1828; Nachtragsband 1859 von Johann Karl Seidemann), enthält bereits 2.324 deutsche und lateinische Briefe Luthers. Das nächste große Editionsprojekt war die von Ernst Ludwig Enders und Gustav Kawerau besorgte Ausgabe der Luther-Briefe der Erlanger Ausgabe (19 Bde., 1884–1932), in die erstmals auch Briefe an Luther aufgenommen wurden. Innerhalb des Projekts der Weimarer Ausgabe entstand die Briefausgabe als letzte eigene Abteilung, betreut von Otto Clemen, Hans Volz und Eike Wolgast (Bde. 1–18, 1930–1985). Die insgesamt ca. 3.600 Briefe umfassende Weimarer Ausgabe [WA] enthält außer den Luther-Briefen (ca. 2.600 Stücke) auch die an ihn gerichteten Briefe. Sie bietet die Brieftexte, möglichst im Urtext, in chronologischer Reihenfolge, und mit ergänzenden Aktenstücken und biographischen Informationen zudem eine vorbildliche Erhellung des Kontexts. Diese bisher umfassendste Edition der LutherKorrespondenz wertet jedoch bei den nicht im Original überlieferten Briefen nicht die handschriftliche Überlieferung zur Erstellung des zuverlässigsten Textes aus, sondern übernimmt den von Enders/Kawerau geschaffenen Textus receptus. So ist abzusehen, dass die philologische Bemühung um die Luther-Korrespondenz noch immer nicht abgeschlossen ist.

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Zitierte Literatur Brecht, Martin (1990). Luther als Schriftsteller. Zeugnisse seines dichterischen Gestaltens. Stuttgart. Luther, Martin D. (1883–2009). Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Abt. I: Schriften. 80 Bde. Weimar [= WA]. Luther, Martin D. (1912–1921). Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Abt. II: Tischreden. 6 Bde. Weimar [= WA TR]. Luther, Martin D. (1930–1985). Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Abt. IV: Briefwechsel. 18 Bde. Weimar [= WA BR].

Weiterführende Literatur Arnold, Matthieu (1996). La Correspondence de Luther. Etude historique, littéraire et théologique. Mainz. Ebeling, Gerhard (1997). Luthers Seelsorge. Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen an seinen Briefen dargestellt. Tübingen. Gruber, Joachim (1983). [Art.] „Brief, Briefliteratur, Briefsammlungen“, in: Lexikon des Mittelalters. Hg. u. beraten v. Robert Auty, Robert-Henri Bautier u. Norbert Angermann unter der Mitarbeit v. Jens P. Aegidius. Bd. 2: Bettlerwesen bis Codex von Valencia. München u. Zürich: Sp. 648–682. Luther, Martin (1982). Ausgewählte Schriften. Hg. v. Karin Bornkamm u. Gerhard Ebeling. Bd. 6: Briefe. Auswahl, Übersetzung und Erläuterungen v. Johannes Schilling. Frankfurt a. M. Luther, Martin (1987). Briefe an Freunde und an die Familie. Hg. v. Albrecht Beutel. Frankfurt a. M. Luther, Martin (32016 [1966]). Werke in Auswahl. Bd. 6: Luthers Briefe. Hg. v. Otto Clemen u. Hans Rückert. Berlin u. Boston. Mennecke-Haustein, Ute (1983). „Von der Freiheit des Briefschreibens. Luthers Brief an Albrecht von Mainz vom 31. Juli 1535“, in: text+kritik (Sonderband): 144–156. Mennecke-Haustein, Ute (1989). Luthers Trostbriefe. Gütersloh. Mennecke, Ute (2012). „Von der Kunst, demutsvoll einen kühnen Brief zu schreiben“, in: Briefkultur. Texte und Interpretationen – von Martin Luther bis Thomas Bernhard. Hg. v. Jörg Schuster u. Jochen Strobel. Berlin u. Boston: 7–18. Moeller, Bernd u. Karl Stackmann (1981). Luder – Luther – Eleutherius. Erwägungen zu Luthers Namen. Göttingen. Schilling, Johannes (22010). [Art.] „Briefe“, in: Luther Handbuch. Hg. v. Albrecht Beutel: 340–346.

Christine Mundhenk

4.3 Protestantische Briefkultur: Philipp Melanchthon In wohl keiner anderen Person des 16. Jahrhunderts sind Humanismus und Reformation so eng, ja untrennbar miteinander verbunden wie in Philipp Melanchthon (1497–1560). Im Jahr 1518 als Professor für Griechisch nach Wittenberg berufen, blieb er zeitlebens der Artistenfakultät und damit der Grundausbildung der Studenten verbunden, verfasste zahlreiche und oft nachgedruckte Lehrbücher. Darüber hinaus setzte er sich für die Gründung und den Erhalt von Schulen und Universitäten in ganz Deutschland ein. Sein Engagement in diesen Bereichen brachte ihm den Ehrentitel Praeceptor Germaniae ein. Als langjähriger Kollege und Mitarbeiter Luthers, als sein Stellvertreter auf Reichstagen und bei Religionsgesprächen sowie als Wortführer der Reformation nach Luthers Tod gilt Melan­ chthon als herausragender Vertreter und Vermittler der Reformation. Seine 1521 erstmals erschienenen Loci communes rerum theologicarum (VD16 M 3585) sind die erste systematische Darstellung der grundlegenden protestantischen Lehrbegriffe; federführend war er an den wichtigsten protestantischen Bekenntnisschriften, der Confessio Augustana (CA; Dingel 2014, 63–225) und der Apologie der CA (Dingel 2014, 227–709) beteiligt. Melanchthon hinterließ nicht nur ein umfangreiches wissenschaftliches Œuvre, sondern war zeitlebens auch ein eifriger Briefschreiber; schon als 17-Jähriger schrieb er: „Die wichtigsten Angelegenheiten werden nämlich meistens in Briefen verhandelt“ („Epistolis enim res maximae plaerunque aguntur“; MBW 1.1). Briefe waren für Melanchthon zeitlebens das vorrangige Instrument, um mit entfernt lebenden Freunden im Gespräch zu bleiben, theologische Fragen zu diskutieren und verschiedenste Angelegenheiten zu regeln.

1 Corpus und Überlieferung Melanchthons noch erhaltene Korrespondenz umfasst etwa 9.750 Briefe, davon stammt der weitaus größere Teil, knapp 8.000 Stücke, von ihm selbst. Mitgezählt sind Widmungsbriefe, die in gedruckten Büchern als Vorrede erschienen, offene Briefe, Gutachten sowie gemeinschaftlich mit anderen oder für andere verfasste Briefe. Das zahlenmäßige Missverhältnis zwischen den Briefen, die er geschrieben hat, und den an ihn adressierten lässt sich damit erklären, dass er die Briefe, die er bekam, meistens nicht aufbewahrte; er gab oder schickte sie weiter oder https://doi.org/10.1515/9783110376531-050

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verschenkte sie an Autographensammler, etliche wurden ihm wohl auch heimlich entwendet (vgl. Camerarius 2010, 73). Die von ihm verfassten Briefe dagegen erfuhren schon zu seinen Lebzeiten große Wertschätzung, wurden aufgehoben und gesammelt; seine ältesten eigenhändigen Briefe stammen schon aus dem Jahr 1514 (vgl. MBW 2 und 4). Weit über tausend Originalbriefe Melanchthons sind überliefert, dazu unzählige Abschriften, vor allem aus dem 16. Jahrhundert. Sie dokumentieren, dass nicht nur das Papier, das der Praeceptor Germaniae mit eigener Hand beschrieben hatte, ideellen Wert besaß, sondern dass auch die Inhalte seiner Briefe geschätzt wurden. Sammlungen und Einzelstücke sowohl von Autographen als auch von Abschriften werden in über 500 Bibliotheken und Archiven in ganz Europa, einzelne auch in Amerika aufbewahrt. Nicht alle Briefe sind handschriftlich überliefert. Vor allem die ersten, zwischen 1565 und 1646 erschienenen Druckausgaben von Melanchthon-Briefen stellen für zahlreiche Stücke die einzige Quelle dar und sind damit wichtige Überlieferungsträger von Melanchthons Korrespondenz (s.  u. im Abschnitt „Editionen“).

2 Korrespondenznetz Mit seiner Korrespondenz knüpfte Melanchthon ein Beziehungsnetz, das nahezu ganz Europa überspannt: Es erstreckt sich von Tallinn und Riga im Baltikum bis nach Toulouse in Südfrankreich, von Hereford in England bis Istanbul, von Nantes am Atlantik bis Busk in der Ukraine, von Stockholm bis nach Rom; es veranschaulicht die europäische Dimension von Melanchthons Wirken. Besonders engmaschig liegt dieses Netz natürlich auf dem mitteleuropäischen Raum. Briefpartner*innen hatte Melanchthon nicht nur über geographische, sondern auch über alle gesellschaftlichen Grenzen hinweg: Bedeutende Persönlichkeiten wie Kaiser Karl V., die Könige Heinrich VIII. von England, Franz I. von Frankreich und Christian III. von Dänemark, die Humanisten Erasmus von Rotterdam und Helius Eobanus Hessus zählten genauso dazu wie die ansonsten völlig unbekannte Abeleke Schelhovedes in Hamburg oder eine nicht einmal namentlich bekannte Witwe in Merseburg (ihr musste Melanchthon den Tod ihres in Wittenberg studierenden Sohnes mitteilen; vgl. MBW 1583). Den Kontakt zu seinen Freunden, Schülern und Kollegen pflegte M ­ elanchthon bewusst und intensiv – obwohl er manchmal über die Last des Briefschreibens klagte (vgl. z.  B. MBW 4172: „Es ist leichter, den Stein des Sisyphos zu wälzen, als so viele Briefe zu schreiben!“). Der Wittenberger Professor vermittelte zahlreiche Studenten und Absolventen auf Schul- und Pfarrstellen in ganz Deutschland. Indem er den Dialog mit ihnen brieflich aufrechterhielt und ihnen weiterhin

4.3 Protestantische Briefkultur: Philipp Melanchthon 

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als Freund und Berater zur Verfügung stand, war es ihm möglich, sie auch nach ihrem Weggang aus Wittenberg an die evangelische Lehre zu binden. So trugen seine Briefe dazu bei, die evangelische Lehre an vielen Orten zu etablieren und zu sichern. Im Gegenzug profitierte auch er selbst von den Kontakten, weil er stets mit Informationen über den Zustand der Gemeinden und auftretende Probleme, aber auch über aktuelle politische Entwicklungen in anderen Teilen des Reichs versorgt wurde. So liefen bei Melanchthon viele Fäden zusammen. Auch innerhalb seines Kollegen- und Freundeskreises in Wittenberg bestand enger Kontakt, so dass Briefe oft gemeinsam gelesen oder ausgetauscht wurden. Das hatte zur Folge, dass Briefe nicht immer direkt an Melanchthon gerichtet wurden. Um dem vielbeschäftigten Professor möglichst wenig zur Last zu fallen, schrieb beispielsweise der Joachimsthaler Pfarrer Johannes Mathesius (1504–1565) nur selten direkt an Melanchthon, aber häufig an dessen Freund und Mitarbeiter Paul Eber (1511–1569), denn er wusste, dass die Nachrichten an den Praeceptor weitergeleitet würden. Und tatsächlich geht Melanchthon in mehreren Briefen, die er an Mathesius schrieb, auf Fragen und Wünsche ein, die dieser an Eber gerichtet hatte. Eine Zusammenführung einzelner Korrespondenzen aus dem Wittenberger Reformatorenkreis und ihre Analyse lassen daher interessante Aufschlüsse über die Kommunikationsstruktur der protestantischen Theologen erwarten.

3 Der Charakter der Briefe Etliche Humanisten nutzten ihre Korrespondenz als Mittel der Selbstinszenierung: Ihre Briefe waren stark stilisiert, oft mit rhetorischem Pomp befrachtet, und vielfach war ihre Veröffentlichung schon bei der Abfassung vorgesehen. Ein derartiger literarischer Ehrgeiz ist Melanchthons Briefen völlig fremd. Sein Stil ist schlicht. Mit seinem ungekünstelten Ausdruck setzt er um, was er im Rhetorikunterricht den Studenten beibrachte: seine Gedanken klar, eindeutig und geradlinig zum Ausdruck zu bringen. Zeitmangel mag Melanchthons ohnehin schlichten Stil noch befördert haben; durch seine vielfältigen Aufgaben war er mehr als ausgelastet, so dass er hauptsächlich die Ruhe der frühen Morgenstunden, vor der Vorlesung, für das Schreiben von Briefen nutzte. Nachweislich schrieb er bis zu zehn Briefe an einem Tag. Sie sind Augenblickserzeugnisse und wurden meistens so abgeschickt, wie sie aus der Feder des Wittenberger Professors flossen – oft drängte schon der reisefertige Bote, der den Brief mitnehmen sollte. Nur Briefe, die er an hochgestellte Persönlichkeiten wie den Kaiser oder im Auftrag anderer, etwa des Kurfürsten, schrieb, sowie Widmungsvorreden zu gedruckten

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Büchern sind sorgfältiger stilisiert, büßen dadurch jedoch nichts von ihrer Klarheit ein. In Melanchthons Korrespondenz findet wirkliche, unmittelbare Kommunikation statt. Ohne Umschweife brachte er seine Anliegen zu Papier. Die Sprache, in der Melanchthon schrieb, richtete sich nach dem jeweiligen Adressaten. Weil die weitaus meisten Briefe innerhalb der res publica literaria gewechselt wurden, benutzte er überwiegend die Gelehrtensprache Latein. In deutscher Sprache fand vor allem der Briefwechsel mit den deutschen Fürstenhäusern und den Städten statt. Briefe auf Griechisch kommen nur selten vor; dieser selbst unter Gelehrten kaum verbreiteten Sprache bediente Melanchthon sich aber innerhalb lateinischer Briefe gelegentlich, wenn er vertrauliche Informationen verschlüsseln und gegen unbefugten Zugriff schützen wollte.

4 Kommunikationsgemeinschaften Den größten Teil der Korrespondenz bilden die Briefe, in denen sich Melanchthon mit Freunden und Gleichgesinnten austauschte. Sein wichtigster Briefpartner war der Gräzist Joachim Camerarius (1500–1574), mit dem ihn über Jahrzehnte hinweg eine enge Freundschaft verband. Weil Camerarius die Briefe, die der Freund ihm schrieb, sammelte, blieben etwa 600 Originalbriefe aus den Jahren 1522 bis 1560 erhalten; dazu kommen 69 Briefe, die Camerarius an Melanchthon schickte. Der Briefwechsel mit Camerarius stellt innerhalb von Melanchthons Korrespondenz nicht nur die umfangreichste Einzelkorrespondenz dar, sondern auch die gehaltvollste: Nach seiner Studienzeit in Wittenberg wirkte Camerarius in Bamberg, Nürnberg, Tübingen und schließlich in Leipzig, so dass die Freunde jahrzehntelang räumlich voneinander getrennt und auf Briefe angewiesen waren. Melan­ chthon teilte dem Freund offenherzig mit, was ihn bewegte. Seine vertrauensvollen Briefe dokumentieren ihre enge Verbundenheit, ja Geistesverwandtschaft; sie geben Einblick in Melanchthons Gedanken, Gefühle und Erlebnisse und zeigen unverstellt seine persönliche Einschätzung der aktuellen politischen und religiösen Vorgänge. Außer solchen bilateralen Briefwechseln lassen sich innerhalb von Melan­ chthons Korrespondenz auch größere Kommunikationsgemeinschaften feststellen. Eine große und wichtige Gruppe stellen die Theologen und Reformatoren dar. Der prominenteste Briefpartner dieser Gruppe ist Luther. Er und Melanchthon waren nur dann darauf angewiesen, brieflich zu kommunizieren, wenn sie räumlich voneinander getrennt waren. Das war vor allem dann der Fall, wenn Melan­ chthon zu Reichstagen (Augsburg 1530) und Religionsgesprächen (Worms 1540/41

4.3 Protestantische Briefkultur: Philipp Melanchthon 

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und Regensburg 1541) reiste, an denen Luther wegen der gegen ihn verhängten Reichsacht nicht teilnehmen konnte. In diesen relativ kurzen Zeitspannen fand ein lebhafter Austausch statt: Erhalten sind 61 Briefe Melanchthons und 83 Briefe Luthers. Besonders intensiv war der briefliche Austausch, als Luther 1530 von der Coburg aus den Augsburger Reichstag verfolgen musste, auf dem Melanchthon als Wortführer der protestantischen Theologen an der CA arbeitete. Beide standen in ihrer jeweils ungewohnten Rolle – Luther als bloßer Zuschauer, Melanchthon auf der großen Bühne – unter großer Anspannung, die sich in den Briefen gelegentlich entlud und zeitweilig zu Missstimmung zwischen beiden führte. Melan­ chthon informierte Luther nicht nur über die Ereignisse des Reichstages, schickte Fragen zu einzelnen Punkten der Lehre und verlangte Luthers Urteil über die CA, sondern er schilderte auch unterschiedliche Stimmungslagen bei sich und im protestantischen Lager, die zwischen tiefer Depression und vorsichtigem Optimismus wechselten, bat um Luthers Zuspruch und ärgerte sich darüber, wenn dieser nicht schrieb. Die Coburg-Briefe, denen eine große Dynamik innewohnt, wurden vielfach und mit unterschiedlichen Ergebnissen für die Bewertung des Verhältnisses zwischen Luther und Melanchthon herangezogen. Mit Johannes Brenz (1499–1570), dem Schwäbisch Haller Reformator, der seit Luthers Heidelberger Disputation 1518 ein Anhänger der lutherischen Lehre war, verband Melanchthon eine lange und beständige Freundschaft. Im Mittelpunkt ihrer Korrespondenz steht die lutherische Lehre; besonders oft erörtert Melan­ chthon dem Freund Fragen zur Rechtfertigungslehre. Die Bemühungen um eine einheitliche Lehre bilden auch das Hauptthema der Korrespondenz mit anderen oberdeutschen und Schweizer Reformatoren. Im Briefwechsel mit dem Straßburger Reformator Martin Bucer (1491–1551) spielt die Abendmahlsauffassung eine entscheidende Rolle. Die gemeinsame Unterzeichnung der Wittenberger Konkordie im Jahr 1536 (MBW 1744) ist das Ergebnis zäher Verhandlungen in Briefen und persönlichen Begegnungen zwischen Melanchthon und Bucer; beide waren um Ausgleich und Verständigung im evangelischen Lager, darüber hinaus aber auch mit der katholischen Kirche bemüht. Die Wittenberger Theologen mit der aus Luther und Melanchthon bestehenden Doppelspitze wurden von außen als Gruppe wahrgenommen. Innerhalb dieser Gruppe war Melanchthon der gefragteste Ansprechpartner und derjenige, der die meisten Briefe schrieb. Die Grenzen der brieflichen Verständigung musste Melanchthon in den Jahren 1544/45 erkennen, als der Streit zwischen den Schweizern und Luther um das Verständnis des Abendmahls zum wiederholten Mal heftig aufflammte. Von dem im Alter leicht reizbaren Luther brüskiert, beschwor Heinrich Bullinger (1504–1575) Melanchthon, mäßigend auf die beiderseits erhitzten Gemüter einzuwirken (MBW 3596), doch Melanchthon resignierte angesichts der Heftigkeit des Streites (MBW 3671). Calvin (1509–1564) schickte einen an

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Luther gerichteten Brief an Melanchthon und stellte es ihm frei, das Schreiben an den misstrauischen Luther weiterzuleiten (vgl. MBW 3803)  – Melanchthon ersparte Luther weitere Aufregung, indem er den Brief nicht übergab (vgl. MBW 3885). Der Briefwechsel zwischen Wittenberg und den Schweizern kam so zum Erliegen und wurde erst nach Luthers Tod fortgeführt. Nicht nur auf inhaltlicher Ebene trug Melanchthons Korrespondenz dazu bei, dass man sich auf Gemeinsamkeiten der Lehre verständigte, sondern auch auf der persönlichen Ebene wirkte sie gemeinschaftsstiftend. Dafür sind kennzeichnend: die wechselseitige Versicherung der Wertschätzung, die eine sachliche Verständigung erleichtert; das Weitergeben von Briefen, wodurch die bilaterale Korrespondenz in einen größeren Bezugsrahmen gestellt wird; Grüße von Freunden und Kollegen, die beim Abfassen des Briefes anwesend waren (und gelegentlich eigenhändig einen Gruß hinzufügten), sowie Grüße an Freunde und Kollegen, die auf diese Weise in die Kommunikation einbezogen wurden; Nachrichten über gemeinsame Bekannte; die Empfehlung der Briefboten (oft Studenten), die ein Bindeglied zwischen Absender und Adressat darstellten und über den Brief hinaus Nachrichten übermitteln konnten. Die Korrespondenz zwischen Melanchthon und anderen Reformatoren und Theologen dokumentiert den langwierigen und schwierigen Weg der evangelischen Lehre von den Anfängen der Reformation bis zum Augsburger Religionsfrieden (1555).

5 Editionen Die ersten gedruckten Ausgaben von Melanchthon-Briefen erschienen nur fünf Jahre nach Melanchthons Tod. Johannes Manlius (ca. 1535–1605), der von 1548 bis 1559 an der Universität in Wittenberg gewesen war, publizierte 1565 unter dem Titel Epistolarum D. Philippi Melanchthonis Farrago (vgl. VD16 M 3220) einen Band mit Briefen des Reformators. Er enthält etwa 350 Briefe, von denen 200 Stücke sonst nirgends überliefert sind. Melanchthons Schwiegersohn Kaspar Peucer (1525–1602), der in den Jahren 1562 bis 1564 bereits eine vierbändige Ausgabe der Schriften Melanchthons herausgegeben hatte, stellte dem „Allerlei“ (farrago) des Manlius ebenfalls 1565 einen Band mit 140 besonders ausgewählten Briefen seines Schwiegervaters entgegen: Epistolae selectiores aliquot Philippi Melanthonis (vgl. VD16 M 3222). 1569 erschien ein stattlicher Band, in dem Joachim Camerarius die Briefe, die er von Melanchthon erhalten hatte, veröffentlichte (vgl. VD16 M 3553 und ZV 21686). Allerdings veränderte er für die Publikation den Wortlaut vieler Briefe: Er verschlüsselte Eigennamen in weitaus größerem Maß, als es Melan-

4.3 Protestantische Briefkultur: Philipp Melanchthon 

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chthon selbst getan hatte, entschärfte kritische Äußerungen, verschleierte und verallgemeinerte konkrete Aussagen und änderte Formulierungen, so dass manche Briefe stellenweise unverständlich wurden. Erst als Camerarius’ Ausgabe mit den in Rom verwahrten und bis 1875 unzugänglichen Autographen Melanchthons verglichen werden konnte, kam das Ausmaß der redaktionellen Bearbeitung ans Licht. Weitere Ausgaben kamen hinzu, so dass bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts neun Briefbände vorlagen. Alle diese Bände enthalten nur Briefe Melanchthons, keine Gegenbriefe. Weil die Texte in ihnen ohne Chronologie, oft gekürzt oder geglättet abgedruckt sind, bilden sie eine unübersichtliche und letztlich unbenutzbare Stoffmasse. Von 1827 an arbeitete der Gothaer Generalsuperintendent Karl Gottlieb Bretschneider (1776–1848) an der Ausgabe von Melanchthons Korrespondenz innerhalb des Corpus reformatorum (CR), der bis heute maßgeblichen Werkausgabe Melanchthons. Ergänzend zu den frühen Briefbänden ermittelte Bretschneider verstreut publizierte Briefe und Vorreden Melanchthons und erfasste auch die handschriftliche Überlieferung, soweit es ihm möglich war. Die schwierigste Aufgabe war die Datierung der Briefe, denn Melanchthon ließ meistens die Jahreszahl, oft auch das ganze Datum weg. Von 1834 bis 1842 erschienen zehn umfangreiche Bände, die mehr als 7.000  Briefe, darunter auch etliche an den Reformator gerichtete Schreiben und Beiakten, in chronologischer Reihenfolge und durch Register (Briefanfänge, Adressaten, Absender u.  a.: CR 28, erschienen 1860) erschlossen, enthalten. Diese Ausgabe verlieh der Melanchthon-Forschung gewaltigen Auftrieb. Heinrich Ernst Bindseil (1803–1876) konnte 1874 einen Ergänzungsband mit zahlreichen neu aufgefundenen Briefen herausbringen. 1926 erschien ein Briefband innerhalb der Supplementa Melanchthoniana, einer Ergänzungsausgabe zum CR, herausgegeben von Otto Clemen (1871–1946). Bei seiner Arbeit erkannte Clemen die Notwendigkeit einer vollständigen Neuausgabe der Briefe, denn die Texte im CR weisen neben philologischen Mängeln zahlreiche falsche Datierungen auf (für die Jahre 1531–1542 liegt die Fehlerquote bei 18,6  Prozent); dennoch ist die Ausgabe bis heute unentbehrlich. Das 400. Todesjahr Melanchthons, 1960, wurde zum Anlass genommen, eine kritische und kommentierte Gesamtausgabe des Briefwechsels zu projektieren. 1963 gründete Heinz Scheible (*1931) in Heidelberg die Melanchthon-Forschungsstelle, an der seither an Melanchthons Briefwechsel (MBW) gearbeitet wird. Die gesamte handschriftliche und gedruckte Überlieferung der inzwischen auf etwa 9.750 Stücke angewachsenen Korrespondenz wurde erfasst und die Briefe wurden durchnummeriert. Die für die Datierung der Briefe erstellten Inhaltsangaben wurden von 1977 an als Regesten publiziert (seit 2010 sind sie auch im Internet verfügbar) und durch Indexbände (Orte und Personen) ergänzt. Seit 1991 erscheinen die Textbände (MBW.T). In ihnen werden die gesamte handschriftliche und gedruckte

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Überlieferung der einzelnen Briefe genau verzeichnet und die Texte kritisch ediert. Vier Apparate dokumentieren Streichungen und Verbesserungen in Autographen, Varianten in Abschriften sowie die Wirkungsgeschichte und weisen Zitate, vor allem aus der Bibel und von antiken Autoren, literarische Anspielungen und Hinweise auf zeitgenössische Schriftstücke nach. Aus Melanchthons umfangreicher Korrespondenz lässt sich ein facettenreiches Bild seiner Persönlichkeit und der Zeit, in der er lebte, gewinnen. Sie liefert Hintergrundinformationen zum öffentlichen Wirken des Reformators, dokumentiert den aufreibenden Alltag des Professors und lässt verschiedenste Gefühlslagen des Menschen erkennen, der den intensiven Austausch mit Freunden und Kollegen braucht. Sie lässt hinter seinem vielfältigen wissenschaftlichen Œuvre den Menschen Melanchthon hervortreten und rundet das umfangreiche Corpus seiner Schriften ab. „Ein Großteil der menschlichen Weisheit steckt in den Briefen kluger Leute“ („Magna pars sapientiae humanae est in epistolis prudentum“; MBW 6202.3), schrieb Melanchthon. Das gilt auch für seine Briefe.

Zitierte Literatur Camerarius, Joachim (2010). Das Leben Philipp Melanchthons. Übers.  v. Volker Werner. Leipzig. Corpus Reformatorum (1834–1842). Bde. 1–10: Philippi Melanthonis epistolae, praefationes, consilia, iudicia, schedae academicae. Hg. v. Karl Gottlieb Bretschneider. Halle. [CR] Dingel, Irene (2014). Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition. Hg. v. ders. Göttingen. Melanchthon, Philipp (1977  ff.). Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Hg. v. Heinz Scheible, seit Band T 11 v. Christine Mundhenk. Bde. 1–9: Regesten; online unter https://www.hadw-bw.de/forschung/forschungsstelle/ melanchthon-briefwechsel-mbw/mbw-regest (16.4.2020); Bd. 10: Orte A–Z und Itinerar; Bde. 11–14: Personen A–R; Bde. T1  ff.: Texte. Stuttgart-Bad Cannstatt. [MBW] VD16: Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts. 25 Bde. Stuttgart (1983–2000). [Zusätze, die nur in der Fortführung des Verzeichnisses im Internet zugänglich sind, sind mit ZV gekennzeichnet.]

Weiterführende Literatur Melanchthon, Philipp (2011). Melanchthon deutsch. Bd 3: Von Wittenberg nach Europa. Hg. v. Günter Frank u. Martin Schneider. Leipzig. Melanchthon, Philipp (2017). Philipp Melanchthon in 100 persönlichen Briefen. Hg. u. übersetzt v. Christine Mundhenk, Matthias Dall’Asta u. Heidi Hein. Göttingen.

4.3 Protestantische Briefkultur: Philipp Melanchthon 

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Mundhenk, Christine (2017). „Briefe“, in: Philipp Melanchthon. Der Reformator zwischen Glauben und Wissen. Ein Handbuch. Hg. v. Günter Frank. Berlin u. Boston: 303–319. Scheible, Heinz (1968). „Überlieferung und Editionen der Briefe Melanchthons“, in: Heidelberger Jahrbücher, Bd. 12: 135–161. Wiederabdruck in: Ders. (1996). Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge. Hg. v. Gerhard May u. Rolf Decot. Mainz: 1–27. Scheible, Heinz (2016). Melanchthon. Vermittler der Reformation. Eine Biographie. München.

Jeffrey Ashcroft

4.4 Künstlerkorrespondenzen der Renaissance: Albrecht Dürer 1 Brieftraditionen in Deutschland um 1500 Briefe deutscher Künstler und Handwerker aus der Zeit vor und um 1500 sind eine ausgesprochene Rarität. Das ist einerseits auf die beschränkten Schreibund Lesefähigkeiten eines noch dürftig ausgebildeten Arbeiter- und Mittelstands zurückzuführen. Auch hatten volkssprachliche Briefe überwiegend geschäftliche, daher kurzfristige Funktionen und als Gebrauchsgegenstände daher keinen bleibenden Wert. Eine seltene, weil keineswegs typische Ausnahme ist der Brief, den der gleichnamige Vater Albrecht Dürers (1427–1502), ein mäßig erfolgreicher Goldschmied, im August 1492 an seine Frau in Nürnberg schrieb. Er bewarb sich in Linz um Aufträge von Kaiser Friedrich III., der ihn wohlwollend empfing und ihm vier Gulden in die Hand gab mit den ermunternden Worten: „Main goldschmid ge in die herberg vnd tu dier gutlich“ (Dürer 1956, 252). Dürer lässt seinen Haushalt grüßen, den Kindern sagen, sie sollen artig sein, und erinnert seine Frau daran, die Gesellen an der Kandare zu halten. Erhalten geblieben ist das Blatt nur zufällig. Es wurde 1882 von Mäusen angenagt hinter einer Wandverkleidung in Dürers Elternhaus entdeckt. Ein ‚Künstlerbrief‘ solch liebenswürdiger Trivialität hat kaum eine Bedeutung im weiteren geschichtlichen Rahmen der Gattung Brief. Geschäftliche und persönliche Briefe und Briefwechsel in deutscher Sprache entstehen im Laufe des 15. Jahrhunderts als notwendiges, funktionsmäßiges Kommunikationsmittel im Zusammenhang der Ausbreitung der Schriftlichkeit und der zunehmenden Mobilität. Fernhandel auf regionaler und internationaler Ebene sowie die Entwicklung protomoderner Formen städtischer und staatlicher Verwaltung und Justiz trugen insgesamt zu einer Expansion volkssprachlichen Schrifttums seit der Mitte des 14.  Jahrhunderts bei. In den folgenden Jahrzehnten wurde das schriftliche Deutsch zum primären sprachlichen Medium dieser beispiellosen Schreibwelle. Neu aufkommende Formen und Textsorten persönlicher Selbstdarstellung in Reiseberichten, Tagebüchern und Aufzeichnungen sind ebenfalls Nebenerscheinungen und -produkte dieser weitreichenden Prozesse. Der Briefwechsel unter Kaufleuten, ihren Partnern und Vertretern, zwischen kaiserlichen, fürstlichen und städtischen Kanzleien und auf persönlicher Ebene zwischen Freunden und Familienmitgliedern sind verwandte Ausdrücke dieses kulturellen und wirtschaftlichen Aufbruchs. https://doi.org/10.1515/9783110376531-051

4.4 Künstlerkorrespondenzen der Renaissance: Albrecht Dürer 

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Von Albrecht Dürer sind aus der Zeit seiner beiden Aufenthalte in Venedig, seiner Wanderjahre oder späterer Reisen, z.  B. des ein Jahr langen Besuchs in den Niederlanden 1520–1521, keine Briefe an seine Familie erhalten. In der Tat sind aus dieser Zeit ohnehin nur äußerst selten vollständige deutschsprachige Korrespondenzen erhalten geblieben. Um 1500 scheint das volkssprachliche Briefschreiben noch in den Anfängen zu stecken, vor allem als Vehikel interpersoneller Äußerungen. Dürers Gebrauch des persönlichen Briefverkehrs lässt sich erst ab 1506, als er schon 35 Jahre alt war, mit seinen ersten erhaltenen Briefen aus Venedig an Willibald Pirckheimer (1470–1530) überhaupt belegen. Dass er offensichtlich weiß, wie man einen Korrespondenten höheren Ranges anspricht, sein Gebrauch fester Redewendungen und Briefformeln, die Gewandtheit im Umgang mit kontrastierenden Sprachregistern und Stilvariationen bezeugen, dass er keineswegs an die engen Normen des Unterrichts im Briefeschreiben an einer Schreib- und Rechnungsschule gebunden blieb. Im Zeitraum von 1480 bis 1517 erschienen drei Drucke, die dem gemeinen Mann „deutsch Rhetorica“ und „brieff formulary“ anboten (Sahm 2002, 49). Die Überlebensrate vor allem der volkssprachlichen Geschäftsbriefe von lokaler und nur kurzfristiger Relevanz war verschwindend klein, doch auch auch die Briefe eines schon hoch geschätzten Künstlers blieben wohl nur deshalb erhalten, weil ihr Adressat an einer ganz anderen Briefkultur Anteil hatte. Bezeichnenderweise hat Dürer Pirckheimers Briefe nicht aufbewahrt. Die quantitativ weit besser bezeugte Brieftradition der Renaissance ist eine fast ausschließlich lateinsprachige, von Gelehrten und Gebildeten getragene. Texte auf dieser kulturell überlegenen Ebene werden regelmäßig von Absendern kopiert, von Empfängern geschätzt und gesammelt. Daher gibt es sie heute noch in erstaunlich hoher Zahl. Um 1345 entdeckte Francesco Petrarca, der gemeinhin als Gründer des Renaissancehumanismus gilt, eine Handschrift mit den Briefen Ciceros an seinen Freund Atticus (62–43 v. Chr), was ihn veranlasste, den eigenen Briefwechsel mit Freunden in der Anthologie Rerum familiarum libri zu sammeln und zu veröffentlichen. Ciceros Briefe und seine Abhandlung über die Freundschaft, De Amicitia (44 v. Chr), hatten schon in früheren Phasen der Proto-Renaissance die Nachahmung antiker Briefkultur inspiriert, so am karolingischen Hof im 9. und in monastischen und akademischen Kreisen des 12. Jahrhunderts. In Deutschland im 15. und 16.  Jahrhundert wurden lateinische Korrespondenzen über die vielfältigsten Themen, persönliche, intellektuelle, politische, literarische und philosophische, zum grundlegenden Genre und Medium der Kommunikation zwischen Literaten, deren klassische Gelehrtheit und Pflege der Sprache, Literatur und kulturelle Werte sie als humanistische Elite auszeichneten. Manche nordeuropäischen Humanisten der Zeit um 1500, namentlich Desiderius Erasmus, der Nürnberger Senator und Gelehrte Willibald Pirckheimer, der Dichter und Historiker Konrad Celtis, der Jurist Christoph Scheurl, Luthers Lehrer Johann Staupitz,

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die führenden Reformatoren Georg Spalatin und Philipp Melanchthon kannten Albrecht Dürer, waren brieflich mit ihm in Verbindung oder nannten ihn in ihrem Briefwechsel. Über 1.300  Briefe an oder von Pirckheimer, im Fall des Erasmus mehr als 3.000, sind erhalten. Erasmus ließ noch zur Lebzeit eine Sammlung seiner Briefe anlegen und veröffentlichen. Dürers Mangel an Lateinkenntnissen schloss ihn von der eigentlichen humanistischen Briefkultur aus. Mit Pirckheimer und anderen korrespondierte er auf Deutsch. Sie konzedierten ihm gerade als hervorragendem Künstler, als moderner Verkörperung des antiken Apelles, Hofmaler Alexanders des Großen, nicht zuletzt dank seiner Autorschaft wissenschaftlicher Bücher, einen Ehrenrang in ihrer exklusiven Gesellschaft. Italienische Künstler des quattrocento hatten eher Zugang zu Kultur und Schrifttum des Humanismus als ihre transalpinen Zeitgenossen. Maler und Bildhauer genossen Gunst und Prestige an fürstlichen Höfen und erfreuten sich Mäzenen, die ihre Kunst weit über das hinaus schätzten und belohnten, was sich deutsche Kollegen um 1500 erträumten. Ein Indikator dieses höheren Status ist die Tatsache, dass Raphael, Leonardo da Vinci und Michelangelo zahlreiche Briefe schrieben, die gesammelt und als Kulturschätze eigenen Wertes angesehen wurden. Dazu trug der Faktor bei, dass die regionalen Formen des italienischen volgare viel näher am Neulateinischen lagen und anders als die deutsche Volkssprache nicht im selben Maße mit Konnotationen der Grobheit und Minderwertigkeit behaftet waren. Wichtiger noch war der fundamentale Wandel in der kulturellen Bewertung der Kunst und des Künstlers im Laufe des 15. Jahrhunderts in Italien. Die Vorstellung Petrarcas von der Wiedergeburt antiker Kunst und die Zuerkennung eines quasi-heroischen Status an die antiken Künstler Griechenlands in der Naturgeschichte Plinius’ des Älteren (23–79) erhöhten Rang und Stand des Künstlers überhaupt. Im Mittelalter gehörten Maler und Bildhauer der Kategorie der ‚mechanischen‘ Künstler an, die ihre Werke durch Handarbeit, nach den Faustregeln überkommener Fachkenntnisse erzeugten. In der Renaissance wurden sie zunehmend als inspirierte, ‚geniale‘ Schöpfer, als intellektuell und wissenschaftlich begabte, selbstständig arbeitende, ‚freie‘ oder ‚liberale‘ Künstler anerkannt. Plastische Kunstwerke galten fortan als potentiell gleichrangig mit den literarischen und philosophischen Schriften lateinisch ausgebildeter Dichter und Gelehrter. Künstlerbriefe durften demnach mit Humanistenbriefen verglichen werden, vollends wenn ein Lorenzo Ghiberti, Andrea Mantegna, Leonardo da Vinci oder Michelangelo sie in sorgfältig gepflegter humanistischer Kursivschrift verfassten (vgl. Ames-Lewis 2000, 26–30; Parker 2010). In seinen Briefen aus Venedig 1506 kontrastiert Dürer die Hochschätzung italienischer Künstler und den minderwertigen Status der deutschen ‚Handwerker‘, die venezianischen „czentillomen“ [feine Herren] und den Nürnberger „pultron de pentor“ [Pennbruder von einem Maler]: „Hy pin ich ein her, doheim ein schma-

4.4 Künstlerkorrespondenzen der Renaissance: Albrecht Dürer 

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rotzer“ (Dürer 1956, 44, 58–59). Vor 1506 schon genoss Dürer längst ein gewisses Ansehen auch in seiner Heimatstadt. Das Selbstbildnis aus dem Jahre 1498 zeigt ihn in dandyhafter Kleidung, die ihm laut Anstandsregeln nicht gebührt; deutschen Humanisten um 1500 wie Konrad Celtis, Jakob Wimpfeling und Christoph Scheurl galt er als deutscher Apelles (Dürer 1956, 290; Dürer 1969, 460). Als Künstler und – mit seiner von Handelsvertretern in Deutschland und Italien vertriebenen Druckgraphik – auch als Unternehmer verfolgte er die parallelen Ziele, die höchste technische und ästhetische Qualität in seinen Kunstwerken zu erreichen, ein dem eines Nürnberger Großkaufmanns vergleichbares Vermögen anzuhäufen und durch seine Schriften die Kunstwissenschaft und -praxis der Antike zu erneuern. So durfte er auch nach Nürnberger Maßstäben den Rang eines uomo universale reklamieren. In den Elementa rhetorices (1531) adaptierte Philipp Melanchthon Quintilians Einstufung der rhetorischen Stilebenen (Institutio Oratoria, vor 100 v. Chr.), um die stilistischen Leistungsgrade der führenden deutschen Künstler seiner Zeit zu charakterisieren. Albrecht Dürer vertritt den ‚großen Stil‘ („pingebat omnia grandiora“), Matthias Grünewald den ‚mittleren‘ („mediocritas“), Lucas Cranach der Ältere den schlichten, ‚niedereren‘, am weitesten von Dürers Manier entfernten. Als Schriftsteller überragt Dürer die Kollegen mit großem Abstand in Ausmaß und Leistung seiner Werke. Die Tätigkeit von Cranach und seiner Werkstatt ist ausführlich belegt, vor allem durch Lieferscheine, Rechnungen, Verträge, Quittungen und Anweisungen im Archiv der Ernestinerfürsten Sachsens, die sich auf die Unmenge der herzoglichen Aufträge vor and während der Reformation beziehen (vgl. Heydenreich 2007). Diese Quellen enthalten eine geringe Anzahl von Dokumenten in Cranachs eigener Handschrift oder stellvertretend in derjenigen seines Sohnes. In allen geht es um geschäftliche Angelegenheiten. Grünewald ist denkbar schlecht dokumentiert mit Ausnahme des umfassenden Inventars seines Nachlasses. Er hinterließ eine Sammlung von Reformationsschriften, umfangreicher als der belegte Buchbesitz Dürers, erhalten sind aber keine Briefe aus seiner Hand. Obwohl er gewiss keineswegs besser ausgebildet war als die beiden Zeitgenossen, schuf Dürer ein Textkorpus, das viele unterschiedliche Gattungen umfasst und nicht zuletzt durch den Briefwechsel den Vergleich mit italienischen Künstlern erlaubt.

2 Dürers Briefe: Übersicht Aus den 71 Texten im Abschnitt „Dürers Briefwechsel“ der Nachlass-Ausgabe Hans Rupprichs, scheiden neun als irrelevant aus – fünf sind Bruchstücke, zwei sind

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weder der Form noch der Absicht nach als Briefe aufzufassen, zwei sind inhaltlich belanglos. Von den 62 einschlägigen Briefen wurden 46 von Dürer selbst oder in seinem Namen geschrieben, 16 von anderen an ihn gerichtet. Wie folgende typologische Analyse darlegt, sind einige Briefserien nicht direkt persönlichen Charakters, was Typus und Inhalt betrifft. Es ist ohne Weiteres anzunehmen und geht teilweise aus dem erhaltenen Briefwechsel hervor, dass nur ein Bruchteil vor allem der persönlichen Korrespondenzen Dürers, sowohl der von ihm verfassten und noch mehr der an ihn adressierten Briefe, überliefert ist. Die frühesten der von ihm noch existenten Briefe stammen aus dem Jahre 1506, der älteste an ihn (gemeinsam mit zwei anderen) geschriebene ist von 1518. Erst aus dem Jahr 1524 gibt es einen eigentlichen Schriftwechsel – von jedem Teilnehmer ein Brief. Aus den Wanderjahren zwischen 1490 und 1493, auch von dem ersten Aufenthalt in Venedig um 1494–1495, fehlt jeder Briefkontakt. So mangelt es an allen unmittelbaren Informationen und Einsichten in seine persönliche und berufliche Entwicklung während dieser entscheidenden, prägenden Jugendzeit. Im ganzen Verlauf seines Lebens ermöglicht die Korrespondenz äußerst selten Einblicke, sei es in die Wirkung, die Briefpartner auf ihn ausübten, oder in die Resonanz, die seine Worte bei den Empfängern seiner Briefe erzielten. So lässt sich der Einfluss der Briefe Dürers auf die Anfänge und frühe Entwicklung einer deutschen Tradition des Künstlerbriefes oder auch nur deren Beitrag zum Genre wegen der Faktoren, die das Überleben der Texte überhaupt zuließen, nur schwer bestimmen. Zehn Briefe Dürers aus Venedig an Willibald Pirckheimer und neun Briefe an den Frankfurter Kaufmann Jakob Heller, über die von ihm beauftragte Altartafel, wurden von ihren Empfängern und deren Nachkommen aufbewahrt. Pirck­ heimers und Hellers Briefe gingen bei Dürer verloren. Die übrigen, meist einzelnen Texte aus seiner Korrespondenz sind auf jeweils verschiedene, indirekte Weise überliefert. Da Dürer offenbar eine Art Archiv seiner Notizen und Aufzeichnungen zur Kunst anlegte, wäre es eher überraschend, wenn er nicht auch die wichtigsten der an ihn geschriebenen Briefe aufbewahrt hätte. Während die Kunstschriften nach seinem Tode 1528 in die Hände Pirckheimers übergingen, waren die Briefe entweder schon verloren gegangen oder wurden etwa von seiner Frau zerstört. Jedenfalls sind lediglich fünf an ihn adressierte Briefe persönlichen Inhalts vorhanden. Die Herkunft dreier von diesen ist nicht festzustellen. Ein vierter, von Hans Tscherte (vgl. Dürer 1956, 94–95), beantwortet eine geometrische Anfrage Dürers und wurde wohl deshalb zu den technischen Akten gelegt, ebenfalls ein fünfter, samt Konzept (vgl. Dürer 1956, 100–101), der seine schroff ablehnende Reaktion auf den Entwurf eines unbenannten Humanisten zum Widmungsbrief der Vier Bücher von Menschlicher Proportion ausdrückt (vgl. Ashcroft 2017, ­702–710).

4.4 Künstlerkorrespondenzen der Renaissance: Albrecht Dürer 

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3 Zu den Textsorten und Korrespondenzen im Einzelnen 3.1 Briefe über einzelne Kunstwerke Merkwürdig wenige Briefe dokumentieren Entstehung, Förderung oder Rezeption einzelner Kunstwerke. Dürer erläutert heraldische Details des Wappenholzschnitts für Michael Beheim (vgl. Dürer 1956, 84). Er sendet an Kardinal Albrecht von Brandenburg Kupferplatte und Abdrücke von dessen Porträts (vgl. Dürer 1956, 96). Dem Schweizer Reformator Felix Frey (1470–1555) schickt er die Zeichnung „Affentanz“ (Dürer 1956, 107). Ein Brief vom Jahre 1526 (vgl. Dürer 1956, 117) bietet dem Nürnberger Rat die Tafeln der „Vier Apostel“ an, die ihm zum Gedächtnis im Rathaus hängen sollen. Die einzige ausgedehnte Korrespondenz in dieser Kategorie, die Briefe an Jakob Heller, verlangt hier einen eigenen Abschnitt.

3.2 Briefwechsel mit prominenten Zeitgenossen Vier Korrespondent*innen sind Verfasser*innen oder Empfänger*innen von Briefen, die nur nebenbei mit Kunstwerken zu tun haben, aber Dürers Verhältnis zur Renaissance bzw. zur Reformation beleuchten. Sie bezeugen seine Anerkennung seitens der Humanisten, die ausnahmsweise bereit sind, auf höherer intellektueller Ebene in deutscher Sprache zu korrespondieren und somit den kulturellen Status Dürers trotz dessen Mangel an humanistischer Qualifikation zu bestätigen. Die gelehrte Äbtissin Charitas Pirckheimer (vgl. Dürer 1956, 80–81) schätzt ihn als gleichrangiges Mitglied der Nürnberger Botschaft zum Augsburger Reichstag 1518. Dürer vertraut 1520 seine lutherischen Sympathien Georg ­Spalatin, dem Hofrat Kurfürst Friedrichs III. von Sachsen, an, beschenkt ihn allerdings gleichzeitig mit Abdrücken des Porträts Kardinal Albrechts von Brandenburg und drückt dabei den Wunsch aus, auch Martin Luther abbilden zu dürfen (vgl. Dürer 1956, 86–87). Im Jahre 1524 bittet Cornelius Grapheus (1482– 1558), Ratssekretär in Antwerpen und Freund des Erasmus, Dürer als Anhänger der Reformation, flüchtenden Augustinerbrüdern Zuflucht zu gewähren, die wegen protestantischer Sympathien aus den Niederlanden vertrieben worden sind (vgl. Dürer 1956, 108–109). Eine Seltenheit ist der erhaltene Briefaustausch, ebenfalls aus dem Jahr 1524, mit dem Münchener Mathematiker Nikolaus Kratzer (1486–1550), Hofastronom König Heinrichs VIII. von England, den Dürer durch Erasmus kennengelernt hatte (vgl. Dürer 1956, 111 u. 113). Gemeinsam ist ihnen das Interesse an Geographie, Geometrie und Optik, wiederum auch die Sorge um

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die Verbreitung der Reformation. Wie die meisten Menschen, die Dürer begegneten, und viele derjenigen, die mit ihm oder seinen humanistischen Bekannten korrespondierten, erbittet sich Kratzer Kopien von Dürers Graphik.

3.3 Korrespondenz über Dürers Finanzen Hier handelt es sich um den Lebensbereich Dürers, über den die Quellen am häufigsten und am vollständigsten berichten. Dafür verantwortlich ist das gewissenhaft gründliche Protokollwesen in der Nürnberger Ratskanzlei und in der Reichskanzlei der Habsburger Kaiser. Vom Jahre 1512 an, besonders intensiv zwischen 1515 und 1519, waren Kaiser Maximilian I. und der Nürnberger Rat bestrebt, ein Mittel zu finden, um den Künstler für seinen Anteil an den grandiosen ideologisch-kulturellen Projekten des Kaisers, dem es an Geldeinkommen permanent und peinlich fehlte, in erster Linie für den Holzschnitt-Komplex der ‚Triumphpforte‘, adäquat zu belohnen. Gelegentlich musste Dürer selber bei den Zwischenhändlern intervenieren. Die am Ende ersonnene Taktik einer Rente, die Nürnberg aus Steuergeldern bestreiten sollte, die sonst an die Reichsschatzkammer fällig gewesen wären, wurde mit dem Tod Maximilians hinfällig und musste nach mühsamer Verhandlung vom neuen Kaiser Karl V. wieder bestätigt werden. Dürer reiste 1520 nach Aachen, um für seine Sache zu plädieren. Vier Konzepte und Erlasse dokumentieren den Prozess (vgl. Dürer 1956, 88–92). Sechs Quittungen sind im Nürnberger Stadtarchiv erhalten, in Dürers Hand, aber genau dem Wortlaut einer amtlichen Vorlage folgend (vgl. Dürer 1956, 93–94, 106, 112, 118, 121). Im Jahre 1524 ergriff Dürer die Initiative und erhandelte sich von der Stadtverwaltung eine Leibrente unter günstigen Bedingungen. Der Bewerbungsbrief (vgl. Dürer 1956, 109–110) gibt Einsichten in seine Motivation. Trotz seines sowohl wirtschaftlichen als auch künstlerischen Erfolgs artikuliert er eine kaum berechtigte Angst vor dem Verarmen im Alter (das ihm ohnehin erspart blieb) und beklagt sich unerwartet bitter über den Mangel an Aufträgen vom Stadtrat.

3.4 Widmungsschreiben Nur in seinen mühsamen Versuchen im Genre der Widmungsepistel befasste sich Dürer mit einer Hauptform des humanistischen Briefes. Drei zeitgenössische Schriftsteller widmeten dem Künstler Veröffentlichungen. Sein enger Freund Lazarus Spengler (1479–1534), Stadtschreiber und Nachbar in der Zisselgasse, widmete ihm wohl 1509/10 seine Ermahnung und Unterweisung zu einem tugendlichen Wandel (vgl. Dürer 1956, 74–75). Jedes Kapitel hat als Überschrift einen

4.4 Künstlerkorrespondenzen der Renaissance: Albrecht Dürer 

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lateinischen Aphorismus, ferner lateinische Marginalien; Haupttext und abschließende Verse sind auf Deutsch. Die angestrebte Leserschaft war wohl der schriftfähige Mittelstand, der über ein wenig Latein verfügte. Spengler wird gewusst haben, dass Dürer sich eher etwas unterhalb dieses Niveaus befand, und lockert die humanistische Norm, indem er auch den Widmungsbrief auf Deutsch schrieb. Zum Ende des Jahres 1521, als er begann, eine kontroverse Rolle in der Reformbewegung in Wittenberg zu spielen, widmete ihm Andreas Bodenstein von Karlstadt (1480–1541) seinen kurzen Traktat Von Anbetung und Ehrerbietung der Zeichen des Neuen Testaments, eine Erörterung des Abendmahls (vgl. Dürer 1956, 93). Die theologische Auffassung der Eucharistie sollte bald zu einer heiklen zentralen Kontroverse zwischen der alten und den neuen Kirchen werden. Es ist unklar, warum Karlstadt ausgerechnet Dürer zu seinem günner [Gönner] wählte. Dieser war ihm allenfalls als früher Anhänger der Kirchenreform bekannt. Gegen Ende seines Lebens, im September 1527, widmete ihm Willibald Pirckheimer die griechische Ausgabe und lateinische Übersetzung der ersten Hälfte von Theophrasts Charakteren, Federskizzen tadelnswerter Individuen (vgl. Dürer 1956, 119). Pirckheimer macht keine Zugeständnisse an Dürers geringe Lateinkenntnisse und völlige Unkenntnis des Griechischen, etwa wenn er Probleme bei der Übersetzung aus dem Griechischen und Disparitäten zwischen dem griechischen und dem lateinischen Wortschatz erörtert. Dagegen zollt er ihm Tribut „als meinem allerbesten Freund“ und empfiehlt ihm Theophrasts „artiges Gemälde“: „so du es mit deinem Pinsel nicht nachtun kannst, so erwäge es dennoch fleißig in deinem Verstand und Gemüt“ (Dürer 1956, 119). Es ist anzunehmen, dass Pirckheimer ihm eine deutsche Übersetzung zumindest der Widmungsepistel gab. Deren Originaltext ebnet taktvoll den Weg zwischen wohlgesinntem Humor, eleganten Komplimenten und Herablassung. Jedes der drei Bücher, die Dürer selbst in den 1520er Jahren veröffentlichte, hat eine Widmungsepistel an Pirckheimer, wohl auf die Empfehlung des Adressaten selbst, der überhaupt bei deren Konzeption und Durchführung entscheidend mitwirkte (vgl. zum Folgenden: Ashcroft 2005; Sahm 2002, 117–128). Im Laufe des Jahres 1523 bereitete Dürer die Druckfassung der Vier Bücher menschlicher Proportion vor. In der Tat erschien das Werk erst nach seinem Tod im Herbst 1528. Er beabsichtigte wohl von Anfang an, die Schrift Pirckheimer zu widmen. Sie betont seinen lang gehegten Wunsch, jungen Künstlern und Handwerkern eine Abhandlung über Theorie und Praxis der bildenden Künste vorzulegen. Seiner „vngelerten geringen verstentnus“ und seiner mangelnden Beherrschung der „kunst des wolredens“ peinlich bewusst, erlaubte er einem unidentifizierten Humanisten, das Modell eines Widmungsbriefes zu entwerfen (Dürer 1956, 97–100). Über das Resultat war er entsetzt und beschwerte sich bei Pirckheimer wegen der üppigen Rhetorik, Hochgestochenheit, Langatmigkeit und Befangenheit in stereotypen

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Gattungskonventionen der gelehrten humanistischen Widmungsepistel (vgl. Dürer 1956, 100–101, vgl. dazu auch 123; Ashcroft 2017, 707–710). Danach bemühte er sich in einer Reihe von zögernden, unschlüssigen Ansätzen, eine den eigenen Voraussetzungen gemäße Version zu formulieren, des gelehrten Mäzens würdig, sie zugleich dem eigenen, bescheideneren Bildungsniveau anpassend (vgl. Dürer 1956, 101–106). Die endgültige, 1528 gedruckte Fassung (vgl. Dürer 1956, 125–126) dürfte kaum die im Wortlaut eigene Formulierung Dürers sein, sondern eher ein nach seinem Tod fertiggestellter Kompromiss zwischen dem fremden humanistischen Entwurf und seiner ungehobelten, jedoch authentischen Darstellung des mühsamen Fortgangs bei der Schaffung eines deutschen Diskurses der Kunsttheorie und -praxis. Es wird nirgendwo deutlicher, wie schwierig die Rezeption und Ausarbeitung der Renaissanceidee für Dürer war, dessen Verständnis der Kunst anfangs aus dem spätmittelalterlichen Handwerk stammte, der stets auch einer deutschen Ästhetik huldigte und immer bestrebt war, die Kunstlehre im volkssprachlichen Idiom zu artikulieren. Für sich, ohne erhaltene Vorarbeiten, steht die weit einfachere Widmung der „Unterweisung der Messung“ an Pirckheimer aus dem Jahr 1525 (vgl. Dürer 1956, 105–106). Die Widmung der „Befestigungslehre“ (1527; vgl. Dürer 1956, 121–123) an König Ferdinand von Böhmen und Ungarn stammt höchstwahrscheinlich unmittelbar von Pirckheimer.

3.5 Die Briefe aus Venedig an Willibald Pirckheimer Zehn Briefe an Willibald Pirckheimer (vgl. Dürer 1956, 41–60) – wiederum nur die eine Seite eines Briefwechsels – belegen Dürers Aufenthalt in Venedig von Ende 1505 bis Anfang 1507 (vgl. Sahm 2002, 60–85; Fara 2007; Ashcroft 2017, 133–174). Sie stellen die vielseitigsten und nuanciertesten seiner persönlichen Schriften dar, mitunter atemberaubend in ihrer Freiheit von gesellschaftlichen und kulturellen Zwängen, bisweilen auch von sittlicher Befangenheit, so entfernt wie nur möglich von den späten humanistisch gespreizten Widmungsepisteln an Pirckheimer. Sicher auf Impulse aus Pirckheimers nicht erhaltenen Briefen reagierend, schreibt Dürer über seine Kunstaufträge, seine keineswegs reibungslosen Begegnungen mit italienischen Malern, die Spannungen zwischen seiner Kunstpraxis und den Normen und Erwartungen venezianischer Kunstliebhaber. Er gibt Einblicke in die Ausformung seines künstlerischen Selbstbewusstseins und vermittelt den inneren Prozess seiner Ambition, auf eigene deutsche Art und Weise Renaissance-Künstler zu werden. Es geht aus seinem kunstverwandten Vokabular deutlich hervor, dass er während der beiden Venedig-Aufenthalte die einheimische Umgangssprache zu verstehen und wohl auch zu sprechen gelernt hat (vgl. Ashcroft 2019). Dürers Gebrauch von venezianisch-italienischen Lehn-

4.4 Künstlerkorrespondenzen der Renaissance: Albrecht Dürer 

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wörtern, -übersetzungen und -bedeutungen setzt Pirckheimers Beherrschung des Italienischen, aus seiner langen Studienzeit in Padua und Pavia, voraus. Witzige Sprachspiele in den Briefen zeigen eine unerwartet raffinierte Seite von Dürers Bildung und Kultiviertheit. In den Briefen 7 und 8 leistet er sich ein ausgedehntes, extravagantes, venezianisch-lateinisch-deutsches Sprachspiel, um Pirckheimers wohl selbstironisches Eigenlob als Nürnberger Soldat und Diplomat zu verulken. Sprachlich verblüffend sind ferner seine Übertragungen von Schlüsselbegriffen des italienischen Kunstdiskurses ins Deutsche: „antigisch art“ für „all’antica“, „erhaben“ für „sublime“ (Dürer 1956, 44, 57; Ashcroft 2017, 140–141, 165–166). Dürers Selbstverständnis und Selbstachtung entwickeln sich spürbar im Prozess seines Briefeschreibens. Zunächst erweist er dem herrischen Patrizier (der seine Reise teils finanziert hatte) bescheidenen Respekt, führt gewissenhaft Aufträge aus, erwirbt für ihn Juwelen, griechische Drucke, Hutfedern, Perserteppiche. Daraus wird schnell der neckende Satiriker von – und Intrigant bei – Pirckheimers Liebesabenteuern und Gelüsten. Er spielt sich kulturell und gesellschaftlich auf, ämuliert und wetteifert mit dem Höhergestellten – „Jch mit meiner [Altar-] thafell und jr cum woster [vostro] weisheit“ (Dürer 1956, 58). Die Anerkennung seiner Kunst durch Giovanni Bellini, das Lob seines Marienaltars durch den Dogen und den Patriarchen besiegeln seine Transformation vom Nürnberger Handwerker mit gesellschaftlichen Ansprüchen über seinen mittleren gesellschaftlichen Rang hinaus zum renaissancehaften gentiluomo. Dieser extravaganten Selbstinszenierung liegt die gleiche Umwertung des Künstlers zu Grunde, die auch die Briefe Raphaels, Leonardos und Michelangelos durchzieht: die Umwandlung des ‚Artisan‘ [Handwerker] zum ‚Artifex‘, zum intellektuell qualifizierten Exponenten einer freien ‚liberalen‘ Kunst. Was den Status des deutschen Künstlers, auch des allerbegabtesten, um 1500 jedoch beeinträchtigte, war nicht zuletzt die sprachliche Disqualifikation, da er in der Volkssprache schrieb statt im humanistischen Latein. Dürer gelang es immerhin, die venezianische Mundart der Renaissancesprache Italienisch zu sprechen (vgl. Ashcroft 2019).

3.6 Die Briefe an Jakob Heller Bald nach seiner Rückkehr aus Venedig im Frühjahr 1507 schloss Dürer mit dem Frankfurter Kaufmann Jakob Heller einen offenbar mündlichen Vertrag ab, der ihm in neun Briefen belegten unvorhergesehenen Ärger bereitete (vgl. Dürer 1956, 64–74; Ashcroft 2017, 208–227). Auch in diesem Fall geht es um einen Briefwechsel, von dem nur Dürers Anteil erhalten ist. Heller bestellte Haupttafel und Flügel eines Altars, der für eine von ihm und seiner Frau gestiftete Grabkapelle in der Frankfurter Dominikanerkirche bestimmt war. Zu dieser Zeit hatte sich Dürer

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schon verpflichtet, für Friedrich III. von Sachsen den Altar der „Marter der Zehntausend Christen“ zu schaffen. Er verlor noch weitere Zeit durch Krankheit und war erst um Ostern 1508 in der Lage, mit Hellers Auftrag anzufangen. Es ist klar, dass er für die Vorbereitungen und sukzessiven Phasen der Arbeit an der Tafel Hellers Meinung nach unmäßig viel Zeit beanspruchte – das Bemalen der Flügel durch seine Gehilfen ging viel zügiger voran –, so dass er terminlich immer weiter in Rückstand geriet. Sein für Hellers Begriffe verschwenderischer Gebrauch vor allem von Ultramarin-Farbe ließ die Kosten weit über das anfangs Vorgesehene hinaus ansteigen. Dürer hatte sich offensichtlich in dem nur mündlich geschlossenen Abkommen mit dem schlauen Heller arg verkalkuliert und der gewiefte Kaufmann war nicht vom Vertrag abzubringen. Dürers Briefe dokumentieren einen auf beiden Seiten zäh ausgekämpften Disput zwischen Auftraggeber und Künstler. Der Maler argumentierte in immer schärferem Ton für eine Belohnung, die seinem Zeitaufwand und der Qualität seiner Kunst entsprach. Dabei gewährt er seltene Einsicht in den Prozess der Herstellung eines Kunstproduktes. Er versuchte, dem Laien Heller seine hier aus unternehmerischer wie ästhetischer Perspektive dargestellte Kunstauffassung zu vermitteln, die künstlerische Einschätzung des praktischen Könnens, des geistigen Wissens und der beruflichen Sachkenntnis, die im gegebenen Fall mit Thema, stilistischer Ebene und Entlohnung des bestellten Werkes in Verbindung zu bringen seien. Was Disput und Korrespondenz auslöste und trieb (wir dürfen es ebenfalls für Heller annehmen), war der merkwürdig lässige, ungeschäftsmäßige, ungeschriebene Vertrag zwischen dem Maler, der sonst eher scharf auf sein finanzielles Interesse achtete, und dem hartgesottenen Unternehmer. Die Einmaligkeit dieser Korrespondenz liegt darin, dass sie ständig zwischen der realen, gewerbsmäßigen Ebene des Werkstattbriefes, dem Diskurs über künstlerische Technik und den malerischen Arbeitsprozessen und der Artikulation künstlerischer Werte und des Selbstverständnisses des Renaissancekünstlers schwankt.

4 Fazit Albrecht Dürer steht in der frühen Renaissance außerhalb Italiens fast ganz allein da. Auf eine etwa schon existierende Tradition des über das rein Geschäftsmäßige hinausgehenden Künstlerbriefes konnte er nicht aufbauen. Auch begründete er keine solche Tradition. Als Einziger in seiner Zeit hinterließ er ein Korpus von Briefen, die nicht ausschließlich fachlicher Art sind, sondern eine breite Skala der Funktionen und eine reiche Palette der Textsorten und stilistischen Effekte umfassen (zum eventuell paradigmatischen Potential von Dürers ‚epistolarischen‘

4.4 Künstlerkorrespondenzen der Renaissance: Albrecht Dürer 

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Denk-, Sprach- und Darstellungsformen, vgl. Brisman 2016). Sie dokumentieren seine marginale Stellung im sozialen und ökonomischen Gefüge Nürnbergs, zwischen ‚ehrbarem‘ Mittelstand der Händler und Handwerker und der geschlossenen Patrizierkaste. Einerseits der größte Maler und Graphiker seiner Zeit in Nordeuropa, der auch in Italien Anerkennung gewann, mangelte es ihm andererseits an entscheidenden bildungsmäßigen und kulturellen Qualifikationen der gesellschaftlichen und intellektuellen Eliten. Diese Ambivalenz seiner Position, die auch eine Dichotomie in seiner Persönlichkeit bloßzulegen scheint, entpuppt sich am peinlichsten, wenn er versucht, die gedruckten Abhandlungen zur Kunst mit Widmungsepisteln in humanistischer Manier auszustatten. In den Briefen aus Venedig wendet sich das Nachteilige ins erstaunlich Positive. Hier bringt das Medium Brief seine Individualität und sein angeborenes Selbstbewusstsein auf eine Weise zum Ausdruck, die mit seiner Selbstdarstellung in Gemälden und Zeichnungen vergleichbar ist und damit die Grenze zwischen alltagshaft-geschäftlichen und humanistisch-intellektuellen Diskursen überschreitet. In den Beschriftungen seiner späten Serie von Kupferstichen eminenter Humanisten (Erasmus, Pirckheimer, Melanchthon) scheint er dem vielzitierten Diktum Giovanni Pico della Mirandolas (1469–1533) zuzustimmen, dass „der Unterschied zwischen einem Porträt und einem Brief derjenige ist, dass jenes den Körper und dieser den Geist darstellt“ (Ashcroft 2017, 800).

5 Zum Forschungsstand Heike Sahm (2002, 50) konstatierte, dass „die Geschichte des volkssprachigen Privatbriefs an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert kaum erforscht ist und auch für Nürnberg eine umfassende Untersuchung bislang fehlt“. Bei der humanistisch-lateinischen Brieftradition sieht das Bild wesentlich anders aus. Ältere Standardwerke wie Georg Steinhausens Geschichte des deutschen Briefes (1889/91) und die Anthologie der Künstlerbriefe von Ernst Guhl (21880) sind nicht mehr brauchbar. Weder das Kapitel über Textsorten des Frühneuhochdeutschen im Standardhandbuch Sprachgeschichte (1985) noch Hans Rupprichs beide sonst umfassende Bände zur Literaturgeschichte Vom späten Mittelalter bis zum Barock (1970/73) bieten eine Diskussion des Aufstiegs und der Entwicklung des deutschsprachigen Briefgenres überhaupt, geschweige denn der Künstlerkorrespondenz. In einer sehr zu wünschenden überarbeiteten Fassung von Rupprichs Ausgabe des schriftlichen Nachlasses Dürers müsste Platz geschaffen werden für einen philologisch-kulturgeschichtlich-literarischen Textkommentar, der den sprachlichen Leistungen Dürers auf allen diesen Gebieten gerecht würde.

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Zitierte Literatur Ames-Lewis, Francis (2000). The Intellectual Life of the Early Renaissance Artist. New Haven u. London. Ashcroft, Jeffrey (2005). „Dürer und die kunst des wolredens: Zur Entstehung der Widmung der ‚Vier Bücher von menschlicher Proportion‘ an Willibald Pirckheimer“, in: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. v. Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann u. Anne Simon. Berlin u. New York: 467–486. Ashcroft, Jeffrey (2017). Albrecht Dürer. Documentary Biography. 2 Bde. New Haven u. London. Ashcroft, Jeffrey (2019). „Albrecht Dürers Venexian“, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 141.3: 360–394. Brisman, Shira (2016). Albrecht Dürer and the Epistolatory Mode of Address. Chicago. Dürer, Albrecht (1956–1969). Schriftlicher Nachlass. Hg. v. Hans Rupprich. 3 Bde. Berlin. Fara, Giovanni Maria (2007). Lettere da Venezia. Mailand. Heydenreich, Gunnar (2007). Lucas Cranach the Elder. Painting Materials, Techniques and Workshop Practice. Amsterdam. Parker, Deborah (2010). Michelangelo and the Art of Letter Writing. Cambridge. Sahm, Heike (2002). Dürers kleinere Texte: Konventionen als Spielraum für Individualität. Tübingen.

Weiterführende Literatur Gerlo, Alois (1983). „Erasmus von Rotterdam: Sein Selbstporträt in seinen Briefen“, in: Der Brief im Zeitalter der Renaissance. Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung 9. Hg. v. Franz Josef Worstbrock. Weinheim: 7–24. Möncke, Gisela (Hg.) (1982). Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Mittel- und Oberdeutscher Städte im Spätmittelalter. Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Darmstadt. Schneider, Marianne (2002). Leonardo da Vinci. Eine Biographie in Zeugnissen, Dokumenten und Bildern. München.

Tilmann Walter

4.5 Ärztebriefe (16. und 17. Jahrhundert) Die Epistolae medicinales reichen als eigenständiges Genre bis ins 16. Jahrhundert zurück, und ihre Druckgeschichte zeugt von einem seit dieser Zeit bestehenden intensiven Interesse der Fachleute an den Briefen frühneuzeitlicher Ärzte. Am einflussreichsten waren mit Blick auf den deutschsprachigen Raum Sammlungen mit den Korrespondenzen von Giovanni Manardi (1521 und 1531), Bernhard Unger (1533), Luigi Mondella (1538), Niccolò Massa (1550), Johannes Lange (1554, 1560 und 1589), Taddeo Duno (1555), Pietro Andrea Mattioli (1561), Conrad Gessner (1577, 1584 und 1591), Orazio Augenio (1579), Vittore Trincavelli (1586), Johannes Crato von Krafftheim (1591–1595, 1598), Thomas Erastus (1595), Andreas Libavius (1595 und 1599) und Jakob Horst (1596). Im 17. Jahrhundert erschienen in brieflicher Form die Observationes von Wilhelm Fabricius Hildanus (1606–1627), Gregor Horst (1625 und 1628), Augustin Thoner (1649 und 1653) und Georg Hieronymus Welsch (1667), die Epistolae Thomas Bartholins (1663 und 1667) und die Epistolae et consilia von Balthazar Timaeus von Güldenklee (1665). Hinzu kamen zahlreiche Neuauflagen und Sammelausgaben, etwa die von Johann Hornung herausgegebenen Cista medica (1626). Der Schwerpunkt der frühen Ärztebriefausgaben lag inhaltlich auf der Textkritik der antiken Quellen zur Heilkunde (vgl. Maclean 2008, 18–19; Siraisi 2013, 60). Dagegen stand nach der Mitte des 16.  Jahrhunderts aktuelles Wissen mit brauchbaren Rezepten auf dem Gebiet von Botanik und Pharmazie im Vordergrund (vgl. Pomata 2010, 202; Siraisi 2013, 85–87). Da das Bewusstsein eines stetigen Fortschritts in der Medizin um das Jahr 1600 schon ausgeprägt war (vgl. Walter 2012), wurden die Manardi-Briefe in ihrer Funktion als Standardwerk abgelöst durch die im 17. Jahrhundert mehrfach aufgelegten Epistolae et consilia Cratos und Fabricius Hildanus’ chirurgische Observationes. Die moderne Medizingeschichtsschreibung hat seither die Menge der publizierten Briefe durch zahlreiche Editionen noch ansteigen lassen. Überdies ist seit über 20 Jahren ein neuer Schub der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Briefen festzustellen. Besonderes Interesse gilt dabei den ‚Netzwerken‘ (vgl. Hitzbleck 2014) von Gelehrten und ihrem Austausch von naturkundlichen Beobachtungen, Beschreibungen, Abbildungen, Proben und Spezies. So existieren inzwischen Briefkataloge zu einzelnen Ärzten des 16. und 17. Jahrhunderts wie Hermann Conring (1606–1681), Thomas Erastus (1524–1583), Wilhelm Fabricius Hildanus (1560–1634), Conrad Gessner (1516–1565), Johannes Posthius (1537– 1597), Johannes Sambucus (1531–1584) und Theodor Zwinger (1533–1588). Die Korrespondenzen von Oswald Croll (ca. 1560–1609), Engelbert Kaempfer (1651– https://doi.org/10.1515/9783110376531-052

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1716), Wolfgang Reichart (1486–1544), Hermann Schedel (1410–1485) und Joachim Vadian (1483/84–1551) wurden in eigenständigen Ausgaben ediert. Weitere Briefe von Medizinern lassen sich in zahlreichen Aufsätzen oder in den Editionen von Gelehrten anderer Fächer finden, wie etwa in der Amerbachkorrespondenz, in den Briefwechseln der Brüder Ambrosius und Thomas Blarer, von Heinrich Bullinger, Andreas Dudith, Erasmus von Rotterdam, Johannes Kepler, Martin Luther, Philipp Melanchthon u.  a. Inzwischen wird die umfassende Erschließung der Briefe und Korrespondenzen von Medizinern des deutschen Sprachraums seit Februar 2009 im Projekt Frühneuzeitliche Ärztebriefe des deutschsprachigen Raums (1500–1700) der Bayerischen Akademie der Wissenschaften angestrebt, das unter der Leitung von Michael Stolberg am Institut für Geschichte der Medizin in Würzburg durchgeführt wird. Als ‚Ärztebriefe‘ werden dabei (wie im vorliegenden Artikel) Briefe und Korrespondenzen studierter Ärzte verstanden, in Abgrenzung von Wundärzten, Badern, Barbieren, Apothekern oder Laienärzten. Der deutschsprachige Raum schließt die heutige Bundesrepublik, Österreich und die deutschsprachige Schweiz sowie zahlreiche ehemals deutsche Städte in Osteuropa ein. Berücksichtigung finden weiterhin Briefe von Ärzten aus dem nichtdeutschen Sprachraum, sofern sie an deutschsprachigen Universitäten oder Höfen geschrieben wurden. Die Ergebnisse des Projekts werden der Öffentlichkeit durch eine laufend erweiterte und aktualisierte Datenbank (vgl. http://www.aerztebriefe.de) zugänglich gemacht. Neben den selbst erhobenen Daten bietet der Internetauftritt Links zu Digitalisaten von Manuskripten und alten Drucken sowie zu den Onlinefassungen moderner Editionen.

1 Das Korpus Im Zuge von Humanismus und Reformation hatte sich um die Mitte des 16. Jahrhunderts unter Gebildeten ein Bewusstsein entwickelt, dass Briefe in literarischer, wissenschaftlicher, historischer und familiengeschichtlicher Hinsicht ein erhaltenswertes Gut sind. Solche Briefsammlungen stammen z.  B. von den Ärztefamilien Bauhin, Platter und Zwinger (in der Universitätsbibliothek, im Folgenden: UB Basel), Camerarius (UB Erlangen, Bayerische Staatsbibliothek München), Neefe (Stadtarchiv Chemnitz) oder Schobinger und Vadian (Kantonsbibliothek Vadiana, im Folgenden: KB St. Gallen). Auf der Grundlage des für die Datenbank Ärztebriefe des deutschsprachigen Raums explorativ erhobenen Briefmaterials lassen sich Vermutungen über den Umfang des Gesamtkorpus der erhalten gebliebenen Ärztebriefe anstellen.

4.5 Ärztebriefe (16. und 17. Jahrhundert) 

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Bis einschließlich Dezember 2018 wurden etwa 61.375 Ärztebriefe zuverlässig katalogisiert, davon 43.300 innerhalb der Ärztebriefedatenbank sowie weitere ca. 9.575 Briefe durch die UB Basel, ca. 4.165 Briefe durch die UB Erlangen, ca. 3.550 Briefe durch die KB St. Gallen und knapp 785 Briefe aus der Korrespondenz Hermann Conrings. (Diese Briefe werden in den kommenden Jahren noch in die Datenbank eingepflegt.) Hinzu kommen unkatalogisierte Bestände wie die Meibom-Sammlung in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen mit geschätzten 4.000  Briefen, die Wepfer-Sammlung in der UB Leiden mit geschätzten 1.500  Briefen und die Thurneisser-Korrespondenz in der Staatsbibliothek zu Berlin mit geschätzten 1.000 Briefen. Somit sind mit Sicherheit über 67.000 Briefe aus den Korrespondenzen von Medizinern des 16. und 17.  Jahrhunderts handschriftlich oder durch den Buchdruck erhalten geblieben. Zu rechnen ist weiterhin mit bisher nicht gesichteten Briefbeständen sowie mehreren tausend gedruckten Widmungsbriefen (die im Rahmen der Ärztebriefedatenbank nicht vollständig erfasst werden können). Hinsichtlich der räumlichen Verteilung sind unter den 43.300 in der Ärztebriefedatenbank erfassten Briefen 57,6  Prozent auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland entstanden, auf dem heutigen Gebiet der Schweiz 9,4 Prozent, Polens 6,2 Prozent, Frankreichs 3,8 Prozent, Italiens 4,4 Prozent, Österreichs 2,6 Prozent (bei systematischer Suche in österreichischen Archiven könnte dieser Anteil dem der Schweiz nahekommen), Tschechiens 1,8 Prozent, Russlands 1,5  Prozent, der Niederlande 1,1  Prozent und Großbritanniens 0,4  Prozent. Im Rahmen des Ärztebriefeprojekts wurden bis Dezember 2018 sechstausend Ärzte namentlich erfasst und identifiziert. In welchem Verhältnis diese Summe zur Gesamtzahl der Absolventen medizinischer Fakultäten im 16. und 17. Jahrhundert steht, ist nicht bekannt. Die von der Zahl ihrer Briefe her wichtigsten Verfasser darunter sind: der kaiserliche Leibarzt Johannes Crato von Krafftheim (1519–1585) mit über 2.400 eigenen Briefen, der Arzt und Universalgelehrte Hermann Conring, dessen 1.769 katalogisierte Briefe selten medizinischen Inhalts sind, die Nürnberger Ärzte Joachim Camerarius II. (1534–1598) und Heinrich Wolff (1520–1581) mit jeweils etwa 550  Briefen, Thomas Erastus, dessen etwa 530  Briefe mehrheitlich einen theologischen Inhalt haben, Conrad Gessner mit etwa 500 Briefen und Gereon Sailer (ca. 1500–1562) mit etwa 300  Briefen (kaum medizinischen Inhalts).

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 4 16./17. Jahrhundert

2 Sprache, Textsorten, Inhalte Von den in der Ärztebriefedatenbank erfassten Briefen sind 70,7  Prozent auf Lateinisch und 0,6  Prozent ganz oder mit nennenswertem Textanteil auf Griechisch geschrieben. (Mehrfachangaben zur Sprache der Briefe sind möglich.) Von den übrigen Briefen sind 24,7 Prozent auf Deutsch geschrieben, 1,1 Prozent auf Italienisch, 0,7 Prozent auf Französisch, 0,2 Prozent auf Niederländisch sowie 0,1 Prozent jeweils auf Englisch und Polnisch. Die lateinischen und griechischen Briefe von Medizinern stehen formal wie inhaltlich in der Tradition der Humanistenbriefe des 15. und 16. Jahrhunderts. So finden sich darunter nach antiken Vorbildern gereimte Briefe oder eingestreute Gedichte, direkte oder indirekte Zitate aus der Antike, formelle Einladungen zur Aufnahme einer Brieffreundschaft, Freundschaftsbekundungen, lobende Hervorhebungen der altgriechischen Textüberlieferung, Gelehrtenlob oder polemische Attacken gegen Konkurrenten auf dem Gebiet von Geistesleben und Dichtkunst. Nicht nur poetische Bemühungen, sondern auch die Behandlung von philologischen Problemen und Fragen der Textkritik sind besonders für Ärztebriefe aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts kennzeichnend. Das für die Widmungsbriefe, die sich in fast jedem gedruckten Werk finden lassen, typische Fürsten-, Gelehrten- oder Städtelob ist offen zu anderen panegyrischen Formen hin. Daneben traten fachliche Inhalte, anfangs überwiegend auf botanischem Gebiet. So bemühten sich die als ‚Väter der Botanik‘ bekannten Fachschriftsteller Otto Brunfels (ca. 1488–1534), Hieronymus Bock (1498–1554), Euricius Cordus (1486–1535) und Leonhart Fuchs (1501–1566) in der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts um ein besseres Verständnis der antiken Quellen. Sachkommentare, inhaltliche Ergänzungen oder Korrekturen auf Grundlage eigener Beobachtungen spielten seit etwa 1530, vor allem aber in den 1540er und 1550er Jahren eine zunehmende Rolle. An den Universitäten Padua, Tübingen, Montpellier, später auch Basel, Leiden und an weiteren Hochschulen wurden mit den Studenten praktische Übungen veranstaltet. Dadurch (und durch den zeitgleich einsetzenden anatomischen Unterricht) wurden Mediziner nicht nur als Buchgelehrte ausgebildet, sondern gezielt auch in empirischer Beobachtung geschult. Schon seit der Antike gibt es Textsorten typisch medizinischer Ausrichtung, die auch postalisch ausgetauscht wurden, wie Konsultationen, Konsile, Rezepte, Krankengeschichten, Fallbeschreibungen oder Observationen (vgl. Kempe 2004; van Miert 2013; Pomata 2010; Siraisi 2013, 7–8, 25–27; Stolberg 2007). Seit den 1560er Jahren wurde die Frage nach dem pharmazeutischen Nutzen (meist in Auseinandersetzung mit den Schriften des Paracelsus) auch auf unbelebte Stoffe wie Metalle ausgeweitet. Sogar erklärte Kritiker von Paracelsus wie Joachim Camera-

4.5 Ärztebriefe (16. und 17. Jahrhundert) 

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rius, Conrad Gessner, Johannes Crato von Krafftheim und Andreas Libavius (ca. 1560–1616) begannen zu ihrer Zeit, mit der Herstellung neuartiger Medikamente zu experimentieren und sie in ihre Praxis miteinzubeziehen (vgl. Moran 2007; Walter 2012). Systematische Laborexperimente mit Arzneigrundstoffen wurden gegen Ende des 16. Jahrhunderts unter Medizinern populär. Dadurch kam es im Sprachgebrauch zu einem schleichenden semantischen Übergang von der experientia als sinnlicher Erfahrung im Allgemeinen zu einem Synonym von experimentum als methodisch herbeigeführter Beobachtung. Auf diesem Gebiet tat sich besonders Andreas Libavius hervor, der um 1600 seine langen gelehrsamen Abhandlungen zur Chemiatrie in humanistischer Tradition als (teils fiktive) Briefe verpackte, eine literarische Praxis, wie sie am Beginn des Untersuchungszeitraums auch von Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486–1535), Johannes Lange und Bernhard Unger ausgeübt wurde. Überlegungen und Ansichten gaben Mediziner ebenfalls zu Fragen der Theologie, Geschichte, Numismatik u.v.m. weiter. Berichte und politische Kommentare zur Weltlage, zu den religiösen Konflikten der Epoche, zum Verhalten einzelner Herrscher und zum Verlauf kriegerischer Konflikte flossen als ‚Zeitungenʻ in die Briefe mit ein. Texttypologisch erscheint die Trennung von Briefen mehr fachlichen und mehr persönlichen Inhalts (epistolae doctae/epistolae familiares) eindeutig. Tatsächlich geht beides aber oft bunt durcheinander, und gelehrsame oder geschäftsmäßige Passagen wechseln sich unvermittelt mit Klagen über den eigenen Gesundheitszustand, Hadern mit den Lebensumständen oder Meinungsäußerungen über Kollegen ab. Dieser Mischmasch ist, bei Crato und Gessner, gerade für zwei der fleißigsten und einflussreichsten Briefschreiber unter den Ärzten typisch. Als ‚reine‘ Privatbriefe wird man am ehesten Korrespondenzen zwischen Vater und Sohn oder anderen nahen Familienmitgliedern ansehen können, wie sie von Thomas und Felix Platter, Wolfgang und Zeno Reichart, Hermann und Hartmann Schedel oder Georg Keller und Rudolf Gwalther auch ediert vorliegen. Hier wurden vertrauliche oder vor Außenstehenden sogar ausdrücklich geheim zu haltende Mitteilungen ausgetauscht, wie bspw. Meinungen zur politischen Lage in der Heimatstadt oder abschätzige Urteile über einflussreiche Mitbürger. Solche Briefwechsel waren Familienschätze, die erst in ihrer Funktion als sozialhistorische Quellen in jüngerer Zeit in den Druck kamen. Zu den deutschsprachigen Textsorten gehören ebenfalls Familienbriefe (etwa die weniger zahlreichen Briefe an weibliche Mitglieder der Familie), vor allem aber die häufigen und umfangreichen Briefwechsel der Ärzte mit ihren Patienten sowie ihre dienstliche Post an Fürsten, Regierungen und Städte. Dabei sind die Grenzen zwischen im Kanzleistil abgefassten Briefen im modernen Sinn und

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 4 16./17. Jahrhundert

Urkunden (die im hier besprochenen Zeitraum ebenfalls als ‚Briefe‘ bezeichnet wurden) oder Akten offen. Amtliche Schriftstücke wie Berichte oder Schauzettel (anlässlich einer Sondersiechen-, Wund- oder Leichenschau), medizinische Gutachten, Protokolle der Sanitätsdeputierten, Gesundheitszeugnisse u.  Ä. wurden dabei oft nachlässig auf irgendwelche Zettelchen hingeworfen, hatten aber gleichwohl amtlichen und damit für den Verwaltungsgang verbindlichen Charakter, den man durch Unterschrift oder Siegel bestätigte. Als Ego-Dokumente wurden Briefe schon in der ‚Große-Ärzte‘-Literatur des 19. Jahrhunderts hoch geschätzt. In dieser Tradition steht ein früherer Versuch, sie gemeinsam mit Tagebüchern, Autobiographien und Memoiren systematisch bibliographisch zu erfassen (vgl. Jessen und Voigt 1996). In sozial- und mentalitätshistorischer Perspektive bieten Ärztebriefe ein weites Forschungsfeld zur sozialen und finanziellen Lage von Medizinern und ihren Familien sowie zu ihrem selbst erlebten Gesundheits- und Gemütszustand. Konsultationen und Krankheitsgeschichten seitens der Patienten wurden als Quellen für das subjektive Körper- und Krankheitserleben ausgewertet (vgl. Dinges und Barras 2007; Stolberg 2003, 2007). Aus dem Blickwinkel der Erforschung der Gelehrtenbriefwechsel und -netzwerke betrachtet drehen sich die Schreiben von Medizinern oftmals um den Fortgang der eigenen Studien, Forschungen und Publikationen oder Studium und Lehre, mithin das professionelle Umfeld und die Karrierechancen an den Universitäten. Im Zuge des self-fashioning wurde dabei versucht, das eigene berufliche Fortkommen durch das Schreiben entsprechender Briefe zu beschleunigen (vgl. Delisle 2008, 53–70; Van Houdt et al. 2002; Walter 2013).

3 Sozialgeschichte Gemäß den Briefinhalten wurde der Postverkehr oft durch informelle Kontakte der Gelehrten zu Studenten, Buchhändlern und Kaufleuten ermöglicht. Entsprechend unterschiedlich gestalteten sich die Brieflaufzeiten zwischen Handelsmetropolen oder Universitätsstädten und abgelegenen Ortschaften. Zwischen mündlicher und schriftlicher Nachricht bestand ein wechselseitig offenes Verhältnis. Bei Empfehlungsschreiben diente der mitgebrachte Brief als schriftliche Fürsprache für den Überbringer. Umgekehrt findet sich ein vertrauenswürdiger Bote in Briefen oft als Quelle für die mündliche Fortsetzung des Briefinhalts oder als Medium für besonders vertrauliche Inhalte erwähnt. Wechselseitig offen erscheint ebenfalls das Verhältnis von Brief und Begleitsendungen. Besonders kurze Briefe kann man als Begleitschreiben zu einer Warensendung verstehen, andere Sendungen werden dagegen explizit als beglei-

4.5 Ärztebriefe (16. und 17. Jahrhundert) 

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tende Höflichkeitsgeschenke oder Proben zur Bestätigung der wissenschaftlichen Aussagen des Briefes (hinsichtlich Pflanzen, Tieren, Mineralien, Münzen usw.) dargestellt. Briefe wurden von Büchersendungen, Katalogen, Abbildungen, Druckformen, Samen, Proben, Pflanzen, Gebrauchsgütern, Lebensmitteln usw. begleitet. Typisch für Medizinerbriefe waren mitgeschickte Rezepte oder Apothekerwaren. Begleitet wurden Briefe aber vor allem von anderen Briefen, mit der Bitte, diese weiterzuleiten. Die Briefnetzwerke von Medizinern waren in Bezug auf naturkundliche Informationen offen gegenüber studierten Philologen, Pädagogen, Geistlichen und Juristen, im Bereich der Botanik gegenüber Apothekern und der Pharmazie gegenüber Alchemisten. Conrad Gessner und andere weisen in ihren Werken und Briefen auch darauf hin, von Jägern, Handwerkern oder Kräuterweiblein und ‚Kräutlern‘ aus dem Volk mündliche Informationen erhalten zu haben. Demgegenüber finden sich unter ihren Informanten wenige Adlige, von denen manche freilich, wie etwa die Korrespondenz von Landgraf Moritz von Hessen in der Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek Kassel beweist, mit Medizinern und Alchemisten intensiv über Probleme der Alchemie und Chemiatrie korrespondierten. Die gesellschaftlichen Rangunterschiede illustrierten, betonten und manifestierten auch die Widmungsbriefe an Adlige. Die demonstrative Hervorhebung der ‚Humanität‘ und Freigebigkeit der Herrschenden hatte den Hintergrund, die Empfänger der Dedikationen zu materiellen Zuwendungen zu bewegen. Anders als die dienstliche Post wurden solche Widmungsschreiben meist in lateinischer Sprache aufgesetzt, denn Gelehrtheit gehörte zu den Tugenden eines guten Herrschers, und man unterstellte dadurch, dass der Geehrte einen lateinischen Brief würde selbst lesen können, denn die Verkehrssprache innerhalb der Gelehrtenrepublik war Latein. Durch die an den europäischen Universitäten in ihren Grundsätzen gleichartige Ausbildung in den artes, welche auch die Absolventen der höheren Fakultäten zunächst durchliefen, wurden tendenziell nationale Kulturunterschiede eingeebnet. Das Ideal eines gleichberechtigten, ‚demokratischenʻ Umgangs unter den Latein schreibenden Mitgliedern der Gelehrtenrepublik wurde, wie ihr vorgeblich sozial egalitärer Charakter, dabei aber wohl überbewertet. So sind vor dem Hintergrund der in Wirklichkeit vorherrschenden religiösen Zersplitterung der europäischen Gesellschaften die oft nachdrückliche Einnahme konfessioneller Standpunkte sowie die komplementäre Bevorzugung religiös konformer Briefpartner unübersehbare Tatsachen. Konfessionell anders eingestellten Briefpartnern begegnete man demgegenüber oft nur mit Vorsicht. Auch gelang es Glaubensflüchtlingen schneller, sich in einem konfessionell konformen Land sozial zu integrieren, wie etwa die einflussreichen Ärztedynastien in Basel bzw.

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 4 16./17. Jahrhundert

Zürich beweisen, die auf Jean Bauhin (1511–1582) und Giovanni Muralto († wohl 1576) zurückgingen. Die konfessionellen Gegensätze überschnitten sich mit ethnischen Stereotypen. Beide zusammen ließen im ausgehenden 16. Jahrhundert Italien als das Mutterland des Humanismus in den Augen vieler deutscher Protestanten weniger attraktiv erscheinen. Das engagierte Auftreten von Jesuiten oder katholischer Kontroverstheologen an anderen Orten wurde ebenfalls nicht selten als Motiv für Studien- oder Wohnortswechsel protestantischer Akademiker genannt. Im 17. Jahrhundert wurden deshalb ein Studium in oder wissenschaftliche Kontakte zu den Niederlanden und nach Großbritannien immer beliebter und bedeutsamer. Sozialhistorisch gehörte die Beherrschung der alten Sprachen zu den notwendigen Grundfertigkeiten von Gelehrten und konstituierte auch den Berufsstolz studierter Ärzte mit. In vielen an die Obrigkeiten gerichteten Beschwerdebriefen grenzten sie sich von ungelehrten ‚Scharlatanenʻ und ‚Störernʻ ab, unter die neben Laienärzten (lat. empirici) auch nicht-lateinkundige Wundärzte, Apotheker oder Hebammen fielen, die es wagten, auf dem Feld der inneren Medizin zu praktizieren. Erkennbare Lücken in der Beherrschung der alten Sprachen konnten daher eine soziale Marginalisierung zur Folge haben. Den zentralen symbolischen Wert des Lateinischen sowie der Fähigkeit, Briefe in dieser Sprache zu wechseln, kann umgekehrt das Beispiel des gelernten Wundarztes Wilhelm Fabricius Hildanus illustrieren, dem es durch die Publikation mehrerer Hundert lateinischer observationes und epistolae gelang, sich in der Fachwelt auf dem Gebiet von Chirurgie und Anatomie den Ruf eines gelehrten Experten (lat. eruditus) zu erwerben. Das erste Hundert seiner gedruckten observationes widmete er dem Kölner Medizinprofessor Arnold Manlius († 1607), womit er ihr persönliches Lehrer-Schüler-Verhältnis außerhalb des üblichen ordentlichen Studiums öffentlich zu machen suchte.

4 Wissenschaftsgeschichte Im Formierungsprozess der neuzeitlichen Gesellschaft sicherte ihre gehobene soziale und wirtschaftliche Stellung den Medizinern eine (von außen auch nur selten fundamental angezweifelte) professionelle Autorität. Oft zu Tage tritt in ihren Briefen ebenfalls eine subjektive Zufriedenheit mit dem eigenen Beruf. Angesichts des politisch übermächtigen Adels und bei größerer Nähe der Absolventen der juristischen Fakultät zum damaligen Politikbetrieb engagierten sich Mediziner vor allem sozialpolitisch oder innerhalb der entstehenden naturwissenschaftlichen Forschung. So erscheinen Ärzte im 17. und 18. Jahrhundert neben

4.5 Ärztebriefe (16. und 17. Jahrhundert) 

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studierten Theologen, welche sich dabei vor allem in England hervortaten, als gentlemen naturalists, Philanthropen und Volksaufklärer: Diese beiden Berufsgruppen gehörten idealtypisch zu den sozialen Trägern der New Science und der Naturwissenschaften der Aufklärungszeit. In dem Bestreben, andere zur Zusendung von naturkundlichen Mitteilungen, Beobachtungen, Bücher- oder Pflanzenkatalogen, Abbildungen, Beschreibungen, Proben, Präparaten oder Spezies zu bewegen, welche er dringend für seine zahlreichen Veröffentlichungsprojekte benötigte, verschickte beispielsweise Conrad Gessner viele entsprechende Werbungs- und Einladungsbriefe (vgl. Blair 2016). Von Gessners Seite her war dieser Austausch nicht etwa auf Gegenseitigkeit ausgerichtet. Der Zürcher Arzt und Naturkundler wünschte vielmehr von anderen zu profitieren und beklagte deshalb ausdrücklich, ‚leere‘ Briefe in Empfang nehmen zu müssen. Als Gegenleistung stellte er den Zusendern die Nennung ihres Namens oder die Zueignung von Widmungsbriefen in seinen einschlägigen Werken und manchmal sogar die Benennung einer Spezies in Aussicht. Nicht ohne eigennützige Hintergedanken formulierte Gessner deshalb gegenüber Leonhart Fuchs im Jahr 1556 ein Forschungsprogramm zu ihrem wissenschaftlichen Fachgebiet, der Botanik, dessen Grundüberlegungen bald zu Gemeinplätzen wurden: Da die Vielzahl aller Spezies das Erkenntnisvermögen jedes Menschen überfordere, müssten Eitelkeit und Entdeckerstolz des Einzelnen im Sinne wissenschaftlicher Kooperation vor dem höheren Ziel des allgemeinen Nutzens zurückstehen (vgl. Heller und Meyer 1983, 65). Diese stets weiter zunehmende, gezielte und thematisch immer umfassendere Übermittlung von Wissen und Praxiserfahrungen zwischen den Gelehrten erscheint im Rückblick als typisches Merkmal der frühneuzeitlichen Wissenschaft (vgl. Delisle 2008, 85–139; Van Miert 2013). Der ebenfalls florierende Austausch und die anschließende Veröffentlichung von Abbildungen exotischer Pflanzen und Tiere vermittelten vielen Gelehrten überdies direkte sinnliche Eindrücke einer so zuvor nicht gekannten Wirklichkeit (vgl. Egmond und Kusukawa 2016). Vor diesem Hintergrund erscheinen ‚Freundschaftenʻ unter Gelehrten zunächst einmal konventionell. Bloß konventionelle Freundschaften erwiesen sich freilich im wissenschaftlichen Austausch als wenig belastbar und ergiebig. Den Adressaten nicht persönlich zu kennen, wurde deshalb von nicht wenigen Briefschreibern als klares Manko benannt, wenn sie Anliegen von Bedeutung vorzutragen hatten. Umgekehrt kennzeichnen die oft wiederkehrenden Hinweise auf gemeinsame lebensgeschichtliche Perioden oder Schlüsselereignisse das demonstrative Herausstreichen echter emotionaler Bindungen auch im wissenschaftlichen Briefverkehr. Im Zuge des im 16. und 17. Jahrhundert einsetzenden Empirieschubs war die Vertrauenswürdigkeit der Informanten auch bei Berichten über selbst angestellte Beobachtungen oder Experimente von großer Bedeutung.

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 4 16./17. Jahrhundert

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im brieflichen Verkehr unter Ärzten seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor dem Hintergrund ihrer veränderten medizinischen und wissenschaftlichen Praxis drei von vier Elementen der sogenannten wissenschaftlichen Revolution  – der explizite Fortschrittsglaube, die Praxis des methodisch angestellten Experiments und Bestrebungen zu einer kollektiven Wissensorganisation – bereits existent waren. Man wird solche epis­ temischen Überzeugungen und Praktiken folglich nicht als Innovationen (miss-) verstehen dürfen, die sich erst zur Hochzeit der wissenschaftlichen ‚Revolution‘ im 17. Jahrhundert entwickelten. Was anfangs aber noch fehlte, war ein geschlossenes wissenschaftsphilosophisches Programm, wie es dann von einem Außenstehenden wie Francis Bacon formuliert wurde. Bacon fasste jedoch nur programmatisch zusammen, was unter zahlreichen Medizinern längst gängige Praxis in ihren Forschungen war. Indes stellt heute die Mathematisierung und Mechanisierung des physikalischen Weltbilds wohl für viele das zentrale Element der wissenschaftlichen ‚Revolution‘ des 17. Jahrhunderts dar. Der Übergang von der geozentrischen zur heliozentrischen Kosmologie entspricht dabei auch der geläufigen Vorstellung von einem schlagartigen Wechsel der Weltbilder am ehesten. Ihr ist vor dem Hintergrund des hier Ausgeführten der Gedanke einer evolutionären Entwicklung der Wissenschaften des 16. und 17.  Jahrhunderts entgegenzuhalten, wie sie später im 19. und 20. Jahrhundert im Zuge des Evolutionskonzepts Charles Darwins in weiten Teilen der Biologie und der Humanwissenschaften zur vorherrschenden Leitidee wurde. Vor dem älteren wissenschaftshistorischen Hintergrund von Isaac Newtons Konzeption physikalischer ‚Naturgesetze‘, mit deren Hilfe der göttliche Schöpfungsplan mathematisch nachvollzogen und seine Schöpfung auf einfache Grundregeln zurückgeführt werden sollte, spielten demgegenüber mathematische Berechnungen in der Medizin des 16. und 17. Jahrhunderts keine vergleichbare Rolle. Abertausende von Briefen, die von Ärzten geschrieben wurden, können vielmehr zeigen, dass die Medizin als Heilkunde und Heilkunst in erster Linie dem Einzelfall, dem einzelnen Kranken sowie seiner individuellen Therapie verpflichtet blieb.

Zitierte Literatur Blair, Ann (2016). „Conrad Gessner’s Paratexts“, in: Gesnerus, 73.1: 73–122. Delisle, Candice (2008). Establishing the Facts: Conrad Gessner’s Epistolae Medicinales between the Particular and the General. (Diss.) London; http://discovery.ucl. ac.uk/1445225/1/U592543.pdf (4.11.2019).

4.5 Ärztebriefe (16. und 17. Jahrhundert) 

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Dinges, Martin u. Vincent Barras (Hg.) (2007). Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum. 7.–21. Jahrhundert. Stuttgart. Egmond, Florike u. Sachiko Kusukawa (2016). „Circulation of Images and Graphic Practices in Renaissance Natural History: the Example of Conrad Gessner“, in: Gesnerus, 73.1: 29–72. Heller, John L. u. Frederick G. Meyer (1983). „Conrad Gessner to Leonhart Fuchs, October 18, 1556“, in: Huntia, 5.1: 61–75. Hitzbleck, Kerstin (2014). „Verflochten, vernetzt, verheddert? Überlegungen zu einem erfolgreichen Paradigma“, in: Die Grenzen des Netzwerks 1200–1600. Hg. v. ders.  u. Klara Hübner. Ostfildern: 17–40. Houdt, Toon van, Jan Papy, Gilbert Tournoy u. Constant Matheeussen (Hg.) (2002). SelfPresentation and Social Identification. The Rhetoric and Pragmatics of Letter Writing in Early Modern Times. Leuven. Jessen, Jens u. Reiner Voigt (1996). Bibliographie der Autobiographien. Bd. 4: Selbstzeugnisse, Erinnerungen, Tagebücher und Briefe deutschsprachiger Ärzte. München u.  a. Kempe, Michael (2004). „Gelehrte Korrespondenzen. Frühneuzeitliches Wissen im Medium postalischer Kommunikationen“, in: Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive. Hg. v. Fabio Crivellari, Kay Kirchmann, Marcus Sandl u. Rudolf Schlögl. Konstanz: 407–429. Maclean, Ian (2008). „The Medical Republic of Letters Before the Thirty Years War“, in: Intellectual History Review, 18.1: 15–30. Miert, Dirk van (Hg.) (2013). Communicating Observations in Early Modern Letters (1500–1675). Epistolography and Epistemology in the Age of the Scientific Revolution. London u. Turin. Moran, Bruce T. (2007). Andreas Libavius and the Transformation of Alchemy. Separating Chemical Cultures with Polemical Fire. Sagamore Beach. Pomata, Gianna (2010). „Sharing Cases: The Observationes in Early Modern Medicine“, in: Early Science and Medicine, 15.3: 193–236. Siraisi, Nancy G. (2013). Communities of Learned Experience. Epistolary Medicine in the Renaissance. Baltimore. Stolberg, Michael (2003). Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit. Köln u.  a. Stolberg, Michael (2007). „Patientenbriefe und vormoderne Medikalkultur“, in: Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum. 7.–21. Jahrhundert. Hg. v. Martin Dinges u. Vincent Barras. Stuttgart: 23–33. Walter, Tilmann (2012). „New Light on Antiparacelsianism (c. 1570–1610): The Medical Republic of Letters and the Idea of Progress in Science“, in: The Sixteenth Century Journal, 43.3: 701–725. Walter, Tilmann (2013). „Ärztliche Selbstdarstellung im Zeitalter der Fugger und Welser. Epistolarische Strategien und Repräsentationspraktiken bei Felix Platter (1536–1614)“, in: Person und Milieu. Individualbewusstsein? Persönliches Profil und soziales Umfeld. Hg. v. Angelika Westermann u. Stefanie von Welser. Husum: 285–314.

Online-Quellen Ärztebriefe: http://www.aerztebriefe.de (22.12.2018).

Regina Dauser

4.6 Das Korrespondenznetz Hans Fuggers (1531–1598) Mit dem Namen Fugger verbindet man für gewöhnlich in erster Linie die Geschichte einer der, wenn nicht sogar der bekanntesten frühneuzeitlichen, von Augsburg aus europaweit agierenden Kaufmanns- bzw. Bankiersdynastien. Die Bedeutung Fugger’scher Kommunikationspraktiken für die europäische Briefkultur ist erst in der jüngeren Forschung in den Fokus gerückt worden. Hans Fuggers Briefwechsel, die umfangreichste und wohl auch vielfältigste überlieferte Fuggerkorrespondenz, verdeutlicht zentrale Leistungen des Mediums Brief in der zweiten Hälfte des 16.  Jahrhunderts  – weit über kaufmännische Belange und Erfordernisse hinaus. Hans Fugger, stellvertretender Leiter der Fugger’schen Handelsgesellschaft und Mitglied der dritten Generation der Fugger von der Lilie, die 1526 in den erblichen Grafenstand erhoben worden waren, nutzte seine Korrespondenz nicht nur für Geschäfte, sondern auch für den Transfer politischer Nachrichten, zur Organisation eines repräsentativen, nach adeligen Maßstäben geführten Haushalts und schließlich zur Organisation zeitspezifisch unverzichtbarer Patronagekontakte. Mit seinem Korrespondenznetz schuf er ein Gefüge an sozialen Beziehungen, die über Jahre hinweg vorwiegend brieflich aufrechterhalten, auf unterschiedlichen Ebenen entwickelt, ergänzt und verstärkt wurden.

1 Überlieferung der Korrespondenz 4.851 Briefe Fuggers an 494 Adressaten sind bislang bekannt; überliefert wurden sie in erster Linie in einer Serie von Kopierbüchern, zeitgenössisch mit dem Titel „Herrn Hannsen Fuggers aigen copierbuech“ versehen. 58 Hefte dieser Kopierbuchserie sind erhalten und decken den Zeitraum von 1566 bis 1594 ab, mit mehreren Überlieferungslücken, vor allem ab Ende der 1580er Jahre. Die Anlage von Kopierbüchern war unter Kaufleuten ausgesprochen verbreitet. Zu den 4.676 Briefen der Kopierbuch-Überlieferung treten 175 Briefe an die bayerischen Herzöge Albrecht V. und Wilhelm V. sowie an Philipp Ludwig Pfalzgraf von Neuburg, archivalisch überliefert im Geheimen Hausarchiv der Wittelsbacher bzw. im Bayerischen Hauptstaatsarchiv sowie in der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. Nicht alle Briefe Fuggers, ob diktierte oder eigenhändig abgefasste Schreiben, haben also in den Kopierbüchern Niederschlag gefunden. https://doi.org/10.1515/9783110376531-053

4.6 Das Korrespondenznetz Hans Fuggers (1531–1598) 

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Indizien der archivalischen Überlieferung legen nahe, dass Hans Fugger 1563/64 mit der Führung der Kopierbücher begann und allein die Kopierbücher bis zum Jahr 1594 ca. 7.000 bis 8.000 Briefe umfasst haben dürften – Schätzungen sind angesichts der großen Schwankungen des jährlichen Briefaufkommens in den Kopierbüchern schwierig (vgl. Dauser 2008a, 25–33). Die Kopierbucheinträge stellen Diktate der Briefe an Hans Fuggers Sekretäre dar, die häufig entweder von den Sekretären auf Weisung Fuggers oder eigenhändig von ihm überarbeitet wurden. Christl Karnehm (2003) hat unter Mitarbeit von Maria Gräfin Preysing ausführliche Regesten zu allen Kopierbuch-Briefen verfasst und damit die Grundlagen für eine umfassende Neubewertung der Briefe Hans Fuggers geschaffen, konnte sie doch nachweisen, dass Fugger sich nicht, wie von der älteren Forschung angenommen (vgl. Lill 1908), auf die Sammlung von Kunstwerken bzw. auf mäzenatische Aktivitäten konzentrierte, sondern über seine Korrespondenz als „Außenminister“ (Karnehm 2003, I, 14*) der Familie tätig wurde. Seine inhaltlich völlig anders geprägte Korrespondenz zur Verwaltung seiner Landgüter schied Fugger selbst von der Archivierung des „aigen copierbuechs“; sie wurde von der Forschung bislang nicht bearbeitet und wird auch im vorliegenden Artikel nicht berücksichtigt.

2 Adressaten- und Themenstruktur Der einleitend bereits angedeuteten Themenfülle der Korrespondenz entspricht ein breites Spektrum an Korrespondenzpartnern, das vom Pferdeknecht bis hin zu regierenden Fürsten reichte. Gruppiert man Fuggers Adressaten nach ihrer Profession, so stellten (zumeist adelige) Amtsträger in fürstlichen bzw. kaiserlichen Diensten die größte Adressatengruppe dar (27 Prozent der 494 Adressaten), gefolgt von Fugger’schen Handelsdienern oder sonstigen Angestellten (16 Prozent), einer größeren Gruppe von Adeligen ohne Amtsfunktionen (14 Prozent) und einer vergleichsweise kleinen Gruppe von (adeligen) Heerführern in den Diensten europäischer Fürsten (8 Prozent). Die restlichen Adressaten entstammten unmittelbar der Fuggerfamilie bis zum zweiten Verwandtschaftsgrad (5 Prozent), noch seltener dem höheren Klerus, stellten regierende Fürsten mit ihren Familienangehörigen dar, Hofmeister (zumal der Kinder Hans Fuggers), Kaufleute und deren Angestellte, Handwerker, Künstler, Juristen oder Ärzte. Frauen als Briefpartnerinnen, insgesamt nur 7 Prozent aller Adressaten, gehörten ganz überwiegend der Fugger’schen Familie an. Ein nicht geringer Teil der erwähnten adeligen Korrespondenten bzw. der fürstlichen und kaiserlichen Amtsträger war mit der weit verzweigten Fuggerfamilie verwandt (vgl. Dauser 2008a, 59–68).

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Betrachtet man die Häufigkeit, mit der Fugger mit den genannten Gruppen korrespondierte, so fällt auf, dass drei Viertel aller Briefe an drei Gruppen gerichtet waren: Mehr als ein Drittel der Briefe adressierten Handelsdiener und Angestellte der Fugger – hier sind einfache Besorgungsaufträge ebenso verzeichnet wie brieflicher Austausch über die Abwicklung von Großkrediten oder Berichterstattung über politische Entwicklungen an den Standorten Fugger’scher Niederlassungen in Europa, die von Madrid bis nach Prag reichten. Knapp ein Viertel der Briefe wurde an fürstliche und kaiserliche Amtsträger gesandt (22 Prozent), an dritter Stelle folgten regierende Fürsten und deren Familienmitglieder (14 Prozent), vornehmlich aus der bayerischen Herzogsfamilie, zu der eine enge geschäftliche Beziehung bestand – 447 Briefe waren allein an Wilhelm V. von Bayern adressiert, ab 1579 regierender bayerischer Herzog. Schon hier lässt sich erkennen, dass die Gattungsbezeichnung ‚Privatbrief‘, die für die Frühe Neuzeit kaufmännische Korrespondenz einbezieht, auch in dieser Korrespondenz durchaus nicht intim-persönlichen Austausch meint (vgl. Dauser 2008a, 70–72). Dieser Befund spiegelt sich in der thematischen Struktur der Korrespondenz – wobei zu beachten ist, dass in einem Brief häufig mehrere Schreibanlässe miteinander verbunden wurden (zu Adressaten und Briefthemen vgl. Karnehm 2005 sowie Dauser 2008a, 80–116). Fast die Hälfte aller Briefe Fuggers thematisiert Dienstleistungen Fuggers und seiner Angestellten für Adressaten oder Dritte  – Kredite oder Wechselgeschäfte ebenso wie Warenkäufe, besonders im Kunsthandel (Antiquitäten u.  ä.) bzw. im Bereich der Luxuswaren und Exotica (vor allem Stoffe, Pelze, Delikatessen, erlesene Pferde), aber auch Waffen- oder Rüstungskäufe, zudem der Weiterversand von Briefen. Zum größten Teil sind die Wareneinkäufe für Adressaten als reine Gefälligkeiten anzusehen, war doch die FuggerFirma im Handel mit Luxuswaren und Antiquitäten nicht (mehr) engagiert. Nur ein gutes Viertel der Schreiben handelte von persönlichen Anschaffungen oder von der Beauftragung von Künstlern (Musiker, Maler, Bildhauer, Drechsler) für die repräsentative Ausstattung des Wohnhauses Fuggers in Augsburg oder seiner Landsitze. Mit den Waren und Finanztransaktionen wurde nicht selten auch das damit verbundene Wissen übermittelt, etwa über Usancen im Transfer von Wechseln, aber auch über die Anwendung von Fugger gelieferter Heilmittel aus Übersee (z.  B. Arzneipflanzen aus Südamerika und Asien, vgl. Dauser 2007). Die Verbindung mehrerer Themen in einem Brief, etwa des Antiquitätenkaufs mit dem Nachrichtentransfer, mit der familiären Mitteilung oder der Bitte um Gewährung eines Privilegs lässt das Potential aufscheinen, das verschiedene Gefälligkeiten als Beziehungsgrundlage oder Schreibanlass boten, an die bei der Pflege von Briefbeziehungen angeknüpft werden konnte. Die Thematisierung familiärer bzw. persönlicher Angelegenheiten gilt gemeinhin als augenfälligstes Kennzeichen von Ego-Dokumenten. Berichte über

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das persönliche Befinden Hans Fuggers, zur Erziehung der Kinder, zu Heiraten, dem Ergehen der Verwandten, zum plötzlichen Tod seiner Ehefrau Elisabeth sind in rund einem Viertel der Briefe thematisiert. Doch auch Fuggers Kommentare zu den großen Nachrichtenereignissen seiner Zeit sowie seine Bitt- und Empfehlungsschreiben, die im Folgenden noch näher in ihrer briefgeschichtlichen Bedeutung charakterisiert werden sollen, bieten reiches Material zur Biographie Fuggers, wenngleich auch in eher indirekten Aussageweisen (vgl. die Charakterisierung der Bedeutung als Ego-Dokumente bei Dauser 2008a, 104–114). Gelehrte Fragen werden bei Fugger freilich nicht diskutiert, wissenschaftlichen Fragen ging eher sein Bruder Markus nach; auch beim Erwerb von Kunstwerken stand für Fugger sehr deutlich der repräsentative Zweck im Vordergrund (vgl. Diemer 2007). Die Forschung hat bislang über die Frage der Bedeutung des Auftraggebers und Sammlers Hans Fugger für die Kunstgeschichte (vgl. Lill 1908; Diemer 2007) hinaus seine Korrespondenz vor allem in Hinblick auf ihre Bedeutung für den zeitgenössischen Nachrichtentransfer und für den Schriftverkehr im PatronKlienten-Verhältnis betrachtet. Darüber hinaus beinhaltet sie freilich zahlreiche Detailinformationen zu Fragen der Alltags- und Mentalitätsgeschichte, allein schon anhand der Fülle von Angaben zur standesgemäßen Repräsentation durch Wohnsitzgestaltung und Kunstbesitz im patrizisch-adeligen Milieu, zur Ess- und Gartenkultur bis hin zum Stellenwert der Pferdezucht.

3 Die informationelle Leistung der Fugger­ Korrespondenz – Brieflicher Nachrichtentransfer im 16. Jahrhundert Gut ein Fünftel der Briefe thematisiert Nachrichten aus europäischen politischen Zentren bzw. von Krisenherden  – durch Großkredite der Fugger an zahlreiche Fürsten bzw. Kriegsherren der Zeit, vornehmlich an die Habsburger, waren solche Berichte von unmittelbarer geschäftlicher Relevanz. Hans Fuggers Korrespondenznetz ist in mehrfacher Hinsicht eine Quelle par excellence für die Organisation von Nachrichtentransfer für europäische Eliten im 16. Jahrhundert – waren doch Briefe zu dieser Zeit, abgesehen vom reitenden Boten, die mit Abstand schnellste Form der Nachrichtenübermittlung. Rasche, zutreffende und möglichst detaillierte Berichterstattung war ein gefragtes Gut – unverzichtbar sowohl für europäische Fernhandelskaufleute und Bankiers als auch für politische Entscheidungsträger. Entsprechend finden sich die ersten ‚Nachrichtenzentren‘ in

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den großen europäischen Handelsstädten und an Fürstenhöfen (vgl. SporhanKrempel 1968; Dauser 2008a, 120–121, 127–129). Auch in Augsburg, bezeichnenderweise der ersten Reichsstadt, die ein Postamt der Ende des 15. Jahrhunderts durch Maximilian I. eingeführten Reichspost beherbergte, etablierte sich ein teil-professionalisiertes ‚Nachrichtenwesen‘. Ohne die Augsburger Kaufleute, in ganz Europa und bald nach Kolumbusʼ Fahrten in die ‚Neue Welt‘ auch in Übersee präsent, wäre ein regelmäßiger Informationstransfer kaum denkbar gewesen – jede Fernhandelsgesellschaft unterhielt durch ihre Geschäftspartner bzw. Niederlassungen (Faktoreien) institutionalisierte Briefverbindungen, über die neben geschäftlichen Informationen auch stets Meldungen über die politischen Zeitläufte übermittelt werden konnten. Nachrichtendrucke, in Augsburg eine Spezialität der Buchdrucker, waren jedoch nur eine Zweitverwertung des handschriftlichen Nachrichtenverkehrs. Wie schon zuvor in Italien entwickelte sich in Augsburg das Berufsbild des Novellanten, des gewerbsmäßigen Schreibers von Nachrichten auf Abonnementbasis, angewiesen auf Kontaktleute bzw. Korrespondenten. Noch exklusiver arbeiteten sogenannte Nachrichtenagenten, die gegen Entgelt brieflich für zahlende Abnehmer regelmäßig von bestimmten Orten berichteten. Nach Augsburg, im 16. Jahrhundert eine der bedeutendsten Fernhandelsstädte Europas und Schauplatz zahlreicher Reichstage, floss im 16. Jahrhundert auf den Handels- bzw. Post- und Botenrouten, die wöchentlich bedient wurden, ein kontinuierlicher brieflicher Nachrichtenstrom, sodass Augsburger Nachrichten den „Charakter eines Markenprodukts“ entwickelten (vgl. Behringer 2003, 303–330, Zitat 330). Nachrichtenübermittlung hatte im Hause Fugger Tradition: Schon Jakob Fugger der Reiche (1459–1525), Hans Fuggers Großonkel, versorgte ihm geschäftlich verbundene Fürsten mit Nachrichten (vgl. Pölnitz 1941); Hansʼ Vettern Ulrich und Johann Jakob Fugger sandten Nachrichtenbriefe an die bayerischen Herzöge (vgl. Zwierlein 2006). Auch die sogenannten Fuggerzeitungen waren nichts anderes als handgeschriebene Nachrichten (zeitgenössisch ‚Zeitungenʻ), die Hansʼ Vettern Philipp Eduard (1546–1618) und Octavian Secundus Fugger (1549–1600), Eigner einer separaten Handelsfirma, sammelten und zum Teil an ausgewählte Korrespondenten weitergaben (vgl. Keller und Molino 2015). Nicht umsonst galten Nachrichten, die über die Fugger vermittelt wurden, als besonders exklusiv und gefragt. Hans Fugger war kein bezahlter Nachrichtenagent  – von ihm versandte Nachrichten waren eine hochgeschätzte Gefälligkeit, aber dennoch mit Aufwand verbunden. Seine Informationen, besonders prominent vom Krieg der aufständischen Niederlande gegen ihren Herrn, König Philipp II. von Spanien, sowie von den sogenannten Türkenkriegen gegen das Osmanische Reich, bezog Hans Fugger wöchentlich von seinen Niederlassungsleitern, zudem von Geschäftspartnern

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oder von Novellanten. Wie seine Briefe belegen, wurden diese eingehenden Nachrichten in der Schreibstube der Fugger-Firma vervielfältigt und an ausgewählte Korrespondenten weiterversandt. Fuggers Kopierbücher überliefern nicht diese vervielfältigten Nachrichten, sondern seine Kommentare zu diesen ‚Zeitungsbeilagenʻ. Auf diese Weise wird nicht nur die hohe Regelmäßigkeit der Sendungen (an ausgewählte Briefpartner wöchentlich) und die – gemessen an damaligen Brieflaufzeiten – große Aktualität der Fugger-Nachrichten deutlich. Klar wird auch, dass Nachrichten gezielt entsprechend den Interessen der Adressaten ausgewählt wurden – und dass ganz bestimmte Gruppen von Korrespondenzpartnern tragende Rollen bei der Aufrechterhaltung dieses Transfers innehatten. Die Wochensendungen der Faktoren der Fugger-Firma waren das ‚Rückgrat‘ des Informationstransfers; hohe Amtsträger und Offiziere, mit denen Fugger brieflichen Kontakt pflegte, hatten diese Verpflichtung nicht, und doch lieferten sie in größeren zeitlichen Abständen an Fugger Berichtenswertes aus ihrem Umkreis – damit erhielt Fugger Informationen bzw. Einschätzungen von Experten, die nicht selten direkt an Kampfhandlungen beteiligt waren, wie die Offiziere Lodron, de Lara oder Roll, oder die Teilnehmer politischer Beratungen auf höchster Ebene waren, wie der kaiserliche Reichshofrat Johann Tonner. Solche Nachrichten waren von einer Exklusivität, die ein ‚gewöhnlicher‘ Novellant nicht erreichen konnte; diese war also direktes Ergebnis des brieflichen Kontaktnetzes, das auch durch Kreditleistungen, Warenbesorgungen, familiäre Verbindungen, Protektionsanliegen – also unzählige weitere Schreibanlässe – aufrechterhalten wurde. Über eine stabile, jahrelange Korrespondenzverbindung konnte das Vertrauen generiert werden, das erforderlich war, um mitunter auch interne Informationen ungefährdet weitergeben zu können. Entsprechend differenziert fiel der Informationsstand aus, der sich aus diesen Nachrichten ergab  – Berichte der Offiziere zu den Türkenkriegen verschafften Fugger, der diese Feldzüge zum Teil mitfinanzierte, beispielsweise ein ungeschöntes, von propagandistischen Klischees weit weniger beeinflusstes Bild, als es sich andere Zeitgenossen zu machen in der Lage waren (vgl. Dauser 2008a, 140–302). Bemerkenswert war auch die Zuverlässigkeit der Nachrichten, die Fugger weitergab, gemessen an den Maßstäben der Zeit: Von 515 inhaltlich ausgewerteten Nachrichtenmeldungen sind lediglich 30 als absolute Falschmeldungen zu klassifizieren, angesichts der häufig unübersichtlichen und parteiischen Berichterstattung gerade von den Kriegsschauplätzen ein sehr beachtlicher Wert (vgl. Dauser 2008a, 155–156). Fugger versuchte diese Qualität hochzuhalten, nicht nur durch den steten brieflichen Kontakt zu ihm verbundenen Mittelsleuten oder zu zuverlässigen gewerbsmäßigen Novellanten, sondern auch durch Nachrichtenvergleiche oder die Kennzeichnung noch unsicherer oder zweifelhafter Nachrichten.

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Das Gegenseitigkeitsprinzip der Nachrichtenübermittlung ist zwar in zahlreichen frühneuzeitlichen Korrespondenzen zu beobachten  – Fugger jedoch platzierte in seinen Briefen gerne ‚Erinnerungshilfen‘, was die Bedeutung dieser Mitteilungen für ihn unterstreicht. Ausgesprochen einseitig war der Informationstransfer nur, wenn die Dienstbeziehung mit den Korrespondenten im Vordergrund stand – augenfällig ist dies bei den Nachrichtenbriefen an die bayerischen Herzöge. Umgekehrt versuchte Fugger so auch Meldungen bei Adressaten zu platzieren, denen er zutraute, diese Informationen nicht zuletzt zu Gunsten der Fugger’schen Interessen weiterzuvermitteln (vgl. Dauser 2008b). Fugger etablierte über seine Nachrichtenkorrespondenz zudem indirekte Vernetzungen zwischen seinen Nachrichtenlieferanten und denen, die von seiner Weiterleitung der Informationen profitierten, und bildet so exemplarisch Strukturen des europäischen brieflichen Nachrichtentransfers ab.

4 Briefeschreiben als ‚Beziehungsarbeit‘ – die ‚soziale Leistung‘ eines Korrespondenznetzes in Klientelverhältnissen Die vorteilhafte Verschränkung verschiedener Beziehungsebenen ist auch bei Schreibanlässen zu beobachten, die zeitgenössische volkssprachliche Brieflehren nicht selten geradezu zum Hauptzweck des Briefes erhoben, nämlich im Falle brieflich formulierter Bitten bzw. der Weiterempfehlung von Klienten an einen Korrespondenzpartner. Sich einen Patron zu suchen, der seinen Klienten durch seinen herausgehobenen sozioökonomischen Status Vorteile, etwa einen guten Posten bei Hof oder einen lukrativen Auftrag, verschaffen konnte, war in der Frühen Neuzeit gängige Praxis – als Gegenleistung bot der Klient dem Patron seine Dienste an. Zumal bei Hof war die Einsetzung von Amtsträgern über Patronagekontakte, gerade auch, weil es an institutionalisierten Qualifikationswegen fehlte, oft über mehrere Stationen von Vermittlern hinweg die Regel. Unterschiedliche Klientelverhältnisse prägen auch die Korrespondenz Hans Fuggers, der in seinen Briefen in erster Linie als Vermittler zwischen mächtigen Patronen und deren potentiellen Klienten agierte. Der Aufbau von Vertrauen erlangte hier selbstredend einen besonderen Stellenwert; das Vertrauen eines Patrons, z.  B. mit einer leichtfertigen Empfehlung, zu enttäuschen, stellte auch für einen Vermittler, oder, wie Fugger sich nannte, für einen „intercessor“ ein beträchtliches Risiko dar (vgl. Dauser 2008a, 315–333; Zitat: 321).

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Als „intercessor“ wirken zu können, setzte eine hinreichend einflussreiche Position voraus. Als Mitglied einer reichen, europaweit bekannten Kaufmannsdynastie und stellvertretender Leiter der nach wie vor, wenn auch unter zusehends schwierigeren Bedingungen, erfolgreich agierenden Handelsgesellschaft mit Geschäftsbeziehungen zu europäischen Monarchen, als Angehöriger einer jungen Adelsfamilie, verwandt mit bedeutenden Adelsgeschlechtern vor allem im süddeutschen Raum, verfügte Fugger offenbar – und nicht zu Unrecht – in den Augen etlicher Bittsteller über hinreichend soziales Kapital. Auch ihm selbst waren diese Voraussetzungen vielfach die Ausgangsbasis für die Formulierung eigener Anliegen gegenüber Patronen, insbesondere zur Förderung der Karriere der eigenen Söhne bzw. Neffen, aber auch zur Motivierung wenig tilgungsfreudiger Schuldner der Firma (zur Lage der Firma im späten 16.  Jahrhundert vgl. Häberlein 2006, 97–119) durch die Fürsprache Dritter. Rund 16  Prozent der erhaltenen Briefe Fuggers befassen sich mit solchen Anliegen der Fürsprache, ob im Interesse der Briefpartner oder im eigenen, familiären Interesse. Fugger agierte in der Hauptsache für Bewerber um Hofämter und für Militärs, die ihm häufig geschäftlich, sehr oft jedoch verwandtschaftlich verbunden waren – familiäre Beziehungen galten als besondere Verpflichtung, ein Anliegen zu befördern. Aus dem ‚Beziehungs-Nichts‘ heraus konnte kein Empfehlungsschreiben formuliert werden. Dass der bayerische Herzog Wilhelm V. Fuggers häufigster Adressat für dieses Thema war, zeigt die Bedeutsamkeit von Patronagekontakten gerade für die höfische Elite; zudem dürfte vielen Zeitgenossen bekannt gewesen sein, dass Wilhelm V. zu Fugger ausgesprochen enge Kontakte pflegte. Seine Korrespondenz gibt Aufschluss über die briefliche Organisation solcher Beziehungen im Kontext eines Klientelverhältnisses, über die Voraussetzungen der Abfassung von Bitt- und Empfehlungsschreiben, über die Kategorisierung potentieller Fürsprecher, über gesellschaftliche bzw. rhetorische Konventionen im Umgang mit dem Patron, über die Verschränkung mit persönlichen Begegnungen, dem Transfer von Geschenken etc. (vgl. Dauser 2008a, 322–391). Insbesondere im Hinblick auf die sprachliche Darstellung des zu fördernden Anliegens erweist die Analyse der Fuggerbriefe, wie peinlich genau Fugger, ansonsten um eine schlichte, ungekünstelte Ausdrucksweise bemüht, hier Regeln folgte, wie sie die zeitgenössischen Brieflehren, sowohl volkssprachliche wie auch humanistische, vorzustellen pflegten: Die strikte Einhaltung der Anredeund Ehrerbietungsformeln, die durchweg in allen Briefen Fuggers zu beobachten ist, war neben ausgesuchter Höflichkeit genauso bedeutsam wie die pointierte Darstellung der Qualifikationen des Bittstellers und das Angebot der Gegenleistung bzw. des treuen Dienstes. Die argumentativen Versatzstücke, die auch die humanistische Brieflehre betonte, schienen offenbar unerlässlich, um die Form

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zu wahren. Dass die Verpflichtung zur Gegenleistung keine leere Formel war und auch für den Vermittler galt, reflektierte der „intercessor“ Fugger mehrfach im Austausch mit Bittstellern oder mit deren Vermittlern. Mehrfach lehnte Fugger auch Fürsprache ab, wenn Bittsteller ihm unbekannt oder unzuverlässig erschienen, ihr Anliegen aussichtslos war oder sie gar für den angestrebten Posten ungeeignet schienen – oder um potentiellen, nicht selten unangenehmen Forderungen des Patrons nach Gegenleistungen, etwa finanzieller Art, zu entgehen (Dauser 2008a, 328–329). All diese Schritte, von der ersten Bitte um Vermittlung bis hin zur konkreten Formulierung des Empfehlungsschreibens  – oder der Begründung seiner Ablehnung – konnten bis auf wenige Ausnahmen ausschließlich per Fernkommunikation erfolgen, stets unter Wahrung der briefstellerischen Konventionen. Auch eine Empfehlung auszustellen, aber dem Empfänger zu verdeutlichen, dass man auf Druck des Bittstellers hin agiere, mochte unter Umständen eine Lösung sein. Die Korrespondenz Fuggers führt das ganze Spektrum brieflich verhandelter Netzwerk-Nutzung und Netzwerk-Bildung vor – und die argumentativen Gratwanderungen, die damit nicht selten verbunden waren. Eine Fehleinschätzung, wie sie Fugger bei der Fürsprache zur Einstellung des italienischen Höflings Giovanni Ciurletta unterlief, der schließlich als Schatzmeister Wilhelms V. (noch in dessen Thronfolgerzeit) der Unterschlagung überführt wurde, war auch für den „intercessor“ hochriskant – hier wie in vielen anderen Fällen zeigt sich in der Korrespondenz, dass „Beziehungswissen“, das Wissen um die Pflege und Aufrechterhaltung sozialer Netzwerke, auch das genaue Erforschen von Biographien, für jemanden wie Fugger unerlässlich war, wollte er derartige Korrespondenzen führen, ohne seine Reputation und die anderer zu beschädigen. Beziehungswissen hieß hier auch, die verschiedenen Ebenen, auf denen Fugger mit seinen Korrespondenzpartnern verbunden war, in Anschlag zu bringen und daraus entstehende Vor- und Nachteile abzuwägen. Insbesondere im intensiven Briefkontakt mit den bayerischen Herzögen ist ein Wechselspiel von gegenseitigen Gefälligkeiten nachzuvollziehen. Auch wenn Hans Fugger als Stellvertreter der Geschäftsleitung gleichsam ‚aus der zweiten Reihe‘ agierte, so konnte er mit seiner brieflich über Jahre hinweg organisierten ‚Beziehungsarbeit‘ doch seine, die Interessen seiner Familie, seiner Verwandten, der von ihm mitgetragenen Handelsgesellschaft mit denen seiner Korrespondenzpartner auf unterschiedlichen Ebenen überwiegend erfolgreich vermitteln (vgl. Dauser 2008a, 401–406).

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5 Fazit Die Vertreter der Familie Fugger in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden von der älteren Forschung lange als Generation gesehen, die es nicht vermochte, an die überragenden geschäftlichen Erfolge ihrer Vorfahren anzuknüpfen; von „Epigonen und Diadochen“ (Pölnitz 1955, 73) war die Rede. Auf dem heutigen Forschungsstand werden die veränderten, zumal wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen diese Generation zu agieren hatte, sehr viel deutlicher gesehen – und auch, dass sich das Selbstbild der Fugger gewandelt hatte, geprägt war von adeligen Idealen und Lebensentwürfen. Mit seiner Korrespondenz, die die Welt des Kaufmanns durch Kredite und Warentransfer noch ebenso einfängt wie die adelige Sphäre des Hof- und Kriegsdiensts und der großen Politik, kann Fugger als eine Gestalt bewertet werden, die intensiv – und mit Erfolg – bemüht war, den Aufstieg in den Adel, insbesondere für seine Kinder und Enkel, zu befestigen, indem sie die Möglichkeiten der kaufmännisch-bürgerlichen und der adeligen Beziehungsnetze in einer Korrespondenz kombinierte. In der Geschichte des Mediums Brief darf Fuggers Korrespondenznetz als eine der Korrespondenzen gelten, die uns zentrale Funktionen und die große Effektivität brieflichen Austauschs im 16. Jahrhundert – Organisation von Dienstleistungen, Nachrichtentransfer, Patronagebeziehungen – über einen zeitlichen Verlauf von rund 30 Jahren anschaulich vor Augen führt. Die große Zuverlässigkeit, die Regelmäßigkeit, die ausgesuchten Quellen der Fugger’schen Nachrichtenmeldungen waren Ergebnisse einer gewachsenen ‚Informations-Infrastruktur‘ der Fugger-Firma wie auch der durch Fugger brieflich aufrechterhaltenen Kontakte. Die konkrete Ausgestaltung und die Voraussetzungen der erfolgreichen Ausgestaltung brieflicher Beziehungen auf verschiedenen Ebenen lassen sich anhand Fugger’scher Kommunikationsstrategien nachverfolgen, geschult an den Konventionen der zeitgenössischen Regelwerke der Briefsteller, bis hin zum brieflichen Verhalten in heiklen Klientelbeziehungen, in denen Fugger’sches ‚Beziehungswissenʻ gefragt war – um das unerlässliche soziale Kapital zu generieren und zu sichern.

Zitierte Literatur Behringer, Wolfgang (2003). Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen. Dauser, Regina (2007). „‚Stainlin für grießʻ und andere Wundermittel – Hans Fuggers Korrespondenz über medizinische Exotica“, in: Die Welt des Hans Fugger (1531–1598). Hg. v. Johannes Burkhardt u. Franz Karg. Augsburg 2008: 51–59.

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Dauser, Regina (2008a). Informationskultur und Beziehungswissen. Das Korrespondenznetz Hans Fuggers (1531–1598). Tübingen. Dauser, Regina (2008b). „Fuggerkorrespondenz und Reichspolitik. Nachrichten zum Kölner Krieg im Kontext Fuggerscher Informationskultur“, in: Die Fugger und das Reich. Eine neue Forschungsperspektive zum 500jährigen Jubiläum der ersten Fuggerherrschaft KirchbergWeißenhorn. Hg. v. Johannes Burkhardt. Augsburg 2008: 289–309. Diemer, Dorothea (2007). „Hans Fugger und die Kunst“, in: Die Welt des Hans Fugger (1531–1598). Hg. v. Johannes Burkhardt u. Franz Karg. Augsburg: 165–176. Häberlein, Mark (2006). Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367–1650). Stuttgart. Karnehm, Christl (2003). Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566–1594. Regesten der Kopierbücher aus dem Fuggerarchiv. Bd. I (unter Mitarbeit von Maria Gräfin von Preysing): 1566–1573. Bd. II/1: 1574–1581. Bd. II/2: 1582–1594 (Quellen zur Neueren Geschichte Bayerns. Abt. III Privatkorrespondenzen). München. Karnehm, Christl (2005). „Das Korrespondenznetz Hans Fuggers (1531–1598)“, in: Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Johannes Burkhardt u. Christine Werkstetter. München: 301–311. Keller, Katrin u. Paola Molino (2015). Die Fuggerzeitungen im Kontext. Zeitungssammlungen im Alten Reich und in Italien. Wien. Lill, Georg (1908). Hans Fugger (1531–1598) und die Kunst. Ein Beitrag zur Geschichte der Spätrenaissance in Süddeutschland. Leipzig. Pölnitz, Götz Freiherr von (1955). „Das Generationenproblem in der Geschichte der oberdeutschen Handelshäuser“, in: Unser Geschichtsbild. Der Sinn in der Geschichte. Hg. v. Karl Rüdinger. München: 65–79. Pölnitz, Götz Freiherr von (1941). „Jakob Fuggers Zeitungen und Briefe an die Fürsten des Hauses Wettin in der Frühzeit Karls V. 1519–1525.“, in: Nachrichten von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philosophisch-Historische Klasse 1941, Nr. 2. Göttingen: 89–160. Sporhan-Krempel, Lore (1968). Nürnberg als Nachrichtenzentrum zwischen 1400 und 1700. Nürnberg. Zwierlein, Cornel (2006). Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. Göttingen.

Vera Faßhauer

4.7 Frühneuhochdeutsche Korrespondenzen sächsischernestinischer Fürstinnen 1 Überlieferung und Inhalte Fürstinnen im ernestinischen Sachsen der Frühen Neuzeit führten nur in Ausnahmefällen umfangreichere Korrespondenzen. Die jeweils regierenden Fürsten fungierten auch als kommunikatives Zentrum ihres Hofes, so dass deren Gattinnen meist nur unterstützend und in ihrem Auftrag als Briefschreiberinnen tätig wurden (vgl. Faßhauer 2018a 25–26). Da das eigenhändige Schreiben zudem als große Anstrengung empfunden wurde, übertrug man die Ausfertigung von Korrespondenzen häufig professionellen Kanzleischreibern (vgl. Voigt 1844a, 226; Nolte 2000, 178). Von vielen Fürstinnen vor allem aus dem 17. und 18. Jahrhundert sind deshalb hauptsächlich knappe, oft kalligraphisch verzierte Gruß-, Glückwunschund Kondolenzschreiben von Kanzlistenhand überliefert, die zu Neujahr sowie bei Geburten, ernsthaften Erkrankungen, Eheschließungen oder Todesfällen in der Verwandtschaft von beiden Ehepartnern separat verschickt und nach Nennung sämtlicher Herrschaftstitel lediglich eigenhändig unterschrieben wurden (vgl. Steinhausen 1889, 171; Voigt 1844a, 233–234). Das Gleiche gilt für jene Briefe, die Geschenke oder wechselseitige Besorgungen begleiteten und zumeist durch ebenfalls fremdhändige Dankesschreiben beantwortet wurden, welche zugleich auch als Quittungen für den Erhalt der versandten Güter fungierten (vgl. Voigt 1844a, 234–246). In Charakter, Selbstverständnis, persönliche Umstände und Weltbild der Fürstinnen gewähren derart schablonenhafte Schreiben allerdings keinerlei Einblicke: Sie treten nur in jenen Briefen zutage, in denen die Verfasserinnen ihren individuellen Belangen mit eigener Hand Ausdruck verleihen. Umfangreichere eigenhändige Korrespondenzen führten die meisten Fürstinnen allerdings nur dann, wenn die Abwesenheit oder der Tod ihres Gemahls sie hierzu nötigte. Während im ersten Fall häufig der Fürst selbst entweder der Hauptadressat oder der Auftraggeber ihrer Briefe war, mussten sie im zweiten Fall selbständig zur Feder greifen, um ihre eigenen Interessen oder die ihrer unmündigen Kinder zu vertreten. Im ernestinischen Teil Sachsens traten derlei unglückliche Umstände bei drei aufeinanderfolgenden nachreformatorischen Fürstengenerationen ein. Aus dieser Epoche liegen noch heute mehrere größere Fürstinnenbriefwechsel vor, deren Inhalte eng mit der politischen und religiösen Geschichte des Landes verknüpft sind. https://doi.org/10.1515/9783110376531-054

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1.1 Ehefrauen gefangener Fürsten Johann Friedrich I. der Großmütige (1503–1554) hatte den protestantischen Schmalkaldischen Bund im dreivierteljährigen Feldzug gegen den katholischen Kaiser Karl V. angeführt und war diesem 1547 in der Schlacht von Mühlberg unterlegen. Er verlor daraufhin nicht nur die Kurwürde sowie große Teile seines Herrschaftsgebietes an die albertinische Linie, sondern musste auch fünf Jahre in kaiserlicher Gefangenschaft verbringen und seine Gemahlin Sibylle (1512–1554) mit ihren Kindern in Weimar zurücklassen (vgl. Flathe 1881). Die aus dieser Zeit stammende, 251 Briefe umfassende Korrespondenz der Eheleute betraf außer dem Fortgang des Kriegs bzw. den Umständen von Johann Friedrichs Gefangenschaft vor allem das beiderseitige körperliche und seelische Befinden, die Gesundheit und Erziehung der drei Söhne, Personalwechsel am Weimarer Hof, Neuigkeiten über verwandte oder befreundete Fürstenhäuser sowie gegenseitige Geschenke. Daneben korrespondierte Sibylle vereinzelt auch mit verwandten und befreundeten Fürsten wie Albrecht von Preußen (1490–1568), Wolfgang von Anhalt (1492–1566) oder ihrem Bruder Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg (1516–1592), um Informationen auszutauschen und Gelder für die Fortführung des Krieges zu beschaffen. Nach der Niederlage schrieb sie an verwandte Fürsten sowie an weibliche Mitglieder der kaiserlichen Familie um Fürsprache beim Kaiser und Hilfe bei der Erwirkung von Johann Friedrichs Freilassung. Hierbei handelte sie jedoch stets im Auftrag ihres Gemahls, der sich auch während seiner Gefangenschaft jegliches unautorisierte Handeln ihrerseits verbat (vgl. Weigelt 2012, 35–40). Hatte Sibylle zunächst unverbrüchlich an die Gottgefälligkeit seines Feldzugs und seinen unausbleiblichen Sieg geglaubt, stilisierte sie ihren Gemahl nach seiner Gefangennahme zum Märtyrer des wahren Glaubens, während sie die Vertreter der Gegenpartei als diabolische Scheusale darstellte. Als sich Johann Friedrichs Freilassung immer weiter verzögerte, sprachen die Ehepartner einander regelmäßig Tost zu und versicherten sich gegenseitig der Notwendigkeit, in Standhaftigkeit und Gottvertrauen auszuharren. Die Korrespondenz zwischen Johann Friedrichs ältestem Sohn und Regierungsnachfolger Johann Friedrich II. (1529–1595) und seiner Gemahlin Elisabeth (1540–1594) erstreckt sich auf einen Zeitraum von knapp 30 Jahren und umfasst insgesamt 236 Briefe. Zwischen 1567 und 1572 war der Schriftwechsel, der ansonsten nur wegen kürzerer Reisen nötig wurde, das ausschließliche Kommunikationsmedium der Ehepartner. In der Hoffnung, mit seiner Hilfe die sächsische Kurwürde wiederzuerlangen, unterstützte Johann Friedrich II. den geächteten Ritter Wilhelm von Grumbach (1503–1567), wofür er gleichfalls geächtet und lebenslänglich in Österreich inhaftiert wurde (vgl. Wülcker 1881a; Starenko 2002; Kruse 2007). Da Johann Friedrich mit der Freiheit auch sein gesamtes Herrschaftsgebiet

4.7 Frühneuhochdeutsche Korrespondenzen sächsisch-ernestinischer Fürstinnen  

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eingebüßt hatte, blieb seine Gemahlin heimat- und besitzlos zurück und war hinsichtlich ihrer Versorgung mit Wohnraum, Geld, Dienstpersonal und Nahrungsmitteln gänzlich vom Wohlwollen des neuen Landesherrn Johann Wilhelm von Sachsen-Weimar (1530–1573) abhängig (vgl. Schulze 1832, 90–151). Bei den Verhandlungen mit dem jüngeren Bruder Johann Friedrichs, der mit einer Schwester Elisabeths verheiratet war, wurde Elisabeth durch ihren Vater, den Kurfürsten Friedrich III. von Pfalz-Simmern (1515–1576), unterstützt, der sie in seinen Briefen über ihre Rechte und Optionen wie auch in erzieherischen und medizinischen Fragen beriet. Zugleich verfasste sie zahlreiche Bittschriften an das Kaiser- und das Kurfürstenpaar sowie Beistandsgesuche an die Fürsten des Reiches. Darüber hinaus fiel Elisabeth nunmehr die Rolle der Hauptkorrespondentin mit der wettinischen und Pfälzer Verwandtschaft zu, die Johann Friedrich II. bis zu seiner Ächtung noch selbst ausgefüllt hatte. Nachdem ihren unmündigen Söhnen mit der Erfurter Teilung 1572 der Coburg-Eisenacher Landesteil zugesprochen worden und Elisabeth daraufhin ihrem Gemahl in die Gefangenschaft nachgefolgt war, konnte sie sich – von einigen kurzen Besuchen in der Heimat abgesehen – auch mit ihren Kindern nur noch schriftlich austauschen. Wie schon Sibylle und Johann Friedrich I. fassten beide Ehepartner ihr Unglück als göttliche Prüfung ihrer Glaubensfestigkeit auf und appellierten an das christliche Gewissen der Adressaten ihrer Bittschriften (vgl. Faßhauer 2018a, 25–36).

1.2 Witwen ohne Regentinnenstatus Die Wiederbelehnung mit einem Teil des ernestinischen Gebietes verdankten die Söhne Johann Friedrichs II. und Elisabeths nicht zuletzt dem Umstand, dass ihr Onkel sich durch seine radikallutherische Religionspolitik in Opposition zu den innerwettinischen religiösen Vereinigungsbestrebungen des philippistisch orientierten Kurfürsten August von Sachsen (1526–1586) gesetzt hatte (vgl. Wülcker 1881b, 349–350). Als Johann Wilhelm schon kurz darauf starb, hinterließ er die junge Witwe Dorothea Susanna (1544–1592) mit drei minderjährigen Kindern, die unter Augusts Vormundschaft gelangten. Fest entschlossen, die Religionspolitik ihres Gemahls fortzuführen, wehrte Dorothea Susanna sich entschieden gegen den Einfluss, den August auf die Kirchenpolitik in ihrem Wittumsgebiet sowie auf die Erziehung ihrer Söhne auszuüben suchte. In umfangreichen Korrespondenzen, aus denen noch knapp 900 Briefe und Konzepte erhalten sind, ließ sie sich von Theologen, Juristen und Amtspersonen beraten und verfasste zudem eine Reihe von Beschwerde- und Bittschriften an Kurfürst August und Kurfürstin Anna. Indem sie sich stets auf ihr religiöses Gewissen sowie auf ihre Verpflichtung gegenüber dem Andenken ihres Gemahls berief, knüpfte sie direkt

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an das Vorbild ihrer Schwiegereltern an und inszenierte sich und Johann Wilhelm als Bekenner*in und Märtyrer*in des wahren Glaubens (vgl. Dingel 2005; Carius 2015; Gehrt 2015; von der Osten-Sacken 2015). Darüber hinaus sind aus Dorothea Susannas Briefwechseln nach derzeitigem Kenntnisstand noch über 1.500 Briefe von und an fürstliche Personen nachweisbar. Obwohl ihre Briefe an ihre Pfälzer Familienangehörigen – genau wie die ihrer Schwester Elisabeth – bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr erhalten sind, lassen mehrere hundert an sie gerichtete Autographen aus der Pfalz sowie fast 100 Antwortschreiben von ihrer eigenen Hand auf eine enorme Korrespondenzaktivität mit ihrer Herkunftsfamilie schließen, die bereits vor ihrer Witwenschaft einsetzte. Erhalten geblieben sind auch 274 Stücke aus ihrem überwiegend eigenhändigen Briefwechsel mit ihrer Schwester Elisabeth, die sie trotz innerfamiliärer Konflikte über 30 Jahre hinweg mit ausführlichen Nachrichten sowohl über die Pfälzer als auch die Wettiner Verwandtschaft versorgte. Da Dorothea Susannas Söhne Friedrich Wilhelm I. von Sachsen-Weimar-Altenburg (1562–1602) und Johann III. von Sachsen-Weimar (1570–1605) beide noch vor ihrem 40. Geburtstag starben und die jungen Witwen Anna Maria (­ 1575–1643) und Dorothea Maria (1574–1617) mit sechs bzw. neun Kindern hinterließen, war auch die nächste Fürstinnengeneration zur Durchsetzung ihrer Rechte auf das Medium Brief angewiesen. Notwendigkeit hierzu ergab sich mit dem nach Johanns Tod entbrannten Altenburger Präzedenzstreit um den protokollarischen Vorrang der Prinzen beider Linien. Als Frauen in Rechtssachen nicht eigenständig handlungsfähig, mussten beide Witwen um die Unterstützung ihrer männlichen Verwandten werben. Während Anna Maria nicht nur die Gunst des Kurfürsten und den Richtspruch des Kaisers, sondern auch den Beistand ihres Vaters Philipp Ludwig von Pfalz-Neuburg (1547–1614) auf ihrer Seite hatte, ließen sich die Brüder und Vettern Dorothea Marias angesichts der ungünstigeren Ausgangslage nur als Berater, nicht aber als offizielle Fürsprecher gewinnen. Mit unbeirrbarer Beharrlichkeit verfasste sie immer neue Bittschriften an Kurfürst und Kaiser, Beistandsgesuche an verwandte und befreundete Reichsfürsten sowie Auskunftsanfragen an Juristen, wobei sie sich und ihre Kinder als schutzlose Opfer obrigkeitlicher Irrtümer inszenierte (vgl. Hortleder 1613; Stichling 1868; Huschke 1982, 56–58; Faßhauer 2016). Die Schreibmotivation, die Sibylle und Elisabeth aus den religiösen und politischen Missionen ihrer Gatten schöpften und die auch Dorothea Susanna noch vorwiegend aus ihrem konfessionellen Sendungsbewusstsein bezog, leitete Dorothea Maria ausschließlich aus ihrer dynastischen, naturrechtlich begründbaren mütterlichen Verpflichtung gegenüber ihren unmündigen Kindern her und schöpfte – wenn auch letztlich erfolglos – das gesamte Spektrum ihrer rechtlichen Möglichkeiten aus. Zudem übernahm sie als Witwe mit der Verantwortung für ihre eigene Haus- und Hofhaltung auch entsprechende Korrespondenzen mit

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verwandten Fürsten und Hofbeamten über Ausbildung und Reisen der Söhne, Dienersachen, Hausrat, Gartenbau, Pferde- und Hundezucht sowie fürstenhausrelevante politische Neuigkeiten. Besonders intensiven Briefkontakt pflegte sie mit ihren Brüdern, den Fürsten von Anhalt: Trotz großer Kriegsverluste in den Plötzkauer und Zerbster Archiven sind unter den mehr als 700 Schreiben noch 348 eigenhändige Briefe erhalten, davon 126 von Dorothea Marias Hand. Kleine Korrespondenzen von Fürstinnen dieser Generation stammen von Dorothea Susannas Tochter Maria (1571–1610) und Elisabeths Schwiegertochter Anna von Sachsen-Coburg (1567–1613). Als Äbtissin des Reichsstifts Quedlinburg tauschte Maria mit ihren Brüdern, Schwägerinnen und Cousins hauptsächlich Gruß- und Glückwunschschreiben aus, bat aber gelegentlich auch eigenhändig um Belieferung mit Wein aus dem Hofkeller. Annas größtenteils eigenhändige Korrespondenz mit ihrer kursächsischen Herkunftsfamilie sowie der Familie ihres Gatten nahm ein jähes Ende, als sie nach einem Ehebruch 26-jährig sowohl von albertinischer als auch ernestinischer Seite verstoßen und bis zu ihrem Lebensende unter vollständiger Kontaktsperre gefangen gehalten wurde (vgl. Faßhauer 2018a, 36–49).

1.3 Fürstinnen des späten 17. und 18. Jahrhunderts Anders als von den drei ernestinischen Fürstinnengenerationen des konfessionellen Zeitalters sind von den Herzoginnen des 17. Jahrhunderts kaum noch Korrespondenzen in größerem Umfang überliefert. Die vier Söhne Dorothea Marias, welche im Dreißigjährigen Krieg starben, waren unverheiratet geblieben; weder von Eleonore Dorothea (1602–1664), der Gemahlin Wilhelms IV. von SachsenWeimar (1598–1662), noch von Elisabeth Sophia (1619–1680), die sich 1636 mit Ernst I. dem Frommen von Sachsen-Gotha-Altenburg (1601–1675) vermählte, oder von Dorothea (1601–1675), der früh verwitweten Gattin Albrechts von SachsenEisenach (1599–1644), sind Korrespondenzen in bemerkenswertem Umfang überliefert. Dies ist sicherlich nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass über die Jahrhunderte mit hoher Wahrscheinlichkeit größere Überlieferungslücken entstanden sind. Ein weiterer Grund könnte darin liegen, dass sich die Beherrscher*innen des durch diverse Erbteilungen in immer kleinere Teile zersplitterten ernestinischen Territoriums seit dem Westfälischen Frieden weder in kriegerische Auseinandersetzungen noch in religiöse oder politische Streithändel auf Reichs- oder Landesebene verwickeln ließen. Von Ehefrauen finden sich nur dann noch vereinzelt Briefe, wenn sich ihre Gatten auf Reisen oder Jagden befanden. Daneben sind kleinere Briefbestände von der Hand unverheirateter Fürstinnen überliefert, die abseits der Höfe in Damenstiften lebten. Die bemerkenswerteste

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unter ihnen ist die Pröbstin Anna Dorothea (1657–1704) von Sachsen-Weimar, die ihre Grußschreiben an Vater und Brüder aus dem Quedlinburger Damenstift meist mit beharrlichen Bitten um Geld, Kleider und andere Zuwendungen verband und durch die Fürsprache des Vaters ihren Aufstieg zur Äbtissin voranzutreiben suchte. Von einigem Interesse sind auch die Briefe ihrer Schwester Wilhelmine Christiane (1658–1712) an den weimarischen Kanzler Volkmar Happe (1628–1694), die sich in Quedlinburg dem ihr unerträglich scheinenden Leben am Weimarer Hof zu entziehen suchte (vgl. Faßhauer 2018a, 49–56). Erst im 18.  Jahrhundert sollten mit den vormundschaftlichen Regentinnen Sophie Albertine von Sachsen-Hildburghausen (1683–1742), deren Schwiegertochter Caroline Amalie (1700–1758), Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach (1739–1807) sowie mit Luise Dorothea von Sachsen-Gotha-Altenburg (1710–1767) wieder bemerkenswerte Briefschreiberinnen hervortreten. Zu dieser Zeit hatte sich allerdings längst das Französische als vorherrschende Sprache an den deutschen Fürstenhöfen durchgesetzt. Auch die wenigen deutschsprachigen Fürstinnenbriefe, etwa die der Weimarer Prinzessinnen Johanna Charlotte (1693–1751) und Bernhardine Christiane Sophie (1724–1757), versuchen dieser Mode durch den Gebrauch zahlreicher französischer Vokabeln gerecht zu werden, gehen inhaltlich aber kaum über die üblichen Gruß-, Glückwunsch- und Dankesschreiben hinaus. Die großen frühneuhochdeutschen Korrespondenzen ernestinischer Briefschreiberinnen fallen somit in die Zeit zwischen dem Schmalkaldischen und dem Dreißigjährigen Krieg. Sie lagern zu unterschiedlichen Anteilen in staatlichen Archiven zu Weimar, Dresden, Gotha, Coburg, Dessau und München.

2 Form 2.1 Eigenhändigkeit und Formelgebrauch Der Mühe des eigenhändigen Schreibens unterzogen sich die Fürstinnen hauptsächlich gegenüber nahen Angehörigen wie Ehepartnern, Verlobten, Geschwistern, Eltern und Kindern, seltener auch Onkeln, Tanten und Vettern, denen sie auf diese Weise ihre besondere persönliche Zuneigung und Wertschätzung bewiesen (vgl. Nolte 2000, 194–195; Voigt 1844a, 227; Deutschländer 2012, 27, 52–53; Faßhauer 2018a, 59–66). In den meisten Fällen beantworteten sie auch solche Briefe eigenhändig, die ihre männlichen Verwandten durch Kanzlisten ausfertigen ließen. Während etwa Johann Friedrich I. von Sachsen knapp 70 der 124 überlieferten Briefe an seine Gemahlin nicht mit eigener Hand abfasste, übertrug Sibylle diese Aufgabe in acht Jahren nur drei Mal an eine dritte Person und begründete

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dies mit schwerer Krankheit oder akuter Verletzung ihrer Schreibhand. Eigenbzw. Fremdhändigkeit an sich lassen daher noch nicht so sehr auf persönliche Vertrautheit oder Distanz, sondern vor allem auf die Selbstpositionierung der Briefpartner innerhalb der höfischen Hierarchie schließen. Dieses ungleiche Verhältnis illustrieren nicht zuletzt auch die Gruß- und Bittbriefe unverheirateter Fürstinnen wie Maria und Anna Dorothea von Sachsen-Weimar an ihre Landesherren, die selbst bei naher Verwandtschaft nicht eigenhändig beantwortet wurden. Vollends deutlich wird diese pragmatische Komponente in ihren Supplikationen an höhergestellte Personen wie Kurfürsten, Könige und Kaiser, wo das eigenhändige Schreiben mit einer physischen Demuts- und Unterwerfungsgeste wie etwa dem Fußfall vergleichbar war (vgl. etwa ThHStAW, EGA, Reg L, fol. 807 N Nr. 2a: 36r; SHStAD, Geh. Rat [Geh. Archiv] Loc. 8517–2: 1; SHStAD, 10024 Geheimer Rat [Geheimes Archiv], Loc. 7186/8: 263–164; vgl. auch Nolte 2000, 178, 192–195). Umgekehrt ließen auch die Fürstinnen eigenhändige Schreiben von Untergebenen oder Amtspersonen meist durch Schreiber beantworten. Fremdhändige und eigenhändige Fürstinnenbriefe orientierten sich gleichermaßen an dem mittelalterlichen Briefschema mit den Komponenten salutatio – exordium – narratio – petitio – conclusio und den damit einhergehenden, immer ähnlich lautenden Formeln (vgl. Steinhausen 1889, 39–62, 123–125), mit denen auch in Schreiben an vertraute Briefpartner Sätze eingeleitet, der Erhalt eines Schreibens bestätigt, das Befinden des Korrespondenzpartners erfragt, Entschuldigungen erbeten, auf baldige Antwort gehofft, Grüße übermittelt und Dienste erboten wurden (vgl. Voigt 1844a, 229–230). In der Schreibpraxis der Kanzleien nahm dieser Briefstil zum 17. Jahrhundert hin immer umständlicher gespreizte Formen an und machte sich in dieser Gestalt schließlich auch in den eigenhändigen Fürstenkorrespondenzen geltend (vgl. Steinhausen 1889, 87–89, 123–125). Auch in Sibylles Briefen ist ein exzessiver Gebrauch der Gruß-, Einleitungs-, Segens- und Dankesformeln zu beobachten, welcher vor allem ihrem Bedürfnis nach stilistischer Korrektheit und ihrer geschlechtsspezifisch-bildungsbedingten Unsicherheit im schriftlichen Ausdruck geschuldet sein dürfte (vgl. Faßhauer 2019). Darüber hinaus scheint das formelhafte Schreiben in ihrem Fall gelegentlich an die Stelle eigentlicher Sachmitteilungen zu treten. Auf diese Weise wird in ihren zum Teil sechsseitigen Briefen der Akt des Schreibens selbst zur Geste ihrer ehelichen Verbundenheit, die sie ihrem gefangenen Gemahl durch die Aufwendung von Zeit und Mühe demonstriert. Auch die Briefe der rastlos agierenden Dorothea Maria oder der geübten Vielschreiberin Dorothea Susanna zeigen, dass das Festhalten an konventionellen Briefformeln keineswegs immer als ein Anzeichen für mangelnde Schreibgewandtheit zu werten ist. Beide verzichten selbst in Briefen an ihre vertrautesten Familienmitglieder niemals auf die üblichen Anrede-, Einleitungs- und Schluss-

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formeln. Das Gleiche gilt für ihre männlichen Briefpartner wie beispielsweise Kurfürst Friedrich III. von Pfalz-Simmern (1515–1576) oder Ludwig I. von AnhaltKöthen (1579–1650), die als wortgewandte Schreiber sicher keiner Formulierungshilfen bedurften, aber bestimmten Formeln dennoch eine solche Wichtigkeit beimaßen, dass sie sie niemals vergaßen (vgl. Voigt 1844a, 230). Nicht zuletzt an diesem Umstand lässt sich ermessen, welch große Bedeutung die Beherrschung und Wahrung der äußeren Formen gerade für die beiden Witwen besaß, die in Verhandlungen mit den Vormündern selbständig ihre Ansprüche geltend machten. Das formelhafte Schreiben war somit keine bloße Unbeholfenheit, sondern eine unabdingbare Voraussetzung für die Teilnahme der Fürstinnen an den höfischen, amtlichen, theologischen und juristischen Diskursen.

2.2 Halböffentlichkeit und Individualität Das Bedürfnis der Fürstinnen nach Wahrung der äußeren Form lässt sich darüber hinaus auch aus ihrem epochen- und standesbedingten Öffentlichkeits- und Nachlassbewusstsein erklären. Trotz ihres eigenhändigen Schreibens und ihrer oftmals engen persönlichen Beziehungen zu den Adressat*innen dürfte kaum eine Fürstin ausschließlich als Privatfrau korrespondiert haben: Da sie stets als Gemahlinnen von in Streithändel involvierten Fürsten, als verwitwete Mütter künftiger Fürstengenerationen und als Bindeglieder zwischen verschwägerten Familien auftraten, waren ihre persönlichen Interessen fast immer identisch mit den Angelegenheiten ihres Fürstenhauses (vgl. Nolte 2000, 186; Rogge 2000, 204), so dass selbst alltägliche Themen wie Schwangerschaft, Erziehung der Kinder, Krankheit oder Haus- und Hofhaltung eine generationenübergreifende dynastische oder erbrechtliche Relevanz besaßen. Bereits während der Abfassung werden sich deshalb die meisten Schreiberinnen der Tatsache bewusst gewesen sein, dass ihre Briefe wahrscheinlich den Weg ins fürstliche Familienarchiv finden und dort in Streitfällen wieder aufgesucht werden würden. Die potentielle Tragweite der Außerachtlassung dieser Sichtbarkeit illustriert das Beispiel jener 15 Briefe Sibylles an Johann Friedrich I., die wahrscheinlich nach der Schleifung des Grimmenstein (Ortloff IV, 180–183) durch August vom Weimarer Kernbestand getrennt und ins albertinische Archiv in Dresden überführt wurden (vgl. SHStAD, 10024 Geheimer Rat [Geheimes Archiv], Loc. 9138/10). In den Briefen wurden all die Passagen mit Tinte markiert, in denen Sibylle sich zu eifernden Verwünschungen gegen Mitglieder des neuen Kurhauses hinreißen ließ. Offenbar erwog man, diese Textstellen in Konflikten mit der nachgeborenen Generation der Ernestiner als Argumente anzuführen. Ebenso finden sich unter den Urkunden des Coburger Staatsarchivs mehrere intime Briefe Annas von Sachsen-Coburg an ihren Gemahl,

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die eindeutige sexuelle Anspielungen enthalten und in dem gegen sie angestrengten Ehebruchprozess als Belege für ihr sinnliches Wesen dienen konnten (vgl. StACo, Urk. LA A 494: fol. 1r, 5r und 6r). Überhaupt erlangte selten nur der unmittelbare Adressat Kenntnis vom Inhalt der Korrespondenzen einer Fürstin: Sibylle beispielsweise ließ sich die Briefe Johann Friedrichs auf dessen Anweisung oft von Sekretären vorlesen oder in eine besser leserliche Schriftfassung bringen (vgl. ThHStAW, EGA, Reg L, fol. 807 N Nr.  1a: 48–49, 1b: 37) und diktierte ihre Antworten notfalls ihren Hofdamen (vgl. ThHStAW, EGA, Reg L, fol. 807 N Nr. 2a: 40; vgl. Deutschländer 2012, 52). Zudem fällt auf, dass die Fürstinnen sich kaum an der Schriftsprache von Druckwerken oder an sie gerichteter Briefe orientieren, ein- und dasselbe Wort in ganz unterschiedlichen Schreibungen wiedergeben und Wortgrenzen, Buchstabenabfolgen und Versalien nach ihrem eigenen Gutdünken setzen. Da dieses Phänomen keineswegs nur in Einzelfällen, sondern in sehr vielen Fürstinnenbriefen der Frühen Neuzeit zu beobachten ist, dürfte es weniger auf Zerstreutheit als vielmehr auf eine vorwiegend nach dem Gehör erfolgende und die Gestalt der graphematischen Realisierung hintansetzende Schreibausbildung der jungen Prinzessinnen zurückzuführen sein. Die Grafie der eigenhändigen Fürstinnenbriefe kann daher als überaus individuell gelten; da sie zudem häufig die gesprochene Sprache unmittelbar widerspiegeln, lassen sie wichtige Erkenntnisse über historische Ausspracheformen sowie über den Dialekt und den Bildungsstand der Schreiberinnen zu (vgl. Voigt 1844a, 232; Steinhausen 1891, 92–95; Steinhausen 1899, VII; Klettke-Mengel 1973, 30–84; Nolte 2000, 184; Thieme 2010, XXXVIII). So wird in vergleichenden Analysen von Fürstinnenbriefen mit denen ihrer männlichen Briefpartner ein starkes Bildungsgefälle zwischen den Geschlechtern, nicht zuletzt auf neu- und altsprachlichem sowie auf grammatischem Gebiet, offenbar (vgl. Klettke-Mengel 1973, 30–103; Seidel 2018a, 182–183, 220–221; Lühr 2018, 297–304; Prutscher 2018, 326; vgl. auch Voigt 1844a, 64–65; Essegern 2007, 353–354; Faßhauer 2019).

3 Editionen Bis auf einen Teil der Briefe Sibylles an Johann Friedrich I., die Burkhardt (1868) ohne Antwortbriefe und orthographisch wie grammatikalisch stark normiert herausgab, sind bisher keine Korrespondenzen frühneuzeitlicher ernestinischer Fürstinnen ediert. Aus Sibylles Briefwechsel mit Herzog Albrecht von Preußen hat Voigt (1844b) lediglich Ausschnitte ausgewählt und sie ins Neuhochdeutsche übertragen. Einzelne Briefe Elisabeths und Dorothea Susannas werden in

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den Ausgaben der Korrespondenzen ihres Vaters Friedrich III. und ihres Bruders Johann Kasimir von Pfalz-Simmern (1543–1592) zitiert bzw. regestartig zusammengefasst (vgl. Kluckhohn 1868–1872; Bezold 1882–1903). Stichling (1860) führt in seiner Monographie über Dorothea Maria gelegentlich Briefe aus ihren Korrespondenzen an, jedoch gleichfalls unter starker Normierung der Grafie und ohne Kennzeichnung der von ihm vorgenommenen Kürzungen. Entsprechendes gilt für die sehr freien Zitate aus den Briefen Annas von Sachsen-Coburg durch Vulpius (1811) und Wank (1898). Die erste philologisch genaue, mit einer linguistischen Mehrebenenannotation einhergehende Volltexttranskription ernestinischer Fürstinnenbriefe erfolgte erst jüngst im Rahmen des DFG-Projektes „Frühneuzeitliche Fürstinnenkorrespondenzen im Mitteldeutschen Raum“ (vgl. Faßhauer et al. 2014; Faßhauer 2017; Faßhauer 2018b).

Zitierte Literatur Burkhardt, Karl August Hugo (1868). Briefe der Herzogin Sibylle von Jülich-Cleve-Berg an ihren Gemahl, Johann Friedrich den Großmüthigen, Churfürsten von Sachsen. Bonn. Carius, Hendrikje (2015). „Konfessionspolitik und Recht. Zur Herrschaftspraxis der Herzoginwitwe Dorothea Susanna von Sachsen-Weimar“, in: Fürstinnen und Konfession: Beiträge hochadliger Frauen zur Religionspolitik und Bekenntnisbildung. Hg. v. Daniel Gehrt u. Vera von der Osten-Sacken. Göttingen: 201–214. Deutschländer, Gerrit (2012). Dienen lernen, um zu herrschen: Höfische Erziehung im ausgehenden Mittelalter (1450–1550). Berlin. Dingel, Irene (2005). „Dorothea Susanna von Sachsen-Weimar (1544–1592) im Spannungsfeld von Konfession und Politik: Ernestinisches und albertinisches Sachsen im Ringen um Glaube und Macht“, in: Glaube und Macht: Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation. Hg. v. Enno Bünz, Stefan Rhein u. Günther Wartenberg. Leipzig: 175–192. Essegern, Ute (2007). Fürstinnen am kursächsischen Hof: Lebenskonzepte und Lebensläufe zwischen Familie, Hof und Politik in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts: Hedwig von Dänemark, Sibylla Elisabeth von Württemberg und Magdalena Sibylla von Preußen. Leipzig. Faßhauer, Vera (2016). „Streiterin ‚wieder allen willen‘? Aktionsspielräume und Argumentationsstrategien der Herzoginwitwe Dorothea Maria von Sachsen-Weimar im Altenburger Präzedenzstreit“, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte, 70: 101–115. Faßhauer, Vera (2017). „Compilation, Transcription, Multi-Level Annotation and GenderOriented Analysis of a Historical Text Corpus: Early Modern Ducal Correspondences in Central Germany“, in: Advances in Digital Scholarly Editing: Papers presented at the DiXiT conferences in The Hague, Cologne, and Antwerp. Hg. v. Peter Boot et al. Leiden: 283–288. Faßhauer, Vera (2018a). „Ernestinische Fürstinnenkorrespondenzen der Frühen Neuzeit: Protagonistinnen, Anlässe, Themen, Stil“, in: Genderspezifik in mitteldeutschen Fürstinnenkorrespondenzen der Frühen Neuzeit. Korpusphilologische Studien. Hg. v. Rosemarie Lühr, ders., Daniela Prutscher u. Henry Seidel. Hamburg: 25–86.

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Archivquellen Staatsarchiv Coburg (StACo), Urk. LA A 494. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStAW), Ernestinisches Gesamtarchiv, Reg L, fol. 807 N Nr. 1a, 1b und 2a. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SHStAD), 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 7186/8, Loc. 8517/2, und Loc. 9138/10.

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Tilman Haug

4.8 Korrespondenz in Diplomatie und/oder Patronage-Beziehungen der Frühen Neuzeit 1991 beschwor der amerikanische Historiker Gordon Craig in einem Zeitschriftenaufsatz, was er als „the pleasure of reading diplomatic correspondence“ bezeichnete (vgl. Craig 1991). Mit der Werbung für die Quellengattung ‚Diplomatischer Brief‘ ging ein Bekenntnis zu den Eckpfeilern der traditionellen Diplomatiegeschichte einher. Diese Quellengattung ermögliche nämlich einzigartige Einblicke in die Formierung außenpolitischer Entscheidungen des Kollektivsubjekts Staat, führe die Geschichtsmächtigkeit individueller politischer Entscheidungsträger vor Augen und breite vor den Leser*innen die Früchte des Verstandes brillanter politischer Analytiker aus (vgl. Craig 1991, 370, 382–383). Dies waren im Wesentlichen jene Erkenntnisinteressen gewesen, die schon im 19. Jahrhundert vor allem die Abschlussberichte der venezianischen Gesandten für den Doyen der historistischen Geschichtsschreibung, Leopold von Ranke, zu einem Faszinosum machten. Dieser wiederum hüllte sein Vergnügen an dieser Quellengattung in eigentümlich intime Begrifflichkeiten („schöne Italienerin“, „prächtige und süße Schäferstunden“; Ranke an Heinrich Ritter am 28.10.1827, zit. n. Müller 2010, 109). Markierte Craigs emphatisches Eintreten für Diplomatiegeschichte und diplomatische Korrespondenz als faszinierende Quellen zu Beginn der 1990er Jahre noch eine Frontstellung gegenüber neueren historiographischen Strömungen (vgl. Craig 1991, 369), wird die Geschichte der Diplomatie heutzutage vielerorts selbst als eine Sozial- und Kulturgeschichte der Außenbeziehungen betrieben. Sie versteht sich nicht mehr primär als eine klassische Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen, vielmehr versucht sie, diplomatische Akteure im Kontext ihrer zeitgenössischen politischen Kulturen und von deren Handlungs- und Diskursmustern, ihren oftmals grenzüberschreitenden sozialen Beziehungsnetzen oder auch in interkulturellen Kontaktsituationen zu begreifen. In diesem Zuge wird oftmals gerade die Vorstellung von ‚dem Staat‘ als einheitlichem politischen Akteur fraglich (vgl. von Thiessen und Windler 2010; Köhler 2013; Kühnel 2015). Auf diplomatische Korrespondenz als Quelle bleiben freilich auch diese Forschungen angewiesen. Aus kulturgeschichtlicher Sicht naheliegende Konzeptualisierungen dieser Quellengattung als Medium und als Raum eines kommunikativen Geschehens sind jedoch bislang eher rar und präliminarisch geblieben (vgl. Ménager 2001; Cadilhon et al. 2013). https://doi.org/10.1515/9783110376531-055

4.8 Korrespondenz in Diplomatie und/oder Patronage-Beziehungen 

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Im vorliegenden Beitrag soll eine Bestandsaufnahme der in dieser Hinsicht recht uneinheitlich tendierenden Forschung unternommen werden. Dazu werden zum einen die formalen und technisch-instrumentellen Kontexte der diplomatischen Korrespondenz und ihre Beziehung zu anderen außenpolitischen Kommunikationskanälen eingeführt. Zum anderen werden vor dem Hintergrund einer sozial- und kulturgeschichtlich gewendeten Außenbeziehungsforschung Diplomatenbriefe als Teil der Kultur frühneuzeitlichen Fürstendienstes betrachtet.

1 Produktion und Versendung diplomatischer Korrespondenz Zu den Prozessen der etwa um 1500 beginnenden Herausformung der Institutionen des europäischen Gesandtschaftswesens gehört parallel zur Verstetigung diplomatischer Vertretung auch die Etablierung eines regelmäßigen formalisierten Schriftverkehrs zwischen Gesandten und ihren Prinzipalen. Hier übernahmen italienische Staaten eine gewisse Vorreiterfunktion und etablierten in diesem Zuge ein aus älteren Strukturen hervorgegangenes, im Laufe des 16. Jahrhunderts europaweit adaptiertes Verfahren regelmäßiger Berichterstattung von Gesandten an ihren Dienstorten, die die entsendenden Obrigkeiten in unregelmäßigen Abständen mit Reskripten beantworteten (vgl. Sägmüller 1894, 292–294). Die Informationen in den Depeschen ließen sich aufgrund von deren oftmals improvisierten und an den Gesandtschaftsalltag gekoppelten Entstehungsbedingungen in der Praxis oft nur bedingt nach formalen Vorgaben, etwa einer groben Unterteilung in unmittelbare diplomatische Geschäfte und allgemeinere politische Beobachtungen, organisieren (vgl. Lunitz 1988, 152–156). Auch die Norm, in Verhandlungen und Berichten politische Geschäfte von Fürspracheund Patronageangelegenheiten zu unterscheiden, wurde etwa von hochadeligen spanischen Botschaftern in der Praxis oft nicht nachvollzogen (vgl. von Thiessen 2010b). Dichte und thematische Bandbreite der in ihnen verhandelten Informationen waren folglich variabel und kontextabhängig. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden politischen Informationsobsession wies Ludwig XIV. bspw. seine Gesandten in den 1660er Jahren explizit an, möglichst sämtliche aktuell verfügbaren Nachrichten über ihren Dienstort in ihre Depeschen zu übernehmen (vgl. Roosen 1970, 317). Dabei wurde von den Gesandten zumeist erwartet, die Informationen nach dem Grad ihrer Gesichertheit und Plausibilität zu klassifizieren (vgl. Friedrich 2007, 335–345). Die diplomatische Depesche wurde oftmals durch weitere Berichte, Partikularschreiben und Beilagen ergänzt, sodass neben Spezialberichten über einzelne

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Aspekte des Gastlandes auch gedruckte Pamphlete, Zeitungsausschnitte oder durch Spionagetätigkeit erworbene Informationen, die für die entsendenden Höfe von Interesse sein konnten, beigefügt wurden. Diplomatische Briefe konnten also in regelrechte Materialdossiers eingebettet sein (vgl. Levillain 2010, 47–48). Die venezianischen Gesandten waren überdies verpflichtet, die bereits erwähnten Abschlussrelationen vorzulegen. Diese späteren Musterquellen historistischer Geschichtsschreibung (vgl. beispielsweise Andreas 1943) lieferten umfassende stilistisch und inhaltlich elaborierte Analysen zur politischen Situation am Dienstort des Gesandten, die jedoch bereits früh auch das Interesse einer über die Serenissima hinausreichenden politischen Öffentlichkeit fanden und bald auch über den Druckmarkt für eine breitere Öffentlichkeit verfügbar wurden (vgl. de Vivo 2011). In anderen Staatswesen wurde diese elaborierte Form politischer Analyse zwar adaptiert, jedoch nicht konsequent übernommen (vgl. Müller 1976, 33–34; Bsp. Spanheim 1900). Zentrale Voraussetzung für die Einrichtung und Ermöglichung europaweit funktionierender diplomatischer Kommunikationskanäle war die Entwicklung eines elaborierten Postwesens (vgl. etwa Sägmüller 1894, 209–211). Regelmäßige Kurierstafetten, die auch für Briefe von Gesandten genutzt wurden, richteten die Obrigkeiten italienischer Staaten schon im späten Mittelalter ein (vgl. Behringer 2003, 51–65). Besonders mit dem Transfer des Systems in die Gebiete jenseits der Alpen zu Beginn des 16. Jahrhunderts und dessen gleichzeitiger Kommerzialisierung und Öffnung für die Allgemeinheit in Mitteleuropa ging eine enorme Verdichtung und Beschleunigung von Kommunikation einher. Das relativ effiziente und kostengünstige Transportmittel wurde in der Folge auch, soweit regelmäßig verfügbar, von den Gesandten genutzt, ungleich teurere und nicht immer verfügbare Kuriere wurden dagegen wesentlich seltener zum Verschicken wichtiger Dokumente beauftragt (vgl. Mattingly 1955, 248). Die Koppelung des Brieftransports an das Postwesen bedeutete zugleich, dass die Taktung der Posttage auch den Arbeitsrhythmus der Botschafter als regelmäßige Berichterstatter mitstrukturierte (vgl. Behringer 2003, 126). Die Verbindung mit dem Postwesen erleichterte und verdichtete insgesamt den diplomatischen Briefverkehr erheblich. Unter den technischen Bedingungen der Vormoderne blieben jedoch für jede Form von Distanzkommunikation die Risiken des Verlusts von Informationen oder, angesichts der Kontingenz bisweilen volatiler politischer Situationen, ihrer schwindenden Relevanz durch die relative Langsamkeit des Transports (vgl. von Thiessen 2004, 29–30). Standardisierte Empfangsbestätigungen sowie das Vermerken von Sende- und Empfangsdaten zur Prüfung von Geschwindigkeit und Sicherheit der Postverbindungen waren daher übliche Markierungen in der diplomatischen Korrespondenz (vgl. Mattingly 1955, 111–112).

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Solche Risiken und Vorsichtsmaßnahmen hingen auch mit der ko-evolutionären Herausbildung von Gesandtschaftswesen und Praktiken der Spionage zusammen. Botschafter betätigten sich nicht nur als ‚ehrbare Spione‘ in ihren Gastländern. Ebenso waren ihre Briefe auch in Gefahr, abgefangen zu werden. Hierfür errichteten ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts viele Regierungen sogenannte schwarze Kabinette, in denen fremde diplomatische Korrespondenz systematisch abgefangen, möglichst unbemerkt geöffnet und gegebenenfalls entschlüsselt werden sollte (vgl. Beyrer 2006). Dieses Risiko wiederum beförderte ausgefeilte Techniken der Codierung und Decodierung von Informationen. Um sich vor unerwünschten Mitlesern zu schützen, wurden Teile der diplomatischen Berichte (oft auch nur einzelne Wörter) mit Chiffren verschlüsselt oder seltener mit steganographischen Techniken (‚Geheimtinten‘ u.  ä.) verborgen. Solche Techniken sind erst in jüngerer Zeit systematischer erforscht worden (vgl. Mulsow und Rous 2015). Verbindliche Aussagen zur Frage, welche Inhalte bevorzugt wie verschlüsselt wurden, erweisen sich jedoch meist als sehr schwierig (vgl. Ulbert 2015, 275–276). Trotz der Spionagegefahr blieb die Komplexität von Chiffrierungen meist unter ihren theoretischen Möglichkeiten. Praktiken des Chiffrierens dürften unter den Bedingungen knapper Zeit-, Personal- und Arbeitskraftressourcen vor allem auf ihre Operationalisierbarkeit hin angelegt worden sein (vgl. Pohlig 2016, 164–168). Zukünftige Forschungen könnten solchen und anderen bislang eher vernachlässigten Fragen nach der Interdependenz der medialen Form und der Materialität der Korrespondenzen und den technischen, materiellen und ‚zeitökonomischen‘ Bedingungen ihrer Produktion nachgehen. Mithilfe neuerer praxistheoretischer Ansätze wie der „transsequentiellen Analyse“ (Scheffer 2013) ließe sich etwa die oft unter Zeitdruck stehende Dynamik der sukzessiven Produktion von Korrespondenz aus Vorentwürfen und den notizbuchhaften Diarien von Gesandten rekonstruieren. Zugleich könnte so auch die relativ wenig erforschte Arbeit von Sekretären, Übersetzern etc. in der zweiten Reihe des Gesandtschaftswesens als Ko-Produzenten diplomatischer Korrespondenz stärker konturiert werden (vgl. Cacères-Würsig 2014; Rule und Trotter 2014).

2 Formale Zuständigkeiten und Bearbeitung diplomatischer Korrespondenz Welche Institutionen bzw. Amtsträger für die Bearbeitung der diplomatischen Korrespondenz verantwortlich waren, blieb in vielen Staatsverwaltungen wie

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beispielsweise in England mit seinem erst im späten 18. Jahrhundert abgeschafften System paralleler secretaries of states (vgl. Black 1988, 78–80) in der Praxis oftmals langfristig im Fluss. In den meisten Monarchien war jedoch als regulärer Verfahrensweg vorgesehen, dass die Schreiben direkt oder vermittelt über spezialisierte Stellen und Verwaltungskanzleien zu den höheren herrschaftlichen Ratsgremien gelangten (vgl. Horn 1961, 3–4; Müller 1976, 43). In republikanischen Gemeinwesen waren zumeist größere politische Körperschaften, wie in Venedig der Senat oder in den Niederlanden die Generalstaaten, offiziell Empfänger von Korrespondenzen (vgl. Levillain 2010, 46). In vielen Fällen war überdies lange Zeit nicht klar, welche Arten von Schreiben überhaupt ‚offizielle‘ diplomatische Korrespondenz waren, und ebenso wenig war vor allem vor der Mitte des 17. Jahrhunderts in der Praxis allen Akteuren bewusst, inwiefern die Briefwechsel Teil eines spezifisch herrschaftlichen Kommunikations- und Überlieferungszusammenhanges waren, so dass viele Botschafter nach Ende ihrer Dienstzeit oftmals einen Teil der Briefe in eigenem Besitz behielten (vgl. Mattingly 1955, 241). In Frankreich konnten zumindest formal außenpolitische Zuständigkeiten durch die Gründung eines spezialisierten Sécrétariat des affaires étrangères unter Kardinal Richelieu in den 1630er Jahren geklärt werden (vgl. Haehl 2006). Ebenso ließ sich die vollständige Überführung aller Korrespondenzen nach Dienstende in ein eigenes Archiv spätestens um 1700 unter dem Minister Colbert de Torcy endgültig durchsetzen und systematisieren. Bereits unter Colberts Vorgängern wurden Maßnahmen zur systematischen Anlage eines behördlichen Korrespondenzarchivs eingeleitet, für die durch vereinheitlichende chronologische Anordnung von Depeschen und Reskripten in einzelnen Bänden und mit einem Namens- und Sach-Indexsystem Techniken des Informationsmanagements verwandt wurden, die die Auffindbarkeit der Briefe und ihrer Inhalte im Bedarfsfall optimieren sollten (vgl. Rule und Trotter 2014, 322, 327). ‚Offizielle‘ diplomatische Korrespondenz muss jedoch in vielen Fällen im Kontext mehrerer Korrespondenzstränge und Kommunikationskanäle betrachtet werden. Gerade in der englischen oder der kaiserlichen Diplomatie waren parallele private Korrespondenzen von Gesandten an Monarchen bzw. hohe Amtsträger üblich (vgl. Black 2001, 88–89, 177–178; Müller 1976, 42–57). Hier wurden oftmals wichtige Themen verhandelt, die in den offiziellen Korrespondenzen fehlten. Dies war etwa in den englischen Korrespondenzen aus Versailles während der 1750er Jahre der Fall, wo beispielsweise Informationen über den informellen Einfluss von Madame de Pompadour am Hof fast ausschließlich in privaten Botschafterkorrespondenzen auftauchten (vgl. Dade 2010, 260–262). Im Laufe des 18. Jahrhunderts entstanden mit dem vom Prinzen Eugen von Savoyen-Carignan organisierten Informationsnetzwerk in der Habsburgermonarchie (vgl. Braubach 1962) oder später dem secret du Roi in Frankreich (vgl. Perrault

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1992–1996) auf die Monarchen und ihre engsten Vertrauten ausgerichtete Formen regelrechter Geheimdiplomatie. Es wurden privilegierte Informationskanäle jenseits der administrativen Institutionen geschaffen, an denen neben offiziellen Diplomaten auch zahlreiche andere Berichterstatter beteiligt waren. Überdies unterhielten auch andere außenpolitische Einflussträger wie etwa der Duke of Marlborough (vgl. Pohlig 2016) oder ein europaweit agierender und außenpolitisch einflussreicher französischer Hochadeliger wie der Prince de Condé (vgl. Kühner 2010) eigene Informations- und Korrespondenznetzwerke. Ähnlich wie bei der Geheimdiplomatie handelte es sich freilich nicht notwendigerweise um von der offiziellen Diplomatie separierte Netzwerke. Trotz bspw. in Frankreich unternommener Versuche, die Berichtstätigkeit der Gesandten auf König und Außenstaatssekretär zu begrenzen (vgl. Roosen 1970, 323), gelangten auch andere über formellen oder informellen Einfluss verfügende Akteure über Gesandte oder die verantwortlichen Minister an außenpolitische Informationen (vgl. Malettke 2012, 66–67; Pohlig 2016, 151–162, 190–191). In vielen Fällen liefen die parallelen Korrespondenzstränge und Informationsströme ohnehin in Entscheidungs- und Beratungssituationen wieder zusammen. Die Kaiser nutzten den aus Parallelkorrespondenzen hervorgehenden Informationsvorsprung oft lediglich zur Reduktion des potentiellen Entscheiderkreises auf wenige Akteure jenseits größerer Ratsgremien (vgl. Müller 1976, 45); und während des Spanischen Erbfolgekrieges stellte die ‚inoffizielle‘ Korrespondenz von Madame de Maintenon und der Princesse des Ursins für Monarchen und Minister in Frankreich ein wichtiges Koordinations- und Verständigungsinstrument zwischen Versailles und Madrid dar, während die einflussreiche Madame de Maintenon oftmals auch Kenntnis von den offiziellen Korrespondenzen der Botschafter mit Monarchen und Außenministern hatte (vgl. Bastian 2013).

3 Gesandtschaftswesen und Patronage Patronagebeziehungen, verstanden als auf der Erwartung reziproken Tausches von Leistungen und Diensten beruhende asymmetrische, zumindest leidlich stabile Sozialbeziehungen (vgl. Reinhard 1979), waren eine zentrale Grundlage des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens wie auch anderer Bereiche frühmoderner Staatsverwaltungen. Das Funktionieren von deren formalen Strukturen wurde oftmals erst durch die personalen Abhängigkeiten von Patron-KlientBeziehungen ermöglicht. Trotz der Existenz formaler Ämterstrukturen verrichteten frühneuzeitliche Diplomaten weniger bürokratischen ‚Staatsdienst‘, sondern befanden sich in vom ‚Ethos der Patronage‘ überformten personalen Fürsten-

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dienstbeziehungen (vgl. von Thiessen 2010a, 483–486), oft verbunden mit Klientelverhältnissen zu den für die herrscherliche Patronage verantwortlichen und/ oder den für die Koordination der Außenbeziehungen zuständigen Personen. Die Entlohnung von Gesandten unterlag dabei einer Logik des Gabentausches. Sie mussten sich oft weitgehend ohne zureichende Kompensation finanzieren (wenngleich etwa spanische Botschafter bei der römischen Kurie relativ große Freiheiten beim Zugriff auf kirchliche Patronageressourcen hatten, ohne der Korruption beschuldigt zu werden) und wurden erst später mit einträglichen Pfründen beispielsweise in der Finanzverwaltung oder auf Statthalterposten remuneriert (vgl. von Thiessen 2010b, 139–140; Pečar 2003, 50–51).

4 Briefe von Diplomaten und die Sprache der Patronage Die strukturierende Wirkung der sozialen und kulturellen Institution der Patronage machte sich auch in der brieflichen Kommunikation zwischen Klienten/ Diplomaten und ihren als Patronen fungierenden Prinzipalen bemerkbar. Dies zeigt sich in der zwischen ihnen oft in parallelen Korrespondenzen oder in den Depeschen selbst gepflegten Rhetorik der Patronage, die diese Beziehungen begleitete bzw. mit der Akteure Klientendienste als Gesandte oder diplomatische Agenten anboten (vgl. Droste 2006, 109–120). Es war nicht zuletzt dieser Typus von Briefkommunikation und seine affektiven, ‚übertriebenen‘ Bezeugungen von Verehrung und Zuneigung, die mitunter bewusste Anleihen bei religiösen Sprachfiguren machten (vgl. Herman 1995, 9), der zu einem aus einer ästhetisierenden und moralisch wertenden Perspektive negativen, von Unterwürfigkeit und Unehrlichkeit geprägten Bild des Briefes im 17. Jahrhundert beigetragen hat (vgl. Steinhausen 1891, 2 u. 4). Die jüngere Patronageforschung hat dagegen diese Sprech- bzw. Schreibakte als Formen symbolischer Kommunikation beschrieben und sie im erweiterten Feld frühneuzeitlicher Höflichkeitsrituale verortet. Mithilfe einer stark konventionalisierten Sprache riefen (potentielle) Klienten in überexpliziter Form prinzipiell geteilte normative Grundlagen von personalen Beziehungen auf, über die die beteiligten Akteure anzeigten, dass sie willens und in der Lage waren, weiterhin gemäß sozialer Normen zu kommunizieren, und etablierten Grundlagen für entsprechende Folgekommunikation bzw. für das Weiterbestehen von zumindest auf prinzipieller Kooperationsbereitschaft beruhenden elementaren sozialen Beziehungen. Diese Form der Kommunikation stellte so auch eine sprachliche Grundlage für die Aufnahme bzw. das Fortbestehen von Patron-Klient-Beziehungen her.

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Dabei ließ der sprachliche Code für beide Seiten Raum mittels Nuancierungen und Modulationen mitzuteilen, welches Maß an Kooperation und Loyalität erwartbar war oder wie es um das beiderseitige Verhältnis stand. Inwiefern darüber hinaus das Komplimentierverhalten selbst gewissermaßen als immaterielle Ressource auch Teil des für Patronagebeziehungen konstitutiven Gabentauschs werden konnte (vgl. Neuschel 1989), bleibt in der Forschung nicht verbindlich geklärt. Briefe zwischen Klient und Patron konnten dabei auch eine, in den Augen der Zeitgenossen allerdings prekäre, gerade von den vom Hof als zentraler ‚Patronagebörse‘ abwesenden Diplomaten bevorzugt genutzte Stellvertreterfunktion für persönliche Aufwartungen beim Patron einnehmen. Sie funktionierten als „Appräsentation“ (Hengerer 2013, 15) von Abwesenden in einer paradigmatisch auf Anwesenheitskommunikation ausgerichteten frühmodernen Gesellschaft (vgl. Schlögl 2014). Das laute Verlesen der Briefe, die der Patron erhielt, simulierte kommunikative Sequenzen persönlicher Ehrerweisungen (vgl. Droste 2006, 115) und die mediale und materiale Gestaltung des Briefes imitierte anhand kalligraphischer Merkmale, dem Abstand zwischen Titulatur und Brieftext, Qualität des Papiers u.  Ä. sprachliche und gestische Praktiken der Ehrerbietung unter Anwesenden (vgl. Sternberg 2009). Die Rhetorik der Patronage selbst wurde in diesem Kontext nicht primär auf inhaltliche Wahrheit oder emotionale Aufrichtigkeit hin beobachtet und muss daher auch nicht als intentionale rhetorisch-strategische Manipulation und verlogenes Verhalten beurteilt werden. Dies machte schon die Standardisierungseffekte verstärkende Verfügbarkeit von gedruckten Briefstellern seit dem späteren 17. Jahrhundert (vgl. Droste 2006, 105) bzw. die Tatsache, dass solche Briefe oft in größeren Mengen von Sekretären vorgefertigt wurden, ohnehin unwahrscheinlich (vgl. Emich et al. 2005, 242). Für Aufnahme und Fortführung von Patron-Klient-Beziehungen war diese Form der standardisierten Kommunikation zwar notwendige, für sich genommen jedoch noch nicht hinreichende Bedingung, denn die Sprache der Patronage konnte auch zwischen Akteuren gepflegt werden, zwischen denen ausdrücklich keine solchen Beziehungen bestanden (vgl. Emich et al. 2005, 241–242). Akteure, die Klienteldienste als Agenten der Außenbeziehungen anstrebten, flankierten die Sprache der Patronage, indem sie ihr soziales Kapital, etwa Sozialbeziehungen am Dienstort, und ihren Zugang zu Informationen zu demonstrieren suchten (vgl. Droste 2006, 116).

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5 Patron-Klient-Verhältnisse und die ­kommunikative Logik diplomatischer Korrespondenzen Patron-Klient-Verhältnisse von Gesandten wirkten aber nicht nur auf die zumeist explizit gemachte hochformalisierte schriftliche Kommunikation zwischen den Akteuren zurück. Die Verflechtung personaler sozialer Beziehungen und kommunikativer und epistemischer Settings (vgl. Brendecke 2009, 18–19) des Gesandtschaftswesens lässt sich auch in vielen Fällen an ‚sachlichen‘ Aspekten der diplomatischen Korrespondenz rekonstruieren. Die Unentflechtbarkeit von Dienstverhältnissen und Patron-Klient-Beziehungen machte die Gesandten in dem Rahmen, den jeweils die Form der diplomatischen Korrespondenz oder ihr Status als Klient zur Artikulation von Eigeninteressen bereitstellte, oft auch zu ‚Unterhändlern in eigener Sache‘. Dass der Dienst der Gesandten in die Logik der Patronage eingelassen war, sorgte, wie erwähnt, dafür, dass diplomatische Missionen für ihre Träger enorme ökonomische Risiken mit sich brachten, die sich durch potentielle spätere finanzielle Kompensation gefährdende Krisen oder Misserfolge noch verstärken konnten. Durch die räumliche Ferne von der höfischen Anwesenheitsgesellschaft riskierten hochadelige Botschafter überdies potentiellen Statusverlust (vgl. Roosen 1976, 72–73). Entgegen der in der Traktatliteratur zum parfait ambassadeur normativ vorgegebenen vollständigen Aufrichtigkeit gegenüber den eigenen Auftraggebern (vgl. Wicquefort 1681, Bd. 2, 106) und der Annahme, die relativ formlose diplomatische Korrespondenz lasse auf hohe Objektivität der Berichte schließen (vgl. Neveu 1993, 47; Sägmüller 1894, 305), begünstigte die parallele Klientenrolle der berichtenden Diplomaten zumindest dort, wo dies die sozialen und praktischen Rahmenbedingungen zuließen, oftmals eine regelrechte ‚Verdoppelung‘ ihrer Verhandlungstätigkeit an fremden Höfen in der Korrespondenz (vgl. Waquet 2010). Der manipulativ-kontrollierende, teilweise dissimulative Verhandlungsstil, der Gesandten in der Traktatliteratur anempfohlen wurde (vgl. Callières 1716), konnte ebenso in der Praxis auf die Korrespondenz mit ihren Dienstherren zurückwirken, wenn Gesandte ihre Prinzipale von opportunistischen Situationsanalysen und Selbstdarstellungen zu überzeugen suchten. Dabei handelten viele Gesandte zum einen eigene ‚mikropolitische‘ Interessen aus, bei denen es um Geldzahlungen und Patronageleistungen ging, zum anderen konnten auch die Einschätzung von Personen und Kommunikationssituationen, die Nachrichtenlage vor Ort oder die Kriterien von Erfolg oder Misserfolg der eigenen Mission in den Korrespondenzen zu verhandelten Gegenständen werden (vgl. Haug 2015, 250–261, 388–402; Tessier 2013). Inhaltlich wurden

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dabei häufig bestimmte Fremdbilder und Selbstbeschreibungen zu durchaus variablen und situativ anpassbaren „standard stories“ und Rechtfertigungsnarrativen (Tilly 2002, 25–35) verwoben. Solche opportunistischen Aushandlungen in den Korrespondenzen müssen jedoch nicht notwendigerweise nur als implizit antagonistische Kommunikationssituationen beschrieben werden. Sie lassen sich auch mithilfe neuerer organisationssoziologischer Ansätze als kooperative Konstruktionen von selbstbegünstigenden Narrativen begreifen (vgl. Haug 2015, 253–258; Levillain 2010, 55). Sie etablierten auch Kontrollillusionen und handlungs- und entscheidungsbefähigende Sinnzuschreibungen (vgl. Weick 1995) zwischen den Akteuren, die ihnen „Unsicherheitsabsorption“ gestatteten (Luhmann 2000, 183, 216). Dies muss auch keineswegs als Widerspruch zum in vielen Staatsadministrationen durch den Gebrauch paralleler Informationskanäle sich erhöhenden und differenzierenden Aufkommen verfügbarer Informationen verstanden werden. Ebenso wenig befähigte ein Mehr an Information immer zu rationalerem Entscheiden. Als schwer verarbeitbarer ‚information overload‘ (vgl. Behrisch 2011) konnte es die ­beschriebenen internen Kommunikationsformen oft eher befördern. Mithilfe solcher Überlegungen könnten weitere Forschungen dazu beitragen, die diplomatische Korrespondenz innerhalb ihrer kommunikativen und epistemischen Handlungsgefüge und der sozialen Beziehungen der Akteure zu untersuchen, und dabei auch danach fragen, wie die in den diplomatischen Korrespondenzen enthaltenen Informationen von Diplomaten in Beratungs- und Entscheidungssituationen verhandelt wurden (vgl. etwa Pohlig 2016, 302–313). All dies könnte dabei helfen, diplomatische Korrespondenz als Kommunikationsmedium besser zu verstehen, und mit einer solchen ‚Hermeneutik der diplomatischen Korrespondenz‘ einen wichtigen Beitrag zur neuen Diplomatiegeschichte leisten.

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Werner Stangl

4.9 Die Korrespondenz spanischer Emigrant*innen in Amerika seit 1492 1 Einleitung Die Auswanderung von Spanier*innen in die Neue Welt in der Folge der kolumbianischen Entdeckungen und der Conquista bis zum Verlust der Gebiete im Zuge der Unabhängigkeitskriege der 1810er und 1820er Jahre lässt sich zwar quantitativ nicht mit der transatlantischen Massenmigration im 19. Jahrhundert vergleichen (die Gesamtzahl der Auswanderer betrug sehr wahrscheinlich unter einer Million in drei Jahrhunderten!), dennoch wurde sie zeitgenössisch als besonders massive Migrationsbewegung wahrgenommen. Sogar eine drohende Entvölkerung Spaniens wurde prophezeit (vgl. Artola 1969). Diese Bewegung zeichnet sich durch einen regelmäßigen und umfangreichen brieflichen Schriftverkehr zwischen den Emigrant*innen und ihren daheim gebliebenen Angehörigen aus und bildet damit den Ursprung für das große Feld der ‚Auswandererbriefe‘, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert in zahlreichen Kontexten entstehen sollten. In der Frühen Neuzeit sind die spanischen Emigrant*innenbriefe hinsichtlich des sozialen Hintergrundes (weniger starke Verengung auf Adels-, Gelehrten- und Geschäftskorrespondenz), der Quantität erhaltener Schriftstücke und der Transkontinentalität jedenfalls einzigartig. Dabei sind gleichzeitig der aus den erhalten gebliebenen Briefen ableitbare hohe Alphabetisierungsgrad wie auch die Verwendung des Briefmediums selbst durch Analphabeten (unter Zuhilfenahme von Schreibern und Vorlesern) bemerkenswert. Die langsame Kommunikationsgeschwindigkeit und die Unregelmäßigkeit der Verbindungen sind besondere Kennzeichen der in diesem Rahmen entstehenden Briefkultur.

2 Editionsgeschichte Im Vergleich zur Beschäftigung mit Auswandererbriefen aus den USA im 19. und 20.  Jahrhundert intensivierte sich die Beschäftigung mit den Briefen spanischer Emigrant*innen erst sehr spät. Besonderes Verdienst gebührt Enrique Otte, dessen frühe Editionen (vgl. Otte 1966; Otte 1968; Otte 1969) bislang kaum rezipiert wurden; seine umfangreiche Edition von 653  Briefen (vgl. Otte 1988) löste jedoch einen gewissen Boom aus. Einerseits wurden in der Folge anhand seines Korpus einzelne ‚mentalitätsgeschichtlicheʻ und verwandte Aspekte abgehttps://doi.org/10.1515/9783110376531-056

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arbeitet, andererseits entstanden seither weitere umfangreiche Editionen, teils aus demselben Archivmaterial (vgl. Macías und Morales 1991; Pérez 1999; Stangl 2012), teils aus ganz anderen Quellenbeständen, besonders Gerichts- (vgl. Martínez 2007; Sánchez und Testón 1999) und Notariatsakten (vgl. Usunáriz 1992). Durch diese Arbeiten stehen mittlerweile insgesamt über 3.000 Emigrant*innenbriefe aus dem Zeitraum 1500–1824 ediert zur Verfügung (davon über 1.200 in Stangl 2012), wobei Qualität und Fokus der editorialen Praxis stark divergieren (eine Analyse dazu ebenfalls in Stangl 2012, 171–184, 309–320). Ein gemeinsamer Nenner der Editionen ist aufgrund der archivalischen Herkunft der Briefe der Fokus auf Einzelstücke und nicht auf ganze Korrespondenzen. Umfangreichere Korrespondenzen rund um eine Person oder Personengruppe haben sich fast ausschließlich in Privatarchiven sowie für einzelne zentrale Figuren erhalten und weisen somit stärker die für die Frühe Neuzeit typische extreme soziale Verengung auf. Der Mehrwert dieser Bestände liegt darin, dass einzelne Briefinhalte viel besser kontextualisiert werden können, während bei Einzelbriefen die Hintergründe vieler Bemerkungen und Sätze unklar bleiben. Deshalb sind solche Bestände von Emigrant*innenbriefen auch in den letzten Jahren mit den Methoden der egozentrierten Netzwerkforschung ausgewertet worden, wobei eine Edition der Briefe selbst in der Regel für die Fragestellungen nicht notwendig ist und daher häufig unterbleibt (vgl. exemplarisch: Hausberger 2004; Arroyo 2008). Ausnahmen von dieser generellen Aussage sind zwei vergleichsweise frühe Editionen, die als Protagonisten Diego de Vargas, den Gouverneur Neu-Mexikos ab 1692, und dessen Frau (vgl. Kessell 1989; Dodge und Hendricks 1993) haben, eine rezentere Edition von Familienkorrespondenz im Rahmen der spanischen Emigration betrifft die Familien Espadero Paredes und Moral Bertistáin/Blázquez de Cáceres (vgl. Sánchez und Testón 2014). Ein bislang fast gänzlich unerforschter Bereich ist die inneramerikanische Korrespondenz von spanischen Emigrant*innen der Kolonialzeit, sowohl die innerhalb der Herkunftsgemeinschaften als auch die mit der kreolischen oder allgemeinen Umwelt (Ausnahme: Aizpuru 2002). Dieser Befund lässt sich sogar grundsätzlich auf Briefe aller Gruppen innerhalb Spanischamerikas ausweiten – ein Umstand, der teilweise auch durch die Quellenlage bedingt ist. Lediglich in einer Edition von Privatbriefen aus Inquisitionsakten (vgl. Sánchez und Testón 1999) findet sich eine gewisse Anzahl solcher inneramerikanischen Schriftstücke.

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3 Überbringer, Flotten und Postschiffe – die Verbindungen Ein besonders lohnendes inhaltliches Feld bei der Analyse der Emigrant*innenbriefe bietet der Komplex der transatlantischen Verbindungen und Formen der Briefübermittlung, von deren Geschwindigkeit, Frequenz und Zuverlässigkeit die Art der Kommunikation (sowie auch materielle Versorgung) entscheidend abhingen. Aus den Briefen geht gut hervor, welche psychischen Unsicherheiten und Zweifel, aber auch konkreten finanziellen und organisatorischen Probleme sich ergaben, wenn sich eine Verbindung, die schon im besten Fall sehr langsam war, zudem als unzuverlässig herausstellte. Viele der Briefschreiber*innen gaben den Empfänger*innen auch Tipps und Anleitungen, wie sie verfahren sollten, damit die Korrespondenz möglichst reibungslos übermittelt werden konnte. So war für die transatlantischen Briefverbindungen (besonders jene aus Peru) die Sendung von Briefen als Duplikate, Triplikate oder Quadruplikate nicht unüblich. Briefschreiber*innen optierten sehr häufig dafür, Briefe dann zu verlassen, wenn sie sich selbst an einem zentralen Ort oder in einer wichtigen Hafenstadt aufhielten. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts war besonders das Timing mit der Ankunft und Abfahrt der jährlichen Flotte abzustimmen, da ansonsten eine Korrespondenz meist ein ganzes Jahr unterbrochen war. ‚Die Flotte‘ wurde regelrecht zur Maßeinheit der Korrespondenz. Daher schickte man zu Zeiten der Flotten auch häufiger mehrere Briefe in einem Umschlag, nicht zuletzt um Porto (für den bzw. die Empfänger*in, der bzw. die es zu entrichten hatte) zu sparen. Auch überließ man den Transport vorzugsweise nicht der Post, sondern hatte Personen, die den Brief erst in Sevilla bzw. Cádiz der Post übergaben, oder beauftragte im besten Fall sogar eigene „Überbringer“ (dadores), die dann gleich als „lebendiger Brief“ (Macías und Morales 1991, Brief Nr. 74) die Briefe ergänzen konnten und auch Geldsendungen überbringen sollten (bei ungeeigneter Auswahl jedoch weder das eine noch das andere ans Ziel brachten). Mit der Liberalisierung des Handels nach 1764, dem Ende der Monopolflotten, der zeitgleichen Einführung der Seepost (einmal im Monat nach La Habana und weiter nach Veracruz sowie in andere Häfen, alle zwei Monate nach Buenos Aires) und der ebenfalls neu aufgestellten Landpost erweiterten sich die Möglichkeiten der Briefübermittlung (zur Seepost siehe Garay 1987 und AGI 1996; Datensätze zur räumlichen Organisation von See- und Landpost in Stangl 2019a und Stangl 2019b sowie Stangl 2020). Mit Einführung der Seepost wurde auch der Anteil der auf ‚offiziellem Wegeʻ und damit sogar vorfrankiert verschickten Briefe größer. Auch die Frequenz stieg: Aus dem davor üblichen ‚Ping-Pongʻ (Erhalt nach Ankunft der Flotte, Antwort, wenn möglich, so, dass der Brief mit derselben Flotte abgeht) wird ein verschachtelter Rhythmus, bei dem die Information ganz entscheidend wird, auf welchen Brief bzw. welche

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Briefe eigentlich geantwortet wurde, da teilweise mehrere gleichzeitig unterwegs waren. Durch die Nennung erhaltener und abgeschickter Briefe wird der eventuelle Verlust von Briefen deutlicher sichtbar. Die Länge der einzelnen Briefe ging damit natürlich ebenfalls zurück, da man nun häufiger schrieb, und oft auch individuell an einzelne Empfänger*innen, anstatt einen an die ganze Familie zu richten. Einen gewaltigen Rückschritt bei der Sicherheit der Korrespondenzen gab es hingegen durch den Verlust der Hegemonie zur See: Vor allem die Engländer konnten im 18. Jahrhundert im Fall von Kriegen die Kommunikation beider Hemisphären des spanischen Imperiums empfindlich beeinträchtigen: Flotten blieben sicherheitshalber in Häfen, machten Umwege, versenkten die wertvolle Post (da Amtskorrespondenzen und private Briefe auf demselben Weg transportiert wurden) oder wurden mitsamt der Post aufgebracht (solche Ladungen von Schiffen mehrerer europäischer Nationen liegen im British National Archive; derzeit läuft ein groß angelegtes Projekt zur Erschließung dieser Prize Papers [Freist 2018  ff.]). Während des Anglo-Spanischen Kriegs im Rahmen der napoleonischen Kriege gelang es den Briten, zwischen 1801 und 1803 die Kommunikation fast vollständig zu kappen.

4 Emigrationslizenzen und Anwerbebriefe Dieser Umstand schlägt sich auch in der Zahl erhaltener Emigrantenbriefe nieder. Das liegt jedoch nicht nur an der logischen Kausalität verminderter postalischer Aktivität, sondern auch daran, dass in diesen Jahren weniger Personen um Emigrationslizenzen ansuchten – aus Angst, in Gefangenschaft nach England oder Jamaica gebracht zu werden. Den Löwenanteil der edierten Einzelbriefe machen nämlich sogenannte Anwerbebriefe aus, die ein eigenes Genre bilden. Otte, der nur Briefe des 16. und frühen 17. Jahrhunderts edierte, prägte für sie weitblickend den Begriff carta de llamada, ohne zu wissen, dass die spanischen Behörden Ende des 18. Jahrhunderts selbst aufhörten, undifferenziert von Briefen zu sprechen und stattdessen zur Abgrenzung den Begriff carta de llamamiento einführten. Ein wesentlicher Grund für das Schwergewicht dieser Briefgruppe ist die rechtliche und administrative Praxis der spanischen Kolonialherrschaft. Nur dieser ist nämlich die außergewöhnlich gute Quellenlage geschuldet. Aufgrund der zentralistischen Organisation der Kolonialverwaltung in Spanien wurde Amerika mitunter sogar als „von Briefen regierter Kontinent“ bezeichnet (Cortés 1984, 208). Auch wenn diese Aussage hinsichtlich der tatsächlichen Herrschaftspraxis wenig zutreffend ist, kann der Informationsdurst der Institutionen im Mutterland nur als gigantisch bezeichnet werden. Die spanische Krone verfolgte in ihrer imperialen Politik gänzlich andere Strategien als etwa die Briten. Nur sehr vereinzelt und

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eher spät setzte gezielte Siedlungspolitik ein, und die Krone versuchte eine möglichst ‚guteʻ Selektion der Auswanderer zu erreichen. Unerwünschte ‚Elementeʻ wie ‚Neuchristen‘, Morisken, Juden, ‚Zigeuner‘ oder ‚Lutheraner‘ gehörten zur Gruppe der ‚Verbotenen‘ (prohibidos), und auch alle anderen Spanier, die nicht in einer Funktion nach Amerika gingen, sah man grundsätzlich eher als Problem: als unstete Gestalten, die die indigene Bevölkerung korrumpieren würden. Aus diesen Gründen entwickelte sich bereits bald nach 1500 ein Lizenzverfahren (vgl. dazu besonders Lemus López 1993, 26–27; Jacobs 1991; Jacobs 1995). Der gesamte transatlantische Handels- und Personenverkehr wurde im Rahmen der jährlichen Monopolflotten organisiert und sollte auf diese Weise kontrollierbar bleiben. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts versuchte man, alle Ströme über Sevilla bzw. Cádiz zu bündeln. Auch wenn danach mehrere Häfen geöffnet wurden und Einzelfahrten bzw. regelmäßige Postschiffe die Flotten zunehmend ersetzten, wurde die Erfordernis von Auswanderungslizenzen als Maßnahme aufrechterhalten. Unterschiedliche Personengruppen mussten unterschiedliche Dokumente vorlegen, um eine solche Lizenz zu erlangen. Funktionäre (provistos), Militärs oder besonders Legitimierte (Spezialisten, Forschungsreisende) legten einfach ihre Ernennungsurkunden und königlichen Aufträge vor, Geistliche und Missionare erhielten vielfach Gruppenlizenzen. Privatpersonen hingegen mussten in der Regel ihre Taufurkunden und limpieza de sangre (‚Blutreinheitsbescheinigung‘ bzw. der Nachweis, ‚Altchrist‘ zu sein), später auch den Nachweis eines guten Lebenswandels vorlegen. Dieses Erfordernis wurde vielfach durch beglaubigte Zeugenaussagen und eidesstattliche Erklärungen (z.  T. in Briefform) erfüllt, aber eben auch maßgeblich durch vorgelegte Privatbriefe. Ob und für welche Gruppen Privatbriefe überhaupt geeignete Dokumente waren, unterlag deutlich Konjunkturen in der administrativen Praxis: Zwischen 1617 und 1687 fehlen sie in den Lizenzanträgen völlig, nur einige Verweise auf Briefe in Zeugenaussagen lassen sich ausmachen. Von 1687 bis 1786 lassen sich fast ausschließlich Briefe aus dem Kontext der Ehezusammenführung feststellen, während im 16. Jahrhundert und in der Zeit ab 1787 im Korpus auch die Emigration lediger Männer abgebildet ist (vgl. dazu die Statistiken in Stangl 2012, 136–150). Diese benötigten eine Begründung wie geschäftliche oder familiäre Angelegenheiten oder mussten den Nachweis erbringen, dass ein geregeltes Umfeld einschließlich Beschäftigung in Amerika gegeben war (durch diese Bestimmung konnten Emigrant*innen weitere Angehörige und Personal vielfach gleich in ihre Lizenz mit aufnehmen). Ledige Frauen erhielten Lizenzen hingegen überhaupt nur als Dienstmädchen oder im Gefolge von Familienangehörigen. Durch diese Konstellation ergeben sich zwei große Blöcke innerhalb der erhaltenen Anwerbebriefe: Einer steht im Zusammenhang mit der Emigration von ledigen, jungen Männern (meist zwischen 15 und 25), die zweite große Gruppe sind Briefe von Männern an ihre Ehefrauen im Zuge einer Zusammenführung der getrennten

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Partner. Verheiratete Männer, die ohne ihre Ehefrau reisen wollten, erhielten ihre Lizenz nämlich grundsätzlich nur befristet, je nach Situation und Ort für zwei bis sechs Jahre. Danach mussten sie entweder um Verlängerung ansuchen, zu ihren Frauen zurückkehren oder diese zu sich rufen. Diese Gesetzgebung führt dazu, dass uns die Anwerbebriefe ein Kaleidoskop verschiedenster Beziehungs- und Persönlichkeitsstrukturen bieten: Da gibt es hilflos oder auch sehnsüchtig flehende Ehemänner; solche, die der Frau mit dem Entzug finanzieller Unterstützung drohten, oder gar damit, sich anonym nach „Peru und nach China [ = Philippinen, d. Verf.]“ abzusetzen (Otte 1989, n. 368). Manche Briefschreiber baten zum ersten Mal, andere drängten oder flehten schon seit Langem, wobei die auf Seiten der Frau vermuteten (oder unterstellten) Motive wiederum eine große Bandbreite zeigen: Von fehlender Zuneigung, Bequemlichkeit, falschen Loyalitäten, ‚weiblicher Launenhaftigkeit‘ und Ähnlichem ist die Rede, sehr häufig werden auch die Beschwerlichkeit der und die Angst vor der Überfahrt thematisiert, die dann je nach Fall ernst genommen, beschwichtigt oder ironisiert wird. Jedenfalls kamen viele Frauen den Bitten offensichtlich nach. Dennoch verfügen wir interessanterweise über einen weiteren kleinen Bestand von in ihrer Genese gleich gelagerten Briefen (vgl. Pascua 1998): Einige der Ehefrauen entschieden sich nämlich nicht für die Emigration, sondern versuchten, die Durchsetzung rechtlicher Vorschriften zu erreichen, indem sie mit Hilfe der Briefe Anträge zur Rückführung ihrer Ehemänner (requisitorias) bei der Diözese Cádiz einreichten, die dafür zuständig war. Auch die erwähnten Briefe aus Inquisitionsakten (vgl. Sánchez und Testón 1999) muss man in diesem Licht sehen, handelt es sich doch bei fast allen um Beweisstücke aus Bigamiefällen, einem durch die lange Trennung, die Distanzen und mangelnde Informationslage sehr häufigen Delikt im Emigrationszusammenhang.

5 ‚Unechte Privatbriefe‘ und echte Fälschungen Briefe waren also nicht nur Kommunikationsmedium, sondern beanspruchten auch rechtliche Geltung. Logischerweise wurden die Briefe gemäß ihrer jeweiligen Verwendung als musterhafte Vorlage selektiert. So legte man bewusst Briefe vor, aus denen beispielsweise hervorging, dass der Onkel seinen Neffen für sein Geschäft benötige oder dass der Vater gestorben und das Erbe zu regeln sei etc. Die Beamten oder Emigrant*innen selbst unterstrichen dann häufig die entscheidenden Passagen. Manche Inhalte mag man auch lieber vor den Beamten verborgen gehalten haben, und obwohl zwischen den Zeilen auch viel Zuneigung zu finden ist, sind echte ‚Liebesbriefeʻ doch sehr selten. In einigen wird auch offen angesprochen, dass der ‚unechte‘ Privatbrief einem eigentlich privaten nur beigelegt worden war.

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Wie auch anderswo entwickelten sich aus ursprünglich vielleicht informellen Brieftypen klar umrissene, standardisierte Dokumente, die irgendwann konzeptuell von ‚gewöhnlichen Briefenʻ getrennt wurden. Ein besonders gutes Beispiel sind in dieser Hinsicht Vollmachten (cartas de poder), die im Kontext der Emigration eine wichtige Rolle spielten und ebenfalls in Lizenzen als Beweismittel vorhanden sind. Beim Anwerbebrief fand ein ähnlicher Normierungsprozess statt, der jedoch, wie auch beim Empfehlungsschreiben (carta de recomendación), nicht zur Gänze abgeschlossen wurde. Sehr viele Emigrant*innen legten weiterhin einfach ‚normaleʻ Briefe ihrer Verwandten vor, die nicht bereits den Beamten als eigentlichen Adressaten im Auge hatten. Der Prozess ging aber immerhin so weit, dass die Beamten einen spezifischen Terminus (carta de llamamiento) dafür einführten. Die cartas de llamamiento erreichten aber nie einen derartigen Standardisierungsgrad, dass er etwa für die Einleitung oder Verabschiedung eine geringere Variation vorsah als bei ‚gewöhnlichenʻ Briefen. Auch andere Elemente der cartas de llamamiento zielten eher darauf ab, den Anschein eines ‚normalenʻ Briefes aufrechtzuerhalten, indem darin z.  B. ein Verweis auf den zuletzt erhaltenen Brief oder ausgerichtete Grüße verschiedener Personen an andere Personen eingebaut wurden. So entsteht vielfach der Eindruck der Unredlichkeit oder des Fingierens, obwohl wir es eher mit Konventionen zu tun haben. Angesichts des Verwendungszwecks kann es aber nicht verwundern, dass zahlreiche Briefe auch im engeren Sinne gefälscht wurden. Vereinzelt konnten solche Fälschungen schon für das Material aus dem 16. und 17. Jahrhundert festgestellt werden (vgl. Stangl 2012, 70–79 u. 123–132). Zu einem relevanten Faktor wurden sie jedoch erst Ende des 18. Jahrhunderts, besonders nach der Öffnung mehrerer Häfen als Ausgangspunkt für die Emigration. Die zentralen Behörden in Aranjuez/Madrid kontrollierten die Hafenrichter stichprobenartig. Unter den Lizenzen befinden sich auch immer wieder abgelehnte Anträge sowie Ermahnungen an die Richter, genauer hinzusehen, und auch mehr oder weniger dezente Andeutungen, dass die Hafenrichter selbst involviert seien: „Die Kommission glaubt, dass der Brief, in dem ihn sein Cousin ruft, gefälscht ist, Sie begründet diesen Verdacht […] in der Gleichheit des Papiers des Briefes mit dem des Hafenrichters, und wiewohl es möglich ist, ist es nicht alltäglich, dass der Hafenrichter und der Händler in Havanna dasselbe Papier benutzen“ (Stangl 2012, Anhang 1, Dok. Nr. 10). Und als 1813, nach der Vertreibung Napoleons, das Lizenzverfahren wieder eingeführt werden sollte, befragte man einen pensionierten Beamten nach der früheren Praxis, wobei dieser dezidiert festhielt, dass man „einen Brief beizulegen pflegte, echt oder gefälscht [unterstrichen im Original]“ (Stangl 2012, Anhang 1, Dok. Nr. 7). Bestätigungen der Echtheit von Unterschriften und gelegentlich die verlangte Vorlage von Umschlägen sollten solche Praktiken unterbinden, was allerdings offensichtlich kaum gelang.

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Der Anteil an Fälschungen im vorhandenen Bestand ist allerdings nicht eruierbar, zumal es aufgrund der Standardisierung der Briefe auch aus heutiger Perspektive schwer ist, Fälschungen zu identifizieren, da nicht einmal zwei wortgleiche Briefe notwendigerweise gefälscht sein müssen. Auch dieselbe Handschrift in Briefen zweier unterschiedlicher Emigrant*innen (was immer wieder auftritt) mag zwar ein brauchbares Indiz sein, durch die Verwendung von Schreibern ist allerdings auch immer denkbar, dass beide Personen denselben Schreiber beauftragt hatten. Insofern kann eine vermeintliche Fälschung auch einfach nur das Endprodukt der zunehmend normierten Praxis sein. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Einzigartigkeit der hier betrachteten Briefe in der für (zumal transkontinentale) Emigrantenbriefe sehr frühen Chronologie liegt sowie in der großen Ausdehnung des Korpus über 300 Jahre mit sich sehr verändernden Kommunikationsbedingungen, in der schieren Anzahl der aus unterschiedlichsten Korrespondenzen erhaltenen und edierten Briefe, in der für die Epoche vergleichsweise großen sozialen Breite der daran Beteiligten und ganz besonders in dem spezifischen Zusammenspiel zwischen privatem Brief und öffentlichem Gebrauch für die Emigrationslizenzen, dessen Verständnis für die Analyse der Inhalte der Briefe unerlässlich ist.

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Susanne Lachenicht

4.10 Briefnetzwerke der Hugenotten Hugenotten werden heute zu den frühneuzeitlichen Diasporen gerechnet (als Diasporen werden auch für die Frühe Neuzeit Gemeinschaften verstanden, die aufgrund ihrer gemeinsamen Herkunft, des Verlusts der Heimat, aufgrund ihrer gemeinsamen Sprache, oft auch ihres Kultus, als distinkte Gruppe definiert werden bzw. sich selbst als solche verstehen; vgl. u.  a. Freist und Lachenicht 2016), d.  h. zu den religiös/ethnischen Minderheiten, die aufgrund von freiwilliger oder erzwungener Migration sich in unterschiedlichen Teilen Europas bzw. in Übersee ansiedelten und nicht zuletzt über Briefnetzwerke Räume, Menschen, Produkte, Märkte, Wissen und Ideen miteinander verbanden (vgl. Lachenicht 2011, 2016a). Forschungen zu religiösen Minderheiten, Glaubensflüchtlingen und Migranten im frühneuzeitlichen Europa zeigen, dass historischer Wandel in Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Politik sehr viel mehr, als dies die traditionelle Nationalhistoriographie angenommen hat, durch die Mobilität, Ansiedlung und Netzwerkbildung von Migranten und damit auch von Glaubensflüchtlingen geprägt wurde (vgl. Freist und Lachenicht 2016). Auch wenn von den von Minderheiten selbst geschaffenen Mythen ihres Wertes für Aufnahmegesellschaften abstrahiert werden muss (vgl. Lachenicht 2009a, 2010), so stellen Minderheiten keineswegs eine Geschichte des Marginalen dar, sondern sie erweisen sich – wie Arnold Toynbee dies formulierte – als service agents, d.  h. Akteure, die zwischen den verschiedenen Aufnahmeländern oder Gesellschaften, in denen sie leben, vermitteln (vgl. Toynbee 1957, 217). Als Hugenotten werden seit den 1560er Jahren französische Protestanten bezeichnet, die im katholischen Frankreich für ihren durch Jean Calvin (1509– 1564) geprägten Glauben verfolgt wurden. Die Herkunft des Begriffs Hugenotten ist umstritten. Eventuell leitet er sich von den Schweizer ‚Eidgenossenʻ oder den ‚Huis Genootenʻ, d.  h. flämischen Protestanten, ab. In Frankreich entstanden protestantische Kirchen ab den 1550er Jahren. Um 1560 lebten ca. zwei Millionen Hugenotten in Frankreich, ca. zehn Prozent der Gesamtbevölkerung (vgl. Prestwich 1985, 73). Aus Sicht der französischen Krone und der katholischen Kirche in Frankreich stellten Hugenotten, ihre Gemeinden, Schulen, Akademien und Synodalstrukturen, eine Gefahr für Staat und Kirche dar, als ‚Ketzerʻ und ‚Häretikerʻ, aber auch als Staatsfeinde. Wachsende Probleme, Missverständnisse und Konflikte zwischen Calvinisten und Katholiken in Frankreich, dynastische Konkurrenzkämpfe zwischen den französischen Adelshäusern der Valois, der Guise, der Bourbonen und der Montmorencys sowie internationale Interessen, u.  a. die Spaniens, führten zum Ausbruch der sogenannten Religions- oder Hugenottenhttps://doi.org/10.1515/9783110376531-057

4.10 Briefnetzwerke der Hugenotten 

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kriege in Frankreich. Diese dauerten von 1562 bis 1598. Im Edikt von Nantes von 1598 wurden diese Kriege beendet. Das Edikt – ein Pazifizierungsedikt – sollte ein friedliches Nebeneinander von Hugenotten und Katholiken in Frankreich garantieren. Hugenotten durften zwar nicht überall ihren Glauben ausüben, hatten aber in etlichen Bereichen ähnliche Untertanenrechte wie katholische Franzosen. Ab den 1550er Jahren setzten die ersten Auswanderungswellen von Hugenotten ein. Migration und Exil der Hugenotten ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis ca. 1660 werden in der Forschung als Premier Refuge bezeichnet. Zufluchtsländer – oft nur temporär – waren vor allem die calvinistischen Kantone der Schweiz, u.  a. Genf, die nördlichen (späteren Vereinigten Provinzen der) Niederlande und England. Zwischen 1520 und 1660 verließen allerdings wahrscheinlich nicht mehr als 20.000 französische Protestanten Frankreich. Zwischen 1621 und 1629 kam es unter Kardinal Richelieu erneut zu einem Krieg gegen die Hugenotten in Frankreich. Die im Edikt von Nantes 1598 garantierten Privilegien zur Ausübung der Religion bzw. die Untertanenrechte der Hugenotten wurden allerdings gewahrt. Eine kontinuierliche Aushöhlung der Privilegien des Edikts von Nantes bahnte sich ab den 1660er Jahren unter Ludwig XIV. an. 1681 setzten die sogenannten Dragonnaden ein, das heißt mittels Einquartierungen von Soldaten sollten Hugenotten zur Konversion zum Katholizismus gezwungen werden. Das 1685 erlassene Edikt von Fontainebleau verbot nicht nur den Protestantismus und seine Institutionen in Frankreich, sondern auch die Auswanderung französischer Protestanten. Emigration war damit nach 1685 illegal und wurde mit Galeerenstrafen oder Einkerkerung von Flüchtigen geahndet. Mit den Dragonaden der 1680er Jahre und dem Widerruf des Edikts von Nantes 1685 ließen sich zwischen 1681 und 1715 ungefähr 150.000 bis 200.000 weitere französische Protestanten in der Schweiz, in England und den Vereinigten Provinzen der Niederlande nieder, ebenso auch in Brandenburg-Preußen, Dänemark und Nordosteuropa, Irland, den englischen Kolonien in Nordamerika und der Karibik, den niederländischen Kolonien in Surinam, der Karibik, Afrika und Indonesien, davon einige Hundert in Südafrika (Kapkolonie). Die Friedensschlüsse von Rijswijk 1697 und Utrecht 1713 enttäuschten Hoffnungen der Hugenotten, dass die protestantischen europäischen Mächte Ludwig XIV. zwingen würden, das Edikt von Nantes wiedereinzusetzen (vgl. Lachenicht 2010, 46). Der französische Protestantismus konnte nach 1713/14 nur im Exil oder in Form von Geheimkirchen in Frankreich überleben – den sogenannten Kirchen der Wüste (églises du désert). Nach 1685 entstand somit das Grand oder Zweite Refuge. Hugenotten etablierten nun eine „France protestante à l’étranger“ (François 1990, 235) – nicht nur in Brandenburg-Preußen, sondern als transnationale, fast globale Diaspora. Weitere Verfolgungen von Hugenotten in Frankreich und meist kleinere Auswanderungswellen gab es bis in die 1750er Jahre. Erst 1787 wurden allmählich Protes-

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tanten wieder in ihre Untertanenrechte in Frankreich eingesetzt, eine Koexistenz von Katholiken, Protestanten und Juden ermöglicht, auch wenn der Katholizismus Staatsreligion blieb. Mit der Französischen Revolution wurden zwischen 1789 und 1790 Protestanten und Katholiken einander gleichgestellt, Glaubensund Religionsfreiheit gewährt.

1 Entstehung, Ausbreitung und Funktionen ­hugenottischer Briefnetzwerke Hugenottische Briefnetzwerke avant la lettre entstanden spätestens ab den 1540er Jahren mit Beginn der Ausbreitung und institutionellen Verankerung des Calvinismus in Frankreich. Von Genf aus etablierte Jean Calvin regelmäßige Kommunikation – über Korrespondenzen und über das Entsenden von Missionaren – v.  a. mit Theologen in Frankreich, die mit Calvins Lehre sympathisierten bzw. diese auf Gemeindeebene umzusetzen suchten. Ebenso bestanden weit verzweigte Korrespondenznetzwerke und Kommunikationsstrukturen mit anderen, der Reformation anhängenden Theologen, mit humanistischen Gelehrten, Fürsten und Diplomaten an den europäischen Höfen. Während des Premier Refuge mischten sich Hugenotten in Flüchtlingsgemeinden oft mit anderen Glaubensflüchtlingen, so beispielsweise mit französischsprachigen Protestanten aus den südlichen Niederlanden, den Wallonen. Zwischen den 1550er und den 1680ern entstanden v.  a. in England, den nördlichen Niederlanden und den reformierten Schweizer Kantonen Hugenotten- und wallonische Kirchen, die protestantischen Flüchtlingen gleichermaßen als Zufluchts- und Andachtsorte dienten. Hugenottische und wallonische Kirchen korrespondierten über ihre Konsistorien über Ländergrenzen miteinander – zwischen Frankreich, England, den nördlichen Niederlanden, den reformierten Schweizer Kantonen und den protestantischen Zufluchtsorten im Heiligen Römischen Reich wie beispielsweise in der Kurpfalz – nicht zuletzt, um den Zu- und Abzug von Hugenotten und Wallonen in den Flüchtlingsgemeinden kontrollieren zu können (vgl. Lachenicht 2010, 47–55). Von den Hugenottenkirchen in London (Threadneedlestreet Church), New York (Église du Saint Esprit), der Berliner Friedrichstadtkirche und etlichen Hugenottenkirchen in Brandenburg sind uns v.  a. aus der Zeit des Grand Refuge Korrespondenzen der Pastoren und Konsistorien überliefert, die Einblicke in die umfangreichen Briefnetzwerke der hugenottischen Kirchen geben, mit anderen französisch-calvinistischen Kirchen des Refuge, aber auch mit lutherischen, lutherisch-pietistischen, Herrnhuter, niederländisch-calvinistischen oder angli-

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kanischen Kirchen. Ebenso korrespondierten hugenottische Konsistorien mit den Fürstenhöfen Europas und deren Diplomaten. Die internen Briefnetzwerke der Hugenottenkirchen sollten dem Aufbau einer möglichst homogenen religiös-ethnischen Diaspora dienen, der Etablierung von religiöser Orthodoxie und der Kontrolle von Mobilität und Sozialverhalten von Hugenotten im Sinne der Kirchendisziplin des französisch-reformierten Protestantismus. Konsistorien stellten auf Anfrage anderer Hugenottenkirchen Zertifikate für (ehemalige) Mitglieder ihrer Gemeinden aus. Diese sollten zudem endogames Heiratsverhalten oder die Suche nach Arbeit und einem Auskommen der Mitglieder des Refuge befördern. Externe Briefnetzwerke der Konsistorien wurden für theologischen Austausch, die Rekrutierung von Pastoren, für internationale Kollekten für hugenottische und andere protestantische Glaubensflüchtlinge bzw. für den Aufbau eines protestantischen Netzwerkes gegen die „Hydra des Katholizismus“ in Europa unterhalten (vgl. Yardeni 2002). Zwischen dem 16. und dem späten 18. Jahrhundert entstanden ebenso Netzwerke (und damit verbunden Briefnetzwerke) zwischen der militärischen und diplomatischen Führungselite der Hugenotten in Frankreich und im Refuge auf der einen Seite und protestantischen Fürst*innen bzw. deren Militärführern und Diplomaten auf der anderen; so beispielsweise mit der Kurpfalz, Elisabeth I. von England, Philipp von Hessen bzw. mit den frühen Stuarts in England. Diese militärischen und diplomatischen Netzwerke verbanden die „Verteidiger des protestantischen Glaubens“  – die „Protestantische Internationale“ (vgl. Gwynn 2001; Bosher 1995) – in Europa miteinander, zumindest sollten sie diesen Zweck erfüllen. Bis zum offiziellen Ende des Protestantismus in Frankreich, d.  h. bis 1685, gab es einen Repräsentanten der Hugenotten am Hof des Königs, der auch offiziell diplomatische Beziehungen zu anderen Höfen bzw. deren Diplomaten unterhielt. Die Familie Ruvigny stellte im 17.  Jahrhundert immer wieder den Generalagenten der französischen Calvinisten am Hof in Versailles. Zu den wichtigsten diplomatischen und militärischen Führern des Grand Refuge gehörte u.  a. Henri Massue (1648–1720), Marquis de Ruvigny, der spätere Lord Galway, Generalagent der Hugenotten am Hofe Ludwigs XIV., später dann von König Wilhelm III. von England zum Generalleutnant von dessen Armee in Irland befördert. Dazu kamen Gaspard de Perrinet Marquis d’Arzeliers (1645–1710), dessen Vater ebenfalls Generalagent der Hugenotten am französischen Hof gewesen war, Henri de Mirmand (1659–1721), der nach 1685 für die Aufnahme von Hugenotten in Nordeuropa warb und der zusammen mit Ruvigny und d’Arzeliers die Massenansiedlung von Hugenotten im katholischen Irland zu betreiben suchte (vgl. Lachenicht 2009b). Auf höchster diplomatischer Ebene agierte auch Armand de Bourbon, Marquis de Miremont (1655–1732), mit seinem diplomatischen Briefnetzwerk. Er avancierte in den Friedensunterhandlungen von Utrecht zum Sondergesandten von Königin Anna von England

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und sollte die Vertreter der vereinten europäischen Mächte davon überzeugen, Ludwig XIV. von Frankreich zur Wiedereinsetzung des Edikts von Nantes, d.  h. zur Duldung des Protestantismus in Frankreich zu bewegen. Miremont scheiterte bekanntermaßen mit seinem Ansinnen. Auf seiten Brandenburgs war Ezechiel von Spanheim (vgl. Externbrink 2008), seit 1680 Geheimer Rat am Hof des Kurfürsten von Brandenburg, ein wichtiger Akteur in den diplomatischen (Brief-) Netzwerken der Hugenotten. 1689 wurde er zum Oberaufseher der Hugenotten­ kolonien in Brandenburg ernannt. Neben den kirchlich-institutionellen und den diplomatisch-militärischen Netzwerken sind vor allem für das Grand Refuge Familienkorrespondenzen überliefert, die den sozialen Zusammenhalt oft weit verstreuter Familienmitglieder ebenso förderten wie die sogenannte Binnenintegration der Hugenottengemeinden, nicht zuletzt auch über Klatsch und Tratsch zu Nachbarn, den Austausch von Informationen zu Geburten, Krankheiten und Todesfällen oder über das Arrangieren von Heiraten, das Lösen finanzieller Probleme (v.  a. der Schulden jüngerer Männer in den Familien) oder auch die Suche nach Anstellungsmöglichkeiten bzw. das Arrangieren von materieller Versorgung der nächsten Generation, als Pastoren, Professoren, Offiziere, Hauslehrer, Gouvernanten oder Gärtner – je nach sozialer Schicht. Briefnetzwerke der Familien dienten auch emotionalen Bedürfnissen: Trost und Anteilnahme bei Krankheit oder Tod, bei psychischen Problemen, die nicht zuletzt in den ersten Jahrzehnten des Grand Refuge durch Verfolgung, Vertreibung, Flucht, Migration und Integrationsprobleme häufig auftraten und sich in Form von Depressionen in vielen dieser Briefwechsel manifestierten. Für die Gelehrtenrepublik und die Entwicklung der ‚Neuen Wissenschaftenʻ waren die Briefnetzwerke der Hugenotten von besonderer Bedeutung. Sie wirkten mittels Korrespondenzen, aber auch ab dem späteren 17. Jahrhundert als Herausgeber, Autoren und Rezensenten von bzw. in gelehrten Journalen wie den Nouvelles de la République des Lettres (Pierre Bayle), der Bibliothèque britannique, Bibliothèque germanique oder der Bibliothèque impartiale als Multiplikatoren für barocke Gelehrsamkeit und Aufklärung – in den Bereichen Theologie, Philosophie, Recht, Naturwissenschaften, Mathematik und schöne Literatur. Ähnlich wie die bereits beschriebenen Briefnetzwerke verbanden diese gelehrten Korrespondenzen Orte und Räume, die von den Niederlanden, London, der Schweiz, den protestantischen Territorien des Heiligen Römischen Reiches bis nach St. Petersburg, Schweden, Dänemark, Irland und über den Atlantik nach New York, Pennsylvania, in die Karibik, nach Surinam, nach Südafrika und Indonesien reichten und nicht zuletzt auch intensive Verbindungen ins katholische Frankreich hatten (vgl. Bost 1994; Berkvens-Stevelinck 1999). Hugenotten nutzten diese gelehrten Korrespondenzen zusätzlich, um über die Leiden und die Verfolgung von Huge-

4.10 Briefnetzwerke der Hugenotten 

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notten in Frankreich und den französischen Kolonien in Übersee zu informieren bzw. Sympathie, Kollekten und Aufnahmeprivilegien für ihre Glaubensbrüder einzufordern. Interne (d.  h. mit anderen Hugenotten) und externe (mit nicht französischreformierten Handelspartnern) Handelsnetzwerke von Hugenotten existierten bereits vor Beginn des Premier bzw. Grand Refuge. Diese intensivierten sich mit der Ausweitung des atlantischen bzw. weltweiten Handels im späteren 17. und dann vor allem im 18. Jahrhundert. Handelsbeziehungen existierten zur Zeit des Refuge mit Frankreich (hier nicht zuletzt mit offiziell zum Katholizismus konvertierten Mitgliedern der eigenen Familie) bzw. Hugenotten agierten bis zum Verbot des Protestantismus in Frankreich u.  a. von Bordeaux, La Rochelle, Nantes und La Tremblade aus und etablierten Handelsbasen spätestens im Laufe des 17. Jahrhunderts in London, Amsterdam, Hamburg, in der Karibik (französische, niederländische und englische Antillen), in New York, Boston, Surinam und Charleston. Vor allem durch die Niederlassung von Hugenotten in den Vereinigten Provinzen der Niederlande und die Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC), aber auch über die britische East India Company reichten hugenottische Handels- und Finanznetzwerke nicht nur in den atlantischen Raum (und hier v.  a. für den Sklavenhandel auch an die afrikanische Westküste), sondern über Südafrika in den Indischen Ozean, ins heutige Indonesien, Malaysia und im 18. Jahrhundert dann zunehmend auch nach Indien (vgl. Glozier 2010). Hugenotten handelten mit Sklaven, Wein, Seide, in europäischen Manufakturen hergestellten Textilien, Haushaltsgegenständen und Waffen, mit Getreide, Holz, Fisch und Salz. Zu ihren Handelspartnern, mit denen sie über Briefnetzwerke in Kontakt standen, zählten neben Europäern unterschiedlichster nationaler, ethnischer und religiöser Herkunft auch afrikanische Fürsten, indigene Amerikaner und freigelassene Sklaven (vgl. Lachenicht 2016b).

2 Hugenottische Briefnetzwerke im 18. Jahrhundert Aus dem späten 17. und dem 18. Jahrhundert sind eine Reihe von Briefnetzwerken überliefert, die man den sogenannten Gelehrtenkorrespondenzen zurechnet, so die von Pierre Bayle (1647–1706), die des Berliner Pastors Jean Henri Samuel Formey (1711–1797) oder von Laurent Angliviel de La Beaumelle (1726–1773) – um nur einige wenige zu nennen. Pierre Bayle gehört als französischer Schriftsteller und Philosoph zu den wichtigsten Frühaufklärern. Einer protestantischen Familie entstammend kon-

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vertierte er 1669 zum Katholizismus, kehrte jedoch 18 Monate später zum Calvinismus zurück. Als Relaps (also aus katholischer Sicht zum falschen Glauben Zurückkehrender) flüchtete er nach Genf, ging 1674 aber heimlich wieder nach Frankreich und arbeitete ab 1675 als Professor an der protestantischen Akademie in Sedan (d.  h. in Lothringen, das noch nicht zu Frankreich gehörte). 1681 verließ er Sedan und ging ins calvinistische Rotterdam. Dort publizierte er nicht nur mit dem Dictionnaire historique et critique (2 Bde. 1695/96, 4 Bde. 1702) den Vorläufer der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert, sondern auch mit den Nouvelles de la république des lettres zwei der wichtigsten Organe der Frühaufklärung. Mit seinem Skeptizismus gegenüber der christlichen Religion und seinen Überlegungen zu Toleranz wurde Bayle von vielen seiner Zeitgenossen kritisch gesehen. Er stand zeit seines Lebens mit herausragenden Theologen, Philosophen und Literaten in Kontakt, u.  a. mit Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), John Locke (1632– 1704), John Toland (1670–1722) sowie mit dem Naturwissenschaftler und Mathematiker Christiaan Huygens (1629–1695). Die Voltaire Foundation in Oxford gibt seit 1999 seine Correspondance heraus, von der 2017 der 15. Band erschien (vgl. Bayle 1999–2017). Eine Online-Version seiner Briefe ist auch verfügbar (vgl. Bayle o.  J.). Bayles Korrespondenz umfasst jedoch nicht nur Gelehrtenbriefe, sondern auch Briefwechsel mit anderen Repräsentanten des Refuge, beispielsweise mit Pierre Jurieu (1637–1713), Henri Basnage de Beauval (1657–1710), Pierre Des Maizeaux (1666 oder 1673–1745, vgl. dessen Korrespondenz in der British Library, Add. MSS 4281–4289), Jacques Lenfant (1661–1728), Pierre Coste (1668–1747) oder Jacques Abbadie (1654–1727). Dazu kommen seine Briefe an seine Familie. Bayles Briefnetzwerk vermittelt damit Einblicke in die Gelehrtenrepublik, in das Refuge, den Protestantismus in Frankreich, vor, während und nach der Revokation des Edikts von Nantes, aber auch in das soziale und kulturelle Leben des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts allgemein. Jean Henri Samuel Formey war nicht nur Pastor der Berliner Hugenottengemeinden, sondern arbeitete mit Isaac de Beausobre (1659–1738) und Paul Émile de Mauclerc (1698–1742) an der Bibliothèque germanique mit, der ‚Stimme‘ der gebildeten Réfugiés in Berlin, Brandenburg, Preußen, Sankt Petersburg und Teilen Skandinaviens. Ab 1748 ständiger Sekretär der Akademie der Wissenschaften und der Schönen Künste in Berlin stand Formey in Kontakt mit zahlreichen Vertretern der europäischen Aufklärung, u.  a. mit Voltaire und Christian Wolff, mit Journalisten und Buchhändlern wie Elie Luzac und Prosper Marchand. Neben Predigten verfasste Formey u.  a. philosophische und religiöse Traktate sowie Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge. Formey gehört zu den für Nordeuropa wichtigsten Multiplikatoren der Aufklärung. Zwischen 1727 und 1790 verfasste er mindestens 17.000 bis 18.000 Briefe, von denen ca. 1.200 bekannt sind. Ungleich zahlreicher überliefert sind die Briefe aus der passiven Korrespondenz Formeys,

4.10 Briefnetzwerke der Hugenotten 

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die u.  a. in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, der Jagiellońska in Krakau und etlichen anderen Bibliotheken der Welt aufbewahrt wird, ca. 15.000 Briefe, an Formey adressiert, von ca. 2.420 Korrespondenten, Briefe, die in sechs verschiedenen Sprachen verfasst wurden. Sie stammen von Familienmitgliedern, hugenottischen Pastoren des Refuge in Europa und in Übersee, von Angehörigen der Gelehrtenrepublik wie etwa Johann Albrecht Euler oder Albrecht von Haller. In diesen Briefen ist der Pastor Formey, der Journalist, der Sekretär der Akademie der Wissenschaften, der Lehrer, Übersetzer, Familienvater, Liebhaber und Lebemann präsent, ein Formey, der den Tratsch und Klatsch der Hugenottenkolonie ebenso weitergab wie seine intimsten Gefühle anlässlich des Todes seiner ersten Ehefrau Suzanne Bonafous (vgl. Fontius et al. 1996; Bots und Schillings 2001; Häseler 2003). Laurent Angliviel de La Beaumelle (1726–1773) war  – ähnlich wie Pierre Bayle – ein von hugenottischen Eltern abstammender katholischer Konvertit, der 1744 heimlich zum französischen Protestantismus zurückkehrte und sich in Genf als Theologe ausbilden ließ. 1747 ging er als Hauslehrer des Sohns des Grafen Gram nach Kopenhagen, von wo er sich in das Netzwerk der europäischen Gelehrtenrepublik zu integrieren begann. Sein Lebensweg führte ihn nach Berlin, Paris, Amsterdam, Nîmes, Montpellier und nach Toulouse, er war zweimal wegen ‚séditionʻ in der Bastille inhaftiert und engagierte sich leidenschaftlich für religiöse Toleranz. La Beaumelle edierte u.  a. die Briefe der Madame de Maintenon und war gegen Ende seines Lebens Bibliothekar am Hof in Versailles. La Beaumelles Briefnetzwerk reicht von 1729 bis 1773 und dokumentiert seine Zeit in einem katholischen Kolleg in Frankreich, die Konversion, seine Ausbildung bei einem Kaufmann in Lyon, die Karriere als königlicher Professor für Französische Sprache und Literatur in Kopenhagen, seine Stationen am preußischen Hof in Sanssouci, in Gotha und in Paris wie auch seine Kontakte und Auseinandersetzungen mit den großen Philosophen seiner Zeit, u.  a. mit Voltaire. Die Korrespondenz verschafft Einblicke in die Gelehrtenrepublik bzw. die Zeit der Aufklärung, das Milieu des Geheimprotestantismus in Frankreich, soziale, kulturelle und ökonomische Welten des 18. Jahrhunderts und ist damit weit mehr als eine autobiographische Quelle oder ein Dokument für das Refuge im 18. Jahrhundert. Seit 2005 werden seine Briefe unter der Ägide von Hubert Bost, Claude Lauriol und Hubert Angliviel de La Beaumelle von der Voltaire Foundation in Oxford in 18 Bänden ediert. Zu den Gelehrtenkorrespondenzen kommen die Pastorenkorrespondenzen, die sich – wie im Fall Formeys – mit ersteren überschneiden. Eines der wichtigsten Briefnetzwerke für den Erhalt des (klandestinen) Protestantismus in Frankreich stammt von Antoine Court (1695/6–1760), dem „Wiedererrichter des Protestantismus“ (vgl. Hugues 1872) in Frankreich, dessen Nachlass heute in der Bibliothèque publique et universitaire in Genf liegt. Der 1729 als in Frankreich verfolgter Krypto-

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protestant in die reformierte Schweiz geflohene Court baute von Lausanne ein Brief- und Missionsnetzwerk auf, das nicht nur die verbotenen Kirchen der Wüste, d.  h. den eigentlich in Frankreich verbotenen Protestantismus, zu organisieren suchte, sondern auch für das Refuge des 18. Jahrhunderts entscheidende Impulse gab, nicht zuletzt, um den in den 1750er Jahren in Frankreich verfolgten Kryptoprotestanten die Gewährung von Asyl zu erleichtern und für sie dauerhafte Bleibe im protestantischen Ausland (u.  a. Irland) zu organisieren (vgl. Duley-Haour 1998; Bost und Lauriol 1998; Lachenicht 2009b). Kaufmannsbriefnetzwerke sind nicht nur für die Geschichte des Refuge, sondern in Bezug auf Diasporen auch für die Wirtschafts- und Konsumgeschichte bzw. Globalisierungsprozesse in der Frühen Neuzeit relevant. Bislang liegen kaum edierte Kaufmannskorrespondenzen der Hugenotten vor. Ihre Analyse in den Archiven in London, Hamburg oder Boston steht noch weitgehend aus. In der Massachusetts Historical Society in Boston lagern beispielsweise die Rechnungsbücher und Korrespondenzen des hugenottischen Kaufmanns Peter Faneuil (1978), die Einblicke in interne und externe soziale und ökonomische Netzwerke erlauben und minutiös Auskunft darüber geben, mit was und wem hugenottische Kaufleute Handel betrieben (vgl. Lachenicht 2016b). Die Korrespondenzen von hugenottischen Kaufleuten in New York, Charleston oder London wie die der de Lancey, Bayeux, Labyoteaux, Godin, De La Conseillère oder Motte harren noch der systematischen Analyse.

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4.10 Briefnetzwerke der Hugenotten 

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Maizeaux, Pierre des (o.J.). Correspondence. London, British Library: Add. MSS 4281–4289. Prestwich, Menna (1985). „Calvinism in France, 1559–1629“, in: International Calvinism (1541–1715). Hg. v. ders. Oxford: 71–107. Toynbee, Arnold J. (1957). A Study of History. London. Yardeni, Myriam (2002). Le Refuge huguenot. Assimilation et culture. Paris.

Gabriele Ball

4.11 Der Gesellschaftsbrief der Renaissanceakademie Fruchtbringende Gesellschaft 1 Voraussetzungen Die Forschung widmet sich seit einigen Jahrzehnten insbesondere der Theorie und Praxis der Gattung ‚Briefʻ nach 1750 (vgl. Mattenklott et al. 1988; Runge und Steinbrügge 1991; Vellusig 2011). Das XVIII. Säkulum wurde zum „Jahrhundert des Briefes“ (Georg Steinhausen) erklärt, und die Literatur zum Thema ist entsprechend Legion. Vor der Mitte des 18. Jahrhunderts verfasste Schreiben werden dagegen als von Briefstellern geprägt, formalisiert und das Ich kaum offenbarend eingeordnet (vgl. Furger 2010). Ausgangspunkt dieser Fokussierung war zweifellos Christian Fürchtegott Gellert mit dem Werk Briefe nebst einer praktischen Abhandlung (1751), in dem er einem natürlichen Briefstil das Wort redet. Jon Helgason gelang es vor einigen Jahren, die Merkmale dieses sogenannten literarischen Privatbriefs auf den Punkt zu bringen, und er kam zu folgendem Ergebnis: Neben (1) der Verwendung der Muttersprache und eines natürlichen Briefstils sei es (2) das Zurückdrängen des genealogisch orientierten Briefzeremoniells, das meist eine persönlichere Schreibweise nach sich ziehe, (3) die Bewusstheit des Autors bzw. der Autorin über den ‚epistolaren Paktʻ, der im Brief thematisiert werden könne  – beispielsweise die Freude über den Briefempfang – und (4) das Faktum, dass es sich beim Brief um ein Genre des ‚Ichsʻ und ‚Jetztʻ handele, wodurch sich Unmittelbarkeit (des Briefgesprächs) einstelle. Genau diese Markierungen kann der Gesellschaftsbrief der Sprachakademie Fruchtbringende Gesellschaft für sich beanspruchen. Die Mitglieder tauschten sich zu übersetzungstheoretischen und grammatischen Fragen und zu friedenspolitischen Bestrebungen aus und taten dies in dem von Gellert geforderten „natürlichen Briefstil“ (vgl. Ball 2017, 96–97). Vorausgeschickt werden sollte, dass die Bezeichnung ‚Gesellschaftsbrief‘ im Akademieprojekt Fruchtbringende Gesellschaft entwickelt und der Gesellschaftsbrief dort als eine die Sozietät konstituierende Kommunikationsform eingeordnet wurde. Inhaltlich ist er geprägt von den vielfältigen sozietären, sowohl sprachlichen als auch ethischen Aufgaben mit Blick auf die programmatischen Ziele der Sprache und Zivilität. Die quellenorientierte Präsentation ist angesichts des Novums deshalb unverzichtbar. https://doi.org/10.1515/9783110376531-058

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2 Die Renaissanceakademie Fruchtbringende Gesellschaft Vor 400  Jahren wurde die größte Sozietät des 17.  Jahrhunderts, die Fruchtbringende Gesellschaft, ins Leben gerufen. Sie widmete sich zwei kulturpolitischen Zielen. Es galt erstens, die deutsche Sprache zu fördern und sie im Wettstreit der europäischen Volkssprachen konkurrenzfähig zu machen, und zweitens war es der Sozietät ein Anliegen, in politisch-gesellschaftlich schwierigen Zeiten, Zivilität und Tugendliebe zu fördern. Diese Programmpunkte wurden erstmals im Gesellschaftsbuch von 1621/22 schriftlich niedergelegt, und sie repräsentieren die Gemeinsamkeit, welche die Mitglieder verband, deren Anzahl bis 1680 auf 890 hauptsächlich adelige Männer anwuchs. Das konzise Gesellschaftsprogramm lautete wie folgt: Erstlich/daß sich ein jedweder in dieser Gesellschafft/erbar/nütz- und ergetzlich bezeigen/ und also überall handeln solle/bey Zusammenkunfften gütig/frölich/lustig und verträglich in worten und wercken seyn/auch wie darbey keiner dem andern ein ergetzlich wort für übel auffzunehmen/also soll man sich aller groben verdrießlichen reden und schertzes enthalten (Fruchtbringende Gesellschaft 1992, [10]).

Dem ethischen Ziel ist die zweite Anforderung und Aufgabe an die Seite gestellt, nämlich die Muttersprache in Rede und Schrift zu erhalten und zu verbessern: Fürs ander/daß man die Hochdeutsche Sprache in jhrem rechten wesen und standt/ohne einmischung frembder ausländischer wort/auffs möglichste und thunlchste erhalte/und sich so wol der besten aussprache im reden/als der reinesten und deutlichsten art im schreiben und Reimen-dichten befleissige (Fruchtbringende Gesellschaft 1992 [10]).

Oberhaupt und spiritus rector der Gesellschaft war Fürst Ludwig von AnhaltKöthen (1579–1651), welcher der Sozietät mehr als dreißig Jahre vorstand und sie zu langfristigem Ruhm führte. Die sogenannte Köthener Phase gilt in literarischer und kulturpolitischer Hinsicht als einflussreichste. Nach Fürst Ludwigs Tod im Januar 1651 übernahm dessen Neffe, Herzog Wilhelm IV., in Weimar die Leitung, und 1667, nach einer Interimszeit, wurde das Zepter an Herzog August von Sachsen-Weißenfels weitergereicht. Allein in der Zeit Fürst Ludwigs wurden über 500  Mitglieder aufgenommen, und die wenigsten stammten aus dem Bürgertum, so z.  B. Martin Opitz, August Buchner, Georg Philipp Harsdörffer und Justus Georg Schottelius. Diese konnten dennoch, aufgrund der utopisch-‚demokratischen‘ Idee der Fruchtbringenden Gesellschaft, einigen Einfluss, besonders auf sprachlichem Gebiet, ausüben.

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Die standesübergreifenden und christlichen Werten verpflichtete Fruchtbringende Gesellschaft entwickelte auf programmatisch-theoretischer Ebene eine auf die Renaissance und die italienische Akademiebewegung zurückgehende Impresistik. Jedes Mitglied erhielt bei Eintritt in die Gesellschaft eine Imprese, die sich aus Gesellschaftsnamen, -pflanze und -wort zusammensetzte. Eine Auslegung, Interpretation, das sogenannte Reimgesetz, findet sich unterhalb derselben. Darin wurde die medizinisch-pharmazeutische Wirkung der Pflanze auf poetische Weise mit dem Gesellschaftsnamen und der Nützlichkeit des Mitglieds verknüpft. Die erwähnten Gesellschaftsbücher, die in verschiedenen Ausgaben gedruckt wurden, präsentieren die Impresen in der Chronologie des Eintritts in die Gesellschaft. Für die Umsetzung dieses umfassenden Programms bedurfte es der intensiven und extensiven Kommunikation. Die aus dem gesamten Heiligen Römischen Reich deutscher Nation kommenden lutherischen, reformierten und selbst katholischen Mitglieder waren auf das Verständigungsmittel ‚Briefʻ angewiesen, denn regelmäßige Versammlungen konnten infolge des Dreißigjährigen Krieges kaum stattfinden, nur wenige sind belegt. Es entstand ein Netzwerk, in dem Fürst Ludwig als primus inter pares geschickt und weitblickend agierte, und so konnte sich die Sozietät – gleichsam auf der Basis des Kommunikationsmittels ‚Briefʻ – als Institution gleichberechtigter Mitglieder konstituieren. Die aus der Antike vertraute Definition des Briefes als amicorum conloquia absentium lässt sich somit auf die erste deutsche Sprachakademie übertragen, der Brief war sogar häufig das einzig realisierbare Gespräch unter Freunden und Gleichgesinnten.

3 Der Gesellschaftsbrief Der Tasso-Übersetzer Diederich von dem Werder (Der Vielgekörnte) schrieb am 20. Juni 1640 an den Nährenden, Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen: Der Nehrende hatt den Vielgekörnten mit wiedererhebung der, eine Zeitlang vnterlassenen, wechselschriften, in sachen der Fruchtbringenden geselschaft, höchlich erfrewet. Erbeut sich derowegen, die mühe der übersehung der überschickten geselschafters reimen itzo vndt ins künftige gerne auf sich zunehmen. Fürs andere, so soll der rest meines verlags ehestes von mir selber in Cöthen überbracht, vndt der empfang der exemplaren von mihr geschehen. 3tens Mit dem Niederländischen buche habe ich einen anfang gemacht, habe aber bishehr nicht drinnen fortfahren können, weis auch noch nichts gewisses darvon zuzusagen ob ich mir getrawe darmit fort zukommen oder nicht, jn kurtzem soll hierüber endtliche erklärung fallen.

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Viertens, so ist mir die gelegenheit an den fruchtbaren so wenig, als seine persohn, vndt der ort, wo er sich aufhelt bekant, wolte sonsten dem Nehrenden gerne hierunter dienen. Schlieslichen so habe ich, mit dem wunsche eines guten Wetters auch zugleich die wirckung desselben empfunden, Gott bestättige es nach seinem weisen wohlgefallen. Dem Nehrenden hiermit alle gedeyliche wohlfart wünschendt verbleibet sein dienstwilligster geselschafter Der Vielgekörnte Reinsdorf den 20. junij 1640 (Fruchtbringende Gesellschaft 2010, 538)

Die Briefinhalte, die sich auf Sozietäres, auf Impresen und Reimgesetze, auf Fürst Ludwigs hofeigene Offizin in Köthen genau wie auf eine Übersetzung Werders aus dem Holländischen beziehen, bestätigen den Gesprächscharakter, die Kommunikation des Briefeschreibers mit einem Abwesenden, hier mit Fürst Ludwig. Die von der Sozietät angestrebte Verständlichkeit und grammatische Richtigkeit (puritas) sowie die geforderte flüssige Sprache im Deutschen (im Sinne der claritas) bilden sich im Beispielbrief ab. Dies galt für alle literarischen Aufgaben, denen sich die Gesellschaft stellte: sowohl für Übersetzungen aus anderen Sprachen als auch für die Briefkultur. So heißt es in der Vorrede der Übersetzung Fürst Ludwigs aus dem Französischen Der Weise Alte (1643), dass man habe „zeigen wollen, wie man in ungebundener rede lauffig, rein und verstendlich, nach der rechten art unserer hochdeutschen Muttersprache schreiben und ubersetzen könne“ (Fruchtbringende Gesellschaft 2006, 351). Die Verständigung zwischen beiden, Fürst Ludwig und Werder, dem Oberhaupt und einem der Mitglieder des ‚inner circle‘, ist frei von politischen, konfessionellen und ständischen Rücksichten. Beide Briefpartner sind trotz der Unterschiede in Geburt und sozietärem Rang gleichgestellt, unterhalten sich über literarische und sprachliche Belange auf Augenhöhe und sehen von Titularien und Kurialien ab. Der Gesellschaftsname ersetzt die umständlichen aus dem Kanzleistil vertrauten Anreden. Am Anfang und am Ende des Briefs wird zudem völlig auf das im 17.  Jahrhundert übliche Briefzeremoniell verzichtet (vgl. Kucharska 2000). Dies geschieht nicht zufällig, vielmehr fordert Fürst Ludwig diesen Stil ein, wenn er in einem Schreiben an Martin Opitz vom 4. Mai 1638 formuliert: „erinnert der Nehrende das hinfuro die schreiben an ihme [d.  i. Fürst Ludwig] nach der geselschaft-art, ohne sonderliche geprenge, möchten eingerichtet sein“ (Fruchtbringende Gesellschaft 2006, 555). Selbst die Offiziere in der Sozietät, deren Aufnahme im Dreißigjährigen Krieg politisch-diplomatischen Erwägungen geschuldet war, wurden gebeten, sich dieses vorbildhaften Briefstils zu befleißigen. So überbrachte beispielsweise Werder dem schwedischen Generalfeldmarschall und Gesellschaftsmitglied Johan Banér (Der Haltende) am 3.  September 1639 einen nach Sozietätsmanier eingerichteten Brief Fürst Ludwigs, der Banér als Muster dienen sollte: „das ihme dieses gesellschafftbrieflein durch einen ihres mittels

4.11 Der Gesellschaftsbrief der Fruchtbringenden Gesellschaft 

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nemlich den Viellgekörnten zukommet, und sich der Nehrende des herkommens hierunter gebrauchett, dessen sich dan der Haltende ins kunftige, wan es ihme gelegen und gefellig, ebenmeßig gebrauchen mag“ (Fruchtbringende Gesellschaft 2010, 236). Dass der Gesellschaftsbrief in deutscher Sprache verfasst werden soll, ist angesichts des zweiten Gesellschaftsziels Aufgabe und Pflicht zugleich. Allein unerfahrene Neumitglieder, die um Fürst Ludwigs Weltläufigkeit und Kenntnisse der romanischen Sprachen wissen, müssen daran erinnert werden. Der ‚Novize‘ Wilhelm (von) Micrander (Der Entledigende) wandte sich am 4. Juni 1648 in spanischer Sprache betreffs Gesellschaftsangelegenheiten an den Leiter der Sozietät und musste unter Androhung einer nicht näher beschriebenen Gesellschaftsstrafe folgende Erwiderung zur Kenntnis nehmen: Hat der Nehrende heutiges abends einen Spanischen brief in deutscher geselschaftsache, empfangen, so zwar sehr wol aufgenommen, aber doch spanisch vorkommen müßen, weil es bey der fruchtbringenden geselschaft ungewonlich in ihren deutschen sachen Spanisch zu schreiben (Fruchtbringende Gesellschaft 2019, 507).

Die Anstrengung, die der Fürst aufbringt, um das Kommunikationsmedium ‚Briefʻ mit der Programmatik der ‚Gesellschaft unter Gleichen‘ zu verbinden und in das Sozietätsleben einzubringen, zeugen von der Wichtigkeit, die er dem neuen Briefstil beimisst. Untersucht man indes Fürst Ludwigs reichen Bücherbestand und die viele hundert Briefe umfassende Ludwig-Korrespondenz auf konkrete Vorbilder, auf Briefsammlungen oder diesen Stil propagierende Briefsteller, steht am Ende die Erkenntnis, dass solche nicht nachweisbar sind. Zwar lässt sich der Autor JeanPuget de La Serre mit dem Bestseller Secretaire à la mode in der Büchersammlung (hier: 1645) finden, doch gehört dieser zur zeitgenössischen Pflichtlektüre. Ein Briefsteller in deutscher Sprache fehlt in Fürst Ludwigs Bibliothek gänzlich. Dagegen wird im Briefwechsel immerhin eine zeitgenössische Anweisung erwähnt, nämlich die Art vnd Weise kurtze Brieflein zu schreiben (1640). Diese wird Fürst Ludwig vom bürgerlichen Gelehrten Augustus Buchner (Der Genossene) bereits am 30. April 1640 als Beilage zugesandt und ihm zur Lektüre ans Herz gelegt. Sie ist jedoch kaum geeignet, den neuen enthierarchisierten Briefstil zu fördern, da der Autor Christian Brehme feinste Nuancen des Anredezere­ moniells mitteilt. Dennoch offenbaren die der Buchsendung beiliegenden Zeilen des Genossenen an den Nährenden die Verbindung mit den Gesellschaftszielen: Weill mihr nicht unbewust, daß E. Fürstl. Gn. alle derienigen arbeit, wie Sie auch immer beschaffen sein mag, Die Sich umb unsere tapfere muttersprach zuverdienen bemühen, nicht ungern lesen, zum wenigsten den guthen willen davon lobswürdig achten. Mein

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unreiffes urthel belangend, hatt mich die Schrifft noch ziemlich vergnügt. Können wir nicht allezeit leben, allß wie wir schreiben, So zeigen doch gerne guthe gedancken, auff einen gleichbeschaffenen willen (Fruchtbringende Gesellschaft 2010, 497).

Beinahe en passant fasst Buchner beide Fruchtbringer-Ziele, das ethische genau wie das ästhetische, knapp zusammen und plädiert für Brehme als vorbildhaften Autor. In sprachlicher Hinsicht geht es einmal mehr um claritas und puritas, was erneut belegt, dass brieftheoretische Fragestellungen bereits im beginnenden 17. Jahrhundert und gerade im Kreise der Fruchtbringenden Gesellschaft eng mit allgemein sprachlichen bzw. sprachtheoretischen und gesellschaftlichen Fragestellungen verknüpft waren: Brief, Gespräch und Rede galten damals noch als Synonym. Die beiden berühmtesten Briefstellerautoren des 17. Jahrhunderts und herausragende, von der Fruchtbringenden Gesellschaft geprägte Mitglieder, namentlich Georg Philipp Harsdörffer und Kaspar Stieler, bestätigen diesen Zusammenhang in der zweiten Hälfte des 17.  Jahrhunderts mit den für Berufsschreiber bestimmten Briefstellern Der Teutsche Secretarius (1655) bzw. Teutsche Sekretariat-Kunst (1673), welche einen solchen, der Gesellschaft nützlichen Briefstil fordern. Bereits 1655 heißt es in der „Zuschrifft“: „WJr sind nicht nur uns/ sondern unsrem hochgeehrten Vatterland zu dienen/ in diese Welt geboren/ und verpflichtet/ alles unser Vorhaben und Thun desselben gemeinen Nutzen danckbarlich zu widmen und zuzueignen“ (Harsdörffer 1655, Bl. A iij r). Die Umsetzung des im weitesten Sinne kulturpolitischen Programms im Kommunikationsraum der Fruchtbringenden Gesellschaft gelang Fürst Ludwig bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Er führte den muttersprachlichen und natürlichen Briefstil in das Gesellschaftsleben ein, indem er den gleichberechtigten, auf Verständigung ausgerichteten Brief-Dialog eng an die Programmatik der Tugend- und Sprachakademie band.

Zitierte Literatur Ball, Gabriele (2012). „Fürstinnen in Korrespondenz: Die Gräfin Anna Sophia von Schwarzburg-Rudolstadt und die Tugendliche Gesellschaft“, in: WerkstattGeschichte, 60: 7–22. Ball, Gabriele (2017). „Briefliteratur in der Frühen Neuzeit. Der Gesellschaftsbrief der Fruchtbringenden Gesellschaft“, in: Germanistik zwischen Tradition und Innovation. Akten des XIII. Internationalen Germanistenkongresses Shanghai 2015. Bd. 8. Hg. v. Jianhua Zhu, Jin Zhao u. Michael Szurawitzki. Frankfurt a. M. u.  a.: 105–111. Fruchtbringende Gesellschaft (1992). Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen. Werke. Bd. 1: Die ersten Gesellschaftsbücher der Fruchtbringenden Gesellschaft (1622, 1624 und 1628). – Johannis Baptistae Gelli Vornehmen Florentinischen Academici Anmutige Gespräch Capricci del Bottaio genandt (1619). Hg. v. Klaus Conermann. Tübingen.

4.11 Der Gesellschaftsbrief der Fruchtbringenden Gesellschaft 

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Fruchtbringende Gesellschaft (2006). Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen: Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617–1650. Bd. 4: 1637–1638. Hg. v. Klaus Conermann unter Mitarbeit v. Gabriele Ball u. Andreas Herz. Tübingen. Fruchtbringende Gesellschaft (2010). Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen: Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617–1650. Bd. 5: 1639–1640. Hg. v. Klaus Conermann unter Mitarbeit v. Gabriele Ball u. Andreas Herz. Tübingen. Fruchtbringende Gesellschaft (2019). Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen: Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617–1650. Bd. 8.1: 1647–1648, Bd. 8.2: 1648– 1650. Hg. v. Klaus Conermann u. Andreas Herz unter Mitarbeit v. Gabriele Ball, Nico Dorn u. Alexander Zirr. Tübingen. Furger, Carmen (2010). Briefsteller. Das Medium ‚Brief‘ im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Köln. Harsdörffer, Georg Philipp (1655). Der Teutsche Secretarius. Nürnberg. Helgason, Jon (2012). Schriften des Herzens. Briefkultur des 18. Jahrhunderts im Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Göttingen. Kucharska, Elżbieta (2000). Anreden des Adels in der deutschen und der polnischen Briefkultur. Vom 17. bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Neustadt an der Aisch. Mattenklott, Gert, Hannelore Schlaffer u. Heinz Schlaffer (Hg.) (1988). Deutsche Briefe 1750–1950. Frankfurt a. M. Runge, Anita u. Lieselotte Steinbrügge (Hg.) (1991). Die Frau im Dialog. Studien zu Theorie und Geschichte des Briefes. Stuttgart. Vellusig, Robert (2011). „Aufklärung und Briefkultur. Wie das Herz sprechen lernt, wenn es zu schreiben beginnt“, in: Das Achtzehnte Jahrhundert, 35.2: 154–171.

Weiterführende Literatur Aichholzer, Doris (1997). „Briefe adeliger Frauen. Beziehungen und Bezugssysteme. Ein Projektbericht“, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, 105.3–4: 477–483. Bastl, Beatrix (2009). „‚Ins herz khan man kein sehen‘. Weibliche Kommunikations- und Beziehungskulturen innerhalb der adligen ‚familiaʻ der Frühen Neuzeit“, in: Schwestern und Freundinnen. Zur Kulturgeschichte weiblicher Kommunikation. Hg. v. Eva Labouvie. Köln u.  a.: 305–319 Schuster, Jörg u. Jochen Strobel (Hg.) (2013). Briefkultur. Texte und Interpretationen – von Martin Luther bis Thomas Bernhard. Berlin u. Boston. Schiffermüller, Isolde u. Chiara Conterno (Hg.) (2015). Briefkultur. Transformationen epistolaren Schreibens in der deutschen Literatur. Würzburg. Hämmerle, Christa u. Edith Sauer (Hg.) (2003). Briefkulturen und ihr Geschlecht. Zur Geschichte der privaten Korrespondenz vom 16. Jahrhundert bis heute. Wien u.  a. Ebrecht, Angelika, Regina Nörtemann u. Herta Schwarz (Hg.) (1990). Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays. Stuttgart. Ruppel, Sophie (2006). Verbündete Rivalen: Geschwisterbeziehungen im Hochadel des 17. Jahrhunderts. Köln.

Ralf Schuster

4.12 Das Briefarchiv Sigmund von Birkens Fast alle Archive der bekannten deutschen Schriftsteller und Schriftstellerinnen des 17.  Jahrhunderts sind zerstört worden oder müssen als verschollen gelten. So ist es ein besonderer Glücksfall, dass das Archiv des Nürnberger Dichters Sigmund von Birken (1626–1681) zwar nicht vollständig, aber doch zu großen Teilen erhalten geblieben ist. Dieser Nachlass stellt einen reichen Quellenfundus für literatur- und sprachwissenschaftliche sowie kultur- und sozialgeschichtliche Forschungen verschiedenster Provenienz dar (vgl. Garber 1978; Laufhütte 2007, 19–31). Es liegen zahlreiche Dokumente vor, die die Aspekte der Produktion eines literarischen Werkes von der Niederschrift bis zum fertigen Druckerzeugnis erhellen. Kenntlich werden die Formen der Zusammenarbeit zwischen Autoren, Auftraggebern von Texten, Verlegern, Druckern und Kupferstechern; es gibt aufschlussreiche Informationen zur Ausstattung von Werken mit Kupfern, zu Korrekturdurchgängen, Auflagen, Kosten für Verleger und Autoren, Vertriebswegen und zur Anzahl von Freiexemplaren (vgl. Laufhütte 2007, 139–152, 219–228; Laufhütte 2013, 9–98). Birken stand mit zahlreichen bedeutenden Persönlichkeiten des Literaturbetriebs seiner Zeit in brieflichem Kontakt. Besonders ergiebig ist das Archiv auch für die Rolle als ‚Literaturmanager‘ und als Mentor für jüngere Autoren (vgl. Laufhütte 2013, 223–238; Laufhütte 2019a), die Birken in seinen letzten Lebensjahren einnahm, sowie für seine vielfältige unterstützende und fördernde Tätigkeit für literarisch tätige Frauen (vgl. Schuster 2015, 2009). Aus dem Nachlass sind Birkens große lyrische Sammelhandschriften, ausgewählte Werke aus demjenigen Teil von Birkens Produktion als geistlicher Erbauungsschriftsteller, der nur handschriftlich überliefert ist, sowie die wichtigsten der erhaltenen Briefwechsel ediert in der vierzehnbändigen Ausgabe Sigmund von Birken. Werke und Korrespondenz, von der 1988 als erster der 14.  Band, Birkens Autobiographie, erschienen und die 2018 abgeschlossen worden ist (zur Geschichte und Konzeption der Birken-Werkausgabe vgl. WuK, Bd. 1, Einleitung).

1 Biographisches Sigmund von Birken wurde am 25. April 1626 als Sigismundus Betulius in Wildstein bei Eger als Sohn eines evangelischen Pfarrers geboren. Seine Familie wurde 1629 aufgrund ihres evangelischen Bekenntnisses aus Böhmen ausgewiesen und ging nach Nürnberg. 1643/44 studierte Betulius kurze Zeit in Jena Jura. Der Nürnberger Patrizier und Literat Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) förderte den jungen, https://doi.org/10.1515/9783110376531-059

4.12 Das Briefarchiv Sigmund von Birkens 

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dichterisch begabten Betulius und nahm ihn 1645 in den kurz zuvor gegründeten Pegnesischen Blumenorden auf. Durch Vermittlung Harsdörffers erhielt Betulius Ende 1645 eine Anstellung als Assistent des Prinzenerziehers Justus Georg Schottel am Wolfenbütteler Herzogshof. Doch schon im Oktober 1646 verließ er den Hof und nahm Stellen als Hauslehrer in Lüneburg und Dannenberg an. Ende 1648 kehrte er nach Nürnberg zurück, wo 1649/50 der Exekutionskongress zum Westfälischen Frieden stattfand. Er wurde von der kaiserlichen Delegation mit diversen Projekten beauftragt. In den 1650er Jahren begann Betulius, der zunächst auch weiterhin als Hauslehrer tätig war, sich eine Art ‚literarische Existenz‘ in Nürnberg aufzubauen. Neben seiner eigenen literarischen Produktion übernahm er Korrekturarbeiten und die Druckbetreuung für Werke anderer Autoren. 1655 wurde Betulius vom Kaiser geadelt und zum Hofpfalzgrafen (comes palatinus) ernannt, so dass er sich fortan ‚von Birken‘ nennen durfte. 1658 wurde er als ‚Der Erwachsene‘ in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen. Im selben Jahr heiratete er eine wohlhabende Witwe aus Bayreuth, weshalb er in die markgräfliche Residenzstadt umzog, wo es ihm gelang, gute, bis zu seinem Lebensende weiterbestehende Verbindungen zum Umfeld des markgräflichen Hofs zu knüpfen. 1660 kehrte er nach Nürnberg zurück und reaktivierte den seit Harsdörffers Tod 1658 inaktiven Pegnesischen Blumenorden, dessen neuer Präsident er wurde. Nach dem Tod der ersten Ehefrau 1670 heiratete Birken 1673 erneut eine ältere Witwe, die 1679 verstarb. Birken selbst starb am 12. Juni 1681 in Nürnberg. Er war ein außerordentlich produktiver Schriftsteller, wie das umfangreiche bibliographische Verzeichnis seiner zu Lebzeiten gedruckten Werke erweist (vgl. Stauffer 2007).

2 Das Birken-Archiv 2.1 Bestand Birken, dessen zwei Ehen kinderlos geblieben waren, hat den größten Teil seines Archivs und seiner Bibliothek dem Pegnesischen Blumenorden vererbt. Der Blumenorden, der nach mehreren Metamorphosen immer noch besteht, hat dieses Erbe über die Jahrhunderte bewahrt (zum Blumenorden vgl. Jürgensen 2006). Neben einem großen Teil der Birken’schen Bibliothek, zahlreichen Werkmanuskripten, mehreren umfangreichen handschriftlichen Lyriksammlungen und anderen Dokumenten ist so auch das Briefarchiv Birkens größtenteils erhalten geblieben. Es umfasst ca. 2.000 an den Autor gerichtete Briefe von etwas über 400 Korrespondenzpartner*innen. Auch von Birkens eigenen Briefen ist einiges

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erhalten: Fast vollzählig vorhanden sind die Briefe an die erste Ehefrau Margareta Magdalena (1610–1670) und an den Bayreuther Juristen Adam Volckmann (1616–1664) (beide ediert in WuK, Bd. 10), von Birkens Briefen an den Altdorfer Professor Magnus Daniel Omeis (1646–1708), der auch Mitglied im Blumenorden war, einige wenige (ediert in WuK, Bd. 13.2). Hinzu kommen einzelne Briefe an andere Partner, die aus verschiedenen Gründen nicht abgeschickt worden oder auf unbekannte Weise in Birkens Archiv zurückgelangt sind. Manchmal hat Birken einen Brief auch neu geschrieben, weil er an der Erstfassung Korrekturen vorgenommen hatte, sodass diese Versionen im Archiv geblieben sind. Nur in sehr wenigen Fällen haben sich Briefe Birkens in anderen Archiven erhalten: So liegen in Rothenburg ob der Tauber Schreiben an den dortigen Bürgermeister Johann Georg Styrzel (1591–1668) und im Archiv der Fruchtbringenden Gesellschaft solche, die Birken an das Oberhaupt dieser Sprachgesellschaft und an dessen Sekretär Georg Neumark (1621–1681) gerichtet hat. Obwohl also verhältnismäßig wenige Originalbriefe Birkens überliefert sind, lässt sich dennoch für viele Korrespondenzen mit verschiedenen Partnern Birkens Anteil sehr gut rekonstruieren. Birken hat nämlich Protokollnotizen zu vielen seiner eigenen Briefe angefertigt. Diese Briefprotokolle sind verschieden ausführlich: Ihr Umfang reicht von einem kurzen Satz bis zu nahezu vollständigen Abschriften. Die beiden Manuskripte mit den Signaturen PBlO.B.5.0.3 und B.5.0.41 enthalten überwiegend solche Briefprotokolle in chronologischer Ordnung, das erste 213 Eintragungen aus den Jahren 1652–1657, das zweite 360 Eintragungen aus den Jahren 1658–1672. Lateinische Briefe aus den Jahren 1645–1662 hat Birken in die Sammlung BETULETUM eingetragen, die auch seine lateinische Lyrik und lateinischen Prosatexte anderer Art enthält (ediert als WuK, Bd. 4). Weitere lateinische Teilabschriften von Briefen aus der Zeit nach 1662 finden sich in den Arbeitsbüchern PBlO.B.5.0.26 und B.5.0.27; sie waren durch Ergänzungslisten im Anhang des BETULETUM von Birken zur Aufnahme in diese Sammlung vorgesehen. Insgesamt 76 Briefprotokolle finden sich im BETULETUM und den ihm zugeordneten Ergänzungslisten. Die im Arbeitsbuch PBlO.B.2.1.24 gesammelten Briefe sollten als Grundstock eines Briefstellers dienen, also einer Sammlung von Musterbriefen, die Birken wohl für den Druck vorgesehen hatte. Deshalb sind die Abschriften weitgehend vollständig und die Adressatenbenennungen leicht verschlüsselt. Das Projekt scheint Birken früh aufgegeben zu haben; dennoch verdanken wir ihm 22 wichtige Briefabschriften aus den Jahren 1648– 1653. Im Arbeitsbuch PBlO.B.5.0.28 sind 17 weitere erhalten. Außerdem finden sich einzelne Briefprotokolle an verschiedenen weiteren Stellen des Archivs. Außerordentlich hilfreich für die Rekonstruktion von Birkens Korrespondenz ist zum einen der Umstand, dass er auf vielen erhaltenen Briefen akribisch das Empfangs- und gegebenenfalls das Beantwortungsdatum notiert hat. Hinzu kommt meistens eine Kurzbenennung des Briefschreibers sowie eine Num-

4.12 Das Briefarchiv Sigmund von Birkens 

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merierung, die Birken jahrgangsweise nach der Chronologie des Eintreffens der Briefe durchgeführt hat. Hilfreich ist zum anderen, dass für die Jahre 1660/61, 1664–1669, 1671–1673 und 1675–1679 Tagebücher Birkens erhalten sind (ediert von Joachim Kröll 1971), in denen Birken die Absendung und den Empfang von Briefen jeweils mit einer eigenen Jahrgangszählung versehen festgehalten hat.

2.2 Verluste Obwohl sich große Teile des Birken’schen Archivs erhalten haben, sind doch Verluste zu konstatieren. Besonders bedauerlich ist, dass die Briefe zweier für Birken wichtiger Partner wohl schon früh aus dem Archiv verschwunden sind. Es handelt sich einmal um diejenigen des Herzogs Anton Ulrich von BraunschweigLüneburg (1633–1714), an dessen Erziehung Birken für kurze Zeit 1646 beteiligt war und mit dem er später einen intensiven Briefwechsel geführt hat, wie die Tagebücher erweisen. Birken war bis zu seinem Tod für viele literarische Projekte des Herzogs, insbesondere für die mehrbändigen Romane Aramena und Octavia, als Redakteur und Druckbetreuer tätig, was einen intensiven Informationsaustausch notwendig machte. Die wichtigen Ereignisse im Leben des Herzogs hat Birken lyrisch begleitet (vgl. die dem Herzog geltenden Gedichte in WuK, Bd. 3). Es sind nicht nur die Briefe des Herzogs nicht mehr vorhanden, sondern auch die eigens für diese Korrespondenz angelegten Protokollbücher, die Birken für seine Briefe geführt hat. Der andere wichtige Korrespondenzpartner war Birkens Bruder Christian Betulius (1619–1677), der als Pastor im Schwäbischen wirkte. Dieser Bruder war zeitlebens Birkens engster Vertrauter, und der Briefwechsel muss nach Ausweis des Tagebuchs sehr intensiv gewesen sein. Immerhin haben sich zahlreiche, wenn auch zumeist kurze und unvollständige Protokollnotizen erhalten, so dass wir zumindest Birkens Anteil an dieser Korrespondenz inhaltlich annähernd erfassen können. Zahlreiche Dokumente sind in der Zeit verloren gegangen, in der der erste Historiker des Blumenordens, Johann Herdegen (Amarantes genannt), seine Geschichte dieser Dichtergesellschaft verfasste. Sehr viele der von ihm in seinem 1744 erschienenen Werk ganz oder teilweise mitgeteilten Briefe und Texte anderer Art fehlen seitdem. Eine weitere Verlustphase war der Zweite Weltkrieg. Wegen der Bedrohung durch Bombenangriffe wurden die Bestände des Ordensarchivs ausgelagert. In der unmittelbaren Nachkriegszeit kam es offenbar zu Plünderungen der ausgelagerten Bestände. Birkens handschriftlicher Nachlass dürfte diese aber – soweit sich das erkennen lässt – weitgehend vollständig überstanden haben; die Birken’sche Bibliothek hat jedoch Verluste erlitten (vgl. WuK, Bd. 1, Einleitung, LXXXIV–XCV).

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3 Korrespondenzpartner 3.1 Edierte Korrespondenzen Zu den wichtigsten der früh einsetzenden Korrespondenzen Sigmund von Birkens gehören diejenigen mit Georg Philipp Harsdörffer, dem Wedeler Pastor und anerkannten Schriftsteller Johann Rist (1607–1667), dem Wolfenbütteler Sprachforscher Justus Georg Schottel (1612–1676), dem niederösterreichischen Übersetzer Johann Wilhelm von Stubenberg (1619–1663) sowie dem kaiserlichen Diplomaten und späteren Grafen Gottlieb von Windisch-Graetz (1630–1695), der in jungen Jahren lyrische Ambitionen hatte (vgl. dazu die Edition seiner Gedichte von 1994) und sich von Birken dabei anleiten ließ. Diese fünf Personen waren für den weitgehend mittellosen ‚Nachwuchsschriftsteller‘ Sigmund Betulius als Mentoren und Förderer von entscheidender Bedeutung. Die fünf in Bd. 9 der WuK edierten Briefwechsel sind wichtige Quellen für die Biographie Birkens und des jeweiligen Briefpartners seit den 1640er Jahren sowie für die Entstehungs- und Druckgeschichte vieler seiner und ihrer Werke. Sie gewähren Einblicke in das Beziehungsgeflecht der Literaten untereinander und zwischen Literaten und Förderern bzw. Nutzern literarischer Dienstleistungen. Einer der in vielfacher Hinsicht heuristisch ergiebigsten Briefwechsel des Birken-Archivs ist derjenige mit der niederösterreichischen Dichterin Catharina Regina von Greiffenberg (1633–1694), der von 1662 an bis zu Birkens Tod geführt worden ist (ediert in WuK, Bd.  12). Die geistlich-literarische Zusammenarbeit zwischen Birken und von Greiffenberg war von großer Intensität und fand ihren deutlichsten Ausdruck in dem von einem Roman Madeleine de Scudérys angeregten Konzept der Innigstfreundschaft (vgl. Laufhütte 2007, 293–384). Neben den ertragreichen biographischen und werkgeschichtlichen Informationen für beide Partner liefert diese Korrespondenz wichtige Aufschlüsse zur ökonomisch, sozial und mental prekären Situation protestantischer Adliger in Österreich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Denkgeschichtlich ist der Briefwechsel interessant, weil er die Bemühungen beider Partner um eine Intensivierung der religiösen Andacht – noch im Rahmen der lutherischen Orthodoxie – spiegelt. Dabei handelt es sich um ein besonders instruktives Beispiel für eine Entwicklung, die in Teilen des evangelischen Bekenntnisses in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts letztlich zum Pietismus führte. Kulturgeschichtlich fast ebenso interessant ist Birkens Briefwechsel mit seiner ersten Ehefrau Margareta Magdalena (ediert in WuK, Bd. 10), der sich in zwei Phasen unterteilen lässt. Die komplizierte Vorgeschichte der am 18. Mai 1658 erfolgten Eheschließung zwischen dem ohne sicheres Einkommen in Nürnberg

4.12 Das Briefarchiv Sigmund von Birkens 

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lebenden Dichter und der reichen Bayreuther Witwe lässt sich mit allen ihren Krisen nahezu lückenlos rekonstruieren und ermöglicht wichtige sozialgeschichtliche Einblicke. Die Ehe selbst war dann von Streitigkeiten und Problemen geprägt, was Birken veranlasst hat, Ehegebete zu verfassen und umfangreiche Mahnungsschreiben an seine Ehefrau zu richten, die phasenweise nicht mit ihm redete. Diese Texte sind einzigartige Dokumente, die Aufschlüsse über Birkens Frauenbild, seine Rollenvorstellungen für Ehepartner und natürlich über Interna seines Ehelebens liefern. Zu den in Birkens Bayreuther Zeit 1658–1660 gewonnenen Briefpartnern gehörte der Jurist Adam Volckmann, mit dem Birken von 1660 bis zu dessen Tod 1664 korrespondierte (ediert in WuK, Bd. 10). Mit dem Bayreuther Generalsuperintendenten Caspar von Lilien (1632–1687) trat Birken allerdings erst nach seiner Rückkehr nach Nürnberg in Kontakt. Es ergab sich in den Jahren zwischen 1662 und 1679 ein reger Briefwechsel (ediert in WuK, Bd. 11). Beide Korrespondenzen liefern u.  a. zahlreiche Informationen zum Bayreuther Hof. Instruktiv sind auch Birkens Briefwechsel mit den beiden Nürnberger Theologen Johann Michael Dilherr (1604–1669) und Daniel Wülffer (1617–1685) (ediert in WuK, Bd. 11), für die Birken als literarischer Dienstleister vielfältig tätig war. Nachdem Birken sich seinen Platz als anerkannter Schriftsteller und ‚Literaturmanager‘ gesichert hatte und finanziell durch verschiedene lukrative literarische Projekte und seine Eheschließung abgesichert war, wurde er zunehmend als Förderer jüngerer Schriftsteller tätig. Als Präsident des Blumenordens konnte er ihnen durch die Aufnahme in diese Dichtervereinigung Aufmerksamkeit in der res publica literaria verschaffen und durch die Beteiligung an Gemeinschaftswerken des Ordens ein Forum bieten, um ihre schriftstellerischen Fähigkeiten zu präsentieren. Birkens Fördertätigkeit erstreckte sich dabei keineswegs auf Nürnberg und die unmittelbare Umgebung, vielmehr wirkte er – durch Briefe – deutschlandweit. Als kaiserlicher Hofpfalzgraf konnte er Dichterkrönungen durchführen und so junge Autoren unterstützen. Im Archiv des Blumenordens sind zahlreiche Vorlagen für die in Reinschrift anzufertigenden Urkunden der von Birken vorgenommenen Dichterkrönungen erhalten. Diese kulturgeschichtlich hochinteressanten Dokumente werden in verschiedenen Bänden der Birken-Ausgabe mitgeteilt (vgl. die Übersicht in WuK, Bd. 4, XXIV–XXV). Als Beispiele für die Unterstützung von jungen Literaten können die Briefwechsel mit Magnus Daniel Omeis in Altdorf, Joachim Heinrich Hagen (1648–1693) in Bayreuth und mit dem in Regensburg tätigen Sebastian Seelmann (geb. 1640, Todesjahr unbekannt) angeführt werden. Alle drei Briefwechsel sind in WuK, Bd. 13.2, ediert. Dort wird außerdem derjenige mit Georg Wende (1634–1705) aus Schlesien mitgeteilt. Dieser Briefwechsel kann als ein Beispiel für Birkens weitreichende Kontakte zu Gelehrten in ganz Deutschland gelten. Wende – wie Birken ein Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft –

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war selbst als Mentor für jüngere Dichter und Dichterinnen tätig und hat u.  a. die Aufnahme der schlesischen Dichterin Elisabeth von Senitz (1629–1679) in den Blumenorden vermittelt. Ein besonders weit verzweigtes und zugleich dichtes literarisch-soziales Netzwerk, dessen Mittelpunkt Birken war, hat sich ab Mitte der 1660er Jahre im Ostseeraum ausgebildet (ediert in WuK, Bd. 13.1), wobei der aus Königsberg stammende Martin Kempe (1642–1683), der Birken 1665 in Nürnberg besucht hatte, eine entscheidende Rolle als Vermittler spielte. Einige der daran Beteiligten waren Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft, fast alle sind von Birken in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen worden. Die Orte, an denen diese Briefpartner zeitweise oder dauerhaft lebten und wirkten, waren: Danzig, Elbing, Eutin, Grenzhof bei Mitau, Königsberg, Kopenhagen, Lübeck, Narwa, Ratzeburg und Tilsit.

3.2 Unedierte Korrespondenzen Im Rahmen der Birken-Werkausgabe konnten nicht alle Briefwechsel ediert werden. Einige davon sind an anderen Orten ganz oder teilweise publiziert worden, wenn diese Editionen auch zumeist nicht den Ansprüchen einer historisch-kritischen Ausgabe genügen: Der Briefwechsel mit Georg Neumark ist unvollständig ediert von Burkhardt (1897), derjenige mit Philipp von Zesen (1619–1689) bei Laufhütte (2007, 115–124), die wenigen erhaltenen Bestandteile desjenigen mit Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg bei Laufhütte (2019b). Viele weitere Briefe aus dem Birken-Archiv sind an verschiedenen Orten in wissenschaftlichen Aufsätzen und in den Kommentaren der Birken-Ausgabe ganz mitgeteilt oder teilweise zitiert worden. Es bleibt ein wichtiges Desiderat der Frühe-Neuzeit-Forschung, die bisher nicht edierten Briefbestände des BirkenArchivs der wissenschaftlichen Welt in Form einer historisch-kritischen Ausgabe zugänglich zu machen.

4 Gegenstandsfelder Heuristisch ergiebig sind die Briefbestände des Birken-Archivs insbesondere für die Untersuchung der Bildung literarischer Netzwerke von Literaten, Autor*innen und Gelehrten. Sie geben Einblick in Birkens Tätigkeit als Mentor und Förderer jüngerer Schriftsteller*innen und die interne Kommunikation zwischen den Mitgliedern des Blumenordens. Erkennbar wird u.  a. an einigen Beispielen, wie Ordenstreffen verliefen und Gemeinschaftswerke des Blumenordens entstanden sind.

4.12 Das Briefarchiv Sigmund von Birkens 

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Ein weiteres aufschlussreiches Themenfeld ist die Rekonstruktion der Bemühungen Birkens um das Hofpfalzgrafenamt; denn seine Ernennung zum kaiserlichen Hofpfalzgrafen hatte eine lange, krisenreiche Vorgeschichte, die sich anhand der Materialien des Archivs erschließen lässt (vgl. dazu den Windisch-Graetz- und den Stubenberg-Briefwechsel in WuK, Bd. 9). Auch Birkens Amtshandlungen als Hofpfalzgraf (Verleihungen akademischer Grade, Dichterkrönungen, Ernennungen von Notaren, Legitimationen usw.) lassen sich gut erforschen. Das Briefarchiv liefert ferner entstehungs- und druckgeschichtliche Informationen zu zahlreichen Werken Birkens und seiner Briefpartner. Ebenso werden Birkens Tätigkeit als literarischer Dienstleister und seine Bemühungen um angemessene Belohnung durch zahlreiche Dokumente erhellt. Hier sind besonders Birkens Arbeiten für die kaiserliche Delegation während des Friedensexekutionskongresses in Nürnberg 1649/50, seine im Auftrag des Kaisers von 1660–1668 durchgeführte redaktionelle Betreuung und weitgehende Überarbeitung der Chronik des Hauses Habsburg Spiegel der Ehren, seine vielfältigen panegyrischen Werke für den Bayreuther und den Kulmbacher Hof und vor allem seine Zusammenarbeit mit Herzog Anton Ulrich zu nennen. Ein weiteres Gegenstandsfeld, das sich durch die Materialien des Archivs erschließen lässt, sind die Finanzgeschäfte der ersten Ehefrau Birkens, die ein weit verzweigtes System von Kreditvergaben betrieb. Birken war damit betraut, ausstehende Gelder anzumahnen und Steuerprobleme zu klären. Nach dem Tod der ersten Ehefrau hat Birken sich so rasch wie möglich aus diesem Geschäft zurückgezogen; dafür gab es aber diverse Erbschaftsangelegenheiten zu regeln. Die Bestände des Archivs liefern außerdem – wie bereits ausgeführt – detaillierte Einblicke in die Interna eines Ehelebens im 17. Jahrhundert. Die wissenschaftliche und historische Auswertung der Brief-Bestände des Birken-Archivs hat früh begonnen. Schon Johann Herdegen hat für seine Geschichte des Blumenordens von 1744 zahlreiche Briefe herangezogen und teilweise mitgeteilt. Die wegweisende Studie von Martin Bircher zu Johann Wilhelm von Stubenberg aus dem Jahr 1968 wäre ohne die Auswertung verschiedener Korrespondenzen des Archivs so nicht möglich gewesen. Die außerordentliche heuristische Ergiebigkeit des Archivs hat sich inzwischen in zahlreichen weiteren wissenschaftlichen Beiträgen verschiedener Disziplinen erwiesen – und dennoch bietet das Archiv noch Materialien für viele weitere Studien.

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Zitierte Literatur Bircher, Martin (1968). Johann Wilhelm von Stubenberg (1619–1663) und sein Freundeskreis. Studien zur österreichischen Barockdichtung protestantischer Edelleute. Berlin. Birken, Sigmund von: Werke und Korrespondenz. Hg. v. Klaus Garber, Ferdinand van Ingen, Hartmut Laufhütte u. Johann Anselm Steiger. Mitbegründet von Dietrich Jöns (†). (Neudrucke deutscher Literaturwerke. Neue Folge. Hg. v. Hans-Henrik Krummacher, später v. Robert Seidel u. Johann Anselm Steiger). Tübingen, später Berlin u. Boston [WuK]: Bde.: 1: Floridans Amaranten-Garte (2009); 2: Birken-Wälder (2014); 3: Poetische LorbeerWälder (2018); 4: BETULETUM (2017); 5: Todten-Andenken und Himmels-Gedanken oder Gottes- und Todes-Gedanken (2009); 6: Psalterium Betulianum (2016); 7: Handund Anhang zu Todes-Gedanken und Todten-Andenken; Emblemata, Erklärungen und Andachtlieder zu Johann Michael Dilherrs Emblematischer Reisepostille (2012); 8: Erbauungsschrifttum (2014); 9: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Georg Philipp Harsdörffer, Johann Rist, Justus Georg Schottelius, Johann Wilhelm von Stubenberg und Gottlieb von Windischgrätz (2007); 10: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Margaretha Magdalena von Birken und Adam Volkmann (2010); 11: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Johann Michael Dilherr, Daniel Wülfer und Caspar von Lilien (2015); 12: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg (2005); 13.1: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens und literarischen Freunden im Ostseeraum (2012); 13.2: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Magnus Daniel Omeis, Joachim Heinrich Hagen, Sebastian Seelmann und Georg Wende (2018); 14: Prosapia/Biographia (1988). Birken, Sigmund (1971). Die Tagebücher. Bearb. v. Joachim Kröll. Teil I. Würzburg. Birken, Sigmund (1974). Die Tagebücher. Bearb. v. Joachim Kröll. Teil II. Würzburg. Burkhardt, Karl August Hugo (Hg.) (1897). „Aus dem Briefwechsel Sigmund von Birkens und Georg Neumarks 1656–1669“, in: Euphorion, Ergänzungsheft 3: 12–55. Garber, Klaus (1978). „Sigmund von Birken: Städtischer Ordenspräsident und höfischer Dichter. Historisch-soziologischer Umriß seiner Gestalt. Analyse seines Nachlasses und Prolegomenon zur Edition seines Werkes“, in: Sprachgesellschaften – Sozietäten – Dichtergruppen. Hg. v. Martin Bircher u. Ferdinand van Ingen. Hamburg: 223–254. Herdegen, Johannes (1744). Historische Nachricht von deß löblichen Hirten= und Blumen=Ordens an der Pegnitz Anfang und Fortgang/ biß auf das durch Göttl. Güte erreichte Hunderste Jahr/mit Kupfern gezieret, und verfasset von dem Mitglied dieser Gesellschafft Amarantes. Nürnberg. Jürgensen, Renate (2006). Melos conspirant singuli in unum. Repertorium bio-bibliographicum zur Geschichte des Pegnesischen Blumenorden in Nürnberg (1644–1744). Wiesbaden. Laufhütte, Hartmut (2007). Sigmund von Birken. Leben, Werk und Nachleben. Gesammelte Studien. Passau. Laufhütte, Hartmut (Hg.) (2013). Der Pegnesische Blumenorden unter der Präsidentschaft Sigmund von Birkens. Gesammelte Studien der Forschungsstelle Frühe Neuzeit an der Universität Passau (2007–2013). Passau. Laufhütte, Hartmut (2019a). „Sigmund von Birken als Förderer und Mentor jüngerer Kollegen“, in: Sigmund von Birken (1626–1681). Ein Dichter in Deutschlands Mitte. Hg. v. Klaus Garber, dems.  u. Johann Anselm Steiger. Berlin u. Boston: 233–258.

4.12 Das Briefarchiv Sigmund von Birkens 

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Laufhütte, Hartmut (2019b). „Die Reste der Korrespondenz mit Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg im Manuskripte-Archiv Sigmund von Birkens“, in: Informationen aus dem Ralf Schuster Verlag, 11. Passau: 7–43. Schuster, Ralf (2009). Die Pegnitzschäferinnen. Eine Anthologie. Zusammengestellt u. mit einer Einleitung versehen v. dems. Mit einem Vorwort v. Hartmut Laufhütte. Passau. Schuster, Ralf (2015). „Die Aufnahme von Frauen in den Pegnesischen Blumenorden durch Sigmund von Birken“, in: „Erfreuliche Nützlichkeit – Keim göttlicher Ehre“. Beiträge zum Harsdörffer-Birken-Colloquium des Pegnesischen Blumenordens im Oktober 2014. Hg. v. Werner Kügel. Passau: 219–239. Stauffer, Hermann (2007). Sigmund von Birken (1626–1681). Morphologie seines Werks. 2 Bde. Tübingen. Windischgrätz, Gottlieb Graf von (1994). Die Gedichte. Hg. v. Almut u. Hartmut Laufhütte, Tübingen.

Thomas Wallnig

4.13 Monastische Gelehrtenkorrespondenzen 1 Einführung, Abgrenzung und Rahmenbedingungen Es ist ein zweifacher Bruch, der, selbst Produkt spezifischer historischer Konstellationen um 1500, der Annahme von der Existenz monastischer Gelehrtenkorrespondenzen unterliegt: der Bruch einerseits zwischen einer über weite Strecken des Mittelalters prädominanten klösterlichen Wissenskultur und ihrem seit dem ausgehenden Mittelalter polar-agonal gedachten Gegenstück, sei es in ‚humanistischemʻ Gewand oder in jenem anderer mit dem Monastizismus konkurrierender kirchlicher Instanzen; der Bruch andererseits innerhalb des monastischen Wissens selbst zwischen ‚gelehrtemʻ Wissen und seinem meist als ‚spirituellʻ oder ‚aszetischʻ inszenierten Widerpart. Anders formuliert: Warum und in welcher Hinsicht ist nicht jeder Mönchsbrief ein Gelehrtenbrief? Und inwiefern können Mönchsbriefe überhaupt Gelehrtenbriefe sein? Einen hilfreichen Zugang zu diesem komplexen Thema hat Harald Müller in seinem Buch über gelehrte Mönche im Oberdeutschland des frühen 16. Jahrhunderts erarbeitet (vgl. Müller 2006). Ausgehend von Korrespondenz und Korrespondenzverhalten zwischen gelehrten Mönchen und ‚Humanistenʻ zeigt Müller den humanistischen Habitus als ein punktuell und partiell einsetzbares Register von Sprache und sozialer Interaktion, als ein Reservoir von Rhetorik, Ethik und Themen (besonders antiquarisch-philologischer, mitunter theologischer Natur), das aus gelehrten Mönchen fallweise ‚Humanistenʻ machen konnte. Der Konstruktion eines gemeinsamen Kommunikationsraums lag dabei die Annahme grundsätzlicher Verschiedenheit zugrunde. Weniger hilfreich hingegen erscheint es, wenn diese Verschiedenheit zwischen ‚Mönchenʻ und ‚Humanistenʻ nicht in ihrer Inszenierung selbst Forschungsgegenstand ist, sondern ex posteriori zum heuristischen Maßstab gemacht wird (vgl. Posset 2005). Es ist noch nicht hinreichend geklärt, in welchem Ausmaß diese Verschiedenheit nicht eine ‚humanistischeʻ Zuschreibung ‚von außenʻ war. Aus einer monastischen Innenperspektive konnte die Pflege eines antiken Kommunikationsmodells von Freundschaftsbrief und intellektuellem Austausch auch als ein leicht modifiziertes Fortschreiben einer bereits lange existierenden Praxis betrachtet werden: Ciceronianische Epistolographie war auch in mittelalterlichen Klöstern gepflegt worden. Ebenso stellte die Mönchsschelte als Diskreditierung monastischen https://doi.org/10.1515/9783110376531-060

4.13 Monastische Gelehrtenkorrespondenzen 

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Wissens einen Topos dar, den die Humanisten zwar benützten, der jedoch um 1500 selbst bereits mehrere Jahrhunderte alt war und in innerkirchlichen Auseinandersetzungen zwischen Säkularklerus und Regularklerus sowie zwischen einzelnen religiösen Gemeinschaften wurzelte. Es ist wichtig, diese Unterschiede und mithin die Geschichte des christlichen Ordenswesens zu betonen (vgl. Frank 1988), da nur vor diesem Hintergrund Motivation und Struktur monastischer Gelehrtenkorrespondenzen verständlich werden. Es geht hier trotz des Titelwortes „monastisch“ auch um Korrespondenzen aus religiösen Orden, die nicht monastisch waren, wie dem der Jesuiten (die Bettelorden nehmen eine Sonderstellung ein); ebenso um monastische Gemeinschaften, die im kanonistischen Wortsinn keine ‚Ordenʻ waren, wie die Benediktiner, denen erst 1893 Ordensstatus zukam, während zuvor ordo eine gemeinsam gepflegte Form von Lebenswandel nach der Regel des Hl. Benedikt meinte. Vieles davon gilt auch für Gelehrtenkorrespondenzen aus dem Bereich der nicht regulierten Amtskirche. Der engere Kern ‚monastischerʻ Orden und Gemeinschaften umfasst mithin für den hier zu behandelnden Zeitraum zwischen 1500 und 1800 etwa die Benediktiner und ihre Zweige (wie die Zisterzienser), Augustiner und Kartäuser. Anders als Briefen aus dem patristischen Kontext kommt monastischen Gelehrtenbriefen nicht primär eine pastoral-exegetische Funktion zu. Sie behandeln monastische Anliegen im Gewand der Gelehrsamkeit und für einen Adressatenkreis, der zwar oft selbst monastisch ist, aber seit dem ausgehenden Mittelalter mitunter Sprache und Habitus der Humanistenfreundschaft imitiert. Erkennbar wird dies etwa daran, dass sich Ordensbrüder mitunter als confrater, häufiger jedoch als vir eruditissime oder amice ansprechen. Zu bedenken ist weiter, dass die Möglichkeiten des einfachen Mönchs zum Schreiben und Empfangen von Briefen oft durch Statuten geregelt waren (vgl.  Hurel 2003): bei den Benediktinern durch §  54 der Ordensregel, bei den Augustinern (freilich mit Bezug auf Korrespondenz mit Frauen) in § 29 sowie in Kapitel 6,10 der Kartäuserstatuten. Im Wesentlichen laufen die Bestimmungen auf Reduktion des Briefverkehrs außerhalb des Ordens sowie Zensur durch die Superioren hinaus. Hinzu kommen die anfallenden Kosten für Briefbeförderung, die für den einfachen gelehrten Mönch ebenfalls genehmigungspflichtig waren. Damit wird deutlich, dass auch im Bereich von Gelehrtenkorrespondenzen Superioren einen weit größeren Handlungsspielraum besaßen als einfache Mönche. Gleiches konnte auch dann zutreffen, wenn einfachen gelehrten Ordensgeistlichen durch ihr Amt (etwa als Bibliothekar) oder ihre Lehrverpflichtung bestimmte Freiheiten erteilt wurden.

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2 Korrespondenzen wichtiger monastischer Gelehrter Vor diesem Hintergrund muss eine kurze Darstellung der vormodernen monastischen Gelehrtenkorrespondenzen vornehmlich im Heiligen Römischen Reich notwendigerweise mit jener Phase einsetzen, in der das überkommene Modell monastischer Wissenszirkulation mit dem ‚System Humanismusʻ in Wechselwirkung geriet. Trotz des sichtlich vergleichbaren Substrats an lateinischem Stil werden die Unterschiede in Thematik und Tonfall augenfällig, wenn man etwa einen Brief eines der wichtigsten Exponenten benediktinischer Gelehrsamkeit des 14. Jahrhunderts, Abt Engelbertus von Admont (gest. 1331), mit einem Schreiben des Johannes Trithemius (1462–1516) vergleicht.

Abb. 1: Erste Seite des Briefs des Engelbert von Admont OSB an Magister Ulrich von Wien (c. 1320/5; Pez 1721 1/1: col. 429–436). Quelle: Th. W.

4.13 Monastische Gelehrtenkorrespondenzen 

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Abb. 2: Brief von Johannes Trithemius an Johannes Capellarius (c. 1505; Freher 1601 2: 456). Quelle: Th. W.

Harald Müller hat richtig festgestellt, dass der Zusammenhang zwischen monastischer Reform und ‚monastischem Humanismusʻ nicht zwingend und mitunter sogar eher unplausibel ist. Sein Panorama des beginnenden 16. Jahrhunderts benennt damit zugleich die Besonderheiten und Spannungsfelder monastischer Gelehrtenkultur – zwischen Obödienz und der Tätigkeit als ‚monastischer Privatgelehrterʻ, zwischen den unterschiedlichen Interessenlagen von Kloster, Orden, Buchmarkt und Hof. Zugleich behandelt Müller die wichtigsten

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Protagonisten dieser Gelehrtenkultur, ihre Korrespondenzen sowie ihre Präsenz in anderen zeitgenössischen ‚Humanistenʻ-Korrespondenzen: Albrecht von Bonstetten (gest. ca. 1504), Sigismundus Meisterlin (1435–1497), Johannes Trithemius, Nikolaus Ellenbog (1481–1543). Mit der Mitte des 16.  Jahrhunderts und der beginnenden Neuordnung des Ordenswesens nach dem Tridentinum wird auch der religiöse Bezug kirchlicher Gelehrsamkeit wieder vermehrt eingefordert. Eine bedeutende Rolle hierbei spielte der Jesuitenorden, der durch die ratio studiorum einen auf fast zwei Jahrhunderte gültigen Rahmen für Wissen und dessen schulische Vermittlung vorgab. Zugleich nahmen seine Mitglieder an der internationalen Diskussion von Ergebnissen in allen Bereichen des Wissens teil. Diese vergleichsweise große Freiheit in der Forschung und im wissenschaftlichen Austausch genossen allerdings wenige Jesuiten – etwa der Astronom Christoph Scheiner (1573–1650) oder der Polymath Athanasius Kircher (1602–1680), im 18. Jahrhundert der Naturphilosoph Ruđer Josip Bošković (1711–1787) und der Astronom Maximilian Hell (1720–1792) oder aber die im Briefwechsel mit Gottfried Wilhelm Leibniz stehenden Jesuiten in China (vgl. Leibniz 2006). Es genossen aber auch wenige Mitglieder anderer Orden solche Freiheiten, was bis ins mittlere 18. Jahrhundert auch mit der starken Stellung der Jesuiten im Bildungswesen (und damit verbunden: der Zensur) zusammenhing. Das erklärt auch, warum nicht-jesuitische Gelehrtenkorrespondenzen aus dem Bereich der katholischen Orden im 17. und 18. Jahrhundert selten um Fragen der Naturphilosophie kreisten, sondern meist um historisch-antiquarische Fragen, deren Diskussion auch zunehmend Anschluss an den Gelehrtendiskurs zur historischen Kritik fand. Zu nennen sind hier wichtige benediktinische Gelehrtenkorrespondenzen wie die des Gabriel Bucelin (1599–1681), des Augustin Calmet (1672–1757), der Brüder Pez (Bernhard: 1683–1735; Hieronymus: 1685–1762) oder des Oliver Legipont (1698–1758). Dieser Befund ist dahingehend zu relativieren, dass einerseits in anderen Teilen Europas gelehrte Ordensleute auch außerhalb des Jesuitenordens an der naturphilosophisch-wissenschaftlichen Diskussion Anteil hatten, wie die Korrespondenzen des Galileo-Schülers Benedetto Castelli (gest. 1643) und jene des mit Descartes in Verbindung stehenden Paulaners Marin Mersenne (1588–1648) zeigen. Andererseits gibt es auch im jesuitischen Bereich bedeutende historischantiquarische Korrespondenzen wie die des Matthäus Rader (1561–1634) sowie die der gelehrten jesuitischen Hagiographen von Antwerpen, der so genannten Bollandisten. Gerade das benediktinische Beispiel zeigt, dass Vorsicht bei der Verallgemeinerung geboten ist. Während in der für die Gelehrsamkeit ihrer Mitglieder bekannten französischen Reformkongregation vom Hl. Maurus (Mauriner) die

4.13 Monastische Gelehrtenkorrespondenzen 

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Kommunikationsstruktur stark von den kongregationalen Vorgaben geprägt war, fielen solche Rücksichtnahmen in der wesentlich dezentraler organisierten Germania Benedictina weitgehend weg. Zugleich ist aber auch zu bemerken, dass Gelehrtenkorrespondenzen einfacher Mönche wie der Brüder Pez anders strukturiert sind als etwa die Korrespondenz eines Prälaten wie Gottfried Bessel von Göttweig (1672–1749), der zwar auch als Gelehrter, jedoch vor allem als Sammler und Kirchenpolitiker agierte und ein anderes Maß an Bewegungsfreiheit und Kontakten, ebenso ein weit größeres Budget zur Verfügung hatte. Es zeigt sich auch, dass die generell latente Konkurrenz zwischen den Orden und Gemeinschaften nicht überall gleiche Züge annahm. So war das ‚Maurinische Vorbildʻ in Italien keine primär benediktinische Angelegenheit wie nördlich der Alpen, sondern wurde mit Wissen und Unterstützung der Kurie zu einem Programm der Bildungsreform für den gesamten regulierten Klerus aufgebaut (vgl. Ceppi 1701). Auch waren Kommunikationsverbände innerhalb der religiösen Gemeinschaften gemäß ihrer eigenen Binnenstrukturen (Provinzen, Kongregationen und deren Generalkapitel) organisiert, und diese lagen meist quer sowohl zur diözesanen als auch zur politischen Geographie. Hier – in der inneren administrativen Kommunikation der Orden und Gemeinschaften – kann freilich nur jener Bereich ansatzweise als Gelehrtenkorrespondenz angesprochen werden, der eine inhaltliche Schnittmenge mit den Themen und Anliegen des Buchmarktes, der akademischen und gelehrten Öffentlichkeit aufwies. Die gezielte Sammlung historischer Materialien für Ordenshistorien etwa stellte ebenso ein institutionelles und repräsentatives Anliegen der Orden selbst dar, wie sie – aus völlig anderen, nicht selten konfessionspolitisch entgegengesetzten Gründen – das Interesse der Gelehrtenkreise erweckte. In diesem Zusammenhang kann auf zahlreiche gezielte Sammlungen historischen Materials vor dem Referenzrahmen des Gesamtordens verwiesen werden – der Kartäuser, Prämonstratenser, Franziskaner, mutatis mutandis Benediktiner und Augustiner-Chorherren (vgl. Benz 2003; Herzog und Weigl 2011). Wichtig ist hier der Unterschied zwischen der Ebene des Gesamtordens und lokalen oder institutionenspezifischen Initiativen (wie Haus- oder Provinzgeschichten). Eine Geschichte kann auch für einen Orden oder eine Provinz konzipiert werden, während naturhistorische Sammlungen im Rahmen des einzelnen Klosters verbleiben. Astronomische Beobachtungen verweisen ohnehin auf einen interkonfessionellen Bezugsrahmen. Dort freilich, wo Ordensgeistliche jenseits ihres Ordens systematisch in die Sammlung von kulturhistorisch relevanten Informationen, Artefakten oder Specimina involviert waren, geschah dies oft vor dem Interessenhintergrund einer starken übergeordneten Institution, sei es etwa die spanische Krone im Falle der franziskanischen und jesuitischen Kartographen in

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Amazonien (vgl. Chauca 2015), sei es die Kurie im Fall der Jesuitenmissionare in China.

3 Monastische Gelehrsamkeit und die Gelehrtenrepublik Somit lassen sich zur Frage des spezifischen Gelehrtenkorrespondenz-Charakters in religiösen Orden und Gemeinschaften einige Schlussfolgerungen formulieren. Wie zuletzt angedeutet, agierten, erstens, Mitglieder von Ordensgemeinschaften, die fallweise stilistisch wie inhaltlich einen ‚humanistischenʻ, ‚gelehrtenʻ oder ‚aufgeklärtenʻ Habitus annahmen, viel eher im Namen und im Kontext des eigenen Hauses denn auf der übergeordneten Ebene des ‚Gesamtordensʻ. Zugleich macht dieses ‚gelehrteʻ Segment meist nur einen kleinen Teil der entsprechenden Korrespondenzen der in Frage stehenden Ordensgeistlichen aus und verweist zugleich auf eine Kommunikationssituation, die man als ‚Humanistenfreundschaftʻ, aber auch als Wirken von ‚monastischen Privatgelehrtenʻ (vgl. Beriger 1996) bezeichnen kann. Diese Spannung zwischen monastisch-kirchlicher Aufgabe einerseits, dem Anteil der Gelehrsamkeit an derselben andererseits besteht durch die Jahrhunderte und hat den vielleicht prominentesten Niederschlag in Jean Mabillons Plädoyer für eine (freilich aszetisch fundierte und begründete) monastische Gelehrsamkeit gefunden (vgl. Mabillon 1691). Man kann sich also, zweitens, die Frage stellen, warum überhaupt Ordensgeistliche an der vormodernen Gelehrtenwelt partizipieren wollten und durften. Hier deutet neben zweifelsfrei vorhandenen persönlichen Neigungen einiges darauf hin, dass es auch um den drohenden Verlust der epistemischen Deutungshoheit in Wissensfragen allgemein und um die Verteidigung der intellektuellen Errungenschaften des (von anderen so bezeichneten) ‚Mittelaltersʻ ging. Gerade da die ‚Wissenschaftliche Revolutionʻ sich stark aus einer Abgrenzungshaltung gegenüber dem Kirchlichen und Monastischen heraus verstand (vgl. Jaumann 1998), konnte sie sich zu einem ideengeschichtlichen Narrativ verfestigen, das mit dem ‚Mittelalterʻ zugleich alles damals produzierte Wissen abwertete. Dieses Wissen war zu großen Teilen Wissen, das in Ordensgemeinschaften geschaffen und tradiert worden war und das nun die Ordensgelehrten der ‚Frühen Neuzeitʻ selbst in anderen narrativen Zusammenhängen zu rehabilitieren und zu kanonisieren suchten. Mit zu berücksichtigen ist dabei, drittens, auch der wachsende Rückgriff obrigkeitlicher Institutionen auf das Bildungsreservoir von Orden und Gemeinschaften: Manche Gelehrtenkarriere von Ordensgeistlichen spielte sich institutionell

4.13 Monastische Gelehrtenkorrespondenzen 

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im Rahmen von Universitäten ab, und viel von den Inhalten der ‚monastischen Aufklärungʻ kann auch als Bildungsprogramm des aufgeklärten Absolutismus verstanden werden. Eben dieser Zugang der defensiven und entschärfenden Aneignung ‚neuenʻ Wissens und seiner Ausdrucksformen erlebte, viertens, einen Höhepunkt in der ‚aufgeklärtenʻ Performanz zahlreicher Orden nach der Aufhebung ihrer Hauptkonkurrenten, der Jesuiten (vgl. Lehner 2011), und endete meist, aber nicht zwangsläufig, um 1800. In der Habsburgermonarchie bleiben Ordensgeistliche bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wesentlich in den sich verstaatlichenden Wissenschafts- und Lehrbetrieb eingebunden. In keinem dieser Szenarien ist, fünftens, Platz für ein eigenständiges Narrativ weiblicher Ordensgelehrsamkeit, wie es in der Tradition der moniales literatae angelegt gewesen wäre und wie es sich in vielerlei Weise auch – bruchloser als die ‚Erzählung vom Humanismusʻ glauben macht  – in den weiblich-kirchlichintellektuellen Traditionen der Vormoderne auffinden lassen würde (vgl. Benz 2014). Korrespondenz spielte in allen diesen Kontexten insofern eine zentrale Rolle, als sie es ordensgeistlichen Gelehrten nicht nur ermöglichte, sich (und ihren Orden) im guten Lichte der internationalen Gelehrtengemeinschaft und protostaatlichen Bildungslandschaft darzustellen, sondern gleichzeitig auch, ihren Platz darin zu behaupten. Wenn heute der Begriff ‚monastische Gelehrtenkorrespondenzʻ mit Bezug auf das Mittelalter als Tautologie, für die Zeit danach als Paradoxon erscheinen mag, so zeugt dies im Wesentlichen vom Scheitern dieser Vorhaben.

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Nora Gädeke

4.14 Gelehrtenkorrespondenzen der frühen Aufklärung: Gottfried Wilhelm Leibniz Unter den Korrespondenzpartner*innen des Universalgelehrten und Hofmanns zu Hannover Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) sind alle Bevölkerungsschichten zu finden. Aber im Zentrum des Briefwerks steht die gelehrte Welt, mit ihren Themen, Blickwinkeln, Denkstilen, Kontroversen – und einem ihrer prominentesten und innovativsten Vertreter. In einer Zeit, in der der Brief zentrales Medium gelehrten Austauschs ist, gilt Leibniz als Peer der supraterritorialen und überkonfessionellen Gelehrtenrepublik, auch aufgrund seiner umfangreichen, weit gespannten Korrespondenz.

1 Das Briefwerk. Überlieferung und Editionsgeschichte Mit etwa 20.000 Einheiten ist die überlieferte Korrespondenz immens. Das liegt an einem hohen Briefaufkommen und an günstigen Überlieferungsumständen. Leibniz pflegte Briefe jahrzehntelang aufzubewahren, an ihn gehende systematisch, von ihm verfasste selektiv. Die Überlieferung ist (im Verhältnis etwa 2:3) asymmetrisch: Die Korrespondentenbriefe liegen seit den Anfängen in Hannover fast geschlossen vor, Leibniz’ eigene Schreiben mit deutlichen Lücken. Was sich einst in seiner Arbeitsumgebung befand, ist weitgehend unredigiert und in erster Linie in Hannover erhalten, insbesondere in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek. In dieser Institution, Nachfolgerin der von Leibniz verwalteten fürstlichen Bibliothek, ist sein Nachlass sozusagen am natürlichen Ort überliefert: In den damaligen Arbeitsräumen hatte er sich angesammelt, hier wurde er nach Leibniz’ Tod versiegelt und konserviert. Später wurden Teilbestände ausgesondert, die, als dienstliches Schrifttum geltend (darunter große Teile der Korrespondenz mit dem hannoverschen Fürstenhaus), an das Staatsarchiv Hannover gingen (mit Verlusten im Zweiten Weltkrieg). Neben dieser konzentrierten Überlieferung gibt es ‚Nebennachlässe‘, etwa in Wolfenbüttel (wo Leibniz ebenfalls amtierte) oder in Warschau und St. Petersburg (basierend auf Beständen, die er in Berlin während Aufenthalten am preußischen Königshof deponiert hatte). Die von Leibniz abgesandten Briefe dagegen verteilen sich, in Folge einer schon im 18. Jahrhundert einsetzenden Verschiebung der Überlieferung von privaten Empfänger- (oder frühen Sammler-)kreisen auf Institutionen, inzwischen auf Bibliotheken in ganz https://doi.org/10.1515/9783110376531-061

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Europa und den USA. Ein paar Leibniz-Briefe sind noch heute in Familienbesitz; gelegentlich tauchen Stücke auf Auktionen auf. Schließlich haben frühe Drucke weitere Brieftexte konserviert, nicht selten um den Preis, dass die Handschriften dann vernichtet wurden. 300 Jahre nach Leibniz’ Tod ist sein Briefwerk noch nicht vollständig ediert. Er selbst stand einer Publikation eher ablehnend gegenüber; einzelne Stücke wurden von Zeitgenossen gedruckt. Zwei von ihm selbst ins Auge gefasste größere Veröffentlichungen (der Briefdialog mit Samuel Clarke und die sprachwissenschaftlichen Collectanea Etymologica) erschienen postum, mit großer Wirkung. Gleich nach Leibniz’ Tod setzten unter den Anhängern Editionsbemühungen ein. Erste größere Ausgaben erschienen seit den 1730er Jahren, gipfelnd in den Opera omnia Louis Dutens’ von 1768 (zur frühen Editionsgeschichte vgl. Ravier 1937). Da der Nachlass in Hannover jahrzehntelang unzugänglich war, basierten die frühen Editionen vor allem auf der Überlieferung bei den Briefpartnern, also Leibniz’ aktiver Korrespondenz. Hinzu kam der Berliner Nebennachlass: Aus diesem Bestand, inzwischen in der Hand eines Sammlers, gingen auch Korrespondentenbriefe in die frühen Editionen ein. Nach der Öffnung der Bestände in Hannover und einhergehend mit der zunehmenden Freigabe fürstlicher Korrespondenz zur Publikation kam es im 19.  Jahrhundert zu mehreren, auch großen Editionen (vgl. Kliege-Biller et al. 2016, 957) mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten (vor allem Politik, Theologie, Philosophie, Mathematik, Haus Hannover). Zumeist gehen sie nach Korrespondenzen vor, ein Prinzip, das auch in neuesten Teileditionen zur Anwendung kommt. Grundlegend anders verfährt die historisch-kritische Leibniz-Edition (Akademie-Ausgabe, seit 1923). Nach Briefen und Schriften getrennt, sind ihre acht thematisch bestimmten Reihen im Aufbau vor allem von der Chronologie bestimmt. Jede Korrespondenz ist komplett einer der drei Briefreihen zugewiesen und hier aufgelöst in der chronologischen Präsentation. Inzwischen sind die Sämtlichen Schriften und Briefe (betreut von den Akademien der Wissenschaften zu Berlin-Brandenburg und zu Göttingen) bei 62 Bänden (davon 37 Briefbände) angelangt. Die Akademie-Ausgabe enthält die Korrespondenz mit Briefen und Gegenbriefen sowie weitere Stücke aus dem Korrespondenzzusammenhang. Leitlinien sind Vollständigkeit und kritische Textwiedergabe. Die Stücke sind mit Erläuterungen und einer Datierung versehen sowie mit weiteren Metadaten (Briefpartner, Absendeort) und einer Einordnung in den Korrespondenzverlauf (mit Erwähnung nur noch erschließbarer Briefe). Seit 2001 ist die Akademie-Ausgabe online (vgl. Leibniz o.  J.), mit PDFs seither erschienener Bände, Vorausedition in Bearbeitung befindlicher Bände sowie einem Transkriptionspool mit später zur Edition anstehenden Briefen. Online

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sind auch zentrale Hilfsmittel, wie der seit den Anfängen der Ausgabe aufgebaute Arbeitskatalog, der mit über 50.000 Katalogisaten zu sämtlichen Textzeugen die Grundlage der editorischen Arbeit darstellt und Suchanfragen auch zu noch nicht ediertem Material ermöglicht. Im Aufbau ist eine dem Bearbeitungsstand der Ausgabe entsprechende Personen- und Korrespondenzdatenbank.

2 Zentrale Aspekte der Corpus-Analyse Leibniz’ Briefwerk weist strukturell eine große Spannweite auf: von Texten in wenigen Zeilen bis zu mehreren Bögen, vom Einzelbrief bis zur Korrespondenz mit ca. 500 Schreiben, vom kurzfristigen Austausch bis zu sich über vier ­Jahrzehnte erstreckenden Briefbeziehungen. Die Zahl der Briefpartner dürfte bei 1.300 liegen. Aus ca. drei Prozent der Korrespondenzen sind jeweils mindestens 100  Briefe überliefert (mit insgesamt etwa 40–50 Prozent des gesamten Briefaufkommens). Quantifizierende Betrachtungen sind vor Abschluss der Briefreihen vorläufig, doch liegt seit 1966 die umfassende Untersuchung Gerbers vor. Demnach dominieren im Sprachgebrauch Französisch und Latein, Deutsch steht an dritter Stelle. Italienisch wird von Leibniz selten eingesetzt, häufiger von Korrespondenten; sporadisch schreiben diese auch auf Englisch oder Niederländisch. Sprachwechsel innerhalb einer Korrespondenz oder eines Briefes (die appellative Funktion haben können) sind nicht selten (vgl. Utermöhlen 1977, 95–97). Die überlieferten Briefe datieren von 1663 bis zu Leibniz’ Tod 1716. Die Korrespondenz entwickelt sich von kleinen Anfängen bis zum Höhepunkt von knapp 200 Korrespondenten pro Jahr um 1700. Anders als von Gerber vermutet dürfte sie in Leibniz’ letztem Lebensjahrzehnt nicht erheblich zurückgegangen sein (vgl. Gädeke 2016a). Die Korrespondenz gilt als Leibniz’ Tor zur Welt aus der Abgeschiedenheit Hannovers. In der Tat hatte er Briefpartner von Schweden bis nach Italien, von den britischen Inseln über West- und Mitteleuropa bis nach Russland, darüber hinaus nach China. An der Spitze der Korrespondentenorte stehen Hannover, Berlin, Paris, London und Wien. Nach Aufenthalten in den Metropolen ist ein deutlicher Anstieg festzustellen: Gelehrte Gespräche fanden Fortsetzung in Briefen. Zu Recht trägt die Korrespondenz das Etikett ‚europäisch‘, doch ist nicht außer Acht zu lassen, dass der personelle Schwerpunkt seit Leibniz’ Anfängen in Hannover immer in Braunschweig-Lüneburg lag (vgl. Gädeke 2009, 31–34). Leibniz’ Korrespondenz ist als „integraler Bestandteil seines Werkes“ (Utermöhlen 1977, 90) bezeichnet worden. In den Briefwechseln spiegeln sich Diskurse und Strategien, die nicht selten auch in die Schriften (gelehrte wie handlungsori-

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entierte) eingegangen sind. Insbesondere Leibniz’ Bild als Philosoph und Mathematiker resultiert wesentlich aus Briefdiskursen. In der großen Themenvielfalt des Corpus (vgl. die Einleitungen der Akademie-Ausgabe) sind praktisch alle Gebiete des damaligen Wissens vertreten: Philosophie, Mathematik, Astronomie, Naturwissenschaften, Theologie, Jurisprudenz, Politik und Ökonomie, Geologie und Technik, die Historie und ihre Hilfswissenschaften, Sprachwissenschaft, Ethnographie und Archäologie, Musiktheorie, zudem Wissenschaftsorganisation, Buchmarkt, Zeitschriften- und Bibliothekswesen, die Förderung des interkonfessionellen Ausgleichs und des Gemeinwohls, Erörterungen zur politischen Lage Europas, der politische Aufstieg des Hauses Hannover. Neben diskurs- oder strategieorientierten Briefen steht die große Gruppe der nachrichtenorientierten: mit nova literaria aus der gelehrten Welt, über Neuerscheinungen, Projekte, Kontroversen, Personalia oder zu Naturphänomenen, Reiseberichten, Entdeckungen, Erfindungen, aber auch mit Informationen zum Geschehen an den europäischen Höfen und zur Tagespolitik. Leibniz hatte bald nach Dienstantritt in Hannover seinem Herzog seine „connoissances, correspondances et curiositez“ als besondere Qualifikation präsentiert (Gädeke 2009, 37). Die Bedeutung der Korrespondenz als Umschlagort von Information für den Gelehrten, Hofmann, Wissenschaftsorganisator Leibniz ist nicht zu unterschätzen. Sie ist Vorstufe einer Informationsgewinnung, wie er sie systematischer für wissenschaftliche Sozietäten plante. Aufgrund der hohen Überlieferungsdichte lässt sich in vielen Fällen quer durch die Briefwechsel verfolgen, wie eingehende Informationen eingesetzt und weitergegeben werden, an wen (und an wen nicht). Längst nicht alle Korrespondenzen sind als gelehrt zu bezeichnen. Jedoch wäre eine Abgrenzung innerhalb des Briefwerks schwierig. Es gibt eine breite Grauzone von Stücken, die neben Leibniz’ Oszillieren zwischen der gelehrten und der höfischen Welt Hintergrund und Praxis des Korrespondierens beleuchten; etwa wenn nicht-gelehrte Assistenzpersonen bei der gelehrten Kommunikation in Erscheinung treten oder wenn gelehrte Kontakte als Camouflage für politische Zwecke eingesetzt werden.

3 Spezifik der Textsorte Brief Briefen kommt in erster Linie die Funktion zu, räumliche Abwesenheit zu überwinden. Manchem Korrespondenten ist Leibniz nie persönlich begegnet; allein brieflich bestand Kontakt. Daneben stehen Beziehungen, in denen Briefe sich mit dem Gespräch abwechseln, dieses bei temporärer Abwesenheit ersetzen oder auch in Anwesenheit des Partners fixieren. Auch gibt es Stücke, die sich an

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einen Adressaten in räumlicher Nähe wenden, insbesondere aus dem amtlichhöfischen Bereich. Die Briefreihen der Akademie-Ausgabe bringen alles, was an ein bestimmtes Gegenüber gerichtet ist; neben Stücken mit brieftypischen Formalia wie Anrede, Courtoisie und Unterschrift auch beigelegte, in den Briefdiskurs einbezogene Texte („Beilagen“), oder Gesprächsaufzeichnungen, Verträge, Quittungen, Promemorien. Tendenziell nicht in die Briefreihen aufgenommen sind Abhandlungen, die die Briefform fingieren, sowie als „Epistolae“ firmierende Texte, die von vornherein für den Druck verfasst wurden. Aber auch Leibniz-Briefe an individuelle Adressaten konnten (zeittypisch) Zweitverwertung in einem Journal finden. Dies führt zur Frage nach Brief und Öffentlichkeit: „Die verschiedenen Facetten der relativen Publizität, der die Briefwechsel der Gelehrten unterlagen, lassen sich geradezu exemplarisch an Leibnizens Korrespondenzen beobachten“ (Waldhoff 2016, 226). Wohl kann man seine verärgerte Reaktion bei unautorisiertem Druck finden. Aber dass ein Brief nicht nur postalisch durch mehrere Hände gehen, sondern auch von mehreren Personen gelesen (und kommentiert) werden konnte, entsprach den Gepflogenheiten der Zeit und wurde auch von Leibniz praktiziert. Die Gelehrtenrepublik war ein großer Umschlagplatz für Postsendungen; Briefe an verschiedene Empfänger wurden gemeinsam verschickt und unterwegs verteilt (vgl. Dibon 1976, 38, 41). So fungierte Leibniz gegenüber Adressaten an abgelegenen Orten als Relaisstation; er wiederum bediente sich gern der Hofpost. Dabei blieben die Briefe nicht selten unversiegelt und standen Dritten zur Lektüre offen (was sich auf die Formulierung auswirkt). Manche richteten sich von vornherein an einen Mittelsmann, zur Weitergabe („FürStück“). Schließlich sind unter den Beilagen nicht nur Texte nicht-brieflichen Charakters, sondern auch Briefe Dritter, die Leibniz zugänglich gemacht wurden („DrittStück“). Auch seine eigenen Schreiben wurden abschriftlich weitergereicht. Für die sich hier jenseits des Buchmarkts abzeichnende Teil-Öffentlichkeit hat Waldhoff (2016, 221) den Ausdruck „latente Öffentlichkeit“ eingebracht. Dass Briefautoren um 1700 mit der Möglichkeit rechnen mussten, dass ihr Text nicht nur vom eigentlichen Adressaten gelesen würde, beleuchtet der – auch von Leibniz praktizierte – Einsatz einer bürokratischen Technik zur Herstellung von Exklusivität einer Nachricht: das ‚unechte Postscriptum‘ (vgl. Waldhoff 2016, 256). Dabei handelt es sich um ein P. S. nicht im Sinne eines Nachtrags, sondern als Mitteilung auf separatem Blatt, das mit der materiellen Trennung vom eigentlichen Brief bereits formal die Bitte um Diskretion signalisiert. Für-Stücke, bei denen der dialogische Akt des Briefeschreibens intendiert ausgeweitet wird, verweisen auf einen weiteren Aspekt. Diese Stücke beziehen nicht nur postalisch und informativ eine weitere Person ein, sie können auch die Botschaft einer Vermittlung transportieren – in asymmetrischen Beziehun-

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gen oder in Konflikten (vgl. Kühn 2011, 233–239). Hierher gehört auch das Korrespondieren-Lassen, ebenfalls häufiger in asymmetrischen Beziehungen oder Kontroversen zu finden. So treten Leibniz und Newton in ihrem Prioritätsstreit um den Infinitesimalkalkül weniger selbst gegeneinander an als ihre jeweiligen Anhänger: beide Seiten führen ihre Kohorten ins Feld. Schließlich ist auf eine Textform hinzuweisen, die durch die Leibniz-typische Konzeptüberlieferung in Erscheinung tritt: das „Als-Stück“, bei dem Leibniz quasi als ‚Ghostwriter‘ für den expliziten (in der Abfertigung als solcher auftretenden) Absender fungiert.

4 Ist die Korrespondenz spezifisch oder ­symptomatisch für die Zeit? Ausdehnung des Korrespondentennetzes, Briefzahl, thematische Vielfalt, Reflexionsniveau vermitteln hier zunächst den Eindruck des Außergewöhnlichen. Er ist berechtigt; dennoch muss relativierend die Überlieferungssituation ins Spiel gebracht werden. Die große Zahl von Korrespondenten und Briefen resultiert auch daraus, dass beim Nachlass zuvor keine Redaktion stattgefunden hatte. Auch verstärkt die hohe Überlieferungsdichte den Eindruck des Singulären – im Vergleich zu manch anderer Gelehrtenkorrespondenz, von deren einstigem Umfang jetzt nur eine Fama zeugt. Dennoch: Leibniz war ein ausgesprochen aktiver Briefschreiber (für manche Tage sind mehr als fünf von ihm verfasste Briefe überliefert); er hat sein weit gespanntes Korrespondentennetz von den frühen Erwachsenenjahren an systematisch aufgebaut und lebenslang ständig erweitert; eine Liste seiner Briefpartner liest sich wie ein Who’s who der Gelehrten seiner Zeit (mit ein paar prominenten Ausnahmen wie John Locke). Symptomatisch ist das Gewicht, das auf dem Austausch von Briefen innerhalb der Gelehrtenrepublik liegt, für die Briefwechsel geradezu konstitutiv sind (vgl. Stegeman 2005, 170). Leibniz nimmt hier als Korrespondent einen zentralen Platz ein. Für die Gelehrtenrepublik wird die Edition seines Briefcorpus damit generell zum Quellenwerk; für Korrespondenten aus ihrer ‚zweiten Reihe‘ ist die Akademie-Ausgabe mitunter das einzige Forum der Präsentation. Unter den Themen können private Nachrichten sein, aber in erster Linie geht es um den Fortschritt der Wissenschaften. Etwa um Huygens’ oder Newtons physikalische Theorien, um Bayles Dictionnaire, um die Auseinandersetzung mit dem Cartesianismus, um genealogische oder chronologische Fragen, historische Quellenarbeit, archäologische Funde, Editions- und andere Publikationsvorhaben: all

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das findet Eingang in Leibniz’ Korrespondenz und in die vieler anderer citoyens. Kommentare zu einem Thema können aus kleinen, thematisch bestimmten Clustern kommen (so zur neuen Mathematik, zu astronomisch-kalendarischen Fragen, zur Dynamik, zur Sprachwissenschaft, zu antiquaristischen Themen); nicht selten ergibt sich aber der Eindruck eines vielstimmigen Chores. In der Fülle der Themen, insbesondere der nicht nur referierten, sondern auch kritisch diskutierten, dürfte die Leibniz-Korrespondenz, auch in diesem polyhistorischen Zeitalter, einzigartig sein. In der Kommunikation von Nachrichten kann man ein Ideal der Gelehrtenrepublik verwirklicht sehen: die générosité. Leibniz’ Korrespondenz ist voller Beispiele der Nachrichtenweitergabe und der gegenseitigen gelehrten Hilfe. Manche Themen sind jedoch selektiv behandelt (vgl. Gädeke 2005, 295–296). Die strategische Weitergabe von Nachrichten zeigt sich vor allem bei der Kommentierung von Kontroversen und dort, wo Korrespondenz Publikationspolitik ist (vgl. Wahl 2012). Aber auch dann, wenn eine Information das Gemeinwohl betrifft: so werden Nachrichten über eine Entdeckung oder Erfindung eher an einen Hof oder eine Akademie als an andere Gelehrte weitergegeben. Auch Neuigkeiten zur Heilkunde, zur Technik, zu Bodenschätzen hatten einen besonderen Nachrichtenwert. Höfische Position und Kontakte zu Akademien boten Leibniz die Möglichkeit, eine solche Nachricht dort einzubringen, wo Ressourcen zur praktischen Umsetzung eher vorhanden waren als in der gelehrten Welt. Zudem ließ sich damit der höfische Hunger nach Außergewöhnlichem befriedigen, die Qualität des Informanten unter Beweis stellen. Leibniz hebt sich von manch anderem Gelehrten dadurch ab, dass sich bei ihm gelehrte und höfisch-administrative Korrespondenz überschneiden. Aber er ist darin kein Einzelfall. Die Gelehrtenrepublik mochte in ihrer idealen Beschreibung eine ‚Gegenwelt‘ zur Welt der Höfe sein. In der Realität war sie vielfach damit verbunden; allein schon aufgrund von deren Ressourcen für Patronage, an der auch Gelehrte partizipierten (vgl. Stegeman 2005, 9). Leibniz ist nicht der einzige citoyen, der eine höfische Position innehatte (vgl. Dibon 1976, 42). Seine dienstlichen Pflichten zu Hannover (und Wolfenbüttel) galten vor allem der Haushistoriographie und der Bibliotheksleitung; diese hat er transzendiert in Richtung einer informellen Rolle des aus einem reichen Fundus an Information schöpfenden Gesprächspartners von Fürsten und Fürstinnen. Die Korrespondenz diente ihm dabei als Arsenal. Es ist gerade das Changieren zwischen dem Gelehrten und dem Hofmann, was ihm jenseits seiner eigentlichen Charge symbolisches Kapital verschafft; an Höfen und, von dort zurückwirkend, in der Gelehrtenwelt. Erst ansatzweise erkennbar wird der Einsatz des Gelehrtenhabitus im Dienste der höfischen Diplomatie, das ‚Inszenierungspotential‘ gelehrter Korrespondenz zur informellen Vermittlung politischer Botschaften. Leibniz’ Agieren war hier von

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der besonderen Situation Hannovers im Vorfeld der englischen Sukzession mitbestimmt; ein solcher Einsatz ist inzwischen aber auch andernorts beobachtet worden. Schließlich begünstigte die höfische Position den Umfang von Leibniz’ Korrespondenz: durch die Teilhabe an der Hofpost waren bei ihm die Portokosten reduziert – und damit eine Belastung, die der Korrespondenz anderer Gelehrter Grenzen auferlegte (vgl. Bots 2005, 19).

5 Korrespondenz und Briefkultur Die Zeit des Barock und der frühen Aufklärung ist eine Hoch-Zeit gelehrter Briefkultur. Mit Ausnahme der iberischen Halbinsel ist ‚ganz Europa‘ einbezogen in das Netzwerk Gelehrtenrepublik; mit Zentren in England, Frankreich, den Generalstaaten, den italienischen Fürstentümern, mit dem Deutschen Reich und der Schweiz, mit Schweden und Russland (die sich hier erst im Laufe des 17.  Jahrhunderts einfinden, aber rasch sehr präsent sind). Die bereits im Humanismus vor allem als Briefkultur in Erscheinung tretende res publica litteraria erhält im 17. Jahrhundert – in einer Epoche, in der tradierte gegen neue Denkmuster stehen, neue Methoden und Untersuchungsfelder sich auftun, Wissen explosionsartig anwächst – eine neue Orientierung. Die zunehmende Komplexität übersteigt die Möglichkeiten des Einzelnen und erfordert Organisation und Kommunikation (vgl. Gierl 2009). Mit dem Austausch von Nachrichten, mit der Weitergabe von Anfragen, mit der kritischen Diskussion veröffentlichter Schriften und unveröffentlichter Thesen in kleineren Clustern ist die Korrespondenz Leitmedium und Laboratorium des gelehrten Austauschs; sekundiert (aber noch nicht abgelöst) von in zunehmendem Maße erscheinenden Zeitschriften, durch die die Veröffentlichung der Information noch einmal eine andere Dimension erhält. Mit seinem bekannten Diktum, er pflege mehr in Briefen als in gedruckten Schriften zu sagen (vgl. Utermöhlen 1977, 90), hat Leibniz zum Ausdruck gebracht, dass dieses Forum für ihn das eigentliche sei, eher als der Buchmarkt. Er steht damit nicht allein; die Teil-Öffentlichkeit der Korrespondenz galt (noch) nicht als defizitär. Nach ihrer Selbstbeschreibung steht die Gelehrtenrepublik unter dem Gesetz der Gleichheit, in der Realität gibt es Hierarchien (vgl. Stegeman 2005, 8–9). Leibniz’ Briefwerk spiegelt Normen und formale Regeln, denen gelehrte Korrespondenz unterliegt (wie eine Rhetorik der Freundschaft, die Formalia der Aufnahme und Fortführung eines Briefwechsels, die Regelung von Konflikten). In seiner hohen Überlieferungsdichte lässt es neben Beziehungen auf Augenhöhe auch solche erkennen, die asymmetrisch sind (vgl. Gädeke 2009). Auch in diesen

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kann ein Anschein von Gleichrangigkeit (etwa in der Anrede) gewahrt sein – die Form des Umgangs wird durch die Norm bestimmt, aber Inhalt und Korrespondenzstruktur lassen ein Gefälle erkennen. Zu den ungeschriebenen Gesetzen der communicatio gehört ein „do ut des“ (Stegeman 2005, 170–173) im Umgang mit Information; Grundlage für die Nachrichtenfülle unzähliger Gelehrtenbriefe. Bei Leibniz gibt es zahlreiche Beispiele für diesen Gabentausch – aber auch für bloß einseitigen Informationsfluss. Sofern die Überlieferungslage Schlüsse erlaubt, kann dies ein Indikator für eine asymmetrische Beziehung sein; die einseitige briefliche Information erscheint als Gabe eines ‚Klienten‘, der vom ‚Patron‘ Leibniz den Einsatz von dessen Ressourcen (insbesondere der Hofnähe) erhofft (vgl. Gädeke 2009, 41–43; zur gelehrten Patronage vgl. Stegeman 2005). Auch zur Gelehrtenrepublik gehört der Konflikt. So wird sie von den europäischen Kriegen um 1700 tangiert, etwa bei der Briefbeförderung: Während des Spanischen Erbfolgekriegs ist Postverkehr zwischen den kriegführenden Seiten zeitweise untersagt. Auch Leibniz’ Frankreich-Korrespondenz ist damals reduziert. Aber von beiden Seiten wird manchmal über Umwege versucht, die Kommunikation dennoch fortzusetzen: Die Idee der supraterritorialen Gemeinschaft ist stärker als die politische Realität (Ähnliches gilt für die konfessionellen Schranken). In Kühns Untersuchung zur gelehrten Streitkultur wird unter den vielfältigen, oft ritualisierten Austragungsmöglichkeiten auch die Korrespondenz ausgemacht, die gegenüber dem öffentlichen Austragen einen deeskalierenden Effekt haben konnte, wie an der vis viva-Kontroverse zwischen Leibniz und Papin demonstriert wird (vgl. Kühn 2011, 231–242). Anders als agonal bestimmte Auseinandersetzungen in einem Journal schufen Briefe „durch Gesten der Gabe, des Vertrauens und der Höflichkeit einen nahezu freundschaftlichen Rahmen, der die Beziehung […] auf eine andere Basis als allein der Auseinandersetzung zu stellen vermochte“ (Kühn 2011, 237).

6 Aspekte der Rezeption, bisherige Forschung Rezeption und Forschung sind gemeinsam zu behandeln. Zwar ist zwischen Leibniz-Bildern und der eigentlichen Leibniz-Forschung zu unterscheiden, doch stellt man Parallelen und Wechselwirkungen fest. Einen kurzen Überblick über die Erforschung von Leibniz’ Korrespondenz zu geben ist unmöglich. In der LeibnizBibliographie findet man unter dem Schlagwort „Leibniz’ Briefwechsel“ zurzeit über 800 Titel (hinzuzuziehen wäre auch „Leibniz und andere Denker“). Sehr lange konzentrierte sich das Interesse auf Kernsätze der philosophischen Korres-

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pondenzen. Lodge (2006, 2) stellte dem seinen Sammelband mit der Fokussierung „on the correspondence as a whole“ gegenüber. Auch zu einzelnen nicht-philosophischen Briefwechseln liegen derartige Untersuchungen vor. Weitere Beiträge liefern die Einleitungen neuer Editionen von Einzelkorrespondenzen. Untersuchungen, die das Briefwerk insgesamt in den Blick nehmen, sind nach wie vor rar (vgl. Gerber 1966; Utermöhlen 1977; Gädeke 2005). Im Unterschied dazu war Leibniz’ Bild immer zentral von der Korrespondenz bestimmt; dabei werden Umfang, Ausdehnung und thematische Vielfalt hervorgehoben oder besondere Korrespondentengruppen (etwa Fürstinnen oder gelehrte Frauen; vgl. Utermöhlen 1987). Das setzte bereits zu Leibniz’ Lebzeiten ein, als von den Briefen noch kaum etwas im Druck vorlag. Schon den Zeitgenossen war bekannt, dass die Korrespondenz von großem Umfang war, dass sie mit Gelehrten und mit Angehörigen von Fürstenhäusern geführt wurde. Korrespondieren wird geradezu als Charakteristikum von Leibniz’ Leben angesehen (vgl. Gädeke 2005, 263–264), gelegentlich (als zeitraubend) negativ konnotiert. Schon in den frühen Editionen überwiegt die positive Beurteilung (als Spiegelung von Leibniz’ Universalität). Aber noch heute wird diese Teil-Öffentlichkeit mitunter als defizitär gegenüber dem Buchmarkt angesehen. Im Zuge einer sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Beurteilung von Leibniz’ höfischer Existenz erscheint die Korrespondenz mit der gelehrten Welt und den geistreichen Fürstinnen in Hannover, Berlin und London als Gegengewicht zu den hannoverschen Pflichten, dem Unverständnis von Dienstherrn und Administration, die dem Genie Fesseln angelegt haben. Dieser etablierte Antagonismus wurde erst in den letzten Jahren gelegentlich relativiert. Die Gelehrtenrepublik ist in Leibniz-Bild und -Forschung gleichermaßen präsent. Seit sie zentrales Thema der Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit ist, wird Leibniz gern als einer ihrer Protagonisten evoziert; dabei wird die Korrespondenz hervorgehoben. Häufig bleibt es bei dem Etikett; eine Ausnahmeerscheinung ist die biobibliographische Untersuchung Robinets (1988) zu Leibniz’ gelehrten Kontakten während seiner Italienreise. Die Feststellung Stegemans (2005, 2–3), traditionell habe sich die Wissenschaftsgeschichte eher auf die „princes“ der Gelehrtenrepublik konzentriert als auf die „rules and conventions by scholars in respect of each other and their work“, gilt auch für Leibniz. Jedoch hat die seit einiger Zeit zu beobachtende Inter­ essenverschiebung von einer idealisierten, Codes referierenden Beschreibung gelehrter Kommunikation zu deren Praxis bereits zu Einzelstudien geführt, in denen die Akademie-Ausgabe für Untersuchungen zu Leibniz jenseits dieser Etikettierung ausgewertet wird (vgl. Gädeke 2009; Wahl 2012). Wenn als Charakteristikum für Leibniz’ Denken eine dialogische Orientierung betont wird (vgl. Dascal 2006, XX), so resultiert das auch aus dem Brief-

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werk. Aus der gelehrten Korrespondenz sind vor allem die großen philosophischen und mathematischen Diskurse rezipiert worden. Für die Mathematik sei trotz minimalem direkten Austausch der Prioritätsstreit mit Newton erwähnt, der nicht nur Leibniz’ Bild mitbestimmt hat, sondern auch die Rezeption seiner Korrespondenz mit der Royal Society, oder Leibniz’ Entwicklung eines binären Zahlensystems, die sich im Briefdialog mit dem China-Missionar Bouvet ausweitet. Eine Dominanz von Philosophie und Mathematik in der Wahrnehmung der Korrespondenz spiegelt auch die Akademie-Ausgabe. Beide Felder nehmen jeweils eine Briefreihe (II bzw. III) ein. Alles andere, der (mitunter unspezifische) Rest, ist Reihe I zugewiesen. Diese (umfangreichste) Briefreihe stand lange im Schatten (vgl. Gädeke 2016b). Nur gelegentlich trat sie mit einzelnen philosophisch oder mathematisch relevanten Briefen hervor, wie sie Leibniz mit Fürstinnen oder mit den Herausgebern von Zeitschriften gewechselt hat  – oder mit speziellen Korrespondentengruppen, wie den jesuitischen China-Missionaren. Wenn Reihe I inzwischen auch jenseits von Philosophie und Mathematik Interesse findet, dann vor allem dort, wo ihre Nachrichtenfülle im Fokus steht. Die diskursanalytische Studie Rolls (2015) zur Russland-Thematik weist einen Weg, wie Auswertungen hier künftig vorgenommen werden könnten.

7 Perspektiven Das Voranschreiten der Akademie-Ausgabe, deren Briefreihen soeben Leibniz’ letztes Lebensjahrzehnt erreichen, eröffnet neue Perspektiven. Die großen philosophischen, mathematischen, höfischen Briefwechsel, längst Gegenstand der Forschung, erhalten durch zeitnahe Stücke aus anderen Korrespondenzen Hintergrund und Kontextualisierung. Bereiche wie die Historie, erst jetzt editorisch zunehmend erschlossen, treten stärker in den Blick. Nach Abschluss der Briefreihen wird für quantifizierende Untersuchungen eine solide Basis vorliegen, unterstützt durch die Personen- und Korrespondenz-Datenbank. Kontextualisierung ermöglicht auch die wachsende Zahl von Briefeditionen zu Leibniz’ Zeitgenossen oder von Briefdatenbanken wie EMLO. Schon jetzt kann die Akademie-Ausgabe zur Kommentierung zunehmend auch auf Briefe außerhalb ihres eigenen Materials zurückgreifen. Der epistolarische Austausch lässt sich mitunter bis in Details nachverfolgen; dadurch wird die Gelehrtenrepublik konkret. Für Briefnetz-Vergleiche zwischen Leibniz und seinen Zeitgenossen liegt eine Basis vor, die zunehmend auszubauen wäre. Visualisierungen von Korrespondenzbeziehungen wären einzubeziehen.

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Mit seiner hohen Überlieferungsdichte ist das Briefwerk nicht nur Träger inhaltlicher Überlieferung, sondern auch aufschlussreich für den Akt des Korrespondierens. Nimmt man hier weniger den Universalgelehrten als die Spiegelung sozialer Praktiken in den Blick, so öffnet sich ein weites, noch kaum bearbeitetes Feld. Orientierung könnte die exemplarische Arbeit Stegemans bieten, die an einem Fallbeispiel die Normen der Gelehrtenrepublik einem sozialen Praxistest unterzog. Breiter angelegte Untersuchungen der Korrespondenz auf sich darin spiegelnde soziale Beziehungen könnten dazu beitragen, Leibniz’ Position in der Gelehrtenrepublik differenzierter zu erfassen. Ebenfalls am Anfang steht die Untersuchung brieflicher Inszenierung (auch formal-sprachlicher Fragen, zur Briefrhetorik wie zum literarischen Aspekt)  – etwa in Bezug auf bestimmte Adressatengruppen oder strategische Ziele.

Zitierte Literatur Bots, Hans (2005). „Introduction“, in: Les grands intermédiaires culturels de la république des lettres. Études de réseaux de correspondances du XVIe au XVIIIe siècles. Hg. v. Christiane Berkvens-Stevelinck, dems.  u. Jens Häseler. Paris: 9–24. Dascal, Marcelo (2006). G. W. Leibniz: The Art of Controversies. Dordrecht. Dibon, Paul (1976). „Les Échanges Épistolaires dans l’Europe savante du XVIIe siècle“, in: Revue de Synthese, 97: 31–50. Gädeke, Nora (2005). „Gottfried Wilhelm Leibniz“, in: Les grands intermédiaires culturels de la république des lettres. Études de réseaux de correspondances du XVIe au XVIIIe siècles. Hg. v. Christiane Berkvens-Stevelinck, Hans Bots u. Jens Häseler. Paris: 257–306. Gädeke, Nora (2009). „Leibniz lässt sich informieren – Asymmetrien in seinen Korrespondenzbeziehungen“, in: Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Klaus-Dieter Herbst u. Stefan Kratochwil. Frankfurt a. M. u.  a.: 25–46. Gädeke, Nora (2016a). „Leibnizʼ Korrespondenz im letzten Lebensjahr – Gerber reconsidered“, in: 1716 – Leibnizʼ letztes Lebensjahr. Unbekanntes zu einem bekannten Universalgenie. Hg. v. Michael Kempe. Hannover: 83–109. Gädeke, Nora (2016b). „Au-delà de la philosophie. Lʼédition de la Correspondance générale, politique et historique de Leibniz“, in: Comment (ne pas) être Leibnizien. Éditions et réception de Leibniz après 1716. Hg. v. Michel Fichant u. Arnaud Pelletier. Les Études Philosophiques, 164.4: 577–595. Gerber, Georg (1966). „Leibniz und seine Korrespondenz“, in: Leibniz. Sein Leben – sein Wirken – seine Welt. Hg. v. Wilhelm Totok u. Carl Haase. Hannover: 141–171. Gierl, Martin (2009). „Res publica litteraria – Kommunikation, Institution, Information, Organisation und Takt“, in: Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Klaus-Dieter Herbst u Stefan Kratochwil. Frankfurt a. M. u.  a.: 241–252. Kliege-Biller, Herma, Stephan Meier-Oeser u. Stephan Waldhoff (2016). „Einen barocken Universalgelehrten edieren: Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 64.6: 951–977.

4.14 Gelehrtenkorrespondenzen der frühen Aufklärung: Gottfried Wilhelm Leibniz 

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Online-Quellen Arbeitskatalog der Leibniz-Edition: http://mdb.lsp.uni-hannover.de (29.5.2019). Early Modern Letters Online (EMLO): http://emlo.bodleian.ox.ac.uk/ (29.5.2019). Leibniz-Bibliographie: http://www.leibniz-bibliographie.de (29.5.2019). Personen- und Korrespondenz-Datenbank zur Leibniz-Edition: https://leibniz.uni-goettingen.de (29.5.2019).

Isabelle Stauffer

4.15 Galanter Brief Der galante Brief kommt aus Frankreich: Eine Reihe von Autor*innen haben über ihn reflektiert und berühmte Beispiele gestaltet: Guez de Balzac, Vincent Voiture, Madeleine de Scudéry – insbesondere in ihren Romanen Le Grand Cyrus (1653), Clélie, histoire romaine (1655) und ihren Conversations (1680/1684) –, René Le Pays mit Amitiez, Amours et Amourettes (1664) und Bernard Le Bovier de Fontenelle in den Lettres galantes de Monsieur le Chevalier d’Her*** (1683/1687). Am wichtigsten für den deutschen galanten Brief sind Scudéry, Le Pays und Fontenelle. Einfluss haben auch Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus Versepisteln. In Deutschland nimmt Aurora von Königsmarck mit ihren französischen galanten Briefen „eine Sonderstellung“ (Kraft 2015a, 71) ein. Den galanten Brief in deutscher Sprache propagierten August Bohse (unter dem Pseudonym Talander), Christian Friedrich Hunold (Menantes) und Johann Leonhard Rost (Meletaon) in ihren Briefstellern, Musterbriefsammlungen und Romanen. Manche davon waren Übersetzungen aus dem Französischen, andere Originalwerke. Benjamin Neukirch mit seiner Anweisung zu Teutschen Briefen (1709) wurde in Deutschland zum einflussreichsten Theoretiker des galanten Briefes, aber auch Christian Thomasius reflektierte die galante Briefkunst in seinen Monatsgesprächen (1688/89). Mit dem Erscheinen von Christian Fürchtegott Gellerts epistolographischen Schriften (1742/1751) wird üblicherweise der Schlusspunkt unter die galante Briefkultur gesetzt. Die galanten Briefsteller markieren jedoch einen Wendepunkt in der Geschichte der Epistolographie, da sie schon einiges von Gellerts Postulaten vorwegnehmen. Ohne sie wäre Gellerts Brieflehre nicht denkbar. Gellerts Schriften wiederum leiten von der galanten zur empfindsamen Briefkunst über. Es ist ein allmählicher Übergang, in Eva Königs Briefen an Gotthold Ephraim Lessing sind z.  B. noch Elemente des galanten Briefs auszumachen.

1 Übersetzungs- und Editionsgeschichte Die Rezeption von Madeleine de Scudérys galanter Brieftheorie und Briefen setzte in Deutschland schon früh ein. Im Kontext der zwei barocken Sprachgesellschaften, Fruchtbringende Gesellschaft und Pegnesischer Blumenorden, wurden zwischen 1664 und 1695 viele ihrer Werke übersetzt (vgl. Stauffer 2018, 41–44). René Le Pays’ Briefe galten als so vorbildlich, dass sie Christoph Gottlieb Wend (unter dem Pseudonym Selimantes) 1729 ins Deutsche übersetzte. Fontenelles Briefe übertrug 1738 Wolf Balthasar Adolph von Steinwehr ins Deutsche. https://doi.org/10.1515/9783110376531-062

4.15 Galanter Brief 

 813

Einige der Versepisteln von Hoffmannswaldau eröffnen Benjamin Neukirchs Anthologie galanter Gedichte von 1697 (vgl. Borgstedt 2001, 14). Einzelne Briefe von Aurora von Königsmarck im französischen Original und in deutscher Übersetzung wurden zwischen 1836 und 1921 verstreut publiziert (vgl. Kraft 2015b, 343–344). Ein deutscher Brief wurde 1999 von Stephan Kraft gedruckt (vgl. Kraft 1999, 324–325). August Bohse publizierte von 1683 bis 1715 Romane mit galanten Briefen und Briefsteller, die noch bis 1742 kontinuierlich neu aufgelegt wurden. Bohses Briefsteller Epistolisches Hand-Buch (1697) erreichte 22 Auflagen. Christian Friedrich Hunold publizierte zwischen 1700 und 1717 auch Romane mit galanten Briefen und Briefsteller, die bis 1755 wiederaufgelegt wurden. Hunolds Briefsteller Die Allerneueste Art Höflich und Galant zu Schreiben (1702) erreichte 19 Auflagen. Johann Leonhard Rost publizierte von 1708 bis 1727 ebenfalls Romane mit galanten Briefen und Briefsteller, diese wurden bis 1752 neu aufgelegt. Benjamin Neukirchs Anweisung zu Teutschen Briefen erschien zwischen 1707 und 1760 in elf Auflagen. Eva Königs Briefe sind 1789 erstmals erschienen. Mit den hohen Auflagenfolgen und der doppelten Präsenz galanter Briefe in Briefstellern und Romanen haben die Anleitungen zur Briefschreibkunst dieser Autor*innen eine Breitenwirkung erzielt, von der andere Briefsteller-Autor*innen nur träumen konnten. Dagegen erlebte Gellerts Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen (1751) im 18. Jahrhundert nur neun Auflagen (vgl. Beetz 1990, 106–107; Furger 2010, 30). Vom Ende des 18. Jahrhunderts an klafft rezeptionsgeschichtlich jedoch eine Lücke, die erst mit der Wiederentdeckung und den Editionen galanter Texte ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts geschlossen wird.

2 Briefstil Der galante Brief steht für einen grundlegenden Umbruch in der Geschichte des Briefes: Der Stil wird literarischer, Stand und Geschlecht von Schreibenden und Rezipierenden verändern sich. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lässt sich eine Veränderung der Briefsprache von einer zeremoniell-formelhaften zu einer freier und natürlicher wirkenden Ausdrucksweise feststellen. Diese Veränderung hatte wesentlich mit der Etablierung des galanten Schreibstils zu tun, der sich am Sprachgebrauch und den Umgangsformen der französischen Aristokratie orientierte (vgl. Furger 2010, 22, 42). Während die Sekretariatsbücher des 17. Jahrhunderts vor allem auf Beamte in staatlichen oder städtischen Diensten ausgerichtet waren, erweiterte sich gegen Ende des Jahrhunderts der Rezipientenkreis auf Personen aus der Nobilität sowie Angehörige des Bürgertums, wie reiche Kaufleute

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 4 16./17. Jahrhundert

und Gelehrte (vgl. Furger 2010, 82–83; Erwentraut 1999, 280–282). Insbesondere mit dem Aufkommen der galanten Briefsteller um die Wende zum 18. Jahrhundert rückten vermehrt gebildete Frauen aus dem Adel und dem Bürgertum als Schreiberinnen und Leserinnen von Briefen ins Zentrum der Brieflehre (vgl. Furger 2010, 85). Frauen sollten sich im Schreiben von galanten, Freundschafts- und Liebesbriefen üben – alles Briefsorten, denen ein ‚natürlicher‘ Schreibstil zugrunde lag. Dazu gehörte, das Dispositionsschema nicht mehr starr anzuwenden, sondern die Gedanken in einem natürlich wirkenden Ablauf zu formulieren (vgl. Furger 2010, 95, 157). Auch die in diesem Briefsteller dominante Kategorie der Liebesbriefe ist letztlich auf den Einfluss französischer Brieflehrbücher zurückzuführen, die diese Kategorie schon lange vor den deutschsprachigen Werken enthielten (vgl. Furger 2010, 41; Roseno 1933, 11). Der galante Schreibstil, die Autorschaft von Frauen – die nicht in Rhetorik und Kanzleistil ausgebildet waren – und die Art der Liebes- und Freundschaftsbriefe mindern die Formelhaftigkeit und erhöhen die Literarizität der Briefsteller. Zwischen den galanten Musterbriefen und den Briefeinlagen in galanten Romanen von Bohse, Hunold und Rost besteht kein wesentlicher Unterschied. So druckt Hunold schon in seinem ersten Briefsteller Die Allerneueste Art Höflich und Galant zu Schreiben (1702) Briefe aus seinen Romanen Verliebte und Galante Welt (1700) sowie Die liebenswürdige Adalie (1702) ab (vgl. Rose 2012, 199). Zudem wird in Briefstellern geschildert, dass galante Briefsammlungen oder Briefsteller wie Romane gelesen wurden (vgl. Bohse 1692, 451). Der galante Brief fingiert in besonders starker Weise Mündlichkeit. Für den Brief wurde seit den Anfängen der Brieftheorie eine besondere Nähe zur Mündlichkeit behauptet. Was diese Nähe genau bedeutet, muss jedoch angesichts des Wandels der Briefform und der Vorstellung von der Gestalt mündlicher Ausdrucksformen für jede Epoche neu bestimmt werden (vgl. Vellusig 2000, 26). Die Galanten betonen die Wechselbeziehung zwischen Schrift und Rede so nachdrücklich, dass bei ihnen sogar die beiden Begriffe ununterscheidbar werden. Dies ist jedoch nicht nur, wie Ulrich Wendland (1930, 65) meint, auf ihre Orientierung an der Rhetorik zurückzuführen, sondern auch auf die zentrale Funktion von performativen Elementen wie Mündlichkeit, Körperlichkeit, Inszenierung und Spiel für die Galanterie.

4.15 Galanter Brief 

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3 Madeleine de Scudéry, René Le Pays und Bernard le Bovier de Fontenelle Paradigmatisch für den französischen galanten Brief ist Madeleine de Scudérys Charakterisierung des galanten Briefes in ihrem Gespräch De la manière d’écrire des lettres. Diese conversation erschien erstmals 1655 in ihrem Roman Clélie, histoire romaine. Wiederaufgenommen wurde sie in modifizierter Form 1684 im zweiten Band der Conversations nouvelles sur divers sujets. Der Text verdeutlicht dadurch die komplexe Verflechtung von galantem Roman und Brieflehre (vgl. Denis 1998, 141–144). Scudérys Konversation enthält ein Gespräch zwischen drei Frauen und einem Mann über die Vorbildfunktion von Briefsammlungen sowie eine Definition galanter Briefe. Demgemäß können Musterbriefe zwar als Inspiration dienen, sind aber nicht zum simplen Abschreiben gedacht. In den galanten Briefen findet der Geist als innovative Intelligenz seinen Entfaltungsraum, die Vorstellungskraft darf spielen, man mischt angenehme ‚Verrücktheitenʻ mit ernsteren Dingen, scherzt geistreich, erfindet Dinge und geht von einem Gegenstand zum anderen über, ohne jeglichen Zwang. Man spricht über Freundschaft, als wäre es Liebe. In ihrer Zwanglosigkeit und Literarizität erinnern diese Briefe an eine Salonkonversation, nichts Einstudiertes und aus Büchern Gelerntes soll den Eindruck des Ungezwungenen, Natürlichen und zugleich Edlen stören (vgl. Scudéry 1998 [1684], 154). Scudérys Betonung von Innovation, Natürlichkeit und Zwanglosigkeit ist sehr weit vom rhetorischen Dispositionsschema entfernt. Die galante Briefsammlung Amitiez, Amours, et Amourettes (1664) war René Le Pays’ erstes Buch und ein großer Erfolg. Le Pays war von Jean-Louis Guez de Balzac, Vincent Voiture und Scudéry beeinflusst (vgl. Bayle 51740, 571–575; Malquori Fondi 1995, 259). Le Pays’ Briefsammlung, in der er seine galante Korrespondenz mit einer Dame namens Caliste präsentiert, fungiert als eine Art Prätext für Bohses Briefsteller Des Galanten Frauenzimmers Secretariat-Kunst (1692). Zudem legt einer von Bohses fiktiven Briefeschreibern seinem Brief ein übersetztes Streitgespräch zwischen Liebe und Vernunft bei, das Le Pays’ Briefesammlung entnommen ist. Le Pays figuriert auch bei Neukirch als Beispiel für jemanden, der galante Briefe geschrieben habe. Neukirch referiert ein Beispiel für einen galanten Liebesbrief aus Le Pays’ Amitiez, Amours, et Amourettes (vgl. Neukirch 1727, 219). Auch Christian Thomasius hat sich in seinen Monatsgesprächen mit Le Pays und Fontenelle auseinandergesetzt. Bernard le Bovier de Fontenelle war ein Vertreter der Modernes und Mitarbeiter des Mercure Galant (vgl. Peter 1999, 42). Seine Lettres diverses de M. le Chevallier d’Her*** sind 1683 und 1687 erschienen und gelten als die galantesten

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von Fontenelles Texten. Es handelt sich um ein Gattungshybrid, eine Mischung aus Briefsteller und Briefroman (vgl. Wagner 2009, 87, 90–91). In Christian Thomasiusʼ Monatsgesprächen lesen und diskutieren verschiedene fiktive Personen Le Pays’ und Fontenelles Briefe. So werden Fontenelle die interessanteren Erfindungen zugeschrieben, während Le Pays die bessere Schreibart habe (vgl. Thomasius 1972 [1688], I/5, 663–664). Auch wird darüber diskutiert, ob Le Pays aufgrund seiner Kunst des galanten Scherzens ein Satiriker sei.

4 Aurora von Königsmarck, Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, August Bohse, Christian Friedrich Hunold und Johann Leonhard Rost Aurora von Königsmarcks Briefe befinden sich noch nahe am französischen Grundmodell (vgl. Kraft 2015a, 71). Sie gelten als „protoypisch für eine vollendete Kommunikation in der galanten Zeit“ (Kraft 2015a, 70). So schreibt sie in ihren Briefen aus dem böhmischen Kurbad Töplitz (1698) an eine Gruppe von Damen galante Fragen, Scherze und Wendungen über das Baden in Gesellschaft (vgl. Königsmarck (1836 [1698]), 172–177). Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus Versepisteln stellen „eine galante Mustergattung“ (Borgstedt 2001, 14) dar. Mit der Aufwertung von Fiktionalität und erotischem Scherz bieten sie eine Grundlage für den unverbindlichen Spielcharakter, der die deutsche galante Dichtung auszeichnet (vgl. Borgstedt 2001, 28). August Bohse übernimmt als einer der ersten in der deutschen Brieflehre Scudérys Neuerungen auf dem Gebiet (vgl. Heinlein 1939, 15; Brewer 1983, 17). Unter dem Stilprinzip der Natürlichkeit versteht er natürlich wirkende Anmut und Leichtigkeit (vgl. Furger 2010, 167). Wie für Scudéry war für Bohse der Gesprächsstil eine Grundlage für den Briefstil (vgl. Nickisch 1969, 120). Dem freieren Abfassen von Briefen entsprach auch die offenere Imitation von Briefvorlagen, die nicht mehr einfach kopiert werden sollten (vgl. Furger 2010, 64–65). Bohses Des Galanten Frauenzimmers Secretariat-Kunst gehört zu den ersten deutschsprachigen Briefstellern, die ausdrücklich Frauen als Leserinnen und Verfasserinnen von Briefen ansprechen wollen (vgl. Furger 2010, 84; Nickisch 1990, 124). Frauenzimmers Secretariat-Kunst fehlt der für einen Briefsteller der Frühen Neuzeit übliche rhetorisch-theoretische Teil (vgl. Furger 2010, 12, 64; Anton 1995, 12). Bohses Musterbriefe orientieren sich auch nicht mehr am fünfgliedrigen

4.15 Galanter Brief 

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rhetorischen Dispositionsschema. Damit entsprechen sie dem allgemeinen Entrhetorisierungsprozess der Briefsteller vom Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts (vgl. Roseno 1933, 4). Viele Absender*innen und Adressat*innen von Bohses Musterbriefen tragen ungewöhnlicherweise Namen, die in der Briefüberschrift – welche Absender, Adressat sowie Zweck des Briefes enthält – und in der Schlussformel erscheinen. Wie im Laufe der Lektüre deutlich wird, handelt es sich dabei um sieben bis zehn Paare, die wiederholt miteinander Briefe wechseln. Zu den üblichen Briefarten, wie Einladungsbriefen, Gratulations- und Kondolenzschreiben, Abschieds- oder Verlobungsbriefen, kommen viele ‚Anwerbungs‘- und ‚Visitschreiben‘  – Schreiben zur Bekanntschaftsaufnahme und Besuchsersatzschreiben – von Frauen an Frauen hinzu. Ungewöhnlicherweise kommt auch ein ‚Anwerbungsschreiben‘ einer Frau an einen Mann vor. Diese neue weibliche Initiative scheint Widerstand gegen die Festlegung von Frauen auf das bloße Beantworten von Briefen zu zeigen, was der barocke Briefsteller-Autor Kaspar Stieler gegen Ende des 17. Jahrhunderts in einer Briefvorlage beklagte (vgl. Furger 2010, 73). Der von ihm erwähnte Widerstand scheint so erfolgreich gewesen zu sein, dass er in Hunolds Lettres Choisies (1714) zu weiteren Mustern für „Anwerbungsschreiben“ von weiblicher Seite geführt hat (vgl. Rose 2012, 81). Bohses Frauenzimmers Secretariat-Kunst lässt an einen polyphonen Briefroman im Sinne von Samuel Richardsons Pamela (1741) oder Clarissa (1748) denken. Richardsons Pamela war ursprünglich als Briefsteller konzipiert worden (vgl. Furger 2010, 79). In Frankreich zeigen noch vor Bohses Briefsteller Le roman des lettres (1667) von François-Hédelin d’Aubignac, die Lettres portugaises (1669) von Gabriel Joseph de Guilleragues, die Bohse übersetzt hat, und die Lettres à Babet von Edme Boursault (1669) die enge Verbindung der ersten Briefromane mit der Briefstellertradition und den galanten Briefsammlungen (vgl. Sauder 1997, 255). Auch Le Pays, auf den sich Bohse bezieht, kann mit seiner galanten Briefsammlung Amitiez, Amours, et Amourettes (1664) unter die Erfinder des Briefromans gezählt werden (vgl. Malquori Fondi 1995, 259). Zusätzlich zur Briefromanstruktur sind innerhalb der einzelnen Briefe von Bohses Briefsteller erzählende und szenische Passagen aus unterschiedlichen literarischen Traditionen auszumachen. Näher betrachtet lassen sich diese narrativen Elemente innerhalb der Briefe von Bohses Briefsteller gattungsmäßig als kleine szenische oder erzählende Formen, wie Streitgespräch, Historiette, Exempel und Novelle, bestimmen. Auch Hunolds Allerneueste Art Höflich und Galant zu Schreiben (1702) enthält narrative Elemente in den Briefvorlagen (vgl. Furger 2010, 78). Rosts Unterricht von Billeten (1717) führt eine neue Briefsorte in die deutsche Briefkultur ein: die Billetts oder „Hand-Briefe“. Es handelt sich um kurze Briefchen, die „bekandte oder vertraute Personen/aneinander abgehen lassen: und worinnen sie weder die Titulatur/noch andere Ceremonien und Formalien genau

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beobachten/welche sonst zu einem rechten teutschen Brief erfordert werden.“ (Rost 1717b, 2) Sie enthalten nichts Wichtiges, sondern Komplimente, Gleichgültiges, Heimlichkeiten und „schertzhafte/auch verliebte Materien“ (Rost 1717b, 3). Deshalb seien sie besonders für Frauen geeignet, die nicht zu lange Briefe schreiben sollten. In Bohses und Hunolds Briefstellern, wie Bohses Epistolischem Hand-Buch (1697) und Hunolds Auserlesenen neuen Briefen (1717), geht es auch darum, die deutsche Sprache durch das Übersetzen und Nachahmen französischer Briefkunst zu entwickeln. Jedoch sind die Galanten – anders als die barocken Sprachgesellschaften – im Hinblick auf den Gebrauch von Fremdwörtern nicht so puristisch eingestellt. Die galanten Romane von Hunold, Bohse und Rost bieten  – ähnlich wie die Briefsteller – regelrechte Musterbriefe. Um den in die galanten Romane eingefügten Briefen Wahrscheinlichkeit zu verleihen, heißt es in der Vorrede zu Rosts Schau-Platz (1711), sie seien „nach dem Original copiret und nur bisweilen etwas verändert worden“ (Rost 1712, Bl. 4v–5r).

5 Benjamin Neukirch und Eva König In Benjamin Neukirchs Briefsteller sind die Briefvorlagen vor allem Illustration der theoretischen Ausführungen. Als Publikum fasste Neukirch hauptsächlich „unwissende und junge Leute“ (Neukirch 1727, Bl. 4v) ins Auge. Zudem richtete sich sein Briefsteller an Frauen, deren Schreibverhalten er zu disziplinieren suchte (vgl. Furger 2010, 63, 69–70). Neukirch behandelte mit den vertraulichen, lustigen und verdrießlichen Briefen neue Briefsorten (vgl. Furger 2010, 141–142), und er definierte den galanten Brief. Galante Briefe „sind solche schreiben, in welchen man entweder eine person mit einer artigen, freyen und ungezwungenen manier schmeichelt und sich gantz unvermerckt in ihre gewogenheit spielt“ (Neukirch 1727, 210). Sie sind erfindungsreich und scherzhaft. Es gibt vier Sorten davon: „verliebte, complimente, insinuations- und freundschafts-schreiben“ (Neukirch 1727, 211). Galante Briefe muss man nicht nach Regeln, sondern mit seinem natürlichen Verstand und eigenen Einfällen schreiben. Die „haupt-materien“ (Neukirch 1727, 217) galanter Liebesbriefe bestehen in scherzhaften Streitigkeiten: Der Mann gesteht seine Liebe nur in Scherzform, er beklagt sich über die Grausamkeit seiner Gebieterin, er droht seiner Dame, aber lobt sie auch. Und er schickt Galanterien, wie Geschenke, Verse und Bücher, mit. Er stellt sich eifersüchtig, beklagt sich über ihre Abwesenheit, über zu viel und zu wenig Aufmerksamkeit, bittet um Erlaubnis, sie zu sprechen,

4.15 Galanter Brief 

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und beschreibt ihr die Schmerzen, die er ihretwegen empfindet. Die Frauen sollen weniger und kürzer schreiben als die Männer und mit ihrem Briefpartner nie zufrieden sein. Sie gebieten ihm allerlei, laden ihn in eine Gesellschaft ein und machen ihn eifersüchtig. Sie erlauben ihm, sie zu lieben, und loben seine Briefe und Verse. Sie verlangen, ihn zu sehen, und schicken ihm ebenfalls Geschenke. Beide unterhalten einander mit sinnreichen Scherzen. Denn galante Erzählungen seien „gleichsam ein halber roman“ (Neukirch 1727, 230). Eva Königs Briefe an Lessing vor der Verlobung um 1771 sind voller angenehmer Verrücktheiten, überraschender Wendungen und scherzhafter Streitigkeiten, auch galante Komplimente kommen vor. Der Ton ist aber nicht immer galant: Teilweise wird er auch offener und ernsthafter als in Bohses Musterbriefen. Die Briefe dieses Paares zeigen, dass ästhetische und emotionale Konzepte der Galanterie auch noch in der Aufklärung weiterwirken (vgl. Stauffer 2018, 277–280; Lessing und König 2000).

6 Ästhetische Prinzipien: Je ne sais quoi und tour Dass die galanten Briefsteller nicht allein für das Abschreiben von Musterbriefen gedacht sind, sieht man nicht nur an ihrer konkreten Gestaltung, sondern auch an den Leitbegriffen der galanten Ästhetik. Die bisherige Forschung hat darauf widersprüchlich reagiert: Einerseits hat sie diesen Umstand ignoriert und die galanten Briefsteller als regelerstarrt gescholten (vgl. Vellusig 2000, 31–32, 39; Nickisch 1969, 233; Reinlein 2003, 73). Diese Einschätzung steht in hartem Kontrast zum zeitgenössischen Prestige der Briefsteller. So betonen Georg Steinhausen (1891, 214) und Ulrich Wendland (1930, 158) das gute damalige Ansehen der Briefsteller und ihren Status als eigene literarische Gattung. Andererseits wird bei den Galanten eine gewisse Skepsis gegenüber Regeln festgestellt: „Denn durch Regeln kann man wohl ‚abgeschliffen und polirt‘; aber nimmermehr ein wirklicher eleganter gal. Autor werden […].“ (Wendland 1930, 198) Fleiß und Regelbefolgung führen nicht zum Ziel, deshalb propagieren die Galanten, dass man den Stil perfektionieren soll, zu dem man eine Neigung hat. Insbesondere galante Briefe entziehen sich einer Definition mit klaren Regeln, die man befolgen könnte. Dies wird an Neukirchs Charakterisierung galanter Briefe deutlich: „Galante Briefe sind schreiben, in welchen etwas artiges verborgen stecket, so man weder beschreiben noch nennen kan.“ (Neukirch 1727, 211) Diese Nicht-Beschreibbarkeit erinnert an eine zentrale ästhetische Kategorie der Galanten, das Je ne sais quoi. Das Je ne sais quoi ist ein „feine[s], glitzernde[s], ungreifbare[s] Etwas, das ohne Esprit und Grazie nicht zu denken ist“ (Zaehle 1933, 56). Als etwas Irrationales,

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das Gefühl Ansprechendes, bricht es überraschend herein, bringt alle verstandesmäßig erfassbaren Qualitäten zum Leuchten und kann Liebe auslösen (vgl. Köhler 1966, 258, 262, 267). Man kann es am Hof und in der großen Welt erwerben (vgl. Zaehle 1933, 57, 61). Das Je ne sais quoi hat eine regelverstoßende und individuelle Komponente und kann aufgrund dieser Eigenschaften als eine Art Vorläufer der späteren Genie- und Originalitätsvorstellungen gesehen werden (vgl. Beetz 1990, 12; Köhler 1966, 257–261, 267). Neukirchs Definition des galanten Briefs zeigt noch ein weiteres ästhetisches Prinzip auf: Galant machen einen Brief „die artigen abbildungen, oder, wie es die Frantzosen nennen, der tour, oder zug“ (Neukirch 1727, 4). Dieser tour oder Zug kann am Anfang, in der Mitte oder am Ende eines Briefes vorkommen. Neukirch meint damit eine gewandte Redewendung. Diese soll geschickt, gewagt und überraschend sein und einen zum geheimen Beherrscher und erklärten Liebling der Gesellschaft machen (vgl. Wendland 1930, 8–9; Gelzer 2007, 43). Charakteristisch für den tour bei Neukirch sind Artigkeit und Flexibilität. Der Briefeschreiber „muß alles drehen können, wie und wohin er will“ (Neukirch 1727, 210). Der galante Brief kultiviert somit die „Wendigkeit des scherzhaften Ausdrucks“ (Vellusig 2000, 95). Dazu gehört, dass man fast in jedem Brief etwas Neues sage. Diese Erfindungskomponente ist zentral für den tour (vgl. Neukirch 1727, 524). Aus der Vielfalt der Erfindungen folgt Neukirchs Relativierung der Regeln (vgl. Neukirch 1727, 217) Durch das Lesen von Beispielen inspiriert, soll man selbst Regeln erfinden. Dadurch werden höhere Anforderungen an die Selbstständigkeit und Kreativität des einzelnen Briefschreibers gestellt (vgl. Erwentraut 1999, 282). Je ne sais quoi und tour erweisen sich somit als wesentlich für galante Kommunikation und als zentrale ästhetische Kategorien der Galanten.

7 Galante Briefkultur Der galante Brief richtet sich an eine ständisch gemischte Elite aus Adel, Patriziat, Beamtentum und Studenten. Diese Mischung steht im Zusammenhang mit der sozialhistorischen Entwicklung, die die Oberschicht heterogener werden ließ: Durch Eingriffe absolutistischer Fürsten in Rangverhältnisse entstand eine reicher differenzierte und wandlungsfähigere Gesellschaftsordnung, die für Hofbeamte, akademische Intelligenz und Kaufmannschaft soziale Aufstiegsmöglichkeiten eröffnete (vgl. Beetz 1990, 257–258). Die zahlreichen Neuauflagen der Texte zeigen, dass es sich um ein verhältnismäßig breites Publikum gehandelt haben muss. Tendenziell werden eher Männer als Frauen angesprochen, was auch an der Ausrichtung der Widmungen und Vorreden an Beamte und Studenten deut-

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lich wird. Rosts Die Leichteste Art Teutsche Briefe zu schreiben (1717) dehnt das Publikum weiter aus, indem es sich an „gemeine Leute“ (Rost 1717a, 3) richtet, die weder Rhetorik-Kenntnisse haben noch fremde Sprachen beherrschen. Die galanten Briefe erfüllen unterschiedliche soziale Aufgaben: Sie dienen nicht nur als Kommunikationsmittel, um Informationen auszutauschen, oder sollen die jeweilige Interaktionsdimension standardisieren, sondern übernehmen auch in einem performativen Sinne die Funktion eines Handlungsinstrumentes (vgl. Furger 2010, 55; Vellusig 2000, 39). So können ‚Anwerbungs‘- und ‚Insinuations‘-Briefe Kontakte vermitteln und Freundschaften stiften. Die Konzentration auf das Gefühl der Liebe führt zu einer Art „Erotisierung höfischer Kommunikation“ (Kolesch 2006, 202), die konstitutiv für sozialdistinktive Prozesse wie Repräsentation und Machtausübung ist. Die galanten Briefsteller führen diese Erotisierung vor, können sie aber auch problematisieren und die gesellschaftliche Gratwanderung hervorheben, die galantes Verhalten für die Reputation von Frauen bedeuten konnte (vgl. Bohse 1692, 976).

8 Forschungsgeschichte Die Beurteilung der galanten Briefsteller als ‚regelerstarrtʻ beruht wesentlich auf Gellerts Sichtweise barocker und galanter Briefsteller, zwischen denen er keine Unterschiede machte (vgl. Anton 1995, 24). Gellert wandte sich in seinen brieftheoretischen Schriften vehement gegen die Regeln und Schemata des Kanzleistils (vgl. Nickisch 1971, 6, 14), an den sich die Galanten auch nicht mehr hielten. Seit Gellert galten Briefsteller als „Vorschriftenb[ücher] für Menschen mit geringer Sprachgewalt“ (Brockmeyer 1961, 303). Dennoch blieben sie bis in die zweite Hälfte des 18.  Jahrhunderts weiterhin populär (vgl. Nickisch 1997, 258). Auch Neukirchs Anweisung zu Teutschen Briefen erschien zuletzt 1760 nochmals, neun Jahre nach Gellerts Vernichtungsschlag (vgl. Nickisch 1990, 130). Viele von Gellerts ‚neuen‘ Postulaten galten auch schon für den galanten Brief: das Unverhoffte, Ungezwungene, zudem Natürlichkeit, Geschmack und Gesprächsnähe. Einschneidende Veränderungen sind bei Gellert weniger in den briefästhetischen Postulaten als im Bereich des Tugend- und des Emotionsbegriffes sichtbar (vgl. Stauffer 2018, 186–187). Gellert beruft sich zum Teil auf dieselben französischen Vorbilder wie Bohse, Hunold und Neukirch, nämlich Voiture, Balzac und Le Pays. Die letzten beiden bewertet er allerdings ambivalent bis ablehnend. Gellerts Verhältnis zu den brieftheoretischen Postulaten seiner Vorgänger ist zwiegepalten: Es changiert zwischen Anlehnung und Ablehnung und verschiebt sich zudem von den Gedanken

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von einem guten deutschen Briefe (1742) bis zu Briefe, nebst einer Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen (1751) in Richtung ironischer Verwerfung. Gellerts ambivalente Haltung wird von der Briefforschung aufgenommen: Einerseits behaupten Ulrich Wendland (1930, 161), Reinhard M. G. Nickisch (1969, 150) und Robert Vellusig (2000, 39), dass galante Briefe sich in leeren Formen und Ritualen erschöpft hätten. Andererseits ebnen Neukirchs Natürlichkeitsvorstellungen, die sich an diejenigen von Bohse anlehnen, den Weg für eine Natürlichkeit, wie Gellert sie dann versteht (vgl. Reinlein 2003, 71; Nickisch 1969, 175). Ironischerweise erhebt die Briefforschung gegen Gellerts Briefe dieselben Vorwürfe, die er gegen Neukirch vorgebracht hat, nämlich eitel, frostig und affektiert zu sein (vgl. Steinhausen 1891, 253–255; Nickisch 1969, 180). Georg Steinhausen kritisiert in seiner Geschichte des deutschen Briefes (1891) den galanten Brief im Sinne der veralteten Barockforschung als schwülstig und verurteilt seine Orientierung an der gehobenen Gesellschaftsschicht. Er weist aber auch darauf hin, dass die Briefsteller eine eigene literarische Gattung repräsentieren und dass für die Briefsteller um 1700 der französische Einfluss zentral war (vgl. Steinhausen 1891, 192, 81, 214, 217). Agnes Roseno beschreibt 1933 in ihrer Studie zur Entwicklung der Brieftheorie von 1655 bis 1709 den Entrhetorisierungsprozess und die zunehmend natürlichere Ausdrucksweise der Briefsteller. In seinen Forschungen zu deutschen Briefstellern um 1700 (1969; 1990) beschreibt Reinhard M. G. Nickisch die Ablösung des galanten Briefes vom Kanzleistil und das sich an der französischen Epistolographie orientierende Stilideal der Natürlichkeit. Manfred Beetz zeigt die kulturhistorische Relevanz galanter Briefsteller in seiner Studie zur Anstandskultur der galanten Epoche (1990), indem er nachweist, dass sie von hochgebildeten Autoren verfasst wurden und hohe Auflagenfolgen hatten. Zudem macht er auf die Verschiebung und Erweiterung des Publikums aufmerksam. Damit einher gehe die Modifikation der Affektmodellierung hin zu einer Intimisierung und Sensibilisierung des Gefühlsausdruckes. Kirsten Erwentraut (1999) macht in ihrer Forschung zu Briefstellern und Briefkultur ebenfalls auf die Verschiebung des Zielpublikums aufmerksam. Dies führe zu einer Privatisierung des Briefwesens. Zudem betont auch sie, dass die Rhetorik zunehmend an die Peripherie der Briefkultur verwiesen werde. Carmen Furger (2010) liest in ihrer Studie zu Briefstellern im 17. und frühen 18. Jahrhundert die Briefsteller als Benimmbücher und Medien des Zivilisationsprozesses im Sinne von Norbert Elias. Dabei gehen ihre Ausführungen leider selten über die Resultate der bisherigen Forschung wie von Reinhard M. G. Nickisch, Manfred Beetz und Annette C. Anton hinaus. Auf literarische Qualitäten der galanten Briefsteller, wie narrative Elemente oder den Unterhaltungswert, machen Annette C. Anton (1995, 24), Manfred Beetz (1990, 59), Carmen Furger (2010, 73, 78, 79) und Ruth Florack (2012, 211–212) auf-

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merksam. Ruth Florack (2012, 213) bezeichnet die Romanhaftigkeit von Bohses Frauenzimmers Secretariat-Kunst als defizitär, da sie das Fehlen einer sozialen Praxis ausdrücke. Der galante Brief speist sich jedoch aus Literatur und erzeugt wiederum Literatur, die selbst eine soziale Praxis darstellt und mit „sozialer Energie“ (Greenblatt 1993, 15) aufgeladen ist.

Zitierte Literatur Anton, Annette C. (1995). Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart. Bayle, Pierre (51740). Dictionaire historique et critique. Amsterdam u.  a. Beetz, Manfred (1990). Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart. Bohse, August (1692). Des Galanten Frauenzimmers Secretariat-Kunst oder Liebes- und Freundschaffts-Brieffe in neun Abtheilungen/deren iede hundert Brieffe in sich hält/nebst einem nöthigen Titular-Büchlein und vollständigen Register/der curieusen Welt zur Ergötzung und belieblicher Nachahmung an das Licht gegeben von TALANDERN. Leipzig/Verlegts Johann Friedrich Gleditsch. Borgstedt, Thomas (2001). „‚Du schickst mir einen brieff/und greiffst mir nach dem hertzen‘. Hoffmannswaldau, die erotische Versepistel und der galante Diskurs“, in: Der galante Diskurs: Kommunikationsideal und Epochenschwelle. Hg. v. dems.  u. Andreas Solbach. Dresden: 13–39. Brewer, Elisabeth (1983). The Novel of Entertainment during the Galant Era. A Study of the Novels of August Bohse. Bern u.  a. Brockmeyer, Rainer (1961). Geschichte des deutschen Briefes von Gottsched bis zum Sturm und Drang. Münster. Denis, Delphine (1998). Madeleine de Scudéry: „De l’air galant“ et autres conversations. Pour une étude de l’archive galante. Hg. u. kommentiert v. ders. Paris. Erwentraut, Kirsten (1999). „Briefkultur und Briefsteller – Briefsteller und Briefkultur“, in: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. v. Albert Meier. München: 266–285. Florack, Ruth (2012). „Galante Kommunikation zwischen Lehre und Unterhaltung“, in: Vielheit und Einheit in der Germanistik weltweit. Hg. v. Franciszek Grucza. Frankfurt a. M. u.  a.: 209–214. Furger, Carmen (2010). Briefsteller. Das Medium ‚Brief‘ im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Köln u.  a. Gelzer, Florian (2007). Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland. Tübingen. Greenblatt, Stephen (1993). Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Frankfurt a. M. Heinlein, Otto (1939). August Bohse-Talander als Romanschriftsteller der galanten Zeit. Bochum-Langendreer. Köhler, Erich (1966). „Je ne sais quoi: Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen“, in: Esprit und arkadische Freiheit. Aufsätze aus der Welt der Romania. Hg. v. dems. Frankfurt a. M. u. Bonn: 230–286.

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Königsmarck, Aurora von (1836 [1698]). „Bade=Kurzweil. In zwei Briefen der Gräfin Aurora von Königsmark“, in: Denkwürdigkeiten der Gräfin Maria Aurora Königsmar[c]k und der Königsmar[c]k’schen Familie. Hg. v. Friedrich Cramer. Bd. I. Leipzig: 172–177. Kolesch, Doris (2006). Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV. Frankfurt a. M. Kraft, Stephan (1999). „Galante Passagen im höfischen Barockroman. Aurora von Königsmarck als Beiträgerin zur Römischen Octavia Herzog Anton Ulrichs“, in: Daphnis, 28: 323–345. Kraft, Stephan (2015a). „‚Denn selbst Apollens Kunst wird hier ein Schatten heissen‘ – zum sichtbar-unsichtbaren literarischen Werk der Gräfin Maria Aurora von Königsmarck“, in: Maria Aurora von Königsmarck. Ein adliges Frauenleben im Europa der Barockzeit. Hg. v. Rieke Buning, Beate-Christine Fiedler u. Bettina Roggmann. Köln u.  a.: 59–74. Kraft, Stephan (2015b). „Maria Aurora von Königsmarck (1662–1728): Verzeichnis der gedruckten Werke“, in: Maria Aurora von Königsmarck. Ein adliges Frauenleben im Europa der Barockzeit. Hg. v. Rieke Buning, Beate-Christine Fiedler u. Bettina Roggmann. Köln u.  a.: 331–349. Lessing, Gotthold Ephraim u. Eva König (2000). Briefe aus der Brautzeit 1770–1776. Hg. u. kommentiert v. Wolfgang Albrecht. Mit einem Essay v. Walter Jens. Weimar. Malquori Fondi, Giovanna (1995). „Conversations d’amour par lettres: un receuil méconnu de Le Pays, un roman inconnu de Pradon“, in: Art de la lettre, Art de la conversation: à l’époque classique en France; actes du colloque de Wolfenbüttel octobre 1991. Hg. v. Bernhard Bray u. Christoph Strosetzki. Paris: 257–270. Neukirch, Benjamin (1727 [1709]). Anweisung zu Teutschen Briefen. Leipzig. Nickisch, Reinhard M. G. (1969). Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie zur Briefschreiblehre (1474–1800). Göttingen. Nickisch, Reinhard M. G. (1971). „Nachwort“, in: Christian Fürchtegott Gellert. Die epistolographischen Schriften. Faksimiledruck nach den Ausgaben von 1742 und 1751. Stuttgart: 3*–14*. Nickisch, Reinhard M. G. (1990). „‚Die Allerneueste Art Höflich und Galant zu Schreiben‘. Deutsche Briefsteller um 1700: Von Christian Weise zu Benjamin Neukirch“, in: Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit. Liselotte von der Pfalz am Hofe des Sonnenkönigs. Hg. v. Klaus J. Mattheier u. Paul Valentin. Tübingen: 117–138. Nickisch, Reinhard M. G. (1997). [Art.] „Briefsteller“, in: Reallexikon der deutschen Literatur­ wissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar u.  a. Bd. 1. Berlin u. New York: 257–259. Peter, Emanuel (1999). Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert. Tübingen. Reinlein, Tanja (2003). Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg. Rose, Dirk (2012). Conduite und Text: Paradigmen eines galanten Literaturmodells im Werk von Christian Friedrich Hunold. Berlin u.  a. Roseno, Agnes (1933). Die Entwicklung der Brieftheorie von 1655–1709. Würzburg. Rost, Johann Leonhard (1712 [1711]). Schau-Platz Der Galanten und Der Gelährten Welt/ Welcher Die mancherley Begebenheiten auf Universitäten/In einem Roman fürstellet/ Und Einen jungen Menschen erinnert/wie er sich an demselbigen spiegeln soll/damit er auf Academien Geld und Zeit vernünfftig anwenden/und von denselbigen mit Nutzen nach Haus gehen kan; Jn Zweyen Theilen Schertz- und Ernsthafft eröffnet von MELETAON. Nürnberg [Erstausgabe 1711 unter dem Titel Die Liebenswürdige und Galante Noris].

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Rost, Johann Leonhard (1717a [1716]). Die Leichteste Art Teutsche Briefe zu schreiben. Durch Regeln und Exempel überaus deutlich und gründlich verfasset von Johann Leonhard Rost. Nürnberg/ [Erstausgabe 1716 unter dem Titel Die Manier wie man in allerhand Angelegenheiten/einen höflichen und Wolgesetzten Teutschen Brief schreiben und beantworten; auch sonsten noch andere Concepte entwerfen soll. Jn einem kurtzen/doch deutlichen und zugänglichen Unterricht/mit mehr als drey hundert dazugehörigen Mustern. Verfasset/von Meletaon]. Nürnberg. Rost, Johann Leonhard (1717b). Unterricht von Billeten, oder so genandten kleinen Hand-Briefen; welche Manns-Personen/an ihres gleichen und an Frauenzimmer: und das Frauenzimmer an bekandte und gute Freundinen/in allerhand Angelegenheiten auszufertigen pflegen. Durch Regeln und Exempel/auf das deutlichste abgefasset von Johann Leonhard Rost. Leipzig u. Nürnberg. Sauder, Gerdhard (1997). [Art.] „Briefroman“, in: Reallexikon der deutschen Literatur­ wissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar u.  a. Bd. 1. Berlin u. New York: 255–257. Scudéry, Madeleine de (1998 [1684]). „De la manière d’écrire des lettres“, in: Dies. „De l’air galant“ et autres conversations. Pour une étude de l’archive galante. Hg. u. kommentiert v. Delphine Denis. Paris: 139–158 u. 336–344. Stauffer, Isabelle (2018). Verführung zur Galanterie. Benehmen, Körperlichkeit und Gefühlsinszenierungen im literarischen Kulturtransfer 1664–1772. Wiesbaden. Steinhausen, Georg (1891). Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. Bd. 2. Dublin u.  a. Thomasius, Christian (1972 [1688]). Freimütige, lustige und ernsthafte, jedoch vernunftmässige Gedanken oder Monatsgespräche über allerhand, fürnehmlich aber neue Bücher. Bd. 1–4: Januar 1688–Dezember 1689. Frankfurt a. M. Vellusig, Robert (2000). Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien u.  a. Wagner, Birgit (2009). „Zur Mehrfachkodierung von Galanterie und Unterhaltung: Fontenelles Lettres galantes de Monsieur le Chevalier d’Her***“, in: Delectatio. Unterhaltung und Vergnügen zwischen Grimmelshausen und Schnabel. Hg. v. Franz M. Eybl u. Irmgard Wirtz. Bern u.  a.: 85–100. Wendland, Ulrich (1930). Die Theoretiker und Theorien der sogen. galanten Stilepoche und die deutsche Sprache. Ein Beitrag zur Erkenntnis der Sprachreformbestrebungen vor Gottsched. Leipzig. Zaehle, Barbara (1933). Knigges Umgang mit Menschen und seine Vorläufer. Ein Beitrag zur Geschichte der Gesellschaftsethik. Heidelberg.

Jana Kittelmann

4.16 Madame de Sévigné und ihre Erb*innen Die Briefe der Madame de Sévigné, die 1626 als Marie de Rabutin-Chantal geboren wurde, nehmen innerhalb der gesamten epistolaren Gattung eine zentrale Rolle und Vorbildstellung ein. Die Sévigné-Briefe, denen Jacob Burckhardt eine „besondere Weihe und geheime Grenze“ (Burckhardt 1959, 373) attestiert hat, verhalfen dem Medium Brief zum literarischen Durchbruch. Der Siegeszug in Europa, wo man zeitweilig von keiner anderen Autorin „mehr Briefe in den Händen“ (Burckhardt 1959, 372) hatte, setzte freilich erst nach dem Tod der Sévigné im Jahr 1696 ein. Zu Lebzeiten der Madame, die ihren Mann Henri Marquise de Sévigné (1623– 1651) früh in einem Duell verlor, blieben die Briefe, die sie vor allem an ihre abgöttisch geliebte Tochter Françoise de Grignan (1646–1705) schrieb, unveröffentlicht. In einem für die Zeit typischen Verfahren zirkulierten einzelne Briefe jedoch unter adligen Freunden und Freundinnen, Bekannten und Literaten. In erster Linie ist die Geschichte der Sévigné- Briefe die wechselvolle Geschichte von deren Rezeption, die mehrere Generationen von Briefschreibern und Briefschreiberinnen umfasst. Die Enkelin Pauline de Simiane gab in den Jahren 1734– 1737 eine stark redigierte und moralisch geglättete mehrbändige Ausgabe in Auftrag (Herausgeber war Dennis Perrin) und bestimmte damit die weitere Edition und Rezeption der Briefe in einem erheblichen Maße. Kritische Sévigné-Ausgaben entstanden erst im 20. Jahrhundert (vgl. Duchȇne 1970; Gérard-Gailly 1971). Zahlreiche Original-Autographen gelten als verschollen. Die Verlässlichkeit der Abschriften ist in vielen Fällen fraglich. Auch die Gegenbriefe der Tochter Françoise existieren nicht mehr; ein Umstand, der die monologische Wesensart der Sévigné-Briefe und zugleich deren Literarisierung und literarische Rezeption förderte. Den Anlass für das exzessive Briefschreiben der Sévigné bildete die Heirat der Tochter im Jahr 1669 und deren Umzug in die ferne Provence. Mehrmals wöchentlich berichtet die Sévigné von ihrem Alltag, ihren Ängsten um die Tochter, ihren Lektüren und dem Leben am Hof Ludwigs XIV. inklusive Klatsch, Tratsch und Skandalen. „Um Sie sorge ich mich sehr, ich liebe es, Sie zu jeder Stunde zu unterhalten, und das ist der einzige Trost, den ich gegenwärtig besitze“, heißt es in einem Brief an Françoise (zit. n. Solte-Gresser 2000, 32). Die Mehrfachfunktion aus Überwindung der Einsamkeit, Etablierung von epistolarer Freundschaft und Unterhaltung ist charakteristisch für die Briefe der Sévigné, die neben den Korrespondenzen der Liselotte von der Pfalz zugleich eine der wichtigsten Quellen für das Leben am Hofe des Sonnenkönigs sind. Jacob Burckhardt fand in ihnen „das ganze Pathos einer nervösen und sentimentalen https://doi.org/10.1515/9783110376531-063

4.16 Madame de Sévigné und ihre Erb*innen  

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Gesellschaft“ (Burckhardt 1959, 373) vereint. Sein Urteil beruht auf der Fülle und Vielfalt der Briefe, die als Selbstzeugnis und als literarisches Bild der Zeit nicht nur das Leben am Hof, sondern ebenso das großstädtische Milieu von Paris zum Thema haben. Kontrastiert wird das Leben und Umherschweifen in Versailles und in den Pariser Salons zu der Ländlichkeit und Einsamkeit von Les Rochers in der Bretagne, wo die Sévigné ein Landgut besaß. Die epistolare Verständigung über die Gesellschaft und deren ständige Fokussiertheit auf Unterhaltung, Feiern und Dinieren ist begleitet von einem „leidenschaftlichen Bedürfnis nach Einsamkeit“ (Solte-Gresser 2000, 47). Der Wunsch, „die äußere Welt hinter sich zu lassen“, zieht sich „durch den gesamten Briefwechsel“ (Solte-Gresser 2000, 47). Zahlreiche Momente der Selbstreflexion und Selbstvergewisserung (vgl. Solte-Gresser 2000) finden sich in den Briefen, die nicht nur als Gesprächsersatz oder Mitteilungsträger, sondern ebenso als individuelle und intime Räume für Gefühlsschilderungen, Ängste und melancholische Stimmungen fungieren. Darin sowie in der Versprachlichung der Einsamkeit des Individuums in der Natur erweisen sich die Sévigné-Briefe als programmatisch für die weitere Entwicklung der Gattung. Die Sévigné liebte die Natur und machte die weibliche Gartengestaltung brieffähig. Immer wieder schildert sie ihre Spaziergänge in den einsamen Alleen und Wäldern von Les Rochers, die zugleich zum Spiegel ihres Innern werden. Das von ihr erstmals brieflich zelebrierte „Zusammenspiel von Weiblichkeit und Naturästhetik“ (Holm und Zaunstöck 2009, 9) wird wegweisend für die Literatur und die Briefkultur des 18. Jahrhunderts. Anerkennend schreibt Alexander von Humboldt im Kosmos: „Mehr als ein halbes Jahrhundert vor dem Erscheinen der Nouvelle Héloise hatte schon Madame de Sévigné in ihren anmuthigen Briefen die Lebendigkeit eines Naturgefühls offenbart, das in dem großen Zeitalter von Ludwig XIV. sich so selten aussprach“ (Humboldt 1847, Bd. 2, 125). Zugleich nimmt das den Briefen inhärente Spannungsfeld von städtischem bzw. höfischem und ländlichem Leben (vgl. Strosetzki 2002) eine Stadt-Land-Dichotomie vorweg, die in der Literatur der Empfindsamkeit und Romantik zentral wird. Die Attraktivität der Sévigné-Briefe für nachfolgende Generationen liegt nicht zuletzt darin begründet.

1 (Intendierte) Nachlässigkeit und Spontaneität Der Breite an Themen, Lektüren, religiösen Reflexionen und sogar botanischem Fachwissen entspricht die Heterogenität und Komplexität des epistolaren Stils der Madame, der verschiedene Deutungsmöglichkeiten zulässt. So bemerkt Nies sowohl den „altertümelnden“ als auch den „avantgardistischen Charakter“ der

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Briefe, die sich durch „Nachlässigkeit und Exaktheit, Derbheit und Wohlanständigkeit, Kunstlosigkeit und Manieriertheit“ auszeichnen (Nies 1972, 11). Dieses Urteil spiegelt die wissenschaftliche Uneinigkeit und Diskrepanz wider, die insbesondere in Bezug auf die literarische Dimension der Briefe der Sévigné vorherrscht. Die zentrale Frage ist dabei, ob die Briefe als authentische und intime Zeugnisse einer Privatkorrespondenz oder als streng komponierte und inszenierte Kunstwerke mit einer ästhetischen Wirkungsabsicht, die sich durchaus an ein breiteres Publikum richtete, verstanden werden müssen. Dieser Punkt beschäftigte nicht nur Romanisten wie Èmile Gérard-Gailly, Roger Duchȇne oder Fritz Nies, sondern ebenso die Literat*innen. Virginia Woolf fragt in einem Essay aus dem Jahr 1942: „Hat sie ihre Kunst geübt? Es scheint nicht. Hat sie Briefe zerrissen und korrigiert? Es gibt keinen Beleg für irgendwelche mühevolle Sorgfalt. Sie sagt wieder und wieder, sie schreibe ihre Briefe wie sie spreche.“ (Woolf 1997, 53) Freilich ist Woolf skeptisch und betont, dass hier eine „der großen Meisterinnen der Kunst der gesprochenen Sprache zu uns spricht“ (Woolf 1997, 53). Treskow attestiert den Briefen eine „Als-ob-Natürlichkeit, deren besonderer Wert gerade im Verbergen des Kunstcharakters lag.“ (von Treskow 1996, 587) Eine Schlüsselrolle im Verständnis der Briefe kommt der aristokratischen Attitüde der „négligence“ zu (Köhler 2006, 150). Diese ‚Nachlässigkeit‘ äußert sich auf verschiedenen Ebenen und fällt zunächst bei der rein formalen Gestaltung auf. Häufig fehlen Datum, Ort und Unterschrift. Auf Strukturierung und Abschnittsgliederung wird weitgehend verzichtet und Regellosigkeit wird propagiert: „Wenn ich anfange, weiß ich nicht, wohin es führt, ob mein Brief lang oder kurz sein wird: ich schreibe solange es meiner Feder gefällt, sie regiert. Ich finde diese Regel gut, fühle mich wohl dabei und werde mich daran halten.“ (Zit. n. Solte-Gresser 2000, 89) Auffällig sind darüber hinaus die abrupten Übergänge sowie die sprunghaften Wechsel der Themen und Tempora, die die Sévigné brieflich zelebriert. Dieser stete Wechsel zwischen Präsens und Präteritum erscheint als Anzeichen einer „kontrollierten“ (Köhler 2006, 116) Spontaneität und Négligence, die zum ästhetisch-epistolaren Prinzip erhoben wird. Als legendär gilt Sévignés rasante und dramatische Darstellung des Todes des „großen Vatel“ (Sévigné 1975, 55). Die Grenzen zwischen dem losen, spontanen Dahinplaudern von Alltäglichkeiten, epistolarer Selbstreflexion und historisch bedeutsamen Aussagen sowie literarisch-ästhetischen Intentionen – etwa durch die zahlreichen Verseinlagen – sind freilich fließend. Die Sévigné brach in vielerlei Hinsicht mit den epistolaren Konventionen ihrer Zeit. Zugleich wurde sie mit dem von ihr geradezu perfektionierten Stil der Nachlässigkeit und Spontaneität zu deren wichtigster Repräsentantin. Die Unbestimmtheit ihrer Briefe, die stets zwischen Authentizität und Literarizität oszillieren, übte auf die nachfolgenden Generationen einen ungeheuren Reiz aus.

4.16 Madame de Sévigné und ihre Erb*innen  

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2 Rezeption im deutschsprachigen Raum Als intime Zeugnisse eines Mutter-Tochter-Dialoges und einer epistolar praktizierten Freundschaft einerseits sowie als literarische (monologische) Dokumente andererseits gewannen die Briefe bald im deutschsprachigen Raum an Popularität. Bereits 1745 nennt Johann Wilhelm Ludwig Gleim die Sévigné in seinem Versuch in scherzhaften Liedern „meine beste Freundin unter den Todten, deren Briefe so niedlich sind, als die Lieder des Anakreon“ (Gleim 1745, VI). Bei Gleims Freund Johann Georg Sulzer erscheint sie als verehrte Briefschreiberin mit Vorbildfunktion. In einem unveröffentlichten Brief Sulzers an Karl Wilhelm Ramler aus dem Jahr 1750 heißt es anerkennend über Friedrich Gottlieb Klopstocks geliebte Cousine Maria Sophia Streiber („Fanny“), dass diese „wie die Sevigny“ schreibe (DLA Marbach, Sign. 68.121: Sulzer). Zwanzig Jahre später widmet Sulzer den „edeln Empfindungen“ der Sévigné eine längere Passage im Artikel „Naiv“ seines Lexikons Allgemeine Theorie der Schönen Künste (Sulzer 1774, 805). Innerhalb der Freundschaftsbriefwechsel der Empfindsamkeit erweisen sich die Sévigné-Briefe insbesondere für die Schreiberinnen als Maßstab und Muster. ‚Schreiben wie die Sévigné‘ avanciert in den nächsten Jahrzehnten zu einem festen Prädikat innerhalb der Gattung Brief. In der vermeintlichen Leichtigkeit und Regellosigkeit der Sévigné-Briefe liegt nicht zuletzt die für das Jahrhundert typische Auffassung von der Überlegenheit und besonderen Eignung der Frauen als Verfasserinnen von Briefen begründet. Briefschreiberinnen müssen sich nun von ihren männlichen Korrespondenzpartnern an der Sévigné messen lassen. Klopstock vergleicht Meta Moller, Wieland Sophie von La Roche mit der Sévigné. Christian Fürchtegott Gellert empfiehlt in seiner Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen den Lesern und (vor allem) den Leserinnen ausdrücklich die französischen Briefe der Madame zur Lektüre (vgl. Gellert 1989, 133). Auch Gotthold Ephraim Lessing führt in einer Rezension der Briefe an Freunde in der Berlinischen Privilegierten Zeitung die Briefe der Sévigné als „Exempel“ (Lessing 1755, 122. Stück, 11. Oktober) für ein großes Lesevergnügen an. Unter den begeisterten Sévigné-Lesern war Friedrich II. von Preußen, der 1765 die Briefe als Lektüre in seiner Instruktion für die Berliner Ritterakademie empfahl. In der Mitte des 18.  Jahrhunderts entstehen zugleich die ersten deutschen Übersetzungen der Briefe, die deren Rezeption weiter befördern. Im Jahr 1765 veröffentlichte Jakob Mauvillon seinen Versuch einer Uebersetzung der Briefe der Marquisin von Sevigne. Bereits 1761 erschienen Schöne Gedanken aus den Briefen der Marquisin von Sevigne an Ihre Tochter für junge Frauenzimmer. Die Verfasserin war Catharina Helena Dörrien. Der Fokus der Botanikerin und Pädagogin lag auf dem erzieherischen Gehalt der Briefe. Dörrien wollte sie als Beispiel für junge Frauen verstanden wissen, die Bildung erwerben, sich jedoch auf ‚weiblicheʻ

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Betätigungsfelder wie eben das Verfassen von Briefen konzentrieren sollten. Mit der Beschränkung auf erzieherische Anliegen ist auch hier eine klare Festlegung auf Geschlechterrollen verbunden. Von der Sévigné spricht Dörrien als einem „Muster an natürlichen Gaben und sorgfältiger Erziehung“. Sie sei die „zärtlichste Mutter und zugleich vernünftigste Dame“, die mit „Vollkommenheit“ „die Feder“ zu führen wisse (Dörrien 1761, Vorbericht). Nicht nur Dörrien begreift und beschreibt die Briefe als ein sprachlich-stilistisches Modell, das in die eigene (weibliche) Briefgegenwart übertragbar ist. Auch in Sophie von La Roches Text Mein Schreibetisch (1799) ist von den „Briefe[n] der Madame de Sevigne als Model erzählender gefühl- und anmuthsvoller Briefe“ zu lesen (La Roche 1799, 103). Die ursprünglich auf das adlige Publikum hin ausgerichtete Wirkungsintention der Briefe wurde dabei zusehends aufgebrochen. Eine weitere Station innerhalb des vielschichtigen Prozesses der Rezeption und bürgerlichen „Beschlagnahmung der grande épistolière“ (Köhler 2006, 151) als ‚großer Mutterʻ, als moralischer und pädagogischer Instanz markiert August Wilhelm Ifflands nach einer Vorlage von Jean Bouilly bearbeitetes Schauspiel „Frau von Sévigné“ (1809). Es ist das Zeugnis einer Rezeptionsphase, in der nun neben den Briefen die Madame de Sévigné selbst Einzug ins deutsche Geistesleben und auf die deutsche Bühne gehalten hat. Die Sévigné ist bei Iffland mit bürgerlichen Tugenden ausgestattet und erscheint hier ebenfalls als „ein Muster von Grazie, Geist und Herzensgüte“ und „viel mütterlicher Zärtlichkeit.“ (Iffland 1843, 5) Sie bleibt die zentrale Symbolfigur der Briefkultur um 1800 und gilt weiterhin als ein Synonym für begabte Briefschreiberinnen. Wie zuvor Sophie von La Roche oder Meta Moller vergleichen sich nun Bettine von Arnim, Rahel Varnhagen oder Lucie von Pückler-Muskau mit der Sévigné oder werden von ihren Zeitgenossen und Zeitgenossinnen als deren Nachfolgerinnen verehrt. Helmina von Chézy feiert Rahel Varnhagen 1835 in einem Porträt in der Zeitschrift „Revue du Nord“ als „Sévigné prussienne“ (Schindler 2002, 28). Hermann von Pückler-Muskau nennt seine Freundin in seinen Briefen „Lucie Sevigné“ (Kittelmann 2012, 115). Kritische Töne blieben weitgehend ungehört. Karoline von Woltmann, die in ihrer biographischen Abhandlung Leben und Geist der Frau von Sévigné im Zeitalter Ludwigs des XIV. (1805) auf deren religiöse Prägung und den damit verbundenen fehlenden „Trieb nach Erkenntnis“ (Woltmann 1805, 216) eingeht, findet wenig Echo. Im Gegenteil – die Gleichsetzung von Autorinnen mit der Sévigné erreicht in dieser Zeit geradezu inflationäre Züge. Doch ganz gehen die Vergleiche nicht auf. Bettina von Arnim war vornehmlich Mentorin männlicher Briefschreiber (vgl. Bunzel 2015), Rahel Varnhagen kinderlos. Beispiele dafür, dass die Sévigné-Briefe tatsächlich in einer epistolaren Konstellation zwischen Mutter und Tochter als Vorlage und narratives Modell ver-

4.16 Madame de Sévigné und ihre Erb*innen  

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wendet wurden, gibt es nur wenige. Ansätze existieren in der Korrespondenz zwischen Therese Huber und ihrer Tochter Therese Forster (vgl. Heuser 1996). Deren Briefe verorten sich zwar in der Tradition der Sévigné. Eine konkrete Orientierung ist wegen der „verschiedenen Lebensbedingungen“ (Heuser 1996, 146) allerdings kaum möglich. Schließlich spielt das historische und biographische Entstehungsumfeld der Sévigné-Briefe keine unbedeutende Rolle, insbesondere dann, wenn sich die Briefschreiberinnen nicht nur mit der Madame vergleichen, sondern sich damit auseinandersetzen, wie sie kommunizieren und agieren wollen. Eine konkrete Übernahme des Sévigné-Modells findet sich deshalb vor allem in Briefwechseln adliger Frauen, so zum Beispiel in der Korrespondenz von Lucie von Pückler-Muskau und ihrer Tochter Adelheid von Carolath-Beuthen (vgl. Kittelmann 2015). Sowohl der Wissens- und Erfahrungstransfer als auch die Formen der Verständigung, die Ikonographie und Bildlichkeit des Briefwechsels zwischen Mutter und Tochter sind von der Sévigné beeinflusst. Die Briefe offenbaren sich als Zeugnisse einer spezifischen Semantik adliger Weiblichkeit im 19. Jahrhundert, die in einer direkten epistolaren genealogischen Linie der Sévigné-Briefe stehen wollen. In diesem Sinne wird die Sévigné nicht nur als „liebe Freundin“ oder Vorbild, sondern auch als „Ahnfrau“ (Kittelmann 2015, 394) und Vorfahrin bezeichnet. Mit der Sévigné verbunden ist das briefliche Konzept einer fiktiven Verwandtschaft und literarischen Erbfolge, die man in den eigenen Briefen antritt. Dabei ist die Rezeption der Sévigné-Briefe in Adelskorrespondenzen nicht nur auf Briefschreiberinnen begrenzt. Auch männliche adlige Briefschreiber orientieren sich an dem Briefstil der Sévigné, so etwa Hermann von Pückler-Muskau in seinen Briefen eines Verstorbenen (vgl. Kittelmann 2012, 116–118). Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein erscheinen neue Übersetzungen und Ausgaben der Briefe, die im Zeitalter des Historismus nun vor allem als zeitgeschichtliche Quelle Verwendung finden, so etwa in Leopold von Rankes Französischer Geschichte vornehmlich im 16. und 17.  Jahrhundert (1852–1861) oder in Heinrich Heines Französischen Zuständen (1833). Zahlreiche Sévigné-Anekdoten finden Eingang in die Literatur. In Eduard Mörikes Novelle Mozart auf der Reise nach Prag (1855) ist von einem hundert Jahre alten Pomeranzenbaum die Rede, den angeblich einst die Sévigné gepflanzt habe. Einen letzten und zugleich ­fulminanten Höhepunkt in der literarischen Rezeption erlangen die Briefe bei Marcel Proust, in dessen À la recherche du temps perdu (1913–1927, dt.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, erstmals übersetzt von Walter Benjamin und Franz Hessel) zahlreiche Passagen von der Sévigné inspiriert sind.

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Zitierte Literatur Bunzel, Wolfgang (2015). „Brief-Erziehung. Bettine von Arnim als epistolare Mentorin.“, in: Briefe um 1800 – Zur Medialität von Generationen. Hg. v. Selma Janke u. Sylvie Le Moël. Berlin: 137–159. Burckhardt, Jacob (1959). „Die Briefe der Madame de Sévigné“, in: Ders. Kulturgeschichtliche Vorträge. Hg. v. Rudolf Marx. Stuttgart: 373–393. Dörrien, Catharina Helena (1761). Schöne Gedanken aus den Briefen der Marquisin von Sevigne an ihre Tochter für junge Frauenzimmer. Frankfurt a. M. Duchȇne, Roger (1970). Madame de Sévigné et la lettre d’amour. Paris. Emile Gérard-Gailly (1971). Madame de Sévigné. Paris. Gellert, Christian Fürchtegott (1989). „Briefe nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“, in: Ders. Gesammelte Schriften. Bd. 4. Hg. v. Bernd Witte. Berlin u. New York: 105–153. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig (1745). Versuch in scherzhaften Liedern. Berlin. Heuser, Magdalene (1996). „‚Therese ist der Kontrast meines Wesensʻ. Therese Hubers Briefe an ihre Tochter Therese Forster 1797–1828“, in: Mutter und Mütterlichkeit: Wandel und Wirksamkeit einer Phantasie in der deutschen Literatur. Hg. v. Irmgard Roebling u. Wolfram Mauser. Würzburg: 131–147. Holm, Christiane u. Holger Zaunstöck (Hg.) (2009). Frauen und Gärten um 1800. Weiblichkeit – Natur – Ästhetik. Halle. Humboldt, Alexander von (1847). Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Berlin. Kittelmann, Jana (2012). „‚Mit Lucie Sevigné zu Tischʻ – Pücklers Rezeption französischer Brief­ literatur“, in: Fürst Pückler und Frankreich. Hg. v. Marie-Ange Maillet u.  a. Berlin: 115–131. Kittelmann, Jana (2015). „Die Briefe der Madame de Sévigné als Modell für Mutter-TochterKorrespondenzen um 1800“, in: Briefe um 1800 – Zur Medialität von Generationen. Hg. v. Selma Janke u. Sylvie Le Moël. Berlin: 387–411. Köhler, Erich (2006). „Madame de Sévigné“, in: Ders. Klassik II. Vorlesungen zur französischen Literatur. Hg. v. Henning Krauß. Freiburg i. Br.: 134–156. La Roche, Sophie von (1799). Mein Schreibetisch. Leipzig. Nies, Fritz (1972). Gattungspoetik und Publikumsstruktur. Zur Geschichte der Sévigné-Briefe. München. Schindler, Volker (2002). „‚Eine ‚Sévigné prussienneʻ? Französische Echos auf Rahel Varnhagens Briefwerke“, in: Vom Salon zur Barrikade. Frauen der Heinezeit. Hg. v. Irina Hundt. Stuttgart: 17–46. Solte-Gresser, Christiane (2000). Leben im Dialog. Wege der Selbstvergewisserung in den Briefen von Marie de Sévigné und Isabelle de Charrière. Königstein/Ts. Strosetzki, Christoph (2002). „Natur und Land. Madame de Sévigné und die literarische Topik“. in: Literarische Begegnungen. Romanische Studien zur kulturellen Identität, Differenz und Alterität. Hg. v. Frank Leinen. Berlin: 111–130. Sulzer, Johann Georg (1774). Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig. Treskow, Isabella von (1996). „Der deutsche Briefstil Elisabeth Charlottes von der Pfalz und die ‚art épistolaire’ Madame de Sévignés“, in: Zeitschrift für Germanistik, 6.3: 584–595. Woolf, Virginia (1997). „Madame de Sévigné“, in: Dies. Der Tod des Falters. Essays. Hg. v. Klaus Reichert. Frankfurt a. M.: 50–57. Woltmann, Karoline von (1805). „Leben und Geist der Frau von Sévigné im Zeitalter Ludwigs des XIV.“, in: Geschichte und Politik, 2: 211–273.

4.16 Madame de Sévigné und ihre Erb*innen  

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Archivquellen Deutsches Literaturarchiv (DLA) Marbach: Sign. 68.121: Sulzer.

Weiterführende Literatur Kittelmann, Jana (2013). Herrinnen des Terrains. Der Briefwechsel zwischen Lucie von PücklerMuskau und Adelheid von Carolath-Beuthen. Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung im Schloss Branitz. Cottbus. Sévigné, Madame de (1979). Briefe. Hg. v. Theodora von der Mühl. Frankfurt a. M.

5 18. Jahrhundert

Brigitte Klosterberg

5.1 Das Korrespondenznetzwerk des hallischen Pietismus Die internationale Dimension und die auf alle Lebensbereiche ausstrahlende Wirkkraft des von dem pietistischen Theologen und Pädagogen August Hermann Francke (1663–1727) Ende des 17. Jahrhunderts gegründeten Halleschen Waisenhauses, das auf eine von Halle ausgehende Generalreformation der Welt zielte (vgl. Obst 2013; Zaunstöck et al. 2013), sind ohne die Entwicklung eines systematisch aufgebauten Kommunikationssystems und weit gespannten Korrespondenznetzwerks nicht denkbar. Das Fundament des pietistischen Kommunikationssystems bildete das gesprochene, geschriebene und gedruckte Wort (vgl. Müller-Bahlke 2006, 63–71; Müller-Bahlke 2013, 181–182). Die Medien der Vermittlung waren vor allem Bücher, Zeitschriften und Zeitungen sowie Tagebücher, Protokolle und Briefe, die nicht nur als Träger von Nachrichten zu verstehen sind oder der Werbung für pietistische Projekte dienten, sondern auf die praktische Vernetzung von Wissen und Personen zielten und den Akteuren Handlungsmöglichkeiten eröffneten, ihre (nicht nur) religiösen Positionen in überlokale Kontexte einzubringen (vgl. Gleixner 2015, 16; Zaunstöck et al. 2014, 4–6). Francke und seine Mitarbeiter bauten ein straff organisiertes Kommunikationssystem auf, in dem der Briefverkehr den integralen Schwerpunkt bildete. Die Bedeutung, die dem Briefeschreiben zugemessen wurde, ist schon daran ersichtlich, dass dieses ein eigenes Unterrichtsfach in den Stiftungsschulen gewesen ist und viele ehemalige Schüler nach ihrem Ausscheiden aus den Schulen in regelmäßigem Briefkontakt mit dem Halleschen Waisenhaus geblieben sind (vgl. Müller-Bahlke 2006, 65–68). In der Forschungsliteratur wird bis heute der Beginn der Herausbildung einer neuen deutschen Briefkultur mit dem Pietismus, der ersten protestantischen Erneuerungsbewegung nach der Reformation, verbunden (vgl. Nickisch 1991, 44–45; Schrader 2004, 400–401). Der ‚pietistische Briefʻ konnte zum einen der schriftlichen Fixierung von Seelenzuständen, inneren Glaubensauseinandersetzungen oder  – modern gesprochen  – von Selbstfindungsprozessen, zum anderen zum Austausch über politische, kirchliche, wirtschaftliche, soziale, pädagogische oder kulturelle Ereignisse und damit der Gemeinschaftsbildung dienen. Die Zunahme der Literaturproduktion und des privaten Briefverkehrs im Verlauf des 18. Jahrhunderts gelten als konstitutive Merkmale der Herausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft. Der Anteil des Pietismus daran ist bis heute nur ansatzweise erforscht. Die neuere, medien- und kommunikationsorientierte Pietismusforschung begreift Pietismus als ein System sich vielfach überlagernder und ineinander greifender Netzwerke unterschiedlicher Reichweite, die dem https://doi.org/10.1515/9783110376531-064

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Aufbau des ‚Reichs Gottes‘ dienten und transterritorial, transkonfessionell und global zu denken seien (vgl. Lehmann 1995, 74; Jakubowski-Tiessen 2004, 203; Durnbaugh 2009; Mettele 2009; Lehmann 2013, 15; Gleixner 2015, 3–5; Gleixner 2016). Dieser medien- und kommunikationsorientierte Zugang über Netzwerke ist für den hallischen Pietismus vor allem auf die Erforschung des Spendernetzes der Dänisch-Halleschen Mission (vgl. Gleixner 2010), des Institutum Judaicum et Muhammedicum (vgl. Rymatzki 2004, 305–452), der transatlantischen Beziehungen des Halleschen Waisenhauses (vgl. Wellenreuther 2013, 235–530; Pyrges 2015) und weiblicher pietistischer Korrespondenz (vgl. Lißmann 2010; Lißmann 2015) angewandt worden. Diese exemplarischen Untersuchungen belegen, dass das hallische pietistische Netzwerk polyzentrisch und vielgestaltig zu denken ist (vgl. Gleixner 2013, 3) und mithin aus einer Vielzahl von Korrespondenznetzen bestand, die sich wiederum mit anderen (nicht nur) pietistischen Netzwerken verzahnen konnten (vgl. Lehmann 1995, 75–76): Dazu gehören beispielsweise das Korrespondenznetz Philipp Jakob Speners (1635–1705), des bekanntesten Vertreters des Pietismus, das Korrespondenznetz des spiritualistisch gesinnten Friedrich Breckling (1629–1711), der als Glaubensflüchtling in den Niederlanden lebte (vgl. Naschert 2011), sowie die global gespannten Netzwerke der Herrnhuter Brüdergemeine (vgl. Mettele 2009), wobei sich die Netzwerke von Halle und Herrnhut besonders in den 40er und 50er Jahren des 18.  Jahrhunderts überlappten und miteinander konkurrierten (vgl. Peucker 2015, 404).

1 Zeitliche Expansion und Umfang der Korrespondenzen Das Korrespondenznetzwerk, das August Hermann Francke initiierte und sein Sohn und Nachfolger im Direktorenamt, Gotthilf August Francke (1697–1769), fortsetzte und weiterentwickelte, spiegelt Entstehung, Etablierung, Transformation und Niedergang des hallischen Pietismus vom Ende des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wider und erstreckt sich also zeitlich über mehrere Generationen. Quantitativ sind diese Korrespondenzen von beträchtlichem Ausmaß: Etwa 3.000  Briefe sind von August Hermann Francke und etwa 18.000  Briefe von nahezu 3.800 verschiedenen Korrespondenzpartnern an ihn überliefert. Das dürfte etwa einem Fünftel der geführten Korrespondenz entsprechen, weil in Franckes Tagebüchern von 1714 bis 1726 zahlreiche Briefe genannt sind, die nicht mehr aufzufinden sind (vgl. die Tagebücher Franckes im Francke-Portal: https://digital.francke-halle.de/mod2/nav/index/all). Von seinem Sohn Gotthilf August Francke befinden sich im Archiv der Franckeschen Stiftungen etwa

5.1 Das Korrespondenznetzwerk des hallischen Pietismus 

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7.000  Briefe an 1.400 unterschiedliche Adressaten und 14.600  Briefe von 2.100 Korrespondenzpartnern. Im Missionsarchiv sind 34.000 einzelne Dokumente zur Dänisch-Halleschen Mission im südindischen Tranquebar überliefert, darunter mindestens 80 Prozent Briefe (vgl. Gröschl 2010, 49). Von dem 1741 von Halle nach Pennsylvania ausgesandten Heinrich Mühlenberg [später: Henry Melchior Muhlenberg] (1711–1787) existieren noch nahezu 1.100 Briefe. 1.600 Korrespondenzen sind ermittelbar, müssen aber als verloren gelten (vgl. Wellenreuther 2013, 289– 290). Die Amtskorrespondenz der zeitlich nach Mühlenberg von Halle nach Pennsylvania entsandten Pastoren wurde von 2013–2019 in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt ediert und umfasst 455 Briefe der Pastoren und 194 Briefe der Vorgesetzten und von deren Mitarbeitern. Außerdem wurden unter dem Direktorat von Gotthilf August Francke Salzburger Protestanten in Ebenezer (Georgia) unterstützt. Zu diesem Netzwerk Ebenezer, dem 300 Personen an 60 Orten zugeordnet werden können, sind ca. 1.400 Briefe überliefert (vgl. Pyrges 2015, 58–59). Zeitlich parallel dazu baute Johann Heinrich Callenberg (1694–1760) ein Unterstützernetzwerk für das von ihm 1728 gegründete Institutum Judaicum et Muhammedicum mit 300 Korrespondenzpartnern und 800 aus ganz Europa stammenden Spendern auf (vgl. Rymatzki 2016, 305). Die Überlieferungsdichte der Korrespondenz ist am höchsten in den letzten beiden Lebensjahrzehnten August Hermann Franckes, also auf dem Höhepunkt seiner Wirkmächtigkeit, und in den 40er und 50er Jahren des 18. Jahrhunderts, als Gotthilf August Francke bevorzugt das Missionsunternehmen im südindischen Tranquebar und den Aufbau lutherischer Gemeinden in der Neuen Welt beförderte (vgl. Müller-Bahlke 2000, 2006). Danach nimmt die Überlieferung parallel mit der allmählich einsetzenden ideellen und finanziellen Krise des Halleschen Waisenhauses kontinuierlich ab.

2 Räumliche Expansion Auch wenn das hallische pietistische Korrespondenznetzwerk von der Überzeugung getragen war, einen Beitrag zum Ausbau des Reichs Gottes jenseits realer herrschaftlicher Territorien und Grenzen zu leisten (vgl. Lehmann 2013, 15), erstreckte es sich von Halle ausgehend in realen geographischen Räumen imposanter Reichweite, die in konzentrischen Kreisen beschrieben werden können (vgl. Klosterberg 2013, 159). Der erste Kreis umfasste die Korrespondenz mit Partnern in Brandenburg-Preußen, die bis in den hohen Adel, ja bis zum König selbst reichte (vgl. Marschke 2010), der zweite Kreis die Korrespondenz mit Partnern in den verschiedenen deutschen Staaten und Territorien, der dritte Kreis

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das Ausland (vgl. Raabe 1995). August Hermann Francke erreichten Briefe aus mehr als 1.500, Gotthilf August Francke aus mehr als 1.200 Ausstellungsorten. Beide korrespondierten mit Personen in über 20 Ländern. Das Korrespondenznetz erstreckte sich von Schweden und Dänemark (vgl. Ruhland und Veltmann 2014) bis nach Italien, Griechenland, in die Levante und weiter bis nach Südostindien (vgl. Jeyaraj 1996; Müller-Bahlke 2006), vom Westen über die Niederlande (vgl. Sträter 2012) und England (vgl. Zaunstöck et al. 2014) nach Nordamerika (vgl. Wellenreuther 2013; Pyrges 2015), in den Osten nach Böhmen und Ungarn und über das Baltikum nach Russland (vgl. Fundaminski 2007). Die Post aus dem Ausland erreichte August Hermann Francke vor allem aus Kopenhagen, London, Tranquebar, Moskau und Venedig; Gotthilf August Francke erhielt Briefe aus dem Ausland zuvörderst aus Indien, nämlich aus Tranquebar, Madras und Cuddalore, und aus Europa wiederum aus den Partnerorten der Dänisch-Halleschen Mission, London und Kopenhagen, gefolgt von St. Petersburg in Osteuropa.

3 Personen und Personengruppen Mit diesen lokalen Knotenpunkten im internationalen Netzwerk des hallischen Pietismus sind Korrespondenzen mit bestimmten Personen, Gruppen oder Organisationen verknüpft, die ihrerseits Knotenpunkte des Netzwerks bildeten (vgl. Gleixner 2014, 4). Einen zentralen Dreh- und Angelpunkt des hallischen Korrespondenznetzwerks stellte die Stadt London dar (vgl. Zaunstöck et al. 2014; Gröschl 2013, 167, 173–176). Die ersten Kontakte dorthin knüpfte August Hermann Francke zu dem in englischen und dänischen Diensten stehenden Diplomaten Heinrich Wilhelm Ludolf (1655–1712), der dazu beitrug, dass Francke korrespondierendes Mitglied der Society for Promoting Christian Knowledge (SPCK) wurde und das hallische Netzwerk nach Russland und in den Vorderen Orient ausgedehnt werden konnte (vgl. Gröschl 2013, 167; Schunka 2014). Unter Vermittlung Halles wurden Anton Wilhelm Böhm (1673–1722) und sein Nachfolger Friedrich Michael Ziegenhagen (1694–1776) als Prediger an der lutherischen Kapelle am Königshof nach London entsandt; sie strukturierten und organisierten ein halbes Jahrhundert lang den Briefverkehr des Halleschen Waisenhauses nach Indien und Nordamerika (vgl. Müller-Bahlke 2006, 75; Gröschl 2013, 173–174; Jetter-Staib 2013, 204–379) und hatten somit erheblichen Anteil an der Expansion, Aufrechterhaltung und Funktionstüchtigkeit des hallischen Korrespondenznetzes. Die Missionare in Indien wie die Pastoren in der Neuen Welt bewegten sich über den Knotenpunkt London in mit Halle und Europa eng verbundenen transkontinentalen Netzwerken, erschlossen sich aber an ihrer neuen Wirkungsstätte neue

5.1 Das Korrespondenznetzwerk des hallischen Pietismus 

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Verbindungen. Beispielsweise wandelte sich das Netzwerk des bereits genannten Henry Melchior Muhlenberg, „von einem atlantischen, von seiner europäischen kirchlichen Obrigkeit dominierten hin zu einem amerikanischen Netzwerk, in dem Wissen innerhalb Amerikas transferiert wurde“ (Wellenreuther 2013, 385). Wie Muhlenberg trugen zahlreiche Personen, die in Halle studiert und durch die Fürsprache Franckes eine Stelle als Pfarrer oder Pädagoge in Preußen erhalten hatten (vgl. dazu besonders Mentzel 2007, 203–207), an ihren jeweiligen Wirkungsorten, ob in Berlin, Potsdam oder Königsberg, zur Stärkung des Einflusses Halles in der lutherischen Kirche Preußens und damit zur Verbreitung und Konsolidierung des hallischen Kommunikationsnetzes bei. Die vom preußischen König Friedrich Wilhelm I. begünstigte Personalpolitik wurde durch adlige Eliten am Berliner Hof unterstützt und führte zum Aufbau eines Patronage-ClientelSystems (vgl. Marschke 2009, 218–223; Marschke 2010, 83–85), durch das das Hallesche Waisenhaus ‚Insiderinformationenʻ erhielt. Die sich so herausbildende Gruppenzugehörigkeit („Wir Halenser“, Marschke 2010, 83), die sich in den vertrauten Anreden der Briefe spiegelten, stabilisierte das Kommunikationsnetzwerk, ließ aber vergleichbar mit zeitgenössischen ‚Open Sourceʻ-Netzwerken eine Öffnung für Personen und Institutionen zu, sofern sie, und das ist entscheidend, die (nicht nur religiösen) pietistischen Ideale und Vorstellungen teilten (vgl. Bach 2010, 109). Neben den Pastoren und Informatoren trug eine weitere Personengruppe zur Funktionsfähigkeit des hallischen Kommunikationsnetzwerks entscheidend bei: adlige Unterstützer, vor allem Angehörige des Dienstadels (vgl. Pečar et al. 2016), an prominenter Stelle Carl Hildebrand von Canstein (1767–1719), der den Zugang zu wichtigen Kreisen am Berliner Hof ebnete und intensiver als andere mit Francke korrespondierte, sowie Angehörige reichsunmittelbarer Grafenhäuser wie Reuß, Henckel von Donnersmarck, Stolberg-Wernigerode, SolmsLaubach sowie Mitglieder der Familie Gersdorff in Großhennersdorf, wobei der alte Francke seit 1714 einen besonders engen Kontakt zu Heinrich XXIV. von ReußKöstritz (1681–1748) (vgl. Müller-Bahlke 2013, 183–185) und der junge Francke zu Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode (1691–1771) unterhielt, durch dessen verwandtschaftliche Beziehungen die Reformideen des hallischen Pietismus bis in das dänische Königshaus getragen wurden (vgl. Jakubowski-Tiessen 2004, 205; Ruhland und Veltmann 2014). Auch an den Orten ihrer Herrschaften wurden in Halle ausgebildete Pastoren und Lehrer eingesetzt, die über Korrespondenzen den Kontakt nach Halle hielten oder die Kontakte für ihren weiteren Lebensweg nutzten. Bevor beispielsweise Muhlenberg nach Amerika gesandt wurde, hielt er sich an den verlässlichen Knotenpunkten des hallischen Netzwerks, in Köstritz, Wernigerode und Großhennersdorf, auf (vgl. Müller-Bahlke 2013, 192). Dem adligen Unterstützernetzwerk des hallischen Pietismus gehörten auch zahlreiche Frauen an, darunter auch Franckes Ehefrau Anna Magdalena, die aus dem

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Geschlecht derer von Wurm stammte. Frauen adligen Standes wie z.  B. Sophia Maria von Stammer (1657–1705) in Quedlinburg bauten vor allem in der frühen radikalen Phase des sich formierenden Pietismus in den 1690er Jahren eigene, sich mit dem hallischen Korrespondenznetzwerk überlappende Briefnetzwerke auf, die die zeitüblichen Geschlechter- und Standesgrenzen zu unterlaufen vermochten (vgl. Lißmann 2015, 135).

4 Interaktionen und Zirkulationen Die Rollen, die einzelne Akteure in den Briefnetzwerken spielten, und ihre Interaktionen sind bis jetzt nur für Ausschnitte des hallischen Korrespondenznetzwerks erforscht. Alexander Pyrges, der das Netzwerk Ebenezer untersucht hat, unterscheidet „Führungspost“ von „Danksagungen und Bittschreiben“ sowie „Korrespondierende Gesellschaftlichkeit“ (Pyrges 2015, 287–294), um die in den Korrespondenzen ersichtlichen Beziehungen zu beschreiben, wie beispielsweise die asymmetrische Beziehung zwischen dem Führungspersonal des Halleschen Waisenhauses und den Pastoren in Übersee. Sowohl die Pastoren in Georgia und Pennsylvania als auch die Missionare in Tranquebar waren verpflichtet, über die Geschehnisse vor Ort nach Halle und London zu berichten. Die Korrespondenzen erwuchsen „vor allem aus den mit Mitgliedschaften und Anstellungen verbundenen Verpflichtungen und den mit Ämtern einhergehenden Zuständigkeiten“ (Pyrges 2015, 307). Die Amtskorrespondenzen spiegeln somit nicht nur schriftliche Dialoge zwischen Einzelpersonen, sondern deren Einbindung „in umfassendere Kommunikationsräume, Zirkulationsströme und Organisationsstrukturen“ (Pyrges 2015, 295), die durch verschiedene Praktiken der Korrespondenz geschaffen wurden. Dazu zählen Zirkulationsmechanismen wie etwa die Weiterleitung eines Briefes durch den Autor, die Weitergabe in Kopie an Dritte, durch den Anhang für Dritte bestimmte Postscripta, der Versand von Briefpaketen über Dritte etc. (vgl. Pyrges 2015, 295–302; Rymatzki 2016, 305–307). So entstanden Weiterleitungs- und Kommunikationsketten, die das Netzwerk stabilisierten oder erweiterten oder bestimmten Personen eine zentrale Position im Netzwerk einräumten. Der bereits mehrfach genannte Muhlenberg fungierte nicht nur als Korrespondenzpartner, sondern als so „etwas wie eine Postanmelde- und -verteilerstelle“ im transatlantischen Netzwerk des Halleschen Waisenhauses (Wellenreuther 2013, 275). Ein anderes Beispiel für die Bündelung und Weiterverteilung ein- und ausgehender Informationen und ein geradezu artifiziell organisiertes Korrespondenznetzwerk stellt der von August Hermann Francke als geschlossene Korrespondenz bezeichnete vertrauliche Briefverkehr zwischen ihm und Heinrich

5.1 Das Korrespondenznetzwerk des hallischen Pietismus 

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XXIV. von Reuß-Köstritz dar, der nach festgelegten Regeln funktionierte: Jeder Brief wurde mit einer römischen Ziffer versehen und die Briefabschnitte nach behandelten Themen nummeriert, so dass im nachfolgenden Briefwechsel leicht darauf Bezug genommen werden konnte und der entsprechende Briefinhalt nicht wiederholt werden musste. Um weitere Personen in die Kommunikation einzubinden, wurden Passagen in den Briefen mit Namenskürzeln gekennzeichnet, die anzeigten, an wen die Information weitergeleitet werden sollte. Auf diese Weise sicherte sich das Führungspersonal in Halle die Kontrolle über die im Korrespondenznetzwerk zirkulierenden Informationen (vgl. Müller-Bahlke 2013, 190–191).

5 Thematische Vielfalt Die zirkulierenden Informationen waren so vielfältig wie die Personen, Gruppen und Institutionen in dem weltweit gespannten Kommunikationsnetzwerk. Diese Vielfalt betrifft nicht nur die Themenbreite der Korrespondenzen überhaupt, sondern auch die einzelner Briefe, in denen in der Regel mehrere ‚Betreffe‘ angesprochen und ausgetauscht wurden, wenn auch religiös-kirchliche Inhalte deutlich überwogen. Unter diesen nehmen Probleme der Mission und der Diasporaarbeit in Übersee den größten Umfang ein, gefolgt von Berufungen und Fragen von Stellenbesetzungen, persönlichen Glaubensaufzeichnungen, Konflikten der pietistischen Bewegung mit der lutherischen Orthodoxie und der Frühaufklärung, dem Meinungsaustausch über realisierte oder geplante Publikationen, Angelegenheiten der Theologischen Fakultät der Universität Halle einschließlich Studentenunruhen sowie dem Austausch und der Wiedergabe von chiliastischen, spiritualistischen und mystischen Vorstellungen. Soziale und pädagogische sowie wirtschaftliche Themen und Fragestellungen werden in etwa 20 bis 25 Prozent der Briefe verhandelt. Dabei dominieren Ausführungen zu den Aufnahmebedingungen in eine der pädagogischen oder sozialen Einrichtungen des Halleschen Waisenhauses, zur Unterstützung von Bedürftigen, zum Buch- und Medikamentenhandel in alle Welt sowie die Spendentätigkeit zugunsten des Waisenhauses selbst, der Dänisch-Halleschen Mission und der deutschen lutherischen Gemeinden in Nordamerika. Vereinzelt finden sich medizinische Themen, wie ausführliche Berichte über eigene oder fremde Erkrankungen, über die Wirkung von Medikamenten und Behandlungsmethoden, sowie politische Nachrichten, unter denen Schilderungen von Kriegsereignissen, wie dem Nordischen Krieg, dem Spanischen Erbfolgekrieg und dem Siebenjährigen Krieg, überwiegen. Ebenfalls wird über Sitten und Gebräuche anderer Völker sowie über naturgeschichtliche Phänomene berichtet. In geringem Umfang verhandelt man auch sprach- und

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literaturwissenschaftliche Themen, wobei Übersetzungen von Drucken in andere Sprachen und sprachvergleichende Studien sowie Publikationsvorhaben im Mittelpunkt des Interesses der Kommunikationspartner stehen.

6 Mediale Kombinationen Über die Briefnetzwerke wurden aber nicht nur die Briefe selbst, sondern häufig weitere Medien bzw. Objekte verteilt. Die Missionare in Indien und die an welchen Orten auch immer agierenden Pastoren und Informatoren sandten neben den Briefen Berichte, Diarien und Relationen nach Halle, fügten den Briefen beispielsweise Rechnungen, Bestelllisten, Transportlisten, Lieferlisten für Medikamente und Bücher sowie Quittungen hinzu oder sandten Realien wie Waren, Handschriften oder Naturalien und Artefakte von ihrem Einsatzort nach Halle. Umgekehrt nutzte das Waisenhaus die Korrespondenznetzwerke, um die eigenen Druckerzeugnisse und Medikamente zu verteilen (vgl. Müller-Bahlke 2006, 71–72; Wellenreuther 2013, 535–577; Pryges 2015, 318–331, 351–353). Die Nutzung von Medienkombinationen und der verschiedenen Praktiken des Korrespondierens konnte die Akteure aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Medium des handschriftlich verfassten Briefes in auf persönlichen Bindungen beruhenden Netzwerken Grenzen gesetzt waren, um die Reformideen des hallischen Pietismus zu verbreiten. Deshalb entschied das Führungspersonal des Halleschen Waisenhauses, die aus Indien und der Neuen Welt eingehenden Briefe, Berichte und Diarien redaktionell zu überarbeiten, gemäß den eigenen Intentionen zu zensieren und in Periodika der interessierten deutschen und europäischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen (vgl. Jeyaraj 1996, 13–23; Gleixner 2010, 61–62). Dem Vorbild der seit 1710 regelmäßig erscheinenden Halleschen Berichte, die einem breiten Lesepublikum Kultur und Natur Südostindiens bekannt machten (vgl. Jeyaraj 2004), folgten die Ausführliche[n] Nachricht[en] von den Salzburgischen Emigranten und die Pennsylvanischen Nachrichten über das Wirken hallescher Pastoren in der Neuen Welt. Die gedruckten Briefe erhielten so eine deutlich höhere Publizität als die handschriftlichen Briefe und trugen somit zur (weiteren) Ausweitung des Unterstützernetzwerks des Halleschen Waisenhauses bei (vgl. Gleixner 2014, 17; Jensz 2016, 612–616). Auch in dieser Form medialer, auf Breitenwirkung zielender Vermittlung behielt das Hallesche Waisenhaus die Kontrolle über die (gedruckten) Informationen und damit über das Bild, das sich Generationen von Leser*innen bis in das 20. Jahrhundert hinein von seiner Missions- und Gemeindearbeit in Übersee machten bzw. machen sollten.

5.1 Das Korrespondenznetzwerk des hallischen Pietismus 

 845

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Online-Quellen Francke-Portal: Digitale Sammlungen des Studienzentrums August Hermann Francke der Franckeschen Stiftungen zu Halle. http://digital.francke-halle.de (28.11.2019).

Corina Bastian

5.2 Höfische Diplomatie in der Frühen Neuzeit: Die Korrespondenz der Madame de Maintenon und der Princesse des Ursins 1 Einleitung „Ich habe mein Leben mit dem Schreiben von Briefen verbracht“ – zwar ist diese Aussage der Madame de Maintenon nicht belegt. Dass sie trotzdem immer wieder zitiert wird, ist ihrer Plausibilität zu verdanken. Viele ihrer Zeitgenoss*innen hätten sich vermutlich ähnlich über die Marquise geäußert. Mehrere Briefe am Tag zu schreiben – oder besser schreiben zu lassen –, war ein fester Bestandteil im Tagesablauf eines bzw. einer Adligen. Lange Zeit wurde die rege Schreibtätigkeit adliger Frauen als privater Zeitvertreib gesehen und als Ersatz für literarisches Schaffen, Selbstverwirklichung oder politische Aktivität unter einem rein kulturellen Aspekt interpretiert (vgl. Labouvie 2009, 14). Längst hat die Forschung hier umgedacht und auf die politische Bedeutung weiblicher Korrespondenznetzwerke hingewiesen. Bislang wurden jedoch nur einzelne Fallbeispiele rekonstruiert (vgl. u.  a. Harris 1991; Perkins 1996; Aichholzer 1997; Tischer 2001; LópezCordon Cortezo 2003; Reinhardt 2003; Magnusson 2004; Keller 2004; Couchman und Crabb 2005; Daybell 2006; Haehl 2006; Pons 2006; Waquet 2007; Labouvie 2009; Dade 2010). Dieser Missstand hängt auch mit einem Quellenproblem zusammen – in dreifacher Hinsicht: Erstens hat die Einstufung des Briefes als ‚typisch weibliches Genre‘ im Laufe des 18. Jahrhunderts die Korrespondenzen von Frauen in den Bereich des ‚Privaten‘ gerückt, weshalb sie nicht als politisches Handlungsinstrument erkannt wurden. Denn diese Briefe wurden, zweitens, häufig in persönlichen Nachlässen und nicht in den nationalen Archiven aufbewahrt, dem Ort, an dem lange ausschließlich nach den ‚diplomatischen‘ Quellen gesucht wurde. Drittens muss davon ausgegangen werden, dass ein großer Teil der Briefe adliger Frauen vernichtet wurde (vgl. Dade 2010, 229–230). Noch fehlt eine systematische Erschließung und Untersuchung weiblicher Korrespondenznetzwerke und ihrer Bedeutung für die frühneuzeitliche Diplomatie, und dies obwohl für diese Zeit von umfangreichen Briefnetzwerken adliger Frauen ausgegangen wird (vgl. Aichholzer 1997, 477–483). Als Analysebeispiel dienen im Folgenden die Korrespondenzen zweier adliger Frauen, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts an zwei der mächtigsten europäischen https://doi.org/10.1515/9783110376531-065

5.2 Höfische Diplomatie in der Frühen Neuzeit 

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Höfe lebten: dem französischen Hof in Versailles und dem spanischen Hof in Madrid. Françoise d’Aubigné, Marquise de Maintenon (1635–1719), war die Ehefrau Ludwigs XIV. in Versailles, und Marie-Anne de La Trémoille (1642–1722), bekannt als Princesse des Ursins, stand als erste Kammerdame im Dienst der spanischen Königin Maria Luisa von Savoyen am Hof von Madrid (vgl. Bastian 2013). Die beiden Frauen wurden von der Forschung bislang als Ausnahmeerscheinungen des weiblichen Geschlechts dargestellt, und die Gründe für ihren politischen Einfluss wurden in ihren individuellen Fähigkeiten gesucht (vgl. u.  a. Lavallée 1862; Kamen 1969; Haldane 1971; Desprat 2003; Le Nabour 2007; Titeux-Thiry 2007). Zu Ausnahmen konstruiert, konnten sie immer wieder in die vorgeblich männlich dominierte Welt der frühneuzeitlichen Diplomatie eingeordnet werden, ohne dass dieses Grundkonzept in Frage gestellt werden musste. Eine systematische inhaltliche Analyse ihres gesamten Briefwerks und ein Abgleich mit den parallel geführten ‚amtlichen Kanälen‘ (zwischen Botschaftern, Ministern und Herrschern) bringt dieses Konzept jedoch ins Wanken und verspricht einen neuen Blick auf die frühneuzeitliche Diplomatie. Elf Jahre lang schrieben sich Maintenon und des Ursins beinahe wöchentlich. Die Dauer und die Regelmäßigkeit machten ihre Korrespondenz zu einer Konstanten in den Beziehungen des französischen und des spanischen Hofes. Von ihrem Briefwechsel ist nur ein Kopienbuch (livre) erhalten, das sich heute im Fonds Gualterio in der British Library in London befindet. Aufgrund einer kurzen Randbemerkung in einem anderen Bestand der British Library kann davon ausgegangen werden, dass es sich um Kopien der Originalbriefe aus dem 18. Jahrhundert handelt (vgl. BL Add. Ms. 34727, f. 235). Der vorliegende Artikel basiert auf den Archivbeständen der British Library sowie für das Jahr 1709 auf einer kritischen Edition, die Marcel Loyau auf der Grundlage dieses Bestandes herausgegeben hat (vgl. Maintenon und Ursins 2002). Die Edition der Brüder Bossanges von 1826, die üblicherweise zitiert wird, weist im Vergleich mit der Londoner Abschrift zahlreiche Ungenauigkeiten auf (vgl. Maintenon und Ursins 1826). Madame de Maintenon entstammte dem verarmten Landadel und war in jüngeren Jahren bereits eine bürgerliche Ehe eingegangen. Nach dem Tod der Königin Maria Theresia im Jahr 1683 stabilisierte eine ‚Ehe zur linken Hand‘ oder ‚morganatische Ehe‘ mit dem französischen König Ludwig XIV. ihre Position bei Hof (vgl. Horowski 2004, 102). Mit ihr erreichte die von Favoritin zu Favoritin wachsende Macht der königlichen Mätresse einen Höhepunkt. Doch schon vor ihrer Eheschließung hatte sich Madame de Maintenon durch ihre Vernetzung, die weit über den französischen Hof hinausreichte, eine solide Machtbasis geschaffen. Ihre Briefpartnerin, die Princesse des Ursins, war von Ludwig XIV. im Jahr 1701 als erste Kammerdame der spanischen Königin nach Madrid geschickt worden, wo zu Beginn des Jahrhunderts eine prekäre Situation herrschte. Mit der

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Thronbesteigung Philipps V., Enkel Ludwigs XIV., wurde in Spanien nach dem Tod des kinderlosen habsburgischen Königs Karl II. eine bourbonische Dynastie installiert. Parallel dazu erhoben auch andere europäische Kandidaten Anspruch auf den spanischen Thron. Diese konkurrierenden Ansprüche wurden von 1701 bis 1714 im Spanischen Erbfolgekrieg ausgefochten. Philipp V. war – finanziell, militärisch und politisch  – auf die Unterstützung seines Großvaters angewiesen. Am spanischen Hof – quasi ein Satellit Versailles’ – vertrat eine französische Equipe die Interessen Ludwigs XIV. – unter ihnen die Princesse des Ursins (vgl. Lynch 1989, 46–53). Sie trug die Hauptverantwortung für den Hofstaat der jungen Königin Maria Luisa: Als erste Kammerdame (camarera mayor) war sie ihr unmittelbar unterstellt und hatte zugleich die Verfügungsgewalt über sämtliche Ehren und Ämter inne. Sie war für die Kontrolle der Türen und die Verwaltung der Schlüssel für den Palastbereich der Königin zuständig (vgl. López-Cordón Cortezo 2003, 129–131). Die Kontrolle über den Zugang zur Königin kann auch im übertragenen Sinne gelten: Die camarera mayor ernannte die Hofdamen und war die Vermittlerin zur Königin. Dieser Umstand bot ihr die Möglichkeit, den Einfluss der Patronage auszuüben und durch das Arrangieren von Heiraten und die Förderung höfischer Karrieren ihre eigene Position zu stabilisieren. Ein Blick auf das Alter des Königspaars im Vergleich zur ersten Kammerdame ist aufschlussreich: Maria Luisa war zu diesem Zeitpunkt dreizehn, Philipp V. siebzehn Jahre alt, während die Princesse mit ihren beinahe sechzig Jahren von den Erfahrungen eines Lebens an verschiedenen europäischen Höfen profitierte. Sie war in der europäischen Fürstengesellschaft außerordentlich gut vernetzt (vgl. Bastian 2010, 261–276).

2 Diplomatie in der europäischen Fürstengesellschaft Netzwerke personaler Bindung hatten für die politische Praxis der Frühen Neuzeit eine überragende Bedeutung. Sie waren durch Patronage-Verhältnisse strukturiert, worunter eine gegenseitige, relativ dauerhafte und persönliche Beziehung verstanden wird, die auf materiellem und symbolischem Gabentausch beruht (vgl. Reinhard 1979, 38–40). Für die Gesamtheit aller bestehenden Beziehungsstränge zweier Herrschaftsverbände, ihre ‚Außenbeziehungen‘ (vgl. von Thiessen 2010, 475–477; Nolde 2013, 179–198), wird im Folgenden – wie in der Forschung allgemein üblich – der Begriff ‚Diplomatie‘ synonym verwendet, wohl wissend, dass er für das 16. und 17. Jahrhundert anachronistisch ist. Frauen waren aufgrund ihres Geschlechts zwar von der Bekleidung der Ämter in den Außenbeziehungen ausgeschlossen. Da aber die wenigen ‚amt­lichen‘

5.2 Höfische Diplomatie in der Frühen Neuzeit 

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Kanäle  – etwa zwischen Botschafter und Ministern  – auf parallele, höfische Kanäle angewiesen waren, bedeutet dies nicht, dass Frauen der Handlungsraum der Diplomatie generell verschlossen blieb. Im Gegenteil: Das Informelle gehörte zum System. Informelle (im Sinne von nicht amtlichen) Wegen waren nötig, ja, sie waren funktionaler Bestandteil der diplomatischen Verbindungen. Die Beziehungen zwischen den Höfen bestanden zwischen Akteur*innen und nicht zwischen abstrakten Machtzentren und waren daher zugleich privater und politischer Natur. Diese Beobachtung gilt auch für die Korrespondenzen jener Akteur*innen: Sie können weder als rein politisch noch als rein privat interpretiert werden. Denn diese Kategorisierung wurde erst von der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts etabliert – im Wesentlichen basierend auf der Theorie des Strukturwandels von Jürgen Habermas (2006 [1962]). In der Folge wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts einer „männlich codierte[n] Öffentlichkeit“ eine „weiblich markierte Privatsphäre“ gegenübergestellt (Opitz 2002, 17). Dies wird seit geraumer Zeit in der Forschung kritisch gesehen (vgl. Hausen 1992, 85; Aichholzer 1997, 478; Wunder 1997, 31; Weckel et al. 1998; Couchman und Crabb 2005, 5; Ruppel 2006, 67–82). Um frühneuzeitlichen politischen Verhältnissen gerecht zu werden, ist es daher sinnvoll, auf die Dichotomie von privat und öffentlich zu verzichten. Analog zu dieser folgenreichen Unterscheidung wurde der Brief in der Geschichtswissenschaft lange Zeit der Sphäre des Privaten zugeordnet. Interpretiert als ‚Ego-Dokumente‘ oder ‚Selbstzeugnisse‘ waren insbesondere Briefe von Frauen für die Diplomatiegeschichtsschreibung nicht von Interesse. Durch die Konzeptualisierung von Briefen als ‚typisch weibliches Genre‘ wurde ein weiteres Stereotyp geschaffen (vgl. Runge und Steinebrügge 1991; Favret 1993; Niemeyer 1997; Earle 1999; Planté 1998). Vielmehr war jedoch dank technischer und infrastruktureller Entwicklungen der Brief zum Kommunikationsmittel und Handlungsinstrument des europäischen Adels schlechthin avanciert (vgl. Daybell 2006, 151; Jucker 2007, 195; Boutier et al. 2009, 17–19).

3 Die Rahmenbedingungen des Schreibens Den größten Teil ihrer Briefe diktierten Madame de Maintenon und die Princesse des Ursins einem Sekretär. Nicht fehlende Schreibkompetenz, sondern Arbeitsökonomie und die höfische Etikette waren die Gründe hierfür. Von adligen Autoren  – Männern wie Frauen gleichermaßen  – wurde erwartet, dass die (Hand-)Arbeit des Schreibens von einem Sekretär übernommen wurde. Ausgenommen waren die eigenhändige Unterschrift sowie ein gelegentliches PostScriptum.

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Die Briefe waren ganz offensichtlich nicht allein für die jeweiligen Verfasser*innen und Adressat*innen bestimmt. So wird beispielsweise in der Korrespondenz der beiden Frauen an vielen Stellen deutlich, dass Madame de Maintenon die Briefe Ludwig XIV. vorlas, die Inhalte mit ihm besprach (vgl. u.  a.: Maintenon an Ursins, 12.2.1708, BL Add. Ms. 20918, f. 399) oder sich bei der Niederschrift in seinen Räumen befand (vgl. u.  a.: Maintenon an Ursins, 10.8.1710, BL Add. Ms. 20919, f. 310). Ebenso las die Princesse des Ursins Maintenons Briefe dem spanischen Herrscherpaar vor (vgl. u.  a.: Ursins an Maintenon, 7.9.1714, BL Add. Ms. 20920, f. 279–280). Darüber hinaus hatten beide Frauen Einblick in die Korrespondenzen der Staatssekretäre (vgl. u.  a.: Maintenon an Ursins, 30.7.1708, BL Add. Ms. 20919, f. 28), verschiedener Offiziere (vgl. u.  a.: Maintenon an Ursins, 13.8.1713, BL Add. Ms. 20920, f. 182) und des französischen Botschafters in Madrid (vgl. u.  a.: Ursins an Maintenon, 12.8.1706, BL Add. Ms. 20918, f. 103). Auch die Korrespondenz zwischen dem französischen König und seinem Botschafter war beiden Frauen zugänglich (vgl. u.  a.: Ursins an Maintenon, 7.2.1709, Maintenon und Ursins 2002, 105; Maintenon an Ursins, 5.8.1709, Maintenon und Ursins 2002, 240). Die Princesse kannte außerdem die Briefe König Philipps V. (vgl. u.  a.: Ursins an Maintenon, 24.6.1707, BL Add. Ms. 20918, f. 28) und die der Königin (vgl. Ursins an Maintenon, 3.7.1707, BL Add. Ms. 20918, f. 297). Beide Frauen waren von Philipp V. ausdrücklich autorisiert worden, seine Briefe an Ludwig XIV. zu lesen (vgl. Philipp V. an Maintenon, 8.3.1714, AAE M&D Espagne 106, f. 46; Ursins an Maintenon, 26.8.1709, Maintenon und Ursins 2002, 257). Es war offensichtlich eher der Normalfall, dass der Kreis der beteiligten Personen über den bzw. die Empfänger*in hinausging. Dies zeigt sich auch in dem Umstand, dass explizit darauf hingewiesen wurde, wenn ein Brief ausschließlich für den bzw. die Adressat*in bestimmt war (vgl. Maintenon an Ursins, 10.12.1707, BL Add. Ms. 20918, f. 370). Es kommunizierten also eher Personengruppen als Einzelpersonen miteinander. Die Umstände, unter denen die beiden Frauen ihren Briefwechsel aufnahmen, lassen vermuten, dass ihre Korrespondenz vom französischen König angeordnet worden war. Madame de Maintenon und die Princesse des Ursins kannten einander persönlich aus der Pariser Gesellschaft der 1660er Jahre. Als die Princesse des Ursins 1701 ihr Amt als Kammerdame der spanischen Königin antrat, begannen die beiden ihren brieflichen Austausch. Doch erst von 1705 an bekam der Briefwechsel seinen festen, etwa wöchentlichen Rhythmus. Gab es keine Neuigkeiten, waren die Briefe kurz, blieben aber nie ganz aus – ähnlich wie die Depeschen eines Botschafters, der auch dann zu berichten hatte, wenn nichts Neues vorgefallen war (vgl. Wicquefort 1690, 103). Der Grund für die Intensivierung ihres Austauschs wird angesichts der Ereignisse um das Jahr 1705 deutlich.

5.2 Höfische Diplomatie in der Frühen Neuzeit 

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In höfischen Memoiren ist zu lesen, dass es im Januar 1705 im Schloss Marly stundenlange Gespräche zwischen den beiden Frauen und dem französischen König gegeben habe (vgl. u.  a. Dangeau 1854–1860, Bd. 10, 229–231). Aufschlussreich ist ein Blick auf die vorangegangenen Monate: Machtpolitische Querelen unter den französischen Akteur*innen in Madrid hatten die politischen Geschäfte gelähmt. Im April 1704 wurden der französische Botschafter, die Princesse des Ursins und ihr gesamtes Umfeld (entourage) aus Madrid abberufen. Die Frage nach dem weiteren Schicksal der Princesse führte zu einem regen Austausch zwischen Versailles und Madrid (vgl. Cermakian 1969, 309–323). Die Entscheidung immer wieder aufs Neue zu erklären, war Maintenons Aufgabe: Der wichtigste Grund sei, so Maintenon, dass man die Princesse anklage, „dass sie ganz allein habe regieren und die Botschafter des Königs nutzlos machen wollen“ (Maintenon an Maria Luisa, 5.10.1704, AAE M&D Espagne 128, f. 58–60). Doch Königin Maria Luisa blockierte die politischen Geschäfte, um ihre Kammerdame zurückzubekommen, und auch der neue französische Botschafter Gramont bat Ludwig XIV., die Maßnahme rückgängig zu machen: Ohne die Princesse des Ursins könne man in Madrid nichts ausrichten (vgl. Gramont an Ludwig XIV.,14.10.1704, AAE CP Espagne 142, f. 231). Daraufhin wurde die Princesse von Madame de Maintenon und Ludwig XIV. empfangen (Maintenon an Ursins, 6.5.1708, BL Add. Ms. 20919, f. 7). Ein Ergebnis ihrer Gespräche war die regelmäßige Korrespondenz, die die beiden Frauen gleich nach der Abreise der Princesse aufnahmen. Madame de Maintenon bezeichnet sie gelegentlich als geregelten Austausch (commerce reglé) und als ihre Pflicht (devoir). Der Briefwechsel sollte offensichtlich eine regelmäßige und direkte Kontrolle der ersten Kammerdame und somit des spanischen Königspaares ermöglichen sowie die Zusammenarbeit zwischen der Princesse und dem französischen Botschafter, den beiden zu diesem Zeitpunkt einflussreichsten Vertretern Ludwigs XIV. in Madrid, überwachen.

4 Ein Netzwerk in Briefen Es lohnt ein Blick in die weiteren Korrespondenzen der beiden Frauen, die sie mit Personen aus ihrem engsten höfischen Umfeld bis hin zu Austauschpartnern anderer europäischer Höfe pflegten. Mittels dieser Korrespondenzen hielten sie ihre hof-, landes- und europaweiten Netzwerke aufrecht. Ihre Briefpartner*innen stammten sämtlich aus dem Adel, teils aus dem Amts-, teils aus dem Schwertadel. Es waren sowohl Männer als auch Frauen, höfische Amtsträger*innen genauso wie solche aus der Verwaltung und die Herrscher persönlich. Familiärdynastische, ministerielle und freundschaftliche Netzwerke überlagerten sich.

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 5 18. Jahrhundert

Die Korrespondenzen unterscheiden sich vor allem hinsichtlich ihrer Intensität, die sich aus der Länge der Briefe und der Frequenz des Austauschs ergibt. Die Vertrautheit mit dem oder der Empfänger*in bestimmte den Grad an Formalität. So gut wie keinen Einfluss hatte offensichtlich das Geschlecht der Adressat*innen: Weder waren die Korrespondenznetzwerke vornehmlich weiblich oder männlich dominiert, noch waren die Inhalte der Briefe geschlechtsspezifisch: Vielmehr entsprachen die Themen Kompetenzbereichen, die sich nicht aus dem Geschlecht, sondern aus dem spezifischen Einsatz oder der Rolle der jeweiligen Briefpartner*innen ergaben. In ihren Korrespondenzen vermittelten die beiden Frauen die königliche Gunst in Form von Ämtern, Ehrentiteln und Informationen. In allen ihren Briefwechseln finden sich Mitteilungen über das Befinden der Herrscher*innen und der höfischen Elite, über gemeinsame Bekannte, über den eigenen Gesundheitszustand, über Ereignisse am Hof. Madame de Maintenon und die Princesse des Ursins konnten auf diese Weise ihren Ruf als ‚Wissende‘ und damit ihre Machtposition festigen. Auch militärische Themen wurden kontrovers diskutiert. In ihren Briefwechseln mit jüngeren Militärs oder Botschaftern fungierten sie häufig als eine Art Mentorin: Sie gaben die Ansichten und Befehle der Herrscher weiter oder formulierten eigene Ratschläge. Immer wieder wurden sie von ihren Briefpartner*innen auch gebeten, mit ihrer Stimme einem Anliegen Gewicht zu verleihen. Ihre Briefpartner*innen und die Herrscher verfügten über einen zusätzlichen Kanal, mit dessen Hilfe sie die anderen Kanäle kontrollieren konnten. Besonders umfangreich und inhaltlich detailliert ist die Korrespondenz der Princesse des Ursins mit den französischen Staatssekretären, offensichtlich weil die Princesse eine Stellung in Madrid innehatte, die sie für die politischen Geschäfte der französischen Krone unumgänglich machte. So berichtete sie beispielsweise dem Staatssekretär für Auswärtiges, Colbert de Torcy, zwischen 1702 und 1714 zeitweise wöchentlich ausführlich über die Angelegenheiten Spaniens (affaires d’Espagne), schlug politische Maßnahmen vor und kommentierte die Entscheidungen Versailles’. Der Staatssekretär erwartete diese Berichterstattung von ihr und holte immer wieder ihre Meinung ein. Er gab seinerseits persönliche und königliche Anweisungen an sie weiter (vgl. u.  a.: Torcy an Ursins, 6.8.1702, Ursins 1902–1907, 78). Die Korrespondenzen der beiden Frauen waren demnach Instrumente der Information, der Selbstinszenierung und der Netzwerkpflege und stellten wichtiges ‚politisches Kapital‘ dar.

5.2 Höfische Diplomatie in der Frühen Neuzeit 

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5 Die Bedeutung der Korrespondenz Für frühneuzeitliche Adelsbriefe existierte ein spezielles Briefzeremoniell, das für weibliche wie männliche Autor*innen an allen europäischen Höfen galt und seinen Ursprung in Frankreich hatte (vgl. u.  a. de la Serre 1693). Insbesondere die formalen und inhaltlichen Regeln der Botschafterdepeschen waren bereits seit dem 16. Jahrhundert festgelegt und in einer umfangreichen Traktatliteratur niedergeschrieben worden (vgl. u.  a. Wicquefort 1690, 102–113). Der Aufbau der Briefe der beiden Frauen folgte zwar keinem starren Schema, wies jedoch einige Regelmäßigkeiten auf. Zu Beginn wurde gewöhnlich der Empfang der letzten Briefe mit Nennung des Datums bestätigt oder sein Fehlen moniert. Dass sie sich für einen fehlenden Brief – meist mit dem Verweis auf gesundheitliche Probleme – entschuldigten, hängt damit zusammen, dass eine ausbleibende Antwort, Verzögerungen und Unregelmäßigkeiten als mangelnder Respekt hätten interpretiert werden können (vgl. Daybell 2006, 160). Die Bestätigung und die Kommentare zu den erhaltenen Briefen dienten darüber hinaus dazu, Respekt zu äußern und Ehre zu erweisen. Hier scheinen sich die beiden Frauen der gesamten Palette der üblichen Formulierungen bedient zu haben: Man bedankte sich und lobte den Brief der anderen (vgl. u.  a. Maintenon an Ursins, 29.4.1713, BL Add. Ms. 20920, f. 158; Ursins an Maintenon, 29.10.1708, BL Add. Ms. 20919, f. 63). Man entschuldigte sich für den eigenen Brief, der zu ausführlich gewesen sei und der anderen die Zeit stehle (vgl. u.  a. Maintenon an Ursins, 29.4.1713, BL Add. Ms. 20920, f. 158; Ursins an Maintenon, 29.10.1708, BL Add. Ms. 20919, f. 63), und beteuerte im Gegenzug, dass der empfangene Brief keinesfalls zu umfangreich gewesen sei (vgl. u.  a.: Ursins an Maintenon, 29.10.1708, BL Add. Ms. 20919, f. 63). Da aber im Grunde die Länge eines Briefes der dem Adressaten oder der Adressatin erwiesenen Ehre entsprach (vgl. Roosen 1976, 142), fand hier etwas statt, das als ‚Spiel der Ehre‘ bezeichnet werden kann. Die Bitte um Entschuldigung für etwas, was dem Gegenüber eigentlich Ehre erwies, nahm der Formulierung den Charakter des Beabsichtigten. Sodann wurde auf die Inhalte der erhaltenen Briefe eingegangen. Sie wurden Abschnitt für Abschnitt aufgegriffen (vgl. u.  a.: Maintenon an Ursins, 29.3.1707, BL Add. Ms. 20918, f. 227), teils nur wiederholt, teils kommentiert und ergänzt. In der Reihenfolge orientierten sie sich am zu beantwortenden Brief – wie es Botschaftern für ihre Depeschen empfohlen wurde. Auch dies hatte zunächst einen pragmatischen Hintergrund: Es zeigte, dass der richtige, vollständige Brief eingegangen war. Doch durch die Wiederholung des Mitgeteilten fand auch eine Art ‚gemeinsames Einschwingen‘ auf die Konversation, auf das ‚Gespräch unter Abwesenden‘ statt. Dem Gegenüber wurde signalisiert, dass er verstanden wurde. So war der Boden für die folgende Verhandlung bereitet.

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 5 18. Jahrhundert

Der Abgleich mit den üblichen, codierten Briefkonventionen lässt einen relativ flexiblen Umgang erkennen, was zunächst auf die Gleichrangigkeit der Korrespondentinnen hindeutet. Bisweilen wurden Konventionen und Standards auch in der Formulierung selbst reflektiert und dadurch in ihrer Wirkung verstärkt: „Ich verpflichte mich sehr gern, Madame, Sie mein ganzes Leben lang zu lieben; der Satz ist zu gewöhnlich, aber er kommt aus tiefstem Herzen.“ (Maintenon an Ursins, 12.8.1708, BL Add. Ms. 20919, f. 40) Die höchste Steigerung dieser Art von Ehrbezeugung bestand allerdings darin, sich zu versichern, dass man gerade keine Etikette nötig habe (Maintenon an Ursins, 11.1.1712, BL Add. Ms. 20920, f. 90). Die Versicherung, keine Etikette zu brauchen, um sie zugleich in Perfektion zu befolgen, war ebenfalls Teil des ‚Spiels der Ehre‘. Der Stil ihrer Briefe entspricht der Kunst der ‚conversation‘, einem Kommunikationsstil, der klaren Regeln folgte, dabei aber stets mühelos erscheinen sollte. Seine symbolischen Formen waren für die Situation der Verhandlung geradezu prädestiniert. Die Protagonist*innen in den Briefen der beiden Frauen sind der französische König Ludwig XIV., das spanische Königspaar Maria Luisa von Savoyen und Philipp V. nebst Angehörigen beider Hofgesellschaften. Der Alltag bei Hofe wird in den Beschreibungen von Festen, Zeremonien, Theater- und Musikdarbietungen, aber auch von Essgewohnheiten und medizinischen Behandlungsmethoden greifbar. Dominant sind jedoch Nachrichten über die politische und militärische Lage der französischen und der spanischen Krone. Maintenon und Des Ursins diskutieren über den Kriegsverlauf, strategische Entscheidungen und die laufenden Verhandlungen. Die Bandbreite der Themen, die aus der Korrespondenz der beiden rekonstruiert werden konnten, reicht von der Frage, ob Philipp V. seine Armee an der Front persönlich anführen sollte oder nicht, bis zu jener, welchen Status Maria Luisa während ihrer Regentschaften im Jahr 1705 und 1707 haben sollte. Mal wurde die Deutung eines Hofskandals oder des Konflikts der französischen Generäle im Kampf um Lille ausgehandelt, mal wurden ganz konkrete Maßnahmen wie zusätzliche Getreidelieferungen für spanische Gebiete oder die Entscheidung für eine zweite Ehefrau für Philipp V. nach dem Tod der Maria Luisa verhandelt (vgl. Bastian 2013, 343–418). Ein ständiges Thema war das Drängen der Princesse auf mehr Unterstützung durch französische Truppen, die Ludwig XIV. seit Kriegsbeginn sukzessive zurückzog. Hier zeigt sich, dass die Princesse ihre Korrespondenzen nach Versailles zur Verhandlung konkreter militärischer Modalitäten verwendete. Dies tat sie parallel und in Abstimmung mit den anderen französischen Akteur*innen in Madrid. Hier verhandelten die beiden Frauen also stellvertretend für die beiden Kronen, und zwar vor allem ein Thema: die Unterstützung Ludwigs XIV. für das spanische Königspaar und damit den Hauptaspekt der französisch-spanischen Beziehungen (vgl. Bastian 2013, 341–356).

5.2 Höfische Diplomatie in der Frühen Neuzeit 

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Was zeichnete nun aber konkret den Briefwechsel der beiden Frauen gegenüber den ‚amtlichen Kanälen‘ zwischen Versailles und Madrid, also jenen zwischen Botschaftern, Herrschern und Ministern, aus? Schon bald nach ihrer Ankunft am Hof im Jahr 1701 bestimmte die Princesse maßgeblich die Politik am spanischen Hof und rasch auch die Wahl des französischen Botschafters. Aufgrund ihrer hybriden Position als Kammerdame der spanischen Königin und Agentin Ludwigs XIV. vermochte sie, zwei politische Handlungsfelder zu verbinden: die spanische Hofpolitik und die Außenbeziehungen beider Kronen. Vergleicht man die Kompetenzen des Botschafters mit jenen der Princesse, so ist zunächst festzuhalten, dass die Aufgaben des Botschafters in seinen Instruktionen und seiner Akkreditierung festgeschrieben waren, wenn sie ihm in der Praxis auch Gestaltungsmöglichkeiten ließen. Der Auftrag der Princesse war indes an keiner Stelle schriftlich präzisiert worden und konnte in ihren Korrespondenzen mit dem französischen Hof ausgehandelt werden (vgl. u.  a.: Ursins an Torcy, 28.11.1701, AAE M&D 105, f. 203; Torcy an Ursins, 25.12.1701, AAE M&D 105, f. 312). Darüber hinaus konnte sie als erste Kammerdame und somit Teil des Hofstaats der Königin das Königspaar aufsuchen, ohne sich eine formale Audienz verschaffen zu müssen – anders als der französische Botschafter. Sie konnte sich in den Verhandlungen gegebenenfalls auch auf die Seite des spanischen Königspaares stellen und sich so dessen Vertrauen bewahren. Und sie konnte im Jahr 1709, als alle Vertreter Ludwigs XIV. den spanischen Hof verlassen mussten, in Madrid bleiben. Im Vergleich zum französischen Botschafter hatte die Princesse also strukturell und ‚beziehungstechnisch‘ den direkteren Zugang zum Herrscherpaar.

6 Zusammenfassung Die Korrespondenzen der beiden Frauen bildeten das wichtigste Instrument ihrer Beziehungspflege und dienten der Ver- und Aushandlung diplomatischer und politischer Themen. Sie sind Teil einer ‚höfischen Kultur der Außenbeziehungen‘, die sich durch das Handeln in Netzwerken kennzeichnet sowie durch die Parallelität von Kommunikationskanälen, die zwischen Männern und Frauen gleichermaßen bestanden. In außergewöhnlichen Fallbeispielen wie jenem der Madame de Maintenon und der Princesse des Ursins zeigt sich, was zu einer bestimmten Zeit möglich war. Weitere Forschungen zum diplomatischen Wirken adliger Frauen in der Frühen Neuzeit sind bislang sporadisch (vgl. die Zusammenstellung bei Bastian 2013, 432–435). Sie untermauern jedoch die These, dass das Beispiel Maintenon und Des Ursins exemplarisch für ein strukturelles Phänomen steht, jenes der Einbindung adliger Frauen in die höfische Diplomatie der Frühen Neuzeit.

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 5 18. Jahrhundert

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5.2 Höfische Diplomatie in der Frühen Neuzeit 

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5.2 Höfische Diplomatie in der Frühen Neuzeit 

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Weiterführende Literatur Bastian, Corina, Eva Dade, Hillard von Thiessen u. Christian Windler (Hg.) (2014). Das Geschlecht der Diplomatie. Geschlechterrollen in den Außenbeziehungen vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Köln u.  a. Bastl, Beatrix (2000). Tugend, Liebe, Ehre. Die adelige Frau in der Frühen Neuzeit. Wien. Furger, Carmen (2010). Briefsteller. Das Medium „Brief“ im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Köln u.  a. Gebke, Julia, Stephan F. Mai u. Christof Muigg (Hg.) (2019). Das diplomatische Selbst in der Frühen Neuzeit. Verhandlungsstrategien – Erzählweisen – Beziehungsdynamiken. Wien; https://representation.univie.ac.at/volume/ (27.11.2019). Greyerz, Kaspar von (Hg.) (2007). Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit. München. Sluga, Glenda, Carolyn James (Hg.) (2016). Women, Diplomacy and International Politics since 1500. New York.

Brunhilde Wehinger

5.3 Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich II., König von Preußen Die Korrespondenz der beiden ebenso prominenten wie produktiven Briefautoren erstreckt sich über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten und umfasst ca. 700 Briefe. Für die facettenreiche Briefkultur des 18. Jahrhunderts ist dieser Briefwechsel vor allem hinsichtlich des Bündnisses von Geist und Macht, das sich in diesem schriftlichen Austausch im Zeichen der Aufklärung artikuliert, aufschlussreich. Die Korrespondenz gewährt Einblicke in das Denken Voltaires und Friedrichs II. Die Initiative ging von Friedrich II. aus: Am 8. August 1736 schrieb der damals vierundzwanzigjährige preußische Kronprinz dem achtzehn Jahre älteren Voltaire den ersten Brief: Es ist ein eigenhändig verfasstes Schreiben, das Friedrichs überschwängliche Bewunderung und seine fundierte Kenntnis der Werke des französischen Autors und philosophe zum Ausdruck bringt. Philosophe bedeutet im Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts ‚Aufklärer‘, der als ‚mondän‘, der Welt zugewandt gilt, in den Salons verkehrt, auf dem Buchmarkt präsent ist und über ein dichtes Korrespondentennetzwerk verfügt. Der philosophe betrachtet den Brief als willkommene Gelegenheit, den geistreich-geselligen Austausch möglichst formvollendet fortzusetzen, die Flüchtigkeit des Gesprächs festzuhalten und archivierbar zu machen. Mit dem kontinuierlichen Ausbau der Postwege gingen Aufschwung und Beliebtheit des Briefes im 18. Jahrhundert ebenso einher wie die Intensivierung des Briefverkehrs, der durch das Briefgeheimnis geschützt war und es ermöglichte, an weit voneinander entfernt gelegenen Orten an der Kommunikation der sich konstituierenden Öffentlichkeit teilzuhaben, ohne dass sogleich die Intervention der Zensur drohte. Die Sprache der Briefkultur, an der Voltaire und Friedrich II. partizipierten, ist die französische, die im 18. Jahrhundert das Lateinische ablöste und im Zeichen der Aufklärung zur Landes- und Standesgrenzen überschreitenden Sprache der Gebildeten avancierte (vgl. Fumaroli 2001).

1 Philosophisch-literarische Korrespondenz Als philosophe verstand sich auch Friedrich II. in seiner Rolle als Briefautor und Schriftsteller. Seinen Dichtungen und frühen Prosawerken gab er den Titel Œuvres du Philosophe de Sans-Souci (1750). Der Philosoph von Sanssouci betrachtete die französische Sprache nicht länger nur als Sprache des europäischen Adels und https://doi.org/10.1515/9783110376531-066

5.3 Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich II., König von Preußen 

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der Diplomatie, sondern auch als Sprache seiner Dichtungen, philosophischen Essays, Geschichtswerke und insbesondere exklusiv als Sprache der stilvollen Briefkommunikation, die er in seiner persönlichen Korrespondenz mit Schriftstellern und Aufklärungsphilosophen, an erster Stelle Voltaire, fünf Jahrzehnte lang unter Beweis stellte. In Briefen und Vorreden zu seinen Werken betont der König die Bedeutung, die die Sprache Voltaires angesichts ihrer Eleganz, Klarheit und Prägnanz für ihn hat (vgl. Wehinger 2014, 17–34). Anders als die deutsche Sprache bot ihm die französische bereits in jungen Jahren einen Freiraum für eigenständiges Denken, einen intellektuellen Referenzhorizont und ein stilistisches Repertoire, das er im Briefwechsel mit Voltaire kontinuierlich auslotete. Seit der Thronbesteigung (1740) bezeichnete ihn Voltaire als roi-philosophe. Für die persönliche Korrespondenz eines regierenden Fürsten des 18. Jahrhunderts vom Format Friedrichs II., der sich vorgenommen hatte, sich die an antike Vorbilder erinnernde Doppelrolle des roi-philosophe zu eigen zu machen, schien das Französische umso besser geeignet, als es aus seiner Sicht für den von Voltaire am besten verkörperten esprit stand. Die vielschichtige Semantik des Wortes philosophe verleiht dem Briefwechsel zwischen Voltaire und dem preußischen König das Vorzeichen. Dabei handelt es sich um den Briefwechsel zwischen dem damals berühmtesten bürgerlichen Schriftsteller und wichtigsten Repräsentanten der westeuropäischen Aufklärung französischer Prägung und dem schriftstellerisch ambitionierten preußischen König, der offen für das von Voltaire propagierte Denken war und bestrebt, den Argumenten im Zeichen der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen. Sowohl hinsichtlich der Themen, die Voltaire und Friedrich II. zur wechselseitigen Mitteilung veranlassten, als auch hinsichtlich des Schreibstils handelt es sich um einen philosophisch-literarischen Briefwechsel im Verständnis des 18.  Jahrhunderts. Literatur, Poesie, Philosophie und Geschichtsschreibung sind der kontinuierlich wiederkehrende Gegenstand der Korrespondenz, die darüber hinaus, wie jeder andere Briefwechsel, den Austausch über alltägliche Beobachtungen, persönliches Befinden, Meinungen und Kommentare zum ‚Lauf der Welt‘ beinhaltet. Stilistisch werden alle Register der Kunst souveräner Unterhaltung gezogen – auch im Sinne von gegenseitiger Bestärkung, Zustimmung oder diplomatisch formulierter Kritik. „Im Vergleich zu Briefwechseln späterer, bürgerlicher Zeiten, in denen ein anderer, privater Ton vorherrscht, entfaltet das schriftliche Zwiegespräch zwischen Voltaire und Friedrich noch einmal alle Möglichkeiten der antiken, der klassischen, der vorrevolutionären Rhetorik“ (Pleschinski 21995, 577–578). Dienten Voltaires Briefe an den König – sei es offenkundig oder in subtilen Anspielungen  – insgesamt der Propagierung der Aufklärung, so suchte Fried­ rich II. vor allem den intellektuellen Austausch mit dem ‚Starphilosophen‘ seiner Zeit. In seinem ersten Brief vom 8. August 1736 bittet der junge Kronprinz den Autor

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der Lettres philosophiques (1734, „Philosophische Briefe“)  – Voltaires Manifest der Aufklärung, das in Frankreich verboten war – um die Zusendung sämtlicher Werke (vgl. Voltaire und Friedrich der Große 21995, 7–11). Friedrich erweist sich von Beginn an als versierter Voltaire-Leser, der seine grenzenlose Bewunderung mit schmeichelhaften Worten zu Papier bringt. Voltaires Antwortbrief ließ nicht auf sich warten. Für den im innerfranzösischen Exil lebenden, seit der Publikation der Lettres philosophiques per Haftbefehl gesuchten Schriftsteller bedeutete das Schreiben des jungen Fürsten, der dem Denken der Aufklärung gewogen war und alsbald König von Preußen werden sollte, eine prestigereiche Anerkennung seines Schaffens und versprach fürstliche Unterstützung im Kampf um die Durchsetzung des aufgeklärten Denkens. Bis zu seinem Tod (30. Mai 1778) blieb Voltaire dem Philosophen von Sanssouci, den er von Beginn an als Mitstreiter zu gewinnen suchte, als Korrespondent treu, mit einer Unterbrechung Mitte der 1750er Jahre, verursacht durch das Debakel während seines Aufenthalts in Potsdam und der vom preußischen König veranlassten Verhaftung Voltaires in Frankfurt am Main. In seinem letzten Brief an Friedrich II. vom 1. April 1778 blickt Voltaire, der die Korrespondenz 1757 wieder aufgenommen hatte, zurück auf die erfolgreiche Verbreitung der Lumières und resümiert die erzielten Fortschritte der Vernunft in einer für ihn typischen Formulierung, die das Lob mit der unausgesprochenen Erwartung verknüpft, der König möge dem Herrscherlob gerecht werden: So ist es also wahr, Sire, daß die Menschen am Ende doch hellsichtig werden und daß jene, die glauben, dafür entlöhnt zu werden, daß sie die Menschen blenden, nicht ewig die Herren darüber sein werden, ihnen die Augen auszureißen. Dank dafür werde Ew. Majestät zuteil! Sie haben die Vorurteile besiegt, wie auch Ihre anderen Feinde […]. Sie sind der Überwinder des Aberglaubens […]. (Voltaire und Friedrich der Große 21995, 556–557)

2 Asymmetrische Beziehung In der Korrespondenz nehmen die Bekundungen der intellektuellen und persönlichen Verbundenheit großen Raum ein. Friedrich II. erklärt die Freundschaft, den vertrauensvollen Austausch von Mensch zu Mensch zur Grundlage seines Briefwechsels mit Voltaire. Nachdem er am 31. Mai 1740 die Regentschaft angetreten hat, schreibt er in seiner neuen Rolle als absoluter Monarch am 6. Juni 1740: Mein werter Freund, mein Los ist ein anderes geworden […]. Ich bitte Sie, sehen Sie in mir nichts als einen fleißigen Bürger, einen leicht skeptischen Philosophen, doch einen wahrhaft treuen Freund. In Gottes Namen, schreiben Sie mir einfach als Mensch und verpönen Sie bei mir Titel, Namen und äußerlichen Glanz. […] Lieben Sie mich auf immer und seien

5.3 Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich II., König von Preußen 

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Sie stets wahrhaftig mit Ihrem Freund. Federic (Voltaire und Friedrich der Große 21995, 172–173)

Voltaire antwortet in Form einer fein ziselierten Ode, „Dem König von Preußen anlässlich seiner Thronbesteigung“ [„Au roi de Prusse sur son avènement au trône“, Voltaire und Friedrich der Große 21995, 173–176]. Es erklingt ein Loblied auf die Tugenden des neuen Herrschers, das hohen Erwartungen an den Philosophen auf dem Thron und der Hoffnung auf königliche Unterstützung im Kampf gegen die Feinde der Aufklärung Ausdruck verleiht. Auf den Wunsch des Königs, wahrhaftig von Mensch zu Mensch zu kommunizieren, antwortet Voltaire am 18. Juni 1740: Ew. Majestät befehlen mir, beim Schreiben weniger an den König als an den Menschen zu denken. Diese Order ist ganz nach meinem Herzen. Ich verstehe mich nicht auf den Umgang mit einem König; doch bei einem wirklichen Menschen, in dessen Kopf und Herzen die Liebe zum Menschengeschlecht lebt, ist mir wohl (Voltaire und Friedrich der Große 21995, 179).

Voltaire beherrschte die höfischen Formen der Kommunikation meisterhaft; über die königlichen Zeichen der Freundschaft machte er sich keine Illusionen. Wenige Monate nach der oben zitierten Freundschaftserklärung des jungen Königs musste er zur Kenntnis nehmen, dass Friedrich II. den militärischen Überfall auf Schlesien plante, ohne dass dies im Briefwechsel auch nur angedeutet worden wäre. Insgesamt beruht das schriftliche Zwiegespräch mit Voltaire, das für die eigenwillige Selbststilisierung Friedrichs II. als roi-philosophe von eminenter Bedeutung war, auf unausgesprochenen Regeln, die letztlich beinhalten, dass der König darüber befindet, was im Austausch mit Voltaire sagbar ist. Erweisen sich Poesie, Philosophie und Wissenschaft kontinuierlich als gemeinsames Fundament des auf Augenhöhe geführten Briefwechsels, so bleibt die konkrete Politik des Monarchen tabu (vgl. Mervaud 2003, 531–536). An der Kompetenz, mit dem unausgesprochenen Tabu sowie dem ‚Gebot‘, weder die Legitimität der monarchischen Instanz noch die preußische Politik zu erörtern, umzugehen und dennoch das Wort zu ergreifen, bemisst sich für den König der Rang seiner persönlichen Briefpartner jenseits des Politischen. Auch ist er es, der über den Grad der Vertrautheit und die Tonlage des Briefwechsels entscheidet. Das zeigt sich in der Anrede und in den Grußformeln, die dem König in zahlreichen Varianten zur Verfügung stehen, vom formellen „Monsieur“ bis zum viel zitierten „Mon cher Voltaire“ [„Mein lieber Voltaire“]. Für Voltaire gibt es nur eine Form der Anrede: „Sire“. Umso vielfältiger und anspielungsreicher sind hingegen die Grußformeln, die Voltaire im Laufe der Jahre in den Briefen an Friedrich II. durchspielt. In den frühen Jahren dominieren höfische Komplimentierkunst und rhetorische ‚Ver-

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beugungen‘, wie im Brief vom 18. Juni 1740, in dem es heißt: „Ich verbleibe mit zärtlichster Dankbarkeit, tiefstem Respekt und, unnötig dies zu sagen, mit Gefühlen, Sire, die auszudrücken ich nicht imstande bin“ (Voltaire und Friedrich der Große 21995, 182). In späteren Jahren grüßt der berühmte, wohlhabend gewordene „Patriarch aus Ferney“, der auf königliche Unterstützung nicht länger angewiesen ist, den „Philosophen von Sans-Souci“ selbstbewusst mit Formulierungen, die Respekt und Bewunderung, Humor und Ironie, stets jedoch Voltaires esprit pointiert zum Ausdruck bringen. Die in gesellschaftlicher, machtpolitischer und nicht zuletzt persönlicher Hinsicht asymmetrische ‚Freundschaft‘ zwischen dem König und dem bürgerlichen Schriftsteller ist nur im Medium des Briefes artikulierbar. Die mit der Briefkultur einhergehende physische Distanz erweist sich als stabile Voraussetzung für das schriftliche ‚Zwiegespräch‘ der beiden charakterlich ebenso unterschiedlichen wie historisch bedeutenden Persönlichkeiten. Doch der Briefwechsel, der im Interesse des Königs im Schonraum der Nichtöffentlichkeit stattfand, lässt erkennen, dass es ihnen über vier Jahrzehnte gelang, den philosophisch-literarischen ‚Dialog‘ auf Distanz auf hohem Niveau zu entfalten. In der Rolle des korrespondierenden „Philosophen von Sans-Souci“ schuf sich Friedrich II. einen diskursiven Freiraum, der dem zeitgenössischen Publikum vorenthalten bleiben sollte. Die Missachtung des Briefgeheimnisses ließ sich jedoch auch bei den Briefen des Königs nicht verhindern. Veröffentlichungen einzelner Briefe an Voltaire in Zeitschriften oder die Verbreitung der Briefe in Form illegaler Kopien führten auf Seiten Friedrichs zu Missstimmungen. Die Freundschaftsbekundungen des Königs bringen weder die sozialen Hierarchien zum Verschwinden noch die Differenzen hinsichtlich des Politischen. Die Briefe, die Voltaire aus Potsdam erhält, sind stets die Briefe eines Monarchen und historische Dokumente von öffentlichem Interesse. Den Erwartungen des Publikums, Einblick zu erhalten in den schriftlichen Austausch zwischen dem König und dem Philosophen, um sich ein eigenes Urteil bilden zu können, trugen die nach dem Tod der Briefpartner unternommenen Brief-Editionen Rechnung.

3 Brief-Editionen Voltaires Gesamtkorrespondenz gilt als eine der bedeutendsten Korrespondenzen des 18. Jahrhunderts. Sie umfasst in der modernen Edition Correspondence and Related Documents von Theodore Besterman (vgl. Voltaire 1968–1976) in 45 Bänden weit mehr als 20.000 Briefe; chronologisch angeordnet, erstreckt sich der Briefwechsel über sieben Jahrzehnte und enthält neben den Briefen Voltaires

5.3 Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich II., König von Preußen 

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auch Antwortbriefe sowie weitere, für den historischen Kontext des Briefverkehrs aufschlussreiche Dokumente. Seit der ersten posthumen, von Beaumarchais initiierten, in Kehl gedruckten Voltaire-Gesamtausgabe („Kehler Ausgabe“), die von 1784 bis 1789 in 72 Bänden (davon 18 Korrespondenz-Bände) erschien, werden Voltaires Briefe als Teil seines Gesamtwerkes betrachtet. Dieses Editionskonzept, das die Briefe integriert, kennzeichnet auch die aktuelle, historisch-kritische Ausgabe der Œuvres complètes de Voltaire/Complete Works of Voltaire (Voltaire Foundation, Oxford); die Bände 85 bis 130 enthalten Voltaires Korrespondenz. Es war bereits die Kehler Ausgabe, die aus dem alltäglichen Briefschreiber posthum den ‚großen Briefautor‘ machte. In Form der monumentalen Gesamtausgabe wurde ihm gegen alle Versuche der Zensur, den Druck und die Verbreitung seiner Werke zu verhindern, ein editionsgeschichtlich einzigartiges ‚Denkmal‘ gesetzt (vgl. Magnan 2007, 315–316). Die Literaturgeschichte erkannte dem Autor die Rolle des ‚großen Schriftstellers‘ zu, und seit der Überführung seiner sterblichen Überreste in das Panthéon im Jahre 1791 gehört Voltaire in Frankreich zu den „Großen Männern des Vaterlandes“ – wie es in der Inschrift am Giebel des Panthéon in Paris heißt. Die Veröffentlichung der in ihrer Fülle bis dato unbekannten Briefe in der Kehler Ausgabe (1784–1789) war ein kulturhistorisches Ereignis der Literaturgeschichte des Briefes: Erstmals wurden zeitliche Dauer, Verbreitungsradius, Vielstimmigkeit, thematische Vielfalt und Intensität des von Voltaire unterhaltenen Korrespondentennetzwerkes sichtbar (vgl. Deloffre 2003). Voltaires „Allgemeine Korrespondenz“ wird in der Kehler Ausgabe durch drei – aus Sicht der Editoren – herausragende Einzelbriefwechsel abgerundet: An erster Stelle steht Voltaires Korrespondenz mit Friedrich II.; es folgt die Korrespondenz mit Katharina II. Der dritte herausragende Einzelbriefwechsel, Voltaires Korrespondenz mit Jean Le Rond d’Alembert, avanciert in der Kehler Ausgabe zu einem dezidiert aufklärerischen Statement. Der Briefwechsel Voltaires mit d’Alembert, dem Mitherausgeber der Encyclopédie und engen Freund, thematisiert nahezu alles, was es im Kampf um die Durchsetzung der Lumières mitzuteilen gab (vgl. Stackelberg 2010, 74–88). Seit dem 18. Jahrhundert hat sich die Anzahl der als authentisch verbürgten Briefe Voltaires stetig erhöht. Standen für die „Kehler Ausgabe“ ca. dreihundert Briefe zur Verfügung, so zählte man Ende des 19. Jahrhunderts bereits 10.000 Briefe; seit Ende des 20. Jahrhunderts sind 15.300 Voltaire-Briefe verbürgt (vgl. Deloffre 2003). Die Forschung geht davon aus, dass nicht sämt­liche Briefe Voltaires überliefert sind. So scheint sein Briefwechsel mit Émilie du Châtelet, Physikerin, Newton-Übersetzerin und Voltaires einzige große Liebe, vernichtet worden zu sein (vgl. Deloffre 2003). Hingegen ist davon auszugehen, dass die Briefe, die Voltaire mit seinen berühmtesten Zeitgenossen wechselte, weitgehend bekannt sind. Das trifft insbesondere auf die Korrespondenz mit Friedrich II. zu.

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Zwei Jahre nach dem Tod Friedrichs II. (17. August 1786) wurde auch seine philosophisch-literarische Korrespondenz in Form der „Nachgelassenen Werke“ publiziert: gleichzeitig im französischen Original, Œuvres posthumes de Frédéric II, roi de Prusse (16  Bände, 6 Ergänzungsbände, Berlin 1788–1789), und in deutscher Übersetzung, Hinterlassene Werke Friedrichs des Zweiten, Königs von Preußen (15  Bände, Berlin 1788). Die der Öffentlichkeit zugänglich gemachten persönlichen Briefe des Königs in acht Bänden kamen dem zeitgenössischen Publikumsinteresse entgegen. Endlich konnten die bislang ‚geheim‘ gehaltenen Briefwechsel Friedrichs II., die er mit den großen Namen der französischsprachigen Aufklärungsbewegung unterhalten hatte, gelesen werden. Dass der König ein emsiger und brillanter Briefautor war, war allgemein bekannt. Zeitgenössische Rezensenten der Hinterlassenen Werke betonten das allgemeine öffentliche Interesse, insbesondere an den Briefen, die „von dem ganzen lesenden Publicum in allen Ländern Europas mit heftiger Begierde“ gelesen würden, wie es in der Allgemeinen Literaturzeitung vom Februar 1789 heißt (Wehinger 2005, 62). Wie die Kehler Voltaire-Ausgabe (1784–1789) präsentiert auch die posthume Berliner Edition (1788–1789) der literarischen Werke des preußischen Königs seine persönliche Korrespondenz als integralen Bestandteil seines Œuvres. Die persönlichen Briefwechsel Friedrichs II. werden seit dem 18. Jahrhundert, d.  h. seit dem Erscheinen der Œuvres posthumes de Frédéric II, roi de Prusse (1788–1789) und der Hinterlassenen Werke (1788) als Einzelbriefwechsel ediert, so dass die dialogische Struktur seiner philosophisch-literarischen Korrespondenz sichtbar wird. Dieses Editionskonzept kennzeichnet auch die Mitte des 19. Jahrhunderts edierten Œuvres de Frédéric le Grand (hg. v. Johann David Erdmann Preuss, 30 Bde., Berlin 1846–56); in dieser Ausgabe erscheint die Korrespondenz (12 Bde.) desgleichen in Form von Einzelbriefwechseln. In den Œuvres de Frédéric le Grand (1846–1856) erweist sich Friedrichs Briefwechsel mit Voltaire als der umfangreichste und kulturgeschichtlich aufschlussreichste, unmittelbar gefolgt vom Briefwechsel des Königs mit d’Alembert, in dem der intensive Austausch über Strategien zur Durchsetzung der Erfahrungswissenschaften, nicht zuletzt an der Berliner Akademie der Wissenschaften, ein zentrales Thema ist (vgl. Wehinger 2002). Das Dialogische des philosophisch-literarischen Briefwechsels Friedrichs II. zeigt sich anschaulich im Vergleich mit der Politischen Correspondenz Friedrichs des Großen (Juni 1740 bis März 1782, 46 Bde.: 1879–1939; April bis Dezember 1782, Bd. 47: 2003; Januar bis Juni 1783, Bd. 48: 2015). Die noch nicht vollständig edierte Politische Correspondenz betrifft die friderizianische Außenpolitik. Sie wurde erst im späteren 19.  Jahrhundert, anfangs unter der Ägide des Auswärtigen Amtes, öffentlich zugänglich gemacht; ediert sind bisher mehr als 30.000 Briefe, verfertigt von Ministern, Gesandten, Sekretären, vom König eigenhändig unterschrieben. In dieser monumentalen Edition der außenpolitischen Korrespondenz, welche die

5.3 Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich II., König von Preußen 

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Antwortschreiben nicht berücksichtigt, wirkt die Stimme des Herrschers absolut monologisch. Der hingegen dialogisch wirkende, literarisch-philosophische Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich II. liegt in einer modernen deutschen Übersetzung als Taschenbuchausgabe vor: Voltaire – Friedrich der Große. Briefwechsel (1995). Dabei handelt es sich um eine Auswahl, die 245 Briefe (ca. ein Drittel des als authentisch verbürgten Briefwechsels) umfasst, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Hans Pleschinski. Diese Ausgabe basiert auf der historischkritischen Edition der französischsprachigen Originale oder auf frühen Drucken: Briefwechsel Friedrichs des Großen mit Voltaire, herausgegeben von Reinhold Koser und Hans Droysen (3 Bde., Berlin 1908–1911; Ergänzungsband, Berlin 1917). Nach wie vor sind es die Briefe, aus denen Voltaires Stimme am wirkungsvollsten zu seinem (posthumen) Lesepublikum spricht. Seinen Briefen, die überaus gegenwärtig wirken, gelingt es im Wechsel mit den nicht weniger eindrücklichen Briefen, die er aus Potsdam erhielt, die große historische Distanz zu überwinden und eine unmittelbar wirkende Präsenz des Zwiegesprächs zu vermitteln. Beide Briefpartner waren von der historischen Bedeutung der Werke und des Wirkens des jeweils anderen überzeugt. Ihre Korrespondenz ist Teil der deutsch-französischen Literaturgeschichte und der europäischen Erinnerungskultur.

Zitierte Literatur Deloffre, Frédéric (2003). [Art.] „Correspondance“, in: Dictionnaire générale de Voltaire. Hg. v. Raymond Trousson u. Jeroom Vercruysse. Paris: 251–256. Fumaroli, Marc (2001). Quand l’Europe parlait français. Paris. Magnan, André (2007). „Correspondance“, in: Dictionnaire des Lumières. Hg. v. Michel Delon. Paris: 312–316. Mervaud, Christiane (2003). [Art.] „Frédéric II“, in: Dictionnaire générale de Voltaire. Hg. v. Raymond Trousson u. Jeroom Vercruysse. Paris: 531–536. Pleschinski, Hans (21995). „Editorische Notiz – Schlussbemerkung“, in: Voltaire – Friedrich der Große. Briefwechsel. Ausgewählt, vorgestellt u. übersetzt v. dems. München: 575–579. Stackelberg, Jürgen von (2010). „Wir müssen unseren Garten bebauen“. Candide als Experimentalroman und andere Voltaire-Studien. Berlin. Stackelberg, Jürgen von (2013). Voltaire und Friedrich der Große. Hannover. Voltaire (1968–1976). Correspondence and Related Documents. The Complete Works of Voltaire. Hg. v. Theodore Besterman. 45 Bde. Genf u.  a. Voltaire – Friedrich der Große (21995). Briefwechsel. Ausgewählt, vorgestellt u. übersetzt v. Hans Pleschinski. München. Wehinger, Brunhilde (2002). „Geist und Macht. Zum Briefwechsel zwischen d’Alembert und Friedrich II. von Preußen“, in: Französisch-deutscher Kulturtransfer im Ancien Régime. Hg. v. Günter Berger u. Franziska Sick. Tübingen: 241–261.

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Wehinger, Brunhilde (2005). „Zwischen Literatur und Politik. Zur literarischen Korrespondenz Friedrichs II.“, in: Geist und Macht. Friedrich der Große im Kontext der europäischen Kulturgeschichte. Hg. v. ders. Berlin: 61–72. Wehinger, Brunhilde (2014). „Der ‚Philosoph von Sanssouci‘ und Frankreich“, in: Der Schatten des großen Königs. Friedrich II. und die Literatur. Hg. v. Julia Bertschik u. Wolfgang de Bruyn. Hannover: 17–34.

Weiterführende Literatur Kunisch, Johannes (2004). Friedrich der Große. Der König und seine Zeit. München. Mervaud, Christiane (1985). Voltaire et Frédéric II: une dramaturgie des lumières 1736–1778. Oxford. Orieux, Jean (1978). Das Leben des Voltaire. Frankfurt a. M. Sösemann, Bernd u. Gregor Vogt-Spira (Hg.) (2012). Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung. 2 Bde. Stuttgart. Wehinger, Brunhilde u. Günther Lottes (Hg.) (2012). Friedrich der Große als Leser. Berlin.

Kelsey Rubin-Detlev

5.4 Ein kaiserliches Briefnetzwerk – Katharina die Große 1 Einleitung Katharina die Große (1729–1796), gebürtige Deutsche und Kaiserin Russlands, die sich 1762 des Throns ihres Ehemanns bemächtigte und anschließend vierunddreißig Jahre lang als eine der angesehensten ‚aufgeklärten Monarch*innen‘ des 18. Jahrhunderts regierte, war auch eine der bemerkenswertesten Briefschreiber*innen der Zeit. Politisches und Briefliches waren untrennbar miteinander verflochten in ihrem lebenslangen Streben nach jener Größe, die ihr ihr Beiname schließlich auf Dauer gewährte. Katharina war weder die erste Monarch*in noch die einzige Herrscher*in, die für ihre Briefe bekannt war: Ihrer Korrespondenz mit Voltaire ging die umfangreichere und intensiver geführte Korrespondenz Voltaires mit Friedrich II. von Preußen voraus (vgl. Mervaud 1985); Königin Christine von Schweden korrespondierte indes einhundert Jahre früher bekanntermaßen mit Gelehrten und Intellektuellen wie René Descartes, Hugo Grotius, Athanasius Kircher und Isaac Vossius. Aber anders als Christine oder Friedrich, die im Umgang mit anderen häufig schroff und impulsiv waren, verfügte Katharina außergewöhnlich kontrolliert über ihr briefliches Ich. Ihre subtilen Manipulationen von Stimme und Form ließen ihre Briefe zu komplexen und äußerst literarischen Dokumenten werden. Katharina errichtete ihr Netzwerk mithilfe der Kunst der Höflichkeit und des Charmes, wobei sie sich darum bemühte, Unterstützer zu gewinnen und zu zeigen, dass ihr angeblich rückständiges Reich in Wirklichkeit eine zivilisierte Nation war. Wenige Briefschreiber*innen, ob königlich oder nicht, verhielten sich bei jedem strategisch kritischen Punkt derart politisch scharfsinnig und schrieben derweil gleichwohl mit einem Blick auf die Nachwelt. Katharinas Briefe, die auf Französisch, Russisch und Deutsch verfasst wurden, sind einzigartige Dokumente der Begegnung von politischen und epistolaren Kulturen des 18. Jahrhunderts: Als intelligente Autodidaktin, deren Bildung die geschickte Handhabung von Hofintrigen ebenso einschloss wie die Philosophie der Aufklärung, verband Katharina ihre imperialen Anliegen mit ihrem Geschick als Briefschreiberin und Netzwerkerin, die sich der Aufmerksamkeit der Zeitgenoss*innen für den Marktwert von Ansehen und Prominenz (markets for reputation and celebrity) gezielt zu bedienen wusste.

https://doi.org/10.1515/9783110376531-067

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2 Das Problem des Korpus Die Briefproduktion Katharinas der Großen ist von der Wissenschaft stark vernachlässigt und oft nur teilweise verstanden worden. Obwohl Historiker*innen ihre Briefe vielfach nach Fakten durchforsteten, schenkte man bis vor wenigen Jahren ihrem Gebrauch der Briefform bzw. ihren übergreifenden brieflichen Strategien (vgl. Rubin-Detlev 2019) nur sehr wenig Aufmerksamkeit. Am besten untersucht ist ihr Umgang mit den französischen philosophes, jedoch ist lediglich die Korrespondenz mit Voltaire wissenschaftlich eingehender behandelt worden (vgl. Wilberger 1976; Griffiths 1988; Wolff 1994, 1997; Rubin-Detlev 2011). Was ihre russischen Korrespondenzen betrifft, so ist nur die mit ihrem charismatischsten und mächtigsten Liebhaber, Grigori Alexandrowitsch Potjomkin, mit einer modernen, dicht kommentierten russischen Edition, einer russischsprachigen wissenschaftlichen Studie zu den späteren Jahren des Briefwechsels sowie einer englischen Übersetzung (vgl. Potjomkin 1997; Jelissejewa 1997; Potjomkin 2005) bedacht worden. Die Gründe für diese relative Vernachlässigung lassen sich zunächst in dem schwierigen Zugang zu den Briefen ausmachen. Katharinas Briefe wurden nie in einer eigenständigen wissenschaftlichen Ausgabe publiziert. Die meisten der in Russland erhaltenen Briefe sind zwar veröffentlicht, aber vor allem in westlichen Sammlungen werden noch immer Briefe wiederentdeckt. Neue, moderne Ausgaben liegen nur von Katharinas Briefwechseln mit Voltaire, Potjomkin, dem Fürst de Ligne, Gustav III. von Schweden und Friedrich Melchior Grimm vor. Diese sowie die meisten der übrigen Briefe erschienen zuvor in einer Reihe von russischen Magazinen des 19. Jahrhunderts, wie dem Russki archiw [Russisches Archiv, 1863–1917], der Russkaja starina [Russische Altertümer, 1870–1918] und dem Sbornik imperatorskago russkago istoritscheskago obschtschestwa [Sammelband der Kaiserlichen Russischen Historischen Gesellschaft, 1867–1916]. Es handelt sich um hunderte kleinere Veröffentlichungen in teils obskuren Zeitschriften, die oft nur aus wenigen, an eine einzige Person adressierten Briefen bestehen und zu denen meist die Antwortbriefe fehlen. Eine Bibliographie aller Werke Katharinas, die in Russland publiziert wurden, stellt eine hilfreiche Quelle dar (vgl. Babitsch et al. 2004), jedoch setzt der Zugriff auf die Briefe nicht nur Russischkenntnisse voraus, sondern auch den Einsatzwillen, eine Fülle von Quellen ausfindig zu machen und zu durchsuchen. Diese Streuung kann die Verbindungen zwischen den Briefen verschleiern und sogar die engagiertesten Biograph*innen Katharinas davon abhalten, einen allgemeinen Überblick über ihre Aktivitäten als Briefschreiberin zu gewinnen. Dass der Umfang des Korpus erst noch ermittelt werden muss, begründet sich vornehmlich in der fehlenden Gesamtedition; erschwerend tritt die spezielle

5.4 Ein kaiserliches Briefnetzwerk – Katharina die Große 

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Problematik der Bestimmung dessen hinzu, was bei einem Individuum in Katharinas Position als ‚Brief‘ zählt und was nicht. Gegenwärtige Schätzungen gehen von circa 8.000 erhaltenen Briefen aus. Gleichwohl sind die Grenzen der epistolaren Form besonders hinsichtlich Katharinas Tätigkeit als Kaiserin unscharf: Einige Befehle an Untergebene, die grundsätzlich in brieflicher Form geschrieben wurden (mit Grußformel und Unterschrift), besaßen rechtliche Bedeutung und konnten sogar in Gesetzessammlungen abgedruckt werden; andere Arten von Briefen, wie Beileidsbezeugungen und Auszeichnungen, waren manchmal  – jedoch bei weitem nicht immer – formelhaft und wurden von Sekretären verfasst; und am anderen Ende des Spektrums mögen hingekritzelte, aus wenigen Worten bestehende Notizen, die Gelder oder Informationen anfordern, als Briefe zählen – oder nicht  – und könnten den Korpus Katharinas um mehrere tausend Stücke erweitern. Gleichzeitig wurde die Briefautorschaft Katharinas häufig zu Unrecht angezweifelt, und jahrhundertelang kursierten übertriebene Geschichten, die ihr Ungeschicklichkeit in allen von ihr gebrauchten Sprachen vorwarfen. Tatsache ist, dass die erhaltenen Entwürfe, die Bemerkungen ihrer Sekretäre und die Kommentare in den Briefen selbst beweisen, dass Katharina unstrittig die große Mehrheit ihrer Briefe verfasste: Sie setzte persönlich Briefe an jedermann auf – von Voltaire bis hin zu Friedrich dem Großen und dem Russischen Senat – und fragte andere um Rat, sowohl bezüglich der Form als auch des Inhalts, wenn sie einen Brief als besonders heikel und/oder öffentlich ansah. Diese Beratungen erwiesen sich zumeist als Möglichkeit, ihr Können als Briefschreiberin vor einem*r weiteren Leser*in unter Beweis zu stellen. Ihr Gebrauch des Französischen, Russischen und Deutschen fällt bisweilen etwas eigenwillig aus, aber sie schrieb in allen drei Sprachen flüssig und idiomatisch und manipulierte dabei bewusst den Stil und die Sprachebene, um rhetorische Wirkung zu erzielen.

3 Chronologie und Beschaffenheit von Katharinas Korrespondenznetzwerk Man kann die Zeit vor Katharinas Thronbesteigung 1762 als ihre Lehrjahre betrachten. Der erste von ihr bekannte Brief – ein formelles, geselliges Schreiben an eine Familienfreundin – stammt aus dem Jahr 1742, als Katharina zwölf Jahre alt war (vgl. Biester 1797, 300). 1743, also in dem Jahr, bevor sie nach Russland reiste, um den kaiserlichen Thronfolger zu heiraten, beteiligte sie sich an einer DreierKorrespondenz mit ihrer Mutter und dem schwedischen Diplomaten Graf Adolf Henning Gyllenborg. Bereits hierbei bewies sie ihre Verve und ihren Verstand, indem sie auf Voltaire sowie sanft auf die Freiheit der Frau bzw. ihren Mangel

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daran anspielte (vgl. Amburger 1933). Nachdem sie verheiratet war, verbot ihr die regierende Kaiserin Elisabeth zunächst, Briefe zu schreiben bzw. gar Federn und Papier zu besitzen; man fürchtete, sie würde unzulässige Beziehungen zu Preußen unterhalten. In ihren Memoiren erzählt sie davon, dass sie nichtsdestoweniger bald Möglichkeiten ausmachte, insgeheim mit ihrer Mutter zu korrespondieren. Zuerst riss sie Seiten aus einem Buch heraus, um zwei Botschaften zu schreiben, die der Diplomat und Ritter von Malta, Michele Enrico Sagramoso, zustellte (vgl. Pypin 1901–1907, Bd. 12, 124–126, 257–258). Da das Verhältnis zu ihrem Ehemann rasch zu einem angespannten wurde, verbrachte sie ihre Zeit damit, viel zu lesen, den Umgang mit höfischen Intrigen zu erlernen und die Macht sowie die Möglichkeiten der epistolaren Form zu entdecken. Sie experimentierte mit dem Liebesbrief in einem bewusst artifiziellen, epistolaren Techtelmechtel mit einem Höfling, Graf Sachar Grigorjewitsch Tschernyschow (vgl. Tschernyschow 1881). Die bedeutsamste erhaltene Korrespondenz Katharinas aus dieser Zeit ist die mit dem englischen Botschafter Sir Charles Hanbury-Williams: Die 1756 bis 1757 fast täglich gewechselten Briefe zeigen, wie sich Katharina die höfischen und diplomatischen Künste der Verstellung und des doppeldeutigen Sprechens aneignete und wie sie darüber hinaus anfing, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sie als nächste Herrscherin Russlands an die Stelle ihres Ehemanns treten könnte (vgl. Hanbury-Williams 1909). Nachdem sie sich im Juni 1762 des russischen Throns bemächtigt hatte, begann Katharina sofort Korrespondenzen, die ihrem Bestreben förderlich sein konnten, nicht nur den Thron zu sichern, sondern auch ihre Herrschaft glorreich und historisch bedeutsam werden zu lassen. Sie gebrauchte Briefe, um Darstellungen ihrer selbst wie ihrer Nation zu vermitteln, die den praktischen Erfordernissen des Herrschens zuträglich waren. Katharina war eine geschickte Netzwerkerin, die es ihren brieflichen Beziehungen gestattete, sich den Umständen entsprechend weiterzuentwickeln. Ihre Herrschaft lässt sich mit Blick auf ihre sich verändernden Netzwerke und Prioritäten zeitlich unterteilen; die vielen Arten ihrer Korrespondenz schließen solche zwischen Monarch*innen sowie Austausche auf kulturell-internationaler, staatlich-russischer und vertrauter Ebene ein. In den 1760er und 1770er Jahren war Katharina bestrebt, sich bereits bestehende internationale Netzwerke zunutze zu machen, während daheim ihre Briefwechsel mit Ratgeber*innen wichtige Quellen der Information und Unterstützung bildeten. Im 18. Jahrhundert spielten Korrespondenzen zwischen Monarch*innen eine wesentliche Rolle in offiziellen Partnerschaften: Der Wechsel eigenhändig geschriebener Briefe zwischen verbündeten Herrscher*innen war eine Frage der Etikette und ein Kanal für Verhandlungen auf hoher Ebene. 1764 schloss Russland ein Bündnis mit Preußen, aber beide Nationen hatten oft rivalisierende, häufig gegenläufige diplomatische Interessen, und ihr Verhältnis war einigermaßen

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angespannt: Katharinas Korrespondenz mit Friedrich dem Großen kennzeichnen übermäßige Schmeichelei seitens des Königs  – die seiner tiefsitzenden Überzeugung entsprach, Katharina werde primär von Eitelkeit getrieben – sowie die etwas abschätzigen, aber ausdrucksstarken Antworten Katharinas. Ob sie nun sein Gesuch um ein Abkommen mit einer Früchtelieferung beantwortete oder für ihre Weigerung, die Eroberungszüge gegen die Osmanen zu beenden, eine Metapher aus dem Theater gebrauchte – Katharina durchschaute demonstrativ Friedrichs vermeintlich bewundernde Formulierungen (vgl. Sbornik 1867–1916, Bd. 20). Größere briefliche Anstrengungen unternahm sie in diesen Jahren bezüglich einer anderen Netzwerkbildung, nämlich französische Intellektuelle und gesellschaftlich hoch angesehene Personen für sich zu gewinnen, die sowohl die europäische öffentliche Meinung als auch Regierungsminister beeinflussen konnten, die in den Pariser Salons verkehrten. In ihren Korrespondenzen mit d’Alembert, Voltaire, der Salon-Gastgeberin Marie-Thérèse Rodet Geoffrin, dem kurzen Briefwechsel mit Jean-François Marmontel und dann mit Denis Diderot (leider sind ihre Briefe an ihn nicht erhalten) warb Katharina für sich selbst als Fürsprecherin religiöser Toleranz, als aktive und großzügige Mäzenin und als Gesetzgeberin, die auf die neueste politische Theorie zurückgreifen wollte (vgl. d’Alembert 1887; Voltaire 1968–1977, Bde. 26–45; Sbornik 1867–1916, Bd. 1; Marmontel 1974, Bd. 1, 169, 227–228; Diderot 1955–1970, Bde. 13–15). Innerhalb Russlands agierte Katharina derweil mit dem für sie typischen Pragmatismus und stellte dabei ihren Grundsatz unter Beweis, die unterschiedlichen Bildungs- und Erfahrungshintergründe von Individuen sowie die ihr jeweils unmittelbar zur Verfügung stehenden Ressourcen auf findige Weise zu nutzen: Sie scherzte in volkstümlicher Sprache mit dem etwas schlichten Gouverneur von Moskau, Pjotr Semjonowitsch Saltykow; sie beriet sich mit ihrem mächtigsten Minister, Nikita Iwanowitsch Panin, über alles Mögliche – von ausländischer Korrespondenz und der Zerschlagung von Attentatsplänen bis hin zur Ausbildung ihres Sohns und zu höfischen Feierlichkeiten; und sie wechselte hunderte von Briefen mit Jakob Johann Sievers, dem Gouverneur von Nowgorod, Twer und Pskow, um mit Blick auf die bedeutende Gesetzgebung von 1775, die sie für die Revision provinzieller Regierungsstrukturen ausarbeitete, auf seine Sachkenntnis zuzugreifen (vgl. Saltykow 1886; Panin 1863; Blum 1857–1858). Die berühmteste ihrer intimen Korrespondenzen, jene mit Grigori Potjomkin, begann Ende 1773, als sie ihm einen Brief schickte, mit dem sie den an Kampfhandlungen gegen das Osmanische Reich Beteiligten zu sich zurückrief. Ihre Liebesbotschaften fallen teils schüchtern, teils dringlich und witzig aus und sind voller inniger Kosenamen, die von „Giaur, Moskowiter, Kosak“ bis „Mein Goldener Fasan“ reichen (Potjomkin 1997, u.  a. 18, 22, 27 und u.  a. 15, 23, 29). Potjomkin wurde rasch zu ihrem wichtigsten Berater in privaten wie öffentlichen Angelegenheiten. Diese Rolle – wie ihre Liebesaffäre –

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vermittelte sich über Botschaften, die von Zimmer zu Zimmer getragen wurden, wenn sich beide im Palast aufhielten, oder – nachdem ihre Liebesbeziehung 1776 geendet hatte – durch längere Briefe, die über enorme Strecken versandt wurden, während er als ihr Stellvertreter und General weit entfernt von St. Petersburg agierte. Der Beginn der 1780er Jahre markierte einen wichtigen Wendepunkt in Katharinas internationalen Netzwerkaktivitäten und Gewohnheiten als Briefschreiberin. 1781 schloss sie ein heimliches Bündnis mit Joseph II., dem österreichischen Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, was einen kompletten Umsturz des russischen diplomatischen Systems bedeutete. Auf Katharinas Initiative hin wurde das Bündnis durch einen persönlichen Briefwechsel zwischen den beiden Monarchen ratifiziert: Heikle Punkte hinsichtlich Stellung und Etikette machten ein normales Abkommen unmöglich, aber der Gebrauch der Briefform erlaubte es der Kaiserin und dem Kaiser, als scheinbar Ebenbürtige zu interagieren (vgl. Joseph 1869; Madariaga 1959, 124). Gleichzeitig gestaltete sie ihre internationalen Kulturnetzwerke um, da das Netzwerk der französischen philosophes, dem sie sich in den 1760ern angeschlossen hatte, nach dem Tod Voltaires 1778 nicht mehr existierte. Es könnte in gewisser Hinsicht so scheinen, dass Briefe weniger grundlegend für ihre Präsenz in der europäischen Kulturszene wurden, nachdem sie die deutsche Literatur entdeckt hatte: Anders als die Pariser konnte die Berliner Aufklärung nicht durch die Zurschaustellung französischsprachig-epistolarer Raffinesse umgarnt werden. Daher ließ Katharina stattdessen ihre Theaterstücke, Pamphlete und die Geschichte Russlands durch den bekannten Verlagsbuchhändler Friedrich Nicolai publizieren. In Wahrheit veränderte sich jedoch nur die Form von Katharinas epistolaren Aktivitäten: Statt an den Netzwerken anderer teilzunehmen, schuf sie ihr eigenes, das sich auf ihren Hof in St. Petersburg konzentrierte. Die wie zuvor auf Französisch – und mit gelegentlichen Passagen auf Deutsch  – geführten, neuen Korrespondenzen reproduzierten einige der Funktionen ihrer alten Briefwechsel, wurden aber auch neuen Bedürfnissen gerecht. Ihre Kommunikation mit dem Deutschschweizer Arzt Johann Georg Zimmermann erfüllte eine ähnliche Funktion wie jene mit Voltaire: Sie brauchte Zimmermann, um vorteilhafte Berichte und Rezensionen zu ihren Werken in deutsche Zeitungen einzuschleusen, aber auch, um Ärzte in russische Dienste zu rekrutieren (vgl. Zimmermann 1906; Röhling 1978). Die Zurschaustellung von Esprit nach Art des Salons, die die Briefe an Marie-Thérèse Rodet Geoffrin füllte, wurde in Katharinas Korrespondenz mit Charles Joseph Fürst de Ligne, einem belgischen Aristokraten in österreichischen Diensten, der in elitären Kreisen überall in Europa verkehrte, neu ausgeprägt (vgl. Ligne 2013). Indessen spiegelten Katharinas Briefe an einen in Paris lebenden Auslandsdeutschen, Friedrich Melchior Grimm, eine Veränderung in ihrer Herangehensweise an die Briefform wider: Während ihre

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übrigen Briefe an Personen des kulturellen Lebens häufig dazu bestimmt waren, anderen laut vorgelesen, jedoch nicht publiziert zu werden, gestaltete sich dieser Briefwechsel schnell privat, und nur ausgewählte Abschnitte waren zu begrenzter Weitergabe bestimmt. Indem sie ihm alle drei Monate lange, tagebuchartige Briefe schickte, machte Katharina Grimm zu ihrem wichtigsten Mittelsmann in kulturellen Angelegenheiten in Europa, während sie gleichzeitig mit großem literarischen Flair ihre Ansichten zu politischen und kulturellen Ereignissen offenbarte (vgl. Sbornik 1867–1916, Bd. 23; Grimm 2016). Innerhalb Russlands erhielt eine Reihe von immer jüngeren Liebhabern zärtliche Liebesbotschaften, während die Korrespondenz mit Potjomkin sich in ihren wichtigsten inländischen politischen Briefwechsel verwandelte. Per Brief diskutierten Katharina und Potjomkin Pläne für eine Annexion der Krim und für die Entwicklung der neu erworbenen südlichen Provinzen des Reichs. Von ihrer berühmten Reise durch diese Regionen 1787 schickte Katharina briefliche Berichte an den Gouverneur von Moskau, Pjotr Dmitrijewitsch Jeropkin, damit sie anderen Beamten vorgelesen wurden, um sie mit der erwünschten offiziellen Darstellung der Reise bekannt zu machen (vgl. Jeropkin 1808). Die Geschichtsschreibung stellt die letzten Jahre in Katharinas Leben – von den späten 1780ern bis zu ihrem Tod 1796 – üblicherweise als eine Periode der Reaktion und des Niedergangs dar, von der man annimmt, dass Katharina die Kontrolle über ihre Geschäfte verloren habe und unter den schädlichen Einfluss ihres letzten Favoriten, Platon Alexandrowitsch Subow, geraten sei. Ihre briefliche Produktion aus diesen Jahren ist zwar weniger ergiebig als zuvor, zeigt im Gegenteil aber, dass sie noch immer sehr aktiv und darauf erpicht war, mit Hilfe von Briefen ihre Ziele zu erreichen. Kriege gegen Schweden und das Osmanische Reich ebenso wie bewaffnete Feldzüge, mit denen die Vorherrschaft in Polen errungen werden sollte, beschäftigten die Streitkräfte Katharinas, aber sie selbst schrieb Briefe in der Hoffnung, ein bewaffnetes Vorgehen gegen eine weitere Bedrohung zu organisieren  – die Französische Revolution. Die Korrespondenz mit ihrem Cousin, Gustav III., König von Schweden, ist die interessanteste ihrer königlichen Korrespondenzen aus den ersten Jahren der Revolution. Seit den späten 1770er Jahren hatten die beiden einen anscheinend vertrauten, heimlichen Briefwechsel unterhalten; in diesem dienten Katharinas Scherze und Höflichkeit vor allem dazu, die Versuche ihres Verwandten abzuwehren, ernsthaftere politische Vorhaben zu diskutieren. Als sie ihre Korrespondenz nach einer durch den Russisch-Schwedischen Krieg von 1788 bis 1790 verursachten Unterbrechung wieder aufnahmen, erlaubte Katharina schließlich der Politik, in den Vordergrund zu treten. Da sie eine Möglichkeit sah, von Gustavs eher unbesonnener, ehrgeiziger Persönlichkeit zu profitieren, unterstützte sie seine Pläne, einen Feldzug gegen das revolutionäre Frankreich zu führen (vgl. Gustav 1998). Gleichzeitig schrieb sie an die emigrier-

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ten französischen Prinzen, die Preußen und die Österreicher, um sie zum Angriff zu drängen (vgl. d’Artois 1893; Leopold 1874). Innerhalb Russlands nahm sie mit ermahnenden Briefen derweil ihre eigenen Generäle ins Visier: Noch in den 1790er Jahren bewies sie ihre lebenslange Fähigkeit, schwankende Heerführer davon zu überzeugen, dass sie volles Vertrauen in sie setzte, und inspirierte sie dazu, sich den Weg zurück zum Sieg gegen die Schweden und die Osmanen zu erkämpfen. Ihre kulturellen Korrespondenzen beschränkten sich auf ihre Briefwechsel mit de Ligne und Grimm, da das Chaos in Europa auf allen Seiten Argwohn hervorrief und sie ihrer früheren Möglichkeiten der Protektion und des intellektuellen Austauschs beraubte. Im privaten Bereich war der Tod Potjomkins 1791 ein schwerer Schlag, der ihr die langjährige briefliche und persönliche Unterstützung entzog, die Potjomkin ihr geboten hatte. Trotz all dieser Rückschläge blieb der Ton in ihren Briefen bis zuletzt kühn: Kurz vor ihrem Tod bereitete sie sich endlich darauf vor, ihre Truppen in den bedeutenden Kriegszug zu entsenden, den sie für nötig hielt, um in Europa wieder Ordnung herzustellen und abermals ihren Status als eine der großen Herrscher*innen der Geschichte zu festigen.

4 Briefkultur und Gebrauch der epistolaren Form Als Katharina 1762 den Thron bestieg, gab es im Grunde genommen keine Briefkultur in Russland. Obwohl ein Briefsteller das zweite Buch war, das 1708 in der neuen, von Zar Peter dem Großen als eine seiner Reformmaßnahmen durchgesetzten säkularen Schrift publiziert wurde, dauerte es mehr als ein halbes Jahrhundert, bis russische Autor*innen begannen, den Privatbrief als Teil ihrer literarischen Praxis zu kultivieren. Generell waren Briefe trockene offizielle Dokumente, die dazu gebraucht wurden, Geschäfte zu führen und Informationen zu übermitteln, ohne dass der epistolaren Form dabei spezielle Aufmerksamkeit zukam. In Katharinas Regierungszeit jedoch wurden die ersten neuen Briefsteller seit Peter dem Großen publiziert, und Katharina selbst war 1808 die erste Russin (wenn auch deutscher Abstammung), deren originäre Briefe in einen russischen Briefsteller aufgenommen wurden. Daraus geht deutlich hervor, dass Katharina nicht an einer spezifisch russischen Briefkultur teilnahm, sondern dass sie die gesamteuropäische Briefkultur – in der sie seit ihrer Jugend geschult worden war – nutzte und sich zu eigen machte. Wie ihre europäischen Amtskolleg*innen war sie gründlich vertraut mit Beispielen epistolaren Schreibens. So las Katharina als Jugendliche beispielsweise Madame de Sévigné und schrieb Briefe aus der Korrespondenz von Sévignés Cousin, Roger de Bussy-Rabutin, ab; sie wusste von den Briefen Ciceros

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und war speziell mit denen Voltaires vertraut, sowohl als seine direkte Korrespondentin, aber auch als Dritt-Lesende, wenn dessen Briefe in der Grimm’schen Correspondance littéraire zirkulierten. Das charakteristischste und bestechendste Merkmal von Katharinas Briefpraxis ist die persönliche Stimme, die sie erzeugte; sie entsprach dem Geschmack des Jahrhunderts vollends, war jedoch auf einzigartige und eindringliche Weise ganz ihre eigene. Während ihrer gesamten Regierungszeit bildete der Brief eine Sphäre, in der sie ihre Adressat*innen zu bezaubern und deren Unterstützung zu gewinnen suchte: Ob sie sich an Voltaire wandte, einen regionalen russischen Gouverneur oder andere Monarch*innen – die für sie typische Strategie war, ihnen sowohl den Eindruck eines anscheinend vertrauten Umgangs mit der Macht als auch ihre Zugehörigkeit zum kultivierten Europa mit gemeinsamen Werten zu vermitteln. Mithilfe des stilistischen Repertoires des galanten Briefs, der im Frankreich des 17.  Jahrhunderts entwickelt worden war, präsentierte sie sich selbst als heiter und einnehmend, fand Gefallen an einem kunterbunten, von Sprichwörtern und Anekdoten durchzogenen Stil, hielt aber ihre Emotionen immer streng im Zaum. Sie unterhielt ihre Leser*innen damit, dass sie ihre Briefe nicht nur mit subtilen Referenzen zu gelehrten Quellen übersäte  – deren übermäßiger Gebrauch sie als Pedantin charakterisiert hätte  –, sondern auch mit Bezügen auf die Unterhaltungskultur der Zeit, die von Voltaire bis hin zur komischen Oper reichten. Jedoch waren ihre Briefe nicht nur dazu gedacht, zu bezaubern: Sie baute epistolare Bindungen eben auch in der Absicht auf, sich – falls nötig – Geltung zu verschaffen, und nach außen hin höfliche, aber beißende Kommentare ließen die Forderungen, die sie an ihre Korrespondent*innen stellte, glasklar erscheinen. Katharina gebrauchte Briefe also auch, um ein majestätisches, machtvolles Bild von sich selbst als Monarchin zu zeichnen, die der Bewunderung der Nachwelt würdig sei – als Reformerin, Eroberin und Kunstmäzenin. Während ihre Herangehensweise an Briefe quer durch ihre vielfältigen Korrespondenzen weitgehend konsistent war, stimmte sie auf meisterhafte Weise Ton und Inhalt passend auf ihre Adressat*innen ab und entwickelte für jede*n einen besonderen Jargon und eine Reihe gemeinsamer Referenzpunkte, die nur sie teilen konnten. Es ist dieser umgängliche und personalisierte Ton, der Katharinas Briefe von ihrem Schreiben in anderen Genres unterscheidet und sie zu literarischen Meisterwerken macht. Obwohl Katharina mehrere Versionen ihrer faszinierenden Memoiren verfasste, etwa zwei Dutzend Theaterstücke, polemische Pamphlete, eine Geschichte Russlands, Märchen für Kinder und eine substantielle Schrift zur politischen Theorie, konnte sie in diesen Werken, die oft halb-anonym veröffentlicht wurden, nicht die einzigartig charismatische Mischung aus Macht, kultivierter Höflichkeit und Heiterkeit zur Schau stellen, die es ihr erlaubte, in höfischen Konversationen und in Briefen die Oberhand zu behalten. 1769 entfachte sie in

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Russland mit ihrer Zeitschrift Vsjakaja vsjatschina [Dies und das] einen neuen Trend hin zum satirischen Journalismus, der sich am Modell des englischen Spectator orientierte. Hier und in ihren späteren Beiträgen für die Zeitschrift der Russischen Akademie, Sobessednik ljubitelej rossijskogo slowa [Gesprächspartner der Liebhaber des Russischen Worts, 1783–1784], gebrauchte Katharina die epistolare Form und schrieb in verschiedenen fiktionalen Rollen – als ‚Leser‘ und ‚Beiträger‘ – an die Zeitschriften (vgl. Pypin 1901–1907, Bd. 5, 279–329). Diese russischsprachigen Briefe enthalten einige der für Katharinas Briefe typischen Züge, wie zum Beispiel eine Vorliebe für Antiphrase und Humor; es mangelt ihnen allerdings an der Komplexität ihrer wirklichen Briefe, in denen sie häufig diverse Persönlichkeiten und diverse Ziele in dichten rhetorischen Konstruktionen verwob. Nur ihre Memoiren kommen ihren Briefen gleich, gerade weil auch sie die stilistischen Charakteristiken und die Autorpersönlichkeit der Briefe enthalten, wobei verschiedene Versionen an verschiedene Mitglieder ihres Hofes adressiert sind. Ein wichtiger Aspekt von Katharinas Erfolg als Briefschreiberin war demnach ihr feines Gespür für das Publikum: Sie schrieb ihre Briefe nicht für die breite, öffentliche Leserschaft von Druckerzeugnissen, sondern für die beschränkte Öffentlichkeit von Europas intellektuellen, politischen und sozialen Eliten. Sie begann alle ihre dauerhaften Korrespondenzen mit einem expliziten Verbot, ihre Briefe zu Lebzeiten abzudrucken, aber sie erlaubte und erwartete von Persönlichkeiten wie Geoffrin, Voltaire, Grimm, Zimmermann und dem Fürsten de Ligne, dass sie ihre Briefe vorlesen und gelegentlich auch Kopien von Auszügen aus ihren Briefen teilen würden. Ihr charmanter und doch königlicher Stil war darauf ausgelegt, diesen privilegierten Leser*innen zu schmeicheln und sie zu fesseln, indem er ihnen ein noch stärkeres Gefühl der Erhabenheit verlieh und ihnen einen aufreizenden Blick in die Sphären imperialer Macht bot. Gleichwohl war Katharina alles andere als blind gegenüber den neuen Möglichkeiten, die Berühmtheit in einem zunehmend mediatisierten Zeitalter mit sich brachte: Sie erwartete daher auf der einen Seite von vielen ihrer erlesenen Adressat*innen öffentliche Stellungnahmen zu ihren Gunsten und beabsichtigte, eine sehr selektive Zusammenstellung ihrer Briefe veröffentlichen zu lassen. Auf der anderen Seite waren beispielsweise ihr briefliches Lob für Jean-François Marmontels verbotenen philosophischen Roman Bélisaire und ihr Brief vom Oktober 1791 an den gesamten französischen Adel im deutschen Exil öffentliche Gesten der Unterstützung für verfolgte Individuen und darauf angelegt, das französische Regime zu demütigen.

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5 Zukünftige Forschung Katharina war eine Kaiserin, die Briefe nutzte, um sowohl an aristokratischen Netzwerken des ancien régime als auch der modernen Prominenzkultur (market for celebrity) zu partizipieren. Als solche stellte sie eine einzigartige Teilnehmerin und Repräsentantin der Briefkultur des europäischen 18. Jahrhunderts dar. Die Forschung bedarf daher nicht nur einer kompletten kritischen Edition von Katharinas Briefen, sondern auch der Werkzeuge, um sie hinsichtlich umfassenderer Netzwerke und epistolarer Praktiken der Aufklärung zu analysieren. In Zukunft wird die digitale Technologie neue Fortschritte in unserem Verständnis ihres bemerkenswerten Korpus ermöglichen: Zu diesem Zweck läuft derzeit an der Universität von Oxford ein Projekt, das alle bekannten Briefe von Katharina katalogisieren und alle derzeit bereits publizierten Briefe in einer einzigen durchsuchbaren Datenbank zusammenführen will (vgl. Rubin-Detlev und Kahn 2019). Mithilfe solcher Ressourcen werden alte Mythen, die sie ehemals herabgewürdigt oder ihre intellektuellen Fähigkeiten kleingeredet haben, endlich ad acta gelegt werden; und ihr Sprachgebrauch, ihre Auseinandersetzung mit einer ganzen Reihe gelehrter Quellen sowie ihr aktives Eingreifen in alle Bereiche von Staatsführung und Kultur werden mit weit größerer Subtilität analysierbar sein als je zuvor. Gleichzeitig ist es wichtig, Katharina als Briefschreiberin durch Übersetzungen und öffentliches Engagement einer breiten Leserschaft nahezubringen (vgl. Kahn und Rubin-Detlev 2018). Katharina ist seit ihrer Thronbesteigung ein Faszinosum und wird regelmäßig in gedruckten Biographien sowie auf der Leinwand gefeiert, wo sie von Schauspielerinnen wie Catherine Zeta-Jones und Helen Mirren verkörpert wurde. Während sich diese Darstellungen häufig auf ihr Sexualleben konzentrieren, richten ihre Briefe die Aufmerksamkeit neu auf ihren Verstand aus, auf ihr Können als Herrscherin und Autorin und auf das bemerkenswerte und sich ständig weiterentwickelnde kaiserliche Briefnetzwerk, das sie im Lauf ihrer vierunddreißigjährigen Herrschaft aufbaute. Aus dem Englischen übersetzt von Marie Isabel Matthews-Schlinzig.

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Zitierte Literatur [d’Alembert 1887]: [Katharina II. u. Jean Le Rond d’Alembert] (1887). „Correspondance avec Catherine II“, in: Œuvres et correspondances inédites de d’Alembert. Hg. v. Charles Henry. Paris: 193–261. Amburger, Erik (Hg.) (1933). „Katharina II. und Graf Gyllenborg. Zwei Jugendbriefe der Prinzessin Sophie von Zerbst“, in: Zeitschrift für Osteuropäische Geschichte, 7.3: 87–98. [d’Artois 1893]: [Katharina II. u. Karl X. von Frankreich] (1893). „Graf d’Artua: k neisdannym pismam imperatrizy Ekateriny II i grafa d’Artua 1792 i 1793“, in: Russki westnik, 9: 182–225. Babitsch, Irina, Marina Babitsch u. Tatjana Laptewa (2004). Ekaterina II: annotirowannaja bibliografija publikatsii. Moskau. Biester, Johann Erich (1797). Abriß des Lebens und der Regierung der Kaiserinn Katharina II von Rußland. Berlin. Blum, Karl Ludwig (1857–1858). Ein russischer Staatsmann: des Grafen Jakob Johann Sievers Denkwürdigkeiten zur Geschichte Rußlands. 4 Bde. Leipzig u. Heidelberg. Diderot, Denis (1955–1970). Correspondance. Hg. v. Georges Roth u. Jean Varloot. 16 Bde. Paris. Griffiths, David M. (1988). „To Live Forever: Catherine II, Voltaire and the Pursuit of Immortality“, in: Russia and the World of the Eighteenth Century. Hg. v. Roger Bartlett, Anthony Cross u. Karen Rasmussen. Columbus (OH): 446–468. [Grimm 2016]: [Grimm, Friedrich Melchior u. Katharina II.] (2016). Catherine II de Russie, Friedrich Melchior Grimm. Une correspondance privée, artistique et politique au siècle des Lumières. Bd. 1. Hg. v. Sergej Karp et al. Ferney-Voltaire u. Moskau. [Gustav 1998]: [Gustav III. u. Katharina II.] (1998). Catherine II et Gustave III: une correspondance retrouvée. Hg. v. Gunnar von Proschwitz. Stockholm. [Hanbury-Williams 1909]: [Hanbury-Williams, Charles u. Katharina II.] (1909). Correspondance de Catherine Alexéievna, grande-duchesse de Russie, et de Sir Charles H. Williams, ambassadeur d’Angleterre, 1756 et 1757. Hg. v. Sergej Gorjainov. Moskau. Jelissejewa, Olga (1997). Perepiska Ekateriny II i G. A. Potjomkina perioda wtoroi russkoturezkoi voiny (1787–1791). Moskau. [Jeropkin 1808]: [Jeropkin, Pjotr u. Katharina II.] (1808). Wyssotschajschija sobstwennorutschnyja pisma i powelenija blaschennoi i wetschnoi slawy dostoinoi pamjati gossudarynja imperatrizy Ekateriny Welikija, k pokoinomu Generalu Petru Dmitrijewitschu Jerapkinu […]. Hg. v. Jakow Rost. Moskau. [Joseph 1869]: [Joseph II. u. Katharina II.] (1869). Joseph II. und Katharina von Russland. Ihr Briefwechsel. Hg. v. Alfred Ritter von Arneth. Wien. Kahn, Andrew u. Kelsey Rubin-Detlev (Hg.) (2018). Catherine the Great. Selected Letters. Oxford. [Leopold 1874]: [Katharina II., Franz II. u. Leopold II.] (1874). Leopold II., Franz II. und Catharina. Ihre Correspondenz. Hg. v. Adolf Beer. Leipzig. [Ligne 2013]: [Katharina II. u. Fürst Charles Joseph de Ligne] (2013). „Catherine II (1729–1796)“, in: Correspondances russes. Bd. 1. Hg. v. Alexandre Stroev u. Jeroom Vercruysse. Paris: 95–292. Madariaga, Isabel de (1959). „The Secret Austro-Russian Treaty of 1781“, in: The Slavonic and East European Review, 38.90: 114–145. Marmontel, Jean-François (1974). Correspondance. 2 Bde. Hg. v. John Renwick. ClermontFerrand.

5.4 Ein kaiserliches Briefnetzwerk – Katharina die Große 

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Weiterführende Literatur Madariaga, Isabel de (1981). Russia in the Age of Catherine the Great. New Haven. Scharf, Claus (1995). Katharina II., Deutschland und die Deutschen. Mainz. Schippan, Michael (2012). Die Aufklärung in Russland im 18. Jahrhundert. Wiesbaden. Wolff, Larry (1994). Inventing Eastern Europe: The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stanford.

Sébastien Schick

5.5 Korrespondenzen deutscher Minister des 18. Jahrhunderts 1 Zur Einführung: Der Minister der Frühen Neuzeit als Briefschreiber Wer sich verschiedene Bildnisse deutscher und auch außerdeutscher Minister des 18. Jahrhunderts anschaut, wird unverzüglich feststellen können, dass neben der Darstellung anderer und traditioneller Machtsymbole – etwa Staatspapiere, Globus, Schwert – der Brief einen wesentlichen Stellenwert einnimmt. Er kann geöffnet oder versiegelt sein, so wie im Portrait des kursächsischen Premierministers Heinrich von Brühl von Marcello Bacciarelli, er kann sich auf einem Tisch oder auch in den Händen des Ministers befinden, wie im Bildnis des preußischen Ministers Friedrich Wilhelm von Borck von Antoine Pesne: Deutlich zu beobachten ist jedoch, dass damals der ‚Brief‘ als Symbol der Macht des Ministers zu gelten schien. Dass die Minister in dieser Zeit sehr große Briefschreiber waren, steht in der Tat außer Zweifel. So umfasst zum Beispiel die in der British Library aufbewahrte Korrespondenz des englischen Ministers Thomas Pelham-Holles Duke of Newcastle 306 Bände von ca. 300 bis 500 Folioseiten, und im Regensburg des 18. Jahrhunderts stellte die Ankunft der Post am Dienstag und Donnerstag ein so wichtiges und vor allem zeitintensives Moment dar, dass der dort tagende Immerwährende Reichstag dann nie zusammentrat und dass es sogar an diesen Tagen fast unmöglich war, einen Minister zu treffen, sei es auch nur informell. Doch inwiefern können die Korrespondenzen der Minister als Bestandteil ihrer Macht, vielleicht sogar als spezifisches Instrument und Attribut ihrer Macht, betrachtet werden? Welche Briefe schrieben die Minister an wen und wozu und vor allem: Lässt sich so eine spezifische ‚Ministerkorrespondenz‘ identifizieren?

2 Die Briefe des Ministers als Instrument der Machtausübung Zunächst muss jedoch eine nur scheinbar einfache Frage geklärt werden: Wen bezeichnete man im 18. Jahrhundert als ‚Minister‘? Unter dem Begriff verstand man damals nicht nur die Mitglieder der obersten Regierungsbehörden eines https://doi.org/10.1515/9783110376531-068

5.5 Korrespondenzen deutscher Minister des 18. Jahrhunderts 

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Fürstentums, sondern auch noch meistens bis Ende des Jahrhunderts auf ziemlich unspezifische Weise alle Fürstendiener, die mit wichtigen Staatssachen betraut waren, so dass ein Gesandter z.  B. immer als ‚Minister‘ bezeichnet werden konnte. Im Alten Reich sowie in ganz Europa war insofern mit dem Begriff ‚Minister‘ zu jener Zeit fast nie eine Institution oder ein bestimmtes Amt, sondern eher eine Funktion, ein Auftrag und eine Nähe zu den wichtigsten Staatssachen verbunden. Im Rahmen jener Funktion, welche das auch immer war, war jedoch das Schreiben von Briefen unumgänglich, ja es stellte sogar eigentlich das effiziente und alltägliche Instrument für die Durchführung der politischen Entscheidungen dar. Der Brief fungierte grundsätzlich als Distanzmedium, das der Minister für seine Machtausübung über das sich räumlich stets erweiternde Territorium einsetzen konnte, zum Beispiel zur Durchsetzung seiner Befehle. Der Brief diente auch zur Informationsbeschaffung oder zum Ideenaustausch: Die Minister des 18. Jahrhunderts korrespondierten oft mit anderen Amtsträgern, ‚Experten‘ oder Gelehrten, um Reformen vorzubereiten, um Ratschläge zu sammeln und Wissen aufzubauen. So zeigen zum Beispiel die veröffentlichten Briefwechsel des hannoverschen Premierministers Gerlach Adolph von Münchhausen mit Gelehrten wie Georg Christian Gebauer oder Johann Lorenz von Mosheim, welche Rolle diese in den Anfangsjahren der Göttinger Universität, deren Gründung Münchhausen leitete, einnahmen (vgl. Rössler 1855, 75–220), während man die Folgen der Katasterreformen an den verschiedenen Höfen Europas – zum Beispiel in Wien – während des letzten Drittels des 18.  Jahrhunderts anhand der existierenden Korrespondenzen im europäischen Zirkel der „Republik der Verwalter“ (Lebeau 2007) zwischen ‚Finanzminister‘ und ‚Finanzexperten‘ nachvollziehen kann. Über die Grenzen des Territoriums hinaus schrieb man natürlich auch, um sich zu informieren oder zu verhandeln, und für die Gesandten stellte die Pflege einer regelmäßigen Korrespondenz mit dem eigenen Hof sowie mit anderen Gesandten in Europa eine wesentliche Aufgabe dar, die immer wieder in den Instruktionen betont wurde. Man schrieb also permanent, auch etwa um Befehle bekannt zu geben, um die Ausführung der Entscheidungen aufeinander abzustimmen; man schrieb an seinen Fürsten, an ‚Kollegen‘ des Geheimen Rats, an Diplomaten, Gelehrte, an Amtsträger im eigenen Land oder im Ausland. Diese Allgegenwärtigkeit und Vielseitigkeit der Briefe in der alltäglichen Tätigkeit der Minister erklärt auch, warum die Historiker*innen sich schon seit langer Zeit auf jene Quellen gestützt haben, um politische Ereignisse oder Verhandlungen zu verfolgen, um zu beobachten, wie es zu dieser oder jener Entscheidung kommen konnte oder auch wie darüber beraten wurde. Im Kontext der neuen Ansätze der Briefforschung wurde jüngst aber auch betont, dass die Briefe der Minister keinen ‚neutralen‘ Zugang zu ihren Entscheidungen oder zu einem Geschehen, über das man ‚objektiv‘ berichten würde, liefern können, dass

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diese Quelle eben wie die anderen auch einen Unsicherheitsfaktor darstellt, den man bedenken muss. So versteckt sich im Briefwechsel zwischen einem Minister und einem Diplomaten, Amtsträger usw. immer auch eine Verhandlung, die zwischen den beiden Korrespondenten stattfindet, da beide im Brief selbst ihre eigenen Rollen und Vorgehensweisen inszenieren. Beim Brief handelt es sich um ein Medium, das zwischen den beiden Korrespondenten steht und das es so auch ermöglicht, die politische Dynamik und Beziehung zwischen den Verfassern zu untersuchen. Jedoch können so Historiker*innen immer die Frage der konkreten Ausübung der Macht über entfernte Territorien oder Personen ansprechen, weil die Briefe der Minister stets zugleich einen politischen Zustand beschreiben und eine politische Verhandlung zwischen Korrespondenten enthalten.

3 Die verschiedenen Briefgattungen der Minister Natürlich erschöpft jedoch die Kategorie ‚Minister‘ auf keinen Fall all die sozialen Rollen, die jene Persönlichkeiten innehatten: Minister waren zugleich Väter, Freunde, Klienten, Patrone und Ehemänner. Historiker haben schon seit langem hervorgehoben, dass diese Beziehungen auch zu Briefwechseln geführt haben. Sie waren natürlich auch der Ort, an dem sich die Sprache der Emotionen entfalten konnte, wo manchmal auch ‚private‘ wie familiäre Angelegenheiten besprochen wurden. Im Rahmen jener „informellen persönlichen Beziehungen“ (Reinhard 1996, 312) wie der Patronage oder der Freundschaft, die in der Frühen Neuzeit als politische Beziehungen verstanden werden müssen, folgte das Schreiben von Briefen im Falle einer geographischen Trennung aber sogar einer allgemeinen Erwartungshaltung: Der Brief war das Medium, das es ermöglichte, über die Distanz hinweg die Fiktion der Anwesenheit zu gewährleisten und den für diese Beziehungen unbedingt nötigen Austausch von Gaben und Gegengaben auf Dauer fortzuführen. Dies galt natürlich auch und vielleicht sogar besonders im Falle der Minister, da der Hof als soziale Konfiguration gänzlich durch solche Beziehungen strukturiert war und die Minister als extrem wichtige Patrone, Freunde oder auch Klienten galten. Jene Beziehungen wurden dann auch zum Teil mit anderen Ministern, Amtsträgern usw. gepflegt: Als Beispiel mag hier Prinz Eugen von Savoyen dienen, einer der wichtigsten ‚Patrone‘ seiner Zeit, der mit sehr vielen österreichischen Gesandten verbunden war und so ein Netzwerk von ‚Korrespondenten‘ im ganzen Reich und in Europa aufbauen konnte. Somit stellt sich jedoch die Frage, ob man verschiedene Korrespondenztypen der Minister unterscheiden kann, die entweder an die Rolle als ‚Minister‘ oder

5.5 Korrespondenzen deutscher Minister des 18. Jahrhunderts 

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auch als Patron, Freund oder Klient gebunden waren, und wenn ja, wie man diesen Unterschied interpretieren soll. Die Frage wurde zum Teil schon für frühere Epochen und spezifische Gruppen von Akteuren gestellt: Laut Ingeborg KlettkeMengel (1986, 1–2) kann man so im Falle der deutschen Prinzen des 16. Jahrhunderts das „Kanzleischreiben“, in dem ein Sekretär die Feder führt, das „Handschreiben“, das der Fürst eigenhändig unterschreibt, und das „Privatschreiben“, das der Fürst selbst verfasst und in dem oft „menschliche Vertraulichkeiten“ zu finden sind, unterscheiden. Im Falle des Kardinalnepoten im Rom des 17. Jahrhunderts kann man „Amtskorrespondenz“, „Patronagekorrespondenz“ und „Privatkorrespondenz“ voneinander trennen: Die Akteure taten es selbst, indem diese unterschiedlichen Briefe, deren Inhalt und Stil verschieden waren, durch unterschiedliche Behörden und Sekretäre übernommen wurden (Emich 2001, 116, 132). Doch was das 18.  Jahrhundert betrifft, wurde die Frage kaum behandelt, vielleicht auch, weil diese Zeitspanne im Rahmen einer Modernisierungstheorie oft als Moment der Ausdifferenzierung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten und als Ära der Entstehung des neuzeitlichen Verwaltungsstaates wahrgenommen wurde. Wenn man auf die Form der Briefe der deutschen Minister des 18. Jahrhunderts achtet, kann man in der Tat in den meisten Fällen nur noch zwei Briefkategorien ausmachen. Der erste Typus ist durch die Einhaltung aller von den normativen Texten des 18. Jahrhunderts vorgesehenen Konventionen, Höflichkeits- und Formregeln gekennzeichnet. Als ein Beispiel unter vielen kann der 1732 durch die drei verantwortlichen Minister des preußischen Auswärtigen Amts an den kurkölnischen Premierminister Ferdinand von Plettenberg geschickte Brief gelten: Dieses von einem Sekretär in der sehr charakteristischen Kanzleischrift verfasste Schreiben beginnt mit einer insofern ‚kompletten‘ Grußformel, als sie den offiziellen Rang Plettenbergs sowohl innerhalb des Staates als auch in der Ständegesellschaft hervorhebt („Hochgebohrener Graff, hochgeehrtester Herr Ober Cämmerer und Würcklich Geheimbter Etats=Rath“, LWL Archivamt für Westfalen, Archiv Nordkirchen, Akten, n° 12968, fol. 64), während im Text selbst Plettenberg als „Eure Excellentz“ angesprochen wird, was seinem Rang als Graf angemessen ist. Der Brief endet mit einer Grußformel („die gute nachbarliche Freundschafft […], die wir übrigens mit vollenkommener Estime und Ergebenheit unveränderlich beharren, Eur: Excellentz, gehorsambste Diener“, LWL Archivamt für Westfalen, Archiv Nordkirchen, Akten, n° 12968, fol. 65) und durch die eigenhändige Signatur der drei Minister, die auch mit ihrer offiziellen Funktion bezeichnet werden („Königl: Preußlr: Verordnete Würckl: Geheimbte Räthe“, LWL Archivamt für Westfalen, Archiv Nordkirchen, Akten, n° 12968, fol. 65). Im Gegensatz dazu kann man den Brief vom 7.  Januar 1732 von Friedrich Wilhelm von Grumbkow, einem der wichtigsten preußischen Minister der 1720er

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Jahre, an Heinrich von Brühl verstehen (Hauptstaatsarchiv Dresden, 10026, Geheimes Kabinett, loc. 02994/04, Brief vom 7. Januar 1732). In diesem auf Französisch verfassten Brief beginnt Grumbkow, der selbst die Feder führt, mit einem einfachen „Monsieur“. Im Text wird Brühl nur durch die Kurzform „V.E.“ (für „Votre Excellence“ [„Eure Excellenz“]) angesprochen, und am Ende findet man eine extrem schlichte und kurze Grußformel, bevor Grumbkow mit seinem einfachen Namen unterzeichnet und ohne auf sein Staatsamt oder seinen gesellschaftlichen Rang hinzuweisen. Diese verschiedenen Charakteristika – ‚komplette‘ Grußformel am Beginn und am Ende des Briefes, Kanzleischrift, Unterschrift mit Titel und Funktion auf der einen, schlichte oder sogar fehlende Grußformeln, Benutzung von Abkürzungen, eigenhändige Schrift, Signatur nur mit dem Namen auf der anderen Seite – findet man in den Korrespondenzen der deutschen Minister des 18. Jahrhunderts sehr oft wieder, so dass sich, wenn vielleicht nicht zwei exakt zu unterscheidende Gattungen, zumindest aber zwei Gegenpole erkennen lassen. Vor allem aber haben die Minister diese Unterscheidung selbst benannt: Im Fall der ersten Gattung sprechen die Akteure häufiger vom „Ministerialbrief“ oder von der „Relation“, im zweiten Fall vom „Partikularschreiben“, vom „persönlichen Brief“ oder auch vom „Privatbrief“ (vgl. dazu mehrere Hinweise in Schick 2018, 244–246). Es war auch nicht selten, dass zwei Korrespondenten jene zwei Brieftypen gleichzeitig und parallel ausgetauscht haben. So zum Beispiel der österreichische Oberstkämmerer Johann Josef Khevenhüller-Metsch, der 1748 anlässlich einer Verhandlung über die Zahlung englischer Subsidien dem hannoverschen Premierminister Münchhausen immer zwei Schreiben gleichzeitig zusandte, während Münchhausen mit Paketen antwortete, in denen Khevenhüller-Metsch des Öfteren „la réponse des deux lettres, l’une ministériale, l’autre particulière“ [„die Antwort auf zwei Briefe, der ministeriale, und der partikulare“; British Library, MSS 32816, fol. 80; Übers.  d. Verf.] finden konnte. Diese beiden Brieftypen unterscheiden sich aber nicht durch ihren Inhalt: Man findet keine ‚politischen Briefe‘ auf der einen und ‚Privatbriefe‘ auf der anderen Seite. Im letztgenannten Beispiel werden die gleichen Verhandlungen angesprochen, und in den zwei oben zitierten Fällen handelt es sich auch jedes Mal um diplomatische Verhandlungen der beginnenden 1730er Jahre, als sowohl Kurbrandenburg, Kursachsen und Kurköln unentschieden zwischen den zu jener Zeit zwei europäischen Allianzsystemen standen und die Minister über eine künftige Position im Konzert der europäischen Mächte verhandelten. Diese Tatsache beweist, dass diese Briefe, unabhängig davon, welche Information sie enthielten, eine andere Funktion innehatten, oder besser gesagt, dass die Form des Briefes eine Konsequenz für die Art und Weise hatte, wie der Empfänger den Inhalt rezipieren und verstehen sollte. Einen ‚persönlichen Brief‘ konnte man nur dann ver-

5.5 Korrespondenzen deutscher Minister des 18. Jahrhunderts 

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senden, wenn man auch durch eine Freundschafts-, Verwandtschafts- oder auch Patronagebeziehung verbunden war, in diesem Fall konnte man jedoch auch als offizieller Amtsträger schreiben. Die Akteure scheinen deswegen durch die Form des Briefes die soziale Rolle, im Namen derer sie den Brief geschrieben hatten, übermittelt zu haben. Die ‚Form‘ des Briefes fungierte so als symbolisches Zeichen für die Art und Weise, wie der Brief rezipiert werden sollte, so dass hier der „persönliche Brief“ nicht als „losgelöst von Formzwängen“ (Klettke-Mengel 1986, 2) bezeichnet werden kann, weil er im Gegenteil sehr streng durch seine Form, die das Nichtbefolgen der üblichen Höflichkeitsformen heraushob, eine persönliche Nähe inszenierte. Einen ‚persönlichen Brief‘ zu versenden ermöglichte es, die enthaltenen Bitten, Informationen, Ratschläge usw. im Rahmen des traditionellen und immer vorhandenen Gabentausches zwischen den beiden eng verbundenen Individuen einzubetten. Es war die Versicherung, dass der Brief sich im Rahmen jener immer als Vertrauensbeziehung zu verstehenden persönlichen Beziehungen einfügen werde, was zum Beispiel ermöglichen sollte, die Geheimhaltung von Informationen oder Verhandlungen besser gewährleisten zu können. Doch die Unterscheidung zwischen den beiden Kategorien von Briefen stellt deswegen absolut keine Separierung zwischen dem Politischen auf der einen und dem Privaten auf der anderen Seite dar, weil die ‚persönlichen Briefe‘ definitiv nicht unbedingt ‚private‘ Angelegenheiten, sondern vielmehr sehr oft politische Geschäfte verhandelten. Die Frage nach einer Veränderung dieser Tatsache im Laufe des 18. Jahrhunderts bis hin zur Sattelzeit, das heißt zu dem Moment, ab dem der ‚Privatbrief‘ von den Ministern selbst als ‚nicht politisch‘ verstanden wurde, sollte künftig beantwortet werden. Sie ist umso interessanter, als der Brief damit zum Forschungsfeld für diejenigen wird, welche die historiographische Frage der Trennung zwischen Privat- und öffentlicher Sphäre auf neuem Wege aufgreifen wollen. Doch solche Beobachtungen führen auch dazu, die Briefe der Minister nicht nur als Datenträger für ‚Informationen‘, die alleine für die Forschung zählen würden, zu verstehen: Der Brief ist auch ein Objekt mit einer eigenen Materialität und vor allem ein Objekt, das man austauscht, was in der neuen Briefforschung immer mehr betont wird.

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4 Der Brief als wesentliches Objekt des ­Gabentausches zwischen den Ministern des 18. Jahrhunderts. Die Akzentuierung der Tauschpraxis ermöglicht es in der Tat, zugunsten des heuristischen Wertes der Quelle ‚Brief‘ für die Politikgeschichte des 18. Jahrhunderts stärker zu plädieren als bisher. Indem man eher auf die politische Bedeutung des Tausches für die Akteure achtet, kann ein wesentlicher Aspekt der politischen Kultur jener Minister des 18.  Jahrhunderts untersucht werden. Das Versenden und Erhalten ‚persön­ licher Briefe‘ – im oben genannten Sinne – erscheint nicht nur als Zeichen für das Vorhandensein einer Vertrauensbeziehung, sondern auch als symbolische Gabe an sich; das Vorhandensein eines ‚privaten‘ Briefes als solches ermöglicht es den Ministern – und dies ohne überhaupt den Inhalt des Briefes zu berücksichtigen –, allein durch das Schreiben, das Übersenden und das Beantworten in der gleichen symbolischen Sprache die Vertrauensbindung immer neu zu aktualisieren. Diese Gegebenheit ist natürlich kein Spezifikum der Ministerialkorrespondenzen, aber es lässt sich vermuten, dass die Minister des 18.  Jahrhunderts den Briefaustausch als ein wesentliches, gar unumgängliches Mittel benutzten, um über die Distanz hinweg Vertrauen zu schaffen, so Macht auszuüben und Entscheidungen herbeizuführen. Dies erscheint umso erstaunlicher, als die Geschichtsschreibung lange die Minister des 18.  Jahrhunderts eher wie ‚Bürokraten‘ dargestellt hat, die sich auf die ‚modernen‘ Mittel der neuen Administrationen gestützt haben, um ihre Macht auszuüben, und nicht wie Patrone, die von persönlichen Vertrauensnetzwerken abhängig waren. Sogar im 18. Jahrhundert kann also der Brief durch seine vertrauensstiftende Funktion als unumgängliches Instrument der Machtausübung der Entscheidungsträger betrachtet werden. Solche Korrespondenzen können deshalb durch ihre einfache Existenz auch als Zeichen für das soziale Kapital des Ministers betrachtet werden: Ein ‚Partikularschreiben‘ zu versenden und eine Antwort in derselben Form zu erhalten, galt als Beweis dafür, dass die persönliche Beziehung immer noch lebendig war und von den beiden Korrespondenten auch so wahrgenommen wurde – was auch die Beunruhigung der Minister erklärt, wenn sie mehrere Posttage hintereinander keine Neuigkeit von einem Korrespondenten bekommen hatten. Dies erklärt vielleicht auch das Vorhandensein des Briefes in den Bildnissen der Minister der Frühen Neuzeit: Der Brief fungiert nicht nur als Zeichen für die Herrschaft über die Distanz, sondern auch als soziales Kapital, das ein Minister persönlich als Ressource ins Spiel bringen kann.

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So eröffnet sich, wenn man alle Korrespondenzen zusammen als Netzwerke wahrnimmt, die Möglichkeit einer sozialgeschichtlichen Perspektive, die ermöglicht, den sozialen Hintergrund verschiedener politischer Räume, in denen die Minister agierten, zu untersuchen. In Bezug auf das Alte Reich wurde dies schon anlässlich der Korrespondenzen von Fürstinnen vorgeschlagen (vgl. Keller 2004), aber Minister wurden als Gruppe nur wenig betrachtet. Jedoch können gerade diese Korrespondenzen als notwendige ‚Kanäle‘ der politischen Aktion verstanden werden: Gerade im Falle der Reichsgeschichtsforschung kann die Analyse der räumlichen Organisation der Korrespondenznetze der Minister, die sich sowohl in den Reichsterritorien als auch im Reich als Gesamtheit erstreckten, eine wichtige Ergänzung zur traditionellen institutionellen und staatlichen Analyse liefern. Diese Verschiebung der Analyse vom Inhalt der Briefe der Minister auf das ‚Objekt‘, das getauscht wird, ermöglicht es auf jeden Fall, diese Quellen nicht mehr nur im Rahmen einer älteren Politikgeschichte zu benutzen, sondern ihren Wert auch für eine Kultur- und Sozialgeschichte des Politischen, sowohl des Alten Reiches als auch Europas insgesamt, zu erproben.

Zitierte Literatur Emich, Birgit (2001). Bürokratie und Nepotismus unter Paul V. (1605–1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Rom. Stuttgart. Keller, Katrin (2004). „Kommunikationsraum Altes Reich. Zur Funktionalität der Korrespondenz­ netze von Fürstinnen im 16. Jahrhundert“, in: Zeitschrift für historische Forschung, 31.2: 205–230. Klettke-Mengel, Ingeborg (1986). Fürsten und Fürstenbriefe. Zur Briefkultur im 16. Jahrhundert an geheimen und offiziellen preußisch-braunschweigischen Korrespondenzen. Köln. Lebeau, Christine (2007). „Échanger des modèles dans la République des administrateurs (XVIIIe siècle): des cadastres italiens au cadastre joséphiste“, in: De l’estime au cadastre en Europe. Époque moderne. Hg. v. Mireille Touzery. Paris: 247–264. Reinhard, Wolfgang (1996). „Amici e creature. Politische Mikrogeschichte der römischen Kurie im 17. Jahrhundert“, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 76: 308–334. Rössler, Emil Franz (1855). Die Gründung der Universität Göttingen. Entwürfe, Berichte und Briefe der Zeitgenossen. Aalen. Schick, Sébastien (2018). Des liaisons avantageuses. Ministres, liens de dépendance et diplomatie dans le Saint-Empire romain germanique (1720–1760). Paris.

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Archiv-Quellen LWL Archivamt für Westfalen, Archiv Nordkirchen, Akten, n° 12968, fol. 64. Hauptstaatsarchiv Dresden, 10026, Geheimes Kabinett, loc. 02994/04, Brief vom 7. Januar 1732.

Weiterführende Literatur Braubach, Max (1962). Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen. Köln u. Opladen. Boutier, Jean, Sandro Landi u. Olivier Rouchon (Hg.) (2009). Politique par correspondance. Les usages politiques de la lettre en Italie (14–18èmes siècles). Rennes. Droste, Heiko (2006). Im Dienst der Krone. Schwedische Diplomaten im 17. Jahrhundert. Berlin. Hengerer, Mark (Hg.) (2013). Abwesenheit beobachten. Zu Kommunikation auf Distanz in der Frühen Neuzeit. Berlin u. Münster. Schröcker, Alfred (1981). Die Patronage des Lothar Franz von Schönborn (1655–1729): Sozialgeschichtliche Studie zum Beziehungsnetz in der Germania sacra. Wiesbaden.

Sibylle Schönborn

5.6 Gellert, Moritz und die Popularisierung der Brieftheorie Christian Fürchtegott Gellert (1715–1969) führte zeitlebens nicht nur ausgedehnte Korrespondenzen mit Adressaten beiderlei Geschlechts (vgl. Gellert 1983–2013) – von denen der umfangreiche Briefwechsel mit Caroline Schlegel, geb. Lucius (vgl. Nörtemann 1991; Reinlein 2003), der bekannteste ist –, sondern verfasste auch die in ihrer Wirkung nachhaltigste Epistolographie in deutscher Sprache, die die Expansion der Briefkultur im 18. Jahrhundert ganz wesentlich beeinflusste und die ihre Gültigkeit bis weit über die Jahrhundertgrenze hinaus unangefochten behaupten konnte. Mit seiner Brieftheorie und dem angeschlossenen Briefsteller konnte Gellert die Gattung aus ihren engen Grenzen als Gebrauchsform öffentlicher, ständisch geregelter (zumeist vertikaler) Kommunikation befreien und zu einem Medium privater bürgerlicher Kommunikation und Selbstverständigung machen. Dazu setzte Gellert zunächst das Deutsche als Verkehrssprache für alle Korrespondenzen durch, indem er „das Vorurtheil“ ausräumte, „als ob unsre Sprache zu den Gedanken der Höflichkeit, des Wohlstandes, des Scherzes, und zu andern zarten Empfindungen nicht biegsam und geschmeidig genug sey“ (Gellert, Bd. IV, 1989, 107). Der Brief wird mit Gellert zum Medium der allgemeinen Literalisierung der Gesellschaft und zum „Tor, durch das die Schrift im 18. Jahrhundert in den Alltag findet“ (Vellusig 2013, 210). Darüber hinaus gelingt es Gellert, den Brief durch die Ablösung von seiner zweckgebundenen Gebrauchsform und den Verzicht auf starre rhetorische Vorschriften zu poetisieren und mithin literaturfähig, d.  h. zu einer eigenständigen literarischen Gattung zu machen. So wird der Brief mit Gellerts Brieftheorie nicht nur zum herausragenden Medium der bürgerlich-empfindsamen Aufklärung, sondern auch zu einer für den jungen Roman anschlussfähigen literarischen Gattung. Karl Philipp Moritz knüpft mit seiner Brieflehre an Gellerts Epistolographie an und treibt die Popularisierung der Gattung konsequent weiter, wenn er den Brief für den allgemeinen Gebrauch in allen Ständen öffnet, einen unverwechselbaren Individualstil propagiert und nach Gellerts epistolarischer Ausbildung der Empfindungsfähigkeit die Denkfähigkeit der Schreibenden in den Vordergrund stellt, denen seine praktische Sprach- und Stillehre zum Ausdruck verhelfen soll.

https://doi.org/10.1515/9783110376531-069

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1 Brieftheorie: Gedanken von einem guten deutschen Briefe (1742) und Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen (1751) In der Wochenzeitschrift Belustigungen des Verstandes und des Witzes formuliert Gellert schon 1742 in einem Brief auf Verlangen seines adeligen Adressaten bewusst keine Theorie des Briefs, sondern vielmehr einzelne Gedanken von einem guten deutschen Briefe ausgehend von der Definition des Briefs als Substitut für das mündliche Gespräch mit einem abwesenden Partner, dessen Qualität „Freiheit“, „Kunst“ und „Geschmack“ seines Schreibers garantieren sollen (Gellert, Bd. IV, 1989, 99). Den Wert eines Briefs sieht Gellert in seiner Natürlichkeit, Schönheit, Lebhaftigkeit, Abwechslung und der Leichtigkeit seines Ausdrucks. Gegen „Talander, Menantes, Weise, Junker“ (Gellert, Bd. IV, 1989, 99) und Neukirch, den er von allen am höchsten schätzt, propagiert er die „wenigsten“ als die „besten Regeln“ (Gellert, Bd.  IV, 1989, 101). Anstelle von Regeln empfiehlt Gellert die Nachahmung vorbildlicher Briefe eines Cicero, Plinius und Seneca, die zunächst durch Übersetzungsübungen, später durch Nachdichtungen helfen sollen, einen eigenen Briefstil auszubilden. Die fast zehn Jahre später entstandene große Abhandlung definiert den Brief nun genauer als „freye Nachahmung eines guten Gesprächs“ (Gellert, Bd.  IV, 1989, 111), dem eine allgemeine, natürliche Empfindungsfähigkeit des Schönen seine natürlichen Regeln vorgebe, indem der Schreiber nach dem Vorbild Ciceros nur „ohne Kunst sein Herz […] reden lassen“ (Gellert, Bd. IV, 1989, 125) müsse. Gellert verwirft nun in toto alle Brieflehren mit ihren rhetorischen Vorschriften, die, statt zu nützen, mehr Schaden anrichteten, als wenn sie die schlimmste Absicht gehabt hätten. Sie lehren uns daher die Sätze des Briefs nach einem Formulare abfassen, bald in der Gestalt einer Schlußrede, bald in einer ordentlichen, bald in einer umgekehrten Chrie, bald so, daß wir unsre Meynung in ein Antecedens, in eine Connexion und in ein Conseqvens einspannen müssen. Sie wollen uns, sage ich, auf diese Art bey Zeiten gute Briefe schreiben lehren, wenn wir uns einmal an diese Formulare gewöhnen. Sie wollen uns die Ordnung im Schreiben beybringen, und benehmen uns eben durch diese Mittel das Muntre, das Freye, das eine Rede angenehm macht. (Gellert, Bd. IV, 1989, 127).

Ebenso lehnt er eine Einteilung der Gattung nach Schreibanlässen (Gratulationsund Trauerschreiben, Bittgesuche usw.), Adressaten (öffentliche vs. private Personen) oder Briefarten (offizielle vs. private Schreiben) ab, da er u.  a. – demokratisch Ständeschranken ignorierend  – für alle ohne Ausnahme dieselben

5.6 Gellert, Moritz und die Popularisierung der Brieftheorie 

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Grundsätze postuliert (vgl. Gellert, Bd. IV, 101). Vielmehr soll die „Sprache des Herzens“, wie von unsichtbarer Hand von Natürlichkeit, Deutlichkeit, Zwanglosigkeit, Einfalt und Gefälligkeit (Gellert, Bd.  IV, 1989, 125) des Ausdrucks geführt, den Brief schreiben. Gellerts Brieftheorie wie sein Briefsteller konzentrieren sich daher auch nahezu ausschließlich auf die private freundschaftliche Korrespondenz zwischen im epistolaren Kommunikationsraum gleichberechtigten und kongenialen Partnern (vgl. Vellusig 2013, 190). Dass es sich bei Gellerts Ideal der Natürlichkeit um keinen voraussetzungslosen und schon gar keinen regellosen Begriff handelt, sondern vielmehr um eine „Natürlichkeitsfiktion“ (Staffehl 2011), mithin um die diskursive Erfindung von ‚Natürlichkeit‘, bei der über eine lange Tradition vermittelte literarische Muster und rhetorische Prinzipien (vgl. Barner 1988; Till 2009) mit am Werke sind, wird an der wiederholten Forderung nach intuitiver Nachahmung guter Beispiele unter Ausschaltung von Regeln deutlich: Junge Leute werden tausendmal mehr Vortheil haben, wenn man ihnen gute Briefe zu lesen giebt, und sie auf eine brauchbare Art mit ihnen durchgeht, als von allen Regeln. […] Man lasse sie oft aus wohlgeschriebnen Briefen einen trocknen und kurzen Innhalt in wenigen Sätzen ausziehen, und zeige ihnen, wie der Autor den Innhalt belebt und ausgeführt hat; wie er von einem Gedanken zum andern übergegangen ist […]. (Gellert 1989, Bd. IV, 130)

Diese Vorbilder dürfen allerdings nicht „knechtisch“ nachgeahmt werden, sondern sollen sich als verinnerlichte Grundmuster mit dem „eignen Naturelle“ zu einem individuellen Ausdruck verbinden, der dem Brief erst seine Vollkommenheit und Schönheit verleiht. Gellert setzt in seiner Brieftheorie auf die Wirkung literarischer Bildung und den prägenden Einfluss der Tradition, die zusammen stilbildend auf die allgemeine Schreibpraxis wirken sollen: „So werden durch wenig gute Beispiele, die in ihrer Art vortrefflich sind, die richtigen Empfindungen des natürlichen und Feinen in andern erweckt und unterhalten, und der gute Geschmack geht vom Freunde zum Freunde, vom Vater zum Sohne, von der vernünftigen Mutter zur Tochter fort, und wird der herrschende Geschmack.“ (Gellert 1989, Bd. IV, 151) Damit gibt Gellert zwei zwingend notwendige Voraussetzungen für das Verfassen eines guten Briefs an, nämlich die intuitive Fähigkeit, gute Briefe qua Geschmacksurteil zu erkennen und eine allgemeine Empfindungsfähigkeit, kurz: Empfindsamkeit. Beide sind für Gellert untrennbar miteinander verknüpft, denn ästhetisches und moralisches Empfinden, Geschmack und allgemeine Menschlichkeit, sind nicht nur anthropologisch in jedem Einzelnen grundgelegt und müssen nur ausgebildet und entfaltet werden, sondern haben auch ihren gemeinsamen Sitz in dem Empfindungsapparat des Menschen. So sind nicht nur die besten Briefe die ohne Regeln, sondern der beste Briefschreiber ist der Empfind-

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same, der die Affekte, die er kommunizieren und im Adressaten erregen möchte, auch selbst erfahren hat und im Schreibprozess wieder abrufen kann: Wenn man also dem andern seine Traurigkeit, sein Mitleiden, seine Freude, seine Liebe, in einem hohen Maaße zu erkennen geben, oder in ihm selbst die Empfindungen erwecken will: so lasse man sein Herz mehr reden, als seinen Verstand; und seinen Witz gar nicht. Man wisse von keiner Kunst, von keiner Ordnung in seinem Briefe. Der Beweis dieser Regel liegt in den Affekten selber. (Gellert 1989, Bd. IV, 137)

In Bezug auf den Geschmack und die Empfindungsfähigkeit macht Gellert allerdings eine Geschlechterungleichheit geltend, denn während das weibliche Geschlecht mit beiden Fähigkeiten qua Natur ausgestattet sei, müsse das männliche diese erst erwerben und in praktischen Übungen ausbilden. So seien die „Empfindungen der Frauenzimmer“ nicht nur „zarter und lebhafter“, sondern sie würden auch „leichter gerührt“ und verfügten aufgrund ihres – fürs Briefeschreiben vorteilhaften  – akademischen Bildungsdefizits über ein natürliches ästhetisches Urteilsvermögen: „Sie wissen durch eine gewisse gute Empfindung das Gefällige, das Wohlanständige […] leicht zu bemerken und zu finden; und diese gute Empfindung der Harmonie unterstützt sie auch im Denken und Briefschreiben.“ (Gellert 1989, Bd. IV, 136–137; vgl. dazu: Nörtemann 1990, 222) Daher empfiehlt Gellert seinen Leser*innen insbesondere die französischen Briefwechsel der Frau von Sévigné, der Babet oder gar der Ninon de Lenclos  – wobei beim letzteren ein männlicher Autor ein raffiniertes Spiel mit der angenommenen weiblichen Identität treibt – als Vorbilder zur freien Nachahmung. In dem von Gellert favorisierten Brief geht es neben der Semantisierung von Affekten und der Diskursivierung von Empfindsamkeit aber vor allem um den Entwurf einer empfindsamen Ästhetik und deren Durchsetzung in der allgemeinen Praxis des Briefeschreibens. Gellerts Epistolographie geht daher weit über den Anspruch der vielen Brieflehren des 17. und 18. Jahrhunderts, Regeln zum Abfassen von Briefen vorzuschreiben, hinaus, wenn er den Brief nicht mehr ausschließlich als Gebrauchsform, sondern vielmehr als literarische Gattung begreift und zum universellen Baustein innerhalb eines aufklärerischen Literaturprogramms erhebt (vgl. Koschorke 1999). Allen zweckgebundenen Briefformen wie Glückwunsch- und Bittschreiben, Danksagungs- oder Kondolenzbriefen (Gellert, 1989, Bd. IV, 141–142) steht Gellert daher kritisch gegenüber und möchte sie am liebsten zugunsten des freien, thematisch ungebundenen, sich selbst zum Zweck setzenden Briefs verdrängen, dessen charakteristisches Merkmal in seiner Literarizität besteht. Lawrence Johnson weist zu Recht darauf hin, dass „for Gellert, letters are autonomous forms in that their production do not necessarily depend on a situation in the real world […], but on aesthetic concepts and on other aesthetic forms – primarily on other letters“ (Johnson 1999, 111). Deutlichkeit, Klarheit,

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Lebhaftigkeit der Erzählung und die Absicht zu vergnügen und zu unterhalten (Gellert 1989, Bd. IV, 144–145) erhebt Gellert zu poetischen Produktionsanweisungen sowie Geschmack und Schönheit zu rezeptionsästhetischen Bewertungskriterien der Gattung, die er konsequent dem Roman als kongeniale literarische Form (Gellert 1989, Bd. IV, 150) an die Seite stellt. So gliedert Gellert seinen Briefsteller auch nicht als Gebrauchsform nach Schreibanlässen und -absichten, sondern im Sinne des Briefs als autonome literarische Gattung nach Formen, Schreibverfahren, Autor- und Erzählerrollen in erzählende, witzige (satirische), galante (scherzhafte), sinnreiche und freundschaftlich-empfindsame Briefe.

2 Briefsteller Das Neue dieses Briefstellers besteht darin, dass es sich nahezu ausschließlich um Musterbriefe aus der Feder des Autors selbst handelt, die er für die Publikation stilistisch überarbeitet und damit ihren literarischen Anspruch und Charakter ausgestellt hat. Damit bewegen sich Gellerts Musterbriefe an der Schnittstelle von Faktualität und Fiktionalität (vgl. Witte 1990), wenn er einerseits im Vorwort die Authentizität der anonymisierten Briefe betont, sie andererseits aber ästhetisch überformt. Das Programm seines Briefstellers entwirft bereits der erste Brief an einen adeligen Freund, wenn er, mit eingeführten Gattungsvorschriften brechend, auf eine förmliche Titulatur des sozial höhergestellten Korrespondenzpartners verzichtet und diesen stattdessen als gleichberechtigten Freund adressiert, um anschließend den Gegenstand des Briefwechsels, die Diskursivierung von Empfindsamkeit, zu thematisieren und zugleich die Gattung autopoietisch zu reflektieren: „Es ist wahr, meine Briefe an Sie, enthalten beynahe einerley; immer Versichrungen, daß ich Sie von Herzen liebe, daß ich Sie hoch schätze; immer Danksagungen und gute Wünsche. […] Mögen doch andre ihre Blätter mit täglichen Neuigkeiten anfüllen, wir wollen sie mit den Empfindungen unsers Herzens anfangen und beschließen.“ (Gellert 1989, Bd. IV, 155; vgl. Schönborn 2016)

2.1 Erzählende Briefe: Witz und satirische Autorrollenspiele Gleich der zweite, als „Landkutschenbrief“ berühmt gewordene liefert wie sein nicht minder bekanntes Pendant, der „Husarenbrief“ (Vellusig 2006/2013, 194–212), ein hochartifizielles Beispiel für den langen erzählenden Brief, in dem Gellert mit satirischer Übertreibung sich selbst im Ideal des gewaltfernen, friedliebenden Autors als Gegenfigur zur normativen Männlichkeit entwirft. Die selbst-

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ironische Inszenierung als ängstlicher Hypochonder und effeminierter Mann, der nicht nur der Begegnung mit staatlicher Gewalt in Gestalt eines Henkers oder der unverstellten Sexualität des einfachen Volkes nicht gewachsen ist und bei einem Kutscher vor weiblicher Zudringlichkeit Schutz suchen muss, sondern zuletzt sogar vor Mäusen die Flucht zu ergreifen versucht, wurde schon von den Zeitgenossen als ein Meisterwerk epistolarer Erzählkunst nach antiker Tradition wahrgenommen (vgl. Witte 1990). Ganz ähnlich stilisiert sich der Ich-Erzähler in einem weiteren satirischen Brief, seinen Intertext der Terenz-Komödie über einen Selbsthasser, Heautontimorumenos, aufrufend, als Steigerung des zeittypischen hypochondrischen zum vermeintlich suizidalen Charakter, dem weder das Leben in der Stadt noch das idyllische Landleben nach antikem Vorbild, sondern nur das Briefeschreiben noch zur Gemütsaufheiterung dienen kann (vgl. Gellert 1989, Bd. IV, 165–166). Das Gegenstück zu dem Brief vom Landleben eines ‚Hypochonders‘ stellt der letzte Brief dar, in dem das Leben auf dem Lande nach Ciceros Vorbild als harmonisches Idyll geschildert wird (vgl. Witte 1990). Zuletzt verbirgt Gellert in einem anderen Brief hinter der berühmten anekdotischen Erzählung von dem einfachen, den berühmten Fabeldichter bewundernden Holzbauern seine selbstbewusste Inszenierung als Erfolgsautor und Repräsentant der Volksaufklärung.

2.2 Galante Briefe: Scherzhafte Kommunikation zwischen den Geschlechtern Darüber hinaus finden sich in dem Briefsteller Beispiele für eine empfindsame Transformation des galanten Briefs insbesondere in der Korrespondenz mit verschiedensten Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts, von den Partnerinnen seiner engen Dichterfreunde bis zu einer adeligen Gönnerin und ihrer jugendlichen Tochter. In diesen Briefen entwirft sich der Schreiber in der Rolle eines selbsternannten Erziehers des weiblichen Geschlechts, wenn er in scherzhaftem Ton die Einrichtung einer Bildungsinstitution für junge Mädchen entwirft, deren Leitung er recht anzüglich für ‚geringen Lohn‘ zu übernehmen verspricht. An anderer Stelle erfindet er tiefenpsychologisch hochinteressante Träume über verhinderte Briefbotschaften, ausgelöst durch den kleinen Sohn der Korrespondentin, der das Tintenfass über dem geschriebenen Brief ausschüttet (vgl. Gellert 1989, Bd. IV, 170), oder er dient sich im scherzhaft-galanten Ton des Liebeswettstreits seiner verheirateten Korrespondentin als besserer Partner an. Schließlich variiert der Briefschreiber eine typische Szene aus der Schäferdichtung, wenn er der Geliebten des Freundes einen Kuss zu rauben versucht, um von seiner Krankheit geheilt zu werden (vgl. Gellert 1989, Bd. IV, 205).

5.6 Gellert, Moritz und die Popularisierung der Brieftheorie 

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2.3 Sinnreiche Briefe: Der Briefschreiber als Lehrer In einem langen Briefessay führt er mit einer anderen Korrespondentin eine gelehrte Konversation über die „Comödie“, die als „sinnreiche“ Kommunikation in der direkten Adresse an die abwesende Dialogpartnerin mit den rhetorischen Mitteln der Concessio und Antithese eine vollständige Komödientheorie ebenso anschaulich vermittelt wie eine umfassende Theorie des Theaters als moralische Anstalt für die bürgerliche Gesellschaft: Resümierend hält er mit Blick auf seine adelige Korrespondentin als potentielle Mäzenin des Theaters fest: Das Theater müßte auf öffentliche Kosten erhalten werden.  […] Diese Anstalten sind alle leicht auszuführen, wenn sie von einer hohen Hand, oder von einer ganzen und reichen Stadt unterstützt werden. Und wenn die Comödie eine solche Gestalt gewönne: so sehe ich nicht, was man für ein unschuldiger und lehrreicher Vergnügen haben könnte. (Gellert 1989, Bd. IV, 184)

Darüber hinaus nimmt Gellert gegenüber unterschiedlichen Korrespondenten immer wieder die Rolle des Kritikers ein, wenn er angehende Schriftsteller oder solche, die es gerne werden wollen, berät, ihre literarischen Versuche korrigiert und ihnen Talent bescheinigt oder ihnen vorsichtig beizubringen versucht, dem Traum, ein Autor zu werden, zu entsagen.

2.4 Freundschaftliche Briefe: Empfindsame Männlichkeit/ männliche Empfindsamkeit Empfindsam-freundschaftliche Briefe wechselt der Autor mit seinen männlichen Korrespondenten wie seinen Freunden, Dichterkollegen und Schülern. Unter diesen befindet sich auch ein junger Adeliger, dem er während des Siebenjährigen Krieges mehrere Briefe ins Feldlager schickt. Diesem Rittmeister von B*** [Christian August Friedrich von Bülzingsleben] widmet Gellert neben dem ersten insgesamt sieben Briefe an zentraler Stelle in der Mitte seines Briefstellers, in denen er nicht nur gegen den Krieg im Allgemeinen und diesen im Besonderen kritisch Stellung bezieht, sondern auch seinen Korrespondenzpartner zur Feigheit vor dem Feinde zu überreden versucht, indem er ihm einmal seinen möglichen Tod äußerst lakonisch prophezeit (vgl. Gellert 1989, Bd. IV, 192), ein anderes Mal den empfindsamen Freundschaftsbund zwischen Männern gegen den im Kampf erworbenen Ruhm und das damit verbundene Ideal starker Männlichkeit ausspielt. In einem weiteren Brief stellt Gellert die Miene der Zärtlichkeit und Liebe gegen ein „Gesichte mit großen Falten“, in dem „Alter und Krieg“ herrschen

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(Gellert 1989, Bd. IV, 194). Dieses entstelle die „Schönheit“ des Adressaten, dem der Schreiber immer wieder wie bereits einleitend im ersten Brief seine Liebe gesteht, wenn er die zärtliche Freundschaft mit ihm als größtes Glück und höchstes Gut besingt und so die Semantisierung empfindsamer Freundschaft in seinem Briefsteller betreibt. Gellerts Briefsteller zeichnet sich so durch eine immense Vielfalt an unterschiedlichen Formen, Stilen und Themen aus. Er wird ganz bewusst mit literarischem Anspruch gestaltet, weist einen hohen Grad künstlerischer Durchformung auf der Grundlage der epistolaren Tradition auf und zeigt einen bewussten und souveränen Einsatz unterschiedlicher poetischer Verfahren, um als Modell eines literarischen Schreibens der Diskursivierung von Empfindsamkeit und der allgemeinen Literalisierung (vgl. Koschorke 1999) der Gesellschaft zu dienen.

2.5 Forschungsstand Gellerts Epistolographie ist seit den 1960er Jahren kontinuierlich und weitgehend erforscht worden. So liegt eine ganze Reihe von einführenden Darstellungen von Nickisch (1969a), Nörtemann (1990), Witte (1990) und grundsätzlichen Auseinandersetzungen von Barner (1988), Arto-Haumacher (1995), Jung (1995), Vellusig (2000) vor, die Gellerts Anteil an der Gattungsdiskussion entweder als innovativen Beitrag zur Aufwertung des Briefs als literarische Gattung (vgl. Nörtemann 1990) und Vorwegnahme der Genieästhetik (vgl. Witte 1990; Jung 1995) oder aber als traditionalistisch im Sinne einer affirmativen Fortschreibung antiker Rhetorik (vgl. Barner 1988; Till 2009) deuten. Johnson siedelt Gellerts Epistolographie schließlich an der Schnittstelle von Tradition und Innovation, der Reproduktion antiker Rhetorik und genieästhetischer Produktion an (vgl. Johnson 1999, 111). Wirkungsgeschichtlich wird Gellerts Brieflehre gemeinhin im Kontext der Aufklärung und der Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft als Motor der allgemeinen Literalisierung der Gesellschaft und insbesondere des weiblichen Geschlechts begriffen. Vellusig qualifiziert den Brief darüber hinaus funktionsgeschichtlich als Medium einer „autonomen Erlebniskultur“ (Vellusig 2000, 189) des Bürgertums. Nörtemann (1990), Fues (1994), Johnson (1999), Reinlein (2003) sowie Bardt, Reinlein und Schönborn (2002) verfolgen des Weiteren unterschiedliche gendertheoretische Perspektiven in Bezug auf Gellerts Brieftheorie und -praxis.

5.6 Gellert, Moritz und die Popularisierung der Brieftheorie 

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3 Karl Philipp Moritz: Anleitung zum Briefschreiben (1783) und Allgemeiner deutscher Briefsteller (1793) Moritzʼ Epistolographie knüpft am Ende des 18.  Jahrhunderts noch einmal an Gellerts Gattungspoetik an und präzisiert sie im Sinne einer allgemeinen praktischen Brieflehre für alle Stände. Moritz konzentriert seine Brieflehre nicht nur auf eine verschiedene Schreibanlässe und Briefsorten minutiös unterscheidende, konkrete Praxis des Briefschreibens, zu der detaillierte sprachlich-stilistische Anleitungen (Rechtschreibung, Grammatik, Interpunktion, Stilistik) ebenso wie Vorschriften zur materiellen Gestalt, d.  i. der äußeren Form eines Briefs, gegeben werden, sondern nimmt damit auch die bei Gellert zentrale Literarizität des Briefs zugunsten seiner Gebrauchsfunktion wieder zurück. In seiner ersten Anleitung zum Briefschreiben von 1783 folgt er der seit der Antike allgemein gültigen Definition des Briefs als „getreues Gemählde der mündlichen Rede“ (Moritz 2008, Bd. 9, 9) und polemisiert wie Gellert gegen alle Briefsteller, die „kriechende Unterwürftigkeit“, einen „abgeschmackten“ und „erkünstelten“ Briefstil statt einer individuellen, vernünftigen „treuherzigen Sprache“ produzierten, in der nur das „Edle und Schöne des wahren und simplen Ausdrucks“ (Moritz 2008, Bd. 9, 9) zur Entfaltung komme. Die angeschlossene Briefsammlung bietet nach einer kurzen Einführung Beispiele zu verschiedenen Schreibanlässen wie Ab- und Danksagungen, Entschuldigungen, Anteilnahmen, Gewährung von Vorschlägen und Bitten, Bitt- und Geschäftsbriefe sowie Einladungsschreiben. Diese Briefbeispiele sollen bei Moritz allerdings nicht mehr wie noch bei Gellert zur Nachahmung dienen, sondern zur kritischen Auseinandersetzung anleiten, die Moritz mit seinen kritisch-wertenden Kommentaren zu den einzelnen Briefen exemplarisch vorführt. Moritz setzt damit auf die Schulung einer kritischen Urteilsfähigkeit seiner Leser und nicht auf die nachahmende Ausbildung eines epistolaren Stils. Die Absicht dieser Anleitung, einen eigenen, individuellen Briefstil auszubilden, wird in der Einführung zu den Bittschreiben besonders deutlich: Ein jeder Mensch hat seine eigne Art zu bitten: dem einen kleidet es gut, dem andern nicht. Das Bitten muß und soll keine Kunst werden, darum binde man sich an keine Muster von Bittschreiben, sondern sehe die folgende Briefe an, als so viele verschiedne oder einförmige Arten, wie Personen ihre Bitten eingekleidet haben, ohne sich an die hergebrachten Formola zu binden. (Moritz 2008, Bd. 9, 68)

Der wesentlich umfangreichere zweite Allgemeine deutsche Briefsteller, welcher eine kleine deutsche Sprachlehre, die Hauptregeln des Styls und eine vollständige Beispielsammlung aller Gattungen von Briefen enthält aus dem Jahr 1793 ent-

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wickelt im zweiten Teil zur Stilistik Moritzʼ Epistolographie, die an die antike Tradition und Gellert anknüpft und auf Natürlichkeit, Lebhaftigkeit, Deutlichkeit, Kürze des Ausdrucks, die Konzentration auf den Gegenstand und statt auf die Einbildungs- auf die Urteilskraft beim Schreiben setzt. Damit favorisiert Moritz die Denkfähigkeit als Grundvoraussetzung für das Abfassen eines guten Briefes, wenn er, sprachphilosophisch auf den Zusammenhang von Denken und Sprechen verweisend, die Schulung der Denkfähigkeit statt wie bei Gellert der Empfindungsfähigkeit als Voraussetzung für einen angemessenen sprachlichen Ausdruck benennt. Auch Moritz argumentiert gegen die Anwendung von Regeln und fordert dagegen eine gedankliche Durchdringung des darzustellenden Gegenstandes, dem der sprachliche Ausdruck folge. Denken und Sprechen, „Vorstellung“ und „Darstellung“ (Moritz 2008, Bd. 9, 187), bilden bei Moritz eine untrennbare Einheit, die beide mit Hilfe des Stils verfeinert werden können. Aufgabe des Stils ist es dabei, den Vorstellungen einen angemessenen Ausdruck zu verleihen, sie zur Darstellung zu bringen. Unter Stil versteht Moritz das „Eigenthümliche“, Charakteristische und Beständige des Ausdrucks eigener Vorstellungen (Moritz 2008, Bd. 9, 150), das nicht über Regeln erlernt, sondern nur über die Ausbildung der Denk- und damit auch der Sprachfähigkeit erworben werden kann: Dieß Eigenthümliche nun in der Vorstellungsart, in so fern es sich beständig im Ausdruck zeigt, nennt man den Styl im genauesten und bestimmtesten Sinne des Worts. Der Styl gründet sich also auf eine gewisse Festigkeit im Ausdruck, die nur durch Uebung der Denkkraft selbst, und durch immerwährendes Zusammendrängen der Aufmerksamkeit auf den Hauptgegenstand erlangt werden kann. (Moritz 2008, Bd. 9, 50).

Moritzʼ späte Epistolographie vermeidet, ähnlich wie auch schon Gellert, große Theoriediskussionen, sondern konzentriert sich auf eine detaillierte und grundsätzliche praktische Anleitung zum Briefeschreiben. So nimmt neben der allgemeinen Sprachlehre die Materialität des Briefs (Briefpapier, Schreibwerkzeug, Titulatur, Petschaft, Siegel u.  a.) einen großen Raum ein. Moritzʼ Brieflehre sollte ihren Zweck in der Folgezeit nicht verfehlen, wie das Urteil des Herausgebers der überarbeiteten 4. Auflage von 1802, Theodor Heinsius, belegt: „Unter den gemeinnützigen Schriften des verstorbenen Moritz, […] behauptet dieser Briefsteller unstreitig einen sehr ehrenvollen Rang. Die wiederholten Auflagen desselben haben gezeigt, daß ein großer Theil des Publikums das Bedürfniß einer solchen Anweisung gefühlt, und sich durch diese nicht unbefriedigt gefunden hat.“ (Moritz 2008, Bd. 9, 505) Beide Texte liegen in der Kritischen und kommentierten Ausgabe der Sämt­ lichen Werke von K. P. Moritz vor (vgl. Moritz 2008).

5.6 Gellert, Moritz und die Popularisierung der Brieftheorie 

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4 Forschungsstand Moritzʼ Epistolographie ist von der Forschung noch kaum als eigenständiger Beitrag zur Gattungstheorie und -geschichte wahrgenommen worden, abgesehen von Nickischs emphatischer Aufnahme wegen ihrer aus der Literatur entwickelten „in die Zukunft weisenden stiltheoretischen Anschauungen“ (Nickisch 1969, 263), die für Nickisch bis heute Gültigkeit besitzen. Nörtemann sieht den Unterschied zu Gellert in der Abwendung vom Brief als Gespräch und der Hinwendung zur „Darstellung der individuell vorgestellten Gedanken in der Rede“ (Nörtemann, 1990, 143) und wirft Moritz eine Vernachlässigung des sprachlichen Ausdrucks zu Gunsten des „guten klaren Gedanken[s]“ vor. Die Kritische und kommentierte Ausgabe unterrichtet über die Entstehungsgeschichte der beiden Schriften und bietet Quellenmaterial zur zeitgenössischen Rezeption, die im Gegensatz zu ihrer großen Wirkung auch kritisch ausfällt. Die Herausgeber weisen auf das Unfertige und die „Flüchtigkeit der Gesamtkonzeption“ der ersten Schrift hin, die unter Zeitdruck fertiggestellt wurde, erkennbar an dem schnellen Verzicht, „die Brief-Beispiele knapp zu kommentieren und sie nach Verdienst bzw. Mängeln zu bewerten“ (Moritz 2008, Bd.  9, 443). Die Musterbriefe charakterisieren sie als nicht-authentische, sondern vermuten eine Herkunft aus „konventionellen Briefsteller[n]“, ohne dies allerdings nachzuweisen. Die Anleitung verorten sie im Kontext von Moritzʼ „popularphilosophisch-didaktische[m] Engagement der kleinen sprachkritischen Schriften von 1781“ (Moritz 2008, Bd. 9, 443). Den späten Allgemeinen deutschen Briefsteller bezeichnen die Herausgeber darüber hinaus als ein Werk, bei dem Moritz mit „relativ geringem Aufwand etliche früher erschienene eigene Werke zu einer umfangreichen neuen Schrift kompiliert hat“ (Moritz 2008, Bd. 9, 469). Im Einzelnen weisen die Herausgeber alle Quellen aus Moritzʼ Schriften (Vorlesung über Stil, Kleine deutsche Sprachlehre) und fremden Briefstellern (Johann Heinrich Bolte, Mark Anthony Porny) nach, aus denen der Autor seine Sammlung von Musterbriefen, ergänzt durch authentische Briefe seines Familien- und Freundeskreises, zusammenstellt hat.

Zitierte Literatur Arto-Haumacher, Rafael (1995). Gellerts Briefpraxis und Brieflehre. Der Anfang einer neuen Briefkultur. Wiesbaden. Bardt, Ulrike, Tanja Reinlein u. Sibylle Schönborn (2007). „Korrespondierendes Leben. Zur medialen Vernetzung im Briefsystem Caroline Lucius, Christian Fürchtegott Gellert, Caroline Juliane Kirchhoff. Anmerkungen zu vier unpublizierten Briefen Christian Fürchtegott Gellerts an Caroline Juliane Kirchhoff“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, 27.2: 20–44.

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Barner, Wilfried (1988). „‚Beredte Empfindsamkeit‘. Über die geschichtliche Position der Brieflehre“, in: Tübinger Studien zum 18. Jahrhunderts. Hg. v. Eberhard Müller. Tübingen: 7–23. Fues, Wolfram Malte (1994). „Die Prosa der zarten Empfindung. Gellerts Brieftheorie und die Frage des weiblichen Schreibens“, in: Das achtzehnte Jahrhundert, 18.1: 19–32. Gellert, Christian Fürchtegott (1989). Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe. Bd. IV: Roman, Briefsteller. Hg. v. Bernd Witte, Werner Jung, Elke Kasper, John F. Reynolds u. Sibylle Späth. Berlin u. New York. Gellert, Christian Fürchtegott (1983–2013). Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Bd. I–V. Hg. v. John F. Reynolds. Berlin u. New York. Johnson, Laurie (1999). „‚wenn man endlich selbst Briefe schreiben will, so vergesse man die Exempelʻ: The Construction of Imitation as Originality in C. F. Gellert’s Epistolary Theory“, in: Wezel Jahrbuch: Studien zur europäischen Aufklärung, 2: 97–114. Jung, Werner (1995). „Zur Reform des deutschen Briefstils im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zu C. F. Gellerts Epistolographie“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 114: 481–498. Koschorke, Albrecht (1999). Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München. Moritz, Karl Philipp (2008). Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe. Hg. v. Anneliese Klingenberg et al. Bd 9: Briefsteller. Kommentar. Hg. v. Albert Meier u. Christof Wingertszahn. Tübingen. Nickisch, Reinhard M. G. (1969a). Brief. Stuttgart. Nickisch, Reinhard M. G. (1969b). „Karl Philipp Moritz als Stiltheoretiker“, in: GermanischRomanische Monatsschrift, 19: 262–269 Nörtemann, Regina (1990). „Brieftheoretische Konzepte im 18. Jahrhundert und ihre Genese“, in: Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays. Hg. v. Angelika Ebrecht et al. Stuttgart: 211–224. Nörtemann, Regina (1991). „Die ‚Begeisterung eines Poeten‘ in den Briefen eines Frauenzimmers. Zur Korrespondenz der Caroline Christiane Lucius mit Christian Fürchtegott Gellert“, in: Die Frau im Dialog. Studien zur Theorie und Geschichte des Briefes. Hg. v. Anita Runge u. Lieselotte Steinbrügge. Stuttgart: 13–32. Reinlein, Tanja (2003). Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg. Staffehl, Ulrike (2011). „Natürlichkeitsfiktion im späten 18. Jahrhundert: Gellerts Brieflehre“, in: Textprofile stilistisch: Beiträge zur literarischen Evolution. Hg. v. Ulrich Breuer. Bielefeld: 217–235. Till, Dietmar (2009). „Gellert und die Rhetorik. Antike Theorie und moderne Transformation“, in: Gellert und die empfindsame Aufklärung. Vermittlungs-, Austausch- und Rezeptionsprozesse in Wissenschaft, Kunst und Kultur. Hg. v. Sibylle Schönborn u. Vera Viehöver. Berlin: 39–52. Vellusig, Robert (2000). Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien u.  a. Vellusig, Robert (2006). „Gellert, der Husar, ein Brief und seine Geschichte. Briefkultur und Autorschaft im 18. Jahrhundert“, in: Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Hg. v. Jochen Strobel. Heidelberg: 33–60. [Später auch in: Robert Vellusig (2013). Das Erlebnis und die Dichtung. Studien zur Anthropologie und Mediengeschichte des Erzählens. Göttingen: 187–212.] Witte, Bernd (1990). „Die Individualität des Autors. Gellerts Briefsteller als Roman eines Schreibenden“, in: „Ein Lehrer der ganzen Nation“. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts. Hg. v. Bernd Witte. München: 86–97.

Tanja Reinlein

5.7 Zu den Briefwechseln zwischen Luise und Johann Christoph Gottsched, Meta und Friedrich Gottlieb Klopstock, Caroline Flachsland und Johann Gottfried Herder Allen drei hier vorgestellten Korrespondenzen ist gemein, dass es sich um Liebesbriefe handelt, die gewechselt werden, noch bevor aus den Briefpartnern auch Ehepartner werden. So verwundert es nicht, dass es in den Briefwechseln immer wieder darum geht, sich selbst als Person und damit als potentieller Partner oder potentielle Partnerin zu entwerfen. Auch wenn in den Briefen der Austausch etwaiger Alltagsgeschichten oder die beinahe rhetorische Beteuerung der eigenen Zugewandtheit wiederkehrende Themen sind, findet doch vor allem eins statt: der Versuch, durch die Art der Kommunikation die Grenzen und Möglichkeiten einer zukünftigen Verbindung zu bestimmen. Der Brief wird so zum Ort, an dem das Gerüst, das zukünftig die Verbindung stützen soll, aufgestellt, vielleicht sogar erst entworfen wird. Es geht also um das Aushandeln partnerschaftlicher oder rollenkonformer bzw. rollenmodifizierender Praktiken vor dem Horizont einer gemeinsamen Zukunft. Grenzen und Möglichkeiten einer künftigen Ehe werden sorgsam ausgelotet, ohne dass man konkret darüber spricht. Anhand der drei Briefwechsel kann nachgewiesen werden, dass entgegen den Rollenzuschreibungen des 18.  Jahrhunderts sich die Frauen nicht auf eine rein passive Haltung festlegen ließen, sondern mehr oder weniger offen zur treibenden Kraft in den jeweiligen Briefwechseln wurden.

1 Luise Adelgunde Victorie Gottsched und Johann Christoph Gottsched Obwohl Johann Christoph Gottsched (1700–1766) sich zeitlebens der Rhetorik verpflichtet fühlte, verfasste er weder eine selbständige Schrift zur Epistolographie noch einen Briefsteller. Lediglich in zweien seiner theoretischen Werke, im Grundriß zu einer Vernunfftmäßigen Redekunst (1729) und in den Vorübungen der Beredsamkeit, zum Gebrauche der Gymnasien und größeren Schulen (1754), führt er zusammenfassend aus, was für ihn einen guten Brief ausmacht. In ihnen definiert https://doi.org/10.1515/9783110376531-070

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Gottsched die Briefkunst weiterhin als einen Teil der Rhetorik und hält zudem an den adressatenbezogenen Höflichkeitsfloskeln fest, die einen festen Platz in den Briefstellern galant-höfischer Provenienz einnahmen. Gottscheds wenig innovative Auseinandersetzung mit der Textsorte Brief steht in eigentümlicher Spannung zu seiner zeitlebens ambitioniert vorangetriebenen Reformation der deutschen Sprachpraxis. Im Hinblick auf einen guten Schreibstil weist er z.  B. in seiner Moralischen Wochenschrift, den Vernünfftigen Tadlerinnen, Kriterien aus, die einen guten Schreibstil ausmachen. Sein Hinweis darauf, dass „[e]in guter Skribent  […] natürlich schreiben“ muss (Gottsched 1725, 291–292), bereitet den Brieftheorien der kommenden Jahre, in denen man sich von den kanzlistischen Stilvorgaben zugunsten eines Natürlichkeitsideals abwendet, den Boden. Luise Adelgunde Victorie Gottsched, geb. Kulmus (1713–1762), erhielt durch ihre Eltern eine breit angelegte Bildung. Vor allem ihrer Mutter ist zu verdanken, dass sie sich „gemäß ihrer Neigungen“ (Gottsched 1763 [unpag.]) spezialisieren durfte. Ihre Wahl fiel zuerst auf „Musik und Poesie“, danach auf das „Schreiben und Lesen guter Bücher“ (Gottsched 1763 [unpag.]). Ihre Betätigung auf literarischem Gebiet führte dazu, dass Johann Christoph Gottsched auf sie aufmerksam wurde und die Erlaubnis zur Korrespondenz bei ihren Eltern erbat. Im Verlaufe des daraus entstandenen Briefwechsels hielt J. C. Gottsched 1731 um ihre Hand an, die Heirat selbst erfolgte im April 1735. Neben dem Briefwechsel mit ihrem Mann ist der Briefwechsel mit ihrer Freundin Dorothee Henriette von Runckel von Interesse, hier pflegt die Gottschedin einen weitaus intimeren Ton als mit ihrem Mann. In der Forschung gelten die Briefe Luise Gottscheds immer wieder als wichtiger Beitrag zur Kulturgeschichte des Briefes. Die zwischen 1730 und 1762 geschriebenen Briefe der Luise Adelgunde Victorie Gottsched wurden erstmalig 1771/72 in einer dreibändigen Ausgabe von ihrer Freundin von Runckel publiziert und auch bearbeitet, so dass der philologische Anspruch an einen unverderbten Text lange Zeit nicht aufrechtzuerhalten war. Mehr als 200 Jahre später publiziert Inka Kording einen Nachdruck der Briefe, der explizit den Anspruch verfolgt, eine Leseausgabe des Erstdrucks zu sein (vgl. Gottsched 1999). Erst die von Detlef Döring und Manfred Rudersdorf (vgl. Gottsched 2007  ff.) besorgte Ausgabe der Gottsched-Korrespondenz wird historischkritischen Ansprüchen gerecht. Die Briefausgabe unterliegt, darauf weisen die Herausgeber hin, jedoch einer schwierigen Überlieferungssituation. Von den ca. 5.000 in Leipzig aufbewahrten Briefen stammen nur wenige von Gottsched selbst. Der überwiegende Teil besteht aus Schreiben an den Schriftsteller (vgl. Immer 2009). Die auf 25 Bände angelegte Edition berücksichtigt auch die Korrespondenzkreise seiner Gattin Luise Adelgunde Victorie, „was in der starken gegenseitigen Verflechtung der Briefkorpora beider Ehepartner begründet ist“, so der Ankündigungstext zur Briefedition.

5.7 Die Briefwechsel Gottsched/Kulmus, Klopstock/Moller, Herder/Flachsland 

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Ab Sommer 1730 entwickelt sich zunächst ein freundschaftlicher Briefwechsel, in dem Luise Kulmus Johann Christoph Gottsched vor allem in Fragen des literarischen Geschmacks zurate zieht. Die spätere Gattin Gottscheds nutzt den Briefwechsel in der Anfangszeit vor allem, um ihre Bildungsbemühungen weiter voranzutreiben (vgl. z.  B. Kulmus an Gottsched, 20.9.1730; Kulmus an Gottsched, 27.10.1730, in Gottsched 1999, 23–25). So wird in den Briefen der beiden immer wieder auf die Literatur Bezug genommen, die Gottsched Luise Adelgunde Victorie zur Lektüre vorschlägt (vgl. z.  B. Kulmus an Gottsched, 11.11.1733, in ­Gottsched 1999, 51–52). Trotz ihres eigenen literarischen Schaffens erkennt die Gottschedin die Überlegenheit des Geschmacksurteils ihres Gatten an und sichert sich so die Möglichkeit, an einem gelehrten Leben teilzunehmen, ohne damit die Grenzen weiblicher Rollenentwürfe zu sprengen (vgl. Kulmus an Gottsched, 19.7.1732, in Gottsched 1999, 32–33). Gottsched wiederum stilisiert seine Gattin zur Gelehrten und zeigt sich stolz, ihr Förderer zu sein (vgl. Kulmus an Gottsched, 7.10.1733, in Gottsched 1999, 50–51). Erst die Briefe, die Luise Adelgunde Victorie an ihre Freundin von Runckel schreibt, zeigen, wie zweischneidig das Verhältnis der beiden Ehepartner auch im Rahmen des Gelehrtendiskurses war. So lässt von Runckel unter anderem anklingen, dass der Status der „gelehrten Frau“ (vgl. von Runckels Vorbericht 1772, in Gottsched 1999, 249–250) durch eine aufopferungsvolle (Schreib-)Arbeit für ihren Gatten teuer erkauft wurde. Der Forschungsstand zum Briefwechsel zwischen Gottsched und seiner Frau fokussiert vor allem die emanzipatorischen Bemühungen der Gottschedin aus den allzu engen und vorgezeichneten Bahnen weiblicher Gelehrsamkeit. Herauszuheben sind hier vor allem die Arbeiten von Katherine Goodman und Inka Kording, die die Grenzen weiblicher Rollenentwürfe anhand des Gelehrtendiskurses des 18. Jahrhunderts nachzeichnen. Deutlich zeigt sich, dass die Frage der Individualität bzw. der Konstruktion derselben einen erkennbaren Schwerpunkt in den Forschungsarbeiten einnimmt. Besondere Relevanz besitzt diese Fragestellung auch bei Reinlein (2003), hier wird der Briefwechsel zwischen Gottsched und seiner Frau um die Briefe, die die Gottschedin mit ihrer Freundin von Runckel wechselte, ergänzt. Insgesamt kann man den Briefwechsel als einen ‚Schwellenbriefwechsel‘ bezeichnen; noch ist eine empfindsame und im Zuge des Natürlichkeitsdiskurses veränderte Schreibweise nicht denkbar. Deutlich weist der Briefwechsel jedoch auf diejenigen voraus, in denen die Konstruktion der Identität und eines gemeinsamen Lebensentwurfs die bestimmenden Themen sind.

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2 Friedrich Gottlieb Klopstock und Meta Moller Mit dem Namen Friedrich Gottlieb Klopstock wurde bereits zu Lebzeiten des Autors emotionale Unmittelbarkeit in der Literatur verbunden. Unter anderem legen Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) wie auch Johann Martin Millers Siegwart, eine Klostergeschichte (1776) Zeugnis davon ab, wie eng der Name Klopstock mit der Emotionalisierung und damit Erweiterung der Literatur des 18. Jahrhunderts verbunden ist. Der in den Jahren 1751–1754 geführte Briefwechsel zwischen Friedrich Gottlieb Klopstock und Meta Moller wird sowohl von den Zeitgenossen als auch nachfolgenden Generationen als Muster einer Liebesbeziehung rezipiert. Unmittelbarkeit, leidenschaftlicher Gefühlsausdruck, die Integration des Körpers in den Schriftdiskurs sind nur einige Merkmale, die den Briefwechsel einzigartig und paradigmatisch für die neue Art des Schreibens in der Empfindsamkeit erscheinen lassen. Bezeichnenderweise ist es Meta Moller, die das Treffen mit dem ihr persönlich unbekannten Autor des Messias 1751 in Hamburg initiiert. Beide, sowohl der bereits hochgefeierte Dichter als auch die Kaufmannstochter Moller, sind wechselseitig voneinander beeindruckt. Dem ersten Zusammentreffen folgt ein intensiver Briefwechsel, der von Klopstock bereits einen Tag nach seiner Abreise begonnen und im Folgenden von Moller geschickt genutzt wird, um sich über den Moment hinaus die Aufmerksamkeit des berühmten Autors und in letzter Instanz auch die Ehe mit Klopstock zu sichern. In den Briefen, die sie in dieser Zeit parallel an Nikolaus Dietrich Giseke und ihre Schwester, Elisabeth Schmidt, schreibt, ist deutlich abzulesen, wie sehr sie sich nicht zuletzt von der körperlichen Gestalt Klopstocks angezogen fühlt. Auch ihre Wünsche („Ich dachte, warum küst der Affe dich denn nicht? Du kannst ihm den Kuß ja nicht geben!“ – Moller an Giseke, 11.12.1753, in Klopstock 1980, 13) werden in ihren Briefen an die Freunde unmissverständlich artikuliert. Auffällig ist, dass die körperliche Anziehung und die Thematisierung derselben nicht etwa dem schriftlichen Austausch zwischen den beiden Liebenden vorbehalten bleiben, sondern halböffentlich stattfinden. Vor allem in Mollers Briefen an Giseke werden Themen (z.  B. die für den Vollzug der Ehe zu treffenden Vorbereitungen, vgl. Moller an Giseke, 10.11.1753, oder Mollers Jungfernschaft, Moller an Giseke, 16.8.1753, in Klopstock 1980, 265–269, 250–251) angesprochen, die sehr deutlich auf das Intimleben zweier Menschen abzielen und damit einem höchst privaten Bereich zuzuordnen sind. Aber auch Klopstock gewährt Außenstehenden Einblicke in sein Intimleben. So berichtet er z.  B. Johann Wilhelm Ludwig Gleim, dass er mit den Rundungen seiner zukünftigen Frau zufrieden ist (vgl. Klopstock an Gleim, 14.8.1753, in Klopstock 1980, 249–250). Ein weiterer Themenkomplex, der in den Briefen Klopstocks und Mollers behandelt wird, ist die Verbindung zwischen Gefühlen und adäquater sprach-

5.7 Die Briefwechsel Gottsched/Kulmus, Klopstock/Moller, Herder/Flachsland 

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licher Abbildung. Vor dem Hintergrund langer Trennungszeiten und des dadurch verstärkt empfundenen Defizits, nicht miteinander von Angesicht zu Angesicht kommunizieren zu können, loten die beiden Briefpartner immer wieder Grenzen und Möglichkeiten brieflicher Kommunikation aus. Im Laufe des Briefwechsels entspinnt sich dabei ein Diskurs über die Leistungsfähigkeit oraler und literaler Kommunikationssituationen (vgl. unter anderem: Klopstock an Moller, 22.9.1751; Moller an Klopstock, 27.9.1751; Klopstock an Moller, 5.–11.1.1752, in Klopstock 1980, 71–73, 74–76, 108–110) Bereits an diesen beiden Themenbereichen wird deutlich, dass Klopstock und Moller in ihrem Briefwechsel nicht nur Grenzen und Möglichkeiten schriftlicher Kommunikationssituationen reflektieren, sondern den Liebesdiskurs der Empfindsamkeit erweitern. Der für seine Zeit außerordentliche Briefwechsel wird auch von den Zeitgenossen Friedrich Gottlieb Klopstocks und Meta Mollers als solcher wahrgenommen und als Sinnbild einer in ihm erschriebenen idealen Liebesgemeinschaft gefeiert. Die Tatsache, dass dieser Briefwechsel zu Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde, widerspricht dem nicht, sondern verweist nur auf die Interpretationsspielräume, die gerade dadurch für die Zeitgenossen eröffnet wurden. Wie wirkmächtig diese waren, zeigt sich exemplarisch an den Briefen, die zwischen Herder und seiner späteren Frau Caroline Flachsland gewechselt wurden. Die Forschung zum Briefwechsel zwischen Klopstock und Moller hat in den letzten Jahren – seitdem die Erforschung des Mediums Brief in der Literaturwissenschaft Einzug gehalten hat – zugenommen. Seitdem werden Fragen zur Autorschaft Klopstocks (vgl. Dollinger 2004), zur Erotisierung derselben (vgl. Schuller 1989) ebenso verhandelt wie die Schriftstrategien, die zur Herstellung von Nähe verwendet werden (vgl. Jacob 2013). Einen weiteren Schwerpunkt innerhalb der immer noch übersichtlichen Forschungslandschaft zu den Briefen Klopstocks und Mollers bilden die in ihm verwendeten Inszenierungsstrategien zu schriftlich konstruierten Identitäten (vgl. Reinlein 2003, 2013).

3 Johann Christoph Herder und Caroline Flachsland Der Briefwechsel zwischen Johann Gottfried Herder und Caroline Flachsland setzt bereits kurz nach dem ersten Treffen der beiden späteren Brautleute in Darmstadt Mitte August 1770 ein. Es ist Herder, der den ersten Brief schreibt, am 20. August, nur einen Tag nach dem tête-à-tête und noch während seines Aufenthaltes in Darmstadt. Während Herder sich noch darum bemüht, einen ersten vorsichtig aus-

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 5 18. Jahrhundert

gestalteten Rahmen für eine mögliche Beziehung zu Flachsland zu entwerfen, verortet Flachsland selbstbewusst, welches Bezugssystem für sie und Herder gelten soll. Ihre Frage: „[G]lauben Sie daß ich wie eine Meta Sie liebe?“, wird von ihr im gleichen Atemzug beantwortet: „Freylich fehlt mir zu einer Klopstockin noch viel, aber hierhinn nichts mehr.“ (Flachsland an Herder, 25. u. 26.8.1770, Herder und Flachsland 1926, 6–8) Der Bezug auf das paradigmatische Liebespaar des 18. Jahrhunderts offenbart neben den Erwartungen, die sie mit dieser Positionierung an Herder heranträgt, nicht zuletzt, wie vielschichtig der Konstruktionscharakter dieser brieflich erschriebenen Liebesbeziehung ist. Flachsland schreibt mit ihren Briefen, die auch in der Folgezeit die gefühlvolleren der zwischen beiden gewechselten sind, auf die Beziehung zu, die sie sich erhofft. Sie ist es, die Dinge zur Sprache bringen möchte, und hofft, dass die von ihr gemachten Kommunikationsangebote in ihrem Sinne genutzt werden. Im Gegensatz zum Briefwechsel zwischen Kulmus und Gottsched, in dem der Austausch über Literatur ein konstituierender Faktor sowohl des Briefwechsels als auch der Art der Beziehung der beiden ist, weist Flachsland einen hauptsächlich literarisch ausgerichteten Briefwechsel – wie er von Herder favorisiert wird – weit von sich (vgl. Herder an Flachsland, 1.10.1770, Herder und Flachsland 1926, 66–76) und droht Herder gar mit dem Abbruch des Briefwechsels, sollte sich dieser weiter in den von ihr abgelehnten Bahnen bewegen. Herders Reaktion erfolgt prompt – in seinem Antwortbrief gibt er reumütig zu, dass er sie mehr „geliebet“, als er ihr „je ha[t] kund gemacht“ (Herder an Flachsland, 1.10.1770, Herder und Flachsland 1926, 66–76). Anderthalb Monate nach dem ersten Kennenlernen ist damit ausgesprochen, worauf im Briefwechsel hingeschrieben worden ist. Die Unsicherheit über den Status des sich anbahnenden Verhältnisses ist damit jedoch keineswegs bereits beseitigt. Bis zur Hochzeit im Jahr 1773 unterliegt der Briefwechsel zahlreichen Stimmungsschwankungen, die in erster Linie damit verbunden sind, dass die beiden Liebenden aus der Ferne – Herder befindet sich beruflich in Bückeburg und Flachsland wohnt weiterhin im Haus des Schwagers in Darmstadt  – ausschließlich durch das Medium Schrift Nähe herstellen können. Wie störungsanfällig dies ist, lässt sich an der Begegnung Herders mit der Gräfin Maria Eleonore im Jahre 1772 nachzeichnen. Mit ihr glaubt er eine Seelenverwandte kennengelernt zu haben (vgl. Herder an Flachsland, 24.1.1772, Herder und Flachsland 1928, 10–14) und berichtet Flachsland schwärmerisch von ihr und den gemeinsam verbrachten Stunden. Dass Flachsland sich der Fragilität der bisher nur schriftlich konstruierten Liebesbeziehung bewusst gewesen sein muss, zeigt sich daran, dass sie Herder, dessen zögerliche Haltung zur Ehe ihr zunehmend widerstrebt, in eine Situation bringt, in der er Farbe bekennen muss: In einem Streit mit dem Schwager kündigt Flachsland vollmundig ihren bereits beschlossenen Auszug aus dem Haushalt des Schwagers an, Herder und sie hätten beschlossen zu heiraten. Von dieser Begebenheit

5.7 Die Briefwechsel Gottsched/Kulmus, Klopstock/Moller, Herder/Flachsland 

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berichtet sie Herder in ihrem Brief vom 24.8.1772 (vgl. Herder und Flachsland 1928, 209–213) und erreicht mit diesem Schachzug, dass endlich eintritt, was schriftlich konstruiert wurde. Am 2. Mai 1773 heiraten Herder und Flachsland. In der immer noch eher spärlichen Forschung zum Briefwechsel zwischen Caroline Flachsland und Johann Gottfried Herder werden Annäherung und Kennenlernen unter verschiedenen Perspektiven in den Blick genommen (vgl. Prokop 2008; Reinlein 2013). Ergänzt wird dieser Ansatz von Veröffentlichungen zu Einzelaspekten, wie z.  B. der Lektüre im Briefwechsel der Brautleute (vgl. Grimm 2005) oder zur rhetorischen Ausgestaltung des Briefwechsels (vgl. Sauder 2014).

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912 

 5 18. Jahrhundert

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5.7 Die Briefwechsel Gottsched/Kulmus, Klopstock/Moller, Herder/Flachsland 

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Online-Quellen Ankündigung der Gottsched-Briefedition auf der Website des Verlags: https://www.degruyter. com/view/supplement/s20324_Reihenflyer_Gottsched_Briefwechsel.pdf (29.1.2019).

Tobias Heinrich

5.8 Gleim und sein Kreis 1 Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) Johann Wilhelm Ludwig Gleim steht exemplarisch und zugleich einzigartig in der deutschen Briefkultur des 18. Jahrhunderts. Bereits als Student widmete sich Gleim auf Anregung Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers der Dichtung im Stile der Anakreontik. Gemeinsam mit seinen Studienkollegen Johann Peter Uz, Johann Nikolaus Götz und Paul Jacob Rudnick gehörte er damit zu den Begründern der Zweiten Halleschen Dichterschule, die sich der Rokokodichtung verschrieb. Auf die Studienzeit in Halle folgten für Gleim eine Anstellung als Hauslehrer in Potsdam und später als Sekretär Friedrich Wilhelms von Brandenburg-Schwedt. Zwischen Potsdam und Berlin knüpfte Gleim ein enges Netz an Freundschaften und Bekanntschaften, darunter etwa der Offizier Ewald von Kleist, der spätere Dozent für Philosophie Karl Wilhelm Ramler, Johann Joachim Spalding, einer der Protagonisten der deutschen Aufklärungstheologie, und Johann Georg Sulzer, Herausgeber der ersten deutschsprachigen Enzyklopädie der Ästhetik. Als Friedrich Wilhelm 1744 bei der Belagerung von Prag fiel, war Gleim nach einer Phase prekärer Unsicherheit gezwungen, sich in der deutschen Provinz niederzulassen. Als Domsekretär in Halberstadt und später auch als Kanonikus des Stifts Walbeck war ihm zwar ein stattliches finanzielles Auskommen sicher, räumlich fand er sich in dieser Rolle jedoch isoliert von den gelehrten und literarischen Zirkeln der Universitäts- und Residenzstädte. Statt sich aber gänzlich in das provinzielle Leben seiner neuen Umgebung zu fügen, nutzte er die zeitgenössischen Kommunikationsmedien, allen voran die aufstrebende Brief- und Korrespondenzkultur, um weiterhin den künstlerischen und intellektuellen Austausch zu pflegen. Wiederholt versuchte Gleim, junge Schriftsteller an sich zu binden und Halberstadt so trotz seiner geographischen Lage als kulturelles Zentrum zu etablieren. Diesen Plänen war allerdings nur mäßiger Erfolg beschieden und die von Gleim Geförderten blieben meist nur für kurze Zeit in der Stadt am Harz. Umso intensiver widmete sich Gleim dem Vorhaben, dem deutschen Geistesleben in Halberstadt zumindest virtuelle Präsenz zu verleihen. Davon zeugen nicht zuletzt seine umfassende Bibliothek (ca. 12.000 Bände), die als ‚Freundschaftstempel‘ bekannt gewordene Porträtsammlung und das bis zu seinem Tode auf über 10.000 Briefe angewachsene Korrespondenzarchiv.

https://doi.org/10.1515/9783110376531-071

5.8 Gleim und sein Kreis 

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2 Anakreontische Zirkel – Freundschaftliche Briefe Eine wesentliche Bedeutung für Gleims literarisches und besonders auch sein epistolares Schaffen hatte die Kollaboration mit Samuel Gotthold Lange. Gemeinsam mit Lange, der als Pfarrer in Laublingen wirkte, und Sulzer veröffentlichte Gleim 1746 einen Teil der gemeinsamen Korrespondenz mit Kleist, Sulzer, dessen zukünftiger Ehefrau Catherina Wilhelmina Keusenhoff und Christian Nicolaus Naumann (zur Entstehungsgeschichte vgl. Ahrens 2018). Der programmatische Titel der Sammlung, Freundschaftliche Briefe, verweist auf den persönlichen Charakter der Episteln, die in ihrer exemplarischen Funktion einen Kontrapunkt zu den zeitgenössischen Briefstellern und ihrem schwülstigen und formelhaften Stil setzen sollten. Bedeutsam ist außerdem das zugrundeliegende Konzept von geselliger Freundschaft, das sich maßgeblich von jenem der älteren Briefsteller unterscheidet. Während zwischenmenschliche Beziehungen dort vor allem aus dem Nutzen heraus betrachtet wurden, die sie dem Briefschreiber in sozialer oder ökonomischer Hinsicht bieten konnten, preisen die Freundschaftlichen Briefe gerade die Zweckfreiheit der geselligen Kommunikation an. Sie weisen damit voraus auf Christian Fürchtegott Gellerts epochemachende Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen (1751). Bereits die Vorrede der Sammlung zeigt, wie sehr es den Autoren im Sinne Shaftesburys um den sozialethischen Charakter von Freundschaft geht, die in Kombination mit pietistisch fundierten Praktiken der Selbstoffenbarung vordringlich als Kommunikationskonstellation verstanden wird: Freundschaft „verschaft das reineste und beständigste Vergnügen, so in der Nähe durch den freundschaftlichen Umgang, wie in der Ferne, durch die Mit­ theilung der Gedanken und der Empfindungen des Herzens in Briefen“ ([anonym] 1746, 3). Der epistolare Kommunikationsraum wird als Erweiterung und Fortsetzung des persönlichen Gesprächs verstanden, hier konkret im Sinne der geselligen Zusammenkünfte bei Lange in Laublingen. Auch die Vorstellung vom geschriebenen Brief als Dokument simulierter Mündlichkeit deutet auf Gellert voraus. So heißt es später in dessen Praktischer Abhandlung, dass sich der Brief an der „freye[n] Nachahmung des guten Gesprächs“ orientieren und daher in gleicher Weise „natürlich“ erscheinen müsse, in der man auch „im gemeinen Leben […] zu reden pflege“ (Gellert 1989, 111). Sowohl der programmatische Traktat Gellerts als auch die Briefsammlung Gleims und Langes wenden sich damit explizit gegen jene normative Ästhetik, die im überwiegenden Teil der zeitgenössischen Briefsteller vertreten wurde. Der Paradigmenwechsel in der deutschsprachigen Briefkultur des 18. Jahrhunderts, der gemeinhin mit Gellerts Praktischer Abhandlung verbunden wird, muss damit aufgrund von deren konzeptioneller Nähe

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wohl bereits fünf Jahre früher auf das Erscheinen der Freundschaftlichen Briefe vordatiert werden (vgl. Hentschel 2001). Mit dieser anonymen Veröffentlichung wird Gleim also zu einem der Wegbereiter eines neuen epistolaren Stils, der nicht zuletzt auch prägenden Einfluss auf die deutsche Literatursprache haben sollte. Freundschaft als sozialethisches Ideal wird in Gleims und Langes Sammlung in seiner medialen Dimension dargestellt. Die aufgenommenen Briefe dokumentieren freundschaftliche Geselligkeit als ein stets aktives Tun, das sich vordringlich in seinem kommunikativen Ausdruck manifestiert. Entscheidend sind dabei drei grundlegende Komponenten, aus denen sich die exemplarischen Korrespondenzen speisen: Individualität, Dialogizität und Emotionalität. Es begegnen sich autonome Individuen, die sich im epistolaren Kommunikationsgefüge als Persönlichkeiten im dialogischen Austausch erfahren (vgl. Adam 2000). In Analogie zur literarischen Empfindsamkeit stützt sich die empathische Einfühlung in den Anderen dabei auf Gefühle und Emotionen. Das Freundschaftskonzept, dem Gleim und Lange in ihrer Sammlung folgen, ist in seiner sozialethischen Dimension zwar zutiefst der Aufklärung verbunden, bereitet allerdings bereits die Abkehr von der reduktionistischen Weltsicht des Rationalismus vor, die im literarischen Diskurs schließlich durch die Stürmer und Dränger bzw. die Romantik vollzogen wird.

3 Der Freundschaftstempel „Mein Herr, meine wahre Freundschaft und unveränderliche Hochachtung zeigt mir alle Augenblikk ihr Bild. Ich sehe Weltweisheit, Tugend, Freundschaft, aufgeräumtes Wesen, und sinnreichen Scherz, und wenn ich dieses zusammen halte, so sehe ich sie. Und dann rede ich von ihnen, und dann will ich an sie schreiben […]“ ([anonym] 1746, 1). In diesen Zeilen aus dem ersten der Freundschaftlichen Briefe ist eine mediale Konstellation grundgelegt, die Gleims Briefverkehr wie auch seine Sammlungspraxis Zeit seines Lebens bestimmen sollte: die bildhafte Darstellung des Korrespondenzpartners als physiognomisches Abbild seines Wesens, aber zugleich auch als Ausgangspunkt des Schreibaktes. Gleims Tempel der Freundschaft, der in der heute erhaltenen Form die umfangreichste Porträtsammlung der deutschen Aufklärung darstellt, entsteht mit den von Gottfried Hempel bereits kurz nach Gleims Umzug nach Halberstadt angefertigten Darstellungen der Freunde aus Berlin und Potsdam (vgl. Lacher 2010b, 42). Das noch vor kurzem real erlebte Ambiente der Geselligkeit soll sich durch die Porträts auch in der Einsamkeit der Provinz erhalten. Die Bildnisse erzeugen dabei die Atmosphäre anwesender Abwesenheit, indem sie die phy-

5.8 Gleim und sein Kreis 

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sische Präsenz der Porträtierten beschwören und damit den direkten künstlerischen und intellektuellen Austausch imaginieren, auf dem Gleims literarisches Schaffen maßgeblich beruhte. Durch die mediale Illusion von Unmittelbarkeit partizipiert Gleims Bildersammlung auch an einer generellen Neuausrichtung der Porträtkunst im 18. Jahrhundert. Als Gegenmodell zur aristokratisch geprägten Repräsentationsfunktion, die gerade die Unnahbarkeit der dargestellten Persönlichkeit inszenieren sollte, entwickelte sich in der bürgerlichen Porträtmalerei des 18.  Jahrhunderts eine differenzierte Symbolsprache der Intimität, in der einerseits die individuellen und einzigartigen Züge des Porträtierten hervorgehoben werden, andererseits in ihrer mimischen Ausgestaltung, etwa durch die zum Augengruß gehobene Braue oder den zum Sprechen geöffneten Mund, auch eine kommunikative Beziehung zum Betrachter insinuiert wird (vgl. Börsch-Supan 2010; Lacher 2010a, 38). Wie das eingangs zitierte Beispiel aus den Freundschaftlichen Briefen belegt, nimmt Gleim in seiner epistolaren Praxis direkt auf bildliche Darstellungen seiner Adressaten Bezug. Das Porträt wird zum Gegenstand der Interaktion, häufig dann, wenn sich eine gesellige Runde zum gemeinsamen Lesen oder Verfassen von Briefen bei Gleim versammelt hat. Die epistolare Kommunikation, die auf Abwesenheit beruht, wird damit in der Präsenz des Porträts und der anwesenden Freunde sublimiert. Gerade die Spannung zwischen Nähe und Distanz verleiht dieser Konstellation ihren fast sakralen Charakter (vgl. Stanitzek 2010, 246). Auf die künstlerische Ausführung der Gemälde und damit auch auf die visuelle Repräsentation der Dargestellten nahm Gleim maßgeblichen Einfluss, indem er sich etwa um ein einheitliches Format und einen nüchternen und neutralen Hintergrund bemühte. Als Vorlage diente ein entsprechendes Bildnis von Gleims Vater. Das strukturelle Zentrum der Sammlung bildet ein Porträt Ewald von Kleists (vgl. Frühsorge 1982, 430–431). Auch die Anordnung der Porträts ist keineswegs willkürlich. Vielmehr signalisiert die räumliche Nähe einzelner Bilder ein persönliches Naheverhältnis der Porträtierten. Zudem ließ Gleim auch ein spezielles Sitz- und Schreibmöbel anfertigen, das sich leicht vor das Bildnis des Verfassers oder Adressaten eines Briefes stellen ließ, um mit diesem ‚von Angesicht zu Angesicht‘ zu korrespondieren.

4 Medialität und Performanz Gleims Briefpraktiken sind eingebettet in einen umfassenden Medienwandel, der sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts vollzieht und zur Ausbreitung einer umfassenden Schriftkultur führt, die sich vor allem der zunehmenden Alphabetisierung

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der Bevölkerung und einem wesentlich verbesserten Postwesen verdankt. Zunehmend werden dabei Austauschverhältnisse, die auf Mündlichkeit und persönlicher Präsenz beruhen, von medial vermittelter Distanzkommunikation abgelöst (vgl. Koschorke 1994, 259). Die anakreontische Dichtung, der Gleims literarisches Werk in weiten Teilen verpflichtet ist, siedelt sich motivlich, aber auch performativ in diesem Übergang an. Nicht nur rufen die Texte selbst beständig Szenen der Gemeinschaft und Geselligkeit auf, die kollektive Produktion und Rezeption von Lyrik stellt auch ein bestimmendes Gestaltungsprinzip der Anakreontik dar. Die epistolaren Verfahrensweisen des Gleim-Kreises schließen unmittelbar an diese Konstellation an. Den im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Gemeinschaftsbriefen steht die gesellige und oft ritualhaft inszenierte Lektüre der Korrespondenz gegenüber. Die Rezeption wird damit selbst zum Ereignis, das seinen spezifischen Status gerade durch die Medialität der Kommunikationsverhältnisse und die Abwesenheit der Kommunikationspartner erhält. Briefe und Porträts, aber auch Haarlocken oder Schnupftabakdosen dienen als Substitute, entwickeln darüber hinaus aber eine symbolisch aufgeladene Eigenbedeutung, die über ihren reinen Kompensationscharakter hinausgeht. Wie sich gerade in Hinblick auf das Zusammenspiel von Bild- und Schriftmedien zeigt, erlaubt die visuelle Präsenz, den abwesenden Briefpartner in seiner gerade auch physischen Individualität anzusprechen. Direkt aus der anakreontischen Dichtung übernommen erscheint auch Gleims Spiel mit epistolaren Rollen. Dabei stehen historische Künstler- und Dichterfiguren (Anakreon, Epikur, Sappho etc.) fiktiven Charakteren aus der Schäferwelt gleichrangig gegenüber. Die epistolaren Figurationen, die sowohl als Selbstbezeichnung als auch als Fremdzuschreibung auftauchen, dienen dabei oft dazu, unterschiedliche künstlerische und charakterliche Dispositionen zu benennen. Der einfühlsame Dichter oder der zärtliche Schäfer werden so von der realen Person getrennt, um die Komplexität einer Persönlichkeit in einzelnen Facetten zu adressieren. Zugleich bringt der Aufruf einer pastoralen Phantasiewelt ein spezifisches Naheverhältnis hervor, durch das im Schriftmedium die Klassen- und Hierarchiegrenzen der sozialen Wirklichkeit überwunden werden können. Beispielhaft mag hier die Anredeform stehen, die den Konventionen entsprechend zumeist beim formellen Sie verharrt, im Ansprechen des Gegenübers als Schäferfigur jedoch in das vertraute Du wechseln kann. Ein anderer Aspekt des epistolaren Rollenspiels zeigt sich in Gleims patriotischen Gedichten, in den aus Anlass des Siebenjährigen Krieges entstandenen Preußischen Kriegsliedern. Hier betont Gleim in der Figur des Grenadiers als deren fiktiven Verfassers gerade die Singularität des eigenen literarischen Schaffens. Die Rolle, von der Gleim stets in dritter Person spricht, dient ihm dazu, sein Schreiben zu kommentieren und den für die deutsche Literatur neuartigen Bezug zur unmittelbaren politischen und sozialen Gegenwart zu legitimieren (vgl. Fischer

5.8 Gleim und sein Kreis 

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2015, 87–96). Zugleich lassen sich damit aber auch unterschiedliche Grade von epistolarer Privatheit und literarischer Publizität differenzieren oder, bei Bedarf, zusammenführen, wenn etwa der Grenadier in einer Inschrift selbst als Stifter und moralischer Hüter des Freundschaftstempels inszeniert wird (vgl. Scholke 2000, 52; Fischer 2015, 93).

5 Jacobi – Karsch – Heinse Neben den Briefwechseln mit Lange, Kleist und Sulzer, die in die Freundschaftlichen Briefe eingingen, prägt der anakreontische Ton auch die Korrespondenz mit Karl Wilhelm Ramler und Johann Peter Uz. Während die Freundschaft mit Ramler im Streit endete, dauerte der briefliche Austausch mit Uz, der ähnlich wie Gleim in der Provinz, nämlich in Ansbach, eine Anstellung gefunden hatte, bis an das Lebensende fort. Gerade in der Beziehung zu Uz zeigt sich die eigenständige Qualität, die dem Briefverkehr gegenüber der persönlichen Zusammenkunft zukam. Trotz wiederholter Beteuerungen, sich gegenseitig besuchen zu wollen, und den durchaus realen Möglichkeiten, dies zu verwirklichen, blieb der Kontakt der beiden ehemaligen Studienkollegen im weiteren Verlauf ihres Lebens auf die epistolare Korrespondenz beschränkt (vgl. Kertscher 1998). Mit Johann Georg Jacobi tritt 1766 ein Vertreter der jüngeren Generation mit Gleim in Kontakt, der selbst schriftstellerische Ambitionen hat und im Austausch mit dem etablierten Halberstädter Dichter die Möglichkeit sieht, sein eigenes literarisches Profil zu schärfen. Bewusst schlägt Jacobi Gleim gegenüber den Ton der Freundschaftlichen Briefe an und schreibt sich in die Schäferwelt der anakreontischen Lyrik ein. Gleim zeigt sich für die schmeichelnden Annäherungen durchaus empfänglich und schon bald entsteht die Idee, den gemeinsamen Briefwechsel auch zu veröffentlichen. Die 1768 erschienenen Briefe von den Herren Gleim und Jacobi (vgl. [anonym] 1768a) stoßen schließlich auf gemischte Reaktionen (vgl. Hanselmann 1989, 106–120). Während einige Rezensenten, wie etwa der gemeinsame Freund Christian Adolf Klotz, die Aufrichtigkeit und den gegenseitigen Respekt der Korrespondenzpartner loben (vgl. [anonym] 1768b, 5), tadeln andere, wie der anonyme Rezensent der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, die überbordende Gefühlssprache der Briefe, die unzähligen Küsse und Umarmungen, mit denen sich die Briefpartner ihrer Freundschaft versichern, und die offensichtliche Inhaltslosigkeit des Austausches, denn die Briefe kennen nur ein Thema: die Freundschaft selbst (vgl. [anonym] 1769; Kagel 2007; Potthast 2009; Heinrich 2014). Zu den Kritiker*innen des gedruckten Briefwechsels mit Jacobi zählt auch Anna Luise Karsch, mit der Gleim eine intensive, nicht immer friktionsfreie, aber

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letztlich bis zu ihrem Tod 1791 andauernde künstlerische und freundschaftliche Korrespondenz verbindet. Der schwärmerische Ton der Briefe von Gleim und Jacobi drückt ein Gefühl der Zuneigung und Zärtlichkeit aus, das sich Karsch in den ersten Jahren ihrer Korrespondenz mit dem Halberstädter Domsekretär wohl selbst erhofft zu haben scheint (vgl. Nörtemann 1992). In der Tat nährt die Diktion des Briefwechsels mit Jacobi bis heute Spekulationen über Gleims mutmaßliche Homosexualität (vgl. Hergemöller 1998, 391; Fischer 2015, 69). Aus kulturgeschichtlicher Perspektive muss hier jedoch der Einwand geltend gemacht werden, dass Homosexualität als psychophysische Disposition und damit auch der Typus des ‚Homosexuellenʻ erst im 19. Jahrhundert zu einer diskursiven Kategorie avanciert. Eine derartige Zuschreibung operiert damit nicht nur anachronistisch, sondern blendet auch die historischen Dynamiken der Geschlechter- und Sozialbeziehungen im 18. Jahrhundert aus, in dem die homosoziale Freundschaft mit der heterosexuellen Ehe um den Status der privilegierten Intimbeziehung konkurriert (vgl. Luhmann 1982, 97–106; Richter 1996a/b; Martin 2006; Wilson 2008). Zuletzt ignoriert ein Zugang, der die Briefe als authentisches Dokument einer Liebesbeziehung lesen möchte, auch das auf bewusste Inszenierung von Affekten setzende poetologische Programm Gleims, wie es von ihm im Briefwechsel mit Jacobi explizit formuliert wird: „Was auch die Philosophen dawider sagen mögen, so ist es doch gewiß: die wahren Empfindungen nicht, sondern die angenommenen machen den Dichter!“ ([anonym] 1768a, 143) In der Korrespondenz mit Anna Luise Karsch zeigt sich, wie dieses, im Briefwechsel zwischen Gleim und Jacobi scheinbar unstrittige Postulat, das zugleich den spezifischen Charakter der Anakreontik im Gegensatz zu den nachfolgenden literarischen Strömungen formuliert, in seinem epistolaren Geltungsanspruch fragwürdig wird. Gerade die frühen Briefe Karschs an Gleim dokumentieren das Ringen um die briefliche Ausdrucksform für Emotionalität, die über ihre literarische Inszenierung hinausgeht und in die Sphäre des Realen hineinreicht. Mithin fordert Karsch also eine Art von Authentizität, der sich Gleim sowohl in seiner Lyrik als auch in seinen Briefen bewusst verweigert. Geschickt verwickelt sie ihn dabei in die Widersprüche des eigenen poetischen Konzepts, indem sie zwar durchaus zwischen körperlicher und platonischer Liebe unterscheidet, jedoch in ihrem Schreiben explizit auf den Menschen Gleim zielt und nicht auf eine seiner poetischen Figurationen (vgl. Nörtemann 1992). Dieser offensichtliche Konflikt resultiert in erheblichen Spannungen zwischen den beiden Briefpartnern, die fast zum vollständigen Kommunikationsabbruch führen. Letztlich fügt sich Karsch aber in das von Gleim angestrebte Verhältnis von imaginierter Nähe und realer Distanz. Im weiteren Verlauf ihrer Korrespondenz erweist sich die Freundschaftskonstellation sogar als besonders fruchtbar für die Allianz zweier Schriftsteller, die sich aus unterschiedlichen Gründen den zeitgenössischen sozialen Kon-

5.8 Gleim und sein Kreis 

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ventionen verweigern. Gerade das epistolare Rollenspiel, das Gleims Briefe auszeichnet, erlaubt es dem unverheirateten Domsekretär, der Gelegenheitsdichterin aus dem dritten Stand, die nie formelle Bildung genossen hat, auf Augenhöhe zu begegnen (vgl. Pott 1998, 118–120). Das literarische Bündnis mit dem etablierten und finanziell abgesicherten Halberstädter Lyriker sucht auch der spätere Italienreisende und Hofbibliothekar in Aschaffenburg Johann Jakob Wilhelm Heinse. Auf Vermittlung Christoph Martin Wielands setzt er sich mit Gleim in Verbindung und inszeniert in seinen Briefen bald emphatisch eine literarische Vater-Sohn-Beziehung (vgl. Holm 2015, 204–210). Anders als in der Korrespondenz zwischen Gleim und Karsch ist es hier Heinse, der damit die Kontrolle über das Verhältnis von Nähe und Distanz übernimmt. Die Konstellation erlaubt es ihm, die Unterstützung des 27 Jahre Älteren dankbar anzunehmen, durch die klar markierte Generationengrenze zugleich aber auch der Vereinnahmung durch seinen Gönner zu entkommen und literarische Eigenständigkeit zu bewahren. So lässt er sich zwar durchaus von Gleim fördern, in seine Netzwerke einführen und verbringt schließlich auch zusammen mit Johann Georg Jacobi geraume Zeit in Halberstadt. Dem gemeinsam mit Gleim entwickelten Projekt um eine literarische Akademie, das sie wohl auch langfristig an die Stadt am Harz gebunden hätte, entziehen sich die beiden jedoch, um mit Jacobis Bruder Friedrich Heinrich in Düsseldorf die Frauenzeitschrift Iris herauszugeben. Bezeichnenderweise nimmt Gleim mit dem Abschied Jacobis und Heinses aus seinem direkten Umfeld das Prädikat des Vaters nun selbst in seine Briefe auf, so als könne die Anerkennung des Generationenunterschieds die Enttäuschung ob der unverwirklichten Pläne mildern (vgl. Holm 2015, 209). Heinses Düsseldorfer Gemäldebriefe (1776), die an Gleim gerichtet sind, inszenieren die Figur des väterlichen Adressaten schließlich einer breiten Öffentlichkeit gegenüber. Ähnlich wie im Falle Jacobis autorisiert der Bezug auf Gleim das eigene Schreiben im Spannungsfeld zwischen individueller Korrespondenz und literarischer Publizität. Zugleich wirkt Gleim als Heinses väterlicher Freund und Vermittler im Streit mit Wieland als dem Herausgeber des Teutschen Merkur, in dem die Gemäldebriefe erscheinen (vgl. Rodt 2006). Gerade weil Gleim in dem Konflikt, in dem es um grundlegende ästhetische Fragen geht, nicht mit seiner künstlerischen, sondern aus seiner sozialen Autorität heraus agiert, kann er für beide Streitparteien als Verbündeter fungieren. In den gedruckten Gemäldebriefen und den persönlichen Briefen Heinses und Wielands, in denen die beiden Gleim ihr Leid mit dem jeweils anderen klagen, gewinnt somit die Rolle des väterlichen Philanthropen an Kontur, dessen eigene künstlerische Leistungen zwar von der Zeit überholt wurden, dessen Relevanz für die Gegenwart als Mäzen und Netzwerker allerdings unbestritten bleibt.

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6 Archiv der Freundschaft – Soziale Medien des 18. Jahrhunderts Gleim bemüht sich in seinen Briefpraktiken um die Bildung intellektueller und ­ reundschaftsideals. künstlerischer Netzwerke als Verwirklichung eines geselligen F Daneben verfolgt er jedoch von Anfang an auch ein archivarisches Interesse, das mit seinem sozialethischen Programm zutiefst verbunden ist. So verwahrt er etwa die Nachlässe verstorbener Freunde wie Paul Jacob Rudnick und Ewald von Kleist (vgl. Pott 2006, 239). Zusammen mit der Porträtgalerie und Gleims umfangreicher Büchersammlung, die zu den größten Privatbibliotheken des 18.  Jahrhunderts gezählt werden muss (vgl. Pott 2006, 236), entsteht damit die multimediale Dokumentation eines Beziehungsgeflechts, das ganz im Sinne der Aufklärung über soziale und räumliche Grenzen hinweg einer gemeinschaftlichen Idee zuarbeitet. Im Zusammenspiel von Briefen, literarischen Entwürfen, Büchern und Porträts lässt sich eine Epoche der Freundschaft in ihren unterschiedlichen künstlerischen und kommunikativen Dimensionen nachvollziehen. Entscheidend ist dabei gerade ein auf dem Modell des Briefverkehrs beruhender Begriff von Zirkulation und Publizität, der eine klare Trennlinie zwischen privat und öffentlich bewusst unterläuft (vgl. Mohr 1973). Im Gegensatz zum monologischen Paradigma der Genieästhetik, die sich offensiv an dem sich herausbildenden literarischen Markt orientiert, geht es Gleim um den dialogischen Charakter von Literatur, verwurzelt im direkten Austausch zwischen Autor*innen und Rezipient*innen (vgl. Mix 2005). Nur scheinbar einem anachronistischen Kommunikationsmodell verpflichtet, zeigt gerade der digitale Medienwandel die Aktualität von Gleims Programm einer sozialen Einbettung der literarischen Tätigkeit, dessen Kern die Sublimierung der physischen Präsenz des Autors im Schriftmedium bildet, wie sie in der Briefkorrespondenz als Simulation des mündlichen Gesprächs vorexerziert wird (vgl. Koschorke 2003, 2014). Analog zu den Sozialen Medien der Gegenwart sind die Rezipienten immer zugleich auch potentielle Produzenten, werden Gattungs- und Mediengrenzen bewusst überschritten und beruht die künstlerische Tätigkeit maßgeblich auf der inhärenten Spannung zwischen Enthüllung und Inszenierung des Selbst. Gleim ist sich der historischen Bedeutung der Briefkultur des 18. Jahrhunderts, die er selbst prägend mitgestaltete, durchweg bewusst. Der didaktische Impuls, der seine Korrespondenzen stets begleitet, spiegelt sich auch in dem Vorhaben wider, seine Sammlungen als „Archiv der Freundschaft“ (Gleim und Uz 1899, 442) in den größeren Zusammenhang einer ‚Schule der Humanität‘ zu stellen, die Gleim in Halberstadt begründen möchte (vgl. Körte 1816; Frühsorge 1982, 432–434; Pott 2006, 242). Wie viele von Gleims Plänen ließ sich auch die Schule der Humanität weder zu seinen Lebzeiten noch danach verwirklichen. Mit seinen Sammlungen

5.8 Gleim und sein Kreis 

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legte Gleim allerdings den Grundstein für eines der ersten deutschen Literaturmuseen, das aufgrund der dialogischen Struktur von Gleims Schaffen nicht nur der einzelnen künstlerischen Persönlichkeit gewidmet ist, sondern eine historischliterarische Epoche und ihre intellektuellen Netzwerke nachzuzeichnen vermag – und damit zu Recht nunmehr den Titel ‚Museum der deutschen Aufklärung‘ trägt. Nicht zuletzt ist es Gleims Neffen Wilhelm Körte zu verdanken, dass ein Großteil von Gleims Sammlung bis heute in Halberstadt erhalten geblieben ist bzw. wieder erworben werden konnte. Neben der ersten und weiterhin ausführlichsten Biographie Gleims (vgl. Körte 1811) besorgte er auch die ersten postumen Editionen seiner Briefe (vgl. Körte 1804, 1806) und legte damit den Grundstein der späteren Ausgaben von Carl Schüddekopf (Gleim und Heinse 1894/1895; Gleim und Uz 1899; Gleim und Ramler 1905/1906). Mit dem von Regina Nörtemann und Ute Pott 1996 herausgegebenen Briefwechsel zwischen Karsch und Gleim existiert auch eine mustergültige Briefausgabe jüngeren Datums. Desiderat im Hinblick auf zukünftige Forschungsarbeiten wäre eine Edition, die neben den umfangreichen Korrespondenzen mit bedeutenden zeitgenössischen Literaten, die etwa im Falle Kleists, Wielands oder Friedrich Gottlieb Klopstocks in den betreffenden Briefausgaben publiziert wurden, auch jene kleineren, bisher vielfach unveröffentlichten Briefwechsel berücksichtigt, die den Netzwerkcharakter des Gleim-Kreises ausmachen. In dieser Hinsicht bietet sich der Dichter und Mäzen geradezu beispielhaft als Forschungsgegenstand für die Methoden der Digital Humanities an, die gegenüber der linearen Buchform auch die Vielstimmigkeit des Briefverkehrs nach Halberstadt nachvollziehbar machen könnten.

Zitierte Literatur Adam, Wolfgang (2000). „Freundschaft und Geselligkeit im 18. Jahrhundert“, in: Der Freundschaftstempel im Gleimhaus zu Halberstadt. Porträts des 18. Jahrhunderts. Bestandskatalog. Bearbeitet v. Horst Scholke. Hg. v. Gleimhaus Halberstadt. Leipzig: 9–34. [anonym] (1746). Freundschaftliche Briefe. Berlin. [anonym] (1768a). Briefe von den Herren Gleim und Jacobi. Berlin. [anonym] (1768b). [Rez.] „Briefe von Herrn Johann Georg Jacobi, Briefe von den Herren Gleim und Jacobi“, in: Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften, 2.5: 1–22. [anonym] (1769). [Rez.] „Briefe von Herrn Gleim und Jacobi, Briefe von Herrn Johann George Jacobi“, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek, 10.1: 189–194. Börsch-Supan, Helmut (2010). „Aufklärung und Intimität in der deutschen Bildnismalerei des 18. Jahrhunderts“, in: Von Mensch zu Mensch. Porträtkunst und Porträtkultur der Aufklärung. Hg. v. Reimar F. Lacher. Göttingen: 11–27. Fischer, Alexander M. (2015). Posierende Poeten. Autorinszenierungen vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Heidelberg.

924 

 5 18. Jahrhundert

Frühsorge Gotthard (1982). „Freundschaftliche Bilder. Zur historischen Bedeutung der Bildnissammlung im Gleimhaus zu Halberstadt“, in: Theatrum Europaeum. Festschrift für Elida Maria Szarota. Hg. v. Richard Brinkmann u.  a. München: 429–452. Gellert, Christian Fürchtegott (1989). Gesammelte Schriften. Bd. 4: Roman, Briefsteller. Hg. v. Bernd Witte. Berlin u. New York. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig u. Wilhelm Heinse (1894/1895). Briefwechsel. Hg. v. Carl Schüddekopf. 2 Bde. Weimar. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig u. Johann Peter Uz (1899). Briefwechsel. Hg. v. Carl Schüddekopf. Tübingen. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig u. Karl Wilhelm Ramler (1905/1906). Briefwechsel. Hg. v. Carl Schüddekopf. 2 Bde. Tübingen. Hanselmann, Beat (1989). Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Freundschaften oder Der Weg nach Arkadien. Bern. Heinrich, Tobias (2014). „Communicative Identity in the Eighteenth Century. Johann Wilhelm Ludwig Gleim’s Epistolary Network and the Cult of Friendship“, in: European Journal of Life Writing, 3: VC100–VC122; https://ejlw.eu/article/view/31432/28732 (11.11.2019). Hentschel, Uwe (2001). „‚Besuche in Briefen‘ Die epistolare Praxis der Anakreontiker und Gellerts Briefreform“, in: Orbis Litterarum, 56.5: 378–395. Hergemöller, Bernd-Ulrich (1998). Mann für Mann: Biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität im deutschen Sprachraum. Hamburg. Holm, Christiane (2015). „Das Briefarchiv von ‚Vater Gleim‘ als Beitrag zur Generationalisierung der Literatur um 1800“, in: Briefe um 1800. Zur Medialität von Generation. Hg. v. Selma Jahnke u. Sylvie Le Moël. Berlin: 197–216. Kagel, Martin (2007). „Brothers or Others: Male Friendship in Eighteenth-Century Germany“, in: Colloquia Germanica, 40.3–4: 213–235. Karsch, Anna Louisa u. Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1996). „Mein Bruder in Apoll“. Briefwechsel. 2 Bde. Hg. v. Regina Nörtemann u. Ute Pott. Göttingen. Kertscher, Hans-Joachim (1998). „‚Der Mensch bleibt allzeit Mensch…‘ Johann Peter Uz im Freundeskreis Johann Wilhelm Ludwig Gleims“, in: Dichter und Bürger der Provinz. Johann Peter Uz und die Aufklärung in Ansbach. Hg. v. Ernst Rohmer u. Theodor Verweyen. Tübingen: 55–76. Körte, Wilhelm (1804). Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner. Aus Gleims litterarischem Nachlasse. Zürich. Körte, Wilhelm (1806). Briefe zwischen Gleim, Wilhelm Heinse und Johann von Müller. Aus Gleims litterarischem Nachlasse. 2 Bde. Zürich. Körte, Wilhelm (1811). Johann Wilhelm Ludewig Gleims Leben. Aus seinen Briefen und Schriften. Halberstadt. Körte, Wilhelm (1816). Joh. Wilh. Ludw. Gleim’s Schule der Humanität: als Angelegenheit des Vaterlandes betrachtet. Halberstadt. Koschorke, Albrecht (1994). „Die Verschriftlichung der Liebe und ihre empfindsamen Folgen. Zu Modellen erotischer Autorschaft bei Gleim, Lessing und Klopstock“, in: Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich. Hg. v. Paul Goetsch. Tübingen: 251–264. Koschorke, Albrecht (2003). Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München. Koschorke, Albrecht (2014). „Social Media 1800“, in: Anglistentag 2013 Konstanz. Proceedings. Hg. v. Silvia Mergenthal u. Reingard M. Nischik. Trier: 91–104.

5.8 Gleim und sein Kreis 

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Lacher, Reimar F. (2010a). „‚das Bild der Seele, oder die Seele selbst, sichtbar gemacht‘. Das Gesicht als Membran“, in: Von Mensch zu Mensch. Porträtkunst und Porträtkultur der Aufklärung. Hg. v. dems. Göttingen: 29–39. Lacher, Reimar F. (2010b). „Freundschaftskult und Porträtkult“, in: Von Mensch zu Mensch. Porträtkunst und Porträtkultur der Aufklärung. Hg. v. dems. Göttingen: 41–54. Luhmann, Niklas (1982). Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. Martin, Dieter (2007). „Der Freundschaftskuß im 18. Jahrhundert“, in: Rituale der Freundschaft. Hg. v. Klaus Manger u. Ute Pott. Heidelberg: 51–68. Mix, York-Gothart (2005) „Der ‚deutsche Anakreon‘ und die Ware Poesie – Johann Wilhelm Ludwig Gleim und die Genese eines autonomen Lyrikmarktes 1765 – 1795“, in: Anakreontische Aufklärung. Hg. v. Manfred Beetz u. Hans-Joachim Kertscher. Tübingen: 185–200. Mohr, Heinrich (1973). „Freundschaftliche Briefe – Literatur oder Privatsache? Der Streit um Wilhelm Gleims Nachlaß“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts: 14–75. Nörtemann, Regina (1992). „Verehrung, Freundschaft, Liebe. Zur Erotik im Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim“, in: Anna Louisa Karsch (1722–1791). Von schlesischer Kunst und Berliner ‚Natur‘. Hg. v. Anke Bennholdt-Thomsen u. Anita Runge. Göttingen: 81–93. Pott, Ute (1998). Briefgespräche. Über den Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Göttingen. Pott, Ute (2006). „Johann Wilhelm Ludwig Gleims Archiv der Freundschaft“, in: Rituale der Freundschaft. Hg. v. ders.  u. Klaus Manger. Heidelberg: 233–246. Potthast, Barbara (2009). „Suchbewegungen im Grenzgebiet. Zum gedruckten Briefwechsel zwischen Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Johann Georg Jacobi (1767/68)“, in: Euphorion, 103: 403–425. Rodt, Barbara (2006). „Ein ‚freundschaftliches‘ Beziehungsgeflecht anläßlich des Besuchs der Düsseldorfer Gemäldegalerie. Zur Druckgeschichte und Rezeption von Wilhelm Heinses Düsseldorfer Gemäldebriefen an Gleim“, in: Rituale der Freundschaft. Hg. v. Ute Pott u. Klaus Manger. Heidelberg: 83–100. Richter, Simon (1996a). „The Ins and Outs of Intimacy: Gender, Epistolary Culture, and the Public Sphere“, in: The German Quarterly, 69.2: 111–124. Richter, Simon (1996b). „Winckelmann’s Progeny: Homosocial Networking in the Eighteenth Century“, in: Outing Goethe & His Age. Hg. v. Alica A. Kuzniar. Stanford: 33–46. Scholke, Horst (2000). Der Freundschaftstempel im Gleimhaus zu Halberstadt. Portraits des 18. Jahrhunderts. Bestandskatalog. Hg. v. Gleimhaus Halberstadt. Leipzig. Stanitzek, Georg (2010). „Mit Freunden telefonieren. Alexander Kluges ‚Netzwerke‘“, in: Strong Ties, Weak Ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie. Hg. v. Natalie Binczek u. dems. Heidelberg: 233–263. Wilson, W. Daniel (2008). „But is it Gay? Kissing, Friendship, and ‚Pre-Homosexual‘ Discourse in Eighteenth-Century Germany“, in: Modern Language Review, 103.3: 767–783.

Weiterführende Literatur Gleim, Johann Wilhelm Ludwig (2003). Ausgewählte Werke. Hg. v. Walter Hettche. Göttingen.

Alexander Košenina

5.9 Brief und literarische Anthropologie in der Spätaufklärung „Meine Frau ist todt: und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Ich freue mich, daß mir viel dergleichen Erfahrungen nicht mehr übrig seyn können zu machen; und bin ganz leicht.“ – Nie ist ein so existentieller Verlust wie der tragische Tod der eigenen Frau im Kindbett knapper, prägnanter, unverdrossener mitgeteilt worden als von Gotthold Ephraim Lessing in seinem Brief an Johann Joachim Eschenburg am 10.  Januar 1777 (Lessing 1907, 262). Die beiden Sätze übertragen mehr als eine bloße Nachricht zwischen Wolfenbüttel und Braunschweig. Sie sind zugleich ein kleines Stück Literatur, das zwischen lebensphilosophischem Aphorismus, poetischem Epitaph oder lakonischem Aperçu changiert. Zunächst handelt es sich aber um eine höchst intime, private, briefliche Mitteilung, die eine menschliche Ausnahmesituation und deren Bewältigung in Worte höchster Intensität und wirkungspoetischer Dichte fasst. Der Kontrast zwischen schrecklicher Nachricht und erstaunlicher geistiger Gefasstheit, zwischen Schmerz und dessen lebenskluger Überwindung, unterscheidet diesen Brief von einer alltäglichen Traueranzeige. Zwischen dem Ausdruck innerster menschlicher Zustände und der Briefform scheint ein mehr als zufälliger Zusammenhang zu bestehen. An folgende Aspekte mag man dabei denken: (1) Die ursprünglich durch einen oder wenige Adressaten gewährleistete Intimität und Privatheit der Gattung, die in der fiktionalen Variante des Briefromans zumindest als Simulation erhalten bleibt, ist für Seelenbekenntnisse oder psychologische Beobachtungen besonders geeignet (vgl. Vellusig 2000). Reale oder fiktive Briefe, die solche Herzenseinblicke gewähren, sind für die literarische Anthropologie von Belang, konzentriert sich diese Forschungsrichtung doch auf das historische Zusammenspiel psychologisch-medizinischen Wissens und literarischer Ausdrucksformen (vgl. Košenina 2008). (2) Eng damit verwandt wären Briefe, die als Quellen oder Fallgeschichten für Archive wie etwa Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793) eingesandt werden und über diesen Weg des anamnetisch-symptomatischen Fachtextes wiederum zur Grundlage von ‚schönerʻ Literatur werden. (3) Philosophischanthropologische Reflexionen finden sich im späten 18. Jahrhundert schließlich in den unterschiedlichsten Gattungen, der Leipziger Psychomediziner Ernst Platner publiziert seine Anthropologie für Aerzte und Weltweise (1772) beispielsweise in der ursprünglich aus der Medizin stammenden Form von Aphorismen (vgl. Cantarutti 1986); Alexander Popes Lehrgedicht An Essay on Man (1733/34) ist in drei „Episteln“, also Briefe, unterteilt; Johann Gottfried Herders Journal meiner https://doi.org/10.1515/9783110376531-072

5.9 Brief und literarische Anthropologie in der Spätaufklärung 

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Reise im Jahr 1769 erscheint posthum als Reisetagebuch über die Universalwissenschaft der Anthropologie, bestehend aus Seelenkunde, Menschheitsgeschichte und Kulturkomparatistik; Johann Christian Reil, Begründer der Psychiatrie als Universitätsdisziplin um 1800, nennt sein in Paragraphen gegliedertes Lehrbuch Rhapsodieen über die Anwendung psychischer Curmethode auf Geisteszerrüttungen (1803). Einige Autoren wählen auch die Form eines Briefdialogs, um den Rezipient*innen die Entscheidung zwischen unterschiedlichen theoretischen und methodischen Perspektiven zu überlassen.

1 Seelenbekenntnisbriefe Die Rede vom Brief als Spiegel der Seele durchzieht die Epistolartheorie seit Cicero und Seneca als Topos und findet bei Samuel Richardson eine „konsequente literarische Anwendung“ (Müller 1980, 154). Seelenspiegelungen sowie psychologische Selbstbekenntnisse sind auch in deutschen Briefromanen des 18. Jahrhunderts keine Seltenheit. Keiner war dabei so erfolgreich wie Johann Wolfgang von Goethe mit den Leiden des jungen Werthers (1774). Das anthropologische Potential einer Krankengeschichte hat man dabei nicht übersehen (vgl. Renner 1985), auch wenn der Charakter brieflicher Hilferufe eines aussichtslos Liebenden mit starker Selbstmordneigung kaum hervorgehoben wurde. Werther beschwört geradezu eine Krisenintervention, indem er von seiner „schleichenden Krankheit“ mit allen zugehörigen Symptomen von den ersten Briefen an detailliert an seinen Freund Wilhelm schreibt. Wenn er im Selbstmordgespräch vom 12.  August vehement dafür plädiert, „die innern Verhältnisse einer Handlung“ zu erforschen, „die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum sie geschehen mußte“, so fordert er dies, weil er vom Adressaten erwartet, dass seine eigene „Krankheit zum Tode“ erkannt und möglichst verhindert werde (Goethe 1987, 231–235). Werthers Briefe sind so wirkungsvoll, weil sie jede konventionelle Briefrhetorik hinter sich lassen und dadurch, obgleich literarisch inszeniert, so intim und privat erscheinen. „Briefe an den Vertrauten unsers Herzens“ – erklärt Knigge in seiner Anthropologie Ueber den Umgang mit Menschen – „sind keine rednerische Ausarbeitungen; jedes Wort wird ihm willkommen seyn, das Abdruck dessen ist, was in unsrer Seele vorgeht  […]“ (Knigge 31790, 145). Was dem Adressaten Wilhelm willkommen ist, weiß man nicht, denn der fiktive Herausgeber von Werthers Papieren überliefert keine einzige Antwort auf die Hilferufe des Suizidenten. Nach Erscheinen erfolgt aber von anderer Seite eine briefliche Replik: In Johann Jakob Engels Philosoph für die Welt, einer an essayistischen ‚Epistelnʻ reichen popularaufklärerischen Textsammlung, erscheint 1775 zum Werther etwas Aus

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einem Briefe Christian Garves. Die „Kenntniß des Menschen“ befördere, so lautet die (fast von Werther übernommene) These, wer „mir die ganze Entstehungsart einer verwerflichen Handlung zeigt; wer mir aus dem Charakter, aus der Lage des Menschen die Gründe derselben entwickelt, wer mir die Fehlschlüsse, die irrigen Grundsätze entdeckt, denen gemäß er verfahren ist“ (Engel 1775, 32). Beispiele für eine solche anthropologische Erzählkunst, die durch kausalpsychologische, genetische, pragmatische Modelung eines Charakters sowie durch dialogische, briefliche, dramatische Narrationsverfahren Einblicke in dessen Seele gewährt, sind in der Goethezeit verbreitet (vgl. Košenina und Zelle 2011). Hinzu kämen Briefe, die in besonderer Weise psychologisch auf die Lesenden wirken, etwa das empfindsame, von Tränen genetzte Schreiben von Sir William, mit dem er seiner flüchtigen Tochter Miss Sara Sampson in Lessings gleichnamigem Stück (1755) verzeiht; oder der Versuch von Franz Moor in Friedrich Schillers Die Räuber (1781), den Vater durch einen fingierten Schockbrief seines verlorenen Sohnes Karl psychophysisch zu töten. Über vier Jahrzehnte nach dem Werther gelangt diese Entwicklung im Zeichen der Anthropologie mit E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann (1817) zu einem prominenten Höhepunkt. Auch diese ‚Historia morbiʻ knüpft nämlich an die Tradition der medizinischen Fallgeschichte an und nimmt ihren anamnetischen Ausgangspunkt von einem (postalisch fehlgeleiteten) Brief Nathanaels an Lothar, der wiederum brieflich von der unbeabsichtigten Empfängerin Clara erklärend interpretiert und von Nathanael erneut kommentiert wird. Die anschließende Erzählung dient im Wesentlichen dazu, medizinische (Selbst-)Beobachtungen (observationes) – etwa dunkle Ahnungen, zerrissene Stimmungen, Ängste, Kindheitserinnerungen – deutend zu verstehen und in therapeutische Ratschläge (consilia) zu überführen. All das sind gute Gründe, den Text aus so unterschiedlichen methodischen Perspektiven wie der Literarischen Anthropologie, Psychoanalyse, Traumaforschung oder Wissenspoetik zu untersuchen (vgl. Jahraus 2016).

2 Fallgeschichtenbriefe als literarische Quellen Die historischen Fakten für Schillers Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/1792) sind in einem Steckbrief von 1758 und einem Briefbericht von Konradin Ludwig Abel – Vater von Schillers Anthropologielehrer an der Hohen Karlsschule – von 1760 überliefert (vgl. Schiller 2014, 95–99). Auch wenn sich Schillers Kenntnis dieser Texte nicht exakt nachweisen lässt, so belegen sie doch die tiefe Quellenverwurzelung dieser frühen Kriminalgeschichte. Gerade für die Litera-

5.9 Brief und literarische Anthropologie in der Spätaufklärung 

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risierung historischer Verbrechens- und Krankheitsfälle trifft das häufig zu. Es erlaubt einen Abgleich zwischen res facta und res ficta und gibt damit einen Einblick in schriftstellerische Verfahrensweisen. Exemplarisch studieren lässt sich das an einem Mord, dessen Umstände Engel dem juristisch wie anthropologisch ausgebildeten Autor August Gottlieb Meißner mitteilte, die in der Erzählung Mord aus Schwärmerei (1783) dann aber taktisch verändert werden, was Engel brieflich kommentiert. Der betroffene Schäfer, der in vermeintlicher Übererfüllung des in Genesis  22, 1–19, geforderten Glaubensbeweises seine drei Kinder ‚opfertʻ, war kein „Herrnhuter“, wie Meißner aufklärungsideologisch hinzudichtet; vielmehr handelte es sich um einen pathologisch verwirrten Religionsschwärmer, den Friedrich II. offenbar für nicht zurechnungsfähig hielt und das Urteil „Zuchthaus“ deshalb am Ende der Geschichte menschenfreundlich in „Tollhaus“, also eine Heilanstalt, verwandelte (Meißner 2003, 30–35). Mindestens vier weitere Parallelquellen bringen mehr Licht in diesen düsteren Fall zwischen Faktum und Fiktion. Auch dieser Zusammenhang zwischen Brief und Anthropologie mag an einem etwas späteren, aber umso prominenteren Beispiel erläutert werden. Der Reisende Heinrich von Kleist schreibt im September 1800 aus Würzburg einen Brief an seine Verlobte über das dortige Juliusspital. Dieser Augenzeugenbericht über die Station für psychisch Kranke wurde in der Forschung sehr unterschiedlich bewertet, entweder als Dokumentartext oder als Kleists früheste Prosa (vgl. Košenina 2008, 44–47). Das muss sich indes keineswegs ausschließen, wenn man den Text als Fallgeschichte versteht, die immer zwischen historischer Darstellung und literarischer Modellierung schwankt. Deutlich folgt Kleists Brief der literarischen Topik vom Irrenhausbesuch, indem sein Rundgang sich in eine Rahmengeschichte fügt und von einigen nur kursorisch beachteten Insassen auf den abschreckenden, einprägsamen Hauptfall eines Onanisten zubewegt: Der Text zu „diesem fürchterlichen Bilde“, das einen Jüngling „mit nackten, blassen, ausgedorrten Gliedern, mit eingesenkter Brust, kraftlos niederhangendem Haupte“ zeigt, wirkt wie die Subscriptio zu einem verstörenden Emblem (Kleist 1997, 119). Ein wichtiger systematischer Ort für den Typus des Fallgeschichtenbriefes sind Textarchive wie Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Gleich der erste Beitrag im ersten Stück des ersten Bandes entspricht der vorangestellten Bitte des Herausgebers, „Fakta, und kein moralisches Geschwätz“ zu liefern. Ein Kriminal- und Justizrat namens Ritter aus Schlesien schickt wie viele andere Einsender seinem Briefbericht voran: „Da ich aus einem mir vorgekommenen Avertissement ersehen, daß Beiträge zu einer Erfahrungsseelenkunde an Sie eingesendet werden können; so bin ich dadurch gereitzt worden, eines mir in meinen jüngern Jahren vorgekommenen besondern Falls gegen Sie zu erwähnen“ (Moritz 1986, 8–9). Bei anderen Berichten zeigt der Herausgeber in einer Fußnote an, dass der Text brieflich eingereicht wurde oder er erklärt:

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Möchte ich doch viele Beiträge von Eltern, Erziehern und Schulleuten, oder andern Personen, denen das Wohl der Menschheit am Herzen liegt, erhalten, worinn ausführliche und specielle Nachrichten gegeben würden, durch welche Mittel es jemanden gelungen ist, irgend einen verirrten nach und nach auf den Weg der Tugend wieder zurückzubringen, oder ihn von diesem oder jenem eingewurzelten Laster allmälig abzuziehen  […] (Moritz 1986, 32).

Der empirische Gehalt von Erfahrungsseelenkunde, für die Moritz zuvor in verschiedenen Zeitschriften wirbt, besteht genau darin, „die Kenntnis des menschlichen Herzens mehr aus der ersten Quelle, als aus Erdichtungen schöpfen“ zu können (Moritz 1999, 798). Briefen kommt dabei eine ausgezeichnete mediale Funktion zu.

3 Anthropologische Fachschriften in Briefform Alexander Pope, der in seinem Essay on Man die Bewegung der Anthropologie auf die knappe Formel: „The proper study of mankind is Man“ (2. Brief, V. 2) bringt, begründet im zweiteiligen Vorwort sowohl die Vers- als auch die Briefform. Reime seien einprägsamer und prägnanter als Prosa, Briefe hingegen beliebt und selbst für argumentatives Denken geeignet: „Da die Briefform beim Schreiben neuerdings sehr weit verbreitet ist, haben wir uns erlaubt, dieses vor einiger Zeit verfaßte Stück zu publizieren, dessen Autor jenen Stil gewählt hat, ungeachtet dessen, daß sein Gegenstand würdig und erhaben ist, denn er ist mit einer Beweisführung durchsetzt, die ihrer Natur nach der Prosa nahesteht.“ (Pope 1993, 38, 13) Den Vorschlag für diese diskursive Form, die beliebt, stilistisch geschmeidig und zugleich theorietauglich ist, greifen etliche Fachautoren der Anthropologie dankbar auf. Moses Mendelssohn nutzt den Begriff beispielsweise für seine Briefe über die Empfindungen (1755), in denen er auf Grundlage der Leibniz-Wolff’schen Philosophie und der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens eine Wahrnehmungs- und Erkenntnislehre der unteren Seelenvermögen im Gegensatz zu den oberen entfaltet. So wenig wie in dem daran anschließenden realen Briefwechsel über das Trauerspiel zwischen Lessing, Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai (August 1756–Mai 1757), der für Lessing zum dramentheoretischen Grundstein seiner Mitleidspoetik und für Mendelssohn zur Basis seiner Lehre von der Bewunderung wird, kommt es aber zu einer expliziten Reflexion der Briefform. Ganz anders präsentieren sich in dieser Hinsicht Ernst Platners Briefe eines Arztes an seinen Freund über den menschlichen Körper (1770/71), in denen er noch vor seiner grundlegenden Anthropologie für Aerzte und Weltweise (1772) eine Physiologie und in Ansätzen auch Psychologie des Menschen entfaltet. In der

5.9 Brief und literarische Anthropologie in der Spätaufklärung 

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Widmungsvorrede „An Herrn Zimmermann Königlichen Großbritannischen Leibarzt in Hannover“ entwickelt Platner die Absicht seines ‚gemeinnützigen Buches‘: „Selbst das andere Geschlecht hat itzt seine medicinischen Modebücher, und man sieht hier und da den Arzt ganz vertraut bey dem Moliere liegen.“ (Platner 1770, VI) Indem Platner sein Fachbuch neben Johann August Unzers beliebte medizinische Wochenschrift Der Arzt und die Komödien Molières legt, bekennt er sich zu einer Popularität und Allgemeinverständlichkeit, die auch Leserinnen anspricht. Briefe oder Dialoge sind bevorzugte Formen der ‚Damenphilosophieʻ, Bernard Le Bovier de Fontenelle führt in Entretiens sur la pluralité des mondes (1686) etwa ein unterhaltsam-galantes Gespräch über das kopernikanische Weltbild, und Leonhard Euler entwickelt in seinen Lettres à une Princesse d’Allemagne (1768) Grundlagen der Wissenschaften in Briefform (vgl. Jauch 1990). Auch Platner wendet sich an Nichtfachleute und distanziert sich  – wie in seinen übrigen Schriften – ausdrücklich von dem starren, geometrischen, nur auf Definitionen und Ableitungen beruhenden Denken in Systemen: „Da ich an einen Freund schreibe, der kein Arzt werden will, so darf ich die Kenntniß nicht voraussetzen, welche man von einem Lehrlinge unserer Wissenschaft erwartet, und ich kann also die Lehrsätze durch mehrere Bestimmungen, Erklärungen und Anwendungen aufklären, als in einem kernichten System erlaubt wäre.“ (Platner 1770, XVI) Die Anthropologie, die disziplinär zwischen der oberen medizinischen und der unteren philosophischen Fakultät angesiedelt ist, was Platner durch seine Doppelprofessur programmatisch verkörpert, trägt durch literarische Formen wie Aphorismus, Brief, Dialog, Essay zu einem neuen Ton in der Wissenschaft bei. Das kommt dem übergreifenden Gegenstand einer Menschen- und Weltkunde sowie dem zunehmenden Interesse der Öffentlichkeit an Fragen der Gesundheit und Lebenskunst (Diätetik, ars vivendi) entgegen. Von bloßer Ratgeberliteratur sind solche populärwissenschaftlichen Bücher gleichwohl unterschieden, die es im Bereich der Gesundheitsfürsorge, Kosmetik, Toilettenkunst eben auch gibt. Beispiele wären die Briefe an eine Freundin über Schönheit, Grazie und Geschmack von Johann Wilhelm Ludwig Gleims Freund Johann David Hartmann oder die anonym in London erschienenen Letters to the Ladies on the Preservation of Health and Beauty by a Physician (1770), die schon im darauf folgenden Jahr zu Leipzig als Briefe eines Arztes an die Frauenzimmer oder Regeln der Kunst die Gesundheit und Schönheit zu erhalten (1771) herauskamen. Schiller, der mit seiner Stuttgarter Dissertation Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780) zu einer der zentralsten Figuren der Literarischen Anthropologie zählt, entwickelt seine metaphysische Anthropologie in Form Philosophischer Briefe (vgl. Riedel 1985). Die Entstehung des erst 1786 publizierten Textes reicht bis zu dem frühen Wunsch des Knaben zurück, ein Gottesgelehrter zu werden. In dem Briefdialog wird die

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früheste Schicht, die im Text aber erst zum Schluss platzierte „Theosophie des Julius“ – ein schwärmerisch empfundener, mystisch-pietistischer Kinderglaube – von der Lehrerfigur Raphael einer philosophischen Kritik unterzogen. Die dadurch bei Julius ausgelöste melancholische Resignation und Krise therapiert Raphael anschließend als philosophischer Arzt. Schillers Philosophische Briefe bewegen sich zwischen eigener geistiger Entwicklungsgeschichte und dem Entwurf eines philosophischen Welt- und Menschenbildes. Mögliche Verbindungen zwischen epistolaren Formen und Literarischer Anthropologie ergeben insgesamt folgendes Panorama: Es reicht von (1) persönlichen Briefen als Seelenspiegel, die in Briefromanen literarisch nachgeahmt und simuliert werden, über (2) dokumentarische Fallgeschichtenbriefe, die wiederum Quellen für Fiktionalisierungen bieten können, bis (3) zu diversen rhetorischen Einkleidungen für Fachtexte. Dazu gehören gefälligste Ratgebertexte, populärwissenschaftliche Abhandlungen oder höchst reflexive Sendbriefe über eine intellektuelle Entwicklung, geistige Krise und deren therapeutische Überwindung, etwa im Falle von Schillers Philosophischen Briefen oder Hugo von Hofmannsthals Brief des Lord Chandos.

Zitierte Literatur Cantarutti, Giulia (1986). „Moralistik, Anthropologie und Etikettenschwindel: Überlegungen aus Anlaß eines Urteils über Platners Philosophische Aphorismen“, in: Neue Studien zur Aphoristik und Essayistik. Hg. v. ders.  u. Hans Schuhmacher. Frankfurt a. M.: 49–103. Engel, Johann Jakob (1775). Der Philosoph für die Welt. Leipzig. Goethe, Johann Wolfgang (1987). Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter u.  a. Bd. 1.2. Hg. v. Gerhard Sauder. München. Jahraus, Oliver (Hg.) (2016). Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E. T. A. Hoffmanns ‚Der Sandmannʻ. Stuttgart. Jauch, Ursula Pia (1990). Damenphilosophie & Männermoral. Von Abbé de Gérard bis Marquis de Sade. Ein Versuch über die lächelnde Vernunft. Wien. Kleist, Heinrich v. (1997). Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 4. Hg. v. Klaus MüllerSalget u.  a. Frankfurt a. M. Knigge, Adolph Freiherr (31790). Ueber den Umgang mit Menschen. Bd. 2. Hannover. Košenina, Alexander (22016). Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin. Košenina, Alexander u. Carsten Zelle (Hg.) (2011). Kleine anthropologische Prosaformen der Goethezeit (1750–1830). Hannover. Lessing, Gotthold Ephraim (1907). Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann u. Franz Muncker. Bd. 18. Leipzig. Meißner, August Gottlieb (2003). Ausgewählte Kriminalgeschichten. Mit einem Nachwort hg. v. Alexander Košenina. St. Ingbert.

5.9 Brief und literarische Anthropologie in der Spätaufklärung 

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Moritz, Karl Philipp (1986). Gnōthi sautón oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Hg. v. Petra u. Uwe Nettelbeck. Nördlingen. Moritz, Karl Philipp (1999). Werke in zwei Bänden. Bd. 1: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Hg. v. Heide Hollmer u. Albert Meier. Frankfurt a. M. Müller, Wolfgang G. (1980). „Der Brief als Spiegel der Seele. Zur Geschichte eines Topos der Epistolartheorie von der Antike bis Samuel Richardson“, in: Antike und Abendland, 26: 138–157. Platner, Ernst (1770/71). Briefe eines Arztes an seinen Freund über den menschlichen Körper. Erster/Zweyter Theil. Leipzig. Pope, Alexander (1993). Vom Menschen/Essay on Man. Hg. v. Wolfgang Breidert. Hamburg. Renner, Karl N. (1985). ‚„… laß das Büchlein deinen Freund seynʻ. Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers und die Diätetik der Aufklärung“, in: Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Jahrhundertwende. Hg. v. Günter Häntzschel, John Ormrod u. dems. Tübingen: 1–20. Riedel, Wolfgang (1985). Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ‚Philosophischen Briefe‘. Würzburg. Schiller, Friedrich (2014). Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Studienausgabe. Hg. v. Alexander Košenina. Stuttgart. Vellusig, Robert (2000). Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien u.  a.

Martin Stuber

5.10 Albrecht von Hallers europäisches Korrespondenznetz (1724–1777) Der Schweizer Universalgelehrte Albrecht von Haller (1708–1777) ist eine zentrale Gestalt des 18. Jahrhunderts. Als Dichter und Gelehrter, Arzt und Botaniker, Sammler und Enzyklopädist, Universitätsprofessor und Experimentalforscher, Gesellschaftspräsident und Korrespondent, profilierter Autor und mächtiger Rezensent, Magistrat und orthodoxer Christ spiegelt er zahlreiche Strömungen und Verhältnisse seiner Zeit. Mit seinem reichen Leben und Wirken, dem vielfältigen Œuvre und dem großen handschriftlichen Nachlass bietet sich Haller als idealer Ausgangspunkt an, um die Vielschichtigkeit des Jahrhunderts der Aufklärung zu verstehen und zu erforschen (Steinke und Profos 2004; Steinke et al. 2008; Holenstein et al. 2013). Hallers Briefwechsel wird zu drei Vierteln in der Burgerbibliothek Bern aufbewahrt und ist im Repertorium vollständig verzeichnet und erschlossen. Den rund 13.300 Briefen an Haller stehen nur 3.700 Schreiben von Hallers Hand gegenüber, was allein überlieferungstechnische Gründe hat. Es ist davon auszugehen, dass Haller jeden Brief beantwortete. Er machte aber kaum Entwürfe seiner Briefe oder gar Abschriften und verlangte die Briefe auch nicht von seinen Korrespondenten zurück. Zudem trafen etliche Korrespondenten mit Haller die Abmachung, die Briefe nach dem Tod eines der beiden Briefpartner zu verbrennen, was Haller selbst deutlich weniger befolgte als seine Gegenüber (vgl. Boschung et al. 2002; Stuber 2016). Zurzeit wird eine digitale Edition von rund 7.000  Briefen vorbereitet, in welche auch die bestehenden Teileditionen integriert werden (vgl. z.  B. Sonntag 1982; Steinke 1999; Sonntag 2014). Diese Auswahledition, die als Zwischenschritt auf dem Weg zur längerfristig vorgesehenen Gesamtedition gedacht ist, wird – ergänzt mit den Scans sämtlicher überlieferter Briefe – auf der Editions- und Forschungsplattform hallerNet.org veröffentlicht.

1 Entwicklung und räumliche Ausdehnung Hallers Korrespondenznetz gehört mit seinen rund 1.200 Korrespondenten und 17.000 überlieferten Briefen aus nahezu 500 Absendeorten zu den umfangreichsten Korrespondenznetzen der Frühen Neuzeit. Als räumlicher Schwerpunkt der Briefe an Haller erscheint ein mehr oder weniger homogenes Gebiet zwischen https://doi.org/10.1515/9783110376531-073

5.10 Albrecht von Hallers europäisches Korrespondenznetz (1724–1777) 

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Loire und Oder; darüber hinaus befinden sich aber auch zahlreiche Absendeorte auf der iberischen Halbinsel, in Ober- und Mittelitalien, in Osteuropa bis nach St. Petersburg, in Skandinavien und auf den Britischen Inseln. Die europaweite Verteilung entwickelte sich entlang von Hallers Lebensphasen. Erste wichtige Kontakte suchte Haller gezielt in seiner Studienzeit in Tübingen und Leiden sowie auf den Studienreisen nach London und Paris; diese Kontakte wurden während der anschließenden Jahre als Arzt in Bern verfestigt und in bescheidenem Rahmen ausgebaut. Die große Expansion fand in seiner Zeit in Göttingen (1736–1753) statt, wo Haller als Professor der Anatomie, Botanik und Chirurgie, als Chefredakteur der Göttingischen Gelehrten Anzeigen (GGA), als Präsident der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften sowie als Verfasser bahnbrechender Publikationen internationale Berühmtheit erlangte. Nun musste sich Haller nicht mehr um die Aufnahme von Korrespondenzen bemühen, sondern wurde vielmehr – oft sogar im Übermaß – darum gebeten. Die Rückkehr in die Heimat und die Übernahme des Amtes eines Rathausammans in Bern (1753–1757), des Salzdirektors im waadtländischen Roche (1758–1764) und weiterer Magistratsfunktionen in Bern (1764–1777) bedeuteten keinen Abschied von der Gelehrtenrepublik. Bis ans Lebensende lag die Zahl der empfangenen Briefe pro Jahr immer über zweihundert. Zu beobachten sind aber Verschiebungen in der räumlichen Ausrichtung. Während die Ausdehnung in der Göttinger Zeit in erster Linie auf dem Gebiet des heutigen Deutschland erfolgte, fanden die Ausweitungen nach Frankreich, Italien und den Britischen Inseln größtenteils in der letzten Lebensphase statt (vgl. Stuber et al. 2005, 65–95; Steinke 2010).

2 Ideal und Alltag in der Gelehrtenrepublik Über zwei Drittel aller Briefe an Haller stammen von Personen mit akademischer Ausbildung. Hallers Korrespondenznetz war demnach zuallererst Teil der europäischen Gelehrtenrepublik, zu deren Traditionsbestand Editionen von Gelehrtenbriefen gehörten. Auch in Hallers Bibliothek befanden sich Dutzende unter dem in verschiedenen Variationen verwendeten Titel Epistolae medicinales. In einer gewissen Folgerichtigkeit veröffentlichte Haller gegen Ende seines Lebens selbst Teile seines Briefwechsels als Beitrag zur Historia literaria (Haller 1773–1775; Haller 1777). Explizit wollte er in seinen Auswahleditionen nützliche Erkenntnisse in Medizin und Naturwissenschaft aufzeigen und berücksichtigte nur Briefe, die direkt einem wissenschaftlichen Thema gewidmet waren. Zudem nahm er stilistische Verbesserungen vor und ließ auch die meisten kontroversen Passagen, in denen Drittpersonen kritisch verhandelt wurden, weg (vgl. Krebs 2005).

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Hallers Selektions- und Bereinigungsprozesse orientierten sich am Idealbild einer Gelehrtenrepublik, die sich frei von jeglichen Interessenkonflikten allein um die Wahrheit und den Fortschritt der Wissenschaften bemüht. Stilistische Vorbilder waren die Privatbriefe von Cicero und Erasmus, die ihre formvollendeten Briefe von allem Anfang an mit Blick auf die spätere Publikation verfassten. In Hallers Korrespondenznetz ist aber eine andere Traditionslinie sehr viel bestimmender, die des nüchternen und pragmatischen Alltagsbriefs. Nicht der einzelne Brief als gelehrtes Produkt stand im gelehrten Alltag im Zentrum, sondern der kontinuierliche Austausch von Wissen, Informationen und Realien. Betrachtet man Hallers Briefwechsel in dieser Perspektive, dann steht er zahlreichen Fragestellungen der neueren Wissensgeschichte offen, welche sich weniger für das fertige Wissen als für die Praktiken seiner Herstellung interessiert (vgl. z.  B. Holenstein et al. 2013).

3 Wissensproduktion im Netz Hallers Korrespondenznetz erweist sich erstens als mächtiges Werkzeug für jene Wissensproduktion, die auf raumübergreifender, vergleichender Empirie beruht. Zuvorderst ist hier die Botanik zu nennen, die in rund einem Fünftel aller Briefwechsel Hallers ein Hauptthema bildete. Ohne derartige Forschungskooperation mit räumlich getrennten Partnern wäre Hallers botanisches Hauptwerk, das erste umfassende Pflanzenverzeichnis der Schweiz, nicht zur reichsten Flora seiner Zeit geworden. Das Korrespondenznetz diente ihm zum Zusammentragen von Fundortsangaben, zur Konsultation von Herbarien, Manuskripten oder seltenen botanischen Publikationen und  – dies vor allem  – zur systematischen Beschaffung von getrockneten Pflanzen sowie Samen, Wurzeln oder Knollen. Und obschon sich Haller im Wesentlichen auf die schweizerische Flora beschränkte, ließ er sich zur Artenbereinigung im großen Stil auch Vergleichsmaterial aus ganz Europa und darüber hinaus auch aus Afrika, Sibirien, Nordamerika und der Südsee schicken. Verwandte Netzfunktionen sind in Hallers Bemühungen um agrarische Produktionssteigerung, die er als Mitglied und späterer Präsident der Berner Oekonomischen Gesellschaft vorantrieb, zu beobachten. In diesen Briefwechseln über ortsfremde Futtergräser, Getreidesorten und Kartoffeln ging es zum einen um die Vereinheitlichung der Nomenklatur, zum anderen um die Beschaffung der Pflanzen als Samen oder Setzlinge, schließlich um den Austausch von lokalen Anbauerfahrungen (vgl. Lienhard 2005; Hächler 2008; Stuber und Wyss 2008; Dietz 2017). Zweitens verschaffte sich Haller per Briefverkehr einen umfassenden Zugang zur aktuellen internationalen Forschung. Ein Pool von rund 50 Korrespondenten, von denen er über einen längeren Zeitraum je mindestens 30 Briefe erhielt,

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garantierte Haller die kontinuierliche Versorgung mit gelehrten Neuigkeiten. Diese Informanten saßen bezeichnenderweise in den Universitätsstädten Basel, Göttingen, Kopenhagen, Paris, Leipzig, Montpellier, Padua, Straßburg, Tübingen, Turin, Uppsala, Wien oder Wittenberg sowie an weiteren Orten mit wichtigen Akademien, gelehrten Gesellschaften oder hohen Schulen wie Berlin, Genf, London, Lyon, St. Petersburg, Stockholm oder Zürich. Hauptsächlich ging es dabei um die Versorgung mit neuer Forschungsliteratur, dem häufigsten Korrespondenzthema überhaupt; in rund 40 Prozent von Hallers Korrespondenzen bildeten die Büchersendungen ein wichtiges Thema. Die Verarbeitung solcher Büchermengen bildete einen integralen Bestandteil von Hallers wissenschaftlicher Arbeit, was sowohl in den unzähligen Fußnoten seiner Schriften als auch in seiner riesigen Bibliothek zum Ausdruck kommt (vgl. Monti 1983–1994; Steinke und Stuber 2008; Nicoli 2013).

4 Gelehrte Beziehungsnetze Nicht nur für die Produktion, sondern auch für die Verbreitung von Wissen war Hallers Korrespondenznetz ein zentrales Instrument. Dem ehrgeizigen Forscher Haller gelang es nicht zuletzt dank seiner weitgespannten Korrespondenz, europaweite Aufmerksamkeit für seine Werke zu gewinnen. Wenn er diese an seine Korrespondenten verschickte, ging es ihm um die gezielte Streuung an wichtige Multiplikatoren, die als Redaktoren, Rezensenten, wissenschaftliche Akademiesekretäre oder vielbeachtete wissenschaftliche Autoren an den Schaltstellen der Gelehrtenrepublik saßen. Ebenfalls auf die Durchsetzung eigener Forschungsresultate zielte Haller in seinen zahlreichen wissenschaftlichen Kontroversen, bei denen das Korrespondenznetz drei Hauptfunktionen einnahm: Informationsbeschaffung, Allianzbildung und Aussöhnung. Die Vermittlung von Information und insbesondere von intimen Hintergrundinformationen oder Lageanalysen in einer solchen Kontroverse war ein Dienst, der voraussetzte, dass der Informant sich von einem Kontakt mit Haller etwas versprach oder sich diesem verpflichtet fühlte. Dies war im Korrespondenznetz natürlich nicht selten der Fall, sei es im Rahmen eines freundschaftlichen Zweckbündnisses, das nach dem Prinzip des do ut des funktionierte, oder erst recht in der Funktion des Patrons, der dem Klienten Zugang zu Informationen und Ressourcen gewährte und von diesem im Gegenzug Loyalität und Unterstützung erwartete. Schon die gegebene Position als Zentralfigur seines Netzes machte Haller gegenüber den meisten Korrespondenten eindeutig zum Patron, der als einer der bestinformierten Gelehrten seiner Zeit seinen Informations- und Wissensvorsprung als Gut einsetzen konnte. Zudem

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saß Haller als Universitätsprofessor, als Präsident der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften, später der Berner Oekonomischen Gesellschaft sowie als zeitweiliger Chefredaktor und langjähriger Rezensent der GGA an wichtigen Schaltstellen der Gelehrtenrepublik. Diese institutionell abgesicherte Stellung als Patron manifestierte sich besonders augenfällig in den zahlreichen Briefen, mit welchen die Buchautoren Haller als Rezensenten der GGA günstig zu beeinflussen versuchten. Die Korrespondenz spielte dabei die Rolle eines kommunikativen ‚Schmiermittels‘, indem die informellen und persönlichen Briefkontakte die institutionellen Verbindungen erweiterten, unterliefen oder neu vernetzten. Aus der Historikerperspektive nehmen damit die Briefe gegenüber den institutionellen Quellen den Charakter von Komplementärquellen an, die eine zweite, den Zeitgenossen bloß sehr selektiv zugängliche Kommunikationsebene darstellen (vgl. Steinke 1999; Stuber 2004; Steinke 2013).

5 Nützliche Wissenschaft Rund ein Drittel aller Briefe an Haller wurde von praktizierenden Ärzten verfasst. Es kann daher nicht erstaunen, dass die angewandte Medizin in Hallers Briefwechsel ein bestimmendes Thema darstellt. Erstens besprach sich Haller mit seinen vertrauten Korrespondenten regelmäßig über die eigenen körperlichen Unpässlichkeiten und Krankheiten (vgl. Boschung 2005). Zweitens wurde Haller auf brieflichem Weg häufig um medizinischen Rat gefragt, was entweder durch die Patienten selbst oder aber durch deren Ärzte beziehungsweise durch weitere Stellvertreter wie Verwandte oder Bekannte geschah. Als Motive der Konsultierenden lassen sich die Unzulänglichkeiten der lokalen medizinischen Versorgung, das Bedürfnis nach einer second opinion sowie der Wunsch nach Diskretion und Anonymität erkennen. Hallers Fernkonsultationspraxis hatte zum einen seinen europäischen Ruf als medizinische Kapazität zur Voraussetzung, denn er wurde erst dann in einem nennenswerten Umfang angefragt, als er diesen Status erreicht hatte. Zum anderen war eine gemeinsame medizinische Sprache unabdingbar. Die soziale Zusammensetzung von Hallers Fernkonsultationspraxis beschränkte sich denn auch auf eine gesellschaftliche Elite aus gehobenen bürgerlichen Schichten, Angehörigen des Stadtpatriziats und des Adels (vgl. Hächler 2005). Drittens setzte Haller sein Netz auch in seiner Tätigkeit als bernischer Sanitätsrat ein. Besonders augenfällig ist dies in seinen Bemühungen gegen den Pestzug von 1770/1771, als Haller die beschönigende staatliche Informationspolitik umgehen konnte, indem er sich von seinen Korrespondenten aus dem Norden und dem Osten Europas auf direktem Weg informieren ließ, und ebenso in seinen Anstrengungen gegen

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die Viehseuche in den 1760er und 1770er Jahren, bei denen das vergleichende Zusammenführen der räumlich weit auseinander liegenden Beobachtungen Entscheidendes zur Klärung des Krankheitsbegriffs beitrug (vgl. Stuber und Hächler 2000, 174–178; Stuber und Wyss 2008).

6 Vernetzter Magistrat Auch ein Gelehrter europäischen Zuschnitts wie Albrecht von Haller blieb in großen Teilen seiner Briefkommunikation eng mit seiner Heimat verflochten. Rund ein Viertel aller Briefe an Haller wurden von Bernern verfasst oder stammten sonst aus dem Territorium der Stadtrepublik Bern, das auch das heutige Waadtland und Teile des heutigen Aargaus umfasste. Hier war Hallers Korrespondenznetz am dichtesten, und hier wiesen nicht nur die Hauptorte Bern und Lausanne sehr hohe Briefzahlen auf, sondern auch kleinere Orte wie Aarberg, Aigle, Brugg, Echallens, La Ferriere, Nyon und Wimmis. In Hallers Göttinger Zeit war Bern der zweithäufigste Absendeort überhaupt, woran nicht weniger als 43 Personen, größtenteils Freunde und Verwandte, beteiligt waren. Der intensive Austausch mit ihnen half Haller über sein Heimweh hinweg und nahm eine Ersatzfunktion für den fehlenden freundschaftlichen Umgang vor Ort ein. Zudem wäre es Haller ohne die zahlreichen Briefe nicht gelungen, aus der Ferne seine familienstrategischen Ziele in seiner Heimatstadt zu erreichen, so die Stärkung der Stellung seiner Familie durch geschickte Heiratspolitik und seine Wahl in den Großen Rat. Diese war für ihn und seine Familie von existentieller Bedeutung, waren doch die Zugehörigkeit zum Stadtpatriziat und damit die einträglichen Staatsämter daran gebunden. In der Nach-Göttinger Zeit verschiebt sich das Profil der bernischen Korrespondenz von einer Freundschafts- und Familienkorrespondenz zu einer Magistratskorrespondenz, in der sich Haller über seine Tätigkeiten als Aufseher der Ausgrabungen in Kulm, Beisitzer des Geheimen Rats, Inspektor der Akademie in Lausanne, Salzdirektor, Sanitätsrat, Verwalter der Schlossdomänen und des Waisenhauses austauschte. Diese Themen besprach Haller aber nicht nur mit Angehörigen des bernischen Patriziats, sondern auch mit Magistratspersonen aus anderen eidgenössischen Republiken (v.  a. Genf und Zürich), aus deutschen Territorien sowie – etwas vereinzelter – auch aus weiteren europäischen Gebieten. So erscheint Hallers Tätigkeit als bernischer Magistrat gerade in ihren innovativen Aspekten in vielfältiger informeller Vernetzung mit anderen Verwaltungen, aber auch mit dem europäischen Diskurs der Gelehrtenrepublik respektive der Aufklärung (vgl. Stuber und Hächler 2000; Stuber 2005; Stuber und Wyss 2008; Kolb und Stuber 2019).

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7 Europäische Kommunikationsprozesse Hallers Briefwechsel erstreckte sich von Moskau bis Dublin und von Uppsala bis Malaga. Angesichts der großen Distanzen, der kulturellen Vielfalt und der politischen Fragmentierung dieses europäischen Kommunikationssystems inter­ essiert zunächst die Frage nach dessen Organisation. Zwar kann man zum Teil erstaunlich kurze Brieftransportzeiten feststellen, etwa ganze sechs Tage von Göttingen nach Stockholm oder 18 Tage von Bern nach London. Aber allein die Tatsache, dass der materielle Verkehr von Briefen und Paketen ein häufiges und immer wiederkehrendes Briefthema bildete, zeigt deutlich, wie wenig selbstverständlich der briefliche Austausch auf einer europäischen Ebene zu dieser Zeit noch war. Für eine europäische Kommunikation erschwerend wirkte auf den ersten Blick auch die Tendenz zur sprachlichen Fragmentierung als Folge des Rückgangs der alten Universalsprache Latein, der in Hallers Korrespondenz immer wieder beklagt wurde. Betrachtet man die Sprachverteilung in Hallers Korrespondenz mit Französisch (rund 40 Prozent aller Briefe), Deutsch (25 Prozent), Latein (20 Prozent) und Englisch (5 Prozent), ist darin aber umgekehrt gerade ein erfolgreiches Bemühen zu erkennen, dieser Fragmentierung entgegenzuwirken (vgl. Stuber et al. 2015, Kap. 6.2, 9.1). Es liegt nahe, die europäischen Kommunikationsprozesse in Hallers Briefwechsel auch unter dem Gesichtspunkt des Kulturtransfers respektive der Verflechtungsgeschichte zu betrachten, wobei dies mit Vorteil im Rahmen einer entnationalisierten Variante geschieht, die nicht in erster Linie von staatlichen Grenzen ausgeht, sondern den Netzwerkcharakter interkultureller Wechselbeziehungen betont. So war Haller in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auch nach seiner Rückkehr in die Heimat derart eng mit Göttingen und seinen gelehrten Institutionen verknüpft, dass in seinem Netz diesbezüglich zwischen ‚Deutschland‘ und der ‚Schweiz‘ eher Verflechtungen als eigentliche Transferprozesse zu beobachten sind. Eigentliche Kulturtransferprozesse lassen sich in den Bemühungen Hallers um die Übernahme eines ‚korrekten‘ Deutsch beobachten. Dies zum einen in der aufwendigen Überarbeitung seiner Gedichte, in denen er mit Hilfe seiner Briefpartner die schweizerischen Besonderheiten ersetzte, zum anderen in seiner deutschen Briefsprache, die sich im Gefolge des Wohnortwechsels von Bern nach Göttingen von einem ungelenken, sich syntaktisch ans Lateinische anlehnenden und mit Helvetismen durchsetzten Stil hin zu einem rhetorisch geschliffenen, am Ostmitteldeutschen orientierten Sprachgebrauch veränderte (vgl. Profos 2005). Ebenfalls als Kulturtransfer aufzufassen sind Hallers briefliche Bemühungen um die Übersetzung seiner Werke, zumeist ins Französische. Überhaupt ist in Hallers Briefwechsel der Austausch zwischen dem deutschen und dem französischen Kulturraum von besonderer Bedeutung. Haller nimmt

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dabei eine klassisch schweizerische Position ein, indem er in einer trilateralen Konstellation als Schweizer zwischen französischer und deutscher Wissenschaft bzw. Literatur vermittelte (Helvetia mediatrix). Entscheidend für Hallers Rolle als intermédiaire waren zum einen seine Vertrautheit mit dem Französischen als Muttersprache der bernischen Oberschicht. Zum anderen schuf die gemeinsame Wissenschaftsauffassung, namentlich die auf das Experiment gegründete Forschungsmethodik und das auf gesellschaftliche Nützlichkeit ausgerichtete Verständnis von Wissenschaft, eine Brücke zu seinen französischen Korrespondenten über gesellschaftspolitische und kulturelle Differenzen hinweg (vgl. Catherine 2012).

8 Ein Netz von Netzen Die Zugehörigkeit zu einem Korrespondenznetz definiert sich durch die briefliche Verbindung mit dem Hauptkorrespondenten. Trotzdem interessieren eben gerade nicht nur die Verbindungen zur ‚Spinne im Netz‘, sondern das ganze Beziehungsgeflecht zwischen allen Akteuren. Ein Maß für den internen Vernetzungsgrad sind beispielsweise die gegenseitigen Erwähnungen der Netzakteure. Genau die Hälfte aller Korrespondenten stellen in mindestens einem anderen Haller-Briefwechsel ein Hauptthema dar, ein Drittel sogar mindestens in zwei, ein Viertel mindestens in drei. Von Hallers Korrespondenten standen 84 Prozent mit mindestens einem anderen Korrespondenten in direkter verwandtschaftlicher, freundschaftlicher oder kollegialer Beziehung. Besonders interessant ist die Gruppe von 654 HallerKorrespondenten (56 Prozent), die auch unter sich Briefe wechseln. Mit insgesamt 110 die meisten gemeinsamen Korrespondenten mit Haller konnten für den Nürnberger Arzt und Redaktor Christoph Jakob Trew nachgewiesen werden, gefolgt vom Leipziger Literaturtheoretiker Johann Christoph Gottsched (83), dem Berliner Akademiesekretär Jean Henri Samuel Formey (77) und Voltaire (73). Auch Haller selbst wird sofort als eine solche netzübergreifende Zentralfigur sichtbar, wenn man mittels Netzvisualisierung beispielsweise mehrere Briefnetze der Botanik übereinanderlegt oder Hallers Korrespondenznetz mit den anderen politischen und gesellschaftlichen Netzen seiner Heimatstadt in Beziehung setzt (vgl. Stuber et al. 2005, 94; Stuber et al. 2008; Stuber und Krempel 2013).

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9 Quellenwert und Ausblick Wenn abschließend nach dem Quellenwert von Hallers Briefkorpus gefragt wird, so kann dieser hier in den drei Bereichen Praktiken, Kommunikation und Beziehungsnetz gesucht werden. Erstens lassen sich auf der Basis dieser Briefe zahlreiche Phänomene in action rekonstruieren (vgl. Holenstein et al. 2013), so die Wissenschaft im Moment ihrer Entstehung, die Familie im Aushandlungsprozess zwischen Emotionen und Interessen, das aufgeklärte Europa im Moment des Austauschs und die Republik im politisch-administrativen Tagesgeschäft. Dabei ergeben sich weitere Perspektiven, wenn die Dynamik des Briefs enger verzahnt wird mit der Stabilität von ‚fertigen‘ Produkten, also je nach Bereich mit der wissenschaftlichen Publikation, mit dem aufklärerischen Pamphlet oder mit dem obrigkeitlichen Mandat. Zweitens ist dem Brief eine bestimmte Kommunikationsebene eigen, die durch ein spezifisches Mischungsverhältnis zwischen privat und öffentlich charakterisiert ist. Die Palette reicht von familiärer oder freundschaftlicher Intimität bis zur halböffentlichen Grauzone, die sich auf der einen Seite abgrenzt gegenüber der geschlossenen Kommunikation in den wissenschaftlichen und politischen Institutionen und auf der anderen Seite gegenüber dem öffentlichen Diskurs in Zeitung und Zeitschrift. Aus der Historikerperspektive nehmen die Briefe damit gegenüber den offiziellen Quellen den Charakter von Komplementärquellen an, die eine informelle, den Zeitgenossen bloß selektiv zugängliche Kom­munikationsebene darstellen. Drittens gibt Hallers Briefwechsel naturgemäß zahlreiche Aufschlüsse über die Funktionsweise sozialer Beziehungsnetze, und zwar in der Gelehrtenrepublik ebenso wie in der bernischen Stadtrepublik oder der Familie. Von besonderem Interesse sind dabei die vielfältigen Tauschverhältnisse, in denen beispielsweise botanische Zuträgerdienste mit einem Unterstützungsbrief bei einer Stellenbewerbung, die Treue bei wissenschaftlichen Kontroversen mit Mitgliedschaften in gelehrten Gesellschaften vergolten werden.

Zitierte Literatur Boschung, Urs (2005). „Albrecht von Hallers Krankheiten in seiner Korrespondenz“, in: Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung. Hg. v. Martin Stuber, Stefan Hächler u. Luc Lienhard. Basel: 221–275. Boschung, Urs, Barbara Braun-Bucher, Stefan Hächler, Anne Kathrin Ott, Hubert Steinke u. Martin Stuber (Hg.) (2002). Repertorium zu Albrecht von Hallers Korrespondenz 1724–1777. Basel. Catherine, Florence (2012). La Pratique et les Réseaux savants d’Albrecht von Haller (1708–1777), vecteurs du transfert culturel entre les espaces français et germaniques au XVIIIe siècle. Paris.

5.10 Albrecht von Hallers europäisches Korrespondenznetz (1724–1777) 

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Eric Achermann

5.11 Johann Georg Hamann Was bei Johann Georg Hamann (1733–1788) ‚Brief‘ heißen soll, ist keine leicht zu beantwortende Frage. Die Probleme betreffen den Unterschied zwischen Druckschriften mit hohem Öffentlichkeitsanspruch und einer Korrespondenz mit gezielter Adressierung. Dass dieser Unterschied nicht gleichbedeutend mit demjenigen zwischen Werken und Briefen sein muss, dürfte allen klar sein, die sich mit sogenannten offenen Briefen beschäftigen. Im Folgenden wird die Asymmetrie zwischen einer adressatenorientierten vs. einer publikumsorientierten schriftlichen Kommunikation einerseits und Brief vs. Werk andererseits nicht so sehr als zu lösendes Problem der Gattungszuordnung behandelt, sondern eher als ein produktives Spannungsverhältnis im Inneren der zeitgenössischen Poetik, das Hamann sich auf eigenwillige Weise zunutze macht. Die Assoziation von Brief und privatem Habitus ist heute so geläufig, dass wir von ‚Geschäftsbrief‘, ‚Schreiben‘, ‚Mitteilung‘ und dergleichen sprechen, um einer stillschweigend vorausgesetzten Vorstellung von Intimität zu begegnen. Das Intime des Briefes scheint geradezu selbstverständlich aus der Restriktion des Adressatenkreises zu folgen, die ein Geheimes von einem Öffentlichen abtrennt und sich in einem entsprechend vertrauten Ton äußert. Es verdankt sich jedoch nicht dem Medium als solchem, sondern einem tiefgreifenden historischen Wandel, der Funktion und Stellung des Briefes im literarischen Feld sowie dessen allgemeinere kulturelle Praxis erfasst. Noch an der Wende vom 17. zum 18.  Jahrhundert herrscht im deutschsprachigen Raum das Bemühen um sprachliche Ostentation, angemessene Etikette und die Befolgung wohldisponierter Formulare vor (vgl. Vellusig 2000, 36–50). Dies zumindest lässt sich mit Blick auf die Briefsteller, die darin abgedruckten Modellbriefe sowie epistolarische Einschübe in galanten Romanen (vgl. Gelzer 2007, 120–121) behaupten. Gleichzeitig lässt sich jedoch auch bemerken, dass trotz dieser Vorherrschaft das Medium ‚Brief‘ aus dem Gebiet der Rede (oratio) in dasjenige des Gesprächs (sermo) wandert. Sicher, es kann sich hierbei an antiken Vorbildern orientieren, die der Epistolographie nicht bloß Modelle zur Nachahmung, sondern auch die zentralen Topoi ihrer Ziele vorgeben (vgl. Müller 1994, 61, 67; Vellusig 2000, 26–32). Bei aller Beliebtheit dieser Topoi und Modelle seit der Renaissance erfolgt die eigentliche Emanzipation, ja Privilegierung des Intimen in der briefstellerischen Praxis um die Mitte des 18.  Jahrhunderts. Natürlichkeit als stilistisches Ideal nämlich ist der deutschsprachigen Literatur der Frühen Neuzeit alles andere als unbekannt; als Ausdruck einer intimen Gefühlslage aber gewinnt sie erst mit der https://doi.org/10.1515/9783110376531-074

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Empfindsamkeit die Oberhand (vgl. Wegmann 1988, 73–80). Im Fahrwasser dieser literarischen Modeströmung unternimmt Hamann seine ersten literarischen Versuche. Als junger Student „übt“ er sich mit Versen aus Hagedorns (1744, 68) Die Jugend gleichsam „im Empfinden“, indem er in der moralischen Wochenschrift Daphne die Lieder Gellerts und Hagedorns als der „Weichherzigkeit“ des weiblichen Geschlechts angemessen feiert: Eine „liebenswürdige Nächlässigkeit, ein lachendes leichtes Wesen, das einem spitzfindigen und verdorbenen Geschmack, einem übertriebenen und unnatürlichen Witz freylich nicht gefallen kann“, mache die Ungezwungenheit dieser „niedliche[n] und geschwätzige[n] Dichtkunst“ aus, mache sie umso „gemeinschaftlicher und vertraulicher“ (Daphne 1750, 79; N IV, 27–28). Dass die geradezu sprichwörtliche Dunkelheit des späteren ‚Magus in Norden‘ sich einem solchen Ideal nicht mehr verpflichtet fühlt, liegt auf der Hand. Den Bruch mit den literarischen Vorlieben markiert Hamanns Londoner Krise, deren biographische Hintergründe heute noch Rätsel aufgeben (vgl. Fechner 1979; Lindner 1988). Die theologischen und poetologischen Motivationen eines tiefreichenden Sinneswandels sollen hier nur kurz an dem prominenten HamannWort „Rede, daß ich dich sehe!“ aus der Aesthaetica in Nuce (Hamann 1762, 166; N II, 198) verdeutlicht werden. Für den Ausspruch steht Erasmus – und damit ein Gewährsmann für eine Rhetorik des privaten und familiären Briefs (vgl. Rice Henderson 1983; Rummel 1989) – mit seinem Apophthegma „Loquere […] ut te videam“ Pate (vgl. Haynes 2002). Gespräch und Gesprächston sollen also der Erkenntnis eines mich adressierenden Ichs dienen. Das Ideal eines solchen Individualstils verdankt seine ungeheure literarische Verbreitung Montaignes Essayistik (vgl. Achermann 2016a). Das literarische Gespräch imaginiert ein vertrautes Gegenüber, indem es im selben Wind der Freiheit zu segeln vorgibt, der die Freundschaftsbeziehung durchweht. Hier ist kein Standesunterschied, sondern eine Nähe, die sich im natürlichen, schrankenlosen Austausch äußert. Bei Hamann nun erfährt dieses humanistische Ideal eines Gesprächs zwischen Gleichgesinnten und -berechtigten eine Umdeutung, die der eigenen theologischen Anthropologie geschuldet ist. Dem „Rede, daß ich Dich sehe!“ folgt eine Äußerung, die ‚in nuce‘ Hamanns Schöpfungsverständnis zum Ausdruck bringt: „–  – Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist; denn ein Tag sagts dem andern, und eine Nacht thuts kund der andern“ (Hamann 1762, 166; N II, 198; mit Verweis auf Ps 19, 3). Die gesamte Schöpfung ist ursprünglich Zeichen, und zwar eines, das als Redehandlung und Tauschobjekt Gemeinschaft in ihrem Innersten, Intimsten und Geheimsten stiftet: „Jede Erscheinung der Natur war ein Wort – das Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer neuen, geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigern Vereinigung, Mittheilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen“

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(Hamann 1772, 13–14; N III, 32). Hamann versteht das Wort primär als Tat und erst sekundär als Repräsentation – oder, wie er selbst sagt, primär dramatisch und nicht episch (vgl. von Lüpke 1996; Achermann 2016b). Es ist die Rede, die zu erkennen gibt. Die Natur ist hier jedoch nicht die ‚naïveté‘ eines Montaigne (vgl. Tetel 1979, 74; Westerwelle 2002, 277–278; Reguig 2011), der die Natürlichkeit der Rede zum Quell der Erkenntnis erklärt, sondern vielmehr die ‚Kreatürlichkeit‘ des mosaischen Schöpfungsberichts (vgl. Bayer 1983). Als Schöpfer durch das Wort befähigt Gott den Menschen als „Lehnträger“, Worte zu schaffen (vgl. Achermann 2004). Hamanns Freiheitsbegriff zielt nicht in erster Linie auf Gesetze und Konventionen, sondern auf Zwänge begrifflicher Abstraktion und Verallgemeinerung, die den Menschen von Sinneseindrücken und Leidenschaften entfremden (vgl. Achermann 2005, 47–54). Sein eigenes Verständnis einer dialogischen Autorschaft lebt Hamann in der aufwendigen paratextuellen Gestaltung der Titelblätter aus, die den Menschen als Zeichenbildner und -deuter in Szene setzen. Der Autor gibt vor, in Widerrede mit einem Leser zu stehen, der ihm bald Muse, bald Hebamme (vgl. Hamann 1759, 28; N II, 166) ist: „Die Idee des Lesers ist die Muse und Gehülfin des Autors; die Ausdehnung seiner Begriffe und Empfindungen der Himmel, in den der Autor die Idee seines Lesers versetzt und in Sicherheit bringt […].“ (Hamann 1762c, 15; N II, 348) Ebenso wenig wie seine empfindsamen Zeitgenossen versteht Hamann die Rede als oratio, doch eignet seinem sermo eine ganz besondere Dialogizität. Sie resultiert aus einem unentwegten Spiel von Verkleidung und Entäußerung (vgl. Kalkbrenner 2016). Der Spaziergang des Gedankens, wie es bei Montaigne heißt (zu diesem Topos vgl. Moser 2007, 61–67), weicht einer performativen Spontaneität, wobei die Unmittelbarkeit der Zeichenwirkung sich paradoxerweise in einem Gespräch realisiert, das nicht mittelbarer sein könnte. Der ‚Magus in Norden‘ nämlich ist ein Meister des Maskenspiels (für einen Überblick vgl. Koepp 1964): Von der Wochenzeitschrift Daphne aus den Jahren 1749 und 1750, als deren Mitverfasser Hamann gilt, bis zu seiner letzten gedruckten Schrift, Golgatha und Scheblimini aus dem Jahre 1784, ‚mimt‘ (vgl. ZH I, 404) er zahlreiche Rollen: Sokrates (vgl. HH II, 16–18), Pan (vgl. Achermann 1997, 153–158), Abälardus Virbius (vgl. Henkel 1994), den Ritter von Rosencreuz (vgl. HH IV, 34–38, 167–169), Vetius Epagathus Regiomonticola (vgl. HH V, 33), Prediger in der Wüsten (vgl. HH VII, 51–52), Mien Man Hoam (vgl. Fechner 1987), die apokryphische Sibylle (vgl. Altenhöner 1997, 19–186) u.a.m. Die wechselnden Masken fingieren jedoch nicht nur eine phantasievoll variierte Autorschaft; sie gehen einher mit dem Entwurf von Rollen, die bald realen, bald fingierten Adressaten zugewiesen werden. Dieser Entwurf liefert seinerseits den Angelpunkt, an welchem sich die sprachlichen, stilistischen und rhetorischen Mittel – kurz: das „Idiom“ – orientieren (Gaier 2016, 50; zur Idiomenkommunikation vgl. Fritsch 1999).

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Epistolarität als Kommunikationshaltung durchdringt so das gesamte Werk und beschränkt sich nicht etwa auf die eigentliche, durchaus umfangreiche und bedeutende Korrespondenz. Zahlreich sind denn auch Inschriften, die auf den Titelblättern der Druckschriften die Zugehörigkeit zum Briefgenre bezeugen: Klaggedicht, in Gestalt eines Sendschreibens über die Kirchenmusick (1761), Lettre néologique & provinciale (1761), Kleeblatt Hellenistischer Briefe (1762), Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend (1763), Lettre perdue d’un sauvage du nord à un financier (1773), An die Hexe zu Kadmonbor (1773), Fliegender Brief an Niemand, den Kundbaren (1785–1788, posth.) u.a.m. Hinzu kommen Titel, Untertitel, Überschriften und Anreden, die Adressat*innen ausweisen: „an Niemand und an Zween“ (N II, 57) „an ein geistreiches Frauenzimmer ausser Landes“ (N II, 143), „À la Administration générale“ (N II, 323), „für den Herrn Verleger, der von nichts wuste“ (N II, 329), „an den Verfasser der Näschereyen in die Visitenzimmer“ (N II, 187), „an den Verleger der Briefe die neuste Litteratur betreffend“ (N II, 375) etc. In der Anrede imaginierter, mitunter auch realer Leser geht der Duktus eines Schreibens auf, das nur selten die Form der Abhandlung annimmt, meist jedoch polemisch motiviert ist (vgl. Beetz 2016). Bietet das Briefgenre Hamann Anlass und Mittel zum Gespräch ‚inter pares‘, so dient ihm die jeweilige persona des Autors dazu, den primus zu mimen. Bald Lehrer, bald Warner und Streiter, bald Prediger und Deuter, adressiert er den oder die Leser als Schüler, Frevler oder allzu schwache Mitglieder einer Gemeinschaft, die ihren Mittel- und Angelpunkt in Gott hat. Als dessen Ebenbild hüllt sich der Autor in fremde Gewänder und verbirgt so seine Wahrheit, um in dieser erkannt zu werden. Beide Figuren, diejenige der unmittelbaren Natürlichkeit als auch die der Verkleidung und Verhüllung, bilden also die beiden Pole einer Theologie der Offenbarung, die Schöpfung als zeichenhaften Ausdruck, Göttlichkeit als ausdrucksvolles, nichtsdestoweniger blendendes Zeichen erkennt. Wer Autor sein will, muss den Schöpfer aller Schöpfer mimen, denn „der Mensch ist von Natur unter allen Thieren der größte Pantomim“ (Hamann 1772b; N III, 38). In diesem handlungsvollen sprachlichen Tun erkennt Hamann denn das Ideal einer Rede, die „gleich dem delphischen Dreyfuß und der antimachiavellischen Beredsamkeit“ gleichsam „aus erster Hand und auf frischer That […] schmeckte“: „– – Jede Erscheinung der Natur war ein Wort,  – das Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer neuen, geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigern Vereinigung, Mittheilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen.“ (Hamann 1772a, 13; N III, 32) Die Paradoxie, sowohl Verstellung als auch gegenwärtige Erfahrung als uneinholbare Voraussetzungen für Erkenntnis zu behaupten, hat ihren Grund also in einer Semiotik, die jede schöpferische Handlung zwar performativ als Adressierung, gleichzeitig jede Handlung repräsentativ als Grundlage einer richtigen Deutung des Adressierenden versteht. Wer hingegen das Kreatürliche

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als Freiheit und Schöpfung in einem Prozess intellektueller Fehlentwicklung auszuradieren trachtet, der opfert beides: „Alle Farben der schönsten Welt verbleichen: so bald ihr jenes Licht, die Erstgeburt der Schöpfung, erstickt. […] Jede Kreatur wird wechselsweise euer Schlachtopfer und euer Götze.“ (Hamann 1762a, 191; N II, 206) Bezeichnenderweise verbindet Hamann den Götzendienst seiner Zeitgenossen mit der Flut an Schriften, die das allgemeine „Publicum“ aufzuklären trachten. Bereits in seiner ersten wichtigen Veröffentlichung, den Sokratischen Denkwürdigkeiten (1759), karikiert er es mit der Wendung „an Niemanden, den Kundbaren“ (vgl. Baur 1988; Baur 1991, 266–274). Die Allgemeinheit macht dieses Publikum zu einem Analogon verblasster Vorstellungen und Begriffe, die den ursprünglichen Dialog zu einem denaturierten Monolog verkommen lassen. Der aufklärerischen Dialektik, die Öffentlichkeit fordert, sie letztlich aber aus einem solipsistisch agierenden Urteilsvermögen erwachsen lässt (vgl. Koselleck 1973, 44), hält Hamann die Kommunikationsform des Briefes vor, die den Vertrauten ein-, das Publikum aber ausschließt. „Wortwechsel“ ist ihm uneinholbare Voraussetzung eines rechten und legitimen Gebrauchs von Verstand und Vernunft. Mit Edward Young, den Hamann in seinen Vermischten Anmerkungen zitiert, ist dieser „exchange“ als Rede („speech“) nämlich gleichzeitig „canal“ und „criterion“ des Gedankens („thought“) (Young 1762, 37; Hamann 1762b, 22; N II, 129; vgl. dazu Achermann 2002, 289). Und nicht nur dieser Stelle gedenkt Hamann gerne (u.  a. ZH V, 95; ZH V, 108), sondern auch eines Ausspruchs Demosthenes’, welcher die actio oder hypokrisis zur ersten, zweiten und dritten, also einzigen Aufgabe des Redners erklärte (Cicero, De oratore III, 56 [213]; Quintilian, Institutio oratoria XI, 3, 6). Diese „dreieinige“ Energie gilt es in göttlicher Rede, der Herablassung und dem Sich-Einlassen auf die Kreatur, zu bedenken und in menschlicher Rede nachzuahmen: „Was Demosthenes Actio – Engel Mimik – Batteux Nachahmung der schönen Natur nennt, ist für mich Sprache – das Organon und Criterion der Vernunft, wie Young sagt. Hier liegt reine Vernunft und zugl. ihre Kritik –“ (ZH V, 360; vgl. hierzu Bayer 1988, 185–192). Die Beziehung zwischen Brief und Werk könnte enger also nicht sein. Es erstaunt denn auch nicht, dass es zu Wechseln von der einen in die andere Gattung kommt. So finden wir in den Fünf Hirtenbriefen von 1763 unter dem Titel Zugabe zweener Liebesbriefe an einen Liebhaber der Weltweisheit zwei Briefe abgedruckt, die Hamann nur wenige Monate zuvor tatsächlich an Immanuel Kant gerichtet hatte; in umgekehrter Richtung verpackt er seine kritische Abrechnung mit Kants Kritik der reinen Vernunft unter dem Titel Metakritik über den Purismum der Vernunft in einem Brief, den er am 15. September 1784 an Johann Gottfried Herder schickt (ZH V, 210–216). Dass Hamann das Verfassen von Briefen als Teil seiner Autorschaft verstand, belegen Aussagen, die zum einen der Sorge und dem Aufwand um die Komposition der Briefe, zum anderen der Volatilität und Situa-

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tionsbezogenheit seiner Druckschriften gelten. So schreibt er am 21. Februar 1770 an Herder: „[I]ch habe die ganze Woche an diesem Briefe zugebracht […]. Weder ημεραι noch εργα […]“ (ZH IV, 57) – weder „Tage“, noch „Werke“ also, wie Hamann Hesiod ironisierend seine Zwitterwesen nennt. Alle Schriften Hamanns erscheinen so als ‚Tagewerke‘, das heißt, sie sind dem Anlass geschuldet. Dennoch lässt sich in seiner eigentlichen Korrespondenz ein wesentlich höherer Anteil der intimen familiaria in Verhältnis zu den gelehrten negotialia ausmachen. In der über 1.200 Briefe umfassenden Korrespondenz steht Hamann mit so manchen Zeitgenossen von Rang und Namen im kritischen Dialog, darunter Herder, Kant, Moses Mendelssohn, Friedrich Heinrich Jacobi, Matthias Claudius, Friedrich Nicolai, Johann Caspar Lavater. Ungeachtet der Prominenz seiner Briefpartner berichtet er gerne Details aus seinem privaten und geselligen Leben, wobei er die Grenze der Schicklichkeit nicht immer wahrt (Verdauungsprobleme, krude Metaphorik, pikante Anspielungen; vgl. die Beispiele bei Patri 2016). Die Dominante aber liegt in der Paränese; Hamann reklamiert für sich die Rolle des Mahners, der im Licht der eigenen Wahrheit predigt und ‚straft‘. Zwar kommt es zu merklichen Wechseln, wer Freund, wer Feind heißt, doch gilt seine unverminderte Angriffslust den seichten Ansichten und verfehlten Äußerungen seiner Zeitgenossen (vgl. Beetz 2016). Die selbstgewählte Isolation des „Prediger[s] in der Wüsten“ (Hamann 1784, Titelblatt; N III, 291) steht unvermittelt neben dem Verlangen nach einem Gleichen, der diese monologische Position zu überwinden hälfe. Dem sermo der Predigt setzt Hamann das Ideal des sermo des Gesprächs entgegen. Von einem wahren Austausch „mit seiner anderen Hälfte“ erwartet er Kritik und Vervollkommnung. Das Begleitschreiben zur Metakritik charakterisiert er als „Bettlerbrief“ und fordert Herder mit Horaz (Satiren 1,4,62) auf, die „disiecti membra poetae […] zusammen[zu]flicken“. Ihm fehle es nämlich an Freunden, die „zum adiutorio“ dienten: „– kein Bein von meinen Beinen, kein Fleisch von meinem Fleisch  – keinen animae dimidium meae! keinen Prüf= noch Wetzstein meiner Ideen! keinen arbitrum meiner Einfälle“ (ZH V, 220). Hamann greift so auf eine Formulierung zurück, die er in der Aesthaetica in nuce für die „Turbatverse der Natur“ verwendet hatte. Dem Briefpartner mutet er Aufgaben zu, von denen es dort heißt, sie kämen dem „Gelehrten“ zu, nämlich die ‚Glieder des zerrissenen Poeten‘ zu sammeln, oder dem „Philosophen“, sie auszulegen, oder schließlich dem „Poeten“, sie „ins Geschick zu bringen“ (Hamann 1762a, 167; N II, 198–199). Ihm kommt aber auch die Aufgabe zu, die Argumente zu prüfen und zu schärfen. Dass dieser Poet letztlich Christus sein muss (vgl. Veldhuis 1994, 137), zeigt an, worin Hamann die Befriedigung seines Liebesbedürfnisses sieht. Sind emphatische Anrede, Situationsbezogenheit, private Anspielungen und intime Teilhabe nicht etwa nur für Hamanns Briefe typisch, sondern Signum

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der Zeit und Ausdruck eines hoch im Kurs stehenden Freundschaftskultes, so macht die fundamentale Bedeutung des ‚Wortwechselsʻ als Quelle von Kritik und Erkenntnis das anthropologische und christologische Proprium von Hamanns Korrespondenz aus.

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 5 18. Jahrhundert

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5.11 Johann Georg Hamann 

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Walter Jaeschke

5.12 Philosophische Streitgespräche in Briefen – Friedrich Heinrich Jacobi Die Zeit der Klassischen deutschen Philosophie ist die Zeit der dickleibigen Werke und auch der akademischen Vorlesungen; sie ist aber nicht mehr eine Blütezeit der Briefkultur – mit einer Ausnahme: Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) führt eine umfassende Korrespondenz mit nahezu allen namhaften Zeitgenossen aus der Welt der Literatur und der Philosophie, teils auch aus der Welt der Politik, und hiervon sind weit mehr als 5.000 Briefe von ihm und an ihn überliefert. Wichtiger als dieser quantitative Aspekt ist ein qualitativer: In seinem Œuvre verbinden sich ‚Werkʻ und ‚Briefʻ zu einer nicht weiter auflösbaren Einheit – so scheint es zumindest. Nicht alle, aber doch einige seiner ‚Werkeʻ sind ‚Briefeʻ, wie auch umgekehrt einige seiner ‚Briefeʻ ‚Werkeʻ sind  – ohne dass man mit einem Worte angeben könnte, ob sie nun dieses oder jenes seien. Ihr Proprium ist, dass sie beides sind. Auch wenn ihr Anlass zunächst der Wunsch nach brieflicher Verständigung über einen historischen Vorgang oder ein begrenztes Thema gewesen sein mag, erwächst aus diesem Anfang im Zuge der Niederschrift ein ‚Werkʻ, das sich jedoch weiterhin in der Form eines Briefes oder einer Folge von Briefen präsentiert. Jacobis Faszination von den Ausdrucksmöglichkeiten des Mediums ‚Briefʻ, aber auch seine Nähe zur literarischen Tradition des 18.  Jahrhunderts, zeigen sich bereits in seinem Briefroman Eduard Allwill. Die dort veröffentlichten Briefe nähern sich zwar auf dem Wege von den frühen Fassungen der Jahre 1775 und 1776 hin zur späteren Überarbeitung und Erweiterung von 1792 dem Charakter eines ‚philosophischen Streitgesprächs‘, jedoch nur partiell, und ohnehin sind sie nur literarische Briefe. Anders diejenigen Briefe, die Jacobi zur Klärung philosophischer Probleme und Streitfragen an Zeitgenossen richtet. Zwar sind sie zunächst Bestandteil einer Privatkorrespondenz, doch zielen sie trotz dieser persönlichen Bestimmung zugleich auf die öffentliche Rezeption. Zu ‚philosophischen Streitgesprächen‘ werden diese Briefe erst in dem Maße, in dem sie den Raum des Privaten verlassen und für die öffentliche Rezeption gestaltet werden. Diese Zusammengehörigkeit von ‚Streitgespräch‘ und ‚Öffentlichkeitʻ bestätigt sich negativ auch in einem anderen Fall: Auf Matthias Claudiusʼ Wunsch hin schreibt Jacobi für ihn eine ausführliche, in mehreren Abschnitten versandte Epistel über die Kantische Philosophie – aber bei ihr handelt es sich nicht um ein philosophisches Streitgespräch, sondern um eine „in Claudiusischem Geschmak“ (JBW I,9, 163) abgefasste, sehr persönlich gehaltene Erläuterung einiger grundlegender Positionen der Philosophie Kants, und diese Epistel ist damals mit guten Gründen nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Jacobi https://doi.org/10.1515/9783110376531-075

5.12 Philosophische Streitgespräche in Briefen – Friedrich Heinrich Jacobi 

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unterscheidet sehr präzise zwischen dem privaten Briefwechsel und dem zwar in Briefform verfassten und tradierten, jedoch auf Grund seines Werkcharakters für die Öffentlichkeit bestimmten Streitgespräch. Dieses, so charakteristisch es auch für Jacobi im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen ist, bildet auch in seinem Werk einen Sonderfall, und seine Privatbriefe – so sehr sie auch philosophischen Charakter haben mögen, wie etwa seine umfangreiche Korrespondenz mit Johann Georg Hamann – sind keine Streitgespräche. Der Veröffentlichung von Privatbriefen hat Jacobi insgesamt sehr zurückhaltend gegenübergestanden. Es ist wenig bekannt, dass er sich in einer Streitschrift vehement gegen die Veröffentlichung vertraulicher Briefe von Verstorbenen und noch Lebenden gewandt und gleichsam für ein – modern gesprochen – ‚Persönlichkeitsschutzrechtʻ eingesetzt hat. Doch auch wenn im Titel dieser Schrift nur von „vertraulichen Briefen“ die Rede ist: Die Beispiele, die Jacobi in diesem Zusammenhang anführt, lassen vermuten, dass Privatbriefe generell, oder zumindest sehr häufig, Äußerungen enthalten, auf Grund derer man sie als „vertraulich“ einschätzen und behandeln sollte. Wenn, wie Jacobi schreibt, eine Wendung in einem persönlichen Gespräch oder am einsamen Schreibtisch „höchst unschuldig“ gewesen sein kann, „aber öffentlich ausgerufen auf dem Markte, kränken, erzürnen, vielleicht unversöhnlich entzweyen muß“ (JWA 5, 260), so verläuft die Grenze zwischen dem Vertraulichen und dem für die Öffentlichkeit Bestimmten nicht zwischen vertraulichen und nicht-vertraulichen Privatbriefen, sondern sie scheidet das Genus des Privatbriefs insgesamt von dem für die Öffentlichkeit bestimmten. Dieser Einsicht in den spezifischen Charakter von Privatbriefen hat Jacobi auf doppelte Weise Rechnung getragen: Briefe, die er selber als Beilage zur Ausgabe seiner Werke veröffentlicht hat, hat er teils anonymisiert, teils durch Auslassungen ‚entschärftʻ (vgl. Jacobi 1816, 563) – und er hat angeordnet, dass mehrere Korrespondenzen (leider auch die mit seinem Bruder, dem Dichter Johann Georg Jacobi) den Augen des Publikums durch Vernichtung entzogen werden (vgl. Jacobi 1816, XX).

1 Jacobi an Mendelssohn Angesichts dieser Skepsis gegenüber einer Veröffentlichung von Privatbriefen kann es verwundern, dass Jacobi für eine Reihe seiner Werke an der Publikationsform ‚Briefʻ festgehalten und in diesem Zusammenhang auch auf Privatbriefe zurückgegriffen hat. Es ist aber nicht so sehr eine Abwägung der Wirkungsmöglichkeit gewesen, die seine Entscheidung für das Medium ‚Briefʻ geleitet hätte – wie dies etwa bei Autoren der Fall ist, die sich von der Darstellungsform ‚Dialogʻ

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größere Chancen für die Rezeption der Erörterung von abstrakten Sachverhalten erhoffen. Die Briefform seiner Streitgespräche hat sich ihm historisch entwickelt, gleichsam durch geschichtliche Umstände aufgedrängt. Seine ‚Streitgespräche in Briefformʻ sind nicht gelehrte Abhandlungen, die er erst nachträglich in Briefform gegossen hätte; sie erwachsen vielmehr aus realen Situationen, haben einen ‚Sitz im Lebenʻ, den Darstellungen in systematischer Form im Allgemeinen vermissen lassen, und sei es auch, dass sie ihn manchmal sogar bewusst verwischen. Dieser historische Anlass bildet ein konstitutives Moment für die Wahl der Briefform – aber ebenso charakteristisch ist das Hinausgehen über den Privatbrief, seine Ergänzung durch weitere Materialien, die den ursprünglichen Privatbrief schließlich in das Ganze eines Werkes einbezieht. Den zufälligen Ausgangspunkt für Jacobis bekanntestes ‚Streitgespräch in Briefen‘, für seine Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn, bildet die Mitteilung einer ‚Freundinʻ Jacobis, Elise Reimarus (die im publizierten Brief unter dem Pseudonym „Emilie“ erscheint), dass deren Freund Moses Mendelssohn an einem Werk über „Charakter und Schriften“ seines verstorbenen Freundes Gotthold Ephraim Lessing schreiben wolle (JWA 1, 7). Dies ermuntert Jacobi – der im Sommer 1780 Lessing besucht und inzwischen auch eine politische Streitschrift in Anknüpfung an ein Wort Lessings veröffentlicht hat (vgl. JWA 4, 297–346) – zu der Rückfrage, ob es Mendelssohn bekannt sei, dass Lessing ‚Spinozistʻ, also Anhänger der damals als pantheistische und atheistische Ketzerei verpönten Philosophie Spinozas, gewesen sei. Mendelssohn erbittet – wiederum auf dem Umweg über Elise Reimarus – nähere Aufklärung darüber, worauf Jacobi seine Ansicht gründe. Soweit die in mehreren, im Dreieck Düsseldorf-Hamburg-Berlin hin- und herlaufenden Privatbriefen dokumentierte Ausgangslage (vgl. JWA 1, 8, 10–11; JBW I,3, 172, 202–203). Das zweite, den Grund für alles Weitere legende Stadium bildet Jacobis ausführlicher, auf den 4.  November 1783 datierter Bericht über seinen eigenen Werdegang, der in ein Protokoll seiner mit Lessing im Sommer 1780 geführten Gespräche ausläuft (vgl. JWA 1, 13–44; JBW I,3, 227–244). Der Form nach handelt es sich hier ebenfalls um einen Privatbrief an Mendelssohn – allerdings um einen Privatbrief, dessen Informationen im Blick auf eine breitere Rezeption (Jacobi hat mindestens vier Abschriften nehmen und kursieren lassen!) und auf eine mögliche (Teil-)Publikation durch den Empfänger formuliert sind. Aus diesem Interesse heraus könnte auch Fiktionales in den Brief eingeflossen sein, und die Zweifel an der historischen Treue von Jacobis Darstellung sind unter den Anhängern Mendelssohns ja bis heute nicht gänzlich verstummt. Doch auch abgesehen von solchem Generalverdacht, dass der ‚Spinozist Lessingʻ eine Fiktion Jacobis sei: Fraglos hat seine Darstellung bereits einen literarischen, auf Publikation angelegten Charakter. Dies bestätigt Mendelssohn indirekt durch sein Votum, es solle von der Entscheidung eines Freundeskreises abhängig gemacht werden,

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„was für ein Gebrauch von dem durch mich [sc. Jacobi] aufgezeichneten Gespräch zu machen sey“, wie auch durch seine Frage, ob Jacobi ihm gestatten werde, von seinen „philosophischen Briefen“ Gebrauch zu machen (JWA 1, 49 bzw. 90). Mit diesen „philosophischen Briefen“ (im Plural) ist neben dem Bericht über das Lessing-Gespräch ein Brief an François Hemsterhuis gemeint, den Jacobi in der Zeit des Wartens auf Mendelssohns Antwort verfasst hat (vgl. JWA 1, 55–88; JBW I,3, 349–359). Jacobi hat ihn zwar auch an Hemsterhuis gesandt und mit einer kleinen ‚historischenʻ Einleitung versehen; dennoch handelt es sich bei dieser Lettre à Mr. Hemsterhuis à la Haye um einen rein literarischen Brief – oder genau genommen: Der Titel ist irreführend; es handelt sich bei dieser Lettre, abgesehen von den Eingangswendungen, gar nicht um einen Brief, sondern um einen fiktiven Dialog zwischen Spinoza und Hemsterhuis bzw. Jacobi, also um ein Werk Jacobis, das nur äußerlich, durch Angliederung an einen lediglich zur Übermittlung dieses Dialogs an Hemsterhuis geschriebenen Brief, also nur etwas gewaltsam dem Genus ‚Briefʻ unterzuordnen ist. Eine solche Unterscheidung zwischen dem (eigentlichen) ‚Briefʻ und der angehängten Darstellung ist nicht etwa Produkt einer späten Rabulistik; Jacobi hat sie auch selbst getroffen. Er berichtet, etwa zeitgleich mit seiner Niederschrift der „Lettre à Mr. Hemsterhuis“ sei er durch einen „Brief von Mendelssohn“ überrascht worden, „welcher Erinnerungen gegen die in meinem Schreiben [sc. in seinem Bericht über das Gespräch mit Lessing] enthaltene Philosophie begleitete“ (JWA 1, 51). Diese Wendung trifft den Sachverhalt exakt: Der ‚eigentlicheʻ Brief „begleitet[]“ die Übersendung der philosophischen Auseinandersetzung; er ist gleichsam das Vehikel, das zu ihrer Übermittlung eingesetzt wird. Die Auseinandersetzung selber hat jedoch keinen Briefcharakter. Doch trotz seiner Ergänzung des ersten Briefs durch den zweiten, oder richtiger: trotz seiner Ergänzung des Berichts durch den Dialog, den Jacobi – wiederum durch Elise Reimarus – auch an Mendelssohn hat senden lassen, sieht Jacobi seine Absicht, „die Lehre des Spinoza selbst ins klare [zu] setzen“, noch nicht verwirklicht, und so schreibt er unter dem Datum 21. April 1785 einen weiteren Brief an Mendelssohn (JWA 1, 93–112; JBW I,4, 68–84). Aber auch dieser ‚Briefʻ ist zumindest in seinem Kern wiederum kein wirklicher ‚Briefʻ; er entwirft vielmehr nach wenigen einleitenden Worten eine kompendiöse, in 44 Paragraphen gefasste Darstellung der Philosophie Spinozas. Und auch hier wiederholt Jacobi sinngemäß seine präzise Unterscheidung zwischen ‚Briefʻ und ‚Auseinandersetzungʻ – denn er schreibt am Ende der ‚Auseinandersetzungʻ: „Hiermit sey meine Darstellung geschlossen. Mittelst derselben und dem Briefe an Hemsterhuis, glaube ich auf alles wesentliche in Ihrem Aufsatze [sc. in den „Erinnerungen“ Mendelssohns] hinlänglich geantwortet zu haben“ – und nun wolle er nur noch auf ein paar ihn persönlich betreffende Wendungen aus Mendelssohns „Erinnerungen“ eingehen.

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Damit ist nochmals zwischen dem ‚eigentlichenʻ Brief, der Persönliches betrifft, und der ‚Darstellungʻ oder philosophischen Erörterung unterschieden: Das ‚philosophische Streitgesprächʻ findet in den Abhandlungen statt, und nur insofern in Briefen, als die Abhandlungen zusammen mit Briefen versandt werden. Während im Allgemeinen zu Briefen ‚Beilagenʻ hinzugefügt werden, bilden hier die ‚eigentlichenʻ Briefe die ‚Beilagenʻ zur Übersendung der Abhandlungen  – treffender als Jacobi kann man diese Umkehrung nicht ausdrücken. Durch die Form ihrer Übersendung haben die Abhandlungen daher zwar zunächst einen persönlichen Adressaten, aber ihrem Inhalt nach sind sie allgemein gehalten, an ein öffentliches Publikum adressiert. Diese bereits in Jacobis Bericht über das Gespräch mit Lessing implizit vorhandene und in den folgenden Texten Schritt für Schritt verstärkte Tendenz zur Publikation wird schließlich klar ausgesprochen, als Mendelssohn Jacobi eine zweibändige Publikation über den Spinozismus ankündigt, in deren zweitem Band er auch auf die zwischen beiden gewechselten Darstellungen eingehen und den „Status Controversiae“ (JWA 1, 127; JBW I,4, 137) festsetzen wolle. Um aber diese Festsetzung nicht allein der Sichtweise Mendelssohns zu überlassen, entschließt Jacobi sich dazu, auf der Basis der hier genannten „Briefe“ eine eigene Darstellung des Spinozismus zu veröffentlichen. Im Blick auf diese Publikation komprimiert Jacobi nun seine ohnehin knappe Darstellung der Philosophie Spinozas in 44 Paragraphen (siehe oben) noch weiter zu sechs prägnanten Leitsätzen (vgl. JWA I, 120), die er – in Erwartung der Publikation Mendelssohns – jedoch nicht mehr an diesen sendet. Sie sind also auch im weiteren, unspezifischen Sinne nie Bestandteil von Briefen gewesen, ebenso wenig wie die beiden Gedichte Johann Wolfgang von Goethes, die Jacobi seinem ‚Werkʻ beigibt. An die Stelle des Briefwechsels – oder präziser: an die Stelle der Übersendung von Abhandlungen – tritt nun die zeitgleiche Publikation zweier Bücher: der Morgenstunden Mendelssohns und Jacobis Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn – und in der Folge wenig später die Publikation zweier Streitschriften: Mendelssohns Appell An die Freunde Lessings und Jacobis Wider Mendelssohns Beschuldigungen. Jacobis Briefe Ueber die Lehre des Spinoza haben allerdings noch eine bessere Fortsetzung als in diesen Streitschriften gefunden: Vier Jahre nach ihrem ersten Erscheinen veröffentlicht Jacobi unter demselben Titel eine zweite, erweiterte Auflage. In ihr ist das Element ‚Briefʻ jedoch noch weiter zurückgedrängt. Jacobi publiziert nun, nach dem Tod Mendelssohns und nach dessen Vorarbeit, die bereits erwähnten „Erinnerungen an Herrn Jacobi“ – aber auch sie fallen ja gar nicht im engeren Sinn in die Rubrik ‚Briefʻ, sondern sie sind eine Auseinandersetzung mit Jacobis Bericht über sein Gespräch mit Lessing, die von einem Brief Mendelssohns nur ‚begleitet‘ wird. Vor allem aber nimmt Jacobi noch eine ausführ-

5.12 Philosophische Streitgespräche in Briefen – Friedrich Heinrich Jacobi 

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liche Abhandlung „Ueber die Freyheit des Menschen“ (vgl. JWA 1, 158–170) und acht „Beylagen“ (vgl. JWA 1, 185–268) auf, die nun den oder zumindest neben der Darstellung der Philosophie Spinozas einen zweiten gedanklichen Schwerpunkt der Publikation bilden. Mit diesen Erweiterungen entfernen sich Jacobis Briefe Ueber die Lehre des Spinoza noch einen weiteren Schritt vom Medium ‚Briefʻ; mit ihm bleiben sie nur durch die im Buchtitel ausgesprochene Reminiszenz an die ursprünglich gewechselten Briefe bzw. an die durch sie übermittelten Abhandlungen verbunden. Und es sind diese Abhandlungen, in denen die philosophische ‚Substanzʻ der Werke Jacobis liegt – in der minutiösen Darstellung und Kritik der Philosophie Spinozas wie auch in der Auseinandersetzung um die Rezeption des Spinozismus, um die Aporie, in die sich eine jede Philosophie aus reiner Vernunft verstrickt, und um die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Diese Partien ließen sich jedoch ohne philosophischen Verlust aus ihrem Briefkontext herauslösen und für sich zum Gegenstand machen.

2 Jacobi an Fichte Ein gutes Jahrzehnt später, im Jahr 1799, schreibt Jacobi erneut einen Brief, der als ein geradezu klassisches ‚Philosophisches Streitgespräch‘ gilt. Sein Adressat ist Johann Gottlieb Fichte, der damals – nach Immanuel Kant – bekannteste deutsche Philosoph. Ähnlich wie bei den Briefen Ueber die Lehre des Spinoza ist der Anlass auch hier ein zentrales philosophisch-theologisches Thema: War es dort das Problem des Pantheismus, so ist es nun das Problem des Atheismus – und während das Problem des Pantheismus erst durch Jacobis Spinoza-Briefe in die Diskussion der 1780er Jahre eingebracht worden ist, schlägt der Streit um den Atheismus um die Jahreswende 1798/99 bereits hohe Wellen: Fichte ist offiziell des Atheismus bezichtigt worden, und dies ist damals eine existenzbedrohende Anklage (vgl. Essen und Danz 2012). Deshalb wendet er sich Anfang 1799 mit einer Verteidigungsschrift, der Appellation an das Publikum, an die Öffentlichkeit, und er verschickt dieses Buch mit einem gedruckten Begleitschreiben an etwa 150 bis 200 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, vornehmlich an Gelehrte, mit der Bitte um eine Stellungnahme zu seiner Entlastung und Verteidigung, so auch an den ihm aus dessen Werken und aus der persönlichen Korrespondenz vertrauten Jacobi. Und an ihn fügt er dem gedruckten Brief noch eine handschriftliche Notiz an: „Bei Ihnen suche ich nicht Theilnahme, Verwendung oder deß Etwas, sondern mehr, ich suche Freundschaft“ (JWA 2, 471). Und so fühlt Jacobi sich genötigt, Fichte zu antworten und ihn nach Möglichkeit zu verteidigen – wohl wissend, dass er Fichtes Position allenfalls partiell teilt.

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Anders als bei den Spinoza-Briefen gibt es hier nicht die Differenz zwischen dem (eher gleichgültigen) Begleitbrief und der übersandten Abhandlung: Der Brief ist das Streitgespräch. Allerdings ist auch dieser Brief nicht nur für seinen Adressaten bestimmt: Bereits mehr als einen Monat vor der Fertigstellung und vor der Absendung an Fichte (am 21. März 1799) kündigt Jacobi Jean Paul Abschriften für ihn und Herder an (vgl. JBW I,12, 13); auch Karl Leonhard Reinhold erhält ihn, und er erwähnt gegenüber Fichte „das unvergleichliche Sendschreiben“ (JBW I,12, 64) – wobei die Wahl des Wortes „Sendschreiben“ bereits einen Vorausblick auf die Veröffentlichung impliziert: Ein Privatbrief ist kein „Sendschreiben“. Und so setzen, zeitgleich mit der Absendung des Briefes an Fichte auch die Überlegungen Jacobis und Reinholds zur besten Form der Publikation ein – ob als Gemeinschaftspublikation der Schreiben Reinholds und Jacobis an Fichte, vielleicht sogar unter Beifügung der Dankesbriefe, die Fichte an beide gesandt hat, oder doch lieber separat, damit die beiden Sendschreiben einen größeren Leserkreis finden. Zugleich mit den Überlegungen zur Art der Publikation beginnen aber auch die Überlegungen zur Umgestaltung des handschriftlichen Briefes Jacobis zu einer gedruckten, für die Öffentlichkeit geeigneten Version. Diese Veränderungen lassen sich nicht mehr vollständig nachvollziehen, da sich von der ursprünglichen Fassung allenfalls ein einziges Blatt erhalten hat. Doch lassen mehrere briefliche Äußerungen Fichtes, Jacobis und Reinholds eine Rekonstruktion dieser Veränderungen wenigstens in Umrissen zu. Zunächst ist es Jacobis Absicht, den ursprünglichen Brief nur durch einen „kleinen Vorbericht“ und „einige Anmerkungen“ am Schluss zu ergänzen, „damit der Brief selbst so unverändert wie möglich bleibe“ (JWA 2, 475). Doch wenige Tage später erfolgt der erste Anstoß zur inhaltlichen Überarbeitung – durch Fichte selbst. Er gebe die Einwilligung zum Druck „ohne Bedenken: besonders wenn einige grelle Stellen, insonderheit die, wo er [sc. Jacobi] meine Philosophie allerdings atheistisch nennt, (was in gewisser Rüksicht wahr, u. zuzugeben ist, aber wohl die wenigsten Leser so verstehen dürfen, wie wir es verstehen) weggelassen; und etwa mein Fragment, das ich auch an Jacobi als Beilage geschikt  […] mit hinzugedruckt würde“ (JWA 2, 475). Diesen letzteren Vorschlag hat Jacobi nicht berücksichtigt, doch hat er die Passage seines ursprünglichen Briefes, in der er Fichtes Philosophie atheistisch nennt, für den Druck abgemildert. Dies lässt sich aus dem vorhin erwähnten einzigen von der ursprünglichen Fassung überlieferten – oder ihr zumindest nahestehenden – Blatt erkennen (vgl. JWA 2, 216). Und es lässt sich auch noch mehr erkennen: Auf diesem Blatt geht der Text von der philosophisch-theologischen Auseinandersetzung zu politisch-pragmatischen Fragen über. Diese fehlen in der Druckfassung des Briefes; ihre Fortsetzung greift hingegen in größerem Umfang auf frühere Publikationen Jacobis und auf einen zwar bereits gesetzten, aber noch

5.12 Philosophische Streitgespräche in Briefen – Friedrich Heinrich Jacobi 

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nicht publizierten Text zurück, die nicht direkt mit der Kontroverse um Fichtes Atheismus zu tun haben. Das Verhältnis von Brief und Werk ist also keineswegs unproblematisch; die Schlusspartien des ursprünglichen Briefes sind in der Druckfassung, in Jacobi an Fichte, nicht enthalten; andererseits gehören die Schlusspartien der Druckfassung (vgl. JWA 2, 216–225) nicht dem ursprünglichen Brief Jacobis an – man müsste sonst annehmen, er habe eigene, Fichte großenteils wohlbekannte Passagen aus Publikationen in seinem Brief für Fichte eigens nochmals abgeschrieben. Dieser Vermutung größerer Veränderungen widerspricht freilich die Eingangswendung des neu verfassten, inhaltlich gewichtigen Vorberichts zum publizierten Brief: Jacobi betont hier, er veröffentliche diesen Brief so, wie er ihn – ohne Gedanken an eine Veröffentlichung  – an Fichte geschrieben habe. Doch diese Wendung entspricht wohl eher einer literarischen Konvention; ihr widersprechen andere, gleichzeitige briefliche Äußerungen Jacobis. An Reinhold schreibt er, dass er „einen neuen Schluß dazu gemacht habe“ und die Druckfassung nun „um ein Drittel länger geworden“ sei als der ursprüngliche Brief (JWA 2, 476–477) – von der behaupteten Identität kann somit nicht die Rede sein. Und nur diese Differenz zwischen dem geschriebenen Brief und dem veröffentlichten Werk erklärt, dass Fichte, der doch selber die Veröffentlichung gewünscht hat, sie nun sehr distanziert, ja verärgert aufnimmt. Jacobi schreibt an Reinhold, Fichte sei „entrüstet über mein gedrucktes Schreiben und es kocht gewaltig in ihm“, und Jean Paul berichtet Jacobi aus Jena, Fichte „sei toll auf dich, nämlich auf die veränderten Briefstellen – die ja alle zu seinem politischen Vorteil dastehen – und auf die Beilagen“ (JWA 2, 478). Die Beilagen: Der Druckversion des Briefes hat Jacobi noch drei Beilagen und einen „Anhang“ mit fünf Einzeltexten hinzugefügt, in denen er auf Passagen aus eigenen Werken zurückgegriffen hat. Sie bilden ein Indiz dafür, welche Themen für ihn so wichtig gewesen sind, dass er sie bei dieser Gelegenheit dem Publikum nochmals unter die Augen gelegt hat; mit Fichte und dem Brief an ihn haben sie jedoch nicht unmittelbar zu tun. „Beylagen“ und „Anhang“ sind etwa ebenso lang wie die ohnehin schon erweiterte Druckfassung; sie überwuchern gleichsam den Text des ursprünglichen Briefes. Fichte mag sich über diese Aufblähung geärgert haben, doch enthalten die Beilagen keine Aussagen, die Fichtes „Kochen“ oder „Tollsein“ veranlasst haben könnten. Einschneidend sind hingegen mehrere Aussagen des Vorberichts, zumal sie die Leser*innen des Briefes an Fichte gedanklich auf die Lektüre des Folgenden einstimmen – mit ihren Bemerkungen zum Verhältnis von Fichte und Kant, zum Verhältnis von Transzendentalphilosophie und Atheismus und insbesondere mit ihren bohrenden Fragen, weshalb Fichte sich denn nicht sorgfältiger vor dem Anschein gehütet habe, als sollte durch Transzendentalphilosophie „ein neuer

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einziger Theismus eingeführt, und durch ihn jener alte der natürlichen Vernunft, als durchaus ungereimt vertrieben werden“, und warum er „[g]anz ohne Noth“ sich und seine Philosophie „in ein übles Gerücht gebracht“ habe (JWA 2, 193). Diese Wendungen sind keineswegs neutral, geschweige denn entlastend; im Gegenteil: Sie klagen an und geben damit den Tenor für die Lesart auch des folgenden, (partiell-)ursprünglichen Briefes an Fichte vor. Die moderaten Töne, die Jacobi im ursprünglichen Brief, in der Sphäre der persönlichen Korrespondenz, anschlägt, die Betonung der Gemeinsamkeiten, die milde Einschätzung der politischen Folgen werden von den neuen Eingangswendungen überlagert, unhörbar gemacht. Argumente, die im persönlichen Austausch auf der Ebene der Meinungsverschiedenheit verbleiben, werden im öffentlichen Raum zu Anklagen. Oben ist Jacobis Einsicht zitiert worden, dass eine Wendung in einem persönlichen Gespräch oder am einsamen Schreibtisch „höchst unschuldig“ gewesen sein kann, „aber öffentlich ausgerufen auf dem Markte, kränken, erzürnen, vielleicht unversöhnlich entzweyen muß“ – und dies gilt um so mehr, wenn die Wendung gar nicht dieselbe ist, sondern die für den ‚Marktʻ bestimmte sich vom Privatbrief durch eine in diesem nicht enthaltene Schärfe unterscheidet. Dies hat auch das Verhältnis Jacobis und Fichtes zerrüttet: Mit dem gedruckten Brief bricht die Korrespondenz beider ab; man bestellt sich allenfalls noch Grüße, korrespondiert aber nicht mehr. Diese Schärfe der Druckversion ist aber nichts Willkürliches; sie folgt gleichsam dem ‚Gesetz des Marktesʻ, das – wenn es um ein philosophisches Streitgespräch geht – allgemein stichhaltige Argumente, Beurteilungen und Positionierungen verlangt und keine privaten Beschönigungen zulässt.

3 Jacobi an Köppen In einer abermals veränderten Lage ist Jacobis letzte Publikation von „Streitbriefen“ entstanden: Drei Briefe an Friedrich Köppen (vgl. JWA 2, 331–372), einen Freund und Mitstreiter Jacobis. Zum einen fehlt ihnen die Differenz der Sphären des Privaten und des Öffentlichen; zumindest die beiden ersten, tragenden Briefe sind literarische Briefe, nur zum Zweck der Publikation geschrieben, also eigentlich: keine Briefe, sondern Werke in Briefform; allein der dritte könnte als eigentlicher Brief begonnen worden sein und seinen Charakter erst im Zuge der Niederschrift gewandelt haben. Die in den Briefen genannten Daten für den Beginn und das Ende ihrer Niederschrift sind ohnehin sämtlich fiktiv; Jacobi beginnt seine Niederschrift erst eine Weile nach dem letzten genannten Briefdatum. Ferner fehlt diesen Briefen ein wirklicher Adressat, denn der als Adressat genannte Friedrich Köppen spielt für die Abfassung der Briefe keine Rolle; er ist lediglich der Autor

5.12 Philosophische Streitgespräche in Briefen – Friedrich Heinrich Jacobi 

 963

der Schrift, der die Briefe beigegeben werden sollen; die Anrede „mein Freund“ ist eine bloße, durch die Fiktion des Briefformats erforderliche literarische Floskel, und Schelling und Hegel, die durch die Briefe getroffen werden sollen, fungieren nicht als Adressaten. Jacobis Briefe sind über sie, über ihre Schriften geschrieben, aber nicht an sie; der Adressat ist – wie bei jedem veröffentlichten Werk – unspezifisch: das Publikum. Eine Ähnlichkeit der Drei Briefe an Köppen mit den beiden vorangegangenen ‚Streitgesprächen in Briefen‘ besteht lediglich darin, dass auch sie eine eher zufällige Veranlassung haben – und dies wohl sogar in doppelter Hinsicht: Sie setzen das Erscheinen von Hegels Abhandlung Glauben und Wissen im Juli 1802 voraus, in deren zweitem Teil Hegel ebenso überraschend wie heftig gegen Jacobi polemisiert; gegen diese Polemik ist der erste der Drei Briefe an Köppen gerichtet. Schelling hat an dieser Polemik keinen erkennbaren eigenen Anteil, lediglich indirekt als Herausgeber des Kritischen Journals, in dem die Polemik erschienen ist. Dass der zweite der Drei Briefe sich gegen ihn wendet, dürfte seinen Grund darin haben, dass sie Köppens Buchprojekt zur Entlarvung von Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Philosophie des absoluten Nichts beigegeben werden sollen; jedenfalls wird bei Gelegenheit der Erwähnung der Drei Briefe in Jacobis Korrespondenz stets die Absicht ausgesprochen, sie Köppens Schrift beizufügen – sei es am Anfang, sei es am Ende, mit der nicht deutlich, vielmehr deftig ausgesprochenen Absicht, die Schrift Köppens durch die Drei Briefe aufzuwerten: Jacobi schreibt, er habe die Drei Briefe „als Speckscheiben im Auge, die jenen Braten, wenn er ans Feuer gestellt wird, einwickeln sollen“ (JWA 2, 491). Damit ist aber noch nicht erklärt, weshalb Jacobi seinen „Speckscheiben“ die – hier ohnehin sehr oberflächliche, äußerliche – Form von Briefen gegeben hat und nicht die Form eines Nach- oder Vorworts. Ein Grund hierfür mag in dem zufälligen Anlass liegen, in der nicht oder zumindest nicht in dieser Heftigkeit erwarteten Polemik seitens Hegels und Schellings  – und historische Vorgänge behandelt Jacobi in Form von Briefen; ein anderer darin, dass die lockere Konversationsform des Briefes ihm eine größere Ungebundenheit und Leichtigkeit seiner Antikritik erlaubt, während eine Widerlegung in der strengen Form einer Abhandlung den Gegenstand in Jacobis Augen überbewertet hätte. Deshalb – vielleicht aber auch wegen des später guten Verhältnisses zu Hegel – hat Jacobi die Drei Briefe an Köppen auch nicht in die von ihm selbst noch veranstaltete Ausgabe seiner Werke aufgenommen. Es zählt zu den Eigentümlichkeiten Jacobis, dass sein Denken dazu neigt, seinen Ausgang von Situationen des Lebens zu nehmen, von einzelnen Geschehnissen – sei es vom Gespräch mit Lessing über Spinoza, sei es von einem Wort Lessings aus religiös-politischem Kontext oder sei es von dem Atheismusvorwurf gegen Fichte. Dies sind (zumindest zunächst) keine philosophisch-systemati-

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 5 18. Jahrhundert

schen Probleme, und somit bilden sie auch nicht die Ausgangsbedingungen für systematische Darlegungen. Wenn es jedoch um Allgemeines geht – etwa um die philosophisch-erkenntnistheoretische Auseinandersetzung zwischen Idealismus und Realismus oder um eine generelle Beurteilung der Philosophie Kants –, dann wählt Jacobi nicht die Briefform, sondern entweder die Form des Dialogs (wie in seinem David Hume) oder die Form der Abhandlung (wie in Ueber das Unternehmen des Kriticismus). Jacobi wäre jedoch kein Philosoph, wenn er in den erstgenannten Fällen bei der Erörterung historischer Ereignisse in Briefform stehen bliebe. Denn in der Philosophie – so, wie auch Jacobi sie verstanden hat – geht es nicht um historische Situationen, sondern um die Allgemeinheit des Gedankens. Deshalb gehören ‚Philosophische Streitgesprächeʻ  – im Unterschied zu Privatbriefen  – auf den ‚Marktplatzʻ, oder, etwas traditioneller gesprochen, auf die Agora, den Ort der Allgemeinheit des Gedankens. Und deshalb erweitert Jacobi die am Anfang stehende (selbst schon im Vorblick auf die Agora literarisch stilisierte) Briefform durch die Einbeziehung von Formen des Dialogs oder der Abhandlung – auch wenn diese formell noch in den größeren Rahmen von „Briefen über…“ eingebunden bleiben. Und auch das „Sendschreiben“ Jacobi an Fichte, bei dessen Niederschrift Jacobi von Beginn an ein größeres, durch Abschriften zu informierendes Publikum im Auge hat, wird durch Weglassungen und Erweiterungen der Sphäre der privaten Verständigung entnommen, im Tenor verändert, schließlich zu einem ‚Werkʻ umgestaltet und dadurch der Form des freien und allgemeinen Gedankens entgegengehoben.

Zitierte Literatur Aurnhammer, Achim u. C. J. Andreas Klein (Hg.) (2012). Jacobi, Johann Georg (1740–1814). Bibliographie und Briefverzeichnis. Berlin. Essen, Georg u. Christian Danz (2012) (Hg.). Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit. Darmstadt. Fichte, Johann Gottlieb (1977 [1799]). „Appellation an das Publikum über die durch ein Kurf. Sächs. Confiscationsrescript ihm beigemessenen atheistischen Aeusserungen. Eine Schrift, die man erst zu lesen bitten, ehe man sie confiscirt. Jena und Leipzig, Tübingen 1799“, in: Ders. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Abt. I, Bd. 5: Werke 1798–1799. Hg. v. Reinhard Lauth u. Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt: 409–453. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1968 [1802]). „Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie“, in: Ders. Gesammelte Werke. Hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Bd. 4: Jenaer Kritische Schriften. Hg. v. Hartmut Buchner u. Otto Pöggeler. Hamburg: 313–414.

5.12 Philosophische Streitgespräche in Briefen – Friedrich Heinrich Jacobi 

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Jacobi, Friedrich Heinrich (1816). Werke. Bd. III. Leipzig. Jacobi, Friedrich Heinrich (1981–). Briefwechsel. Gesamtausgabe. Reihe I, Bde 1–12 unter mehrfach wechselnder Herausgeberschaft. Ab Bd. I,11: Fortsetzung der Gesamtausgabe bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Hg. v. Walter Jaeschke u. Birgit Sandkaulen. Stuttgart-Bad Cannstatt. [=JBW] Jacobi, Friedrich Heinrich (1998 [1785/1789]). „Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn“, in: Ders. Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke. Bd. 1: Schriften zum Spinozastreit. Hg. v. Klaus Hammacher u. IrmgardMaria Piske. Hamburg: 1–268. [=JWA] Jacobi, Friedrich Heinrich (1998 [1786]). „Friedrich Heinrich Jacobi wider Mendelssohns Beschuldigungen betreffend die Briefe über die Lehre des Spinoza“, in Ders. Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke. Bd. 1: Schriften zum Spinozastreit. Hg. v. Klaus Hammacher u. Irmgard-Maria Piske. Hamburg: 169–331. Jacobi, Friedrich Heinrich (2004 [1787]). „David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch“, in: Ders. Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke. Bd. 2: Schriften zum transzendentalen Idealismus. Hg. v. Walter Jaeschke u. Irmgard-Maria Piske unter Mitarbeit v. Catia Goretzki. Hamburg: 9–112. Jacobi, Friedrich Heinrich (2004 [1791/92]). „Epistel über die Kantische Philosophie“, in: Ders. Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke. Bd. 2: Schriften zum transzendentalen Idealismus. Hg. v. Walter Jaeschke u. Irmgard-Maria Piske unter Mitarbeit v. Catia Goretzki. Hamburg: 121–161. Jacobi, Friedrich Heinrich (2004 [1799]). „Jacobi an Fichte“, in: Ders. Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke. Bd. 2: Schriften zum transzendentalen Idealismus. Hg. v. Walter Jaeschke u. Irmgard-Maria Piske unter Mitarbeit v. Catia Goretzki. Hamburg: 187–258. Jacobi, Friedrich Heinrich (2004 [1802]). „Ueber das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen, und der Philosophie überhaupt eine neue Absicht zu geben“, in: Ders. Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke. Bd. 2: Schriften zum transzendentalen Idealismus. Hg. v. Walter Jaeschke u. Irmgard-Maria Piske unter Mitarbeit v. Catia Goretzki. Hamburg: 259–330. Jacobi, Friedrich Heinrich (2004 [1803]). „Drei Briefe an Friedrich Köppen“, in: Ders. Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke. Bd. 2: Schriften zum transzendentalen Idealismus. Hg. v. Walter Jaeschke u. Irmgard-Maria Piske unter Mitarbeit v. Catia Goretzki. Hamburg: 331–372. Jacobi, Friedrich Heinrich (2006). Eduard Allwill, in: Ders. Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke. Bd. 6: Romane I. Hg. v. Carmen Götz u. Walter Jaeschke. Hamburg. Jacobi, Friedrich Heinrich (2007 [1806]). „Was gebieten Ehre, Sittlichkeit und Recht in Absicht vertraulicher Briefe von Verstorbenen und noch Lebenden? Eine Gelegenheitsschrift von Friedrich Heinrich Jacobi“, in: Ders. Werke. Gesamtausgabe. Hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke. Bd. 5: Kleine Schriften II. 1787–1817. Hg. v. Catia Goretzki u. Walter Jaeschke. Hamburg: 255–319. Mendelssohn, Moses (1786). An die Freunde Lessings. Ein Anhang zu Herrn Jacobi Briefwechsel über die Lehre des Spinoza. Berlin. Mendelssohn, Moses (1785). Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes. Bd. 1. Berlin.

Udo Roth und Gideon Stiening

5.13 Korrespondenzen der Idealisten (Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Hölderlin) Als Philosophie des deutschen Idealismus (vgl. Henrich 2009), die seit einigen Jahren – allerdings unter erheblicher Ausweitung ihres Gegenstandsbereiches – auch als Klassische deutsche Philosophie (vgl. Jaeschke und Arndt 2012) firmiert, gilt die aus den Kontroversen der europäischen Philosophie des 18. Jahrhunderts hervorgegangene und von Immanuel Kant inaugurierte philosophische Position (vgl. Guyer 2006), die aus einer grundlegenden Konzeption von Subjektivität, die keineswegs jede Objektivität negiert, alles Sein und Werden, alles Denken und Handeln, alles Wollen und Sollen – kurz alles, was ist ‒ entwickelt. Der deutsche Idealismus einschließlich Kant ist eine der bedeutendsten Phasen der deutschsprachigen Philosophie Kants, ja der Philosophie überhaupt, dessen Leistungen als keineswegs überwunden gelten, sondern – vor allem im Rahmen der Ethik und der Rechtsphilosophie  – aktuelle Bedeutung beanspruchen. Daher wird diese Philosophie, deren zeitliche Extension zumeist von Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) bis zu Georg Wilhelm Friedrich Hegels Tod (1832) bestimmt wird, sowohl unter historischen als auch systematischen Gesichtspunkten analysiert und interpretiert. Kants Kritik (1781), Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre (1794), Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Naturphilosophie (1797/1799) und Hegels Phänomenologie des Geistes (1806) sowie seine Wissenschaft der Logik (1812, 21832) gelten dabei als die spektakulärsten Publikationen und Positionen der bekanntesten Autoren. Dabei betätigten sich die Idealisten auf allen Gebieten der theoretischen und praktischen Philosophie, wie Metaphysik und Logik, Erkenntnistheorie und Methodologie, Ethik sowie Rechts- und Staatslehre, Ästhetik und Teleologie. Darüber hinaus suchten alle vier philosophischen Autoren die Grenzen des rein akademischen Diskurses durch populäre Vorlesungen und Publikationen zu überwinden, um dem aufklärerischen wie idealistischen Anspruch auf Praxisrelevanz ihrer Philosophie Ausdruck zu verleihen. Leicht abseits von dieser Gruppe führender Philosophen um 1800 und doch zu ihnen zählend steht Friedrich Hölderlin, der vor allem als Dichter reflektierte und publizierte, gleichwohl auch – zu Lebzeiten allerdings unveröffentlicht bleibende – philosophische Manuskripte verfasste, deren historische und systematische Bedeutung erst im späten 20. Jahrhundert erkannt wurde (vgl. Henrich 1992). Alle fünf Autoren haben umfangreiche Briefkorpora hinterlassen, die weitgehend ediert und damit für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Diese idealistischen Autoren bilden allerdings keine homogene Gruppe oder gar Schule aus, nicht nur, weil die Altersunterschiede erheblich ausfallen – Kant lebt von 1724 https://doi.org/10.1515/9783110376531-076

5.13 Korrespondenzen der Idealisten (Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Hölderlin) 

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bis 1804, Fichte von 1762 bis 1814, Hegel von 1770 bis 1832, Hölderlin von 1770 bis 1843 und Schelling von 1775 bis 1854 –, sondern auch, weil sie nur partiell untereinander korrespondierten. So schreibt Fichte (aber kein weiterer Idealist) an den betagten Kant und erhält ambivalente Antworten; er wechselt auch Briefe mit dem als Konkurrenten wahrgenommenen Schelling, nicht aber mit Hölderlin oder Hegel. Hölderlin schreibt an seine Kommilitonen Schelling und Hegel, ist für Kant aber zu jung und traut sich an Fichte nicht heran. Schelling schreibt zunächst an Hölderlin und Hegel, später auch an Fichte, aber nie an Kant. Hegel dagegen tauscht sich in seiner Frühzeit mit Schelling und Hölderlin aus, sucht dann aber andere Kontakte. Die Briefkorpora aller fünf Idealisten sind folglich je einzeln in ihrem Schreibstil, Adressatenkreis und ihren funktionalen Ausrichtungen zu behandeln. Anders als für die Epistolographie der Empfindsamkeit oder des Sturm und Drang gibt es keinen spezifisch idealistischen Briefstil. Gleichwohl stimmen die Philosophen des Idealismus darin überein, dass sie ihre Privat- oder Amtsbriefe nicht als Teil ihres weitgehend systematisch verfassten Werkes betrachten. Bis auf Schellings Briefe über Dogmatismus und Critizismus (1795) bedient sich keiner der Idealisten des ‚Gelehrten Briefes‘ als Form seines wissenschaftlichen Schreibens.

1 Immanuel Kant Kants Briefe bilden ein Korpus aus, das für einen aufgeklärten Gelehrten der Hochund Spätaufklärung durchaus typisch ist, insofern diese Briefe zum privaten, aber auch wissenschaftspolitischen und rein philosophischen Austausch verwendet werden. Anders als für die adelige Epistolarkultur des 17. und 18. Jahrhunderts, anders auch als für die nachfolgenden Generationen bedient sich Kant seiner Briefe nicht für intime Selbstreflexionen oder vergleichbare Kommunikationen. Selbst Briefe an seine Geschwister verbleiben in einem eher distanzierten Duktus der Informationsvermittlung. Seine Briefe an Kollegen ebenso wie an Konkurrenten kultivieren das vom stylus curie seiner zahlreichen Amtsbriefe (vgl. Euler und Stiening 1995) geprägte akademische Decorum der Hoch- und Spätaufklärung. Selbst gegenüber den schon in den 1760er Jahren kontaktierten, ausnehmend geschätzten philosophischen Kollegen und Aufklärern Moses Mendelssohn und Johann Heinrich Lambert bleibt Kant distanziert. Nur in den Briefen an die als Schüler wahrgenommenen Johann Gottfried Herder und Markus Herz werden Stil und Inhalt zeitweilig ein wenig angelegentlicher. Kant konnte aber wohl auch anders: Der in verzweifelten Liebesangelegenheiten seinen Rat suchenden Maria von Herbert (1769–1803) („Großer Kant. Zu dir rufe ich wie ein Gläubiger zu seinen

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[sic] Gott um Hilf, um Trost, oder um Bescheid zum Tod“, Kant 1986, 513) antwortet er mit väterlicher Umsicht und ohne jede „Schmeichelei“, aber mit klugen Ratschlägen für die „liebe[] Freundin“ (Kant 1986, 563–566; vgl. hierzu Vorländer 3 1992, II, 117–118). Zu Johann Georg Hamann aber, den er als ehemaligen Studienkollegen zeitlebens unterstützte, pflegte er ob dessen gegenaufklärerischer Position ein ambivalentes Verhältnis; seinem Freund und häufigen Gast an seinem Mittagstisch Theodor Gottlieb von Hippel dagegen widmete er durchaus auch persönlich zugetane Briefe. Zugleich bedient sich der stets in Königsberg verbleibende Philosoph des Briefes vor allem ab den 1780er Jahren zum Auf- und Ausbau eines wissenschaftstheoretischen und wissenschaftspolitischen Netzwerkes, mithilfe dessen er versucht, die inner- und außeruniversitären Debatten, aber durchaus auch die Stellenpolitik an deutschsprachigen Universitäten zu beeinflussen (vgl. Kühn 2004, 291–294). Bedeutend und prägend werden nun die auch an Quantität zunehmenden Briefwechsel mit Jacob Sigismund Beck, Karl Leonhard Reinhold oder Christian Garve. Kant sekundiert mit diesem Briefnetzwerk dem seit den Prolegomena von 1783 und bis in die 1790er Jahre intensiv geführten, öffentlichen Kampf um seine neue Philosophie. Der seine philosophischen Reflexionen vor allem in seinen systematischen Werken austragende Philosoph bietet in seinem Briefkorpus der 1780er und 1790er Jahre Einblicke in werkgenetische Prozesse seiner Transzendentalphilosophie. Erst gegen Ende der 1790er Jahre nehmen diese philosophischen Briefwechsel wie auch Kants Kräfte allmählich ab. Während seiner gesamten universitären Laufbahn bedient sich Kant auch der Gattung des Amtsbriefes. Diese mit einer ganz eigenen Rhetorik und Stilistik ausgestattete Form des Briefes beherrscht Kant früh mit einer Meisterschaft, die ihm nicht unerheblichen Einfluss in Königsberg und Berlin verschafft. Dabei bildet er diese Kompetenz nicht allein aus, um seine Stellung innerhalb der Königsberger Korporation und in Berlin auszubauen, er mischt sich in bildungspolitische Debatten ein, sucht die Interessen seiner jüdischen Schüler zu vertreten und Studenten vom Militärdienst zu befreien. Der noch immer nicht vollständig edierte amtliche Briefwechsel Kants zeigt den Philosophen in der Rolle eines ebenso ambitionierten wie kompetenten Hochschulpolitikers.

2 Johann Gottlieb Fichte Fichtes Briefwechsel kann als das umfangreichste Korpus der briefschreibenden Idealisten bezeichnet werden. Zudem bediente Fichte die unterschiedlichen Arten von Episteln, vom vertrauten Liebes- und Freundschaftsbrief über den Netzwerke

5.13 Korrespondenzen der Idealisten (Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Hölderlin) 

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auf- und ausbauenden Brief bis zum Amtsbrief, vom öffentlichen Brief bis zur philosophischen Abhandlung. Fichte ist der variantenreichste Briefschreiber der Idealisten, der zudem die praktische Dimension differenziert zu nutzen wusste. Dabei neigte er zu einem offensiven, teils autoritären Stil, der seine unterschiedlichen Anliegen stets mit großem Nachdruck vertrat. Zu seinen Adressaten zählen die Berühmtheiten der Geistesgeschichte um 1800; neben den frühen Briefen an Kant gehören zu seinen Briefpartnern Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller, Schelling und Reinhold, aber auch Friedrich Heinrich Jacobi, Johann Caspar Lavater sowie die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel oder Friedrich Schleiermacher. Kurz: Fichtes umfangreiche Korrespondenz bietet einen Spiegel der kulturellen Ereignisse und Entwicklungen der zwei Jahrzehnte um 1800. Für Fichtes Verständnis des Briefes aufschlussreich sind schon die Briefe an Kant, die der nach Königsberg gereiste junge Philosoph dem verehrten Meister („Verehrungswürdiger Mann“, Fichte 1986, 55) zusandte. Kant erkannte auch über diese Briefe schnell, dass mit Fichte eine eigene philosophische Stimme das Wort erhob, und förderte den Verehrer in den ersten Jahren. Nicht zufällig galt dessen erste, anonym veröffentlichte Schrift – Kritik aller Offenbarung (1791) – als Publikation Kants. Kants öffentliches Bekenntnis, nicht der Autor der Schrift zu sein, machte Fichte auf einen Schlag berühmt. Die während seiner Professur in Jena verfassten Briefe dokumentieren in einer unvergleichlichen Dichte die aufgewühlte Atmosphäre der Revolutionszeit sowie die Prozesse und Ergebnisse der wohl produktivsten Zeit deutschsprachiger Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts. Fichte berichtet nicht nur über studentische Unruhen, sondern gibt auch Einblick in den Gang der wissenschaftlichen Prozesse der nachkantischen Philosophie. Der schwere Druck, unter den er in den späten 1790er Jahren ob eines Atheismusvorwurfes gerät, und seine energische Gegenwehr lassen sich anschaulich an den Briefen dieser Zeit ablesen. Einen Höhepunkt seiner epistolaren Reflexionsleistungen sowie seiner Befähigung, den Brief als Instrument einer wissenschaftspolitischen Kontroverse einzusetzen, bieten die Briefe im Umfeld seiner Auseinandersetzung mit Schelling um das Verhältnis beider philosophischen Systeme (vgl. Jantzen et al. 2005). Dabei sucht Fichte nicht nur die direkte Kontroverse mit dem zumeist eher defensiven Schelling („Es würde mir sehr erwünscht sein, die Korrespondenz mit Ihnen fortzusetzen, doch nur unter der Bedingung, wenn Sie sich persönlicher Beleidigungen enthalten wollen“, Fichte 1986, 330), er ist auch bereit und in der Lage, diesen Streit durch strategische Briefe an Freunde und Kollegen zu befördern. Die unruhigen Jahre zwischen der Aufgabe seiner Jenaer Professur 1799 und seiner Einsetzung als Dekan der philosophischen Fakultät an der Universität Berlin im Jahre 1810 sind gekennzeichnet von umfangreichen Briefwechseln insbesondere mit den Protagonisten der romantischen Bewegung, wie A.  W. Schlegel

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oder Schleiermacher, aber auch der anhaltenden Korrespondenz mit Jacobi, an den er seinen letzten großen philosophischen Brief richtet. Darüber hinaus zeigt sich Fichte als kluger und innovativer Bildungspolitiker, der die Neugründung der Berliner Universität maßgeblich gestaltet. Fichte muss als einer der großen Briefschreiber der Jahrhundertwende bezeichnet werden. Allerdings ist sein Briefkorpus für eine Kulturgeschichte um 1800 erst noch zu entdecken.

3 Friedrich Hölderlin Friedrich Hölderlin ist der ohne jeden Zweifel begabteste Briefschreiber der Gruppe von Idealisten, und zwar auch deshalb, weil er wie kaum ein anderer der Philosophen um 1800 die spezifischen Reflexions- und Darstellungsformen des Briefes explizit interpretiert. An seinen lebenslangen Freund Christian Ludwig Neuffer (1769–1839) schreibt er Anfang Dezember 1795: „Aber wenn ich mit Gewalt von meinem armen Individuum abstrahiren wollte, schrieb ich eine Dissertation und keinen Brief.“ (Hölderlin 1992/94, Bd. II, 600) Hölderlin weiß also um das im 18. Jahrhundert entwickelte Postulat darzustellender Individualität im Brief (vgl. Stiening 2005) und bemüht sich um dessen Realisierung. Deshalb sind nahezu alle Briefe des Dichters ausnehmend persönlich gefärbt, und zwar auch im Zusammenhang der Darstellung und Entwicklung philosophischer oder poetologischer Reflexionen; selbst solche Theorie wurde auf ihre persönliche Bedeutung hin minutiös geschildert. Dabei hat Hölderlin, der nur aufgrund persönlicher Bekanntschaft an Schelling und Hegel Briefe schrieb, mit kaum einer der anderen bedeutenden Persönlichkeiten Kontakt aufgenommen; vielmehr hat er seine häufig überforderte Verwandtschaft und fachferne Freunde mit komplexen Reflexionen zu Philosophie, Dichtung oder Politik drangsaliert. Eine Ausnahme bilden seine wenigen Briefe an Friedrich Schiller, dem er in einer angstvollen, unterwürfigen Verehrung begegnete („Verehrungswürdigster“, Hölderlin 1992/94, Bd. II, 636), den er aber gleichwohl mit hochkomplexer nachkantischer Philosophie bedrängte. Schillers herablassende Antworten dürften erheblich zu Hölderlins schwierigem Selbstverhältnis beigetragen haben. Hölderlin hat ausführliche, zum Teil außerordentlich persönliche Briefe an seine Geschwister und an seine Mutter geschrieben (vgl. Raabe 1965, 29–59); vor allem letzterer gegenüber hatte er sich jahrelang wegen seiner Weigerung, endlich Pfarrer zu werden, zu legitimieren. Noch 1798 aber ist er davon überzeugt, dass dieser Beruf durch den europaweiten Sieg der Revolution abgeschafft

5.13 Korrespondenzen der Idealisten (Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Hölderlin) 

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würde. Seinen Geschwistern gegenüber sucht er die Tatsache, dass er von der Mutter auch finanziell über Wasser gehalten wurde, zu entschuldigen. In umfangreichen philosophischen Reflexionen, die sowohl Schwester als auch Bruder überfordern mussten, bemüht er sich, seine beruflichen Probleme sachlich zu begründen. Ein in jeder Hinsicht unvergleichlicher Briefwechsel entwickelt sich zwischen Hölderlin und seiner einzigen Liebe Susette Gontard (1769–1802), die sich als verheiratete Bankiersgattin in eine Liaison dangereuse mit dem Hauslehrer ihrer Kinder einließ. Die letztendliche Unmöglichkeit dieses Liebesverhältnisses generierte Briefe, die nach ihrer Veröffentlichung im 20. Jahrhundert zum Goldstandard des europäischen Liebesbriefes avancierten. Erst der Tod Susette Gontards setzte diesem paradigmatischen Briefwechsel ein Ende (vgl. Brauer 2002).

4 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Schellings umfangreicher Briefwechsel ist keineswegs wie der Kants rein funktional auf wissenschaftspolitische oder -theoretische Interessen ausgerichtet. Vielmehr zeigen schon die frühen Briefe an Fichte und/oder Friedrich Immanuel Niethammer, einen der bedeutendsten Wissenschaftsorganisatoren des philosophischen Frühidealismus und der Frühromantik, dass Schelling sein Selbstverständnis als aufstrebendes Genie des Philosophie- und Wissenschaftsbetriebes forsch und gezielt inszenierte. Dabei betreibt er mit den zumeist mitgeschickten Freiexemplaren seiner Publikationen mehr Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache als Netzwerkarbeit. Dieses Interesse an seinen Briefen beginnt erst nach den ersten Entwürfen zur Naturphilosophie und seinem Ruf an die Universität Jena 1798. Seither sucht er in Briefen an Schiller und Goethe, an Friedrich August Carus oder August Wilhelm Schlegel seinen neuen Ausgang der Philosophie in die Natur als in sich unterschiedenen und geordneten Organismus zu erläutern und zu legitimieren. Vor allem in seinen Briefen an Goethe zeigt sich sein großes Talent, komplexe Sachverhalte seiner Philosophie der Natur mit den Kompetenzen des Adressaten zu vermitteln. Zwischen 1800 und 1803 zeigt sich aber auch, dass Schelling den Brief als Instrument der akademischen Auseinandersetzung einschließlich des Intrigenspiels zu verwenden weiß. Im Zusammenhang einer offensiven Publikationspolitik sucht er den Streit mit Fichte um die Originalität der je eigenen Konzeptionen durch eine aktive Epistolarstrategie zu ergänzen. Neben Schreiben an Goethe, Christoph Wilhelm Hufeland und August Wilhelm Schlegel richtet er auch Briefe direkt an den Konkurrenten.

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Nach seiner Berufung nach Würzburg weitet er seinen Briefwechsel vor allem auf seine Anhänger und Schüler aus, die die von ihm nunmehr auch auf die empirische Naturforschung ausgedehnte Naturphilosophie in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit und an den Universitäten durchsetzen sollen. Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866), Carl August von Eschenmayer (1768–1852) oder Andreas Röschlaub (1768–1835) arbeiten nicht nur an den Jahrbüchern für Medicin, sondern sind auch in ständigem Briefverkehr mit dem Schulhaupt der sich ausbreitenden Philosophie der Natur. Mit erheblichem Erfolg sucht Schelling dabei weiterhin regelmäßigen Kontakt zu den Geistesgrößen der Zeit wie Goethe, Hegel oder Wilhelm von Humboldt. Insgesamt dokumentiert dabei Schellings Briefstil das Selbstverständnis eines bedeutenden Wissenschaftlers und einflussreichen Wissenschaftsmanagers seiner Zeit. In seiner Münchener und Erlanger Zeit (1806 bis 1841) werden die Briefkontakte für Schelling allein deshalb wichtiger, weil seine Publikationstätigkeit sukzessive abnimmt. In einem weitgespannten Netz von Briefpartnern sucht er gegenüber Kollegen, Schülern und Konkurrenten seinen Einfluss auf den Gang der wissenschaftlichen Entwicklungen aufrechtzuerhalten  – mit insgesamt mäßigem Erfolg, seit den 1820er Jahren muss er den Siegeszug der Philosophie Hegels hilflos kommentieren. Schellings Briefwechsel dieser späten Jahre ist allerdings erst spärlich ediert. Eine Besonderheit ist zweifelsohne sein Briefwechsel mit Caroline Schelling, der seine durchaus private und literarisch gebildete Seite zeigt.

5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel Hegels Briefwechsel zählt neben dem Fichtes zu den umfangreichsten Epistolarkorpora des Idealismus. Dabei ist der freundschaftliche Briefverkehr mit Hölderlin und Schelling in den 1790er Jahren der bekannteste (vgl. Jaeschke 22010, 21–22). Gleichwohl hat Hegel sein Leben lang regelmäßig Briefe verfasst, wobei seine Treue zu einzelnen Adressaten und Adressatinnen besonders auffällig wirkt: mit Friedrich Immanuel Niethammer wechselt er über Jahrzehnte zum Teil ausführliche Episteln. Auch mit dem Verlegerehepaar Carl Friedrich Ernst und Johanna Frommann hält er über lange Jahre Kontakt. In seinen Briefen an die zunächst psychisch labile, hernach psychopathologische Schwester sowie in seinen Briefen an seine Frau zeigen sich auch private Seiten des Philosophen. Schon in seinen Briefen aus Jena zeigt sich aber auch der Philosoph Hegel, der seine Briefe mehr als seine Freunde zu Mitteilungen aus seiner wissenschaftlichen ‚Werkstatt‘ nutzt. Der intensive Austausch mit Schelling und Niethammer

5.13 Korrespondenzen der Idealisten (Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Hölderlin) 

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charakterisiert den noch weithin unbekannten Privatdozenten aber auch in Angelegenheiten seiner Personalpolitik engagiert. Zu Goethe sucht er regelmäßigen Kontakt. Hegel kommentiert aber auch die turbulenten politischen Ereignisse, berühmt ist sein Kommentar zum Einzug Napoleons in Jena: „[D]en Kaiser  – diese Weltseele – sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten; – es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergereift und sie beherrscht.“ (Hegel an Niethammer, 18.10.1806, Hegel 1969/81, Bd. I, 120) Hegel kommentiert aber neben den philosophischen Entwicklungen der Zeit auch weiterhin in zum Teil drastischen Worten die politischen Geschehnisse des frühen 19. Jahrhunderts. Schon 1818 reagiert er bissig auf den öffentlichen Antisemitismus und die Xenophobie der erstarkenden Burschenschaften. Hegel hält dabei auch ab 1818 von Berlin aus seine persönlichen und beruflichen Kontakte nach Nürnberg und Heidelberg. Während seiner Berliner Zeit, die den erheblich zunehmenden Einfluss seiner Philosophie auf sein Fach, aber auch auf andere Wissenschaften, auf die Kultur und die Künste dokumentiert, weitet sich sein Briefverkehr insbesondere auf politische Bekanntschaften aus. Der intensive Briefwechsel mit dem preußischen Kulturminister Karl Sigmund Franz Freiherr vom Stein zum Altenstein zeigt den Philosophen als ebenso geschickten wie aktiven Wissenschafts- und Kulturpolitiker (vgl. Jaeschke 22010, 45; Fulda 2003, 284–290), was ihm allerdings – zu Unrecht – den Ruf eines Philosophen des preußischen Absolutismus einbrachte. Die zugleich ausführlichen Briefwechsel mit seiner Frau und vielen Schülern dokumentieren, dass Hegel zu einem variantenreichen, teils ausnehmend bissigen Briefstil fähig war.

Zitierte Literatur Brauer, Ursula (2002). Hölderlin und Susette Gontard. Frankfurt a. M. Euler, Werner u. Gideon Stiening (1995). „‚… und nie der Pluralität widersprach?ʻ Zur Bedeutung von Immanuel Kants Amtsgeschäften“, in: Kant-Studien, 85.1: 54–69. Fichte, Johann Gottlieb (21986). Briefe. Hg. v. Manfred Buhr. Berlin. Fichte, Johann Gottlieb (1962–2011). Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hg. v. Reinhard Lauth, Erich Fuchs u. Hans Gliwitzky. 42 Bde. Bd. III.1–8: Briefe. Stuttgart-Bad Cannstatt. Fulda, Friedrich (2003). Georg Wilhelm Friedrich Hegel. München. Guyer, Paul (2006). Kant. New York. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1969/81). Briefe von und an Hegel. Hg. v. Johannes Hoffmeister u. Friedrich Nicolin. 4 Bde. Hamburg.

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Björn Spiekermann

5.14 ‚Philosophische Briefe‘ (‚Ästhetische Briefe‘/‚Literarische Briefe‘) als Genre des 18. Jahrhunderts 1 Überblick Im 18. Jahrhundert erlebt die Form des Briefs eine bis dahin beispiellose Konjunktur nicht nur im Bereich der privaten Korrespondenz, sondern auch in der gerade im Entstehen begriffenen literarischen Öffentlichkeit. Beinahe zeitgleich zur Gellert’schen Reform des Privatbriefs bewährt sich der Brief auch in uneigentlicher Verwendung (vgl. Nickisch 1991, 19–22), oftmals unter dem Vorwand einer fingierten Kommunikationssituation, seit der Jahrhundertmitte auch als vergleichsweise zwangloses, Unterhaltung und Belehrung ohne systematischen Anspruch verbindendes Medium der Information, Reflexion oder gar polemischen Agitation über Gegenstände von allgemeinem Interesse. Zumeist in Form von längeren Brieffolgen in Buchform publiziert, entstehen so thematisch gebündelte oder durch eine Reisefiktion geographisch perspektivierte Sammlungen von Betrachtungen diversen Inhalts. Ähnlich wie der Essay bezieht diese Gebrauchsform ausweislich zahlreicher Vorreden ihren Reiz und ihre Rechtfertigung vornehmlich aus der Abgrenzung gegenüber der thematisch stärker eingegrenzten, systematisch und methodisch streng durchgeführten akademischen Abhandlung, die sich zudem an ein spezifisches Publikum richtet. Einige dieser Brieffolgen gehören bis heute fest zum literarischen Kanon. Bekannte Beispiele für den deutschen Sprachraum bilden die Briefe, die neueste Litteratur betreffend (1759–1765) von Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn oder Friedrich Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen (1795). Es handelt sich jedoch nur um die Spitze eines gattungsgeschichtlichen Eisbergs, der bislang allenfalls versuchsweise umrissen und, nicht zuletzt aufgrund der Schwierigkeit der Abgrenzung gegenüber verwandten Formen, bei weitem nicht vollständig dokumentiert ist (die beste Übersicht bei Nickisch 1991, 107–157). Allein für den Bereich der politischen Publizistik wurden über den Zeitraum von 1700 bis 1920 über 1.600 Beispiele für fingierte Briefe politisch-satirischen Inhalts, mit einem quantitativen Schwerpunkt in der Mitte des 19.  Jahrhunderts, ermittelt (vgl. Rogge 1966, 11–12). Von einer eingehenderen Erfassung und Erforschung dieser literarischen Gebrauchsform lassen sich wichtige Detailkenntnisse zur Geschichte der Essayistik und des Journalismus, aber auch zum oft mehr postulierten als dokumentierten Strukhttps://doi.org/10.1515/9783110376531-077

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turwandel der Öffentlichkeit erhoffen, nicht zuletzt zur bildungs-, buchhandelsund allgemein gesellschaftsgeschichtlich relevanten Schwerpunktverlagerung von der späthumanistischen Gelehrtenrepublik zum gebildeten Lesepublikum seit der Frühaufklärung oder kurz: von der gelehrten zur literarischen Öffentlichkeit (vgl. Bosse 2012).

2 Systematische Perspektiven Auch wenn die Textsorte durch die Briefform relativ klar definiert ist, lassen sich zahlreiche Analogien und Übergänge zu anderen Gattungen und Formen ausmachen. Zunächst einmal können publizistische Brieffolgen sinnvoll von Briefsammlungen unterschieden werden (vgl. Nickisch 1991, 107–113), bei denen zuvor als Privatbriefe, also in ‚eigentlicher‘ Verwendung konzipierte Texte eines oder mehrerer Autoren in einer bestimmten Auswahl der Öffentlichkeit präsentiert werden. So wurden vom 16. bis zum 18. Jahrhundert Briefe prominenter Reisender  – nicht zuletzt der großen Entdecker  –, aber auch bedeutender Gelehrter ediert; insbesondere gegen Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts wurden so die Leistungen des europäischen Späthumanismus (z.  B. Joseph Juste Scaliger, Gerardus Joannes Vossius, Hermann Conring) in bis heute unverzichtbaren Editionen dokumentiert (vgl. dazu die Volltextsammlung CERA im Rahmen des DFGDigitalisierungsprojekts CAMENA). Die derartigen Sammlungen eigenen Vorzüge der thematischen Offenheit und Vielfalt, der zwanglosen Verbindung von akademischem Wissen und persönlichem Kommentar in Texten überschaubaren Umfangs machten sich bald auch andere Autoren zunutze, indem sie Briefsammlungen mit fingierten Verfassern oder Empfängern herausbrachten. In einzelnen Fällen können Briefsammlungen auch den Charakter von Zeitschriften annehmen, so bereits die Aufgefangenen Brieffe, welche zwischen etzlichen curieusen Personen über den ietzigen Zustand der Staats– und gelehrten Welt gewechselt worden (Leipzig 1700–1703) und insbesondere August Ludwig Schlözers Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts (1776–1782). Hier verbürgt die Briefform sowohl Perspektivenreichtum als auch Augenzeugenschaft und somit Verlässlichkeit. Zur Vorgeschichte der publizistisch genutzen Brieffolge gehören Gemeindebrief, Sendbrief und Sendschreiben (vgl. Nickisch 1991, 119–122), auch Offene Briefe, die an reale Empfänger gerichtet sind, dafür aber häufig genug anonym erscheinen. Einzelbriefe oder mehrere Briefe ursprünglich privater Natur begegnen darüber hinaus nicht selten als Anhang zu Traktaten oder Abhandlungen. So ergänzt der Aufklärungstheologe Johann Joachim Spalding 1755 die Überset-

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zung eines englischen Lehrdialogs (Richtige Vorstellung der Deistischen Grundsätze in zwo Unterredungen zwischen einem Zweifler und einem Deisten) um einen „Anhang einiger Briefe, welche den Streit über die Religion betreffen“ (Spalding 1755, 150–184). Hinsichtlich der fingierten Kommunikationssituation steht die Brieffolge überdies in einer Entsprechung zum Dialog. Insbesondere bei politisch brisanten Themen bietet sie dem als Herausgeber auftretenden Autor die Möglichkeit, sich von Aussagen des oder der Briefschreiber zu distanzieren. Ein enger Zusammenhang bis hin zu genuinen Überschneidungen besteht ferner zur Reiseliteratur; die Fiktion der Mitteilung an räumlich entfernte Leser*innen bleibt in vielen Brieffolgen  – etwa in den Literaturbriefen Lessings und seiner Mitstreiter – noch erhalten und wird dort gewöhnlich in einer Vorrede oder im ersten Brief kurz entfaltet. Von zentraler Bedeutung ist schließlich die funktionale und stilistische Nähe zur Essayistik, die sich im deutschen Sprachraum erst spät unter der Bezeichnung „Versuche“ oder sogar „Essays“ einbürgert (Haas 1969, 18–19). Die Verwandtschaft zwischen Essay und Brief wird auch in der Essayistikforschung immer wieder betont (vgl. Jander 2008, 35–39, mit Lit.). Ohne Zweifel bilden, neben Zeitschriftenartikeln und der unter dem Titelbestandteil „Betrachtungen“ firmierenden Traktatliteratur für die Jahrzehnte vor und nach 1750 die „Briefe über…“ einen maßgeblichen deutschen Beitrag zur Gattungsgeschichte des Essays (vgl. Nickisch 1991, 170–177), je nachdem, welche Definitionskriterien angelegt werden. Wie schon aus den bisher genannten Beispielen hervorgeht, lässt sich das weite Feld der Brieffolgen nach thematischen, formalen oder pragmatisch-funktionalen Gesichtspunkten gliedern. Nickisch schlägt eine kombinierte Typologie vor (vgl. Nickisch 1991, 119–157), die den graduellen Übergang von der eigentlichen oder primären zur uneigentlichen Verwendung der Briefform (vgl. Nickisch 1991, 19–22) nachzeichnet. Außer dem gut abgrenzbaren Bereich der Reisebriefsammlung (vgl. Nickisch 1991, 113–119) unterscheidet er zunächst zwischen informierend-werbenden, belehrenden und essayistischen Brieffolgen. Dabei kommt neben dem zentralen Kriterium der Wirkungsintention (Information, Belehrung) der Gesichtspunkt der experimentell-unabgeschlossenen Gedankenentwicklung ins Spiel (vgl. Nickisch 1991, 128–130, 170–177). Dort, wo Brieffolgen zum Medium der öffentlichen Auseinandersetzung, etwa auch zum Bestandteil größerer Streitensembles, werden, bietet Nickisch zusätzlich die Unterscheidung zwischen gelehrter oder ästhetischer (vgl. Nickisch 1991, 130–140) und politisch-sozialer bzw. religiöser Kritik (vgl. Nickisch 1991, 140–157) an. Mit dieser Aufteilung orientiert er sich, auch ganz explizit (vgl. Nickisch 1991, 141), an dem von Jürgen Habermas entwickelten Strukturmodell literarischer Öffentlichkeit, das die Sphäre der literarisch-ästhetischen Kritik und die öffentliche Verhandlung moralisch-pädagogischer Themen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowie ihre

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Fortsetzung in der öffentlich geführten Diskussion über politische Themen als Vorstufe demokratisch-parlamentarischer Partizipation begreift (vgl. Habermas 1962, 50–70). Als schriftliche Mitteilung an eine*n räumlich entfernte*n Empfänger*in bringt der Brief ideale Voraussetzungen für alle Arten der informierenden oder belehrenden Darstellung mit. Der oft, aber beileibe nicht immer genutzte Gestus der vertraulichen Mitteilung gestattet darüber hinaus Reflexionen, Kommentare und Urteile aus einer subjektiven Perspektive. Als punktuelle, anlassgebundene Äußerung von Gedanken oder Eindrücken über eine begrenzte Textlänge hinweg erhebt der Brief keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder methodische Genauigkeit. Eben hier liegt auch die schon erwähnte Gemeinsamkeit mit dem Essay. Insofern wird es auch kein Zufall sein, dass die Spielart der fiktionalen Brieffolge erst in Zeiten eines programmatisch verschärften Methodenbewusstseins, nämlich gegen Ende der Frühaufklärung (ca. 1740), breitere Verwendung findet. Der rollenhafte Charakter der zumeist fingierten Briefschreiber*innen und -empfänger*innen kann überdies, oftmals unterstützt durch kulturelle oder geschichtliche Distanz, für Verfremdungseffekte genutzt werden, die ebenso komisch-satirische wie polemisch-kritische Wirkungen zu entfalten vermögen. Schon in den Augen von Zeitgenoss*innen bildet das entscheidende Merkmal der Briefform – auch bei uneigentlicher Verwendung – die zwanglose Gedankenfolge, die ‚lebhafte‘ Schreibart, mit der sich die Briefform von der ‚dogmatischen Schreibart‘, d.  h. dem systematischen Aufbau in Bücher, Kapitel und Paragraphen nach den Vorgaben der Schulphilosophie abhebt. Dieser Gesichtspunkt wird in zahlreichen Vorreden zu publizierten Brieffolgen, aber auch in Rezensionen oder anderen Quellen, immer wieder hervorgehoben. So leitet Johann Christoph Gottsched die in Briefform abgefassten Pensées diverses sur la comète (1683) des französischen Philosophen Pierre Bayle anlässlich seiner deutschen Übersetzung von 1741 mit der Bemerkung ein: „Die ungezwungene Art seine Gedanken zu entwerfen die in Briefen billig herrschen muß, schien ihm daher am bequemsten, seine Absicht zu erreichen. Er dichtete sich also einen Doctor von der Sorbonne zu Paris, an den er seine Gedanken richten, und sie in Gestalt der Briefe abfassen könnte. Hierdurch erhielt er nun die beste Gelegenheit, auf eine ungebundne Art alles zu sagen, was ihm bey dieser Sache anmuthiges und lehrreiches einfiel.“ (Gottsched 1980, 76–77) Dagegen betont Herder ein halbes Jahrhundert später weniger stilistischrhetorische als psychologisch-charakterliche sowie geschmackstheoretische Vorzüge der Briefform. In seinen Briefen zur Beförderung der Humanität (1793– 1795), geschrieben unter dem Eindruck der Französischen Revolution, kehrt er besonders das Merkmal der Subjektivität heraus und weist nachdrücklich auf die Ursprünge des publizistischen Briefs in der privaten Mitteilung hin. Sofern die

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Briefform dadurch auch unter die Werke des guten Geschmacks gehöre, begünstige sie, gerade in Zeiten politischer Polarisierung, die Ausbildung und Artikulation „milde[r] Gesinnungen“. Die Ähnlichkeiten zu Schillers Konzept der ästhetischen Erziehung sind unübersehbar. Statt wie bisher über „gelehrte Urteile, Trivialitäten oder Romane“ möchte Herder deswegen die Briefform nach dem Vorbild der Engländer und Franzosen nun auch in Deutschland stärker für politische Inhalte genutzt wissen. Denn: „In Briefen an Freunde schüttete mancher sein Herz aus, wie er es in Schriften zu tun nicht wagte, und die Briefgestalt selbst ward zur glücklichen Form, milde Gesinnungen über einzelne Vorfälle sowohl als über Lehren und Personen Freunden oder dem Publikum verständlich zu machen und ans Herz zu legen.“ Gerade unter dem Gesichtspunkt der Subjektivität kann auch Herder im Weiteren den Brief, als dialogisch-dialektische Äußerung von Gedanken und Empfindungen, gegen „Abhandlung“ oder „Deduktion“ abgrenzen (Herder 1991, 293).

3 Hinweise zur Gattungsgeschichte im 18. Jahrhundert Bei aller potentiellen Offenheit der Gattung für verschiedenste Inhalte lassen sich doch gewisse thematische Zentren ausmachen. Verengung und Auswahl des Themenspektrums deuten dabei auf den schon erwähnten Übergang von der gelehrten zur literarischen Öffentlichkeit hin. Mit aller nötigen Vereinfachung können folgende thematische Schwerpunkte gebildet werden: (1) Theologie und Religion, (2) Literatur und schöne Künste, (3) Naturkunde und Populärwissenschaft, (4) Philosophie und Ethik, (5) Ökonomie, Haushaltsführung und Erziehung, (6) Politik. (7) Der Rahmen des Reiseberichts, ob nun authentisch oder fiktional, kommt sowohl als formales wie als inhaltliches Moment in Betracht und lässt sich daher nur schwer als separates Thema bestimmen. Im 17. und frühen 18. Jahrhundert wird der zumeist fiktionale Rahmen des Reiseberichts oder der privaten Schreibsituation noch sehr stark betont. Das dürfte zum einen strategische Gründe gehabt haben, nämlich den Blick auf Zensur oder andere obrigkeitliche Repressalien. Zugleich steht jedoch die Reisefiktion für schonungslose Offenheit unter dem Deckmantel der vertrauten Mitteilung wie für die entlarvende Perspektive des fremden Blicks. So nutzte schon Blaise Pascal in den Lettres à un Provincial (1656/57) die Briefform für antijesuitische Moralsatire und eine Persiflage auf die kasuistische Methodik des Ordens. Auf Pierre Bayles Pensées diverses sur la comète (1682/83), eine der kontroversesten Schriften des späten 17. Jahrhunderts, wurde bereits oben hingewiesen. Montesquieu schließ-

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lich wählte in seinen romanhaft-narrativ angelegten Lettres persanes (1721) die Perspektive zweier reisender Perser, um die intellektuellen, politischen und sittlichen Verhältnisse in Frankreich unter dem Vorwand einer naiv-phänomenologischen Betrachtung in ein satirisches Licht zu rücken. Das Verbot durch die Zensur ließ nicht lange auf sich warten. Während in den genannten Fällen eine fingierte Briefsituation vorliegt, finden sich ab etwa 1700 auch Belege für veritable Reisebriefe, die jedoch von Anfang an über den Charakter der privaten Mitteilung hinausreichen und die Schilderung von Reiseeindrücken zum Ausgangspunkt für kulturvergleichende Betrachtungen nehmen. Ein frühes Beispiel bilden die kurz vor 1700 auf Reisen entstandenen Lettres sur les Anglois et les François des Schweizer Offiziers Béat Louis de Muralt, die schon mehrere Jahrzehnte handschriftlich kursiert waren, bevor sie 1725 erstmals gedruckt erschienen. Mit dem Aufstieg der belles lettres seit etwa 1740 und der vor allem durch Zeitschriften umgesetzten Leserevolution an der Schwelle zur Hochaufklärung tritt die Briefform im deutschsprachigen Raum auch zunehmend als Medium ästhetisch-poetologischer sowie literaturkritischer Reflexion in den Blick. Die für die deutsche Literaturgeschichte hochbedeutende Kontroverse zwischen Gottsched und den Schweizer Literaturtheoretikern Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger fand ihren Ausdruck unter anderem in Bodmers (aus einer privaten Korrespondenz hervorgegangenem) Brief-Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmacks (1736) und seinen 1746 erschienenen Critischen Briefen. Noch 1763 veröffentlichte er mit Breitinger die Sammlung Neue critische Briefe, über ganz verschiedene Sachen von verschiedenen Verfassern. In den 1750er Jahren beginnt bereits die Phase der bedeutenden, bis heute nachgedruckten Brieffolgen aus dem Umfeld der Berliner Aufklärung: Mendelssohns Briefe über die Empfindungen (1755), Nicolais Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (1755) sowie das wohl bekannteste Muster der Gattung, die Briefe, die neueste Litteratur betreffend (1759–1765). Neben den schönen Wissenschaften steht im Zentrum der frühbürgerlichen Öffentlichkeit sicherlich die moralische und religiöse Erziehung, die bei fortschrittlichen Theologen längst die Allianz mit den Empfindungen und dem ‚guten Geschmack‘ gesucht und gefunden hat. Sie bedient sich auch früh der epistolaren Form. Hierher gehören schon Wielands Moralische Briefe in Versen (1752), aber auch Abraham Gottlob Rosenbergs Erbauliche Briefe von der Religion, zwischen einem Schlesier und einem vornehmen Manne (1753), die den Weg eines adligen Freigeists zur Bekehrung nachzeichnen, sowie die 1760 auf Englisch, 1763 auf Deutsch erschienenen Auserlesenen Briefe über verschiedene Gegenstände aus der Sittenlehre und Religion des seinerzeit geschätzten britischen Geistlichen und Schriftstellers James Hervey. Den Vorzug der gemeinverständlichen, konversationsartigen Vermittlung auch anspruchsvollerer Sachverhalte empfahl die Briefform schließlich für die

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seit 1700, verstärkt seit 1750, vor allem durch Zeitschriften realisierte Praxis der Wissenspopularisierung. Kein Geringerer als Benjamin Franklin machte seine Entdeckungen über Elektrizität in einer Folge von Briefen an den Gönner Peter Collinson publik (zuerst 1753), die 1758 in deutscher Übersetzung erschienen. Großen Anklang fanden ferner die zwischen 1759 und 1761 auf sechs Bände angewachsenen Freimüthigen Briefe über die neuesten Werke aus den Wissenschaften in und außer Deutschland sowie die Cosmologischen Briefe über die Einrichtung des Weltbaus (1761) aus der Feder des bedeutenden Mathematikers und Naturforschers Johann Heinrich Lambert. Ähnlich wie im Bereich der Zeitschriften kommt auch hier ab etwa 1770 zunehmend das weibliche Lesepublikum in den Blick, das zeigen Beispiele wie die ursprünglich auf Französisch verfassten Briefe an eine deutsche Prinzessinn über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie (31784 [1768–1772]) des berühmten Mathematikers Leonhard Euler. Gegen Ende der 1760er Jahre tritt die Briefform auch im deutschen Sprachraum allmählich in den Dienst einer politisch-kritischen Publizistik im Anschluss an die oben genannten Brieffolgen Muralts, Montesquieus und Voltaires. Von Berlin aus sorgte der bald darauf höchst einflussreiche Verleger Nicolai zunächst für Übersetzungen französischer Muster. Die dem Vorbild Montesquieus verpflichteten Lettres juives (1735–1737) des seit 1744 am preußischen Hof lebenden Marquis d’Argens erschienen zwischen 1763 und 1765 unter dem Titel Jüdische Briefe in Nicolais Verlag. Unter deutschen Autoren diente die nun auch wieder öfter als Reisebericht auftretende Briefform vor allem zwei Zwecken: Zum schon bei Montesquieu und Voltaire angelegten politisch-kritischen Kulturvergleich trat die empirisch ausgerichtete, geographisch-demographisch verfahrende Länderkunde oder ‚Statistik‘ (vgl. Ressel 2013 mit Lit.), besonders deutlich in August Ludwig Schlözers Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts (1776– 1782). So bieten etwa die Briefe eines Reisenden über den gegenwärtigen Zustand von Cassel, mit aller Freiheit geschildert (1781) kein aufklärerisches Pamphlet, sondern eine nach Sachbereichen geordnete Bestandsaufnahme der sozialen, politischen, technischen, militärischen und kulturellen Infrastruktur der nordhessischen Residenzstadt. In anderen Bereichen wie Literaturkritik, Theologie und Philosophie kam dagegen die Briefform auch in den 1780er und 1790er Jahren zunehmend ohne die Reisefiktion aus. Hatte Schiller schon in den Philosophischen Briefen (1786) mit der epistolaren Form experimentiert, bildeten die Briefe über den Don Karlos (1788) und seine Brieffolge Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) Höhepunkte der politischen und literarisch-ästhetischen Essayistik in Deutschland. Auf die berühmten Briefe zur Beförderung der Humanität (1793–1797) wurde bereits hingewiesen. In Briefform meldeten sich auch bedeutende Vertreter der Aufklärungstheologie zu Wort, so Johann Joachim Spalding mit seinen Vertrauten

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Briefen, die Religion betreffend (1784) und Johann Salomo Semler in den Freymü­ thigen Briefen über die Religionsvereinigung (1783). Von dort führen direkte Verbindungslinien zum jungen Friedrich Schleiermacher, der seine zu Idealismus und Romantik überleitende Schrift Ueber die Religion (1799) zwar in Form von „Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ erscheinen ließ, dann aber mit den Vertrauten Briefen über Schlegels Lucinde (1800) in die ästhetische und literaturpolitische Diskussion eingriff. Diese Beispiele zeigen schon, dass gegen Ende des aufklärerischen Jahrhunderts bedeutende epochale Auseinandersetzungen in Gestalt von Brieffolgen geführt wurden. In Briefform begann etwa die Auseinandersetzung über Lessings vermeintlichen Spinozismus, der sogenannte Pantheismusstreit, als Friedrich Heinrich Jacobi 1785 seine Schrift Ueber die Lehre des Spinoza, in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn erscheinen ließ. Zu einer auffälligen Häufung von Brieffolgen kam es schließlich seit Ende der 1780er Jahre im Prozess der Etablierung und Durchsetzung der Kantischen Philosophie. Hier übernahm die epistolare Form einmal mehr die Funktion der gemeinverständlich einführenden Darstellung, prominent etwa in Karl Leonhard Reinholds Briefen über die Kantische Philosophie (1790/92), die in den ersten Briefen zugleich ein sehr lesenswertes intellektuelles Panorama der Zeit im Übergang von Spätaufklärung zum Idealismus entwerfen. Unter Hinwendung zum weiblichen Lesepublikum ließ Georg Ludwig Bekenn seine Einführung Ueber die Kantische Philosophie mit Hinsicht auf gewisse Bedürfnisse des Zeitalters (1791) in zwölf „Briefen an Emma“ erscheinen. In seinem darin verfolgten Bestreben, die Unbedenklichkeit der kritischen Philosophie hinsichtlich der Religion zu erweisen, war ihm bereits Johann Friedrich Flatt mit seinen Briefen über die moralische Erkenntnisgrund der Religion überhaupt, und besonders in Beziehung auf die Kantische Philosophie (1789) vorausgegangen. Die gleiche Motivation prägt unter anderem auch noch die Briefe über den Atheismus (1796) des Kantianers Karl Heinrich Heydenreich.

4 Ausblick Gemessen an der bibliographischen Aufarbeitung allein der politisch gebrauchten fingierten Brieffolge, erreicht deren Gebrauch seinen quantitativen Höhepunkt erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts (vgl. Rogge 1966, 11–12). Vor dem Hintergrund der generellen Zunahme von Druckschriften lässt sich dieser Befund freilich wieder relativieren. Intensiv wird die publizistische Briefform von jungdeutschen, aber auch von anderen Autoren verwendet (vgl. Nickisch 1991, 116–117,

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136–137). Briefe aus Berlin (Heinrich Heine), Paris (Ludwig Börne, Karl Gutzkow) oder London (Theodor Mundt) stehen neben Hermann von Pückler-Muskaus Semilasso in Afrika (1836) und Ida Gräfin Hahn-Hahns Orientalischen Briefen (1844). Briefe über das Theater in Frankreich (Heine) oder Deutschland (Heinrich Laube) kommen ebenso vor wie Literaturbriefe in Anlehnung an Lessing, die sowohl von ehemaligen jungdeutschen Autoren (Gutzkow) wie von ihren Gegnern (Gotthard Oswald Marbach) verfasst werden, oder Politische Briefe (Laube). Eine Reminiszenz an die „belehrenden Brieffolgen“ (Nickisch 1991, 122–128) des 18. Jahrhunderts bilden noch Justus Liebigs Chemische Briefe (1844 u. ö.) sowie die Physiologischen Briefe (41879 [1846]) des Altachtundvierzigers und erfolgreichen Autors populärwissenschaftlicher Schriften Carl Vogt. Im 20. Jahrhundert zieht sich die Briefpublizistik wieder weitgehend in den politischen (vgl. Rogge 1966, 199–213) und ästhetisch-literarischen Bereich zurück. In Herbert Rosendorfers Briefen in die chinesische Vergangenheit (1983) meldet sich noch einmal die von Montesquieu begründete Tradition der epistolaren Kulturkritik zurück.

Zitierte Literatur Bosse, Heinrich (2012). „Gelehrte und Gebildete – die Kinder des 1. Standes“, in: Ders. Bildungsrevolution 1770–1830. Hg. mit einem Gespräch v. Nacim Ghanbari. Heidelberg: 327–350. Gottsched, Johann Christoph (1980). Ausgewählte Werke. Hg. v. Joachim Birke. Bd. X/1. Berlin u. New York. Haas, Gerhard (1969). Essay. Stuttgart. Habermas, Jürgen (1962). Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied. Herder, Johann Gottfried (1991). Werke in zehn Bänden. Bd. 7: Briefe zur Beförderung der Humanität. Hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt a. M. Jander, Simon (2008). Die Poetisierung des Essays: Rudolf Kassner, Hugo von Hofmannsthal, Gottfried Benn. Heidelberg. Nickisch, Reinhard M. G. (1991). Brief. Stuttgart. Ressel, Andrea (2013). „‚Von den Einwohnern, ihrer allmähligen Vermehrung, jetzigen Anzahl und Eintheilung‘. Demographische Reflexionen in Friedrich Nicolais Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam im Vergleich mit Johann Peter Süßmilchs Göttlicher Ordnung“, in: Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung. Hg. v. Stefanie Stockhorst. Göttingen: 173–187. Rogge, Helmuth (1966). Fingierte Briefe als Mittel politischer Satire. München. Spalding, Johann Joachim (1755). Richtige Vorstellung der Deistischen Grundsätze in zwo Unterredungen zwischen einem Zweifler und einem Deisten. Leipzig.

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Online-Quellen Corpus Epistolicum Recentioris Aevi (CERA)/Corpus Automatum Multiplex Electorum Neolatinitatis Auctorum (CAMENA) (2006–2009): http://mateo.uni-mannheim.de// camenahtdocs/cera_e.html (27.11.2019).

Weiterführende Literatur Steinsieck, Wolf (1975). Die Funktion der Reise- und Briefliteratur in der Aufklärung untersucht am Beispiel der ‚Lettres chinoises’ des Marquis d’Argens. Aachen. Weißhaupt, Winfried (1979). Europa sieht sich mit fremdem Blick: Werke nach dem Schema der „Lettres persanes“. Frankfurt a. M. u.  a.

Klaus Gerlach

5.15 August Wilhelm Ifflands dramaturgisches und administratives Archiv 1 August Wilhelm Iffland August Wilhelm Iffland wurde am 19.  April 1759 in Hannover als Sohn eines Beamten geboren und wuchs in wohlsituierten Verhältnissen auf. Im Alter von 17  Jahren verließ er heimlich das Elternhaus und folgte seiner Theaterleidenschaft. 1777 betrat er auf dem Gothaer Hoftheater unter der Leitung von Conrad Ekhof zum ersten Mal die Bühne. Als zwei Jahre später das Theater geschlossen wurde, ging er an das gerade gegründete Mannheimer Nationaltheater, wo er als Schauspieler, Theoretiker der Schauspielkunst und als Dramatiker schnell Ruhm erlangte. In Mannheim wurde er bei der Uraufführung von Friedrich Schillers Die Räuber als Franz Moor bekannt. Im April 1796 gab Iffland ein zweiwöchiges Gastspiel an dem von Johann Wolfgang von Goethe geleiteten Weimarer Hoftheater. Im Dezember 1796 wurde Iffland zum Direktor des 1786 gegründeten Berliner Königlichen Nationaltheaters berufen. Er reformierte es und machte es zum führenden Theater im protestantischen Raum. Madame de Staël, die Iffland 1804 mehrfach auf der Berliner Bühne sah, rühmt in De l’Allemagne sowohl seine Leistungen als Theoretiker der Schauspielkunst als auch seine überragenden Fähigkeiten als Schauspieler, die sie nicht geringer beurteilte als die der besten französischen Mimen (vgl. Staël 1968, 28–31). Das von Iffland geformte Repertoire mit den Stücken Schillers, Goethes, William Shakespeares und denen der französischen Klassik blieb über seinen Tod im Jahre 1814 hinaus maßgebend für die deutsche Bühne.

2 Das dramaturgische und administrative Archiv Das von Iffland während seiner Direktionszeit angelegte dramaturgische und administrative Archiv des Berliner Königlichen Nationaltheaters enthält außer Briefen auch Dokumente. Das Archiv war in erster Linie ein Arbeitsinstrument. Es war für Iffland ein Hilfsmittel zur Schaffung von Ordnung, in dem er sämtliche Briefe an ihn bzw. Abschriften oder Entwürfe von ihm, die im Zusammenhang mit der Theaterleitung standen, ablegen ließ. Das Archiv enthält Ifflands amtliche https://doi.org/10.1515/9783110376531-078

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Korrespondenz mit Einschluss seiner dramaturgischen Dokumente, die zum Teil Beilagen der Briefe waren. Der amtliche Charakter des Archivs wird durch seinen Überlieferungszusammenhang bestimmt. Die bewusste Ablage von Briefen und Schriftstücken in ein privates oder amtliches Faszikel ist für ihre Zuordnung maßgeblich (vgl. Schmid 1986). Damit unterscheiden sich diese Schreiben von Ifflands privaten Briefen, wie etwa denen an seine Schwester und Familie (vgl. Geiger 1904, 1905), sowie den für den König bzw. das Finanzdepartement bestimmten Verwaltungsakten mit den jährlichen Etatabrechnungen (vgl. Gerlach 2015, 12). Mit Hilfe des Archivs waren die darin aufbewahrten Schriftstücke jederzeit wieder einsehbar. Das Archiv ermöglichte Iffland, die komplexen Abläufe am Theater zu dokumentieren und zu kontrollieren. Das war notwendig, denn für das Theater arbeiteten über 100 Personen mit einer festen Anstellung, dazu kamen Handwerker und Lieferanten. Der Etat des Theaters betrug um 1800 über 100.000 Reichstaler. Die effiziente Archivierung seiner amtlichen Korrespondenz und seiner Dokumente war Grundlage der Funktionsfähigkeit der Institution. Wohl aus diesem Grund ist das Archiv nicht nur chronologisch, sondern auch systematisch strukturiert. Auf dem Rücken jedes Bandes sind Etiketten mit Jahreszahlen und einem Inhaltsverzeichnis aufgeklebt. Auf diese Weise konnte der Direktor schnell auf einen bestimmten Brief und ein bestimmtes Dokument zugreifen. Innerhalb der systematischen Ordnung finden sich u.  a. folgende Themen: Abonnements, Engagements, Gastrollen, Gratifikationen, Instruktionen zu den Rollen, Korrespondenzen, Manuskripte, Orchester, Pensionsanstalt. Indem es die Formung der Schauspieler- und Musikerensembles, die Beschaffung der Stücke, die Erarbeitung der Aufführungen, die Entstehung der Dekorationen und Kostüme sowie die verschiedensten Verwaltungsabläufe dokumentiert, ist das Archiv das Gedächtnis der Iffland-Bühne. Alle im Archiv gesammelten Materialien beziehen sich auf Ifflands Tätigkeit als Direktor des Berliner Königlichen Nationaltheaters. Die Bedeutung des Archivs ergibt sich aus zwei Besonderheiten der Iffland’schen Direktion: Zum einen war Iffland sowohl künstlerischer als auch verwaltungstechnischer Leiter der Bühne der preußischen Hauptstadt. Zum Vergleich: in Weimar teilten sich diese Aufgaben Goethe und Franz Kirms. Der Kammerrat Kirms kümmerte sich in Weimar um die finanziellen und verwaltungstechnischen Aufgaben. In Berlin ist beinahe jedes Schriftstück an Iffland gerichtet oder von ihm verfasst. Fast alle Briefe tragen zudem einen handschriftlichen Antwortvermerk von Iffland, der seinem Sekretär dazu diente, die Antwort zu verfassen und diese zugleich für das Archiv zu dokumentieren. Die eigenhändig vorgenommenen Antwortvermerke belegen, dass sich der Direktor für alles persönlich verantwortlich fühlte und es auch war. Zudem war Iffland nicht nur Direktor, sondern gleichzeitig prominentestes Mitglied des Schauspielensembles, das

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auf allen bedeutenden Bühnen im Deutschen Reich Gastspiele gab, und populärer Theaterautor, dessen Stücke ebenfalls auf allen Bühnen gespielt wurden. Ifflands Direktionstätigkeit wurde demzufolge von den Zeitgenossen nicht losgelöst von seinem Wirken als Schauspieler und Bühnenautor gesehen. Die Briefe und Dokumente zeigen somit die Verbindungen auf, die die Mehrzahl der deutschsprachigen Theater zu Iffland als Schauspieler und Autor sowie zu Iffland, dem Direktor der Berliner Bühne, gleichermaßen haben. Der große Umfang und die Tatsache, dass aus jedem Jahr von Ifflands Direktionszeit Briefkonvolute vorhanden sind, machen das Archiv zu einem wichtigen Zeugnis der Geschichte des deutschen Theaters um 1800.

3 Geschichte des Archivs Über den Verbleib des Archivs unmittelbar nach Ifflands Tod ist wenig bekannt. Erstmals wird es indirekt von Franz Dingelstedt im Vorwort von Johann Valentin Teichmanns Literarischem Nachlaß im Jahr 1863 erwähnt (vgl. Dingelstedt 1863). Teichmann wurde unter Ifflands Nachfolger, Karl Moritz von Brühl, Sekretär der Generalintendantur des Theaters. Im Vorwort zu Teichmanns Monographie und Briefsammlung zitiert Dingelstedt aus einem Schreiben Ludwig Tiecks an Teichmann. In ihm wird Teichmann aufgemuntert, mit Hilfe der „interessante[n] Briefe von vielen merkwürdigen und großen Autoren“ (Dingelstedt 1863, IX) eine Theatergeschichte zu verfassen. Tatsächlich werden dann in Teichmanns Literarischem Nachlaß Briefe aus Ifflands und Brühls Direktionszeit abgedruckt. Viele der bei Teichmann abgedruckten Briefe aus Ifflands Direktionszeit sind heute verschollen. Das gilt z.  B. für die Briefe von Friedrich Schiller an Iffland. Andere Briefe, wie die von Zacharias Werner oder August Wilhelm Schlegel, sind, zumindest teilweise, im Archiv erhalten geblieben. Teichmann ist zwar der erste, der das Archiv erwähnt, jedoch war es schon lange vorher der Forschung bekannt. Frühe Spuren der Benutzung finden sich 1827 in einer Dokumentation zu E. T. A. Hoffmann, in der Briefe von Fontano (Franz Ignaz von Holbein) an Iffland aus dem Archiv abgedruckt wurden (vgl. Müller 1927, 82–83). Von Louis Schneider erschien 1852–1854 eine Aufsatzfolge mit vielen Briefen von und an Iffland, die im Zusammenhang mit dessen Direktionstätigkeit stehen. Schneider nennt keine Quelle, erwähnt nur, dass die gedruckten Briefe aus verschiedenen Quellen stammten. Einige Briefe aus Schneiders Abdruck stammen mit Sicherheit aus dem Archiv. Schneider, der selbst Schauspieler am Berliner Theater und später Vorleser Friedrich Wilhelms IV. war, galt als einer der besten Kenner der Berliner Theatergeschichte. Ein weiterer Beleg

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dafür, dass das Archiv noch im 20. Jahrhundert genutzt wurde, ist eine Edition von Briefen Zacharias Werners, in der Briefe, die aus dem Archiv stammen, ediert wurden (vgl. Floeck 1914). Wo die Iffland-Sammlung bis zur Gründung des Berliner Museums der Preußischen Staatstheater 1929 aufbewahrt wurde, ist nicht bekannt. Es hat vor dieser Zeit mindestens drei Standorte gegeben, an denen archivalische Materialien des Theaters aufbewahrt worden sind (vgl. Freydank 2011, Teil 1, 13). Seit 1929 befand sich das Archiv im Gebäudekomplex der Generalintendantur in der Oberwallstraße in Berlin, wo verschiedene Museumsräume hergerichtet worden waren. Georg Droescher, Archivar der Generalintendanz und ab 1929 erster Leiter des Berliner Theatermuseums, schrieb in einem Bericht über das Archiv: „Durch das Entgegenkommen der behördlichen Instanzen […] entstand binnen kurzem eine gefällig anmutende Stätte […] bestimmt dazu, alle Archive und das neue Museum in sich aufzunehmen […]. Das Archiv, hinter dunkelgrauen Vorhängen geborgen, atmete beschauliche Ruhe“ (Droescher 1931, 5–6). In den Nachkriegswirren des Zweiten Weltkrieges gelangte das Archiv in das Verwaltungsgebäude der Staatsoper der DDR, das sich ebenfalls in der Oberwallstraße befand, und wurde von dem Theaterwissenschaftler Hugo Fetting an sich genommen und der Öffentlichkeit entzogen. Auf diese Weise wurde der Berliner Theater- und Kulturgeschichte wichtiges Quellenmaterial aus ihrer Blütezeit um 1800 für Jahrzehnte vorenthalten und die Kontinuität der bis dahin betriebenen Erforschung empfindlich gestört. Erst 2014 gelangte das Archiv wieder nach Berlin und wird seither im Landesarchiv Berlin aufbewahrt. In Kooperation mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften wird es erschlossen und ediert (vgl. Iffland 2016–).

4 Zeitliche Expansion, Umfang der ­Korrespondenz und Überlieferung Das überlieferte Archiv besteht aus 34 Foliobänden mit ca. 7.500 Blättern. Die Bände enthalten Briefe und Dokumente aus den Jahren 1787 bis 1814. In zwei Bänden sind Briefe und Dokumente aus der Zeit vor Ifflands Ankunft in Berlin aufbewahrt. Diese Bände wurden in Ifflands Auftrag angelegt, weil die darin enthaltenen Materialien für ihn Relevanz hatten. Alle Bände sind chronologisch und systematisch geordnet. Die chronologische Ordnung folgt dem jeweiligen Etatjahr, das im August begann und endete. Spielzeiten im heutigen Sinne gab es nicht, weil das Berliner Theater unter Ifflands Direktion täglich und ohne Pause spielte. Unterbrechungen des Spielbetriebs erfolgten nur bei Hoftrauer. Die Überlieferung von Bänden aus den verschiedenen Etatjahren ist sehr ungleichmäßig

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und ein Indiz dafür, dass mehrere Bände fehlen. So sind z.  B. vier Bände überliefert, in denen Briefe aus den Jahren 1798 abgelegt wurden, dagegen sind von den Jahren 1806 bis 1813 jeweils nur zwei Bände vorhanden. Innerhalb der chronologischen Ordnung gibt es zusätzlich eine mit der Ziffer 1 beginnende Zählung, die sich auf die systematische Ordnung in den Bänden bezieht. Innerhalb der Bände sind die Briefe und Dokumente systematisch geordnet. So trägt z.  B. ein Band folgende Aufschrift: „1797/98 / No 3–5/Benefice, Beschort/Briefwechsel mit v. Warsing/Fleck/Ramler/Rüthling“. Ein Band „1797/98/No 1–2“ existiert jedoch nicht. Diese Lücke ist ein Indiz dafür, dass das ursprüngliche Archiv umfangreicher war. In anderen Jahren sind die Lücken noch größer. Es fehlen jedoch nicht nur Bände, sondern innerhalb der vorhandenen Bände sind ebenfalls Verluste zu beklagen. Aus fast allen Bänden sind Blätter ganz oder teilweise herausgetrennt. Wann die Herausnahme stattgefunden hat, ist nicht mit Sicherheit zu bestimmen. So wurde z.  B. der Briefwechsel zwischen Schiller und Iffland bereits 1930 für die Ausstellung zur 125. Wiederkehr von Schillers Tod entnommen und im Theatermuseum ausgestellt (vgl. Droescher 1931, 8).

5 Die Korrespondenten und Themen Die Anzahl der Korrespondenten beträgt nach Auswertung von 21 Bänden schon über 1.100. Den Kern des Archivs bildet Ifflands Briefwechsel mit seinem Ensemble, den Autoren, Komponisten, Übersetzern, Dekorationsmalern, Theaterarbeitern, Beamten, Zuschauern sowie Direktoren und Schauspielern anderer Theater. Im Jahr 1805 bestand das Ensemble z.  B. aus 44 Schauspielern und 42 Musikern des Orchesters. Dazu kamen zwölf Personen, die im weiteren Sinne zur Direktion gehörten, und ca. 35 Theaterarbeiter wie Friseure, Garderobieren, Schneider, Logenmeister, Billeteinnehmer, Kopisten und Maschinisten. Von fast allen Personen gibt es Briefe. Als Auswahl davon seien die Namen folgender die deutsche Schauspiel- und Gesangskunst prägenden Künstlerinnen und Künstler genannt: Die Sängerinnen Margarete Luise Schick und Therese Eunicke, die Schauspielerinnen Friederike Bethmann und Henriette Hendel-Schütz, die Schauspieler Johann Friedrich Ferdinand Fleck, Heinrich Bethmann und Joseph Karl Ambrosch. Die meisten Briefe stammen vom künstlerischen Personal, die wenigsten von den Arbeitern. Doch auch von Notenkopisten und Billeteinnehmern sind einige Briefe erhalten. Demzufolge sind die in den Briefen behandelten Themen heterogen. Die Briefe sind inhaltlich miteinander verbunden, weil die Realisation des täglichen Spielbetriebs den Dreh- und Angelpunkt bildete. Von allen Schauspielern sind Briefe überliefert. Sie handeln u.  a. von Engagementsverhandlungen, von Rol-

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lenbesetzungen, Proben, Gehaltsforderungen, Krankmeldungen. In den Akten wurden auch den Spielbetrieb betreffende Dokumente aufbewahrt. Dabei handelt es sich z.  B. um Szenarien, Besetzungsverzeichnisse, Kostümlisten und Dekorationsverzeichnisse. Zu dieser Textsorte gehören auch mehrere Schriften Ifflands zum Theater und zur Schauspielkunst. Diese Dokumente waren in der Regel für das künstlerische Personal bestimmt und wurden als Zirkular an das Ensemble verteilt. In diesen Schriften entwickelte Iffland seine Auffassung von der Funktion des Theaters und von der Bedeutung der Schauspielkunst als dem wichtigsten Element der Theateraufführung. Neben diesen in dauerndem Dienstverhältnis mit dem Theater stehenden Personen gibt es noch drei Personengruppen, die sich thematisch differenzieren lassen und die verhältnismäßig stark vertreten sind: die Autoren (einschließlich der Komponisten und Übersetzer), die das Theater kontrollierenden Beamten mit dem König als oberstem Dienstherrn an der Spitze und die Zuschauer. Von den Autoren, Komponisten und Übersetzern ist eine große Zahl von Briefen im Archiv überliefert. Dabei handelt es sich um bekannte wie auch um heute wenig bekannte Autoren, Komponisten und Übersetzer, deren Werke Iffland abgelehnt hat. Zu den bekannten zählen z.  B. August von Kotzebue, Johann Friedrich Reichardt, August Wilhelm Schlegel, Georg Friedrich Treitschke, Julius von Voß, Bernhard Anselm Weber oder Zacharias Werner. Da vor allem die Briefe, die abgelehnte Werke begleiteten, fast immer einen Antwortvermerk tragen, können wir die Argumentation nachvollziehen, mit der Iffland seine Stückauswahl begründete und aufgrund welcher er das Repertoire zusammenfügte. Zu den Briefen der Autoren gehören häufig Beilagen. Das sind Materialien, die im Zusammenhang mit einer bestimmten Aufführung stehen wie Szenarien, Kostümlisten, Personenverzeichnisse, Änderungsvorschläge. Iffland war dem König direkt unterstellt und besaß das Immediatrecht. Das heißt, er war berechtigt und wohl auch verpflichtet, dem König direkt alle das Theater betreffenden Angelegenheiten vorzutragen. Demzufolge gibt es im Archiv mehrere Briefe von Friedrich Wilhelm II. und Friedrich Wilhelm III. sowie an dieselben. Daneben gibt es eine umfängliche Korrespondenz zwischen Iffland und preußischen Beamten, die den Direktor berieten und denen er seine Etatabrechnungen vorlegte, bevor sie der König erhielt. Diese Gruppe von Briefen gibt Einblick in die verwaltungstechnischen Strukturen, in die ökonomischen Abläufe des Theaters und in die hierarchischen Abhängigkeiten vom Hof. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist Ifflands Briefwechsel mit Friedrich Wilhelm III. und mit dem Sekretär Johann Friedrich Ludwig Niethe über die Aufführungen im Neuen Palais in Potsdam und im Potsdamer Stadttheater. An diesen beiden Spielorten fanden im Frühjahr und Herbst während der Anwesenheit des Königs wöchentlich mindestens einmal Aufführungen statt, die, wie die Briefe zeigen,

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vom König persönlich ausgewählt und dann von Iffland akribisch zur Aufführung vorbereitet wurden. Die vielen Briefe aus dem Publikum zeigen, welche Bedeutung das Theater als kultureller Mittelpunkt der Stadt hatte und wie sehr Iffland als Dramatiker, vor allem aber als Schauspieler, im Fokus des Interesses stand. Diese seltenen Zeugnisse der Resonanz stammen von Berlinern und Besuchern aus allen Teilen des Deutschen Reiches sowie aus allen Schichten der Bevölkerung, vor allem aber aus der Beamtenschicht, dem Adel und dem Königshaus. In den meisten Bittbriefen äußern die Schreiber konkrete Wünsche nach der Aufführung bestimmter Stücke, die entweder von Iffland selbst stammen oder die wegen ihrer staunenswerten Ausstattung und/oder musterhaften Besetzung über Berlin hinaus bekannt waren. In sehr vielen Briefen wird allein das Ansinnen formuliert, Iffland in einer Rolle spielen zu sehen. Neben diesen Briefen, die sich auf die in Berlin stattfindenden Aufführungen beziehen lassen, gibt es über die gesamte Zeit von Ifflands Direktion hinweg eine Gruppe von Briefen, die Ifflands Beziehungen zu den Theatern im Deutschen Reich dokumentieren. Iffland hatte zu den meisten Theatern Verbindungen. Aufgrund seiner vielen Gastspielreisen kannte er die meisten Schauspieler und Theaterdirektoren im Reich persönlich. Über das Wiener Theater erhielt Iffland über Jahre ausführliche Informationen durch den Hofschauspieler Friedrich Karl Sannens. Aber auch mit den Theatern in Breslau, Dessau, Hamburg, Königsberg, Mannheim, Magdeburg, St. Petersburg, Prag, Stettin und Weimar war Iffland im brieflichen Kontakt. Diese Briefe geben Informationen über den Austausch von Schauspielern, den Vertrieb von Stücken oder die Repertoirebildung. Gerade diese Korrespondenz mit Direktoren oder Schauspielern anderer Theater zeigt, dass das Berliner Theater um 1800 eine Vorbildfunktion für die Theater im Deutschen Reich, vor allem aber im protestantischen Raum, hatte. Das dramaturgische und administrative Archiv in seiner Gesamtheit bildet einen Teil des Iffland’schen Werkes. Die in ihm geordnet aufbewahrten Briefe, Schriften und Dokumente aus einer mehr als 15-jährigen Direktionszeit halten seine Diskussionen mit Künstlern um ästhetische Standpunkte fest, bezeugen seine aufführungspraktische, sehr vielfältige Tätigkeit, die das Verfassen theoretischer Schriften sowie das Erarbeiten von Aufführungen umfasst, und bezeugen seine Anstrengungen, das Theater als Kunstinstitut weitgehend unabhängig vom Hof und der Stadt zu leiten.

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Zitierte Literatur Dingelstedt, Franz (1863). Johann Valentin Teichmanns Literarischer Nachlaß. Stuttgart. Droescher, Georg (1931). Museum der Staatstheater in Berlin. Tätigkeitsbericht 1929/31. Berlin. Floeck, Oswald (1914). Briefe des Dichters Friedrich Ludwig Zacharias Werner. Mit einer Einführung. Kritisch durchgesehene und erläuterte Gesamtausgabe. 2 Bde. München. Freydank, Ruth (2011). Der Fall Berliner Theatermuseum. 2 Teile. Berlin. Geiger, Ludwig (1904). A. W. Ifflands Briefe an seine Schwester Louise und andere Verwandte 1772–1814. Berlin. Geiger, Ludwig (1905). A. W. Ifflands Briefe, meist an seine Schwester. Berlin. Gerlach, Klaus (2015). Ifflands Berliner Bühne. „Theatralische Kunstführung und Oekonomie“. Berlin u. Boston. Iffland, August Wilhelm (2016–). August Wilhelm Ifflands dramaturgisches und administratives Archiv. Forschungsvorhaben der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Erschließung und Edition. Bearbeitet v. Klaus Gerlach; http://iffland.bbaw.de/ (9.1.2019). Müller, Hans (1927). E. T. A. Hoffmann und Jean Paul. Ihre Beziehungen zu einander und zu gemeinsamen Bekannten. Unter Mitwirkung von Eduard Behrend. Köln. Schmid, Irmtraut (1986). „Aus der Arbeit der Regestausgabe. ‚Briefe an Goetheʻ“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 105: 136–148. Schneider, Louis (1852–1854). „Iffland als Direktor des Berliner Nationaltheaters. Eine theatergeschichtliche Studie“, in: Almanach für Freunde der Schauspielkunst. Berlin 1852: 76–109; 1853: 71–110; 1854: 126–178. Staël, Germaine de (1968). De l’Allemagne. Hg. von Simone Balayé. Bd. II. Paris.

Jörg Paulus

5.16 Laurence Sterne – Jean Paul – E. T. A. Hoffmann Die Trias Laurence Sterne (1713–1768), Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter, 1763–1825) und E. T. A. Hoffmann (1776–1822) steht für eine Poetik digressiven Erzählens, in dem das Subjekt und sein Schreiben zum Dreh- und Angelpunkt aller narrativen Arrangements gemacht wird, wobei ihm menschliche und nichtmenschliche Rollen auf den Leib geschrieben werden. Gemeinsame Vorbilder der drei Autoren finden sich in der literarischen Tradition sprach- und formschöpferischen Humors von Lukian bis Rabelais und Cervantes. Sterne, Jean Paul und Hoffmann knüpfen an diese literarischen Traditionen jeweils unter individuellen Voraussetzungen ihrer Herkunfts-, Ausbildungs- und Wirkungswelt an, wodurch sich zum Teil durchaus konträre Reaktionen und Postfigurationen ergeben. Diese reichen u.  a. vom mutmaßlichen Einfluss John Lockes auf den praktizierenden Theologen Sterne über den Platonismus und Leibnizianismus des jungen Theologie-Studenten bzw. Studienabbrechers Jean Paul (und den Mesmerismus des alten, exklusiv das Schreiben praktizierenden) bis hin zum produktiven Konglomerat aufklärerischer, romantisch-naturphilosophischer und musikästhetischer Ideen im Erzählkosmos des praktizierenden Juristen E. T. A. Hoffmann. Alle drei Autoren hatten mit Misserfolgen und Phasen der Erfolglosigkeit zu kämpfen, erlebten aber auch – mehr oder weniger lange anhaltend – den Ruhm, der jeweils weit über die Grenzen ihres unmittelbaren sprachlich-kulturellen Umfelds hinaus ausstrahlte. Die europäische Wirkung Sternes beginnt mit frühen (Teil-)Übersetzungen der Hauptwerke The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman (9 Bde., 1759–1767) und A Sentimental Journey Through France and Italy (1768) ins Deutsche, gefolgt von Übersetzungen, eigenständigen literarischen Fortschreibungen, kritischen Würdigungen und poetologischen Anknüpfungen in Frankreich, Dänemark, den Niederlanden, Russland und Schweden, nach der Jahrhundertwende in zahlreichen weiteren Ländern und Sprachen (vgl. de Voogd und Neubauer 2004, zur Rezeption in Deutschland vgl. Michelsen 1962; Montandon 1985). Die europäische Wirkung Jean Pauls und Hoffmanns wurde sehr stark durch die – im Falle Jean Pauls durchaus oft widerständige – französische Rezeption (vgl. Pinchois 1993; Teichmann 1961; Hübener 2004) geprägt, initiiert v.  a. durch Madame de Staëls De l’Allemagne (1813/1814). Dabei blieb die Resonanz Jean Pauls auch in England stärker als jene Hoffmanns eine punktuelle, sie konnte dabei aber, zum Beispiel bei Thomas Carlyle, durchaus intensiv sein (vgl. Köpke 1996). Im Falle Hoffmanns war Edgar Allan Poe die wohl wichtigste Rezeptionsfigur in der angelsächsischen Welt. Für alle drei Autoren blieben litehttps://doi.org/10.1515/9783110376531-079

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rarische Erfolge und Misserfolge keine äußerlichen Elemente, sondern wirkten zurück auf ihre literarischen Arbeiten, indem die Subjektinstanzen ihrer Schriften in der einen oder anderen Weise davon bestimmt sind. Die Mit-Schrift des Misserfolgs ebenso wie des Erfolgs und des Ruhms ist auch für das jeweilige Briefhandeln der Autoren von Bedeutung. Ebenso bedeutsam ist – zumindest für Sterne und Jean Paul – ihre auch in Briefen fortgesetzte Partizipation an der Welt, die sie selbst literarisch entworfen haben. Sternes Persönlichkeit und sein in den Hauptwerken unter dem Namen „Yorick“ etabliertes Alter Ego wurde in der literarischen ebenso wie in der epistolaren Rezeption nahezu in eins gesetzt. Noch enger wurde die Bindung zwischen der nach 1790 etablierten Erzählinstanz „Jean Paul“ und ihrem Schöpfer Johann Paul Friedrich Richter, der sich selbst  – als Hommage an Rousseau – seit ungefähr 1790 Jean Paul nannte und sich dieses Pseudonym zuvor auf und in Briefen förmlich erschrieben, nämlich handschriftlich-figurativ erprobt hatte. Hoffmanns kreativer, in der Rezeption nicht weniger wirksamer Beitrag zum eigenen Namen besteht in der Ersetzung des ursprünglichen dritten Taufnamens Wilhelm durch den Mozart huldigenden Namen „Amadeus“, der die kanonisch gewordene Buchstabentriade „E. T. A.“ mitkonstituiert. So naheliegend die Konstellierung der drei Autoren in literatur- und kulturgeschichtlicher Hinsicht ist, so unterschiedlich sind einerseits ihr individuelles Profil als Briefschreiber und -empfänger, andererseits ihre Stellung in der Briefkultur insgesamt. Um mit der Quantität zu beginnen: das Korpus der Briefe Sternes umfasst in der maßgeblichen neuen Florida Edition der Werke und Briefe Sternes zwei Bände mit insgesamt knapp 250 Briefen. Auch wenn man geschätzte 1.000 verlorengegangene Briefe hinzurechnet (vgl. FE 7, LX), bleibt dies wenig im Vergleich zu den in den neun Bänden der historisch-kritischen Ausgabe Eduard Berends dokumentierten (zum Teil erschlossenen) weit über 5.000 Briefen Jean Pauls, die allerdings über vier Jahrzehnte verteilt sind, während sich bei Sterne die Briefüberlieferung vor allem auf das letzte Lebensjahrzehnt konzentriert. Bei Hoffmann beläuft sich der Bestand auf gegenwärtig bekannte 421 Briefe, die sich  – abgesehen von den Briefen an den Jugendfreund Theodor Gottlieb von Hippel (1794–1822) – ähnlich wie bei Sterne – vor allem auf die Zeit des literarischen Erfolgs verteilen (vgl. Steinecke 2015, 223). Briefe an den – Briefe nicht systematisch sammelnden – Hoffmann sind nur sehr wenige überliefert, Gleiches gilt für Sterne. Hier ist Jean Paul aufgrund seiner konsequenten Aufbewahrungspolitik ein Sonderfall.

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1 Laurence Sterne Verglichen mit seiner epochalen Wirkung als einer paradigmatischen Figur subjektiver Schreibermächtigung bleibt der Nachhall des Briefverfassers Laurence Sterne in der pragmatischen Briefkultur zunächst wenig auffällig. Weder im realen Briefverkehr noch im Briefroman – und ebenso wenig in den einschlägigen Überblicksdarstellungen zur Briefliteratur von Steinhausen über Nickisch bis Garfield – finden sich in größerer Zahl explizite Bezugnahmen auf Sterne als postalischen Briefschreiber oder als Verfasser fiktionaler Briefe, obgleich Briefe Sternes (bzw. ihm zugeschriebene, aber vermutlich gefälschte Briefe) beispielsweise auf Deutsch bereits 1775 vorlagen: in Gestalt von Bodes Übersetzung der Letters to Friends on Various Occassions, die zusammen mit einer Übertragung der Letters from Yorick to Eliza (1773) erschienen, d.  h. Briefen Sternes an die in ihre ferne Heimat Indien zurückgereiste Geliebte Eliza Draper (1744–1778), die „Bramine“ seiner letzten Lebenszeit. Umso größer ist Sternes mittelbare Wirkung in den europäischen Epistolarkulturen. Insbesondere der Freundschaftskult ist ohne ihn nicht denkbar, seine Kunst spielerischer Anverwandlung an seine literarischen Figuren macht es auch hier unausweichlich, die publizistische Wirkung des Phänomens ‚Sterne‘ nahezu in eins zu setzen mit der Präsenz „Yoricks“, also jener Bezugsfigur aus Tristram Shandy, die der Erzähler in diesem Roman bereits empfindsam-witzig aus dem Leben verabschiedet, dann aber in der Sentimental Journey reaktiviert. Diese Präsenz ereignet sich mithin in einer zwischenräumlichen Sphäre, in der Imagination und Realität wechselseitig ineinander verkleidet und durch Transfermedien wie Schnupftabakdosen (ein Requisit aus A Sentimental Journey) oder andere sinnlich-symbolische Akteure verkörpert werden können (vgl. Aurnhammer 2004). Wie in den Werken findet sich auch in Sternes Briefen der Kontrapunkt von Sprechweisen in einer eher humoristischen „Shandean“Manier und in einer „sentimental manner“, wobei die humoristische Manier in den realen Briefen nicht selten zum Träger unmittelbar körperlicher, oft sexueller Äußerungen wird, auf eine Weise, wie es in den Publikationen Sternes trotz ihrer bewunderten Freizügigkeit so nicht möglich gewesen wäre. Sterne selbst, schon früh von der Schwindsucht angegriffen, sah angesichts seines absehbaren frühen Todes in seiner auf eine überschaubare Zahl von Korrespondenten verteilten Briefhinterlassenschaft vor allem eine mögliche Subsistenzquelle für Frau und Tochter. Bereits sechs Jahre vor seinem Tod (am 18. März 1768) entwirft er in einem Brief an die Ehefrau eine Strategie zur Umwandlung von brachliegendem epistolarem Kapital in überlebenswichtiges flüssiges (vgl. FE 7, Nr. 77); ein nur fragmentarisch dokumentiertes Schreiben, das wenige Monate vor seinem Tod entstanden ist, konkretisiert den Plan in Form einer Liste der in Frage kommenden Adressaten, bei denen die entsprechenden Briefe erfragt werden müssten,

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beginnend mit seinem vielleicht kongenialsten Korrespondenten, dem Schauspieler David Garrick (vgl. FE 8, Nr. 237). Diese Zusammenstellung scheint mehr oder weniger aus dem Gedächtnis heraus verfasst zu sein, für eine systematische Registratur aus- und eingehender Post Sternes gibt es wenig Anhaltspunkte, im Grunde genommen nur ein aus eingeklebten Briefskizzen bestehendes Heft, das der Editor und Sterne-Biograph Wilbur L. Cross 1925 veröffentlichte. Leider sind aus Sternes frühen Jahren nur sehr wenige Briefe überliefert (nur 42 der 248 in der Florida Edition edierten Briefe stammen aus der Zeit vor den ruhmreichen 1760er Jahren Sternes), darunter sind jedoch so interessante und gegensätzliche Dokumente wie der respektvolle, mit der Formel „Yr most obliged and affte/Bro. & humble Servt/L: Sterne“ unterzeichnete Brief vom 12. November 1750 an den Geistlichen Francis Blackburne (FE 7, 21, Nr. 7), der sich zusammen mit einem anderen Sterne-Brief als eingebundene Originalhandschrift in einem Exemplar von Boswells Life of Johnson erhalten hat (heute: Hyde Collection, Glens Falls, NY), der biographisch aufschlussreiche, an den Onkel Jaques Sterne gerichtete vom 5. April 1751, beginnend mit dem Satz: „Sir/’Tis now three Years since I troubled you with a letter in vindication of myself in regard to my Mother“ (FE 7, 22, Nr. 8), sowie das an einem Sonntag des Jahres 1759 geschriebene, die Affäre mit Catherine („Kitty“) Fourmantel initiierende Billet, in dem der Absender darauf dringt, die Adressatin möge „invent some plausible Excuse to be at home by 7“ – ein Wunsch, den er programmatisch mit „Yrs Yorick“ kontrasigniert (FE 7, 100, Nr. 37), womit der Briefschreiber nicht nur sich selbst, sondern, so die Vermutung der Editoren, auch die Adressatin in seine literarische Welt einträgt (und namentlich die Figur der Jenny aus Tristram Shandy imaginativ in die Wirklichkeit rücküberträgt). Die beflissene Zärtlichkeit solcher Billets (das erwähnte wurde 1855 publiziert) mögen Grund für die schlechte Reputation Sternes namentlich im 19. Jahrhundert gewesen sein. Wenn man ihre Formeln und Repetitionen im Kontext eines intensivierten Briefhandelns und somit als Signaturen des Liebesbriefs und des erotischen Briefs liest, in dessen Handlungskontext auch abgenutzte Sprachfiguren und Bilder wie die gegenüber Kitty Fourmantel vielfach ausgebeutete Honig-Metapher anders zu validieren sind, dann wird man den Editoren der neuesten Sterne-Edition eher widersprechen müssen, die aus der Unmöglichkeit, zu einer allgemeinen Bewertung der Briefe Sternes auch jenseits moralischer Urteile zu kommen, die Konsequenz ziehen, seine Briefe seien im Wesentlichen von biographisch-informativem Wert, unbesehen einiger aufrichtiger Empfindungen, die darin erkennbar würden, ebenso wie gelegentlicher Bezüge zum eigenen Werk, Momente des besorgten väterlichen Gefühls für die Tochter Lydia (wie sie sich schon im erwähnten Brief an Blackburne finden) und informativer Betrachtungen zur Reisekultur des 18. Jahrhunderts (vgl. FE 7, LIV-LV). In A Sentimental Journey hatte Sterne selbst in einer berühmten Passage demonstriert, wie

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Liebesbriefe nicht so sehr in ihrem ‚authentischen‘ Wortlaut als in ihrer aktuellen raum-zeitlichen Sendung wirksam werden („The Letter“). Auch die Spontaneität als Signum Sterne’scher Briefkultur, die vom Herausgeber der älteren Edition der Briefe Sternes, Lewis Perry Curtis, und von neueren Interpreten wie Howard Anderson (1966) und Madeleine Descargues (1993) geltend gemacht wird, wird von den neueren Editoren nur bedingt als solche anerkannt: „[I]t […] seems evident that as a letter writer […] his spontaneity was often forced, his sincerity dubious, and his sentiments rather commonplace.“ (FE 7, LV) Umgekehrt wäre wohl auch hier zu argumentieren, dass gerade Briefe wie die an Eliza Draper, die vorzüglich der „sentimental manner“ zuzurechnen sind und Sternes Bedeutung in der europäischen Briefkultur am stärksten prägten, als ‚eigensinnige‘ Akteure aktiv jenes Modell empfindsamer Authentizität überhaupt erst formierten, dem Sternes frühere Briefe und Werke im medialen Verbund vorarbeiteten.

2 Jean Paul Die von der Éloge d’Eliza Draper (1770) des Abbé Reynal bis zur Bednaya Liza („Bejammernswerte Eliza“, 1792) von Nikolai Karamsin postfigurierte angloindische Liebesbriefrelation Sterne/Draper stellt auch in der Korrespondenz Jean Pauls den markantesten Rückbezug auf Sternes Briefe bzw. deren publizistische Derivate dar. Jean Pauls vormalige Verlobte Emilie von Berlepsch modelliert ihre Beziehung zum früheren Geliebten als Refiguration des Paars Sterne/Draper, indem sie aus Reynals sternisierendem Brief-Gedicht frei den epistolaren Imperativ zitiert: „Ich schwöre, niemals eine Zeile zu schreiben, die Deines Freundes unwürdig wäre“ [„Je jure de ne jamais ecrire un ligne qui ne soit digne de ton ami“, JP HKA IV 3.1, 248, Nr. 138 vom 23.2.1799 und Kommentar, 683]. Die weltumspannende und zugleich alle Entfernung mit einer Achse der Empfindsamkeit durchmessende Eliza-Korrespondenz stellt hier ein Modell dar für die zwar sehr viel näher zusammengerückte, aber doch immer weitläufiger werdende Korrespondenten-Community um Jean Paul, in die sich Emilie von Berlepsch einträgt. Allerdings haben die imaginären Optionen in diesem Briefnetzwerk sehr viel größeres Gewicht als in Sternes von Brief-Metaphysik noch weitgehend unbelasteter Korrespondenz. Ein Platonismus des Liebens und Erlebens regiert selbst dort noch in die Beziehungen hinein, wo er mit Leidenschaft hinterfragt wird wie eben im Falle Emilie von Berlepschs (vgl. Paulus 2013). Ganz im Gegensatz zur Tradition platonischer Schriftkritik – und zugleich zur vielbeschworenen „talkativeness“ Sternes  – steht jedoch die Dominanz schriftlichen Ausdrucks, die in Jean Pauls Korrespondenz vorherrscht. Bereits in seinem allerersten überlieferten

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Brief findet sich dies Insistieren auf Schriftlichkeit, auf geschrieben-empfindsame Gefühls- und Textverarbeitung (in einer durchaus von dialektalen Ausdrücken und einer eigenwilligen Orthographie geprägten Version), und dies verbunden mit einer Leseaufforderung, die sich explizit auf Sternes Sentimental Journey bezieht: „Lese in Yorik’s Reisen […] das, wo er beim Grabe des Mönchs war. – – / Von diesem Geschriebenen rede mit mir ia kein Wort – schreiben kanst allenfals.“ (SW HKA III 1, Nr. 1 vom 11.10.1780 an Adam Lorenz von Oerthel) Diese Form schriftfixierter Intimität erlaubt dann Erweiterungen eher im Bereich des Kommunikationssystems Literatur als im Bereich der sozialen Welt: Seine Bücher seien nur dickere Briefe an das Publikum, seine Briefe nur dünnere Bücher für die Welt, so deklariert Jean Paul wiederholt beide Sendungsformen im Wechselverhältnis  – dies geschieht mit nahezu identischen Formulierungen sowohl in einem Brief (vom 9.2.1795 an den Freund Emanuel in Bayreuth, SW HKA III 2, Nr.  64) als auch wenig später in einem Druckwerk (der Idylle Der Jubelsenior, 1797 SW HKA I 5, 471). Bedenkt man gleichzeitig die Wertschätzung, die Jean Paul dem individuellen Brief-Dokument entgegenbringt („Briefe verbrennen. Nie thät ichs […] Durchstreicht die Namen, verwechselt die Handschrift; aber lasset die Seele leben, die gerade in Briefen am innigsten lebt“, Wirtz/Wölfel, 170, Nr. 994), dann wird deutlich, dass Jean Pauls Briefhandeln Teil einer literarischen Ethik des Schreibens und einer Poetik ist, die das Kleine generell mit dem Großen, ja Unermesslichen verbindet. Da aber jede Brief-Metaphysik ihre materielle Basis benötigt, so arbeitet er von seiner Seite aus dem Verschwinden, dem allseits „untergehende[n] Leben“ nicht nur durch Sammlung der eingehenden, sondern auch durch konsequent geführte und archivierte Kopierbücher seiner eigenen, ausgehenden Korrespondenzen entgegen, die ihrerseits als Steinbruch für literarische Äußerungen dienen und entsprechend markiert werden. Wie Tagebücher sind auch sie „Hauptbücher unserer moralischen Bilanzen“, so Jean Paul im oben erwähnten Brief an Emanuel, und das in diesem Brief geprägte Diktum, Bücher seien „nur Briefe in dickerem Format“ wird schließlich noch jenseits der Jubelsenior-Idylle mit poetologischem Nachdruck in der „Jubilate-Vorlesung“ der Vorschule der Ästhetik wiederholt (SW H I/5, 406). Aber bereits im Emanuel-Brief ist epistolares Handeln in einen umfassenden Praxis-Zusammenhang eingebunden: „Der Mensch genießet sein Ich nur, indem er’s verdoppelt […] und eben dieser Zwang, unsere Seele vor einer fremden abzubilden und unsere innere Quellen geradezu durch einen Abflus zu – vermehren, nöthigt die Mädgen zum Brief-, die Autores zum Bücherschreiben, die andern zum Reden und einige zum Handeln“ (SW HKA III 2, Nr. 64). Die Form des Briefes ist dabei an keine Ordnung gebunden, auch dies ist schon im Brief an Emanuel formuliert: „[I]n einem Briefe und in einer Visitte ist man an keine Paragraphenkette gebunden. Algemeine Wahrheiten müssen […] die Stadtneuigkeiten sein; und wenn man diese ohne Ordnung

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sagen darf, warum nicht jene?“ Dementsprechend postuliert auch die Vorschule der Ästhetik einen freien, von einer „angenehmen Nachlässigkeit“ geprägten „höheren Briefbücherstil“ (SW H I/5, 407). Das binäre epistolare Kommunikationsmodell eines Zwiegesprächs erweist sich in Jean Pauls Poetik der Briefpraxis im Grunde von Anfang an als unzureichend für die Literatur und für das Leben. Sein erster literarischer Versuch, der empfindsame Briefroman Abelard und Heloise, bleibt unausgeführt, während er im engen heimatlichen oberfränkischen Kreis von Freundinnen und Freunden, deren Eltern sowie einiger älterer Berater – zunächst vor allem freigeistiger Theologen – einen Modus des multilateralen schriftlichen Austausches erprobt, in den zum einen immer die Welt des Wissens, der ‚gelehrten Relationen‘ miteinbezogen ist (eine provinzielle Version der Gelehrtenrepublik), zugleich aber auch Gefühle schriftlich modelliert und intensiviert werden (eine retrospektiv als ‚erotische Akademie‘ bezeichnete Propädeutik), wobei die Entfernungsdimension unwesentlich wird, weil Simultaneität, eine gleichschwebende wechselseitige Sympathie, immer schon vorausgesetzt wird (vgl. Paulus 2008). Symptomatisch für diese Version der Empfindsamkeit ist, dass Jean Paul sich beim ‚Komponieren‘ von Briefen selbst am Klavier begleitet haben soll (vgl. SW HKA I 4, XXVII). Mit dem Anwachsen des Ruhmes überschreitet der Postverkehr Jean Pauls dann sehr deutlich den HörRadius seines von Professionalität weit entfernten Klavierspiels: Den Briefkontakt zu Jean Paul suchten in den Jahren nach dem Erscheinen der Erfolgsromane Hesperus oder 45 Hundsposttage (1795) und Siebenkäs (1796) unter anderem Leserinnen aus allen Gesellschaftsschichten (Emilie von Berlepsch, Esther Bernard, Juliane von Krüdener, Charlotte von Kalb, Josephine von Sydow, die Fürstin von Anhalt-Zerbst), reisende Künstler und Virtuosen (wie der Philologe und Violinist Paul Emil Thieriot), Autoren aller Altersstufen und jeglicher Herkunft (zum Beispiel der alte Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der ihm ein Geldgeschenk macht) sowie international geachtete Gelehrte wie der englische Arzt Thomas Beddoes (1760–1808), der mit Samuel Taylor Coleridge befreundet war und dem Jean Paul seine Vorliebe für die englische Literatur, namentlich für Sterne, Swift und Shakespeare, bekundete: „Unendlich angenehm ist es mir, wenn ich von dem großen Kapital des Vergnügens, das ich den englischen Schriftstellern schuldig bin, einige Zinsen an Sie abgetragen habe.“ (SW HKA III 5, 84, Nr. 205) Das Erschreiben eines den eigenen Schreibstil variierenden Briefwerks im Austausch mit sozial, politisch, sprachlich und geographisch höchst unterschiedlich profilierten Adressaten blieb kennzeichnend für Jean Pauls Korrespondenz bis hinein in die späten Jahre in Bayreuth, wohin er 1804 mit seiner zusammen mit Karoline (geb. Mayer) 1801 gegründeten Familie zog. Im Einzelfall entwickelten sich die Briefrelationen dabei sehr unterschiedlich. Während sich mit Goethe – bei gegenseitig ambivalenter, bei Goethe jedoch stärker von Zurückhaltung, bei Jean Paul stärker von Respekt

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geprägter Einstellung – trotz der höchst elaborierten Begleitschreiben, mit denen Jean Paul die Unsichtbare Loge und den Hesperus nach Weimar schickt (vgl. Heumann et al. 2013), keine zusammenhängende Korrespondenz einstellt, wird das Ehepaar Herder, vermittelt durch Charlotte von Kalb, die Jean Paul zu einem ersten Besuch nach Weimar gezogen hatte, bald zu einer der wichtigsten Adressen im Briefnetzwerk Jean Pauls. Die Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (1799) und andere Publikationen Johann Gottfried Herders kommentiert er brieflich mit großer Anteilnahme, zugleich immer wieder die persönliche Nähe betonend. Nicht minder intensiv und sympathisierend, aber ganz ohne die Voraussetzung persönlicher Bekanntschaft entfaltet sich die von Herder angeregte Korrespondenz Jean Pauls mit dem Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi, insgesamt der „vielleicht intellektuell anspruchsvollste“ Briefwechsel des Dichters (Pfotenhauer 2013, 14). Die konstantesten Briefwechsel sind die mit Emanuel und mit dem Jugendfreund Christian Otto, der seit ungefähr 1790 als der Erstleser und kritische Vor-Rezensent von Jean Pauls Werken ausführliche briefliche Stellungnahmen mit Änderungsvorschlägen übermittelt. Auch im Kontakt mit seinen zahlreichen Verlegern (vgl. Fertig 1989) setzt Jean Paul das Briefeschreiben als Fortsetzung des literarischen Schreibens ins Werk. Da viele seiner Schriften – und namentlich die elaborierten Vorreden – die Form von Sendschreiben haben oder als Antwortschreiben an der Stelle von unerledigten Briefschulden deklariert sind, und da auch Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf (1799) in die literarische Welt treten, meint das Lesepublikum – und durchaus mit einigem Recht, was die Einheitlichkeit des epistolaren und des literarischen Schreibstils betrifft –, den Briefschreiber Jean Paul zu kennen, dabei freilich zumeist die spezifische Differenz in der Pragmatik eines postierten Briefes und eines gedruckten übersehend. Jean Pauls Briefe sind durch seine Briefkopierbücher sowie aufgrund der Tatsache, dass nicht wenige seiner Empfänger die Briefe des verehrten Dichters sorgfältig aufbewahrten, gut dokumentiert; eine nicht unbeträchtliche Zahl wurde bereits in den ersten Jahren nach seinem Tod von Freunden und Familienmitgliedern publiziert (u.  a. Wahrheit aus Jean Paul’s Leben, 8 Bände, 1826–1833; Jean Pauls Briefwechsel mit seinem Freunde Christian Otto, 4 Bände, 1829–1833; Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul Friedrich Richter, 4 Bände, 1863). Im 20.  Jahrhundert legte der Nestor der Jean-Paul-Philologie, Eduard Berend (1883–1973), das Korpus der Briefe Jean Pauls in zwei vom Exil unterbrochenen Anläufen in großer Vollständigkeit vor: in vier Einzelbänden (1922–1926, Briefe bis 1804) sowie in den neun Bänden der 3. Abteilung (1952–1964) seiner historischkritischen Jean-Paul-Ausgabe. Sie wurde in den vergangenen Jahren um die inzwischen abgeschlossene Edition der Briefe an Jean Paul ergänzt (2003–2017) (vgl. Bernauer 2013, 569–573). Eine Ausgabe der Briefe von Jean Pauls Freunden und Familie befindet sich in Vorbereitung.

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3 E. T. A. Hoffmann Hoffmann, der lange Zeit schwankte, ob er seine Berufung – neben oder jenseits des juristischen Brot-Studiums und -Berufs – in der Malerei, in der Musik oder in der Literatur sehen sollte, bezieht sich vor allem in seinen frühen Briefen an den Freund Theodor Gottlieb von Hippel, einem der „schönsten Zeugnisse des Freundschaftskults um 1800“ (Steinecke 2015, 224), häufig auf Sterne und auf Jean Paul (vgl. Steinecke 1999; Auhuber 2012). In Hoffmanns epistolarer Sterne-Postfiguration schreibt er sich selbst dabei manchmal die Rolle des Eugenius zu, also des treuen Freundes und Ratgebers aus den Sterne’schen Werken (vgl. HB I, 107), das andere Mal die des ‚Yorick‘ selbst. Letzteres geschieht in einer ausführlichen, an Hippel adressierten Reisebeschreibung aus Glogau vom 18. Juli 1796, worin eine (eher an Goldsmiths Vicar of Wakefield erinnernde) Familienszene geschildert wird, an deren Ende der Briefschreiber – zum Beweis, dass er unterwegs „sentimentalisirt“ habe  – das Geständnis stellt, er habe „auf den sanft gerundeten Contur der Lippen des Weibes“ am liebsten „einen JoricksKuß gedrückt, als Zueignungsdokument meiner Seele und InnungsGruß des Handwerks, das ich treibe um besser zu seyn, als ich ohne dasselbe wäre und seyn könnte“ (HB I, 100–101). Der imaginäre bzw. epistolarisierte Kuss ist dabei ebenso vielfach kodiert wie die Praktiken, die er dokumentieren soll: Das Entzücken über die Kontur der Lippen schreibt sich von der Malerei her, das Bedürfnis zur Dokumentation von den Amts- und Verwaltungsgeschäften, die Ethik der imaginären Handlung, das „besser seyn“, schließt an „Yoricks“ komplexes literarisch-theologisches Geständnis im Bezugstext A Sentimental Journey an: Bei einem – vielleicht nur aus merkantilischen Gründen – sich anglophil gebenden Buchhändler in Paris trifft der empfindsame Reisende ein Kammermädchen, das er in den Dienst einer vornehmen frommen Dame imaginiert, das dann aber zwei Bände eines eher unkeuschen Werkes des jüngeren Crébillon erwirbt. Er begleitet sie vor die Haustür ihrer Herrschaft und hilft ihr dort, die Roman-Bände „um es […] bequemer einzurichten, als solche in der Hand zu tragen“, in der Handtasche unterzubringen. In dieser von Doppeldeutigkeit gekennzeichneten Ereignis-Serie kommt es schließlich zum notwendig abermals doppeldeutigen Abschied: „[U]nser Abschied war so herzlich vertraut, daß, wäre es irgend sonst wo gewesen, ich nicht dafür geschworen hätte, ob ich ihr nicht, eben so warm und heilig, als ein Apostel, einen Liebeskuß würde gegeben haben.“ (Sterne 1769, Bd. 2, 9) Vor diesem literarischen Hintergrund und der beim Adressaten von Hoffmanns Brief vorausgesetzten Kenntnis des ambivalenten Liebeslebens und Liebesleidens des Absenders muss Letzterer in Sterne’scher Abbreviatur denn auch nur noch anfügen: „Du verstehst mich!“ und kann damit alles gesagt sein lassen. Auch die Anspielungen auf Jean Paul werden mit dem Code-Wort „sentimentalisch“ signiert (HB I, 78) und

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berufen sich u.  a. auf die Proklamation der „Simultanliebe“ im Hesperus (HB I, 116, vgl. Jean Paul, SW H 1, 274–276). Sterne und Jean Paul verschwinden jedoch als explizite Allusions-Instanzen nach 1800 weitgehend aus dem Briefwechsel Hoffmanns, dessen private Briefe an Familienangehörige oder ihm persönlich nahestehende Personen wie die Eltern, die Geliebten Dora Hatt und Julia Marc, die Verlobte Minna Doerffer sowie die Ehefrau Michaelina Hoffmann, die zum Teil – aber auch nur zum Teil – Residuen empfindsamen Ausdrucks (bei Hoffmann aber immer auch empfindsamer Ironie) sein könnten, nicht überliefert sind (sofern sie denn existierten). Als größere epistolare Reihen überliefert sind jedoch zumindest partiell die Briefe an Julius Eduard Hitzig und Friedrich de La MotteFouqué sowie an den Verleger Carl Friedrich Kunz und den Arzt Karl Friedrich Speyer. Eine vor allem die Briefe an diese vertrauten Freunde bereichernde Besonderheit von Hoffmanns Korrespondenz besteht in den zumeist karikierenden, zuweilen mit Zuweisungsziffern und Erläuterungen versehenen Zeichnungen, die entweder auf dem Briefblatt oder auf separaten Briefbeilagen zu finden sind. Die von Friedhelm Auhuber betonte Tatsache, dass Hoffmanns Briefe stets mehr sind als biographische Dokumente (vgl. Auhuber 2015), lässt sich in diesen Beilagen prägnant nachvollziehen: Ungefähr die Hälfte der Zeichnungen sind selbstbezüglich, stellen den Gemütszustand oder den physischen Zustand des Briefschreibers Hoffmann dar (zum Beispiel als Kranker am Schreibtisch sitzend, HB I, 446, Brief an Kunz in Bamberg vom 4.6.1814) bzw. entwerfen imaginative Selbstinszenierungen (in der Selbstkarikatur als gespornter Ritter zu Pferde, HB II, nach 176 vom 10.6.1818 an Kunz), die anderen beziehen sich auf Dritte (zum Beispiel das Portrait der beleibten Schauspielerin Sophie Laurent in einem Brief an Karl Friedrich Speyer vom 1.5.1820, in der Schnapp-Edition mit einem törichten Kommentar des Herausgebers versehen, HB II, 251) oder bestehen in satirischen Concetti wie der „Gefährdung des Seehandlungs-Gebäudes in Berlin durch Unzelmanns Perücke beim Brande des Schauspielhauses am 29. Juli 1817 und die Rettung des Staatskredits durch einen Gardejäger“ (an Adolph Wagner, 25.11.1817, HB II, nach 148). Eine Verbindung von selbstbezüglicher und weltbeschreibender Brief-Zeichnungs-Manier bietet der bekannte sogenannte Kunzische Riß, der einem nicht erhaltenen Brief an Kunz vom 18. Juli 1815 beigefügt war: ein hauptstädtisches theatrum mundi aus der Perspektive von Hoffmanns neuer Wohnung in der Berliner Taubenstraße mit dazugehöriger Aussicht sowie zahlreichen statuarischen oder szenischen Personendarstellungen (vgl. HB II, zw. 66 u. 67, vgl. Detering 1982). Wenn auch der Brief, den die Zeichnung begleitete, nicht überliefert ist, so spiegeln doch auch die überlieferten Briefe aus der näheren Umgebung dieses Dokuments die epistolare Vielschichtigkeit der Zeichnung; sie können als charakteristisch für den zugleich selbst- und weltbezüglichen, individualisierten und generischen Briefstil Hoffmanns gelten, in dem subjektive Wahrnehmung und

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daran geknüpftes (Schreib-)Handeln das bürgerliche Leben (wie das Briefpapier) zum Träger eines von Realien verstellten und doch einsehbaren imaginären WeltHintergrunds werden lassen. So schreibt Hoffmann zum Beispiel wenige Wochen vor Anfertigung des Risses an Kunz, indem er eine solche Schreib-Szene statuiert und zugleich dokumentiert: „Entnehmen Sie aus dem ganz ungewöhnlichen Format meines Schreibens, daß ich solches an heiliger Stäte, nehmlich auf dem Kammergericht während der Session des CriminalSenats dem Präsidenten zur Seite verfasse!  – Ein Aktenstoß verbirgt oder maskirt vielmehr die exotische Arbeit!“ (HB II, 57, Nr. 592) Dann folgen Ausführungen zum „litterarisch-merkantilischen Wesen“ mit mehr oder weniger zuverlässigen Honorar-Relationen, die durchaus im Widerspruch stehen zu fast gleichzeitigen anderen Korrespondenzen, danach ein Sprung zur Weltpolitik, die sogleich im eigenen Lebensentwurf gespiegelt wird: „Ein großer Kelch ist durch einen Geniestreich des russischen Kaisers von mir gegangen! – D e r hat nehmlich den Polen die Erhaltung ihrer Nationalität zugesagt, die Justizverfassung im Großherzogthum Posen bleibt daher pohlnisch, und die mir zugedachte Ehre, OberLandesgerichtsDirektor in Posen zu werden bleibt in suspenso“ (HB II, 57, Nr. 592), anschließend assoziiert sich der Briefschreiber dann weiter zur Ausstattung seiner Berliner „Haupt und StaatOper“ Undine und zu einem beabsichtigten Treffen mit Fouqué und Chamisso in Potsdam (der im Aufbruch begriffen ist zur Teilnahme an der russischen Süd- und Norpolarsee-Expedition), um schließlich, persönliche Grüße en passant abwickelnd, die Schreibszene zu schließen mit den förmlich aus dem grammatikalischen Ruder laufenden Worten: „verzeihen Sie das Rhapsodische mei[nes] Briefs dem Umstand, daß ich auf den Vortrag horchen, auch wohl bald mei[ne] Meinung sag[en] muß. Wie imm[er] unverände[r]t/Der Ihrigste/Hoffm“ (HB II, 59, Nr. 592). So glaubhaft die Schreibszene in Anbetracht ähnlich lokalisierbarer Dokumente, wie der auf einem Aktendeckel erhaltenen Federzeichnung „Schlemihl reist zum Nordpol und wird von demselben freundlich empfangen“, ist, so problematisch ist es, in solchen Fällen Reales und Imaginäres gegeneinander auszuspielen. Sicherlich ist der Berichterstatter, der vor und in dieser Szene agiert, unzuverlässig, aber diese Unzuverlässigkeit geht gleichsam auf Kosten des Empfängers, dem sie zugemutet werden, in der Hoffnung auf eine dereinstige Einlösung dieser gleichsam ungedeckten epistolaren Wechsel. Somit erscheint es auch wiederum problematisch, Hoffmanns Brief-Handeln aufgrund dieser Beobachtung eher einem ‚literarischen‘ Schreiben  – in Abgrenzung zu einem epistolaren  – zuzurechnen (vgl. Sahlin 1977, 3; Steinecke 2015, 225). Auf charakteristische Weise machen seine Briefe vielmehr die Brief-Produktion Hoffmanns als einen Schreibprozess im Zwischenraum erkennbar, der in variabler Weise mit anderen Medien vernetzt ist oder auch, gelöst aus allen möglichen Vernetzungen, einer dem Münd-

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lichen vergleichbaren Flüchtigkeit der Äußerung überlassen wird. Umgekehrt zur Tendenz der in älteren Publikationen verbreiteten Kritik an Hoffmanns gleichsam noch ‚vorromantischer‘, an Gluck und Mozart orientierter Ausdrucksweise in den Kompositionen wird von den Briefen ‚Aufrichtigkeit‘ erwartet, wohingegen doch beides, die Musikproduktion wie die oft zwielichtig erscheinende Briefstellerei Hoffmanns, auch und gerade im Einhalten und Überschreiten von (stilistischen und inhaltlichen) Grenzen gleichermaßen die autopoetischen und kulturellen Kräfte und Gegenkräfte in Erscheinung treten lassen, statt, in vorauseilendem Gehorsam gegenüber einer normierenden Kulturgeschichte, einer Einheitstendenz zu folgen, ehe diese überhaupt formiert und formuliert wurde.

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Weiterführende Literatur Hoffmann, E. T. A. (2003). Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. v. Hartmut Steinecke, Wulf Segebrecht u.  a. Bd. 1: Frühe Prosa, Briefe, Tagebücher, Libretti, Juristische Schrift, Werke 1794–1813. Bd. 6: Späte Prosa, Briefe, Tagebücher und Aufzeichnungen, Juristische Schriften, Werke 1814–1822. Beide Bände hg. v. Gerhard Allroggen, Friedhelm Auhuber, Hartmut Mangold, Jörg Petzel u. Hartmut Steinecke. Frankfurt a. M.

Sophia Gustorff

5.17 Musikerbriefe vor und um 1800 1 Quellenlage und Forschung Aus der Zeit um 1800 stammen die ersten umfassenden und zusammenhängenden Korrespondenzen von Musikern und Komponisten. Die Zunahme und der Erhalt der Bestände lässt sich auf den sich völlig neu definierenden Musikmarkt und die darauf eingehenden Interessen der professionellen Musiker zurückführen. Carl Philipp Emanuel Bach nutzte ab den 1770er Jahren die Chance, seine eigenen Kompositionen im Selbstverlag zu vertreiben. Die neue Selbständigkeit beruhte zu wesentlichen Teilen auf der schriftlichen Korrespondenz mit dem Hersteller und Vertriebspartner, dem Leipziger Verleger Breitkopf & Härtel, und Kollekteuren (vgl. Rampe 2014, 358–362). Auch unter den Briefen Joseph Haydns, dem ab 1799 offiziell erlaubt war, seine Werke neben seiner Anstellung als Kapellmeister zu vertreiben, machen die Verlegerbriefe einen wesentlichen Teil aus. Für die Generationen zuvor erübrigte sich aufgrund der Anstellungsverhältnisse der Vertrieb der eigenen Werke, im Fall Johann Sebastian Bachs aufgrund der beruflichen Pflichten „weitläuftige schriftliche Unterhaltungen“ auch im Allgemeinen (Bach 1994, 480). Der größere Umfang der Musikerkorrespondenzen gegen Ende des Jahrhunderts resultiert schließlich auch aus einem gesteigerten Bewusstsein für den Quellenwert der Dokumente und dem bereits zu Lebzeiten einsetzenden Personenkult. Leopold Mozart, Wolfgangs Vater, zum Beispiel bemühte sich um die Aufbewahrung sämtlicher Briefe sowohl aus dem Familienkreis als auch dem Salzburger Umfeld. Im Falle Ludwig van Beethovens waren es ihm nahestehende Personen, wie Nikolaus Zmeskall, Anton Schindler oder Erzherzog Rudolph, die die an sie adressierten Briefe Beethovens sammelten. Der Austausch über musikspezifische Fragen findet ab der Jahrhundertmitte im Vergleich zu anderen Gebieten verspätet und nur vereinzelt statt. In besonderer Weise brachte sich der Kapellmeister, Komponist und Musikschriftsteller Johann Friedrich Reichardt in die Diskussionen ein, die in anderen ­Gegenstandsbereichen bereits selbstverständlich über Distanzen geführt wurden. Als Student knüpfte er erste Beziehungen zur geistigen Elite in Königsberg, darunter Johann Gottlieb Kreutzfeld, Immanuel Kant und Johann Georg Hamann (vgl. Salmen 1963, 22), spätestens in Weimar auch zu Johann Gottfried Herder (vgl. Salmen 2003, 239). Er erweiterte sein soziales Netz durch ausgiebige Reisen und die Aufnahme des Kontakts zu von ihm geschätzten Persönlichkeiten: Unter dem Einfluss sowohl der Königsberger Intellektuellen als auch französischer und englischer Briefschreiber https://doi.org/10.1515/9783110376531-080

5.17 Musikerbriefe vor und um 1800 

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„setzte ihn die Bereitschaft, sich als ‚denkender und forschender […] Tonkünstler‘ schreibend zu definieren in die Lage, in einen lebhaften, bis zur ‚Zudringlichkeit‘ gehenden Austausch mit Persönlichkeiten von Rang zu treten“ (Busch-Salmen 2003, 72). Zu seinen Briefkontakten zählen Karl Wilhelm Ramler, Friedrich Rochlitz, Carl Friedrich Zelter, Matthias Claudius, Friedrich Gottlieb Klopstock, Christoph Martin Wieland, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck, Rahel Varnhagen, Elisabeth von Staegemann, Johann Caspar Lavater, Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe (vgl. Pröpper 1965, 29–65). Der ab 1781 über 20  Jahre geführte Briefwechsel mit Goethe, der am Ende aufgrund politischer wie ästhetischer Diskrepanzen brach, verzeichnet auf seinem Höhepunkt einen lebhaften Austausch über aktuelle Vorhaben und die Zusammenarbeit, über Fragen zur Wirkung von Musik und Dichtung sowie später zur Publikation und Übersetzung der eigenen Werke (vgl. Reichardt et al. 2002; Busch-Salmen 2003). Über die Korrespondenzen hinaus sind ein Großteil der literarischen Schriften Reichardts sowie einige seiner Zeitschriftenbeiträge in Briefform verfasst. Auch Carl Friedrich Zelter, seit 1800 Leiter der Berliner Singakademie, beteiligte sich an der diskursiven Briefkultur seiner Zeit. Zelter verkehrte außer mit seinen Verlegern mit namhaften Künstlern und Denkern wie Johann Nikolaus Forkel, Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven, Felix Mendelssohn Bartholdy, Friedrich Schiller und ab 1799 auch mit Goethe, für den er nach Reichardt als neuer Ansprechpartner in musikspezifischen Fragen galt. Gegenseitig dienten sie sich, wie in über 800 Dokumenten nachzuvollziehen, als Ratgeber und Kritiker in Bezug auf ihr Schaffen und als Informanten über das Kulturleben in Berlin und Weimar. Über das Berufliche hinaus entwickelte sich durch die Korrespondenz zwischen Goethe und Zelter eine enge Freundschaft. Bereits in den 1820er Jahren kam die Idee zur posthumen Veröffentlichung des Briefwechsels auf (vgl. Goethe 1998; Miller 1998). Wie der Briefwechsel zwischen Goethe und Reichardt zählt die Korrespondenz von Goethe und Zelter zu den Intellektuellenkorrespondenzen des 18. Jahrhunderts, denen aufgrund der von vornherein mitbedachten Publizität und Stilisierung ein literarischer Status zugesprochen werden kann. Einen umfangreichen Briefwechsel u.  a. mit Goethe pflegte auch der 1769 geborene Schriftsteller und Musikpublizist Friedrich Rochlitz (vgl. Goethe und Rochlitz 1887; Schmidt 22005). Während die Erforschung von Musikerbriefen des 19.  Jahrhunderts in den vergangenen Jahren merklich vorangetrieben wurde, z.  B. durch neue Editionen, sind bei den Musikerbriefen vor und um 1800 noch große Forschungslücken zu verzeichnen. So steht beispielsweise eine grundlegende Aufarbeitung bzw. Neuedition der neben Mozart und Beethoven bedeutendsten Briefkorpora noch aus. Eine Neuausgabe der Briefe Joseph Haydns inklusive der seit der letzten Ausgabe

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von 1965 über fünfzig neu bekannt gewordenen Dokumente ist im Rahmen der vom Joseph Haydn-Institut in Köln herausgegebenen Gesamtausgabe der Werke „in den kommenden Jahren“ geplant (Joseph Haydn-Institut). Briefgesamtausgaben von Komponisten, Musikern oder Musikpublizisten wie Johann Friedrich Reichardt, Friedrich Rochlitz oder dem 1784 geborenen Louis Spohr, die am Rande oder außerhalb des heutigen Kanons stehen, für das Kulturleben des deutschsprachigen Raums indes von einschlägiger Bedeutung sind, existieren bis heute nicht. Eine stärkere Berücksichtigung der kultur-, sozial- und sprachhistorischen Kontexte der Quellen ist wünschenswert, um eine differenzierte Interpretation der oftmals isoliert wahrgenommenen Inhalte zu gewährleisten. Die Briefe von Wolfgang Amadé Mozart und Ludwig van Beethoven heben sich von den Musikerbriefen der Zeit bis 1800 in quantitativer und qualitativer Hinsicht deutlich ab. Mit über 1.000 Dokumenten übertrifft der Bestand der Briefe Beethovens die vorhergehenden um ein Vielfaches. Die Briefe Mozarts und Beethovens gewähren erstmalig intensive Einblicke in das Leben, die Persönlichkeit und das Denken der Komponisten und bilden damit die Grundlage für das im 19. Jahrhundert neu begründete Genre der Musikerbiographie. Aus stilistischer Sicht zeichnet sich in den Korrespondenzen eine in der Musikgeschichte bis dahin nicht dagewesene Individualität ab, die erstmals auch Bezüge zum künstlerischen Schaffen erlaubt. Von dem Brieftypus des 19. und 20. Jahrhunderts, der das populäre Schlagwort des „Musikerbriefs“ geprägt hat, d.  h. literarische oder literaturorientierte Briefwechsel von Komponisten, die vornehmlich dem Ziel des intellektuellen Austauschs oder des autobiographischen Schreibens dienten, unterscheiden sich die Korpora dennoch grundlegend. Ausführliche Diskurse über Ästhetik, Philosophie, Politik oder Gesellschaft finden sich hier ebenso wenig wie regelmäßige Selbstreflexionen, und auch ein literarischer Anspruch lässt sich nicht konsequent nachweisen. Eine detaillierte Besprechung dieser ersten, aus der deutschsprachigen Briefkultur wirklich herausragenden Komponistenbriefe erscheint in diesem Zusammenhang unabdingbar.

2 Wolfgang Amadé Mozart und Familie 2.1 Bestand Die Korrespondenz der Familie Mozart kommt bis zu Wolfgang Amadés Tod auf über 800 Dokumente. Etwa die Hälfte der Briefe stammt vom Vater Leopold Mozart. Die ersten bekannten Schreiben Leopolds aus den Jahren 1755/56 richten sich an den Augsburger Verleger Johann Jakob Lotter, mit dem er im Zuge der

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Drucklegung seines Versuchs einer gründlichen Violinschule in Kontakt stand. Die Reisen mit Wolfgang in den 1760er und 1770er Jahren gaben ihm Anlass zu einem regen Briefwechsel mit Freunden und Familie in Salzburg. Die Briefe an den Salzburger Hausherrn, Ratgeber und Freund Lorenz Hagenauer fokussieren insbesondere das Wirken des außerordentlich begabten Sohnes. Die Korrespondenz innerhalb der Familie entwickelte sich mit den Reisen, die Leopold ab 1769 mit dem Sohn unternahm. Ob sich Leopold auch in brieflichen Austausch mit Musikerkollegen und Gelehrten begab, lässt sich nicht erschließen. Zumindest zu Christian Fürchtegott Gellert nahm er Kontakt auf (vgl. Mozart 2005, Nr. 115; vgl. dazu Konrad 2019). Unter den Briefen Wolfgang Amadé Mozarts werden in der Regel die rund 290 eigenständigen, meist im Original erhaltenen Briefe sowie 68 Nachschriften zu eigenen oder fremden Briefen verstanden. Die frühesten Briefe und Nachschriften sind von den Italienreisen ab 1769 an die Mutter Anna Maria und die Schwester Maria Anna, genannt „Nannerl“, gerichtet. Das größte, über weite Teile geschlossen überlieferte Korpus bildet der Briefwechsel mit dem Vater. Er setzt 1777 mit der Reise nach Mannheim und Paris ein, die Wolfgang in Begleitung der Mutter antrat, und reicht bis zu Leopolds Tod im Jahr 1787. Im Zentrum der Reisebriefe stehen die Erfolge und Misserfolge Mozarts, der sich in der Hoffnung auf eine höfische Anstellung außerhalb von Salzburg zu vernetzen sucht. Dabei spielen seine Begegnungen mit potentiellen Förderern eine große Rolle, ferner musikalische Erlebnisse. Konkrete Fragen der Ästhetik werden nur in Ausnahmefällen diskutiert, etwa im Umfeld der Idomeneo-Premiere in München 1780/81. Unter dem Druck, sich gegenüber dem Vater zu behaupten, produziert Mozart mitunter „Schulbeispiele angewandter Rhetorik“ (Panagl 2005, 792). Nach seiner Übersiedelung nach Wien 1781 blieb es bis mindestens 1784 bei einem regelmäßigen Austausch über musikalische Erfahrungen und sein Wirken am neuen Ort. Die Briefe an seine Cousine Maria Anna Thekla Mozart in Augsburg, das sogenannte Bäsle, bilden für die Mozart-Forschung und die historische Sprachkritik einen ebenso spektakulären wie singulären Fall. Die neun von ursprünglich mindestens elf Briefen aus den Jahren 1777 bis 1781 „sprudeln über vor unbändigem verbalem Schabernack, weiden sich an allen um die Verdauung kreisenden Vorgängen und sparen nicht mit vernehmlichen erotischen Zwischentönen. In den Bäsle-Briefen errichtet Mozart die Bühne des Possenreißers und Wortakrobaten, und hier übernimmt er vornehmlich die Rolle eines hemmungslos schwadronierenden Witzboldes.“ (Konrad 2005, 11) Der Brief funktioniert damit in erster Linie als Medium der Unterhaltung. In den Briefen tritt nicht nur der Sturm-und-DrangStil deutlicher hervor als in der übrigen Korrespondenz. Zu ihren plakativen Eigenschaften gehört besonders die damals modische Fäkalsprache: „Bevor ich

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Ihnen schreibe, muß ich aufs Häusel gehen – – – ietzt ist’s vorbey! ach! – – nun ist mir wieder leichter ums Herz!“ (Mozart 2005, Nr. 384) Die Erben und nachfolgenden Generationen von Herausgebern distanzierten sich von der als „derb-kräftig empfundenen Ausdrucksweise“ und hielten die Briefe mindestens teilweise unter Verschluss (Eibl und Senn 1978, 14–16). Später wurde ausgehend von den BäsleBriefen die These einer erotischen Beziehung zwischen den Briefpartnern entwickelt (vgl. Hildesheimer 1977). Zumindest lässt sich festhalten, dass einzig die Cousine „genau diese Seite des Briefschreibers Mozart aufzudecken“ vermochte (Konrad 2005, 12). Ab 1789 erscheint auch Mozarts Ehefrau Constanze unter den regelmäßigen Adressat*innen. Mozart lässt Constanze an seinen letzten großen Reisen in den Jahren 1789/90 teilhaben, versucht per Brief aber auch die finanzielle Notsituation zu regeln. Über den Witz und die Wärme hinaus spricht aus den Briefen an Constanze eine tiefe Zuneigung. Die zärtliche Fürsorge um sein „liebstes bestes Weibchen“ oder auch „Herzensweibchen“ steigert sich im Extremfall bis zur sexuellen Anspielung (Mozart 2005, Nr. 1102) oder zu einer „unaufhörlichen“ Zuwendung (Solomon 2005, 438). Über den Familienkreis hinaus pflegte Mozart vergleichsweise wenig Kontakte; nur zwölf Adressaten lassen sich nachweisen. Auch in seinen Freundesbriefen, z.  B. an Joseph Bullinger, Martha Elisabeth von Waldstätten oder Gottfried von Jacquin, die sich durch ausführliche Berichte über Lebensereignisse, eine inszenierte Emotionalität und einen ungezwungenen, unterhaltsamen Stil auszeichnen, erweist er sich als für das mittlere 18.  Jahrhundert repräsentativer Schreiber. Aus der letzten Lebensphase stammen 21  Briefe an den Wiener Kaufmann und Logenbruder Johann Michael Puchberg, den er zunächst betont höflich, „freimütig und selbstbewusst“, später in einem „geradezu verzweifelten Ton“ (Solomon 2005, 445) mit Hinweis auf seine Lage um Geld bittet. Zu Verlegern unterhielt Mozart keine nennenswerten Briefkontakte.

2.2 Sprache und Rhetorik Mozarts Briefsprache zeigt sich durch seine einfache Syntax, offene Fragen und Ausrufe, sprunghafte Gedanken und umgangssprachliche Floskeln stark am Mündlichen orientiert: „Es ist der meist hastig ausgestoßene Atem eines kaum zu Luft kommenden Menschen“ (Konrad 2005, 10). Mozarts Korrespondenz zählt damit zu den einschlägigen Briefœuvres der literarischen Epoche des Sturm und Drang. Die Beschreibungen von Personen oder musikpraktischen Darbietungen und das detailgenaue, fallweise auch dialogische Nachzeichnen von Begegnungen leben vom schauspielhaften Gestus und bescheinigen dem Opernkomponis-

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ten eine scharfe Beobachtungsgabe und ein außergewöhnliches sprachliches Darstellungsvermögen (vgl. Konrad 2005, 12). Zu den auffälligsten und meistdiskutierten Eigenschaften der Briefe gehören Sprachspiele; in ihnen wird die einzigartige Kreativität des Autors sichtbar. Mozart experimentiert mit innersprachlichen Prinzipien wie der paradigmatischen Reihenbildung, mit Wortkategorien, Synonymie, dem etymologischen Ursprung von Wörtern oder der grammatikalisch festgelegten Wortfolge (vgl. Panagl 2005, 789–791): „[W]ohlen Sie leb. ich gute eine wünsche nacht. sunden sie geschlaf. werdens nächste ich schon schreiber gescheiden.“ (Mozart 2005, Nr. 379) Eigennamen und Redewendungen werden scherzhaft verformt und umgedeutet, literarische Gattungen parodistisch verfremdet (vgl. Panagl 2005, 791–792), Fremdsprachen und Dialekte mit dem Schriftdeutschen vermischt. Um sich vor der Zensur zu schützen, wurde innerhalb der Familie gelegentlich auch ein Sprachcode praktiziert: „Wegen alfnlr splrm [meiner opera] seyen sie ausser Sorg, mein liebster vatter“ (Konrad 2005, 20). In ausgewählten Briefen dient der Sprachklang als zentraler Impuls für die sprachliche Gestaltung, wie im Reim deutlich wird (vgl. Seidlin 1970, 127): „Ich habe dero mir so werthes schreiben richtig erhalten falten, und daraus ersehen drehen, daß der H: vetter retter, die fr: baaß has, und sie wie, recht wohl auf sind hind“ (Mozart 2005, Nr. 362). Die vielfältigen sprachlichen Erscheinungen und die Souveränität der Sprachbeherrschung gaben dazu Anlass, das Briefschreiben bei Mozart als kreativen Prozess zu verstehen und die Brieftexte mit dem kompositorischen Schaffen in Beziehung zu setzen. In den Brieftexten finden sich beispielsweise grundlegende Charaktereigenschaften der Werke wieder, z.  B. Dramatik oder Humor (vgl. Hoesil 1948; Kühn 1960). Noch konkreter lässt sich das „kompositorische Formeninventar und Typeninventar als Interpretationsraster“ auf die Formulierungstechniken übertragen (Panagl 2005, 788), wie beispielsweise Variation, Rondo (vgl. Hildesheimer 1977, 152), Imitation (vgl. Konrad 2005, 15) oder Sonatenform (vgl. Seidlin 1970, 128).

2.3 Forschung Die historisch-kritische Gesamtausgabe der Briefe und Aufzeichnungen mit insgesamt 1.643 Dokumenten, herausgegeben durch Wilhelm A. Bauer, Otto Erich Deutsch und Joseph Heinz Eibl, erschien zwischen 1961 und 1975. Ein 2005 erschienener Nachdruck erweitert die Ausgabe um neue Quellen sowie einen ausführlichen Kommentar (vgl. Mozart 2005 [1963–1971]). Die Internationale Stiftung Mozarteum Salzburg, die den Großteil der Originalquellen verwahrt, arbeitet seit 2006 an einer Neuedition der Briefe der Familie Mozart im digitalen Format und der Bereitstellung von bislang unpublizierten Briefquellen und von

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Digitalisaten. Sie umfasst derzeit die Reisekorrespondenz der Familie Mozart zwischen 1769 und 1781 sowie die Korrespondenz Mozarts in seinen Wiener Jahren 1781 bis 1791. Als wichtigste biographische Quelle der Familie Mozart fanden die Briefe Eingang in eine unüberschaubare Anzahl an wissenschaftlichen und populären Darstellungen zu Leben und Werk Mozarts und wurden aus vielfältigen Perspektiven betrachtet und ausgewertet. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts rückten verstärkt der Sprachstil und die Verbindungen zum kompositorischen Schaffen in den Fokus (vgl. Hoesil 1948; Kühn 1960; Seidlin 1972). Jüngere Darstellungen folgen diesem Anliegen und bemühen sich zusätzlich um eine Einordnung des Gegenstandes in sprach- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge (vgl. Sauder 1995; Serwe 1998; Konrad 2005; Panagl 2005; Konrad 2015). Ingo Reiffensteins Studie über die Sprachvariation in den Briefen der Mozart-Familie steht exemplarisch für das Erkenntnispotential, das Musikerbriefe auch über ihren Inhalt hinaus besitzen (vgl. Reiffenstein 2009). In Romanen der 1970er und 1980er Jahre wurden die Briefe und ihre Sprache zum Ausgangspunkt literarisch-psycho­analytischer Überlegungen (vgl. z.  B. Hildesheimer 1977; Ortheil 1982).

3 Ludwig van Beethoven 3.1 Bestand Die ca. 1.770 im Original, Druck oder in Abschrift überlieferten Briefe und Billets Beethovens richten sich an über 200 Personen und Institutionen, Verleger, Mäzene, Musiker, Dichter, Behörden, Kopisten, Helfer, Freunde und Familienmitglieder. Dem unterschiedlichen Verhältnis zum Empfänger und dem jeweiligen Anlass entsprechend sind Inhalt, Sprache, formale Anlage und Schriftbild der Briefe sehr variabel, „immer stark gefühls- und sympathieabhängig, aber auch zweckbestimmt“ (Kropfinger 21999, 678). Die verschiedenen Textsorten wie Geschäftsbrief, Freundschaftsbrief, Liebesbrief, Tagebucheintrag etc. verschmelzen typischerweise miteinander (vgl. Roch 2005, 150). Als „Charakterstücke eigenen Rechts“ (Kropfinger 21999, 677) sind die Briefe am ehesten aus dem jeweiligen Adressatenkontext heraus zu begreifen. Der größte Teil der Originalbriefe, ca. 750 Stück, befindet sich im Beethoven-Haus in Bonn. Weitere größere Bestände beherbergen die Staatsbibliothek zu Berlin, die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, die Österreichische Nationalbibliothek und die Wienbibliothek und verschiedene Bibliotheken in London; einzelne Briefe befinden sich in Privatbesitz.

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Beethoven unterhielt Beziehungen zu Verlegern im gesamten deutschsprachigen Raum sowie in Frankreich, England und Schottland. Die Briefe geben vor allem Aufschluss über Werkaufträge, Angebots- und Preisverhandlungen, Drucklegung und Distribution der Werke; die Werkästhetik wird nur sehr sporadisch zum Gesprächsthema. Beethovens Verlegerbriefe zeichnen sich durch einen weitgehend informellen Stil aus, gelegentlich beinhalten sie Scherze und ironische Anspielungen. Auch auf der inhaltlichen Ebene wird der Kontext des rein Geschäftlichen immer wieder übertreten, etwa durch Beethovens Hinweise auf seine Alltagsprobleme. Wie weit sich der Umgangston von einem nüchternen Geschäftsstil entfernt, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel des Briefwechsels mit dem Wiener Verleger Sigmund Anton Steiner und seinen Mitarbeitern. Die geschäftlichen Inhalte werden hier auf spielerische Art vermittelt, im Rahmen ­ ollenspiels. eines auf militärischen Strukturen und Umgangsformen basierenden R Um Beethoven von der Schreibarbeit im praktischen wie theoretischen Sinn zu entlasten und eine professionelle Abwicklung der Geschäfte zu gewährleisten, assistierten ihm zeitweise Freunde, Verwandte oder Bekannte beim Briefschreiben, darunter sein Bruder Kaspar Karl van Beethoven, sein Neffe Karl van Beethoven und Anton Schindler. Die Auswahl an bekannten Künstler*innen und Intellektuellen unter Beethovens Adressat*innen, darunter Christoph August Tiedge, August von Kotzebue, Karl August Varnhagen von Ense, Carl Friedrich Zelter, Bettina von Arnim, Franz Grillparzer und Johann Wolfgang von Goethe, täuscht darüber hinweg, dass es sich dabei oftmals nur um einen einmaligen Briefkontakt handelte. Über sein Schaffen äußert sich Beethoven in seinen Briefen nur vereinzelt und beiläufig, z.  B. in einem Brief an seinen Kompositionsschüler und Freund, den Erzherzog Rudolph: „[A]llein Freyheit, weiter gehn ist in der Kunstwelt, wie in der ganz großen schöpfung, zweck, u. sind wir neueren noch nicht ganz so weit, als unsere altvordern in Festigkeit, So hat doch die verfeinerung unsere Sitten auch manches erweitert.“ (Beethoven 1996, Nr. 1318) Grundsätzlich sind die Symptome bei ihm dieselben wie etwa bei Joseph von Eichendorff, der „weder ein gewandter Causeur [war], noch  […] zur einläßlichen literarischen, literaturtheoretischen oder gar tagespolitischen Debatte [neigte]“ (Steinsdorff 1992, VII). Auch mit seinen Freund*innen und Verwandten unterhielt Beethoven keinen regelmäßigen Briefkontakt. Umso größere Bedeutung und Bekanntheit erlangten die einzelnen Schreiben an vertraute Personen wie die Familie von Breuning, Franz Gerhard Wegeler, Carl Amenda, Ignaz von Gleichenstein oder Gräfin Marie Erdödy, die „autobiographische ‚Spotlights‘“ auf seine innere Biographie werfen (Kropfinger 21999, 684). In außergewöhnlichen Phasen seines Lebens, die später als biographische Wendepunkte bezeichnet wurden, sah sich Beethoven zu einer intensiven Reflexion über sein Gefühlsleben und über sein Selbstverständnis als

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Mensch und Künstler veranlasst. In den Schriftstücken, die dies dokumentieren, insbesondere dem Heiligenstädter Testament und dem Brief an die Unsterbliche Geliebte, spiegeln sich einschlägige anthropologische und ästhetische Tendenzen der Zeit wider, z.  B. das Bedürfnis zur Selbstmitteilung, die Überlagerung autobiographischer und literarischer Momente und eine „publizitätsbezogene[] Subjektivität“ (Habermas 1990, 114). Beide Schriftstücke besitzen aufgrund ihrer individuellen, aus der jeweiligen biographischen Situation erwachsenen Form und ihres offenen Textstatus – beide wurden in Beethovens Nachlass aufgefunden, d.  h. zu Lebzeiten offenbar weder versandt noch veröffentlicht – einen exklusiven Rang nicht nur innerhalb der Musik-, sondern auch der Literaturgeschichte. Schon der Titel des Heiligenstädter Testaments, das Beethoven am Ende eines Kuraufenthalts im Oktober 1802 in dem damaligen Wiener Vorort Heiligenstadt niederschrieb, deutet darauf hin, dass das Dokument nur bedingt der Textsorte Brief zugeordnet werden kann. Als Motivationsgrund für die Schrift gilt eine persönliche Krise Beethovens, ausgelöst durch die Erkenntnis, dass sich seine Hörfähigkeit seit Jahren kontinuierlich verschlechterte. In dem ersten Teil der Schrift beschreibt Beethoven die Symptome seiner Gehörkrankheit und die inneren Leiden und Konflikte, die dadurch verursacht worden sind, bis hin zu Selbstmordabsichten. Als einzigen Ausweg nennt er das künstlerische Schaffen: „[N]ur sie die Kunst, sie hielt mich zurück, ach es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte“ (Beethoven 1996, Nr. 106). Adressiert ist der Teil explizit an einen anonymen, öffentlichen Adressatenkreis, den er zu Beginn mit der emphatischen Anrede „O ihr Menschen“ anspricht. Eine weitere Funktion des Textabschnitts besteht in der Rechtfertigung Beethovens für sein krankheitsbedingtes, durch seine Mitmenschen als „Feindseelig störisch oder Misantropisch“ interpretiertes Verhalten; davon ausgehend besitzt der Text eine strenge argumentative Struktur (vgl. Jander 2007; Sisman 1994, 83). In dem folgenden Textteil richtet sich Beethoven an seine Brüder Kaspar Karl und Johann, die gleichzeitig als die nominellen Adressaten der Schrift fungieren, trifft testamentarische Verfügungen und nimmt Abschied von den Anverwandten. Durch die explizit zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Konkretheit und Fiktion changierende „mehrschichtige[] Adressatenbühne“ (Kropfinger 21999, 707) und die Textsortenmischung aus Bekenntnisschrift, Testament, Abschiedsbrief und literarischem Text ist das Heiligenstädter Testament auch aus literaturhistorischer Sicht ein singuläres Phänomen. Im Brief an die Unsterbliche Geliebte, einem zehnseitigen Liebesbrief, den Beethoven am 6. und 7. Juli 1812 in Teplitz niederschrieb, werden die Gefühle zu einer anonym bleibenden Dame und die Problematik verhandelt, die Beziehung zu ihr nicht oder zumindest nicht offiziell weiterführen zu können. Der Titel des

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Dokuments leitet sich ab von der einmaligen Anrede der Adressatin als „meine Unsterbliche Geliebte“. Die Suche nach ihrer Identität avancierte zu einem Hauptanliegen der Beethoven-Biographik; aktuellen Darlegungen zufolge handelt es sich um Josephine Deym (vgl. Steblin 2007). Der Text erweist sich als in hohem Maße stilisiert. Dies lässt sich sowohl auf der Ebene des Inhalts feststellen, z.  B. der grundsätzlichen Vagheit der Aussagen und der Integration weltanschaulichen Gedankenguts in den Gefühlskontext, als auch an der sprachlichen und formalen Ausgestaltung. Die vier Textabschnitte sind durch ein dichtes Netz an Assoziationen miteinander verknüpft, die Sprache ist geprägt vom Sturm-undDrang-Stil: „Ach, wo ich bin, bist du mit mir, mit mir und dir rede ich mache daß ich mit dir leben kann, welches Leben!!!! so!!!! ohne dich“ (Beethoven 1996, Nr. 582).

3.2 Schriftbild Beethovens Schrift erscheint, was die Größe, Laufweite und Form betrifft, in vielen Fällen extrem dynamisch. Darüber hinaus finden sich in den Reinschriften der Briefe zahlreiche Spuren des Textproduktionsprozesses wie Korrekturen, Ergänzungen oder Umstellungen von Wörtern oder Textteilen. Oft wird dadurch die Lesbarkeit erschwert. Das Erscheinungsbild der Briefe hat die frühere Forschung als Ausdruck eines rebellischen und exzentrischen Wesens interpretiert, „eines energischen, aber undisziplinierten Kopfes, dessen Worte mehr verhüllen, als sie auszusprechen vermögen“ (Bekker 21912, 53). Dieses Urteil lässt sich bei näherer Prüfung nur bedingt aufrechterhalten. Die äußere Erscheinung kann je nach Adressat und Anliegen sehr stark variieren. Die Briefe an Erzherzog Rudolph beispielsweise weisen durchgehend ein ordentliches Schriftbild auf. Aus Sicht der Schreibforschung, die die Manuskripte als eine eigenständige Informationsschicht begreift, offenbart sich in Beethovens Schriftbild ein großes Potential. Neue Erkenntnisse könnten aus dieser Perspektive z.  B. aus dem Zusammenhang zwischen Schriftdynamik und Rhetorik der Brieftexte oder möglichen Bezügen zu den ebenso vielschichtig verlaufenden kompositorischen Arbeits- und Denkprozessen gewonnen werden, die anhand des umfangreichen Materials an musikalischen Skizzen und Autographen aktuell erforscht werden (vgl. das Projekt Beethovens Werkstatt. Genetische Textkritik und Digitale Musikedition).

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3.3 Sprachstil und Orthographie Beethovens Briefe weisen ein breites Spektrum an für seine Zeit charakteristischen Stillagen und Formalitätsgraden auf. Dieses reicht vom empfindsamen Stil, z.  B. in den frühen Freundschaftsbriefen an Eleonore von Breuning, über den vor allem in der mittleren Lebensphase gepflegten Sturm-und-Drang-Stil, z.  B. in den Briefen an Josephine Deym, einen für den Wiener Raum typischen scherzhaftironischen Gestus, z.  B. in den Briefen an Nikolaus Zmeskall oder Tobias Haslinger, bis hin zum formelhaften Kompliment, z.  B. in den Briefen an Erzherzog Rudolph. Ein herausragendes Stilmerkmal von Beethovens Briefen ist der Humor. Auch hier sind sehr unterschiedliche Arten festzustellen: Die Skala beginnt bei einfachen Wortspielen, etwa mit den Namen der Adressat*innen, z.  B. „Zmeskälchen“ für Zmeskall (Beethoven 1996, Nr. 970), und sarkastischen Anspielungen, etwa an den Bruder Johann, den Beethoven einmal als „Besitzer aller Donauinseln um Krems! Director der gesammten Österreichischen Pharmacie!“ bezeichnet (Beethoven 1996, Nr. 1505), und endet bei der humoristischen Selbstreflexion des Komponisten wie etwa im Brief an Tobias Haslinger vom 10. September 1821 (vgl. Beethoven 1996, Nr. 1439; vgl. dazu auch Kinderman 2001). In der Beethoven-Forschung wurde immer wieder auf die Irregularitäten seiner Schriftsprache hingewiesen, die Normabweichungen im Ausdruck und insbesondere die als uneinheitlich geltende Rechtschreibung (vgl. z.  B. Leitzmann 1909, XX; Bekker 21912, 68; Brandenburg 1996, XXIV). Erklärt wurden diese Phänomene durch die rudimentäre Schulbildung des Komponisten oder seine Persönlichkeit. Unter Berücksichtigung der sprachhistorischen Bedingungen und seines nachgewiesenen Bewusstseins für orthographische Prinzipien (vgl. Roch 1988, 228; Kropfinger 21999, 675) lässt sich auch dieses Urteil stark relativieren. Vermehrt ab den Jahren 1817/18 legte Beethoven Briefen an Freunde und Bekannte ein kleines Musikstück bei, meist ein Kanon; in einigen Fällen ersetzt der Kanon auch die Mitteilung. Den Briefkanons wurde über ihre Symbolkraft als „Kürzel oder Klangsiegel kompositorischer Meisterschaft“ hinaus eine eigene kommunikative Funktion zugesprochen (Kropfinger 21999, 682). Eine systematische Untersuchung des Phänomens der „Briefmusik“ (Kropfinger 21999, 681) im 19. Jahrhundert gehört auch über Beethoven hinaus zu den Desiderata der Musikwissenschaft.

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3.4 Forschung Einzelne Briefe Beethovens wurden bereits zu seinen Lebzeiten veröffentlicht. Zwischen 1865 und 1923 erschienen mehrere so bezeichnete Gesamtausgaben, die aus heutiger Sicht jedoch „höchst unvollständig, in der Textwiedergabe, wie sich erwiesen hat, unzuverlässig und wissenschaftlich längst überholt“ sind (Brandenburg 1996, XI). Erst in den 1990er Jahren wurde die erste kommentierte Gesamtausgabe der Briefe von und an Beethoven und einiger für den Kontext relevanter Briefe Dritter nach historisch-kritischem Standard realisiert (vgl. Beethoven 1996–). Eine englische Neuübersetzung der Briefe von Beethoven gehört zu den größten Lücken der internationalen Beethoven-Forschung; die 1961 erschienene Standardausgabe von Emily Anderson ist deutlich veraltet (vgl. Beethoven 1961). Eine englischsprachige Ausgabe der Briefe an Beethoven erschien 1996 (vgl. Beethoven 1996). Ein Großteil der Autographe ist inzwischen in digitaler Form verfügbar, z.  B. über das Digitale Archiv des Beethoven-Hauses Bonn. Als eine der Hauptquellen für die Biographie und Werkbiographie Beethovens sind die Inhalte der Briefe weitestgehend erforscht. Zu Beginn der Forschungen standen außerdem grundlegende Untersuchungen zur Handschrift (vgl. z.  B. Unger 1926). Historische oder systematische Fragen die Sprache betreffend sowie zu möglichen Verbindungen zum kompositorischen Schaffen wurden im Rahmen der Betrachtung einzelner Briefe, vor allem des Heiligenstädter Testaments und des Briefs an die Unsterbliche Geliebte, gestreift (vgl. z.  B. Goldschmidt 1977). In einzelnen Studien rückten sie, auch in Bezug auf unbekannteres Briefmaterial, in den Mittelpunkt (vgl. Roch 1988; Schmidt 1988; Kropfinger 21999; Kinderman 2001). Eine eingehende Untersuchung der Briefe, insbesondere ihrer sprachlichen, stilistischen und rhetorischen Eigenschaften, sowie „eine weiter vorangetriebene Differenzierung im auf den Komponisten bezogenen Begriff Brief und seinem Kontext überhaupt“ (Kropfinger 21999, 674) gehört zu den dringendsten Aufgaben zur weiteren Erschließung des Wissenshorizonts, der Persönlichkeit und des Denkens des Komponisten.

Zitierte Literatur Bach, Carl Philipp Emanuel (1994). Briefe und Dokumente. Kritische Gesamtausgabe. Kritische Gesamtausgabe. 2 Bde. Hg. v. Ernst Suchalla. Göttingen. Beethoven, Ludwig van (1961). The Letters of Beethoven. 3 Bde. Hg. v. Emily Anderson. London u. New York. Beethoven, Ludwig van (1996). Letters to Beethoven and Other Correspondence. 3 Bde. Hg. v. Albrecht Theodore. Lincoln u.  a.

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5.17 Musikerbriefe vor und um 1800 

 1019

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 5 18. Jahrhundert

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Claudia Sedlarz

5.18 Künstlerbriefe aus Rom und Italien bis 1800 1 Einleitung: Künstler in Rom im 18. Jahrhundert Ein Romaufenthalt war lange der angestrebte Abschluss der Ausbildung europäischer Künstler. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kamen Maler, Bildhauer und Architekten aller Nationen nach Rom, um dort sowohl die Zeugnisse der Antike als auch die berühmten Meisterwerke der Renaissance zu studieren. Einem Verzeichnis der in Rom lebenden Künstler aus dem Jahr 1787 zufolge hielten sich damals ca. 560 Künstler in der Stadt auf, davon ungefähr 400 Italiener und rund 160 Künstler anderer Nationen, von denen ca. 120 Deutsche, Franzosen und Engländer namentlich aufgeführt sind (vgl. Tausch und Johannsen 2004, 360). Die Anwesenheit so vieler Künstler machte Rom nicht nur zum wichtigsten Ort des Studiums historischer Kunst, sondern auch zu einem Zentrum der Gegenwartskunst, das vom Austausch und der Konkurrenz unter den Nationen profitierte. Die Ankunft in Rom bedeutete für die Künstler eine Ankunft am Ziel ihrer Träume. Die Italiensehnsucht war in der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts von der Überzeugung geprägt, dass nur dort und vor allem in Rom selbst die Quelle zum Verständnis der Kunst und des Schönen zu finden sei. Diese Sehnsucht wurde maßgeblich vorgeprägt durch das Œuvre Johann Joachim Winckelmanns, insbesondere durch seine Briefe. Dem ging zwar eine lange Tradition der Rombeschreibungen, der Reiseliteratur und selbstverständlich auch der Briefe aus Rom voraus, doch erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts konvergierten mehrere Entwicklungen, die aus dem Künstlerbrief ein eigenständiges Genre entstehen ließen, zu dem beizutragen den meisten Briefschreibern bewusst war: Die Blütezeit der Briefkultur fiel zusammen mit dem Beginn der bürgerlichen Bildungsreisen nach Italien und einem steigenden Interesse an bildender Kunst und an der Antike. Eine große Anzahl von Reisebeschreibungen traf auf den mindestens ebenso großen Lesehunger des europäischen Publikums. Diskurse der Empfindsamkeit verzahnten sich mit der Reflexion über Einbildungskraft und ästhetische Wahrnehmung und mit kunsthistoriographischen und kunstkritischen Raisonnements. Zuletzt bedeutete das Leben im über 150.000 Einwohner*innen zählenden Rom gerade für die deutschen Künstler, die aus kleineren Residenzstädten stammten, eine völlig neue Erfahrung. Es entstanden dort Vorformen einer Bohème, deren gesellige Zusammenkünfte vorwiegend der Arbeit https://doi.org/10.1515/9783110376531-081

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dienten, sei es der gemeinsamen Besichtigung der römischen Sammlungen, sei es gemeinsamen Ausflügen in das Umland Roms. Die Fremdheitsgefühle der Ankömmlinge wurden durch bereits anwesende Freunde aufgefangen, die sie in ihre Kreise aufnahmen. Der Romaufenthalt wurde zu einer paradigmatischen Situation im Künstlerleben und der in Rom lebende Künstler zu einer paradigmatischen Figur, zum Helden des in dieser Zeit entstehenden Künstlerromans. Künstler galten als ideale Rezipienten Roms, da ihnen ein besseres, tieferes Verständnis der Werke ihrer Vorgänger zugetraut wurde als den Laien, zu denen sich ja auch Gelehrte zählen mussten. Nicht umsonst bemühten sich sowohl Winckelmann als auch Johann Wolfgang von Goethe in Rom um Kunstausübung.

2 Romrezeption und Briefe aus Rom Die religiöse und politische Bedeutung der Stadt hatte schon zuvor die Anwesenheit vieler Künstler erfordert, die im Rahmen von Kirchenbau und -ausstattung wie auch für die Ausstattung der zahlreichen Paläste und Villen Aufträge erhielten. Parallel zur Erforschung der Antike durch die Humanisten entstand spätestens im Rom der Frührenaissance eine besondere Ausbildungssituation, die das in der Stadt gesammelte Kunstwissen reflektierte und in- und ausländische Künstler anzog. 1577 erfolgt die Gründung der Accademia di San Luca und 1666 der Académie Française à Rome. In der amtlichen Korrespondenz der Direktoren der französischen Akademie in Rom mit der Mutterinstitution in Paris liegt das sicherlich umfangreichste zusammenhängende Korpus an Briefen aus Rom vor, das sowohl durch seine diachrone Spanne von der Gründung der Akademie bis 1914, als auch durch seine institutionell bedingte Strukturiertheit herausragt. Es wurde zudem schon früh ediert (vgl. Montaiglon 1887–1908; Brunel 1979). Der Briefwechsel ist vorwiegend organisatorischen Inhalts, Geschehnisse außerhalb der Akademie werden selten ausführlich thematisiert. Einzelne Briefe italienischer Künstler sind bereits aus dem 14. Jahrhundert überliefert. Die ersten umfangreichen Sammlungen von italienischsprachigen Künstlerbriefen wurden Ende des 18. Jahrhunderts durch den in Rom ansässigen Gelehrten und Bibliothekar Giovanni Gaetano Bottari (1689–1775) zusammengestellt, sie enthalten zahlreiche in Rom abgefasste Briefe (vgl. Bottari 1754–1773; Gualandi 1975 [1844/45]; aus diesen Sammlungen übersetzte Guhl 1853, zu weiteren Sammlungen vgl. Davis 2009, 11–17). Gesammelt wurden sie als Quellen zu den Künstlerviten bzw. als Belege zu den Werken dieser Künstler. Wie in den

5.18 Künstlerbriefe aus Rom und Italien bis 1800 

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Briefen, die Nicolas Poussin 1639–1665 in Rom verfasste (vgl. Jouanny 1911; Bruhn 2000), überwiegt in ihnen allen die geschäftliche Thematik. Um 1700 begann die zunehmende Glorifizierung des Kunstorts Rom, zunächst vor allem durch die englischen Reisenden wie Joseph Addison. In der Folge entstand 1734 die Society of Dilettanti, in die nur Männer aufgenommen wurden, die eine Grand Tour mit Italienaufenthalt absolviert hatten. Sie vergab auch Stipendien für Romaufenthalte von Künstlern. Zunehmend wurden Besuche Italiens nicht mehr nur als eine Station im Rahmen der klassischen Kavalierstour durch Europa unternommen, sondern Gebildete verschiedener Stände führten die Reise nach Rom gezielt mit dem Interesse durch, die Stadt als ehemaliges Zentrum der Alten Welt und späteres Zentrum päpstlicher Macht zu besichtigen (vgl. Rees und Siebers 2005, 53, 58). Als Reaktion darauf entstanden umfangreiche Reiseführer mit historischen Anmerkungen, ein Graphikmarkt, der großformatige Romveduten und Reproduktionen der kanonisierten Werke produzierte, und ein professioneller Kunsthandel mit historischen Originalen. Bekannte Händler waren Gavin Hamilton, von dem eine Sammlung von über dreihundert größtenteils in Rom verfassten Briefen aus den Jahren 1748–1796 überliefert ist (vgl. Cassidy 2011), und Thomas Jenkins (vgl. Pierce 1965); sie waren beide zunächst als Künstler tätig gewesen (zum römischen Kunsthandel allgemein vgl. Bignanimi und Hornsby 2010; Bd. 2, mit 423 Briefen, meist aus Rom von 1764–1798, bezogen auf Grabungen und Handel mit Antiken und Gemälden). Mit dem römischen Werk Johann Joachim Winckelmanns, das seit dessen Ankunft in Rom 1755 entstand, vollzog sich ein Paradigmenwechsel von humanistisch-philologisch geprägter Gelehrsamkeit zu Empfindsamkeit und auf genauer Kenntnis der Originale beruhender Kennerschaft, der besonders die deutsche Romrezeption entscheidend veränderte. Von den nahezu 900 Briefen, die Winckelmann in Italien verfasste (vgl. Rehm 1952–1957), wurden viele schon früh veröffentlicht (vgl. Disselkamp 2017, 114, 116). Winckelmann setzte Briefe gezielt ein, um seinen Ruhm zu fördern, sein öffentliches Ansehen zu kontrollieren und ggf. zu korrigieren (vgl. Disselkamp 2017, 117). Winckelmanns Schriften, die in ganz Europa, besonders aber in Deutschland auf intensives Interesse stießen, prägten eine neue Einstellung zu Rom als der ‚Hauptstadt der Welt‘ – gegen den deutschen Provinzialismus, dem man über die Beschäftigung mit bildender Kunst entkommen wollte. Das steigende Interesse an Kunstwissen bedeutete eine Aufwertung des Künstlerberufs und Kunstexpertentums. Aktuelle römische Kunstnachrichten aus erster Hand wurden zum hochgeschätzten Gut. Dies betraf nicht nur Grabungskampagnen und neue archäologische Funde, sondern auch Nachrichten über neu eingetroffene Künstler und ihre Werke, über Novitäten auf dem florierenden Markt für Reproduktionsgraphik und Gipsabgüsse von antiken Skulpturen, die nun eifrig gesammelt

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wurden. Briefe waren nur ein Medium unter vielen, mit denen Kunstwissen nach Deutschland kam: Informationsträger waren auch Reisebeschreibungen, theoretische Abhandlungen, Beschreibungen italienischer Sammlungen und Bauwerke und auch Objekte, wie originale Kunstwerke, sowie graphische Reproduktionen und Gipsabgüsse (vgl. Scott 2004; Schreiter 2014). Viele zentrale Figuren europäischer Briefnetzwerke, wie etwa Johann Caspar Lavater und Salomon Geßner in Zürich oder Friedrich Melchior Grimm und Johann Georg Wille in Paris, erhielten regelmäßig Nachrichten aus Rom. Nach Winckelmanns Tod 1768 übernahm Johann Friedrich Reiffenstein seine Aufgaben als Fremdenführer für hochrangige Reisende und baute nach seiner Berufung zum Kaiserlich russischen Hofrat einen europaweiten Korrespondenzzirkel zwischen Paris und St. Peterburg auf, dessen deutsches Zentrum der Hof in Gotha war (vgl. Frank 2013). Für weniger gut vernetzte Interessierte wurden immer häufiger Briefe aus Rom in Zeitschriften eingerückt (etwa im Teutschen Merkur, im Deutschen Museum), die teils längere Rezensionen von neuen Werken anwesender Künstler oder Ausstellungen boten, teils nur sehr knapp und aufzählend aktuelle Nachrichten aneinanderreihten. Es entstand neben dem Tätigkeitsfeld des Kunstagenten, der als Beschaffer von Kunstwerken beauftragt wurde, auch dasjenige eines Kunstkorrespondenten (vgl. Vogt 2010, 298–326). Beide Aufgaben wurden, oft in Personalunion, für verschiedene Auftraggeber ausgeführt, etwa von dem Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff (vgl. Rüfer 1996; Speler 1999), dem Vertreter der Berliner Kunstakademie in Rom Friedrich Rehberg (vgl. Sedlarz 2005) oder von Friedrich „Maler“ Müller, der sich von 1778 bis zu seinem Tod 1825 in Rom aufhielt (vgl. Müller 1998). Im Auftrag ihrer Landesherren oder auch bürgerlicher Sammler berichteten sie über Kaufoptionen, Preise oder auch Schwierigkeiten bei der Beschaffung. Sie entwickelten Bewertungskriterien und arbeiteten in einem Feld der Kennerschaft, das sich erst im 19.  Jahrhundert in die Disziplinen Kunstgeschichte, Archäologie und Kunsthandel aufspalten sollte. Eine Welle von Akademiegründungen in Nordeuropa führte ab der Mitte des 18.  Jahrhunderts viele junge Künstler nach Rom, die sich ausschließlich dem Studium der kanonischen Originale widmeten. Andere arbeiteten weiterhin in den Ateliers bekannter Künstler, wie etwa Johann Gottlieb Puhlmann, der 1774– 1787 in Rom lebte und bei Pompeo Batoni, einem der erfolgreichsten klassizistischen Künstler, arbeitete. Darüber und über sein Alltagsleben in Rom berichtete er in vierundvierzig langen, lebhaft und detailliert erzählenden Briefen an seine Familie in Potsdam (vgl. Eckardt 1979). Von den Briefen Jakob Philipp Hackerts, der in den 1780er Jahren zum erfolgreichsten Künstler in Rom aufstieg, ist sicherlich nur ein kleiner Teil erhalten: eine Edition (vgl. Hackert 2012) umfasst 123 ausführlich kommentierte Briefe, vorwiegend Geschäftsbriefe.

5.18 Künstlerbriefe aus Rom und Italien bis 1800 

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1786 kamen nahezu gleichzeitig Johann Wolfgang von Goethe und Karl Philipp Moritz in Rom an, lernten sich kennen und bildeten um sich einen Kreis, in dem der Austausch über Kunst mit systematischem Anspruch betrieben wurde. Nachdem Goethe im Mai 1788 Rom verlassen hatte, richteten viele der Künstler, mit denen er Umgang gehabt hatte, Briefe an ihn; sie berichteten davon, wie sehr sie ihn vermissten, und kolportierten außerdem Neuigkeiten aus Rom. Die Edition dieser Schreiben (vgl. Harnack 1890) prägte das Bild von Goethes Umfeld in Rom nachhaltig. Geringere Aufmerksamkeit erfuhr die Weiterverarbeitung und Weitergabe der Erkenntnisse aus Rom, die Karl Philipp Moritz mit seiner Reisebeschreibung, Reise eines Deutschen in Italien 1786–88. In Briefen und seinen Werken zur antiken Mythologie und Religionsausübung (vgl. Moritz 1997 [1792/1793]) in Berlin betrieb. Als Mitherausgeber zweier Zeitschriften mit expliziter Kunstthematik: Italien und Deutschland und Monats-Schrift der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin, veröffentlichte er Berichte von Bekannten aus Rom, vor allem von Aloys Hirt, der als zweiter Herausgeber der Zeitschrift Italien und Deutschland fungierte. Manches davon griff Moritz in seinem letzten Werk, der 1793 posthum als Fragment veröffentlichten, in Briefen erzählten Künstlernovelle Die neue Cecilia wieder auf (vgl. Moritz 1962 [1794]). Moritz’ Vorlesungen über Kunsttheorie und Kunstgeschichte an der Berliner Akademie der Künste besuchten viele Künstler, die später als Stipendiaten nach Rom gehen sollten. Zu ihnen gehörte Asmus Jakob Carstens, dessen Briefe an den Kurator der Berliner Akademie Friedrich Anton von Heynitz einen hohen Bekanntheitsgrad erlangten. Carstens erhielt 1792 ein Rom-Stipendium der Berliner Akademie. Nach einem dreijährigen Aufenthalt widersetzte er sich der Aufforderung zur Rückkehr nach Berlin mit der Formulierung, er gehöre „nicht der Berliner Akademie, sondern der Menschheit an […], die ein Recht hat die höchstmögliche Ausbildung meiner Fähigkeiten von mir zu verlangen“ (Büttner 1992, 89). Carstens’ Freund Carl Ludwig Fernow, der von 1794 bis 1803 in Rom lebte, rückte Auszüge aus der Korrespondenz zwischen Stipendiat und Akademiekurator in seine 1806 erschienene Biographie Carstens’ ein (vgl. Fernow 1806, 2013). Scharfe Kritik am verschulten und unfreien Akademieunterricht findet sich auch in den Briefen Anne-Louis Girodets an Benoît-François Trioson, den z.  B. das straffe Reglement an der französischen Akademie in Rom an „einen Königlichen Schafstall“ [„une grande bergerie royale“] denken lässt, „für ein Dutzend Schafe, die gleichzeitig aufstehen, arbeiten und zu Bett gehen müssen“ [„pour loger douze moutons obligès de se lever, de travailler, de se coucher aux mêmes heures“; Brief an Trioson, Rom vom 25.11.1791, Girodet 1839, Bd. 2, 399; Übers.  d. Verf.]. Kritik an der akademischen Ausbildung und dem Kunstbetrieb in Rom überhaupt äußerte auch Joseph Anton Koch in seinen Briefen aus Rom (vgl. Schneider 1938).

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Die Gegenseite verkörperte Friedrich Rehberg, der seit 1787 im Auftrag der Berliner Akademie die Stipendiaten in Rom betreuen, ihre Arbeitsfortschritte kontrollieren und über diese vierteljährlich an die Akademie berichten sollte. Rehberg berichtete jedoch nicht nur über die Stipendiaten, sondern auch über Neuerscheinungen und die Ausstellungen an der Französischen Akademie. Die Schließung der französischen Akademie in Rom infolge der Französischen Revolution 1793 (Wiedereröffnung 1801) bildete eine Zäsur des Kunstlebens in Rom. Mit der Besetzung Italiens durch Napoleon 1796, dem Einmarsch napoleonischer Truppen in Rom 1798 und der Verbringung berühmter Kunstschätze in den Louvre wurde Rom als Reiseziel für einige Jahre gemieden, die meisten Künstler verließen Rom. Als Wilhelm von Humboldt 1802 den Posten des preußischen Gesandten in Rom übernahm, begann eine neue Ära. Mit seiner Frau Caroline führte er ein offenes Haus, das auch zum Treffpunkt deutscher Künstler wurde, die nun allerdings schon einer anderen Generation angehörten und der Schule der Nazarener zuzurechnen sind.

3 Themen von Rombriefen/Adressatenbezug Der Reiz der Briefe aus Rom liegt nicht zuletzt darin, dass die Schreiber die Zeit ihres Aufenthalts mit wenigen Ausnahmen als eine Zeit des Genusses erleben: „Ach gott, wie danck ich’s doch meinem guten Schicksal das ich jetzt, noch jetzt in den tagen des vermögens und gefühls diese Wunder zu schauen und zu kosten beglückseeligt bin“ (Maler Müller an Dalberg, 10.11.1778, Müller 1998, 93). Die Stipendien, die viele erhielten, waren – wenn auch nicht immer im direkten Wettbewerb gewonnen, wie in den strengen Concours der Pariser Akademie, so doch jeweils – eine Anerkennung außerordentlicher Leistungen oder zumindest Ausweis einer besonderen Protektion. Auserwählt zu sein war also ein erster Anlass zur Freude, ein zweiter, nun vor den kanonischen Originalen zu stehen, deren Mustergültigkeit als sakral empfunden wurde: „So eben kom ich aus’m vatican nach Hauße, wo mich duncklung und Nacht von den unaussprechlich herrlichen Wercken Raffaels weggetrieben, alle morgen und alle Mittag muß ich einmal hin und mir dort meinen Seegen holen“ (Maler Müller an Dalberg, Rom, 10.11.1778, Müller 1998, 93). Doch die Euphorie war gepaart mit Gefühlen der Überforderung. So heterogen die Künstler in Rom waren, aus verschiedenen Nationen, mit unterschiedlicher Vorbildung, unterschiedlichem sozialen Status, Alter etc., war allen gemeinsam, dass sie bei der Ankunft überwältigt waren und sich gegenüber der Fülle an kanonischen Kunstwerken, die an keinem anderen

5.18 Künstlerbriefe aus Rom und Italien bis 1800 

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Ort Europas so dicht auftrat, entmutigt fühlten: „[W]ie mir bey meinem Eintritt in Rom war und wie er auch jeden andern der reiste wohl vorkommt ist nicht zu beschreiben. Alles kommt einem entsezlich groß vor. Ich war betaumelt wie besoffen von lauter Verwunderung und weiß noch nicht wo ich anfangen soll“ (Conrad Gessner an Salomon Geßner, Rom, 15.6.1787, Gessner 1784–1803). Auch andere Reisende berichten über dieses Gefühl; für diejenigen, die sich der Überfülle professionell stellen mussten, war es besonders tiefgreifend. Im Verlauf ihrer Aufenthalte in Rom ergaben sich dann für die ausländischen Künstler unterschiedliche Anlässe, Briefe zu schreiben, die am zweckmäßigsten nach den jeweiligen Adressaten eingeteilt werden können: Den Finanziers des Aufenthalts musste Bericht erstattet werden, in diesen Briefen finden sich oftmals genaue Tätigkeits- und Werkbeschreibungen; Briefe gingen an die Familien und Freunde der oft recht jungen Künstler, hier ist häufig von Wohnungssuche, Mahlzeiten, dem Zurechtkommen in der fremden Umgebung die Rede; es wurde intensiv an solche Freunde und Kollegen berichtet, welche die Romerfahrung geteilt, aber die ewige Stadt schon wieder verlassen hatten, mit Nachrichten über gemeinsame Bekannte. Dazu kommen geschäftliche Briefe, die sich auf Verkäufe, Transporte oder auch Materialbeschaffung beziehen. Die Adressaten sind dann Auftraggeber, Spediteure, Bankiers und Händler. Die Beförderungsdauer von Rom nach Deutschland betrug Ende des 18. Jahrhunderts zwei bis drei Wochen, die Post ging samstags ab. Die Verschiffung großformatiger und schwerer Werke wurde über den Hafen in Livorno abgewickelt, wo mehrere Spediteure ansässig waren.

4 Interferenzen zwischen Reisebeschreibungen und Brief- und Künstlerroman Die Briefe von Künstlern gleichen den Reisebeschreibungen in Briefform, die zumeist auf den Entwürfen zu tatsächlich verschickten Briefen beruhen, wenn sie auch in verschiedenen Graden überarbeitet wurden. Mehrere Reisebeschreibungen tragen den Begriff „Brief“ im Titel (vgl. z.  B. Jage­mann 1778/1780; Dupaty 1785; Moritz 1792/93). Viele Briefverfasser zitieren wiederum implizit oder explizit gedruckte Reiseberichte, wenn sie über Sehenswürdigkeiten, Historisches, Sitten und Gebräuche in Rom und Italien berichten. Ein eklatanter Fall ist die Ausgabe der Briefe Conrad Gessners an seinen Vater Salomon Geßner und seine Familie in Zürich, die 1801 von Conrads Bruder Heinrich Gessner herausgegeben wurde. Für diese Ausgabe wurden die Briefe Conrads stark überarbeitet und zwar unter Benutzung des italienischen Reiseberichts von Karl Philipp Moritz (vgl.

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Moritz 1997 [1792/1793]), aus dem ganze Passagen nahezu wörtlich übernommen wurden, die in den Originalbriefen (vgl. Gessner 1784–1803) gar nicht vorkommen (vgl. Gessner 1801). Das Genre Künstlerroman weist in anderer Hinsicht Berührungspunkte mit Künstlerbriefen auf, dort nämlich, wo es um die Arbeit an den Künstlertopoi geht: die Darstellung bzw. Selbstdarstellung des Künstlers als unkonventionellen, freiheitsliebenden und leidenschaftlichen Menschen, der für die unbedingte Verwirklichung seines Ausdrucksstrebens auf bürgerliche Sicherheit verzichtet. Die bekannten Romane des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Ardinghello und die glückseligen Inseln (1786) von Wilhelm Heinse und Franz Sternbalds Wanderungen (1798) von Ludwig Tieck spielen beide in der Renaissance und beide teilweise in Rom. Die darin auftretenden Künstler verkörpern mit je unterschiedlicher Akzentuierung Vorstellungen von ungebundenem, ‚autonomem‘ Leben und Arbeiten, die das 18. Jahrhundert in die Lebensläufe der Künstler des 15. und 16. Jahrhunderts projizierte. Auch die ästhetischen Debatten, die in beiden Romanen von den Protagonisten geführt werden, sind Debatten, die Ende des 18. Jahrhunderts geführt wurden.

5 Überlieferung und Aspekte der Forschung Briefe von Künstlern aus Rom wurden bisher nicht systematisch gesammelt und in ihrer Gesamtheit erforscht. Die Forschungsarbeiten von Friedrich Noack (1907; 1974 [1927]) über die deutschen Besucher und Bewohner Roms sind immer noch der beste Ausgangspunkt für Recherchen. Die germanistische Forschung hat bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert viele Künstlerbriefe aus dem Umkreis Goethes in Rom publiziert, in den letzten Jahrzehnten sind einige Editionen von Korrespondenzen einzelner Verfasser erschienen (vgl. Eckardt 1979; Müller 1998; Kauffmann 2001; Bury 2007; Hackert 2012). Es ist davon auszugehen, dass eine große Anzahl von Briefen noch nicht bekannt geworden ist, die vor allem in den Archiven der Kunstakademien gefunden werden könnten. Die in Rom verfassten Künstlerbriefe bilden in der Summe den vermutlich dichtesten Quellenbestand zum Leben Fremder in Rom, sie sind in der Überlieferung noch facettenreicher als die Reiseberichte, die besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in großer Menge erscheinen. Während diese oft nach der Rückkehr verfasst wurden und das Erlebte vielfach zusammenfassen und redigieren, sind die Briefe unmittelbarer und präziser in der Erwähnung bestimmter Ereignisse. Sie stellen daher u.  a. auch eine wichtige Quelle zur Stadtgeschichte Roms dar.

5.18 Künstlerbriefe aus Rom und Italien bis 1800 

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Eine diachrone Betrachtung von Künstlerbriefen zeigt, dass in der Mehrzahl der überlieferten Briefe weniger die intimen Aussagen als vielmehr das Geschäftliche der Künstlerexistenz im Vordergrund steht: Gemälde und Skulpturen wollen nicht nur erschaffen, sondern auch verkauft und transportiert werden. Zu ihrer Herstellung sind Materialien nötig, es bedarf eines Ateliers und oft mehrerer Gehilfen, der Kontakt zu den Auftraggebern muss gehalten werden, Verzögerungen gerechtfertigt, Honorarforderungen gestellt werden. Briefe dieser Sorte finden sich aus allen Jahrhunderten und bleiben sich erstaunlich gleich. Aus heutiger Sicht besitzen diese Briefe hohen Quellenwert, vor allem für sozialgeschichtliche Fragestellungen. Künstlerbriefe sind überdies ein wichtiges Werkzeug zur Netzwerkforschung. Künstler waren ebenso wie Gelehrte in überregionalen, auch internationalen Netzwerken organisiert, und der Romaufenthalt bildete so wie die Universitätsbesuche der Gelehrten den Grundstock vieler lebenslanger Bekanntschaften. Der Romaufenthalt war für den weiteren Karriereverlauf von großem Belang. In Rom organisierten sich die Künstler zunächst nach Nationen, insbesondere die Deutschen auch nach Landsmannschaften, außerdem nach ihren jeweiligen Fächern: Historien-, Landschaftsmalerei, Skulptur, Architektur etc. Dennoch lässt sich beobachten, dass sie im Ausnahmezustand des gleichzeitigen Aufenthalts in Rom über alle nationalen und sozialen Grenzen hinweg aufeinander zugingen und sich austauschten. Insofern bieten ihre Briefe in den allermeisten Fällen nicht nur Berichte über das eigene Tun, sondern auch über andere Anwesende. Eine Analyse der Gruppierungen und gegenseitigen Beeinflussungen ist ohne Kenntnis der Korrespondenzen kaum möglich; sie muss aber verknüpft werden mit dem Bestand an Tagebüchern, autobiographischen Aufzeichnungen, Reisebeschreibungen, theoretischen Abhandlungen und Werkverzeichnissen.

Zitierte Literatur Bottari, Giovanni Gaetano (1754–1773). Raccolta di lettere sulla pittura, scultura ed architettura scritte da’ più celebri professori che in dette arti fiorirono dal sec. XV al XVII. 6 Bde. Rom 1754–1768. Bd. 7 hg. v. Luigi Crespi. [Erw. Neuauflage Bottari/Ticozzi 1822–1825]. Büttner, Frank (1992). „Der Briefwechsel zwischen Asmus Jakob Carstens und Minister Friedrich Anton von Heinitz“, in: Asmus Jakob Carstens. Goethes Erwerbungen für Weimar. Hg. u. kommentiert v. dems. Schleswig: 75–95. Bignamini, Ilaria u. Clare Hornsby (2010). Digging and Dealing in Eighteenth-Century Rome. 2 Bde. New Haven u. London. Bruhn, Matthias (2000). Nicolas Poussin. Bilder und Briefe. Berlin. Brunel, Georges (Hg.) (1979). Correspondance des directeurs de lʼAcadémie de France à Rome: Nouvelle série (1795–1914). Rom.

1030 

 5 18. Jahrhundert

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5.18 Künstlerbriefe aus Rom und Italien bis 1800 

 1031

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Claudia Bamberg

5.19 Das Briefnetzwerk der Jenaer Frühromantik Für die Jenaer Frühromantik ist die Bildung von Briefnetzwerken konstitutiv. Dies gilt nicht nur für die Entstehung der Bewegung und die Verbreitung ihrer Schriften, sondern es muss darüber hinaus auch als wesentliches Charakteristikum der Bewegung selbst und ihrer literarischen Produktionen angesehen werden. So ist das ausgeprägte und spezifische Kommunikationssystem der Frühromantiker*innen für den künstlerischen Schaffensprozess der einzelnen Akteure sowie auch für ihre Publikationsmodi von zentraler Bedeutung. Die „Vorerinnerung“ zum ersten Heft des Athenaeum von August Wilhelm und Friedrich Schlegel zeigt paradigmatisch, dass diese für die Frühromantik charakteristische Kommunikationspraxis zu den wichtigsten Implikationen ihres poetologischen Programms gehört: In Ansehung der Gegenstände streben wir nach möglichster Allgemeinheit in dem, was unmittelbar auf Bildung abzielt; im Vortrage nach der freyesten Mittheilung. Um uns jener näher zu bringen, hielten wir die Verbrüderung der Kenntnisse und Fertigkeiten, um welche sich ein jeder von uns an seinem Theile bewirbt, nicht für unnütz. Bey dieser leitet uns der gemeinschaftliche Grundsatz, was uns für Wahrheit gilt, niemals aus Rücksichten nur halb zu sagen. (Schlegel und Schlegel 1970 [1798–1800], Ersten Bandes Erstes Stück, 3)

Das heißt folglich nicht, die eigene Meinung für eine andere Ansicht aufzugeben: „Wir theilen viele Meynungen mit einander; aber wir gehn nicht darauf aus, jeder die Meynungen des andern zu den seinigen zu machen.“ Ziel ist stets die „Unabhängigkeit des Geistes“, die keinesfalls „einer flachen Einstimmigkeit aufgeopfert werden“ dürfe (Schlegel und Schlegel 1970 [1798–1800], Ersten Bandes Erstes Stück, 4). Mit den deutschen Frühromantiker*innen ist der Kreis um August Wilhelm und Friedrich Schlegel gemeint, der sich ab 1796 in Jena in immer leicht wechselnden Konstellationen formierte: namentlich Caroline Schlegel, Dorothea Veit, Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Ludwig Tieck, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Schleiermacher, der indes in und von Berlin aus agierte. Auch Clemens Brentano, der ab 1798 an der Universität Jena studierte, und Sophie Mereau hatten zeitweise Kontakt zur Jenaer Gruppe, ferner der junge Naturforscher Johann Wilhelm Ritter. Darüber hinaus sind nach der Jahrhundertwende und mit Berlin als Zentrum – nachdem sich der Kreis in Jena aufgelöst hatte – Friedrich und Caroline de La Motte-Fouqué sowie https://doi.org/10.1515/9783110376531-082

5.19 Das Briefnetzwerk der Jenaer Frühromantik 

 1033

August Ferdinand und Sophie Bernhardi, geb. Tieck, zur Gruppe der Frühromantiker*innen zu zählen. Dabei täuscht der Ausdruck ‚Jenaer Frühromantik‘ darüber hinweg, dass die Mitglieder des Kreises an vielen Orten ansässig waren und so gut wie nie an einem Ort gemeinsam aufeinandertrafen, auch nicht in Jena. Vielmehr agierten sie von mehreren Standorten aus: Neben Jena war Berlin ein wichtiges Zentrum; zudem gehörten Weimar und Dresden zu ihren Aufenthalts- bzw. Wirkorten. Hinzu kamen die Schlösser Weißenfels, ein Sitz der Familie Hardenberg, und Nennhausen, wo sich Friedrich de La Motte-Fouqué mit seiner zukünftigen zweiten Ehefrau Caroline von Briest aufhielt und wo ein Teil der Gruppe im Herbst 1802 zusammentraf. Vor allem die Brüder Schlegel und Novalis haben für die Form des gemeinschaftlichen Produzierens und Publizierens die Begriffe „Symphilosophie“ und „Sympoesie“ geprägt (vgl. etwa Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel, 28.11.1797 u. 8.3.1799, Schlegel 1985, 45, 245); im 125. Athenaeums-Fragment heißt es: Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Künste beginnen, wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten. Oft kann man sich des Gedankens nicht erwehren, zwei Geister möchten eigentlich zusammengehören, wie getrennte Hälften, und nur verbunden alles sein, was sie könnten. (Schlegel 1967, 185)

Die Vorsilbe „S/sym-“ wird insbesondere von Friedrich Schlegel immer wieder neu kombiniert: Es ist u.  a. von „symfaulenzen“, „symexistiren“ (Schlegel 1985, 141), „Symphonie“ (Schleiermacher 1988, 261), „kritischen Symposien“ (Schlegel 1985, 245) und nicht zuletzt auch von „epistol.[arischer] Symphilosophie“ (Schlegel 1985, 135) die Rede; noch 1832 nennt sich August Wilhelm Schlegel einen „Symphilologen“ (an Friedrich August Rosen, 26.10.1832, Schlegel 2014–2020; URL: https://www.august-wilhelm-schlegel.de/briefedigital/). Friedrich Schleiermacher lieferte dazu, wiewohl zunächst anonym, den Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), die eine „freie, durch keinen äußern Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit“ zum Ziel hat: „Alles soll Wechselwirkung seyn […] Alle sollten zu einem freien Gedankenspiel angeregt werden“ (Schleiermacher 1984, 165). Bei dem Netzwerk der deutschen Frühromantik handelt es sich folglich um ein Kommunikationssystem sui generis. Es muss im Kontext der „spezifisch romantische[n] Geselligkeitsanforderung“ (Oesterle 2015a, 206) gesehen werden, da diese Voraussetzung frühromantischer Produktivität ist. Dadurch unterscheidet sich das frühromantische Netzwerk grundlegend von früheren Praktiken, so etwa vom Kommunikations- und Geselligkeitsverständnis der Aufklärung,

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 5 18. Jahrhundert

dessen Vorgaben und Grenzen die Frühromantiker*innen bewusst sprengen (vgl. ausführlich Oesterle 2015a; Oesterle 2015b, 355–359). Günter Oesterle hat diese frühromantische Grenzüberschreitung dreifach markiert: Danach überschreiten die Frühromantiker*innen erstens „die Grenzen der Schicklichkeit“, indem sie anstelle des in der Aufklärung vorherrschenden Gebots „der Höflichkeit“ nun Provokation und Streit als wesentliche Elemente ihrer Kommunikation ansehen (Oesterle 2015a, 205–206), zweitens die „Grenzen konversationeller Aussparung“, indem sie nun nicht mehr den sogenannten ‚mittleren‘ Stil bevorzugen, der Gesprächsgegenstände für alle verständlich einebnet, sondern ein „raffinierte[s] Wechselspiel zwischen Mündlichem und Schriftlichem“ als Realisierung ihres hohen Kunstanspruchs favorisieren (Oesterle 2015a, 205, 209–210). Drittens übertreten die Jenaer Frühromantiker*innen die „Grenze des konversationellen Gebots, nicht ‚weitschweifig‘ zu reden“, indem gerade erst diese Eigenschaft verschiedene Ansichten sichtbar machen und differenziert zur Darstellung bringen soll (Oesterle 2015a, 210–211). Obgleich sich die Medien der Kommunikation – zu denken ist an dieser Stelle insbesondere an den Brief – in Aufklärung und Frühromantik vielfach ähneln, werden sie von den Frühromantiker*innen gemäß dieser neuen Vorgaben in anderer, innovativer Weise genutzt: An die Stelle eines auf der mittleren Ebene angesiedelten Briefstils tritt nun die Absicht, die individuellen Eigenheiten der Schreiber*innen ausführlich und weitgehend ohne die traditionellen rhetorisch-schicklichen Schranken zur Darstellung zu bringen.

1 „[E]pistol.[arische] Symphilosophie“ Nicht zufällig finden sich die zahlreichen „Sym“-Kombinationen häufig in Briefen; es liegt nahe, dass sich das sympoetische Verfahren der Frühromantiker*innen in diesem Medium, in dem Schreibprozesse gemeinsam erprobt, kontrastiert und diskutiert werden können, besonders gut entfalten kann. Die Korrespondenzen sind ein wichtiger Beleg dafür, dass intensive und vor allem auch kontroverse Kommunikation die unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung der frühromantischen Texte ist, die oft nicht nur auf eine einzige Autorschaft festzulegen sind und die auch die Frauen  – insbesondere Caroline Schlegel und Dorothea Veit – einbeziehen. Diese Praxis dient zum einen dazu, dem romantischen Postulat einer „progressive[n] Universalpoesie“ (Schlegel 1967, 182) als einer poetischen Totalität, die alle Gegensätze in sich aufgenommen hat und diese fortlaufend („im Werden“, Schlegel 1967, 183) in Bewegung hält, so nahe wie nur möglich zu kommen (vgl. Friedrich Schlegel an August Wilhelm und Caroline Schlegel, 28.11.1797, Schlegel 1985, 44–45). Zum anderen soll damit dem Qualitäts- und

5.19 Das Briefnetzwerk der Jenaer Frühromantik 

 1035

Innovationsanspruch der frühromantischen Gruppe Genüge geleistet werden. Kritik und Ergänzung, In-Frage-Stellung und Fortschreibung dienen so auch der Sicherung des künstlerischen Anspruchs und damit der Vermeidung von Mittelmäßigkeit und Verflachung. Diese Form der Kommunikation legt nahe, dass den Korrespondenzen im Netzwerk der deutschen Frühromantik eine herausragende Bedeutung zukommt. So wird das Netzwerk zu einem nicht geringen Teil durch Briefe geknüpft und vor allem gefestigt, zumal die Korrespondent*innen häufig ihre Aufenthaltsorte wechseln. Das frühromantische Programm des Symphilosophierens und -poetisierens setzt demnach nicht physische Präsenz voraus, sondern realisiert sich auch im Medium des Briefs; dabei erweist sich die Briefkommunikation als gruppenbildend und -stabilisierend und damit auch als identitätsstiftend. Als prominentes Beispiel für ein solches frühromantisches Symphilosophieren in Briefen mögen Friedrich Schlegels Schreiben an seinen Bruder August Wilhelm aus den 1790er Jahren gelten (die Gegenbriefe sind leider auf dessen Wunsch hin vernichtet worden, vgl. Bamberg 2015, 157–158), weil sie ausführlich dokumentieren, dass sich die Poetik der Jenaer Gruppe zu einem nicht geringen Teil in der brieflichen Kommunikation entwickelt hat (vgl. Schlegel 1987, 1985). So wünscht sich Friedrich Schlegel schon 1791 von seinem Bruder: „Doch hoffe ich daß Deine Briefe nicht abnehmen werden, sondern immer wachsen an Länge und Gehalt.“ Das gleiche Schreiben zeigt, wie sehr die Brüder in ihrem Briefwechsel bereits Anfang der neunziger Jahre des 18.  Jahrhunderts zentrale romantische Themen anvisieren und kontrovers diskutieren: „Es sind noch einige Puncte in Deinem Briefe zur Beantwortung übrig. Ich bin itzt überzeugt daß um den Charakter einer Nation für die Poesie ganz zu nützen ein Drama nicht hinlänglich ist.“ (Schlegel 1987, 24) Es lässt sich folglich sagen, dass dieser engmaschige epistolare Austausch gleichermaßen Voraussetzung und Bestandteil des neuen literarischen Programms ist. Dies gilt für das gesamte Briefnetzwerk der frühromantischen Bewegung. An Novalis schreibt Friedrich Schlegel am 28. Mai 1798: „Gefällt Dir der Vorschlag einer epistol.[arischen] Symphilosophie, so will ich Dir einen Grundriß derselben vorschlagen, versteht sich um die Freyheit zu organisiren nicht sie zu beschränken“ (Schlegel 1985, 135), d.  h. es geht um eine philosophische Kommunikation, die der geistig-individuellen Freiheit und Unabhängigkeit der einzelnen Mitglieder angemessen ist und die durch die „Briefform“ (Schlegel 1985, 135) unterstützt oder gar erst hervorgetrieben wird. „Denn wenn diese Dinge [Styl, Ton und Kolorit] in unsern Briefen auch sehr verschieden seyn müssen“, schreibt Friedrich Schlegel schon am 5. Dezember 1797 an seinen Bruder, „so ists doch nöthig, daß die Verschiedenheiten sich einigermaaßen gruppieren, und wie mehre Stimmen oder Instrumente in der Musik harmoniren“ (Schlegel 1985, 135, 55–56).

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 5 18. Jahrhundert

Dieser Vorstellung von einer „epistol.[arischen] Symphilosophie“ entspricht, dass die Briefe der Frühromantiker*innen oft eine doppelte oder dreifache Autorschaft besitzen und zudem häufig an mehrere Empfänger*innen gerichtet sind – auch dies lässt sich als Realisierung des frühromantischen Programms lesen. Dabei werden auch die Frauen mit einbezogen, die in den Korrespondenzen – anders als in den publizierten Werken der Gruppe, in denen die Namen der Verfasserinnen nicht auftauchen  – über eine eigene, selbstbewusste, gut hörbare Stimme verfügen. Thesen, Meinungen und Poetologisches werden durch diese mehrfache Autorschaft ergänzt, kommentiert, relativiert oder in Frage gestellt, so dass die Empfänger*innen einen polyphonen Eindruck von dem Gesagten erhalten. Wie sehr die briefliche Kommunikation der Frühromantiker*innen dazu dient, die individuellen Eigenheiten der Akteure herauszustreichen und in die literarische Diskussion einzuflechten, formulieren die Korrespondenzen expressis verbis. „[…] es würde mir nicht unmöglich seyn, aus Ihren Briefen Eine große philosophische Rhapsodie zu – diaskeuasieren“, schreibt Friedrich Schlegel etwa am 12. Dezember 1797 aus Berlin an seine Schwägerin Caroline Schlegel in Jena, denn „ich glaube, jeder Mensch von Kraft und Geist hat seine eigenthümliche [Naturform]“. Carolines sei die der „Rhapsodie“, während „ich die gediegene feste klare Masse für Wilhelms [August Wilhelm Schlegels, d. Verf.] eigentliche Naturform, und Fragmente für die meinige halte“ (Schlegel 1985, 60). Daraus lässt sich schließen, dass das frühromantische Kommunikationsverhalten selbst als poetischer bzw. poetologischer Vorgang angesehen werden muss, da es diese unterschiedlichen „Naturformen“ der einzelnen Autorinnen und Autoren – ohne eine Hierarchisierung der Geschlechter – herausstellt und sichtbar macht. Das sympoetische bzw. symphilosophische Gespräch, das von solchen Unterschieden lebt, diese steigern will und zueinander in Beziehung setzt, wird demnach immer in Bewegung gehalten. Insofern entspricht diese Praxis Novalis’ Diktum, dass „[d]er wahre Brief […], seiner Natur nach, poëtisch“ sei (Novalis 1978, 248). Karl Heinz Bohrers Auffassung hingegen, dass „[d]er Tonfall des ‚Herzens‘, der ‚Sehnsucht‘, der Freundschaft zwischen den engeren Mitgliedern des als Jenaer Romantik berühmt gewordenen Kreises […] im Briefwechsel untereinander oder mit Freunden und Geistesverwandten […] im Rahmen der Individualitätssemantik [bleibt], die das 18.  Jahrhundert bis dahin entwickelt hatte“ (Bohrer 1989, 37), muss die besondere Eigenart des frühromantischen Briefnetzwerkes verfehlen. In den einzelnen Korrespondenzen der Frühromantiker*innen vor allem nach „skandalöse[r] Subjektivität“ suchend (Bohrer 1989, 37), bekommt Bohrer weder die Originalität noch das Originäre, Innovative dieses Netzwerks – das sich erst als Netzwerk, d.  h. als mehrfach verknüpfte Kommunikation innerhalb einer Gruppe als spezifisch frühromantisches Phänomen zu erkennen gibt  – in den Blick. Anders gesagt: Nimmt man die frühromantische Forderung nach einer

5.19 Das Briefnetzwerk der Jenaer Frühromantik 

 1037

„epistol.[arischen] Symphilosophie“ ernst, wird poetologisch nachvollziehbar, warum intim-‚romantische‘ Liebes- oder emphatische Freundschaftsbriefe sich in den Briefen der Jenaer Frühromantiker*innen ebensowenig finden wie zur Selbstreferenz tendierende Schreiben, die für Bohrer erst als genuin romantische Briefe gelten können (vgl. Bohrer 1989, 37–38, 57 u. ö.). Dieser Fokus allerdings übersieht wesentliche Implikationen frühromantischer Briefkommunikation; auch gilt es zu bedenken, dass die Autorinnen und Autoren aus dem Jenaer Kreis regelmäßig dafür sorgten, allzu private, persönliche Schreiben zu vernichten (für August Wilhelm und Friedrich Schlegel vgl. Bamberg 2015). Die frühen Korrespondenzen Clemens Brentanos, der nicht zum engeren Kreis der Jenaer Frühromantiker zu zählen ist – auch wenn er mit ihm Kontakt hatte und deshalb erwähnt werden muss –, folgen der sympoetischen Kommunikationsstruktur nicht, zeigen aber gleichfalls, dass die ausgeprägte Individualität des Autors die Briefkommunikation bestimmt, diese also auch die traditionellen epistolaren Schreibpraktiken außer Kraft setzt. Dabei dominiert hier wiederholt ein „ästhetisch-imaginative[r]“ Schreibgestus (vgl. Bunzel 2015, 234), den Bohrer hier zu Recht als neues „Pathos des Ichs“ (Bohrer 1989, 7) bzw. genauer: als „ästhetische Subjektivität“ fasst. Diese steht nach Bohrer im Gegensatz zu einer „sozialen“ oder „philosophischen“ Subjektivität (Bohrer 1989, 8, 49 u. ö.) und unterläuft damit eine auf Kommunikation ausgerichtete epistolare Praxis. Damit nun aber unterscheidet sich die Briefpraxis Clemens Brentanos vom Kommunikationsverhalten des Zirkels um die Brüder Schlegel, da dessen Ideal bei allem Willen zum Hervortreiben von individuellen Gegensätzen eine gesellige Kommunikation bleibt, also gerade nicht unter das Stichwort Selbstreferentialität fällt. Anders gesagt: Die sympoetische Briefkommunikation der Jenaer Frühromantiker*innen zeichnet sich gerade durch den Versuch aus, Subjektivität und Geselligkeit, Individualität und Universalität miteinander zu vermitteln und für das Schaffen der Gruppe produktiv zu machen.

2 Abgrenzung und Öffnung Der gemeinschaftlichen künstlerischen Kommunikation, die sich als gruppenbildend für die frühromantische Bewegung erweist, steht die scharfe Abgrenzung von anderen literarischen Gruppen und Zirkeln gegenüber. So kritisierten und verspotteten die Frühromantiker ihre Gegner öffentlich und stellten ihre literarischen Schwächen schonungslos bloß. Dies geschah in traditionellen Formaten wie z.  B. der Kritik und der Satire – die die Frühromantiker freilich gemäß ihrem universalen Innovationsanspruch entscheidend weiterentwickelten (vgl. Breuer

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und Tabarasi-Hoffmann 2015; Oesterle 2017) –, aber auch durch die Nutzung ihres weitgespannten Netzwerkes. Dabei spotteten sie nicht nur in den Briefen, die innerhalb der Gruppe hin- und hergingen, über literarische Gegner wie Garlieb Helwig Merkel, Friedrich Nicolai und August von Kotzebue – die ihrerseits keine Gelegenheit ausließen, die Publikationen der Frühromantiker*innen lächerlich zu machen –, sondern auch in Spottgedichten, die sie drucken ließen und gezielt in Umlauf brachten. Selbstbewusst schreibt etwa August Wilhelm Schlegel am 1. November 1799 an Friedrich Schleiermacher: Auf Fichte’s Nachricht, daß Merkel überall in Berlin so ungebührlich von uns rede, beschlossen wir den Menschen exemplarisch zu strafen, – und wie Gott sich immer geringer Mittel und Werkzeuge zu seinen Zwecken bedient, so ist hieraus eine Erweiterung der Deutschen Poesie hervorgegangen nämlich beykommendes Sonetto à la burchiellesca, das Tieck und ich an einem Abend gemeinschaftlich fabrizirt [Ein Knecht, hast für die Knechte du geschrieben, d. Verf.]. […] Wir wünschen, daß es sich so schnell wie möglich in Berlin verbreiten mag […]. (Schleiermacher 1992, 227)

Solche strategisch kommunizierten Provokationen garantierten den Frühromantiker*innen die Wahrnehmung im öffentlichen Raum: Sie machten von sich reden und steigerten die Aufmerksamkeit für ihre Texte; dabei forderten sie zu einer Stellungnahme für oder gegen sie geradezu heraus. Hinzu kam der gezielte Aufbau eines weitgespannten Netzwerks, das maßgeblich durch Briefe geknüpft wurde und das anderen, d.  h. konventionelleren Strategien folgte als dem Kommunikationsverhalten innerhalb der Gruppe. Dazu gehört die frühe Kontaktaufnahme mit etablierten Autor*innen, die die Frühromantiker*innen sehr schätzten und auf deren Wohlwollen und Förderung sie zunächst angewiesen waren. Hier sind in erster Linie Goethe und Schiller zu nennen – mit denen sich ein über weite Strecken kollegiales, jedoch kein genuin sympoetisches Gespräch entwickelte –, aber auch die wichtigsten und einflussreichsten Verleger und Zeitschriftenredakteure der Zeit: Zu erwähnen sind v.  a. die Verleger Georg Joachim Göschen (Leipzig), Johann Friedrich Cotta (Tübingen), Johann Friedrich Gottlieb Unger und seine Frau Friederike Helene (Berlin), Friedrich Vieweg (Berlin und Braunschweig) und sein Nachfolger Heinrich Frölich (Berlin), die Verleger des Athenaeum, Carl Friedrich Ernst Frommann (Jena) und Friedrich Nicolai (Berlin) sowie etwa die Herausgeber und Redakteure der in Jena angesiedelten Allgemeinen Literatur-Zeitung Christian Gottfried Schütz, Gottlieb Hufeland und Carl Abraham Eichstaedt. Dementsprechend besteht das Briefnetzwerk der Frühromantiker*innen zu einem großen Teil aus Geschäftskorrespondenzen. Allerdings war die Kommunikation nicht selten von Spannungen und Konflikten geprägt. Das selbstbewusste Auftreten der frühromantischen Autor*innen

5.19 Das Briefnetzwerk der Jenaer Frühromantik 

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stieß bei etablierten Schriftstellern und Unternehmungen wiederholt auf Ablehnung und Irritationen. So kam es mit der Allgemeinen Literatur-Zeitung, die Friedrich Schlegel von vornherein durch das Athenaeum „zu Grunde zu richten“ beabsichtigte (an August Wilhelm Schlegel, 31.10.1797, Schlegel 1985, 32), bald zu einem Eklat: Ende 1799 beendete August Wilhelm Schlegel die Zusammenarbeit mit dem Rezensionsorgan, für das er insgesamt über 250 Beiträge geliefert hatte. Friedrich Schiller, der zunächst dafür gesorgt hatte, dass August Wilhelm Schlegel nach Jena übersiedelte – und damit die Voraussetzung dafür schuf, dass die Gruppe um die Schlegel-Brüder hier wirken konnte –, war schon 1797 über Selbstbewusstsein und Angriffslust der jüngeren Generation derart verärgert, dass er den Kontakt zu ihr weitgehend abbrach (vgl. Oellers 2005, 84; Paulin 2017, 61–66). Goethe hingegen blieb wohlwollender und interessierter Gesprächspartner, der sich vielfach für die Frühromantiker*innen in Jena einsetzte, so etwa für August Wilhelm Schlegel, den er bei seinem Bemühen um eine Professur an der Universität unterstützte (vgl. Paulin 2017, 92) und mit dem er in einem regen Briefwechsel stand (vgl. Körner und Wienecke 1926, 57–156; Knödler 2015; Bamberg 2019). Wie explosiv und waghalsig – nach außen und nach innen – das Kommunikationsverhalten der deutschen Frühromantiker*innen letztlich war, hat Günter Oesterle gezeigt: „Die romantischen Grenzgänge erweitern zwar die artistischen Spielräume und steigern die Geselligkeit zu virtuosen Kunststücken, sie erhöhen aber zugleich die Riskanz des gesamten Geselligkeitskonzepts.“ (Oesterle 2015a, 212–213; vgl. auch Ilbrig 2017, 60–62) So war gerade die starke Individualität jedes einzelnen Mitglieds, der Männer und der Frauen, dafür verantwortlich, dass sich die Idee eines sympoetischen Kommunizierens und Arbeitens nur über einen begrenzten Zeitraum hinweg realisieren ließ. Schon ab 1801, nach zahlreichen Konflikten, begannen die einzelnen Mitglieder der frühromantischen Gruppe, nach neuen Verbindungen und Netzwerken zu suchen. Dabei dokumentieren insbesondere die Korrespondenzen die Streitereien und Misstöne, die nun in den Briefen vorherrschen; das briefliche Netzwerk, das zunächst stabilisierend wirkte, bekam Risse, die sich nicht mehr reparieren ließen – die ausdrückliche Pflege der geistig-individuellen Freiheit jedes Einzelnen war auf Dauer schwer mit einer geselligen Lebens- und Kommunikationspraxis zu vermitteln. Dass die Konventionen und festgelegte Geschlechterrollen überschreitende Lebens- und Kommunikationsform der Frühromantiker*innen sogar heftige Gegenreaktionen innerhalb der Gruppe hervorrief, demonstriert ein Brief von Ludwig Tieck, der dem ‚poetischen‘ Lebensentwurf der Frühromantiker*innen eher verhalten gegenüberstand und der am 6. Dezember 1799 an seine Schwester Sophie schrieb: Es ist zu bedauern, dass diese Menschen von den göttlichsten Anlagen zu wahren Affen durch die abgeschmackten Weiber werden […]. Die Veit ist unbeschreiblich brutal: Musik-

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kennerin, Vertraute der Schlegel, Lucinde in Brechpotenz, eine wahre Polychrestpille […], die Schlegel ist auch mehr listig als klug und mehr klug als verständig und mehr verständig als edel und mehr edel als eine Frau: man ist mit ihr wie […] mit einem Hermaphrodit (Klee 1897, 213).

3 Zentren Die Beweglichkeit der Frühromantiker*innen erhöhte Bedürfnis und Notwendigkeit brieflicher Kommunikation und förderte die Bildung von Netzwerken. In Berlin fungierten zudem die Salons der Henriette Herz und der Rahel Levin als bedeutende Kommunikationszentren (vgl. Seibert 1993; Schultz 1997), die den Frühromantiker*innen wichtige Kontakte ermöglichten, die aber anders und deutlich konventioneller funktionierten als der „enge geschloßne[] Zirkel“ (August Wilhelm Schlegel an Johann Wolfgang von Goethe, 7.1.1800, Körner und Wieneke 1926, 91) in Jena. Friedrich Schlegel hatte in den Berliner Salons Friedrich Schleiermacher sowie seine zukünftige Frau Dorothea kennengelernt, in Weimar wirkten wichtige Autoren wie Goethe und Schiller, aber auch gut vernetzte und einflussreiche Schriftsteller wie Carl August Böttiger, die den Frühromantiker*innen zu wichtigen Kontakten und Publikationsmöglichkeiten verhelfen sollten. In Dresden trafen einzelne Mitglieder im Sommer 1798 zusammen; die gemeinsamen Besuche der Gemäldegalerie sind in das Athenaeums-Gespräch Die Gemählde eingegangen (Schlegel und Schlegel 1970 [1798–1800], Zweiten Bandes Erstes Stück, 39–151). Dieser Text zeigt, wie sehr sympoetische Kommunikation als Teil des frühromantischen Programms zu verstehen ist und dass diese von den Autorinnen und Autoren in verschiedenen Textgattungen umgesetzt wurde. Zentrales Ereignis der Berliner Jahre nach der Auflösung der Wohngemeinschaft in Jena im Jahr 1801 waren August Wilhelm Schlegels öffentliche Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst (1801–1804), die das frühromantische Programm einer breiteren Öffentlichkeit vorstellten und in deren Kontext sich neue, anders geartete und internationale Verbindungen und Netzwerke bildeten  – etwa August Wilhelm Schlegels Aufnahme in die Groupe de Coppet um Germaine de Staël ab 1804 –, die nun nicht mehr einer so dezidiert poetologisch gefärbten Gruppen- und Kommunikationsstruktur folgten wie der Kreis in Jena. Die besondere Form der kommunikativen Produktivität, wie sie von den Frühromantiker*innen bis um die Jahrhundertwende als Gruppe praktiziert wurde, ist somit einzigartig geblieben. Indessen erwies sich die Öffnung des Netzwerkes als notwendig, um dem romantischen Programm eine Weiterentwicklung sowie seine weitere Verbreitung zu garantieren.

5.19 Das Briefnetzwerk der Jenaer Frühromantik 

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Zitierte Literatur Bamberg, Claudia (2015). „Briefsteller ohne Briefe. August Wilhelm Schlegel und das Briefnetzwerk seiner Familie“, in: August Wilhelm Schlegel im Dialog. Epistolarität und Interkulturalität. Hg. v. Jochen Strobel. Paderborn: 155–175. Bamberg, Claudia (2019). „‚Mit Verlangen erwarte ich was Sie und Ihre Geistesverwandten uns neues zubereiten‘. Zum Briefwechsel zwischen Johann Wolfgang Goethe und August Wilhelm Schlegel“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts: 75–113. Bohrer, Karl Heinz (1989). Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. Frankfurt a. M. Breuer, Ulrich u. Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann (Hg.) (2015). Der Begriff der Kritik in der Romantik. Paderborn. Bunzel, Wolfgang (2015). „Bis(s) zum Morgengrauen. Clemens Brentanos erster Brief an Karoline von Günderrode – Kontext, Funktion, Materialität“, in: Romantik kontrovers. Ein Debattenparcours zum Jubiläumsjahr der Stiftung für Romantikforschung. Hg. v. Walter Hinderer, Gerhard Neumann, Günter Oesterle u. Dagmar von Wietersheim. Würzburg: 229–244. Ilbrig, Cornelia (2017). „Jena“, in: Aufbruch ins romantische Universum: August Wilhelm Schlegel. Hg. v. Claudia Bamberg u. ders. Göttingen: 50–64. Klee, Gotthold (1897). „Ein Brief Ludwig Tiecks aus Jena vom 6. Dezember 1799“, in: Euphorion, Ergänzungsheft 3: 211–215. Knödler, Stefan (2015). „‚[E]soterisches und exoterisches‘. August Wilhelm Schlegel, Goethe und das Jenaer Romantikertreffen im November 1799“, in: Das Jenaer Romantikertreffen im November 1799. Ein romantischer Streitfall. Hg. v. Dirk von Petersdorff u. Ulrich Breuer. Paderborn: 167–202. Körner, Josef u. Ernst Wienecke (Hg.) (1926). August Wilhelm und Friedrich Schlegel im Briefwechsel mit Schiller und Goethe. Leipzig. Novalis (1978). Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. v. Hans Joachim Mähl u. Richard Samuel. Bd. 2: Das philosophische Werk. Hg. v. Hans-Joachim Mähl. Darmstadt. Oesterle, Günter (2015a). „Eigenarten romantischer Geselligkeit“, in: Europäische Romantik. Interdisziplinäre Perspektiven der Forschung. Hg. v. Helmut Hühn u. Joachim Schiedemeister. Berlin: 201–214. Oesterle, Günter (2015b). „Das riskante romantisch-gesellige Schreibexperiment. Virtuositätssteigerung und Gefährdung“, in: Riskante Geselligkeit. Spielarten des Sozialen um 1800. Hg. v. dems.  u. Thorsten Valk. Würzburg: 355–374. Oesterle, Günter (2017). „Romantische Satire und August Wilhelm Schlegels satirische Virtuosität“, in: Aufbruch ins romantische Universum: August Wilhelm Schlegel. Hg. v. Claudia Bamberg u. Cornelia Ilbrig. Göttingen: 70–82. Paulin, Roger (2017). August Wilhelm Schlegel. Eine Biographie. Paderborn u.  a. Petersdorff, Dirk von u. Ulrich Breuer (Hg.) (2015). Das Jenaer Romantikertreffen im November 1799. Ein romantischer Streitfall. Paderborn. Schiller, Friedrich u. August Wilhelm Schlegel (2005). Der Briefwechsel. Hg. v. Norbert Oellers. Köln. Schlegel, Friedrich (1967). Kritische Ausgabe seiner Werke. Bd. 2. Erste Abteilung: Charakteristiken und Kritiken, I (1796–1801). Hg. v. Ernst Behler. Paderborn u.  a. Schlegel, August Wilhelm u. Friedrich Schlegel (Hg.) (1970 [1798–1800]). Athenaeum. Eine Zeitschrift. [ND Darmstadt].

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 5 18. Jahrhundert

Schlegel, Friedrich (1985). Kritische Ausgabe seiner Werke. Bd. 24. Dritte Abteilung: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Die Periode des Athenäums (25. Juli 1797 ‒ Ende August 1799). Mit Einleitung und Kommentar hg. v. Raymond Immerwahr. Paderborn. Schlegel, August Wilhelm (2014–2020). Digitale Edition der Korrespondenz. Hg. v. Jochen Strobel u. Claudia Bamberg. Dresden u.  a.; https://august-wilhelm-schlegel.de (17.11.2019). Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1984). Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Hans-Joachim Birkner u. Hermann Fischer. Berlin u.  a. 1980  ff. Abt. 1, Bd. 2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796‒1799. Hg. v. Günter Meckenstock. Berlin u. New York. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1988). Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Hans-Joachim Birkner u. Hermann Fischer. Berlin u.  a. 1980  ff. Abt. 5, Bd. 2. Briefwechsel 1796‒1798. Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u. New York. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1992). Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Hans-Joachim Birkner u. Hermann Fischer. Berlin u.  a. 1980  ff. Abt. 5, Bd. 3. Briefwechsel 1799‒1800 (Briefe 553‒849). Hg. v. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u. New York. Schultz, Hartwig (Hg.) (1997). Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. Berlin u. New York. Seibert, Peter (1993). Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz. Stuttgart u.  a.

Gerrit Brüning

5.20 Korrespondenzen im ‚klassischen‘ Weimar Gibt es neben dem ‚romantischen‘ (vgl. Bohrer 1987) den ‚klassischen‘ Brief? Vieles spricht gegen eine solche Annahme. Bei den Korrespondenzpartnern im Umkreis der Weimarer Klassik handelt es sich um keine klar konturierte Autorengruppe (vgl. Bunzel 2013, 113–116), es sei denn, man ließe die „ecclesia militans“ Johann Wolfgang von Goethes und Friedrich Schillers (Reed 1983) schon als eine solche gelten. Schillers Horen waren darauf angelegt, ein größeres, programmatisch fundiertes Korrespondenznetz zu gründen, doch die Geschichte der Zeitschrift ist auch eine Geschichte der Konflikte mit und Distanzierung von anfänglichen Partnern wie Johann Gottlieb Fichte, Johann Gottfried Herder, Friedrich Heinrich Jacobi und August Wilhelm Schlegel (vgl. Reed 1983, 38–39; zu Herder vgl. Arnold 1998, 484–485). Die Kurzlebigkeit der Horen wie auch der Propyläen Goethes ist, ohne an sich erstaunlich zu sein, ein Symptom für die zunehmende literaturpolitische und ästhetische Isolation der beiden ‚Klassiker‘, die deren beider Briefwechsel auch reflektiert. Einige Korrespondenzen wurden jedoch aufrechterhalten und bis ans Lebensende weitergeführt: etwa die Goethes mit seinem ‚Urfreund‘ Karl Ludwig von Knebel (Briefe von 1774 an), mit dem zeitweiligen Hausfreund Johann Heinrich Meyer (1788  ff.), die Schillers mit Christian Gottfried Körner (1784  ff.), die Goethes sowie Schillers mit Wilhelm von Humboldt (1790  ff.). Zwei der bedeutendsten Goetheʼschen Korrespondenzen knüpften sich erst in dessen späteren Jahren an: die mit Carl Friedrich Zelter (1799  ff.) und die mit Sulpiz Boisserée (1810  ff.). Anstelle von Korrespondenzen innerhalb ein- und derselben Autorengruppe bilden die hier in Frage kommenden privaten Briefwechsel ein auch von den Romantikern nicht abgeschnittenes Netz, in dem Goethe und Schiller zwei besonders wichtige Knoten darstellen. Zudem sind die gewechselten Briefe weder vor dem Hintergrund eines emphatischen Briefbegriffs wie demjenigen Friedrich von Hardenbergs noch als Ausdruck oder Einlösung einer literarischen Programmatik (vgl. Gundelfinger 1907, XV–XVI; Bunzel 2013, 111–113) zu verstehen. Im Gegenteil: Sie scheinen zumeist in ihrer kommunikativen, dialogischen Funktion aufzugehen (vgl. Nickisch 1991, 53), deren Aussetzung Karl Heinz Bohrer als Kennzeichen des ‚romantischen‘ Briefs beschreibt (vgl. Bohrer 1987, 213–218), und entsprechen so zunächst, auch hinsichtlich ihrer Materialität (vgl. Richter 2013; Brüning 2015, 29–30), hergebrachten Formen der Brieflichkeit.

https://doi.org/10.1515/9783110376531-083

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 5 18. Jahrhundert

1 Der Brief in der Weimarer Klassik Nicht nur wegen der vielfach alltagskommunikativen Prägung der Briefe (vgl. Beetz in MA 8.2, 11, 77–79)  – dieses „nichtromantische“ Moment war selbstverständlich auch vielen Briefen der Romantiker eigen (vgl. Gundelfinger 1907, XVI) – verbietet es sich daher, in einem ähnlich starken Sinn wie beim ‚romantischen‘ von einem ‚klassischen‘ Brief zu sprechen. Auch dem lässt sich allerdings ein programmatischer Aspekt abgewinnen  – hält die Autonomieästhetik doch betontermaßen an der Trennung der pragmatischen von der ästhetischen Sphäre fest, die von der romantischen Bewegung unterlaufen wurde. Gelegentliche Literarisierungen des Mediums (v.  a. in Gedichtbriefen) erzeugten fließende Übergänge zwischen Dichtung und Brief, hoben die briefliche Funktion jedoch nicht auf (vgl. GB, Bd. 3.II, 82 mit Bezug auf Goethes Briefe an Charlotte von Stein; vgl. auch Schöne 2015, 34–37). Auch in Gedichtbriefen blieb die Grenze zwischen den beiden Sphären intakt. Die Charakteristik der ‚klassischen‘ Korrespondenzen liegt darin, im Rahmen einer hinsichtlich ihrer Medialität herkömmlichen Brieflichkeit Briefwerke höchsten Ranges und literaturgeschichtlicher Bedeutung hinterlassen zu haben (Nickisch 1991, 53). Goethes publikationsstrategisch motivierte Rede vom Briefwechsel mit Schiller als „Schlußstein“, der die Werke des gemeinsamen Jahrzehnts zusammenhalte (u.  a. Brief an Cotta, 26.1.1827, WA IV, Bd. 42, 26), ist vom Material der Korrespondenz gedeckt. In diesem und anderen Briefwechseln des klassischen Weimar bietet sich ein großer thematischer und stilistischer Reichtum dar. Der Ortsname Weimar leitet in die Irre: Die briefliche Überlieferung fließt in den Zeiträumen reicher, als die Briefpartner räumlich voneinander getrennt waren. Am Goethe-Schiller-Briefwechsel ist das gut ablesbar. Der briefliche Ertrag der Jahre 1800 bis 1805, nachdem Schiller von Jena nach Weimar umgezogen war, macht nur ein Fünftel der Gesamtmasse aus. Innerhalb Weimars wurde weniger umfänglich korrespondiert, und es gingen kürzere Schreiben oder Billette von Haus zu Haus.

2 Umfang und Editionsgeschichte Von Goethe allein sind etwa 15.000 (vgl. GB, Bd. 1.I, VIf., XIII), von den an ihn gerichteten Briefen mehr als 20.000 überliefert (vgl. Klassik Stiftung Weimar/ Goethe- und Schiller-Archiv o.  J.). Die bislang maßgebliche Gesamtausgabe der Briefe Goethes, die vierte Abteilung der WA (erschienen 1887–1912, Nachträge 1990), wird seit 2008 durch die entsprechenden Bände der GB ersetzt (zu den relevanten Auswahlausgaben vgl. Jeßing 1997, 430–432). Die an Goethe gerichteten

5.20 Korrespondenzen im ‚klassischen‘ Weimar 

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Briefe werden seit 1980 in Regestform ediert (RA). Für die vollständigen Texte ist man vorläufig noch auf ältere Korrespondenz- oder Teilausgaben verwiesen. Die Korrespondenzen Christoph Martin Wielands, Herders und Schillers fallen bedeutend schmaler aus. Die Gesamtausgabe von Wielands Briefwechsel (vgl. WBr, erschienen 1936 bis 2007) enthält etwa 9.000  Briefe, von denen allerdings ein erheblicher Teil nicht überliefert, sondern erschlossen ist. Gegenüber den übrigen hier aufgeführten Gesamtausgaben zeichnet sich die Edition dadurch aus, dass sie Briefe und An-Briefe gemeinsam in chronologischer Folge wiedergibt. Von Herder, teils auch von seiner Frau Caroline, liegen ca. 2.800 Briefe vor (vgl. HB; Arnold 1993, 58). Eine Gesamtausgabe der Briefe an Herder ist nicht zustande gekommen und würde schätzungsweise mindestens 2.500 Briefe enthalten (vgl. Arnold 1991, 59; vgl. einstweilen Meier u. Hollmer 1988; HB 10, 853–865; Arnold 1987–1990; die Kommentare in HB 11–16 teilen auch Inhalte der An-Briefe mit). Schillers Korrespondenz umfasst gut 2.200 Briefe und 3.000 An-Briefe (vgl. NA 23–40, erschienen 1956–2001). Goethes Briefwechsel mit Schiller erschien noch zu Goethes Lebzeiten (1827/28; zahlreiche wichtige Neuausgaben, zuletzt Beetz in MA 8 sowie Oellers und Kurscheidt 2009), der mit Zelter kurz danach (1833/34; maßgeblich Zehm u.  a. in MA 20), so dass beide noch als Teil des autobiographischen Œuvres zu gelten haben. Ausgewählte Briefe Wielands waren da bereits erschienen (1815/16). Wichtige einzelne Briefwechsel Goethes und Schillers wurden veröffentlicht, als an die großen Gesamtausgaben noch nicht gedacht werden konnte, u.  a.: Schillers Briefwechsel mit Wilhelm von Humboldt (1830), mit Körner (1847), Goethes Briefe an Charlotte von Stein (1848–1851; zur Überlieferung und ferneren Editionsgeschichte vgl. GB, Bd. 3.II, IX–XIV), Goethes Briefwechsel mit Knebel 1851, mit Boisserée 1862, mit Alexander und Wilhelm von Humboldt 1876. Zahlreiche Briefe Schillers und an Schiller erschienen 1830 in Karoline von Wolzogens Biographie. Briefe Herders wurden 1846 veröffentlicht, weitere wichtige Veröffentlichungen Heinrich Düntzers folgten wenige Jahre später (vgl. Düntzer und Herder 1856, 1859, 1861–1862). Die Tatsache, dass ihre Briefe an Goethe aus der Zeit vor 1794 verloren sind (vgl. GB, Bd. 3.II, 67–68), verdunkelt die Bedeutung Charlotte von Steins (vgl. die Würdigung in GB, Bd. 3.II, 69–73). Ihre und die Bedeutung Charlotte Schillers für das Korrespondenznetz um Weimar ist den Briefen Charlotte von Steins an Charlotte Schiller (vgl. Urlichs 1860–1865, Bd. 2, 252–359), dem Briefwechsel zwischen Charlotte Schiller und Charlotte von Steins Sohn Friedrich (gen. Fritz) (vgl. Urlichs 1860–1862, Bd. 1, 412–534) sowie den Briefen Karl Ludwig von Knebels an Charlotte Schiller (vgl. Urlichs 1860–1862, Bd. 3, 293–430) zu entnehmen. Neben den privaten erschienen auch geschäftliche und amtliche Korrespondenzen bereits im 19. Jahrhundert: Schillers Briefwechsel mit Johann Friedrich Cotta (1876) und Goethes Briefwechsel mit dem Herzog Karl August (1863)

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sowie seine Briefe an den Kollegen Christian Gottlob Voigt (1868). Die Veröffentlichung des Goethe-Cotta-Briefwechsels scheiterte zunächst (vgl. Kuhn 1979–1983, Bd. 3.1, 29–31). Sie wurde, im Zusammenhang mit der gesamten Aufarbeitung von Goethes Korrespondenz mit Verlegern und weiteren wichtigen Mitarbeitern an seinen Werkausgaben wie Johann Peter Eckermann, Karl Wilhelm Göttling und Friedrich Wilhelm Riemer (QuZ), erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts realisiert. Ebenfalls erst im Gefolge der WA erschien der Briefwechsel zwischen Goethe und Johann Heinrich Meyer (1917–1932).

3 Mediale Charakteristik Trotz großer und empfindlicher Lücken  – aus dem Zeitraum vor 1788 liegen infolge der Vernichtung durch Goethe im Juli 1797 (vgl. Schöne 2015, 23–24) nur gut 250  Briefe vor  – ist die Überlieferung der Weimarer Korrespondenzen, die heute größtenteils im Goethe- und Schiller-Archiv aufbewahrt werden, ausgesprochen umfangreich. In ihr spiegelt sich neben den unmittelbar persönlichen Belangen das gesamte Spektrum der Themen und Probleme der Goethezeit wider. Aus den Briefen schöpft daher nicht nur die biographische, sondern ebenso eine spezialisierte literatur-, wissenschafts-, ästhetik-, kunst-, musik- und buchhandelsgeschichtliche Forschung (vgl. Bibliographie). Obwohl eine spätere Veröffentlichung vieler Briefe von Beginn an absehbar war und mitunter durch Vernichtung unterbunden wurde (s.  o. Goethes ‚Autodafé‘ von 1797), haben die Korrespondenzen insgesamt privat-brieflichen Charakter. Es gibt Briefe, die (auch) zum Zweck einer Veröffentlichung (zu Lebzeiten oder postum) geschrieben wurden, doch ist dies ein historisch eingegrenztes Phänomen: In Schillers sogenannten Kallias-Briefen an Körner (1793), seinen Briefen an Friedrich Christian von Augustenburg (1793) oder dem Goethe-Zelter-Briefwechsel ab 1827 (vgl. Zehm 1997, 489; Miller in MA, Bd. 20.3, 69–71) sind Anlage und Duktus der Briefe bereits vom Publikationsplan geprägt. Wenn im Vergleich zur empfindsamen und romantischen Briefkultur die pragmatische Verwendung des Mediums in den Weimarer Korrespondenzen hervorzuheben ist, so bedeutet dies nicht, dass der Brief bloß persönliche Gespräche in Abwesenheit fortsetzte und deren Weiterführung vorbereitete. Sein Inhalt geht mitunter über das hinaus, was genauso gut oder sogar besser auch mündlich hätte gesagt und erfragt werden können. Die Aufhebung der Unmittelbarkeit in der Distanz des schriftlichen Austauschs ermöglichte es, im Brief Bekenntnisse abzulegen, für die das mündliche Gespräch aus unterschiedlichen Gründen keinen Raum bot, etwa infolge psychischer Hemmungen (vgl. GB, Bd. 3.II, 80 mit Bezug

5.20 Korrespondenzen im ‚klassischen‘ Weimar 

 1047

auf Goethes Briefe an Charlotte von Stein) oder deswegen, weil das brieflich Geäußerte im mündlichen Diskurs als Zumutung hätte empfunden werden können. Das Letztere gilt auch für einige Briefe Schillers, in denen er sein Verhältnis zu Goethe konstituiert, definiert und interpretiert (vgl. Wölfel 2011; Brüning 2015). Dieser insgesamt sachbetonte Briefwechsel stiftete eine spezifische Form wechselweiser Liebeserklärungen (vgl. Reed 2005). Für den Briefstil des späten Goethe schließlich ist eine sprachlich kunstvolle Formelhaftigkeit charakteristisch (vgl. Schöne 2015, 297–390).

4 Perspektiven der Forschung In der dichten Folge von Editionen des 19. Jahrhunderts spiegelt sich ein frühes Bewusstsein für die literatur- und kulturgeschichtliche sowie die biographische Bedeutung der Briefe der Weimarer Klassik wider. Angesichts der großen Masse der Überlieferung standen die Sicherung der Nachlässe und die Herausgabe der in ihnen enthaltenen Briefe im Vordergrund. Die Kommentierung beschränkte sich im Allgemeinen auf sporadische Fußnoten mit Verweis auf einschlägige Stellen in anderen veröffentlichten Briefwechseln, nahm aber im Fall des Goethe-Schiller-Briefwechsels schon früh die Form wissenschaftlicher Erläuterungen an (vgl. Düntzer 1859). Die groß angelegten Kommentierungen im Rahmen der modernen Gesamtausgaben (vgl. v.  a. NA, WBr, HB, MA, GB) haben die Korrespondenzen in und um Weimar biographisch, literatur- und ideengeschichtlich weitgehend aufgehellt. Die Würdigungen und Untersuchungen der spezifischen Brieflichkeit bezogen sich bislang auf einzelne, aus der großen Masse herausgegriffene exzeptionelle Stücke oder Teile von Briefwechseln und haben daher exemplarischen Charakter (vgl. Anderegg 2001b; Brüning 2015 und v.  a. Schöne 2015). Studien zu übergreifenden Fragen liegen nur in Ansätzen vor (vgl. Schöne 2015, 437–510 zu Goethes Gebrauch von Anredepronomen). Die künftige Forschung wird wie die bisherige im Wesentlichen durch die grundlegenden Aufgaben der Erschließung, Edition und Kommentierung bestimmt sein (RA, GB und im Zusammenhang damit die Ausgabe des GoetheRiemer-Briefwechsels, vgl. Eckle und Petrova 2013). Bereits vorliegende Ausgaben (WA u.  a.) werden im Hinblick auf die Genauigkeit der Textwiedergabe (vgl. Richter 2008), vor allem aber die Kommentierung überboten werden. Im Rahmen des Projekts „Propyläen“ werden auch die Texte der Briefe an Goethe, auf deren Wiedergabe in der RA zugunsten der Regestierung verzichtet wurde, veröffentlicht werden (vgl. Koltes 2013, 83–84). Die im Zusammenhang mit den genannten Vorhaben geleistete systematische Bilddigitalisierung von Briefhandschriften

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wird den Blick auf die Originale samt ihren spezifischen Überlieferungszusammenhängen (vgl. Richter und Rosenbaum 2015) in einem Umfang freigeben, den gedruckte Editionen nie ermöglichen würden. Auch denkbar groß angelegte Projekte wie die genannten zielen nicht darauf, das gesamte Weimarer Korrespondenznetz zu erschließen und sichtbar zu machen. Dies kann erst im Rahmen von Datenbanken geschehen, die archivalisch überlieferte und edierte Briefbestände zusammenführen. Ansätze dazu stellen die Funktion „Briefsuche“ als Teil der online zugänglichen Archivdatenbank des Goethe- und Schiller-Archivs sowie das Projekt correspSearch der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften dar. Beide Verzeichnisse erfassen momentan nur die Briefdaten; künftig sollten auch verfügbare Texte integriert werden, um Untersuchungen größerer Briefcorpora zu ermöglichen.

Zitierte Literatur Anderegg, Johannes (2001b). „‚… seltsam scheinend, jedoch aus den eigensten Zuständen hervorgegangen …ʻ. Zu Goethes Dornburger Brief an Friedrich August von Beulwitz“, in: Ders. Schreibe mir oft! Zum Medium Brief zwischen 1750 und 1830. Göttingen: 116–137. Arnold, Günter (1987). „Briefe literaturhistorischen Inhalts aus Herders Nachlaß“, in: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik, Folge 10: 274–323 Arnold, Günter (1988). „Briefe literaturhistorischen Inhalts aus Herders Nachlaß“, in: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik, Folge 11: 255–313. Arnold, Günter (1990). „Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß“, in: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik, Folge 13: 264–318. Arnold, Günter (1991). „Ideale und reale Bedingungen für Editionen und die geplante Fortführung der Herder-Briefausgabe“, in: Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller. Hg. v. Gunter Martens u. Winfried Woesler. Tübingen: 53–61. Arnold, Günter (1993). „Die Herder-Briefausgabe und das Problem der Gegenbriefe“, in: Der Brief in Klassik und Romantik. Aktuelle Probleme der Briefedition. Hg. v. Lothar Bluhm u. Andreas Meier. Würzburg: 57–64. Arnold, Günter (1998). „Johann Gottfried Herder“, in: Goethe-Handbuch in vier Bänden. Bd. 4.1: Personen, Sachen, Begriffe. A–K. Hg. v. Bernd Witte, Peter Schmidt u. Gernot Böhme. Stuttgart u. Weimar: 481–486. Bohrer, Karl Heinz (1987). Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München. Bunzel, Wolfgang (2013). „Briefnetzwerke der Romantik. Theorie – Praxis – Edition“, in: BriefEdition im digitalen Zeitalter. Hg. v. Anne Bohnenkamp u. Elke Richter. Berlin u. Boston: 109–131. Brüning, Gerrit (2015). Ungleiche Gleichgesinnte. Die Beziehung zwischen Goethe und Schiller 1794–1798. Göttingen.

5.20 Korrespondenzen im ‚klassischen‘ Weimar 

 1049

Eckle, Jutta u. Nadezhda Petrova (2013). „‚Wenigstens erlauben Ew Excellenz daß ich bey zu hoffender baldiger Zurückkunft auf dieses Thema das Gespräch lenken darf.ʻ Zur Konzeption der neuen Edition Johann Wolfgang von Goethe. Briefwechsel mit Friedrich Wilhelm Riemer (Hybridausgabe)“, in: Editio, 27: 112–123. Düntzer, Heinrich (1859). Schiller und Goethe. Übersichten und Erläuterungen zum Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Stuttgart. Goethe, Johann Wolfgang (1980  ff.). Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform. Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar [später: Hg. v. der Stiftung Weimarer Klassik/Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen/ Klassik Stiftung Weimar]. Goethe- und Schiller-Archiv. Hg. v. Karl-Heinz Hahn [später: Bearbeitet v. Manfred Koltes, Ulrike Bischof u. Sabine Schäfer]. Weimar. [RA] Goethe, Johann Wolfgang (1990). Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. Weimar 1887–1919. Ergänzt durch 3 Bde. Hg. v. Paul Raabe. München. [WA] Goethe, Johann Wolfgang (1985–1998). Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder u. Edith Zehm. 21 Bde. München 1985–1998. [MA] Goethe, Johann Wolfgang (2008  ff.). Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar und des GSA hg. v. Georg Kurscheidt, Norbert Oellers u. Elke Richter. Berlin. [GB] Gundelfinger, Friedrich (Hg.) (1907). Romantiker-Briefe. Jena. Herder, Johann Gottfried (1856). Aus Herders Nachlaß. Ungedruckte Briefe von Herder u.  a., Bd. 1: Goethe. Schiller. Klopstock. Lenz. Jean Paul. Claudius. Hg. v. Heinrich Düntzer u. Ferdinand Gottfried Herder. Frankfurt a. M. Herder, Johann Gottfried (1859). Herders Reise nach Italien. Herders Briefwechsel mit seiner Gattin, von August 1788 bis Juli 1789. Hg. v. Heinrich Düntzer u. Ferdinand Gottfried Herder Gießen. Herder, Johann Gottfried (1861–1862). Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß. 3 Bde. Hg. v. Heinrich Düntzer u. Ferdinand Gottfried Herder. Leipzig. Herder, Johann Gottfried (1977–2016). Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. Unter Leitung von Karl-Heinz Hahn hg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar [später: Stiftung Weimarer Klassik / Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen / Klassik Stiftung Weimar]. Bearbeitet von Wilhelm Dobbek (†) und Günter Arnold [später: Günter Arnold]. 18 Bde. Weimar. [HB] Jeßing, Benedikt (1997). „Goethe als Briefschreiber“, in: Goethe-Handbuch in vier Bänden. Bd. 3: Prosaschriften. Hg. v. Bernd Witte, Peter Schmidt u. Gernot Böhme. Stuttgart u. Weimar: 430–473. Koltes, Manfred (2013). „Probleme der Retro-Konversion. Die Regestausgabe der Briefe an Goethe“, in: Brief-Edition im digitalen Zeitalter. Hg. v. Anne Bohnenkamp u. Elke Richter. Berlin u. Boston: 75–86. Kuhn, Dorothea (1979–1983) (Hg.). Goethe und Cotta. Briefwechsel 1797–1832. Textkritische und kommentierte Ausgabe in drei Bänden. Stuttgart. Meier, Albert u. Heide Hollmer (Hg.) (1988). Johann Gottfried Herder: Italienische Reise. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen. 1788–1789. München. Nickisch, Reinhard M. G. (1991). Brief. Stuttgart. Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken (1966–1986). Hg. v. Institut für deutsche Sprache und Literatur der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin

1050 

 5 18. Jahrhundert

[Werke Goethes, Erg.-Bd. 2.1; später: Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR]. Bearbeitet v. Waltraud Hagen u.  a. Berlin. [QuZ] Reed, Terence James (1984). „Ecclesia Militans: Klassik als Opposition“, in: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hg. v. Wilfried Barner u.  a. Stuttgart: 37–53. Reed, Terence James (2005). „‚Lieben Sie mich, es ist nicht einseitigʻ. Die Korrespondenz zwischen Schiller und Goethe“, in: Goethe-Jahrbuch, 122: 176–186. Richter, Elke (2008). „‚Schreibe nur, wie du reden würdest …ʻ. Probleme der Textkonstitution und Textdarbietung bei Briefausgaben, erläutert an Beispielen aus der historischkritischen Ausgabe von Goethes Briefen“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 2008 : 93–108. Richter, Elke (2013). „Goethes Briefhandschriften digital – Chancen und Probleme elektronischer Faksimilierung“, in: Brief-Edition im digitalen Zeitalter. Hg. v. Anne Bohnenkamp u. ders. Berlin u. Boston: 53–74. Richter, Elke u. Alexander Rosenbaum (2015). „Ein ‚buntes, wunderbares, sehr verschiedenartiges Ganzesʻ – Goethes thematische Faszikel und neue Möglichkeiten ihrer Edition“, in: editio, 29: 103–129. Schiller, Friedrich (1943  ff.). Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt v. Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese u. Siegfried Seidel. Hg. im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar u. des Deutschen Literaturarchivs Marbach v. Norbert Oellers. Redaktor Georg Kurscheidt. Weimar. [NA] Schiller, Friedrich u. Johann Wolfgang Goethe (2009). Der Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. 2 Bde. Hg. v. Norbert Oellers unter Mitarbeit v. Georg Kurscheidt. Stuttgart. Schöne, Albrecht (2015). Der Briefschreiber Goethe. München. Urlichs, Ludwig (Hg.) (1860–1865). Charlotte von Schiller und ihre Freunde. 3 Bde. Stuttgart. Wieland, [Christoph Martin] (1963–2007). Briefwechsel. Hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Institut für deutsche Sprache und Literatur [später: Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut für Literaturgeschichte/Akademie der Wissenschaften, Berlin/Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften] durch Hans Werner Seiffert, ab 1992: durch Siegfried Scheibe. 20 Bde. Berlin. [WBr] Wölfel, Kurt (2011). „‚Ein ‚Rettungsmittelʻ? Zu einem Satz in Schillers Brief vom 2. Juli 1796“, in: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Hg. v. Bernhard Fischer u. Norbert Oellers. Berlin: 163–178. Zehm, Edith (1997). „Briefwechsel mit Carl Friedrich Zelter“, in: Goethe-Handbuch in vier Bänden. Bd. 3: Prosaschriften. Hg. v. Bernd Witte, Peter Schmidt u. Gernot Böhme. Stuttgart u. Weimar: 484–496.

Online-Quellen Klassik Stiftung Weimar/Goethe- und Schiller-Archiv (o.J.) (Hg.). Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform (siehe [RA]): https://ores.klassik-stiftung.de/ords/f?p=403 (23.8.2019).

5.20 Korrespondenzen im ‚klassischen‘ Weimar 

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Weiterführende Literatur Anderegg, Johannes (2001a). „‚… wenn ich dir es nicht mittheilen könnteʻ: Zu Goethes Briefen an Charlotte von Stein auf der Reise nach Rom“, in: Goethe Yearbook, 10: 84–98. Bodley, Lorraine Byrne (2009). „A Musical Odyssey: Thirty-Five Years of Correspondence between Goethe and Zelter“, in: Goethe and Zelter. Musical Dialogues. Hg. v. ders. Farnham: 1–28. Helbig, Holger (2004). Naturgemäße Ordnung. Darstellung und Methode in Goethes Lehre von den Farben. Köln u.  a.: 330–358. Hey’l, Bettina (1996). Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter. Lebenskunst und literarisches Projekt. Tübingen. Lach, Roman (2013). „‚Meine Selbstgespräche sind an dich gerichtetʻ. Goethes monologische Briefe an Charlotte von Stein“, in: SchreibLust. Der Liebesbrief im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. v. Renate Stauf u. Jörg Paulus. Berlin u. Boston: 15–32. Richter, Thomas (2000). Die Dialoge über Literatur im Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter. Stuttgart u. Weimar.

6 19. Jahrhundert

Ingo Breuer

6.1 Literarische Außenseiter um 1800: Jakob Michael Reinhold Lenz, Heinrich von Kleist, Georg Büchner Spätestens um 1900 erleben vier deutschsprachige Autoren, die allerdings nie ganz aus dem Bewusstsein der Leserschaft verschwunden waren, eine Renaissance: Friedrich Hölderlin (1770–1843), Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792), Heinrich von Kleist (1777–1811) und Georg Büchner (1813–1837). Zwischen Naturalismus und Expressionismus entsteht eine neue Faszination für reale oder vermeintliche Außenseiter-Gestalten höchst unterschiedlichen Charakters: Hölderlin und Lenz als schließlich dem Wahnsinn verfallene Geistesgrößen, Letzterer zudem als Opfer Goethes; der Selbstmörder Kleist als der „leidende, missachtete, vom preußischen Königshaus zuletzt ignorierte, sogar von seiner Familie ausgestoßene Mensch“ (Müller-Salget 2017, 79); Büchner als frühverstorbenes politisches und literarisches Genie, dessen Zeit noch nicht gekommen war. Das Interesse an den Briefen blieb aber im üblichen hermeneutischen Rahmen: Sie galten als Material für die Rekonstruktion von Lebensstationen und Werkhintergründen, bestenfalls als Ort der künstlerischen Selbstreflexion oder gar als literarisches Testfeld, nicht selten blieb das Interesse aber biographisch, sei es im Hinblick auf die ‚tragischen‘ Liebesbeziehungen (Lenz und Friederike Brion, Kleist und Wilhelmine von Zenge, Büchner und Wilhelmine Jaeglé) oder auf die z.  T. problematischen Beziehungen zur Familie, sei es hinsichtlich spannungsvoller Beziehungen zu den Großdichtern der Epoche – hier vor allem zu Goethe als einer problematischen literarischen Autorität. Symptomatisch ist vielleicht der von Büchners Freund August Stöber 1842 herausgegebene Band Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim. Aus Briefen und gleichzeitigen Quellen; nebst Gedichten und anderm von Lenz und Goethe. Die neuere Forschung misstraut der vermeintlichen Authentizität epistolaren Schreibens und macht vielmehr auch für diese drei Autoren auf den Eigensinn brieflicher Rhetorik bzw. Ästhetik sowie der Materialität der Kommunikation aufmerksam. Insgesamt sind Kleists Briefe aufgrund von zwei neueren Sammelbänden (vgl. Blamberger et al. 2013; Breuer et al. 2013) und dezidierten Einzelstudien, z.  B. in medientheoretischer Perspektive (vgl. Siegert 1993), auch über die biographischen Aspekte hinaus recht gut erforscht. Dies gilt für Lenz und Büchner nicht im selben Maße, bei denen biographische Untersuchungen deutlich überwiegen. Zur recht umfangreichen, wenn auch verstreuten Lenz-Korrespondenz fehlen zudem noch umfassendere Forschungsdiskussionen und nicht zuletzt eine historisch-kritische Briefausgabe, wie sie für die beiden anderen Autoren jeweils vorliegt. https://doi.org/10.1515/9783110376531-084

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 6 19. Jahrhundert

1 Jakob Michael Reinhold Lenz Die hundert Jahre alte erste Gesamtedition von Lenz’ Briefen durch Karl Freye und Wolfgang Stammler umfasst 360  Briefe von und an Lenz (vgl. Lenz 1918). Sigrid Damm druckt in ihrer Lese-Ausgabe nur 322 Briefe, obwohl sie nach 1918 wiederentdeckte Briefe aufnimmt (vgl. Lenz 2007). In beiden Editionen werden die angeblich „verwirrten Briefe der Moskauer Jahre nicht in vollem Wortlaut wiedergegeben“ (Lenz 1987, Bd. III, 772), die inzwischen aber in Heribert Tommeks Studie Moskauer Schriften und Briefe ausführlich dokumentiert und kommentiert vorliegen (vgl. Lenz 2007). Insgesamt bleibt die Lage prekär, z.  B. sind andere Bestandteile von Briefen, z.  B. Notizen und Entwürfe zu literarischen Werken auf Briefentwürfen, oft ungedruckt (vgl. Weiß 2003, 19–20). Ein dringendes Desiderat stellt neben genauen Verzeichnissen der verbliebenen Handschriften (zu den Krakauer Beständen vgl. Weinert 2003) eine historisch-kritische Brief-Ausgabe mit Faksimiles der Handschriften, wie bei Kleist und Büchner, dar, ggf. auch als Online-Edition. Dies gilt umso mehr, als seit Erscheinen von Damms Leseausgabe weitere Briefe wiederentdeckt oder überhaupt erst aufgefunden wurden. Weitere Funde sind nicht ausgeschlossen; Caflisch-Schnetzler (2012, 92) vermutet in Johann Caspar Lavaters gesammelten Exzerpten aus Lenz’ Briefen auch solche „aus heute nicht mehr auffindbaren Briefen“. Lenz zeigt ein ausgeprägtes Bewusstsein von epistolaren Konventionen und ein starkes Interesse an der zeitgenössischen Briefkultur. Dies manifestiert sich in der formalen und inhaltlichen Ausgestaltung seiner Briefe, in den fiktiven Briefen eines jungen L– von Adel an seine Mutter in L– aus ** in ** , in gelehrten Schriften wie Entwurf eines Briefes an einen Freund, der auf Akademien Theologie studiert und Briefe vom Erziehungswesen an einen Hofmeister! sowie in der intensiven Auseinandersetzung mit Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers in den seinerzeit ungedruckten Briefen über die Moralität der Leiden des jungen Werthers sowie in einem in Schillers Die Horen 1797 erschienenen „kleine[n] Roman in Briefen“ (Lenz 1987, Bd. III, 403) mit dem Titel Der Waldbruder, ein Pendant zu Werthers Leiden. Auch der Aufsatz Etwas über Philotas Charakter enthält laut Untertitel fiktive „Auszüge aus Briefen an die Freunde des Verstorbenen“ (Lenz 1987, Bd. II, 464). Brief und lehrhafte Prosa pflegen seit den Gelehrtenbriefen eine symbiotische Beziehung, so dass auch in Lenz’ Briefen z.  B. ganze Traktate zu finden sind, angefangen bei den forciert geistreichen Passagen des frühen Briefwechsels z.  B. mit dem deutlich älteren Johann Daniel Salzmann („Hier haben Sie wieder ein Blättgen mit einer Hypothese“, Lenz 1987, Bd. III, 280) bis hin zu den Projektbeschreibungen und etymologischen Ausführungen seiner Moskauer Zeit. In dieser Hinsicht bleibt die Korrespondenz stets auch im Kontext gelehrter Geselligkeit und künstlerischer Netzwerke, so im Briefwechsel mit Schriftstellern,

6.1 Literarische Außenseiter um 1800 

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Theologen und anderen Gelehrten wie Sophie von La Roche, Christoph Martin Wieland, Johann Georg Schlosser, Johann Caspar Lavater (vgl. Caflisch-Schnetzler 2012), Johann Gottfried Herder (vgl. Kaufmann 1997) und Goethe, also Vorbildern und Vaterfiguren bzw. Schriftstellerkollegen des Sturm und Drang. Die Briefe werden dabei zum Raum für die Erörterung literarischer und editorischer, theologischer und philosophischer Fragen und schließen auch Diskussionen über eigene und fremde Projekte ein: z.  B. über Sozietäten (mit Salzmann) und Physiognomik (mit Lavater) oder über die eigenen literarischen Werke mit Schriftstellerkollegen und Verlegern. Später kommen unterschiedlichste Vorhaben hinzu, angefangen bei der Gründung einer Damengesellschaft mit eigener Zeitschrift, Editionen, Schul- und Bildungsprojekte und nicht zuletzt Projekte der deutsch-russischen Kulturvermittlung bis hin zu ausgedehnten Bauvorhaben. Diese Projektemacherei galt der älteren Forschung als Zeichen für einen erneuten Ausbruch seiner psychischen Krankheit, wird jedoch inzwischen als Versuch gesehen, die zunehmend prekäre finanzielle Situation durch eine Mitwirkung in tatsächlich diskutierten oder zumindest realistischen Vorhaben zu überwinden, zum Teil im Umfeld seiner Zugehörigkeit zu einer verfolgten Gruppe von Freimaurern. Der „rhetorisch-kalkulierte Charakter der Lenzschen Briefe“, so Haustein (1994, 339), manifestiert sich in gelehrtem Stil (z.  B. der in der Literatur seiner Zeit beliebten enumeratio) und an antiken Dichtern geschulter Bildlichkeit, z.  B. der Schiffsreise als Allegorie des schöpferischen Prozesses und seiner Risiken (vgl. Haustein 1994, 339–343), und darf als Versuch einer philosophischen und künstlerischen Selbstpositionierung gelten. Der durchaus kalkulierte Netzwerkcharakter eines Teils seiner Korrespondenz wird nicht zuletzt erkennbar aus der Strategie der „pendelnden Bewegung zwischen Verbergen und Öffnung“ (Peiter 2017, 246), die nicht nur seinen Umgang mit literarischen Manuskripten wie Die Soldaten und Die Wolken prägte. Das Geheimnis wird immer wieder zum Prüfstein eines Vertrauens, in dem z.  B. Kollegialität in Freundschaft umschlägt (vgl. Peiter 2017, 246–247). Gerade in dieser Hinsicht steht Lenz im Kontext der empfindsamen Briefkultur des 18. Jahrhunderts und des damit verbundenen Freundschaftskults. An Salzmann schreibt er 1772: „[D]ie Sprache des Herzens will ich mit Ihnen reden, nicht des Zeremoniells“; statt mit „plauderhafte[m] Witz“ zu parlieren wolle er das „Herz“ sprechen lassen (Lenz 1987, Bd. III, 253). Und gegenüber seinem Vater äußert er fast gleichzeitig: „wenn ich mein Herz in denselben [Brief] einschließen könnte, ich tät es mit Freuden“ (Lenz 1987, Bd. III, 257). Wie für andere Zeitgenossen „gilt auch für Lenz, dass sich die Gleichgesinnten duzen, ohne sich persönlich zu kennen, und alsbald ihr Herz ausschütten“, doch achtet er, wie Schulz betont, auf einen dem Adressaten angemessenen Stil: Seine Briefe an

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ungefähr Gleichaltrige sind „variantenreicher, oft scherzhaft-geistreich, bisweilen auch schwärmerisch und elegisch klagend, die Gedankenführung erscheint mitunter gewollt sprunghaft und Spontaneität suggerierend“, während er sich bei Älteren wie Salzmann eines „gemesseneren Ton[s]“ befleißigt (Schulz 2001, 299). Der Respekt gegenüber Briefpartnern dokumentiert sich nicht nur im Stil, sondern auch im kalkulierten Umgang mit den Briefkonventionen. Einerseits hält er auch bei Freunden teilweise übertrieben großzügig die Respekträume ein, schreibt diese leeren Ränder dann aber immer wieder – geradezu als joviale Geste – quer und kopfüber mit Ergänzungen und Bemerkungen voll, so dass fast sklavische Übererfüllung der Etikette neben einem Durchkreuzen von Förmlichkeiten steht – sei es als Signum der freundschaftlichen Kommunikation, sei es als symbolischer Akt eines Sturm-und-Drang-Dichters. Nach seiner Erkrankung 1778 geht Lenz zu einem besonders devoten Briefstil mit förmlicheren Anreden über, auch im zuvor deutlich informelleren Briefwechsel mit Herder und Lavater, und seine Handschrift erscheint „weniger schlicht“ (vgl. Schulz 2001, 301–303, hier 303). Erhalten ist eine ausgedehnte Korrespondenz mit der Familie, vor allem mit seinem Vater und seinen Brüdern Friedrich David, Carl Heinrich und Johann Christian Lenz, an der sich das extrem angespannte Verhältnis zu seinem patriarchalisch agierenden, unverständigen Vater sehr gut ablesen lässt. Die Briefe an den Vater sind durchweg in einem devoten Stil im Hinblick auf Sprache, Inhalt und Briefgestaltung gehalten, auch wenn es Lenz „nicht bloß um Abwehr und Unterwerfung geht, sondern auch um Selbstbehauptung, die mitunter schüchtern und in ironischer Brechung […] vorgetragen wird“ (Kagel 2000, 72). Dies ist bis in die Briefgestaltung nachzuverfolgen; so verwendet er z.  B. in den in der Krakauer Jagiellonen-Bibliothek befindlichen Briefen vom 5. Juli 1780 und vom 2. Juni 1781 erstens Quartformat und zweitens Respektränder links, oben und unten i.  d.  R. von einem Ausmaß, wie es für sozial deutlich Höhergestellte üblich wäre, doch weicht er gelegentlich davon ab, indem er bei beiden Briefen in immer kleinerer Schrift den unteren Rand und beim zweiten sogar die linken Ränder auf Seite 2 und Seite 4 vollschreibt (Lenziana 5, Nr. 59–60, 61–62; vgl. Lenz 1987, Bd. III, 617– 619, 630–631). Für den Brief an den Vater und die Schwester Dorothea Charlotte von etwa Herbst 1790 aus Moskau benutzt er sogar völlig untypisch ein Folioblatt mit relativ geringem Rand, das etwas nachlässig beschrieben ist und nicht nur inhaltlich, sondern auch gestalterisch seiner „gereizten Haltung gegenüber seinem Vater, den er hier offensichtlich provozieren will“, Ausdruck verleiht – falls es sich hier nicht nur um einen Briefentwurf handelt (Lenziana 5, Nr. 63, vgl. Lenz 2007, Bd. I, 52–55; Bd. II, 160–167, Zitat 161). Normerfüllung und -abweichung gehen bei Lenz Hand in Hand und sind stets adressatenbezogen kalkuliert. Empfindsamer Freundschaftskult und Sturm-und-Drang-Emphase spielen zwar eine

6.1 Literarische Außenseiter um 1800 

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nicht zu geringe Rolle, doch ebenso ein starkes Festhalten an der Tradition des Gelehrtenbriefs und generell an der traditionellen Briefetikette, die nur in besonderen Fällen durchbrochen wird.

2 Heinrich von Kleist Die Kleist-Ausgabe im Deutschen Klassiker-Verlag (Kleist 1987–1997, Bd.  III) zählt – ebenso wie Günther Dunz-Wolffs KLEIST.digital (http://www.kleist-digital. de) – 234 Briefe von Kleist und präsentiert diese zusammen mit den Briefen an Kleist und ergänzt im Anhang sieben weitere Texte mit unsicherem Status oder in höchst fragmentarischem Zustand. Die Reclam-Ausgabe zählt 233 Briefe von Kleist (vgl. Kleist 1999) und die Berlin-Brandenburger Ausgabe 235 (vgl. Kleist 1988–2010), wobei die Differenzen u.  a. auf unterschiedlichen Einschätzungen von über mehrere Tage verteilt geschriebenen Briefen herrühren. Diese Ausgaben können trotz diskutierbarer unterschiedlicher editorischer Entscheidungen als weitgehend zuverlässig gelten und halten am originalen Lautstand fest. Reproduk­ tionen der Handschriften bietet allein die Berlin-Brandenburger Ausgabe. Eine neue Qualität digitalen Edierens verspricht das Portal KLEIST.digital, das einen integrierten Vergleich wichtiger Editionen und hoffentlich in Zukunft auch Handschriften-Images mit Transkription liefert. Der Großteil der erhaltenen Korrespondenz ist archivalisch leicht zugänglich; fast die Hälfte befindet sich allein in der Krakauer Jagiellonen-Bibliothek, darunter umfangreiche Konvolute mit Briefen an die Verlobte Wilhelmine von Zenge und die Halbschwester Ulrike von Kleist. Die Überlieferungslage darf als höchst unbefriedigend gelten, da große Teile der Korrespondenz vernichtet sind. Selbst in den scheinbar gut überlieferten Konvoluten mit Briefen an die Verlobte und die Halbschwester Ulrike von Kleist fehlen im ersten Fall ein von ihm selbst als zentral bezeichneter Brief von 1800 sowie die nach ihrer Verheiratung mit Traugott Krug an sie gerichteten Briefe und im zweiten Fall u.  a. die gesamte Korrespondenz aus der Zeit der rätselhaften ‚Würzburger Reise‘. Vollständig fehlen die Korrespondenz mit seinem Bruder Leopold und anderen Familienangehörigen wie der späteren engen Vertrauten Marie von Kleist (vgl. Müller-Salget 2009, 180–181). Gerade im Familienkreis scheint – wohl in einer Mischung aus Scham und Verärgerung über dieses schwarze Schaf der Familie – fast alles vernichtet worden zu sein. Außerdem besteht ein grobes Ungleichgewicht in der Verteilung: Briefe an die Halbschwester Ulrike von Kleist sind zwar aus allen Phasen überliefert, von anderen Korrespondenzpartnern jedoch nur einzelne Briefe aus jeweils eng begrenzten Lebensabschnitten, die selbst wieder sehr unterschiedlich gut dokumentiert sind: Aus den Jahren 1799 bis 1802, 1807/1808

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und 1810/1811 sind recht viele Briefe erhalten, doch aus den übrigen Zeiten nur wenige – aus den Jahren 1793 bis 1798 insgesamt nur zwei Briefe. In den Zeitraum 1800 bis 1802 fällt die Korrespondenz mit seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge, die erstens seine (Kant-)Krise und zweitens seine umfangreichen Reisen nach Würzburg, Paris und in die Schweiz dokumentiert  – und damit auch seine mäßig erfolgreichen Versuche einer beruflichen Orientierung. Berufliche Korrespondenz von nennenswertem Umfang beginnt fast schlagartig 1805 mit seiner Tätigkeit in Königsberg, dann vor allem 1807/1808 und 1810/1811, als er die Zeitschrift Phöbus und die Zeitung Berliner Abendblätter herausgibt und sich einen Namen als Schriftsteller zu machen beginnt. Nun finden sich zunehmend prominente Briefpartner: Schriftsteller wie Christoph Martin Wieland (der ihn bereits früher gefördert hat), Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich de La Motte-Fouqué, Achim von Arnim und August Wilhelm Iffland, wichtige Verleger wie Johann Friedrich Cotta, Georg Andreas Reimer, Georg Joachim Göschen und Julius Eduard Hitzig, aber auch  – aufgrund von Kontroversen um die Abendblätter – mit dem Staatskanzler Karl August von Hardenberg, dem Regierungsrat Friedrich von Raumer und sogar dem König Friedrich Wilhelm III. Hier haben z.  T. amtliche und Verlagsarchive für eine Überlieferung gesorgt, und auch nur von solchen Personen sind Gegenbriefe erhalten. Hier sind Verhandlungen über unterschiedliche berufliche Pläne dokumentiert, Bemühungen um Positionen in Verwaltung und Militär, als Journalist und Schriftsteller; und hier lassen sich zum Teil hochtrabende Pläne und naive Einschätzungen der Lage ebenso ablesen wie die politischen Widerstände gegen seine Unternehmungen und das Unverständnis gegenüber seinen Entscheidungen. Privatbriefe aus dieser Zeit sind kaum erhalten, und diese wenigen wieder eher punktuell: Briefe an seine engen Freunde aus Militärzeiten, Otto August Rühle von Lilienstern und Ernst von Pfuël sowie an Marie von Kleist, die Ehefrau eines entfernten Verwandten, in denen sich auch einige der wenigen privaten Äußerungen über die eigenen Werke finden (vgl. Müller-Salget 2009, 181–182). Eine klare Trennung zwischen intimer Kommunikation und ‚sachbezogener‘ Mitteilung ist jedoch nicht immer leicht, was sich in einem Kuriosum der einschlägigen Brief-Editionen niederschlägt: Wohl aus pragmatischen Gründen dienen Briefausgaben häufig als Ort zur Publikation verstreuter Texte mit unklarem Status, sozusagen als Randphänomene der Gattung ‚Ego-Dokument‘, wie die Marburger Ausgabe von Büchners Briefen, die auch „Kleindokumente“ enthält (Büchner 2000–2013, Bd. 10.1, 317–321) und Lenz’ Moskauer Briefe, die teilweise den brieflichen Rahmen sprengende lange Abhandlungen enthalten, und auch Kleists Briefe. Dessen „Denkübung für Wilhelmine von Zenge“ wird üblicherweise ebenso bei den Briefen abgedruckt (vgl. Kleist 1987–1997, Bd. IV, 61–66) wie der berühmte Brief vom 16. November 1800 aus Würzburg, obwohl er in der Hand-

6.1 Literarische Außenseiter um 1800 

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schrift die Anrede „Liebe Wilhelmine“ in „Für Wilhelmine“ und damit das Genre vom Brief zum Essay ändert, in dem er u.  a. den Anblick eines Torbogens zum Ausgangspunkt einer philosophischen Reflexion über die Dialektik von Sturz und Halt, Verzweiflung und Zuversicht nimmt (vgl. Kleist 1987–1997, Bd. IV, 157, 689). „Über die Aufklärung des Weibes“, eigentlich eine Beilage zu einem Brief an seine Verlobte vom 13.–18. September 1800, die ebenfalls die Widmung „Für Wilhelmine von Zenge“ trägt, findet sich dagegen i.  d.  R. bei den philosophischen Schriften (z.  B. Kleist 1987–1997, Bd. III, 531–534, 1117–1118). Die Briefe an die Verlobte sind immer wieder auch Gelehrtenbriefe, was in der Forschung Kritik an den ‚unsäglichen‘ Liebesbriefen ausgelöst hat, die eher dem Modell der Chrie folgten (vgl. Schrader 1981/1982, 92–94) – was auch für den Brief an Ernst von Pfuël von 1805 gilt (vgl. Gabler 2013, 51). Erstens jedoch nahm die Verlobte, die als Frau keinen Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen hatte, das für die Zeit keineswegs untypische Moment der Informationsvermittlung und Bildung im Brief durchaus positiv auf; zweitens könnte das Lehrhaft-Rhetorische vieler Briefe auch der von Kleist selbst so bezeichneten Eigenschaft als Testfeld und „Ideenmagazin“ (vgl. Kleist 1987–1997, Bd. III, 164) für seinen mehrfach geäußerten Plan einer Gelehrtenexistenz geschuldet sein: Indem sich „das im Kontext der Physikotheologie tradierte und in der Populärwissenschaft verbreitete allegorische Denken“ für Kleist als prägend erweist (Eybl 2002, 115), dürfen seine Ambitionen auch in diesem Umfeld zu suchen sein, zumal auch die von Kleist gepflegten Reisebriefe zu den besonders beliebten Genres der Popularaufklärung zählen. Drittens hat Wilhelmine von Zenge nach eigener Aussage mehrere allzu intime Briefe vernichtet; der ‚private‘ Charakter der Briefe und entsprechend der von Christian Fürchtegott Gellert geprägte aufgeklärt-empfindsame Stil nimmt trotzdem beträchtlichen Raum ein (vgl. Blamberger 2011, 96–97). Die Bildlichkeit dieser Briefe, meist Reisebriefe, ist ausgiebig diskutiert worden, besonders die Landschaftsbeschreibungen mit ihren dramatischen Szenen, z.  B. der sich durch das Gebirge einen Weg erkämpfenden Wassermassen. Diese dienen als Mittel zur Beschreibung aktueller innerer Zustände, als implizite Kunst- und Kulturtheorie und zugleich als Modelle für spätere literarische Werke, in denen Landschaftsbeschreibungen weiter eine große Rolle spielen (vgl. MüllerSalget 2013), folgt aber auch einer Eigenlogik der Popularaufklärung. Zugleich verweisen diese Beschreibungen auf die zeitgenössische Gartentheorie mit ihrem Vorbild in der französischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts (vgl. Breuer 2013a, 2013b), aus denen Ideallandschaften abgeleitet und immer wieder mit realen Topographien überblendet werden, so dass Kleist z.  T. mehrfach gleiche Formulierungen zur Beschreibung unterschiedlicher Gegenden wählt. Wie die meisten Landschaftsbeschreibungen der Zeit sind auch diese also nur als intermediale Phänomene verständlich. Dies gilt nicht zuletzt für die Briefe aus Paris, die

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geradezu einen Höhepunkt von „Künstlerbriefen“ mit „diversen Entwürfen von Ich-Fiktionen“ bieten, wobei diese „Schreibstrategie […] noch bis zum Jahr 1805 beobachtbar ist“ (Kapp 2000, 286), also desto mehr verschwindet, je mehr er zum Schriftsteller wird. Die mediale und materiale Seite von Kleists Korrespondenz ist am genauesten für seine 58 Briefe an Ulrike von Kleist (Gegenbriefe sind nicht erhalten) untersucht worden, die etwa ein Viertel der insgesamt erhaltenen Kleistbriefe darstellen. Die Halbschwester ist enge Vertraute und kritische Instanz, Geschäftspartnerin und Förderin; sein gegenüber der Verlobten immer wieder argumentativ herunterdekliniertes traditionelles Frauenbild zerschellt an ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Souveränität ebenso wie an den eigenen homoerotischen Neigungen zu Ernst von Pfuël, so dass neben den Lebensplänen hier auch die Geschlechterordnung ins Schwanken gerät. Das ambivalente Verhältnis manifestiert sich auch in der Briefgestaltung: einerseits in z.  T. formaler Anrede und in breiten Devotionalrändern, andererseits immer wieder auch in eng beschriebenen Rändern, ungewöhnlichen Papierformaten und schlechter Qualität, in enger und schräger Schrift (vgl. Gribnitz 2013). Besonders auffällig sind die Beispiele „einer unangemessenen Verbindung inhaltlicher und formaler Konventionen“: Er verwendet z.  B. für eine einem Billet angemessene Nachricht mit förmlicher Anrede und Unterschrift sowie Devotionalzeichen „ein ganzes Doppelblatt in Kanzleigröße“ (Gribnitz 2013, 96–97). Erkennbar ist zudem das Schwanken zwischen formvollendeten Briefen am Anfang und Schluss der Korrespondenz und einer auch im Formalen erkennbaren engen Vertrautheit mit vollgeschriebenen und vielen Korrekturen versehenen Briefen um 1800, so dass die Briefgestalt zum Indikator der Vertrautheit wird. Dass Kleist in seinen Briefen an Wilhelm Prinz von Preußen und den preußischen König Friedrich Wilhelm III. einerseits am Anfang regelgerecht handbreite Devotionalräume lässt, andererseits am linken Rand und am Schluss darauf verzichtet, mag im Hinblick auf viele seiner Briefe als persönliche Marotte gewertet werden, ist aber gegenüber solchen hochgestellten Persönlichkeiten auch ein Affront (vgl. Breuer 2015, 35–36). Dies muss umso mehr angenommen werden, als – wie bei Lenz und Büchner – ein hohes Bewusstsein für die Briefkonventionen sowie Möglichkeiten und Funktionen ihrer Durchbrechung sichtbar ist. Selbst die Todesbriefe sind Teil einer Inszenierung. Während seine Todespartnerin Henriette Vogel „der durch Empfindsamkeit und Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts geprägten Tradition vorbildlichen letzten Schreibens“ folgt, deutet Kleist in seinen Abschiedsbriefen das „ursprünglich christliche[] Narrativ[] vom exemplarischen Sterben“ um (Schlinzig 2013, 227–228). Kleist entwirft in den Abschiedsbriefen ein „Autorbild für die Nachwelt“: den „Freitod als Opfer für die Kunst“ (Blamberger 2011, 463), aus dem sich in der Moderne ein Großteil der Faszination für diesen Autor speisen sollte. Da selbst im Todesmoment

6.1 Literarische Außenseiter um 1800 

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möglicherweise das Mitteilungsbedürfnis durch einen Papiermangel – siehe der unübliche kleine Brief an Ulrike (vgl. Gribnitz 2013, 90) – durchkreuzt wird, verwandelt sich die „Ökonomie des Opfers“ (Blamberger 2011, 463) in ein Opfer der (Papier-)Ökonomie.

3 Georg Büchner Die Überlieferung der Briefe von und an Georg Büchner darf als desolat bezeichnet werden, worüber die Marburger Ausgabe genauestens Aufschluss gibt (Büchner 2000–2013, Bd. 10.2, 5–100). Als Handschrift erhalten sind lediglich 13 Briefe von ihm und 25 Briefe an ihn, von denen viele erst in den letzten Jahrzehnten entdeckt wurden, außerdem aus zweiter Hand Fragmente aus etwa 60 verschollenen bzw. vernichteten Briefen. Diese stammen aus zwei Texten Karl Gutzkows über Büchner sowie aus der von seinem Bruder Ludwig Büchner postum herausgegebenen Werkausgabe, teilweise als Zitate in der Einleitung, teils in den beiden Kapiteln mit Briefen „An die Braut“ und „An die Familie“ (vgl. Büchner 1850, 1–50, 237–287), bei denen es z.  T. fraglich ist, ob er „durchweg auf Originale zurückgreifen konnte oder, was die ungenauen und irrigen Datierungen nahelegen, auf undatierte Abschriften von der Hand Wilhelmine Jaeglés“ (Büchner 1994, VIII). Größere nicht erhaltene Briefwechsel muss es mit dem engen Freund Alexis Muston gegeben haben. Außerdem sind nur einzelne Briefe aus dem Umfeld der politischen Aktivitäten in Darmstadt und Gießen erhalten (vgl. Poschmann 2009, 144). Die maßgebliche Briefausgabe stellt der 2012 erschienene, fast 800-seitige zehnte Band der Marburger Büchner-Ausgabe (vgl. Büchner 2000–2013) dar, der sämtliche Briefe von und an Büchner – inklusive Angaben zu nicht überlieferten, aber rekonstruierbaren – chronologisch präsentiert, die erhaltenen Handschriften als Faksimiles mit differenzierter Umschrift und einen umfassenden Kommentar liefert. Inzwischen stellt das Georg Büchner Portal zu den Texten der Marburger Ausgabe alle erhaltenen Briefe in hochauflösenden Scans online bereit. Die ältere Studienausgabe des Briefwechsels bleibt hilfreich, da – anders als in der Marburger Ausgabe – die Blätter und vor allem die Doppelblätter komplett abgebildet und damit die Briefränder nicht beschnitten werden, so dass die Briefgestalt inklusive Breite der Ränder, Leerseiten usw. erkennbar bleibt (vgl. Büchner 1994, 134–163). Wesentlich stärker als bei Lenz und Kleist sind Büchners Briefe nicht nur für biographische Zwecke, sondern auch zur Interpretation der Werke herangezogen worden. Die Schwerpunkte lagen sowohl auf seinem Mitwirken in den politischen Bewegungen seiner Zeit sowie dem Wandel seiner philosophischen und politi-

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schen Positionen und deren Niederschlag in den Werken (v.  a. Der Hessische Landbote, Danton’s Tod und z.  T. auch Leonce und Lena) als auch grundsätzlich auf den poetologischen und künstlerischen Reflexionen, auf deren Basis versucht wurde, eine Art Büchner’sche Ästhetik zu entwickeln. Im lange Zeit erbitterten Streit der Büchner-Forschung, welcher der Protagonisten, v.  a. Danton oder Robespierre, als Identifikationsfigur Büchners gedient haben mag, spielte der sogenannte ­Fatalismus-Brief eine zentrale Rolle. Gegenüber den Eltern versucht er die Derbheit der Sprache in Danton’s Tod durch die Notwendigkeit einer realistischen Darstellung und mit Hinweisen auf Vorbilder wie William Shakespeare und den frühen Goethe zu legitimieren, doch darf dies als „Argumentationslist“ (Mayer 1982, 249) bewertet werden. Überhaupt hat er einerseits gegenüber den Eltern viel zu verbergen, darunter die zwei Jahre geheim gehaltene Liaison mit Wilhelmine Jaeglé und sein Mitwirken in den revolutionären Bewegungen Südhessens, andererseits zeigt er gerade in seinen weitsichtigen politischen Kommentaren eine überraschende Offenheit. Immer wieder geht es um die ins Komische umkippende Selbstinszenierung von Politik, die auch in Danton’s Tod eine große Rolle spielt, und eine zunehmende Abgeklärtheit, was das gegenwärtige revolutionäre Potential in Deutschland betrifft (vgl. Poschmann 2009, 145–148). Ein wesentlicher Fokus der Forschung zu den Briefen an die Verlobte liegt auf der (Sprach-)Krise, „die sich Ende November 1833 in einem psychosomatischen ‚Anfall von Hirnhautentzündung‘ manifestierte“ (Poschmann 2009, 146), wobei eine klare Diagnose bis heute fehlt. Der sogenannte Fatalismusbrief aus dieser Phase dürfte als Reaktion auf seine Lektüre von Adolphe Thiers’ Revolutionsdarstellungen mit ihrer ‚fatalistischen‘ Geschichtsinterpretation zu verstehen sein (vgl. Büchner 2000–2013, Bd. 10.2, 181–182). Die Erschütterung durch diese Lektüre mag teilweise dem endgültigen Zerbrechen idealistischer Vorstellungen, wie sie Büchner in seinen Schulschriften formuliert hatte, geschuldet sein (vgl. Poschmann 2009, 146), doch darf nicht vergessen werden, dass er zur selben Zeit nicht nur an Danton’s Tod arbeitet (wo sich textliche Parallelen zu diesem Brief finden), sondern bald auch am Hessischen Landboten. Büchner setzt sich in diesen Briefen teils explizit mit der Aufklärungsphilosophie seit Descartes auseinander, verknüpft dabei Thiers mit einer auch höchst politisch aufgeladenen Marionettenmetaphorik wie in Leonce und Lena, benutzt jedoch zugleich Konventionen des Liebesbriefs, so topische Landschaftsbeschreibungen, die hier einerseits die melancholische Stimmung des einsamen Liebenden symbolisieren, andererseits vielleicht auch eine Gegenüberstellung der ‚freien‘ Landschaft im republikanischen Elsass und – durchaus parodistisch – der Landschaft um Gießen als vermeintliches Idyll (vgl. Breuer 2014, 106–108). Die Liebeskorrespondenz basiert wahrscheinlich nicht zuletzt auf einem Liebescode (vgl. Fortmann

6.1 Literarische Außenseiter um 1800 

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2007), der sich aus gemeinsamen Erfahrungen mit realen Topographien wie auch explizit aus gemeinsamen Diskussionen über Literatur, Kunst und Philosophie speist. Die Briefe werden mehr noch zu einem intertextuellen Experimentierfeld nicht nur der Rezeption (hier von Jacques Callot, René Descartes, Jakob Michael Reinhold Lenz und E. T. A. Hoffmann), sondern tragen selbst Kerne literarischer Beschreibung in sich  – mit einigen Formulierungen, die sich wörtlich in den eigenen Werken wiederfinden. Kapp (2000, 49–51) hat drei wesentliche Probleme von Büchners Korrespondenz benannt: erstens die bereits erwähnte relativ geringe Zahl der erhaltenen Briefe und die Unzuverlässigkeit der Überlieferung, zweitens die auch Ego-Dokumenten eigenen Fiktionalisierungsstrategien und drittens die „Briefkonventionen des frühen 19.  Jahrhunderts“ (Kapp 2000, 50). Gerade bei den Briefen an Karl Gutzkow lässt sich der Wandel von einem mit rhetorischem Ballast und ausgefeilter literarischer Bildlichkeit geschmückten Brief an einen Verleger zu einer recht direkten Kommunikation, in der Büchner unverblümt Kritik an den Revolutionsvorstellungen des Jungen Deutschland übt, erkennen (vgl. Kapp 2000, 64–65). Besonders die beruflich motivierten Briefe, z.  B. anlässlich des Stellenantritts an der Universität Zürich, folgen recht genau den Vorschriften traditioneller Briefsteller. Er lässt häufig breite Devotionalränder und Respekträume, nicht nur bei amtlichen Schreiben (z.  B. an den Zürcher Bürgermeister) oder Verlegerbriefen (z.  B. an Johann David Sauerländer und Karl Gutzkow), sondern immerhin auch noch zwei Finger Raum am linken Rand und deutlich mehr am oberen Rand, wenn er an Freunde und enge Bekannte wie Eduard Reuss, Wilhelm Braubach oder die Gebrüder Stöber schreibt. Bei Letzteren lässt er in seinem Brief vom 24. August 1832 einen sehr breiten, äußerst förmlichen Respektrand oben, rechts und links, schreibt dann aber den linken Rand quer voll, was nur bei Armut, Geiz oder – in diesem Fall – Freundschaft legitimierbar ist. Grundsätzlich lassen sich aufgrund der wenigen im Original erhaltenen bzw. in hoher Qualität faksimilierten BriefHandschriften zwar keine zuverlässigen Aussagen über Büchners Verhältnis zu den Briefkonventionen seiner Zeit treffen, doch ein souveräner und bewusster Umgang mit dem Spektrum der Konventionen darf wahrscheinlich konstatiert werden. Dies gilt auch für die in den wenigen Originalen gehäuft vorkommenden Siegelausrisse, bei denen nicht immer klar ist, ob sie Büchners unachtsamer (bzw. provokativ falscher) Platzierung des Siegels oder der Unvorsichtigkeit der Empfänger anzulasten sind (vgl. Breuer 2014, 2015).

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4 Schluss So sehr die Autoren Lenz, Kleist und Büchner als Außenseiter im Literaturbetrieb gelten können, so wenig fallen ihre Briefe grundsätzlich aus dem Rahmen der Briefkultur um 1800. Die üblichen Genres werden bedient, die geläufigen Adressaten sind nicht zuletzt Familienmitglieder, Freunde und Verlobte, Schriftstellerkollegen und Verleger, Behörden und andere Institutionen, mit denen in der Regel eine adressaten- und standesgemäße Konversation gepflegt wird. So lässt sich – trotz der anti-rhetorischen Tendenz vor allem seit Gellert und Karl Philipp Moritz – ein starkes Bewusstsein für die Regeln der Briefsteller erkennen, wobei sich ausgerechnet der Aristokrat Kleist vergleichsweise die meisten Freiheiten zu nehmen scheint. Eine Linie von zunehmender Ablehnung der Briefrhetorik hin zu einem Rollback im 19. Jahrhundert (vgl. Baasner 1999) ist hier jedenfalls kaum nachweisbar. Bei allen drei Autoren, vor allem bei Lenz und Büchner, sind viele briefkulturelle Details und ihre – möglicherweise die vordergründige Aussage konterkarierende – Funktion bisher kaum geklärt, was neben dem noch immer nicht stark ausgeprägten Bewusstsein für die Bedeutung z.  B. der Brieftopologie im Fall von Lenz auch am Fehlen leicht zugänglicher Faksimiles der Handschriften liegt.

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6.1 Literarische Außenseiter um 1800 

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Online-Quellen Georg Büchner Portal: http://buechnerportal.de (28.11.2019). KLEIST.digital: Werke und Briefe in digitaler Edition. Hg. v. Günter Dunz-Wolff; http://kleistdigital.de (28.11.2019).

Marie-Claire Hoock-Demarle

6.2 Germaine de Staël, die Groupe de Coppet: Briefe, Briefwechsel, Briefnetzwerke Die Briefe von, an und um Germaine de Staël bezeichnen ein ganz besonderes Kapitel in der Geschichte des Briefs und das nicht allein aufgrund des eigenen Beitrags der in ihrer Zeit sicherlich berühmtesten Schriftstellerin und Opponentin Napoleons, sondern auch dank der äußerst facettenreichen Produktion der um sie herum als Groupe de Coppet sich bildenden Gemeinschaft, die den Brief als Genre ganz und gar erneuern und als effizientes Medium der Kulturvermittung in die Moderne einführen sollte.

1 Zwischen Tradition und Moderne: Madame de Staëls Correspondance générale Die eigentliche Korrespondenz der Madame de Staël liegt als Correspondance Générale seit 2017 vollständig ediert vor. Sie umfasst sechs von Béatrice Jasinski herausgegebene Bände, die beginnend mit den Lettres de jeunesse die Zeit von 1777 bis Mai 1809, d.  h. bis zum zweiten Exil, abdeckt. Ein siebter Band wurde 2008 von Othenin d’Haussonville ediert, der sich mit dem Zeitraum zwischen Mai 1809 und Mai 1812, bis zur abenteuerlichen Flucht aus Coppet, befasst. Ein weiterer Band, Le grand voyage (1812–1814), deckt die europäische ‚Grand Tour‘ der Madame de Staël bis zur Rückkehr nach Paris im April 1814 ab, der neunte und letzte Band Derniers combats (1814–1817) umfasst die letzten Jahre bis zu ihrem Tod im Juli 1817 (beide Bände wurden von Stéphanie Genand und Jean-Daniel Candaux ediert). Die über 4.000 Seiten umfassende Correspondance générale ist auf mehr als 300 Adressaten in allen europäischen Ländern bis nach Amerika verteilt. Die Briefe richten sich ebenso an enge Familienmitglieder wie an zahlreiche Herzensund Geistesfreunde, Literaten und Intellektuelle, aber auch an Politiker und Machthaber wie an Geschäftsleute, Notare und Verwalter der von ihrem Vater Jacques Necker geerbten, umfangreichen Staël’schen Güter und Vermögenswerte. Die Korrespondenz der Madame de Staël zeichnet sich in der Tat durch ein eigenartiges Paradox aus: Sie trägt eindeutig Züge einer für Frauen herkömmlichen Art des Briefschreibens, aber auch deutliche Spuren einer Wende in Form, Inhalt https://doi.org/10.1515/9783110376531-085

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und Tragweite, bedingt durch die Persönlichkeit und die besondere Lage der Briefschreiberin. Greift man aus dieser Fülle von Briefen die aus den beiden Zeitspannen des von Napoleon verordneten Exils heraus – die zwischen Oktober 1803 und Mai 1804, eine Zeit, in der Germaine de Staël Deutschland entdeckt, und die vom Mai 1809 bis Mai 1812, als sie in Coppet in Hausarrest leben muss –, so fällt die Eigenartigkeit dieser Korrespondenz besonders ins Auge. Während der Reise in Deutschland ist der Hauptadressat ihr Vater, Jacques Necker. Von September 1803 bis Ende April 1804 (Necker stirbt am 9. April) sind es sechsundvierzig zum Teil sehr umfangreiche Briefe, die an den Vater gerichtet sind. Damit bewegt sich die Korrespondenz in den Grenzen des Familienkreises und entspricht der frauenspezifischen Form des Briefschreibens, analog zum Kanon der Briefe von Madame de Sévigné an ihre Tochter. Da jedoch Germaine de Staël seit 1795 als „républicaine“ gilt und aus ebendiesem Grunde seit 1803 vom Premier Consul politisch geächtet ist und überdies der liebevoll als „Cher ami/Cher ange“ angesprochene Vater der ehemalige Finanzminister des letzten französischen Königs ist, sprengt dieser familiale Briefaustausch bei weitem die Grenzen des tradierten weiblichen Briefwechsels. Neben privaten, gesundheitlichen oder finanziellen Angelegenheiten verzeichnen Staëls Briefe in der Tat viele Beobachtungen zur politischen Lage, sie ziehen etliche, für Frankreich nicht gerade günstige Vergleiche, etwa mit Deutschland, und skizzieren zukünftige literarische Projekte, wie De l’Allemagne, so in einem Brief an Necker vom 2. Februar 1804: „Ich habe ein Buch über Deutschland vor, das, davon bin ich überzeugt, von Interesse sein wird. Ich erweitere es jeden Tag mit Notizen“ [„J’ai un projet de livre sur l’Allemagne qui aura, je crois, de l’intérêt. Je le grossis tous les jours de notes“] (C. G., Bd V.1, 215; Übers.  d. Verf.). Von Anfang an bilden die Briefe an den Vater den ersten Entwurf zu dem späteren Werk: „Ich bitte dich, diese Briefe so zu behalten wie sie geschrieben sind. Ich will daraus eine Art Journal machen“ [„Je te prie de garder ces lettres ainsi écrites. J’en veux faire une sorte de journal“] (27.9.1803, C. G., Bd. V.1, 32; Übers.  d. Verf.). Die Briefe, die sie in der gleichen Zeit an Charles de Villers, einen aus eigenem Entschluss in Deutschland gebliebenen Emigré und Übersetzer Kants, richtet, zeugen ebenfalls von der neuen Funktion des Briefes als Instrument der Vermittlung zwischen zwei Kulturen: „Wir müssen unbedingt versuchen, Sie und ich, einen Vertrag zwischen ihren Gedanken und unseren Sitten zu schließen“ [„Il faut absolument que nous tâchions vous et moi de conclure un traité entre leurs pensées et nos manières“] (14.11.1803, C. G., Bd. V.1, 105; Übers.  d. Verf.). Diese in Frauenbriefen bisher unbekannte Balance zwischen Privatem und Politischem, Familienangelegenheiten und Weltereignissen wird ein zweites Mal in den zwischen 1809 und 1812 in Coppet verbrachten Jahren des Exils deutlich. Hauptadressatin der Briefe von Madame de Staël ist diesmal die Freundin, Juliette Récamier, die ihre Treue zu Germaine de Staël mit der Verbannung aus Paris

6.2 Germaine de Staël, die Groupe de Coppet 

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büßen muss. Diese stark emotional geprägten Briefe – über 80 an der Zahl – entsprechen noch ganz dem Modell der im 18.  Jahrhundert geschlechtsspezifisch codierten ‚Briefe an die Freundin‘. Als jedoch das Verbot von De l’Allemagne hereinbricht, wandeln sich die Briefe an Juliette Récamier wie an die übrigen noch vorhandenen Getreuen – dazu zählen u.  a. der Prince de Ligne, Camille Jordan, Claude Hochet, Karl Viktor von Bonstetten, J. C. L. Simonde de Sismondi, Prosper de Barante und Caspar von Voght – zu vehementen Protokollen einer politischen Verfolgung: „Ich weiß nicht, was für ein künstliches Gefängnis um mich herum zu bauen sie fertiggebracht haben“ [„Je ne sais quelle prison artificielle ils ont trouvé moyen de construire autour de moi“] (16.12.1811, C.  G., Bd.  VII, 524; Übers.  d. Verf.), schreibt eine depressive Germaine de Staël an ihren Pariser Freund Claude Hochet. Das kann sich auch bis zu einer verzweifelten Anklage gegen eine Macht (d.  h. Napoleon) steigern, die nicht nur ein Buch, sondern auch einen Menschen zu zerstören vermag: „Sie haben mich vor mir selbst erschreckt, sie haben für mich das Leben zu einem achten Kreis von Dantes Inferno gemacht“ [„Ils m’ont fait peur de moi-même, ils ont fait de l’existence pour moi un huitième cercle de l’enfer du Dante“] (C. G., Bd. VII, 525; Übers.  d. Verf.), fügt sie in demselben Brief vom 16. Dezember 1811 an Hochet hinzu. Dabei wirken manche Briefe wie direkte Appelle an die intellektuelle Öffentlichkeit gegen eine zerstörerische Macht, so in einem Brief an den „Dear Francis“, d.  h. François-René de Chateaubriand: „Man muss wohl wie Sie eine Macht durch Talent sein, denn unser Jahrhundert ist das Jahrhundert der Macht“ [„Il faut être comme vous une puissance par le talent car notre siècle est celui du pouvoir“] (30.3.1811, C. G., Bd. VII, 382; Übers.  d. Verf.). An Napoleon selbst richtet sie fünf Briefe, die, in der Absicht, De l’Allemagne zu retten, als offene Briefe angelegt sind. Damit entwirft sie eine Variante des Briefes, die sich erst im Laufe des Jahrhunderts als Instrument der Öffentlichkeit durchsetzen sollte und sich etwa mit Bettina von Arnims Briefroman Dies Buch gehört dem König (1843) oder mit Zolas J’accuse. Lettre ouverte au Président de la République (1898) anlässlich der Dreyfus-Affäre vergleichen ließe.

2 Die Briefkonstellation Coppet Madame de Staëls besondere Lage hat freilich noch weitere Konsequenzen. Sie versteht es, aus dem Ort ihres Exils ein europäisches Zentrum des geistigen Widerstands gegen Napoleon zu machen. Zwar sind die Inhalte der Gespräche zwischen den Gästen in Coppet uns weitgehend unbekannt, aber, neben Dauergästen wie Benjamin Constant, August Wilhelm Schlegel und den Nachbarn aus Genf, Karl Viktor von Bonstetten und zeitweise J. C. L. Simonde de Sismondi, zieht

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Coppet Besucher aus allen europäischen Ländern an, und diese Mobilität erzeugt naturgemäß einen regen Briefaustausch, der in einem erweiterten, grenzüberschreitenden Raum zu einer neuen Dynamik der Kommunikation und zu einer ganz und gar modernen Vernetzung des europäischen Raumes führt. Hier finden Intellektuelle avant la lettre zusammen, die zwar durch das von Napoleon verordnete Exil sich am Rande der Gesellschaft befinden, jedoch aus der nationalen Ausund Entgrenzung einen Ort und einen Ausgangspunkt für eine anders gerichtete Kommunikationsform machen. Der rege Briefaustausch der Gäste Coppets mit einflussreichen deutschen Verlegern der Zeit, die alle auf den europäischen Buchmarkt setzen, wie Friedrich Arnold Brockhaus eine Zeit lang in Amsterdam, Georg Andreas Reimer und Johann Friedrich Unger in Berlin, Andreas Perthes in Hamburg, Johann Friedrich Cotta in Stuttgart mit Zweigstelle in Paris, zeugt von einer neuartigen Funktion des Briefes, der erfolgreiche Strategien gegen Zensur und Verbote verwendet. Intensive Briefwechsel – es sind über dreißig an der Zahl, die die Grenzen zu acht Ländern überschreiten – werden da strategisch zu einem politischen Zweck eingesetzt; dichte Briefnetzwerke funktionieren mittels ‚Konnexionen‘ und Interferenzen – Ausdrücke, die schon früh im Briefaustausch zwischen den Brüdern Schlegel auftauchen: „Wär’ es nicht möglich, dass Du durch Deine vielen Konnexionen eine Anzeige der Europa in Kopenhagen, in Petersburg, in Stockholm veranstaltest?“ (Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel, Paris, 15.1.1803, zitiert nach Walzel 1890, 509). Coppet erfüllt hier die doppelte Funktion eines modernen Nachrichtenzentrums, zugleich Sender und Empfänger von Briefen nach und aus Europa zu sein. Damit wird der Brief zum Instrument einer Strategie, die dem kontinentalen Eroberungswillen Napoleons einen anderen, durch die Briefnetze umrissenen europäischen Kulturraum als geistige Macht entgegensetzt. Die eigenartige Dynamik dieses mit den damaligen geschichtlichen Ereignissen  – Staëls Exil und Napoleons Machtanspruch – unmittelbar verknüpften Briefwechsels erzeugt eine Ideen- und Geistesgemeinschaft, die einen eigenen Raum schafft. Coppet, als Kern dieser Briefkonstellation wird auf Dauer das, was Stendhal 1817 brillant in seinem frühen Werk Rome, Naples et Florence als „Ort der Generalstände der europäischen Meinung“ [„le lieu des Etats généraux de l’opinion européenne“] (Stendhal 1817, 336; Übers.  d. Verf.) kennzeichnet. Schon 1808 hatte der Prince de Ligne in einem Brief an Madame de Staël Coppet als die erste Adresse in Europa bezeichnet: „Sie sind gemeint, wenn die Adresse lautet: Dem Genie, in Europa“ [„C’est bien pour vous qu’on pourrait mettre sur l’addresse Au génie, en Europe“] (1.7.1808, Kloocke 1987, 137; Übers.  d. Verf.).

6.2 Germaine de Staël, die Groupe de Coppet 

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3 Europäische Briefvernetzungen Durch die Fülle der Informationen, die Dichte der Briefvernetzungen sowie das ständige Aufeinanderprallen von Alltagsleben und Weltgeschichte, aber auch durch den proklamierten Willen, aus dem Ort des Exils heraus Literatur und Welt neu zu erschaffen, lassen die Korrespondenzen von und nach Coppet erahnen, was der Brief für die Groupe de Coppet geistig und der öffentlichen Wirkung nach bedeutete. Ein Wandlungsprozess setzt ein, der die briefliche Kommunikation bis ins Innerste erfassen sollte. Eindeutig sprengt hier der Brief, in dichten Briefkonstellationen, den seit Erasmus und Montaigne gesetzten Rahmen eines Dialogs zwischen „honnêtes hommes“. Montaigne spricht im Kapitel „sur ce sujet des lettres“ in seinen Essais von „einer Art Umgang, der mich anziehen, stützen und erheben würde“ [„d’un certain commerce qui m’attirâst, qui me soustinst et soulevâst“] (Montaigne 1962, 246; Übers.  d. Verf.). Nichtsdestoweniger herrscht in diesem brieflichen Austausch eine Form gegenseitiger Unabhängigkeit vor, was angesichts der besonderen Situation als Gast im Schloss, in der sich die meisten befanden, gar nicht selbstverständlich war. So gibt es auch keine dominante Figur. Die Briefkonstellation von Coppet funktioniert in der Tat oft, ohne dass die Hausherrin daran Anteil nimmt, gar davon Kenntnis hat  – so z.  B. die rege Korrespondenz zwischen August Wilhelm Schlegel und der seinerzeit in Rom weilenden Freundin Sophie Bernhardi. Aber die Verwurzelung der Groupe de Coppet in einer Zeit des Umbruchs, die komplexe Identitätssuche dieser aus verschiedenen Ländern und Kulturen stammenden Individuen schaffen ganz neue Rahmenbedingungen für den Brief, der sich nun als Instrument der sich bildenden Öffentlichkeit auf europäischem Niveau behaupten muss. Da die Coppet-Korrespondenzen über ganz Europa verzweigt sind und sich in diesem Netzwerk etliche Sprachen und Nationalitäten berühren, unterliegen alle Teilnehmer einer Art Prinzip der Gleichheit in der Handhabung des Briefes. Personen, Sprachen, Lebenswege, Nationalitäten wirken zwar aufeinander, jedoch ohne dass jemand seine Besonderheit dabei einbüßen müsste. So entsteht inmitten der napoleonischen Eroberungszüge – und ihnen bewusst entgegen – durch die Briefwechsel der Coppet-Gemeinschaft ein zukunftsorientiertes Neben- und Miteinander in Europa.

4 Editionen Auch wenn es leider keine eigene Sammlung der Coppet-Korrespondenzen als solche gibt, so kann man doch in den Editionen der verschiedenen Hauptakteure die Briefe von und an Coppet aussortieren. Außer der schon erwähnten Corres-

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pondance générale de Germaine de Staël sind die Briefe von Auguste de Staël an seine Mutter von Lucia Omacini und Othenin d’Haussonville 2013 ediert worden. Für den Briefwechsel zwischen Karl Viktor von Bonstetten und Madame de Staël bieten die Bände IX bis XI der von Doris und Peter Walser-Wilhelm (1996  ff.) herausgegebenen Bonstettiana eine reiche Dokumentation. Die zeitlich den Jahren 1800 bis 1807 entsprechenden Bände 5 bis 9 der Correspondance générale von Benjamin Constant (1993–2015), herausgegeben und kommentiert von Paul Delbouille, Cecil Courtney u.  a., enthalten zahlreiche Briefe, die einen direkten Einblick in die dortige Gesprächskultur und in die zeitgenössischen Debatten ermöglichen. Dank des von Carlo Pellegrini ab 1936 veröffentlichten Epistolario Sismondis, ergänzt 2008 durch die neuen Publikationen von Maria Pia Casalena und Francesca Sofia und zuletzt mit dem 2020 abgeschlossenen Projekt Digitalisierung und elektronische Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels unter der Leitung von Jochen Strobel, kommt man manchen Briefnetzwerken auf die Spur, welche die als Groupe de Coppet inzwischen etablierte Geistesgemeinschaft allen Entfernungen und der Zensur zum Trotz zustande gebracht hat. Darüber hinaus gibt es ein Konvolut von mehr als 3.000 Briefen von und um August Wilhelm Schlegel, das 1929 in den Archiven von Coppet durch den Germanisten und Romantikforscher Josef Körner entdeckt wurde. Der „nach Masse und Bedeutung gigantischste Dokumentenfund“ (Körner 1969, Bd. I, XXII) wurde dreibändig unter dem Titel Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis erst 1969 herausgegeben.

Zitierte Literatur Constant, Benjamin (1993–2015). Correspondance générale. Hg. v. Cecil P. Courtney. 11 Bde. Tübingen. Casalena, Maria Pia u. Francesca Sofia (2008). „Cher Sis“. Scritture femminili nella corrispondenza di Sismondi. Florenz. Kloocke, Kurt (Hg.) (1987). Cahiers Staliens, Nr. 38. Paris. Körner, Josef (Hg.) (1969). Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis. 3 Bde. Bern. Montaigne, Michel de (1962). Essais, in: Ders. Œuvres complètes. Hg. v. Albert Thibaudet u. Maurice Rat. Paris. Schlegel, August Wilhelm (2014–2020). Digitale Edition der Korrespondenz. Hg. v. Jochen Strobel u. Claudia Bamberg. Dresden u.  a.; https://august-wilhelm-schlegel.de (17.11.2019). Sismondi, Jean-Charles-Léonard Simonde de (1933–1954). Epistolario. Hg. v. Carlo Pellegrini. 5 Bde. Florenz. Staël, Auguste de (2013). Correspondance. Lettres à sa mère (1805–1816). Hg. v. Othenin d’Haussonville u. Lucia Omacini. 2 Bde. Paris. Staël, Madame de (2009 [1962  ff.]). Correspondance générale. Hg. v. Béatrice W. Jasinski. 6 Bde. Paris. [C. G. I–VI]

6.2 Germaine de Staël, die Groupe de Coppet 

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Staël, Madame de (2008). Correspondance générale. Bd. VII. Hg. v. Béatrice W. Jasinski u. Othenin d’Haussonville. Paris u. Genf. [C. G. VII] Staël, Madame de (2017). Correspondance générale, Bd. VIII u. IX. Hg. v. Stéphanie Genand u. Jean-Daniel Candaux. Paris u. Genf. [C. G. VIII-IX] Walser-Wilhelm, Doris u. Peter (Hg.) (1996  ff.). Bonstettiana. Briefkorrespondenzen Karl Viktor von Bonstettens und seines Kreises. 14 Bde. Bern (1996–2011) u. Göttingen (ab 2011).

René Sternke

6.3 Karl August Böttiger 1 Der Aufbau des Korrespondentennetzwerks als Mittel der journalistischen Arbeit Karl August Böttigers (1760–1835) Briefnachlass ist einer der umfangreichsten der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden; weitere Teile des Nachlasses bewahrt das Germanische Nationalmuseum Nürnberg auf. Böttiger baute diese Korrespondenz bewusst im Zusammenhang mit seiner journalistischen Arbeit auf. Diese bestand in der Herausgabe verschiedener Zeitschriften unter fremdem oder eigenem Namen und in der regelmäßigen Mitarbeit an deutschen und ausländischen Zeitschriften. Als Karl August Böttiger 1791 das Amt des Gymnasialdirektors in Weimar annahm, siedelte er in ein wichtiges Zentrum des deutschen Journalismus über. Sogleich nach seiner Übersiedlung trat er in näheren Kontakt zu den Zeitschriftenherausgebern Friedrich Johann Justin Bertuch und Christoph Martin Wieland. Schon 1792 trug er sich mit dem Gedanken, in Bertuchs Verlag eine Zeitschrift mit dem Titel Pökile oder Annalen des Luxus und der Moden der Griechen und Römer herauszugeben (vgl. Sondermann 1983, 52–53; Sternke 2008, 268–272). Christian Gottlob Heyne, bei dem Böttiger Rat suchte, führte ihm auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrungen als Herausgeber der Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen das Pro und Kontra einer solchen Unternehmung vor Augen und stellte in diesem Zusammenhang die herausragende Bedeutung der journalistischen Korrespondenz heraus: „Hier müßten Sie sich nun für das Intelligenzblatt weiter nicht als zum Redacteur brauchen lassen. Denn das Zeitsplitterndste ist allemal Correspondenz, zumal dieser Art. Leider erfahre ich es zu großem Theil, obgleich keine mercantile Absicht dabey ist“ (Böttiger und Heyne 2015, 9). Böttigers Tätigkeit als Zeitschriftenherausgeber setzte im Wesentlichen mit der Übernahme der Herausgabe des Neuen Teutschen Merkurs ein. Nach vorausgehenden mündlichen Anerbietungen trug Christoph Martin Wieland Böttiger am 17. Juli 1794 in Form eines Vertragsentwurfs die Mitarbeit an der Herausgabe des Neuen Teutschen Merkurs an, der jedoch weiterhin unter seinem Namen erscheinen sollte (vgl. Wieland 1963–2007, Bd. 12.1, 277–282). Aus einer in Böttigers Nachlass erhaltenen Denkschrift vom 6. Oktober 1794 (vgl. Wieland 1963–2007, Bd. 12.2, 212–215) geht hervor, dass Böttiger bereits zu diesem Zeitpunkt über eine weitreichende Korrespondenz verfügte und sie gezielt in Hinblick auf seine journalistische Tätigkeit auszubauen beabsichtigte: https://doi.org/10.1515/9783110376531-086

6.3 Karl August Böttiger 

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Ich werde meinen ausgebreiteten Briefwechsel dahin, einzuleiten suchen, daß immer ein jedes Monatsstük am Ende, in einer Rubrik Briefe, betitelt einige pikante Nachrichten aus verschiedenen Theilen, Deutschlands, enthalte, doch mehr literarisch, als politisch, u. mit möglicher historischer Treue, damit es keiner Girtannerschen oder Archenholzischen Klatschbude ähnlich sehe. Aus Hannover, Kiel, Breslau, Leipzig u Berlin hoffe ich regelmäßig interreßante Nachrichten zu empfangen, die sich dann nach Belieben modifizieren laßen. (Wieland 1963–2007, Bd. 12.2, 214)

Auch Wielands Entwurf sieht eine Rubrik „Briefe und Auszüge aus Briefen“ vor (Wieland 1963–2007, Bd. 12.1, 279). Briefe bildeten neben Auszügen aus anderen Zeitschriften und Originalbeiträgen von Autoren die früheste Form der Zeitungsnachricht oder des Zeitungsartikels. Wie der Ausdruck „Klatschbude“ andeutet, wurde eine Form der privaten Kommunikation in eine Form öffentlicher Kommunikation verwandelt. Auch die letztgenannte dieser drei Formen des Zeitungsartikels ist untrennbar mit dem Briefwechsel verbunden, da die Verfasser von Beiträgen in der Regel Korrespondenten des Zeitungsherausgebers waren. Schließlich stand auch das Exzerpieren und Kompilieren von Zeitungsnotizen im Zusammenhang mit der Korrespondenz- und Korrespondententätigkeit Böttigers, indem dieser sich die benötigten Exemplare dieser Zeitschriften über seine Mitarbeit an denselben verschaffte. So schrieb Böttiger am 13. Februar 1802 an John Fenwick, welcher seine regelmäßige Mitarbeit an der von ihm geplanten Zeitschrift The Plough wünschte: „In German[y] it is customary, that such, who send regular communications to a magazin or to a news paper, may be indulged with a copy of the publication gratis.“ (Sondermann 1983, 84) Dass die Privatkorrespondenz das wichtigste Arbeitsmittel eines Journalisten war, ist auch daran ersichtlich, dass derselbe in diese Korrespondenz nicht nur Arbeitszeit, sondern auch regelmäßig Geld investieren musste, um Honorare zu erzielen. In dem zitierten Vertragsentwurf Wielands heißt es dazu: „Auch trägt Hr. Bötticher alle seine eigene Unkosten für die Schreibmaterialien u Porto; jedoch mit dem Recht, sich der Addresse ‚An die Expedition des T[eutschen] Merkurs‘ bedienen zu dürfen, in so fern als durch diese Addresse Porto erspart werden kann; welches jedoch nur bey den Kayserlichen Posten stattfindet.“ (Wieland 1963–2007, Bd. 12.1, 281) Unter Friedrich Johann Justin Bertuch gab Böttiger von 1795 bis 1803 das Journal des Luxus und der Moden und von 1798 bis 1805 das Journal London und Paris heraus. Für die Dresdner Abend-Zeitung gab Böttiger verschiedene Beilagen heraus: von 1819 bis 1835 den Wegweiser, der ab 1832 Literarisches Notizenblatt hieß, und von 1822 bis 1835 das Artistische Notizenblatt. Böttiger begründete die ersten archäologischen Fachzeitschriften: 1820, 1822 und 1825 erschien jeweils ein kompendiöser Band der Zeitschrift Amalthea oder Museum der Kunstmythologie und bildlichen Alterthumskunde und 1828 der einzige Band von Archäologie

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und Kunst. Außerdem arbeitete Böttiger als Korrespondent verschiedener in- und ausländischer Zeitschriften. Wie aus der Übersicht über die Korrespondentenhonorare (vgl. Fischer 2014, 134) und aus seiner Korrespondenz mit dem Verleger hervorgeht, war Böttiger der wichtigste Mitarbeiter an Johann Friedrich Cottas ab Anfang 1798 erscheinender Allgemeinen Zeitschrift, die zunächst unter dem Namen Neueste Weltkunde erschien, aber schon im Herbst aufgrund ihres Verbots umbenannt werden musste, sowie ihrer Beilage, des Morgenblatts für gebildete Stände. Des Weiteren war er ein wichtiger Beiträger für den Freimüthigen, die Zeitung für die elegante Welt und zahlreiche andere Zeitschriften (vgl. Sillig 1837). Spätestens ab 1798 und bis mindestens 1805 publizierte Böttiger regelmäßig im Monthly Magazine (vgl. Sondermann 1985, 86, 303), von 1796 bis mindestens 1811 im Magasin encyclopédique (vgl. Sajou 1819).

2 Böttigers Arbeitsweise – Journalisten als Briefeditoren Sowohl als Mitarbeiter als auch als Zeitschriftenherausgeber ging Böttiger in den für das allgemeine Publikum bestimmten Zeitschriften wie in den Fachzeitschriften sehr frei mit den Briefen um, die er als Arbeitsmaterial verwendete. Oft wurde die Briefform beibehalten, der Schreiber genannt oder anonymisiert. Nicht selten wurde die Briefform getilgt. Zuweilen wurden auch mehrere Briefe eines oder verschiedener Schreiber zu einem Beitrag montiert. Nicht alle diese Briefe waren durch ihren Verfasser zur Veröffentlichung bestimmt. Teils handelte es sich um private Briefe. Böttiger verwendete sowohl an ihn gerichtete als auch an dritte Personen adressierte Briefe. Er tat dies mit dem Wissen der Briefsteller, aber auch ohne diese darüber zu informieren. In seinem Brief an Böttiger vom 23. bis 26. Juni 1804 beschreibt Auguste Duvau in Leipzig die Aufführungen eines Gastspiels August Wilhelm Ifflands. Böttiger verwendete diese Schilderungen im Auguststück des Journals des Luxus und der Moden in einem Beitrag mit dem Titel „Iffland in Leipzig. (Aus einem Briefe vom 29. Jun. 1804)“. Der Absender wurde anonymisiert, der Brief umdatiert, Teile des Briefes wurden weggelassen und zahlreiche Passagen eingefügt (vgl. Böttiger und Duvau 2004, 115–118, 338–340). Am 28. Juni 1805 schrieb Duvau an Böttiger aus Genf, ein Leipziger Freund habe ihm mitgeteilt, dass man einen seiner Briefe aus Genf in einem Journal abgedruckt habe (vgl. Böttiger und Duvau 2004, 141). Tatsächlich findet sich in Nr. 57 der von August von Kotzebue herausgegebenen Zeitschrift Der Freimüthige, oder Scherz und Ernst vom 21. März 1805 auf Seite 228 unter dem Titel „Aus Genf, den 18ten Febr. 1805.“ das Fragment eines anonymen Briefes, der das akademische

6.3 Karl August Böttiger 

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Leben in Genf schildert und dessen Adressat gleichfalls ungenannt bleibt. Folglich haben die Herausgeber der Briefe von Johann Gottfried Seume diesen Brief Duvaus als Brief an Seume ediert (vgl. Seume 2002, 501–503). Es handelt sich jedoch um einen leicht überarbeiteten Auszug aus Duvaus Brief an Böttiger vom 26. Februar 1805 (vgl. Böttiger und Duvau 2004, 136–140, 352). Beide Drucke enthalten Verlesungen der Personennamen. Aus Duvaus Junibrief geht hervor, dass Böttiger den Briefschreiber über den Abdruck seines Briefs weder im Vorfeld noch im Nachhinein informiert hatte und jener erst durch den Kaufmann Jean-Charles Pons als Verfasser des Briefs identifiziert und über die Veröffentlichung in Kenntnis gesetzt worden war. Die Beispiele zeigen, dass in Zeitschriften veröffentlichte Briefe nicht in jedem Fall textgetreu ediert wurden. Sie enthalten Verlesungen und bewusste Veränderungen. Textteile wurden fortgelassen, andere hinzugefügt. Schreiber und Adressat sind oft nur sehr schwer zu ermitteln. Zuweilen sind die Spuren, die zu ihnen führen, verwischt. Die Datierungen sind häufig nicht korrekt. Die Intentionen der Briefschreiber wurden nicht immer berücksichtigt, sondern in der Regel denjenigen der Journalisten untergeordnet.

3 Korrespondenzen als wissenschaftliches Arbeitsmittel Böttiger führte eine umfangreiche gelehrte Korrespondenz mit nahezu allen bedeutenden europäischen Philologen und Archäologen seiner Zeit sowie weiteren Wissenschaftlern. Sie diente ihm sowie seinen Korrespondenten dazu, sich Informations- und Positionsvorteile im Wissenschaftsbetrieb zu verschaffen. Gezielt wurden die Briefwechsel eingeleitet und jahrzehntelang geführt. Ende 1787 oder Anfang 1788 wandte sich der sechsundzwanzigjährige Gubener Rektor Böttiger an den achtundfünfzigjährigen einflussreichen Göttinger Philologen Christian Gottlob Heyne, um ihn bei der Vorbereitung einer MartialAusgabe um Unterstützung zu bitten. An dem ersten überlieferten Brief dieser Korrespondenz, in welchem Böttiger Heyne für die Erteilung der gewünschten Auskünfte dankt, wird sichtbar, dass ein solcher Gelehrtenbriefwechsel der Übermittlung fachlicher Informationen diente. Nach seiner Übersiedlung nach Weimar gelang es Böttiger, Heyne in einen regelmäßigen Briefwechsel zu verwickeln, in welchem er zunächst weiterhin als Ratsuchender auftrat und um die Beurteilung seiner Arbeiten bat (vgl. Böttiger und Heyne 2015, 3–5). Der Briefwechsel diente Böttiger dazu, sich mit der für seine Forschungen benötigten Literatur zu versorgen, die er sich aus der Göttinger Bibliothek zusenden ließ. Am 4. Dezember 1791 schrieb Heyne an Böttiger, der der für seine For-

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schungen zur griechischen Alchemie benötigten Literatur entbehrte: „Mangel an Büchern ist zu ersetzen. Wenn Sie zur Sache kommen, will ich von hieraus helfen.“ (Böttiger und Heyne 2015, 6) Bald schon versorgte Böttiger mehrere Weimarer mit Büchern aus der Göttinger Bibliothek. Als Heyne am 5. Juni 1801 von Böttiger zwei Bertuch entliehene Bände der „Kongliga Götheborgska Wetenskaps och Witterhets-Samhällets handlingar“ zurückverlangte (vgl. Böttiger und Heyne 2015, 129), antwortete jener am 16. Oktober 1801: „H[er]r Bertuch leugnet durchaus, auser dem Shaw ein anderes Buch von Ihrer Bibliothek entlehnt zu haben und sagt, es können von Ihm auch weiter keine Zettel vorhanden seyn. Wollen Sie also nur die Gewogenheit haben, eine Abschrift seines Zettels nehmen zu lassen und mir diese zu weiterer Execution zu zu schicken?“ (Böttiger und Heyne 2015, 134) In seinem Brief vom 9. November quittierte Heyne Böttiger den Rückerhalt der Bücher (vgl. Böttiger und Heyne 2015, 135). Private Briefe dienten der Bestellung, Verlängerung, Mahnung und Rückgabequittierung – für alle diese Vorgänge bietet der Böttiger-Heyne-Briefwechsel Beispiele  – im Rahmen einer Fernleihe und erfüllten damit Funktionen, die heute durch ein gesondertes formalisiertes und institutionalisiertes Verfahren abgedeckt werden. Aber auch die Anschaffung von Büchern wurde über Privatkorrespondenzen organisiert, d.  h. die Bücher wurden ‚verschrieben‘. So schrieb Böttiger am 15. Juni 1801 an Heyne: „Die Villa Pinciana u. die Monumenti Gabini hat mir Millin für 3 Carolins in Paris gekauft. Nun möchte ich aber gar gern des Guatanni Monumenti inediti und Visconti Iscrizioni Tropee besitzen. Sollten Sie also, mein vielgütiger, ehrwürdiger Freund, etwas aus Italien verschreiben: so bitte ich dabei meiner eingedenk zu seyn.“ (Böttiger und Heyne 2015, 131–132) Sowohl Böttiger als auch Heyne nutzten den Briefwechsel, um ihre Publikationen in der Gelehrtenrepublik bekanntzumachen. Böttiger übersandte eine große Anzahl eigener Werke, die von Heyne in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen positiv rezensiert wurden (vgl. Böttiger und Heyne 2015, 716–717), und lieferte im Gegenzug positive Besprechungen einer Vielzahl von Werken Heynes (vgl. Böttiger und Heyne 2015, 695). Der Briefwechsel enthält zahlreiche Erinnerungen an und Entschuldigungen für noch ausstehende Besprechungen übersandter Werke. Für die Verbreitung von Désiré Raoul-Rochettes Monuments inédits organisierte Böttiger eine Rezensionskampagne, indem er einen Teil seines Korrespondentennetzwerks in ein Rezensentennetzwerk verwandelte, dessen Aufbau aufgrund der sich rasant verändernden Konstellationen in der Gelehrtenrepublik immer wieder neu hergestellt und aktualisiert werden musste (vgl. Sternke 2008, 343–367). Gelehrtenkorrespondenzen, die sich über Jahrzehnte erstreckten, ergaben sich selten zufällig, sondern wurden bewusst aufgebaut. So wie Böttiger sich an Heyne wandte und den Kontakt zu Aubin-Louis Millin vorsätzlich aufnahm, so wandte sich der Nachfolger des letzteren am Cabinet des Médailles an Böttiger

6.3 Karl August Böttiger 

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und lud ihn zu einem andauernden Briefwechsel ein, der den Korrespondenten gegenseitigen Nutzen bringen sollte. Er sah diesen Briefwechsel als ein Erbteil seines Vorgängers an (vgl. Böttiger und Raoul-Rochette 2018, 6). Oftmals wurde bei der Einrichtung einer derartigen Gelehrtenkorrespondenz eine Übereinkunft getroffen, die die Funktion des Briefwechsels festlegte (vgl. Savoy 2005, 66): Austausch wissenschaftlicher Neuigkeiten, d.  h. Neuerscheinungen und laufender eigener Arbeiten und solcher von Kollegen, Beschaffung wissenschaftlicher Publikationen. Am 1. Februar 1797 schrieb Böttiger an Christian Gottfried Schütz, dass er zu Millin in Kontakt treten wolle, weil dieser „fast alles litterarische Journalwesen, besonders auch das Magazin encyclopédique dirigirt“ (Schütz 1834–1835, Bd. 1, 15). Böttigers Briefwechsel mit dem 1818 verstorbenen Millin währte bis in das Jahr 1817. Am 24. November 1824 forderte ihn Désiré RaoulRochette, Nachfolger Millins als Direktor des Cabinet des antiques et médailles an der Königlichen Bibliothek, zu einem fortgesetzten Briefwechsel auf (vgl. Böttiger und Raoul-Rochette 2018, 2). In seinem Antwortbrief formulierte Böttiger die Rahmenbedingungen. Es gehe bei dem fortzusetzenden Briefwechsel, der tatsächlich bis November 1835 andauerte – der letzte Brief wurde fünf Tage vor Böttigers Tod geschrieben –, nicht allein um den Austausch von Informationen – Böttiger wolle alle erwünschten Auskünfte erteilen –, sondern auch um die Beschaffung von Fachliteratur bei Buchhändlern sowie bei öffentlichen Versteigerungen, bei denen man sie oftmals günstiger erlangen könne. Beide Korrespondenten informierten einander in der Folge nicht nur über ihre eigenen wissenschaftlichen Arbeiten, sondern auch über die laufenden Forschungen der Kollegen, sodass der Briefwechsel einen Überblick über die gesamte zeitgenössische europäische archäologische und philologische Forschung bietet. Hinzu kamen die Vermittlung von Kontakten zu Kollegen und der Aufbau eines Rezensentennetzwerks, das den Erfolg wissenschaftlicher Arbeiten beider Korrespondenten fördern sollte, sowie die gemeinsame Arbeit an wissenschaftlichen Projekten, z.  B. die Mitarbeit an Zeitschriften des Briefpartners oder die Beteiligung an von jenem initiierten Debatten. Ausgehandelt wurden auch Mitgliedschaften der Korrespondenten und anderer Verbündeter in wissenschaftlichen Gesellschaften, Widmungen und andere Ehrungen. Auch hier wird deutlich, dass die Grenze zwischen privatem Brief und offiziellem Schreiben fließend ist. Die Urkunde zur Aufnahme Böttigers in die Göttingische Königliche Gesellschaft wurde als Beilage zu Heynes Brief vom 11. November 1810 an Böttiger gesandt. Sie stellt ein gesondertes Dokument dar. Nach seiner Aufnahme als Correspondant étranger in das Institut royal im Jahre 1832 erhielt Böttiger ein vom Secrétaire perpétuel unterzeichnetes Diplom (vgl. Böttiger und Raoul-Rochette 2018, 290). Da Böttiger kein offizielles Dankschreiben an die Akademie gesandt hatte, verlas Raoul-Rochette stattdessen eine Passage aus einem an ihn gerichteten Brief Böttigers (vgl. Böttiger und Raoul-Rochette

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2018, 294). Als Böttiger nach seiner Aufnahme als Associer étranger in die Académie des inscriptions et belles-lettres im Frühjahr 1833 immer wieder beklagte, kein offizielles Diplom erhalten zu haben, gab Raoul-Rochette als neuer Präsident der Akademie in seinem Brief vom 7. Juli Böttiger gegenüber eine offizielle Erklärung ab, die anstelle der abgesandten und offenbar verloren gegangenen Urkunde gelten sollte (vgl. Böttiger und Raoul-Rochette 2018, 372, 376, 390, 392). In der Korrespondenz zwischen Böttiger und Heyne wurden Mitarbeiter an Buchreihen oder Zeitschriften, Übersetzer, Hauslehrer, Bibliothekare, Gymnasiallehrer und -direktoren und selbst Universitätsprofessoren ausgewählt, sodass Böttiger einen enormen wissenschaftspolitischen Einfluss gewann. Das Zusammenspiel von Journalismus und Korrespondenz kam auch bei politischen Aktionen wie dem Engagement für den von den französischen Besatzern eingekerkerten Gelehrten Kardinal Stefano Borgia oder Maßnahmen zur Erhaltung der Göttinger Universität zum Einsatz. Brieflich hergestellt wurden auch Beziehungen zu Diplomaten und weiteren einflussreichen Persönlichkeiten, die als Antikensammler, Brief- und Paketbeförderer, Subskribenten öffentlicher Vorlesungen usw. wichtige Förderer der Forschung und der wissenschaftlichen Kommunikation waren. Die Herausgabe der Kulturzeitschriften war Böttiger Vorbild bei der Herausgabe der ersten archäologischen Fachzeitschriften, Amalthea und Archäologie und Kunst. Briefe bildeten auch hier nicht nur das organisatorische Rückgrat, sondern ebenso eine wichtige inhaltliche Komponente. Nicht zuletzt war die Abhandlung in Briefform ein wissenschaftliches Genre. Dabei gab es keine feste Grenze zwischen privaten Briefen und wissenschaftlichen Texten, da Böttiger sich derselben Arbeitsweise wie bei seinen journalistischen Arbeiten bediente und an ihn gesandte Briefe unabhängig davon bearbeitete und veröffentlichte, ob sie dazu bestimmt waren oder nicht. Die zahlreichen, aber keineswegs vollständigen Beispiele zeigen, dass Verfassername, Adressat, Schreibeort und Datum der Briefe in der Zeitschrift häufig genannt werden, aber nicht immer korrekt, und dass sie zuweilen auch absichtlich verändert worden sind. Diese Erkenntnis sollte Konsequenzen für den Umgang von Editoren und Interpreten mit gedruckten Briefen haben. Desgleichen wird der hohe Stellenwert, den Briefe in den frühen Fachzeitschriften haben, am Beispiel der Amalthea deutlich. Neben Archäologen und Philologen bezog Böttiger Naturwissenschaftler, Kenner, Sammler, Reisende, Künstler als Korrespondenten in den archäologischen Diskurs ein, nicht allein, um dieser noch nicht institutionalisierten Wissenschaft die breite soziale Akzeptanz zu verschaffen, deren sie, um sich als Disziplin durchzusetzen, bedurfte, sondern auch, um die Zeugnisse von Autopten wissenschaftlich nutzbar zu machen. Wenn die Rubrik „Briefe“ einem weiteren Kreis, der aus Spezialisten und Nichtspezialisten bestand, die Teilnahme am archäologischen Diskurs ermöglichte, so stellte sie doch gleichzeitig eine

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Abstufung zu dem durch Abhandlungen usw. konstituierten engeren Kreis dar, zu dem allein die Fachgelehrten Zugang hatten. Das Sammeln und Veröffentlichen von Briefen gestattete, die über ganz Europa und darüber hinaus verstreuten Forscher und Objekte zusammenzuführen, und ermöglichte einen Überblick über die Forschungen der Kollegen und die rasant anwachsende Materialmasse der archäologischen Forschung. Briefe konstituierten Aktualität. Sie wirkten anziehend, indem sie die Illusion einer Teilhabe an einer andernorts stattfindenden Autopsie vermittelten. Sie kompensierten – zumindest anscheinend – die Unmöglichkeit einer solchen für die Archäologie unerlässlichen Autopsie. Nach der Schaffung des ersten Lehrstuhls für Archäologie an der Pariser Nationalbibliothek am Ende des 18. Jahrhunderts und der Schaffung des ersten Universitätslehrstuhls an der Kieler Universität zu Beginn des 19., währte es Jahrzehnte, bis die Archäologie sich als Universitätsdisziplin etablierte. Dass die internationale Wissenschaftlerorganisation, die diesen Prozess entscheidend förderte, ein Instituto di Corrispondenza archeologica war, unterstreicht die hohe Bedeutung von Briefwechseln für die Institutionalisierung jener sich neu herausbildenden Wissenschaft. Hier bildeten Böttigers auf Korrespondenzen beruhende Fachzeitschriften eine wichtige Vorstufe. In Böttigers nach dem Scheitern der Amalthea ab 1828 bei Josef Max in Breslau herauskommender Zeitschrift Archäologie und Kunst, deren schmale Hefte in schneller Abfolge erscheinen sollten und von der nur die erste Nummer erschien, bildete die Abteilung „Correspondenz aus der Archäologie“ wiederum eine wichtige Abteilung, die vom Verleger wie von Mitarbeitern an beiden Fachzeitschriften, genannt sei Otfried Müller, bereits im Vorfeld gefordert wurde. Mit den beiden Formen des Aufsatzes und des Briefes ergänzt sich aus Böttigers Sicht das Gründliche, dem er bleibenden Wert zuspricht, mit dem Neuesten, das sich durch Mannigfaltigkeit auszeichne (vgl. Sternke 2008, 316). Der Band enthält Briefe von Arnold Heeren (1760–1842) in Göttingen, Gaetano Cattaneo (1771–1841) in Mailand, Friedrich Rochlitz (1769–1842) in Leipzig, Gustav Seyffarth (1796–1885) aus Paris, Wilhelm Dorow (1790–1846) aus Rom, James Millingen (1774–1845) aus Neapel und einem Ungenannten aus München, bei dem es sich um Joseph Freiherrn von Hormayr (1781–1848) handeln dürfte.

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4 Der Brief als wissenschaftliches Genre und die wissenschaftliche Abhandlung in Briefform als Brief Anhand eines geplanten, fertiggestellten und doch nicht erschienenen Beitrags Raoul-Rochettes lässt sich aufzeigen, dass die Form einer Abhandlung in Briefform nicht bloß äußerlich ist und es sich dabei gleichermaßen um eine Abhandlung und um einen Brief handelt. Raoul-Rochette schätzte diese Form der wissenschaftlichen Darstellung besonders und wollte bereits seine Monumens inédits in Form archäologischer Briefe publizieren (vgl. Böttiger und Raoul-Rochette 2018, 64). Er verfasste für Archäologie und Kunst einen Brief „A Monsieur Ch. Boettiger, Professeur d’Archéologie, etc. etc. etc.“, in dem er Wandmalereien und Inschriften in einem der etruskischen Hypogäen des alten Tarquinium beschrieb und interpretierte (vgl. Böttiger und Raoul-Rochette 2018, 84–149). Da der Satz des französischen Manuskripts dem Breslauer Verleger Probleme bereitete, wurde die Veröffentlichung zurückgestellt. Raoul-Rochette publizierte daraufhin im Journal des Savans eine gestraffte Fassung seiner Abhandlung. Die Varianten der beiden Fassungen und der Kontext, in dem sie entstanden sind, belegen, dass es sich bei der für Archäologie und Kunst bestimmten Fassung nicht nur um eine Abhandlung in Briefform, sondern gleichzeitig um einen wirklichen Brief handelt. Die Tatsache, dass Raoul-Rochette gleichzeitig mit diesem Text einen Begleitbrief übersandte (vgl. Böttiger und Raoul-Rochette 2018, 150), darf keineswegs so ausgelegt werden, dass jener „lettre“ kein eigenständiges Schreiben, sondern nur eine Beilage jenes Begleitschreibens wäre, denn dieser Brief enthält neben der Beschreibung der Grotte Anrede, Datierung und Schlussformel, wie sie für einen Brief charakteristisch sind, einen mehrseitigen Einführungsteil und einen kurzen Schlussteil, der den Rahmen, in den sich die wissenschaftliche Untersuchung des Hypogäums einfügt, darstellt und reflektiert und der neben der exoterischen Bedeutung, die der Brief für die Öffentlichkeit haben sollte, eine esoterische Bedeutung für den Adressaten besitzt. Das öffentliche und gleichzeitig persönliche Lob Böttigers und die Ehrung der deutschen Nation (vgl. Böttiger und Raoul-Rochette 2018, 84) in dem offenen Brief haben eine spezifische Bedeutung innerhalb einer Auseinandersetzung Raoul-Rochettes mit den Archäologen August Kestner und Otto Magnus Freiherr von Stackelberg. Jene hatten versucht, ein Verbot zu erwirken, um zu verhindern, dass ihr wissenschaftlicher Konkurrent Raoul-Rochette die Hypogäen des alten Tarquinium, die sie zu publizieren gedachten, seinerseits betrachte und erforsche, und hatten sogar Feldsteine vor deren Eingänge rollen lassen. Das Lob der Repräsentanten der „berühmten deutschen Nation“ zielte auf die Stigmatisierung zweier ‚schwarzer Schafe‘. Die Anspielungen konnten

6.3 Karl August Böttiger 

 1085

nicht von allen entschlüsselt werden, da Raoul-Rochette seine Kontrahenten nicht benennt und die Affäre nicht erörtert. Böttiger aber war auch insofern ein besonderer Adressat dieses zur Veröffentlichung bestimmten Briefes, als er durch dieses Mittel als Verbündeter im Kampf um die allgemeine Zugänglichkeit wissenschaftlicher Objekte und Quellen in das Lager Raoul-Rochettes gezogen werden sollte. Dieser Brief enthielt neben der Botschaft an die Öffentlichkeit eine private Botschaft an Böttiger, die nur deren Adressat voll und ganz verstehen konnte. Abhandlungen in Briefform sind, obwohl sie sich an einen größeren Leserkreis richten, dennoch wirkliche Briefe.

5 Fazit Böttigers Umgang mit Briefen ist durchaus typisch und repräsentativ für den journalistischen und fachjournalistischen Umgang mit Briefen, wie er zu seiner Zeit gepflegt wurde. Briefe waren das wichtigste Rohmaterial des Journalismus und ein wichtiges Arbeitsmaterial der wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Arbeit. Sie bildeten die Grundeinheiten von Korrespondenzen und Korrespondenznetzwerken. In der gemeinhin Goethezeit genannten Böttigerzeit, Geburtsstunde des professionellen Journalismus und des Fachjournalismus, waren publizierte Briefe für die Rezipienten nicht immer noch als solche erkennbar. Briefe bilden die Vorformen einer Reihe von Textsorten, die sich im Laufe von Differenzierungsprozessen herausgebildet haben.

Zitierte Literatur Böttiger, Karl August u. Auguste Duvau (2004). Briefwechsel. Hg. v. Klaus Gerlach u. René Sternke. Berlin. Böttiger, Karl August u. Christian Gottlob Heyne (2015). Briefwechsel. Hg. v. Klaus Gerlach u. René Sternke. Berlin. Böttiger, Karl August u. Désiré Raoul-Rochette (2018). Briefwechsel. Hg. v. Klaus Gerlach u. René Sternke. Berlin. Fischer, Bernhard (2014). Johann Friedrich Cotta. Verleger – Entrepreneur – Politiker. Göttingen. Sajou, Jean-Baptiste (1819). Table générale des matières, par ordre alphabétique, Des 122 Volumes qui composent la Collection complète du Magasin encyclopédique. 5 Bde. Paris. Sander, Johann Daniel (1990–1993). Die Briefe an Carl August Böttiger. Hg. v. Bernd Maurach. 4 Bde. Bern u.  a. Savoy, Bénédicte (2005). „Savoir archéologique partagé. Les lettres d’Aubin-Louis Millin à Karl August Böttiger 1797–1817“, in: Aubin-Louis Millin et l’Allemagne. Le Magasin encyclo-

1086 

 6 19. Jahrhundert

pédique – Les lettres à Karl August Böttiger. Hg. v. Geneviève Espagne u. ders. Hildesheim: 63–77. Schütz, Christian Gottfried (1834–1835). Darstellung seines Lebens, Charakters und Verdienstes. Hg. v. Karl Julius Schütz. 2 Bde. Halle. Seume, Johann Gottfried (2002). Briefe. Hg. v. Jörg Drews u. Dirk Sangmeister. Frankfurt a. M. Sillig, Julius (1837). „Verzeichniss von C. A. Böttiger’s sämmtlichen Schriften“, in: C. A. Böttiger’s kleine Schriften archäologischen und antiquarischen Inhalts. Bd. 1. Hg. v. dems. Dresden u. Leipzig: XIII–LXVIII. Sondermann, Ernst Friedrich (1983). Karl August Böttiger. Literarischer Journalist der Goethezeit in Weimar. Bonn. Sternke, René (2008). Böttiger und der archäologische Diskurs. Mit einem Anhang der Schriften „Goethe’s Tod“ und „Nach Goethe’s Tod“ von Karl August Böttiger. Berlin. Wieland, Christoph Martin (1963–2007). Briefwechsel. 20 Bde. Hg. v. Hans-Werner Seiffert u. Siegfried Scheibe. Berlin.

Weiterführende Literatur Böttiger, Karl August (1875). Briefe von Goethe, Schiller, Wieland, Kant, Böttiger, Dyk und Falk an Karl Morgenstern. Hg. v. Franz Sintenis. Dorpat. Böttiger, Karl August (2017). Carmina aliquot Graeca. Hg. v. Peter Witzmann. Berlin. Fichte, Johann Gottlieb (1968–2007). Gesamtausgabe. Reihe III: Briefe. 8 Bde. Hg. v. Reinhard Lauth. Stuttgart-Bad Cannstatt. Fischer, Bernhard (2012). „Poesien der Warenwelt. Karl August Böttigers Messberichte für Cottas Allgemeine Zeitung“, in: Böttiger-Lektüren. Die Antike als Schlüssel zur Moderne. Mit Karl August Böttigers antiquarisch-erotischen Papieren im Anhang. Hg. v. René Sternke. Berlin: 55–74. Gentz, Friedrich von (1909–1913). Briefe von und an Friedrich Gentz. Hg. v. Friedrich Carl Wittichen. 3 Bde. München u. Berlin. Goethe, Johann Wolfgang von (1892–1912). Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. IV. Abtheilung: Goethes Briefe. Bde. 11–50. Weimar. Goethe, Johann Wolfgang von (1980–). Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform. Hg. v. Karl-Heinz Hahn, der Stiftung Weimarer Klassik, dem Goethe- u. Schiller-Archiv. Weimar. Herder, Johann Gottfried von (1977–2016). Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. 18 Bde. Hg. v. Günter Arnold. Weimar. Hirt, Aloys (2016–). Briefwechsel und Amtliche Schriften. Forschungsvorhaben an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Bearbeitet von Uta Motschmann. https://aloys-hirt.bbaw.de/ (21.4.2020). Klopstock, Friedrich Gottlieb (1974–). Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Horst Gronemeyer u.  a. Berlin u.  a. Kotzebue, August von u. Karl August Böttiger (1987). Der Briefwechsel. Hg. v. Bernd Maurach. Bern u.  a. Lindinger, Stefan (2000). [Art.] „Böttiger, Karl August“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Nordhausen: 143–151.

6.3 Karl August Böttiger 

 1087

Maurach, Bernhard (1971). Karl August Böttiger als Berichterstatter der Goethezeit. Washington. Merkel, Garlieb Helwig (1987). Die Briefe Garlieb Helwig Merkels an Carl August Böttiger. Hg. v. Bernd Maurach. Bern u.  a. Müller zu Sylvelden, Johannes von (1839). Briefe an Johann von Müller. Supplement zu dessen sämmtlichen Werken. Hg. v. Johann Heinrich Maurer-Constant. 2 Bde. Schaffhausen. Müller, Karl Otfried (1950). Briefe aus einem Gelehrtenleben. 1797–1840. Hg. v. Siegfried Reiter. 2 Bde. Berlin. Münter, Friedrich (1944). Aus dem Briefwechsel Friedrich Münters. Europäische Beziehungen eines Dänischen Gelehrten. 1780–1830. Hg. v. Øjvind Andreasen. 3 Bde. Kopenhagen u. Leipzig. Nicolai, Friedrich u. Karl August Böttiger (1996). Der Briefwechsel. Hg. v. Bernd Maurach. Bern u.  a. Rauch, Christian Daniel (1882). „Briefe des Bildhauers Chr. Rauch, meist an Hofrath Böttiger, aus dessen Nachlaß auf der Bibliothek in Dresden. Hg. v. Robert Boxberger“, in: Jahrbuch der kgl. Preuß. Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, N.F. 11: 115–175. Schiller, Friedrich von (1943). Werke. Nationalausgabe. Hg. v. Julius Petersen, Lieselotte Blumenthal u. Norbert Oellers. Weimar. Schmidt-Funke, Julia A. (2006). Karl August Böttiger (1760–1835). Weltmann und Gelehrter. Heidelberg. Schnorr von Carolsfeld, Franz (1866). Carl August Böttigers handschriftlicher Nachlass. Dresden, SLUB, Bibl. Arch. III. H, Vol. 735.a. Sondermann, Ernst Friedrich (1983). Karl August Böttiger. Literarischer Journalist der Goethezeit in Weimar. Bonn. Sternke, René (2005a). „L’archéologue Millin – modèle de l’archéologue Böttiger“, in: Aubin-Louis Millin et l’Allemagne. Le Magasin encyclopédique – Les lettres à Karl August Böttiger. Hg. v. Geneviève Espagne u. Bénédicte Savoy. Hildesheim: 79–93. Sternke, René (2005b). „Ausgewählte Briefwechsel aus dem Nachlass von Karl August Böttiger. Briefwechsel mit Auguste Duvau“, in: SLUB-Kurier. Aus der Arbeit der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, 19.2: 6–7. Sternke, René (2012a). [Art.] „Böttiger, Karl August“, in: Der Neue Pauly. Supplemente. Bd. 6: Geschichte der Altertumswissenschaften. Biographisches Lexikon. Hg. v. Peter Kuhlmann u. Helmuth Schneider. Stuttgart u. Weimar: 143–145. Sternke, René (2012b). Böttiger-Lektüren. Die Antike als Schlüssel zur Moderne. Mit Karl August Böttigers antiquarisch-erotischen Papieren im Anhang. Berlin. Sternke, René (2014). „Kabale und Kritik. Die Ilias malorum gegen Christian Gottlob Heyne im Mai 1803“, in: Kriminelle – Freidenker – Alchemisten. Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Martin Mulsow. Köln u.  a.: 597–616. Wolf, Friedrich August (1935). Ein Leben in Briefen. Hg. v. Siegfried Reiter. 3 Bde. Opladen.

Christian Helmreich

6.4 Der Briefwechsel Alexander von Humboldts 1 Umfang und Charakter der Korrespondenz Alexander von Humboldts Alexander von Humboldt (1769–1859) gehört sicherlich zu den bedeutendsten Briefschreibern seiner Zeit. Bemerkenswert ist schon der Umfang seiner Korrespondenz, was die Forschung vor besondere Herausforderungen stellt. Es wird geschätzt, dass Humboldt im Laufe seines langen Lebens zwischen 35.000 und 50.000 Briefe geschrieben und wahrscheinlich mehr als 100.000 Briefe erhalten hat. Humboldt stand nachweislich mit mindestens 2.800 Personen brieflich in Kontakt. Solche Schätzungen sind allerdings (wie so oft) nicht ganz einfach vorzunehmen, weil sich nur ein Teil des Briefwechsels des großen Reisenden und Naturforschers erhalten hat (vornehmlich aus seinen zwei letzten Lebensjahrzehnten). Noch heute werden in öffentlichen und privaten Sammlungen jährlich Briefe gefunden, die der Forschung bisher nicht bekannt waren. Darüber hinaus zeichnet sich die Situation im Falle Alexander von Humboldts durch eine besonders ausgeprägte Asymmetrie aus. Denn während wohl mehr als 30 Prozent der Briefe, die der Autor des Kosmos verfasst hat, überliefert oder zumindest dokumentiert sind (ca. 15.500 Briefe), kennt die Forschung weniger als 4 Prozent, also nur ca. 3.500 der Briefe an Humboldt (vgl. auch Biermann 1990 sowie Schwarz 2002). Grund dafür ist, dass Humboldt (anders etwa als Johann Wolfgang von Goethe) oft besonders sorglos mit den Briefen umging, die er erhielt: Briefe einiger seiner berühmten Korrespondenzpartner konnte Humboldt z.  B. an Freunde verschenken, die sich für Autographen interessierten, während viele andere Briefe, die der allseits bekannte und verehrte Gelehrte erhielt, deshalb verschollen sind, weil er, der nach seinen eigenen Angaben gerade in seinem letzten Lebensjahrzehnt mehr als 3.000 Briefe pro Jahr erhielt (vgl. Beck 1959, 294), sie nicht konservierte, sondern viele davon nach einiger Zeit kurzerhand verbrannte, um sich wenigstens eines Teils der Papierflut, die ihn zu überwältigen drohte, zu entledigen. Selbst Briefe von berühmten Schreibern archivierte Humboldt nicht immer als Ganzes. Allerdings nutzte der Wissenschaftler die vielseitigen Kenntnisse seines Netzwerks für seine allumfassenden Publikationen, in denen ja auch die verschiedenen Wissensgebiete auf manchmal virtuose Weise miteinander vernetzt werden. Wenn er in den Briefen seiner wissenschaftlichen Korrespondenten Informationen für seine eigenen Vorhaben und Schriften vorfand, schnitt er oft https://doi.org/10.1515/9783110376531-087

6.4 Der Briefwechsel Alexander von Humboldts 

 1089

die entsprechenden Passagen aus und reihte sie in seine thematisch geordneten Mappen ein, die sich heute zum Teil in seinem Berliner und Krakauer Nachlass befinden (Werner 2004, 97, 167–170; Erdmann und Weber 2015, 60–62). Besser sieht die Überlieferungslage bei den Briefen aus, die Humboldt schrieb, mussten viele der Adressaten sie doch als wertvolle Dokumente ansehen. Viele durften sich geehrt fühlen, zu den Korrespondenzpartnern des Gelehrten zu gehören. Allerdings sind die Briefe naturgemäß über alle Welt auf die verschiedensten Bibliotheken und Archive verstreut. Ein zweiter wichtiger Aspekt der Korrespondenz Alexander von Humboldts ist ihre internationale Ausrichtung: Das Beziehungsgeflecht Humboldts erfasst nicht nur Deutschland und Frankreich (ein Land, in dem er insgesamt ungefähr 25 Jahre seines Lebens verbrachte), sondern u.  a. auch England, Spanien, Russland, die USA und die Länder Spanisch-Amerikas, die er bereiste. Humboldt schrieb seine Briefe auf Deutsch und (an nicht-deutschsprachige Briefpartner) auf Französisch, manchmal auch (besonders während seiner Amerikareise in den Jahren 1799–1804) auf Spanisch. Insgesamt erweist sich Humboldt als eine überaus spannende Figur des Übergangs, die in einer Zeit, in der sich die ‚Nationalisierungʻ der europäischen Gesellschaften ankündigte, das traditionelle Ideal der universalen Gelehrtenrepublik (res publica literaria) hochhält.

2 Humboldts Themen und Stil Als Alexander von Humboldt 1859 starb, ließ das Pariser Institut de France, dem Humboldt seit 1810 als associé étranger der Académie des Sciences angehörte, eine silberne Gedenkmünze prägen, die den Verstorbenen als „neuen Aristoteles“ ehren und somit noch einmal seine wissenschaftliche Vielseitigkeit hervorheben sollte (abgebildet in: Hein 1985, 149). Diese Universalität und intellektuelle Beweglichkeit charakterisiert auch den Briefwechsel Humboldts, der mit Diplomaten und Staatsmännern, Ministerialbeamten und Verlegern, Publizisten und Künstlern korrespondierte und natürlich mit Wissenschaftlern aus allen Disziplinen in regem Austausch stand: nicht nur mit Naturwissenschaftlern und Geographen, sondern auch mit Altphilologen, Linguisten, Historikern und Germanisten. Humboldt ist schon dem Umfang des Briefcorpus nach das, was man einen ‚extensivenʻ Briefschreiber nennen könnte: Er schreibt viele Briefe und pflegt darin meist einen ungezwungenen Ton. Abgesehen von einigen seiner ausgearbeiteten wissenschaftlichen Briefe sowie von seinen ‚offiziellenʻ Briefen und denjenigen, die er an hochgestellte Persönlichkeiten sandte, bemühte er sich in seiner Korrespondenz nicht um einen besonders glänzenden oder ausgearbeiteten Stil. Nur in

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seinen gedruckten Werken tritt er als rhetorisch gewandter und facettenreicher Stilist auf. Briefe, die Humboldt an Wissenschaftler adressierte, dienten naturgemäß dem Austausch von Informationen, von Daten und Beobachtungen. Solche Briefe entwickeln sich mitunter sogar zu veritablen wissenschaftlichen Abhandlungen, die z.  B. in Sitzungen der Pariser Académie des Sciences vorgetragen oder mit geringfügigen Modifikationen in Zeitschriften abgedruckt werden. Diese Form der wissenschaftlichen Kommunikation wird in den Briefen gepflegt, die Humboldt während seiner Amerika-Reise nach Paris oder nach Deutschland sendet (Humboldt 1993); ähnlich verhält es sich in anderer Richtung mit vielen Briefen, die der französische Agrikulturchemiker Jean-Baptiste Boussingault (1802–1887) in den 1820er Jahren aus Südamerika an Humboldt schickt (Humboldt und Boussingault 2015). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfüllt der Brief im Wissenschaftsbetrieb zum Teil noch die Funktion, die ihm in der Frühen Neuzeit zukam, nämlich die schnelle Zirkulation und Veröffentlichung von Beobachtungen, von Messungen, von neuen Wissensinhalten (vgl. Bots und Waquet 1994; Kanz 1997; Mauelshagen 2003). Später wird diese Funktion fast vollständig von den wissenschaftlichen Zeitschriften übernommen werden. Gerade während seiner AmerikaReise dienen Humboldts nach Europa gesandte Briefe auch der Image-Pflege. Die Briefe, in denen er seine unermüdliche Tätigkeit im Dienste der Wissenschaft eloquent herausstellt, ermöglichen es ihm, während seiner fünfjährigen Abwesenheit in den wissenschaftlichen Kreisen wahrgenommen zu werden. Sie begründen die wohlwollende Erwartungshaltung, mit der das gelehrte und das gebildete Publikum in Europa den Amerikareisenden nach seiner Rückkehr aufnimmt. Später geht es Humboldt in seinen Briefen aber auch um punktuelle ‚Detailfragenʻ. Während der Redaktion seiner Werke, die sich durch ihre interdisziplinäre Ausrichtung auszeichnen, wendet er sich gerne an Spezialisten, denen er konkrete Fragen übersendet; die neuesten Erkenntnisse sollen in seine Veröffentlichungen aufgenommen werden (vgl. Werner 2004, 109–114, 167–170). Die Briefe und die von ihm selbst zugeschnittenen Brieffragmente haben für Humboldt die funktionale Bedeutung, die bei anderen Schriftsteller*innen den Exzerptsammlungen oder Zettelkästen zukommt (vgl. Zedelmaier 2015; Décultot 2014): So kann die Korrespondenz z.  T. auch als Wissensspeicher genutzt werden. Neben den rein wissenschaftlichen Fragen, die in seiner Kommunikation mit einigen seiner Briefpartner ganz eindeutig vorherrschen, geht es Alexander von Humboldt auch um (im weiteren Sinne) ‚wissenschaftspolitische‘ Fragen, etwa, wenn er in Briefen an Kollegen oder an politisch Verantwortliche für sein Vorhaben wirbt, auf allen Kontinenten verstreut Messstationen einzurichten, die insbesondere Daten zur Bestimmung des Erdmagnetismus erheben sollen. Erst durch den Austausch der Beobachtungen zwischen den auch untereinander ver-

6.4 Der Briefwechsel Alexander von Humboldts 

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netzten Forschungsstationen kann eine sinnvolle Erfassung und Erforschung von komplexen Naturphänomenen erreicht werden. Es sind aber nicht nur ‚große‘ Probleme, mit denen Humboldt sich auseinandersetzt. Sein diplomatisches Geschick und seine vielen Kontakte setzt er auch im täglichen Geschäft des Wissenschaftsbetriebs ein. Intensiv betätigt er sich als Förderer junger Wissenschaftler, die er bei der Umsetzung ihrer Vorhaben unterstützt und deren Karriere er zu begünstigen sucht. Er schreibt unzählige Empfehlungsschreiben und Briefe an Kollegen, um ‚seinen‘ Kandidaten bei Wahlen in der Berliner oder der Pariser Akademie der Wissenschaften zum Erfolg zu verhelfen – ähnlich verfährt er, wenn es gilt, ausgewiesene Wissenschaftler in die 1842 von Friedrich Wilhelm IV. gestiftete Friedensklasse des Ordens Pour le mérite aufzunehmen, deren erster Kanzler er war. Neben der wissenschaftlichen und der wissenschaftspolitischen Dimension der Humboldtʼschen Korrespondenz tritt noch ein dritter Aspekt auf, der je nach Briefpartner stärker oder schwächer ausgeprägt ist und vielfältige Schattierungen aufweist. Viele Zeitgenossen bewunderten Humboldts Witz und seine Fähigkeit, seine Zuhörer zu fesseln. Während seines Paris-Aufenthalts hatte er auch die Salons frequentiert; die dort praktizierte Kunst der Konversation färbte zum Teil auf die anspielungsreichen, z.  T. auch maliziösen Briefe Humboldts ab, in denen trotz des spielerischen Tons auch grundlegende Probleme angesprochen wurden. Hierzu zählen auch Humboldts Äußerungen zu (tages-)politischen Fragen, da er ja auch mit den politischen Eliten in Paris und mehr noch in Berlin gut vernetzt war. Der Humboldt’sche Plauderton, der sich stets seinen Briefpartnern anpasst (weshalb Humboldts Ton, manchmal sogar bei mehrfach Geäußertem, je nach Adressat variiert), ist besonders präsent in seinen berühmten Briefen an Varnhagen von Ense, aber auch in den Briefen, die er an andere Personen sandte, die ihm geistesverwandt schienen, an die Familie Mendelssohn z.  B. oder an seinen engsten französischen Freund, den Physiker François Arago. Zuweilen zeigt sich dies auch in seinen Briefen an Friedrich Wilhelm IV., selbst wenn der diplomatische Humboldt, Kammerherr des Königs, immer den notwendigen Anstand zu wahren wusste und seine liberalen Positionen durch den Hinweis auf seine mangelnde Weltkenntnis oder politische Klugheit zu entschärfen suchte, die man ihm, dem Wilden aus den Wäldern des Orinoko – eine Anspielung auf seine Reise durch den südamerikanischen Urwald –, doch verzeihen möge (vgl. Humboldt und Varnhagen von Ense 1860; Humboldt und Mendelssohn 2011; Humboldt und Arago 1908; Humboldt und Friedrich Wilhelm IV. 2013). Der Briefwechsel Humboldts spiegelt somit die vielen Facetten eines vielseitigen Gelehrten. Es ist möglich, innerhalb des gesamten Briefkorpus Humboldts, manchmal aber auch innerhalb eines einzigen Briefes, verschiedene ‚Töne‘ zu vernehmen, die von dem Briefschreiber angestimmt und mit Bedacht gewählt werden.

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3 Rezeption und Erforschung der Humboldtʼschen Korrespondenz Die erste größere Sammlung von Briefen Humboldts, die im Februar 1860 bei Brockhaus publizierten Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858, verursachten einen handfesten Skandal. Weil in Humboldts Briefen an seinen liberalen Freund zum Teil spöttische Bemerkungen über den preußischen Hof und über das Berliner politische Personal zu finden waren, insbesondere Seitenhiebe auf einige seiner Gegenspieler am Hofe und in der Regierung, z.  B. auf konservative und klerikale Minister, wurde das Buch in Preußen in den ersten Märztagen 1860 kurzzeitig aus dem Verkehr gezogen; einige Tage später wurde die Konfiskation, die den kommerziellen Erfolg des Briefwechsels sicherlich noch verstärkt hat, zurückgenommen. Brockhaus druckte 1860 fünf Auflagen des Briefwechsels, von dem im selben Jahr auch eine französische, eine englische und eine dänische Übersetzung erschienen (vgl. Gatter 1996, 216– 220, 397). Weniger Aufsehen erregten andere Publikationen, die ebenfalls schon in den 1860er Jahren erschienen, etwa die Briefe Humboldts an den Geographen Heinrich Berghaus sowie eine Ausgabe von französischen Briefen (vgl. Humboldt 1865). Seither sind regelmäßig Teile der Korrespondenz Humboldts veröffentlicht worden, darunter die Briefe an seinen Bruder, die Korrespondenz mit Goethe, mit dem Generaldirektor der Königlichen Museen zu Berlin, Ignaz von Olfers, oder mit François Arago. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann die systematische editorische Erarbeitung der Humboldtʼschen Korrespondenz, die in der DDR ab Mitte der fünfziger Jahre an der Deutschen Akademie der Wissenschaften betrieben wurde (vgl. Schwarz 2001; Schuchardt 2010). 1958 wurde an der Berliner Akademie eine Alexander-von-Humboldt-Arbeitsstelle errichtet, die unter wechselnden Namen bis 2014 bestand und deren Arbeit zum Teil in dem Akademievorhaben Alexander von Humboldt auf Reisen fortgeführt wird. Die Arbeitsstelle kümmerte sich neben der Sammlung von biographischen und bibliographischen Materialien hauptsächlich um die Erschließung des Humboldtʼschen Briefnachlasses; die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften besitzt heute Kopien oder Abschriften fast aller bekannten Briefe Humboldts. 1973 erschienen Humboldts Jugendbriefe als erster Band der Briefedition; seither sind mehr als fünfzehn andere Briefbände erschienen, darunter die Briefwechsel mit Carl Friedrich Gauß, mit dem Geographen Carl Ritter, mit dem Verleger Cotta, mit Friedrich Wilhelm IV. sowie die Briefe mit nordamerikanischen Korrespondenten, aber auch diejenigen, die Humboldt während seiner Amerikareise (1799–1804) oder während seiner kürzeren Russlandreise 1829 schrieb. Während einige Bände die gesamte Humboldtʼsche

6.4 Der Briefwechsel Alexander von Humboldts 

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Korrespondenz innerhalb einer bestimmten Periode dokumentieren (so z.  B. die Jugendbriefe), sind die anderen Bände insofern selektiv, als sie bestimmte Schwerpunkte setzen. Hier könnte man zwischen einer korrespondentenbezogenen und einer thematischen Selektion unterscheiden (vgl. Suckow und Schwarz 1998). In den meisten der nun vorliegenden Bände der Briefedition wird der gesamte Briefwechsel zwischen Humboldt und einem seiner Briefpartner bzw. einer gut identifizierbaren Gruppe abgedruckt. So erlaubt z.  B. der Briefwechsel Humboldts mit dem Geographen Carl Ritter (1779–1859) erhellende Einsichten in die Humboldtʼsche Konzeption der Geographie, während der Briefwechsel mit dem Philologen und Altertumswissenschaftler August Böckh (1785–1865) Aufschluss über das bei Humboldt lebenslang andauernde Interesse an der griechischen Antike und an philologischen Fragestellungen gibt. Trotz der vielen vorliegenden Publikationen bleiben aber auf diesem Gebiet noch weitere Arbeiten zu leisten, darunter etwa eine wissenschaftliche Neuedition der bereits genannten Briefwechsel mit Varnhagen von Ense, Ignaz von Olfers oder François Arago oder die nähere Untersuchung der umfangreichen Korrespondenzen mit französischen und englischen Naturwissenschaftlern, Politikern und Autoren. Danksagung: Mein ausdrücklicher Dank gilt Ingo Schwarz für seine wertvollen Hinweise zur Überlieferungs- und Dokumentationslage der Briefe von und an Humboldt.

Zitierte Literatur Beck, Hanno (Hg.) (1959). Gespräche Alexander von Humboldts. Berlin. Biermann, Kurt-Reinhard (1990 [1981]). „Wer waren die wichtigsten Briefpartner Alexander von Humboldts?“, in: Ders. Miscellanea Humboldtiana. Berlin: 230–236. Bots, Hans u. Françoise Waquet (Hg.) (1994). Commercium Litterarium, 1600–1750. La communication dans la République des Lettres. Amsterdam. Décultot, Élisabeth (Hg.) (2014). Lesen, Kopieren, Schreiben. Lese- und Exzerpierkunst in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Berlin. Erdmann, Dominik u. Jutta Weber (2015). „Nachlassgeschichten – Bemerkungen zu Humboldts nachgelassenen Papieren in der Berliner Staatsbibliothek und der Biblioteka Jagiellońska Krakau“, in: HiN. Alexander von Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für HumboldtStudien, 16.31: 58–77; http://dx.doi.org/10.18443/223 (28.11.2019). Gatter, Nikolaus (1996). „Gift, geradezu Gift für das unwissende Publicum“. Der diaristische Nachlaß von Karl August Varnhagen von Ense und die Polemik gegen Ludmilla Assings Editionen (1860–1880). Bielefeld. Hein, Wolfgang-Hagen (1985). „Alexander von Humboldt. Eine bebilderte Biographie“, in: Alexander von Humboldt. Leben und Werk. Hg. v. dems. Ingelheim am Rhein: 13–150.

1094 

 6 19. Jahrhundert

Humboldt, Alexander von (1865). Correspondance scientifique et littéraire. Hg. v. Jean-BernardMarie-Alexandre Dezos de La Roquette. Paris. Humboldt, Alexander von (1993). Briefe aus Amerika 1799–1804. Hg. v. Ulrike Moheit. Berlin. Humboldt, Alexander von u. François Arago (1908). Correspondance dʼAlexandre de Humboldt avec François Arago (1809–1853). Hg. v. Ernest-Théodore Hamy. Paris. Humboldt, Alexander von u. Heinrich Berghaus (1863). Briefwechsel Alexander von Humboldtʼs mit Heinrich Berghaus aus den Jahren 1825–1858. 3 Bde. Leipzig. Humboldt, Alexander von u. Jean-Baptiste Boussingault (2015). Briefwechsel. Hg. v. Ulrich Päßler u. Thomas Schmuck. Berlin u. Boston. Humboldt, Alexander von u. Friedrich Wilhelm IV. (2013). Briefwechsel. Hg. v. Ulrike Leitner. Berlin. Humboldt, Alexander von u. Familie Mendelssohn (2011). Briefwechsel. Hg. v. Sebastian Panwitz u. Ingo Schwarz. Berlin. Humboldt, Alexander von u. Karl August Varnhagen von Ense (1860). Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858. Leipzig. Kanz, Kai Torsten (1997). „Briefe als Kommunikationsmedium in den deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen“, in: Nationalismus und internationale Zusammenarbeit in den Naturwissenschaften. Die deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen zwischen Revolution und Restauration 1789–1832. Hg. v. dems. Stuttgart: 150–163. Mauelshagen, Franz (2003). „Netzwerke des Vertrauens: Gelehrtenkorrespondenz und wissenschaftlicher Austausch in der Frühen Neuzeit“, in: Vertrauen. Historische Annäherungen. Hg. v. Ute Frevert. Göttingen: 119–151. Schuchardt, Gregor (2010). Fakt, Ideologie, System. Die Geschichte der ostdeutschen Alexander von Humboldt-Forschung. Stuttgart. Schwarz, Ingo (2001). „Zur Geschichte der Alexander-von-Humboldt-Forschung an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften“, in: Die Berliner und Brandenburger Lateinamerikaforschung in Geschichte und Gegenwart. Personen und Institutionen. Hg. v. Gregor Wolff. Berlin: 107–127. Schwarz, Ingo (2002). „Korrespondenz als Last und Vergnügen. Zum Briefwechsel Alexander von Humboldts“, in: Politische Netzwerke durch Briefkommunikation. Briefkultur der politischen Oppositionsbewegungen und frühen Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Hg. v. Jürgen Herres u. Manfred Neuhaus. Berlin: 193–217. Suckow, Christian u. Ingo Schwarz (1998). „Zur Problematik einer auswählenden Briefedition. Beispiel: Die Briefe Alexander von Humboldts“, in: Wissenschaftliche Briefeditionen und ihre Probleme. Editionswissenschaftliches Symposium. Hg. v. Hans-Gert Roloff. Berlin: 119–122. Werner, Petra (2004). Himmel und Erde. Alexander von Humboldt und sein „Kosmos“. Berlin. Zedelmaier, Helmut (2015). Werkstätten des Wissens zwischen Renaissance und Aufklärung. Tübingen.

Niels Jørgen Cappelørn, Hermann Deuser und Markus Kleinert

6.5 Søren Kierkegaard

In der literarischen Strategie des Theologen und Philosophen Søren Kierkegaard (1813–1855), der sich selbst als religiöser Schriftsteller versteht, kommt ein ganzes Arsenal von Briefgenres zum Einsatz. Dieser Einsatz ist vor allem im literarischen Werk einschließlich des Nachlasses markant (1), während die reale Korrespondenz verhältnismäßig unauffällig ist (2). In einem Brief vom Februar 1843 schreibt Kierkegaard an seinen älteren Bruder Peter Christian Kierkegaard: „Da ich sehe, dass Du ‚bei der Suche nach einem anderen Papier auf meinen Brief gestoßen bist‘, so bitte ich Dich diesen zu verbrennen. Dasselbe tue ich mit allen Briefen, die ich erhalte.“ (Brief 6, SKS 28, 21) Das ist kein Einzelfall; das detaillierte Briefregister des Bruders bezeugt, dass Kierkegaard zahlreiche Briefe vernichtet hat. Dasselbe gilt für einen Teil der Briefe seines vertrauten Freundes Emil Boesen, wie man an deren Briefwechsel ablesen kann. Auch wenn man die Briefe, die Kierkegaard beseitigt hat, schätzungsweise mit berücksichtigt, pflegte er keinen umfangreichen Briefwechsel; die erhaltenen oder indirekt überlieferten Briefe, die in Band 28 von Søren Kierkegaards Skrifter veröffentlicht sind, umfassen insgesamt 318 Dokumente. In Kierkegaards Werk sind es die Existenzweisen des Ästhetischen, Ethischen und Religiösen, die die Mitteilungsformen des Autors wie seine Stellung als Schriftsteller bestimmen. Seiner literarischen Strategie dienen gerade auch die Briefe, die er mehrfach entwirft, gezielt einsetzt, als streitbarer Zeitgenosse in die öffentliche Diskussion bringt und die auch in persönlichen Verhältnissen mehr sein können als ein literarisch unwesentliches Nebenprodukt. Vernichtet werden kann, was im engeren Sinne nur persönlich bleibt und der Gesamtstrategie nicht unterliegt. (1) Schon in Kierkegaards frühem Hauptwerk Entweder – Oder (1843) kommen den verschiedenen Existenzweisen entsprechende Briefgenres zum Einsatz, die einen authentischen Ausdruck von Lebenshaltungen in der 1. Person-Perspektive und eine gesteigerte Existenzialisierung bewirken sollen. Das zeigt sich noch entschiedener in der kleinen Schrift Die Wiederholung (1843), die als „Versuch in der experimentierenden Psychologie“ hauptsächlich aus den Tagebuchaufzeichnungen des Experimentators (des pseudonymen Autors Constantin Constantius) und den Briefen seines Klienten besteht. Die 1. Person-Perspektive in Gestalt des selbstanalytischen Briefs macht zudem eine Leseransprache möglich, deren Direktheit auf die Zwischenstellung der subjektiven Aneignung verweist: So kann das Gestaltungsmittel Brief das erreichen, was parallel in der von Kierkegaard entwickelten Gattung der ‚erbaulichen Rede‘ vollzogen wird. https://doi.org/10.1515/9783110376531-088

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 6 19. Jahrhundert

Die für Kierkegaards Schrift Wiederholung konstitutive Briefform erscheint in anderer Funktion im Rahmen einer Auseinandersetzung mit eben dieser Schrift. Unter Kierkegaards Materialien zu einer Polemik gegen Johan Ludvig Heiberg, der zu den ästhetischen Autoritäten des dänischen Goldalters zählte und der Die Wiederholung in einem seiner publizistischen Organe herablassend besprochen hatte, findet sich der Entwurf zu einem „Sendbrief an Hr. Professor Heiberg R[itter] von D[annebrog] von Constantin Constantius“ (Pap. IV B 110–111, 258–274, vgl. den editorischen Bericht zur „Polemik gegen Heiberg“, SKS K15, 66–67). Wenngleich die explizite Kennzeichnung als ‚Sendbrief‘ in Kierkegaards Werk singulär ist, ähnelt die Form des Offenen Briefs manchem Beitrag, mit dem sich Kierkegaard im Massenmedium Zeitung an der öffentlichen Kommunikation beteiligt hat. Kierkegaards nicht veröffentlichter Sendbrief an Heiberg gehört zu den ‚werkpolitischen‘ Artikeln, zumal sich der fiktive Herausgeber der Wiederholung damit selbst an den Rezensenten wendet. Heibergs angeblich berichtigende Darstellung der Wiederholung verfehlt nach Constantin Constantius völlig das in seinem Buch behandelte Problem, wenn die Wiederholung vorausgesetzt und nach dem Muster der gesetzmäßigen Wiederholung in der Natur betrachtet wird, wo aus der Perspektive des „Psychologen mit religiösen Kategorien in der Hinterhand“ doch gerade die freie, geistige Entwicklung des Individuums interessiert. Wie wichtig die Briefform für Kierkegaards Gesamtwerk ist, belegen neben den veröffentlichten Schriften und publizistischen Artikeln auch die von Kierkegaard als eigenständiger Werkteil betrachteten Journale und Aufzeichnungen (die sogenannten ‚Tagebücher‘). In Kierkegaards frühen Journalen fördert die imaginäre Briefkommunikation eine existentielle Selbstvergewisserung, ohne dass zwischen faktischer Korrespondenz und literarischer Fiktion immer eindeutig zu unterscheiden wäre. So beginnt eine berühmt gewordene Aufzeichnung aus „Journal AA“ mit dem Konzept eines wohl an den mit Kierkegaard verwandten Naturforscher Peter Wilhelm Lund gerichteten Briefs („Kopenhagen, den 1.  Juni 1835“), in dem Kierkegaard grundsätzliche Überlegungen zur eigenen Bestimmung, zum Faustischen Zweifel als Moment jeder intellektuellen Entwicklung und seinem Verhältnis zu den Naturwissenschaften, zur Jurisprudenz und zur Theologie zum Ausdruck bringt; im zweiten Teil der Aufzeichnung, der unter Aufgabe der Briefform mit Kierkegaards Nordseeland-Reise verknüpft ist („Gilleleie d. 1. Aug. 1835“), werden die vorigen Überlegungen einer grundlegenden Revision unterzogen, die zum existentiellen, handlungsbezogenen Wahrheitsbegriff („Wahrheit für mich“) führt (AA:12, DSKE 1, 16–23 bzw. 23–31). Als eine Variation auf dieses Thema lassen sich die in angedeuteter Briefform verfassten Aufzeichnungen verstehen, die Kierkegaard zwei Jahre später in „Journal CC“ notiert (CC:12–24, DSKE 1, 157–169). Darin wird ein ungenannter Adressat persönlich angesprochen und explizit hergestellte Anschlüsse an vorhergehende Briefwechsel gliedern die

6.5 Søren Kierkegaard 

 1097

behandelten Themen. Die Selbstdarstellung des Briefeschreibers weist zurück auf die Faust-Idee („Ich teilte Dir vor einigen Tagen die Idee zu einem Faust mit, erst jetzt fühle ich, dass ich selbst es war, den ich da beschrieb […].“) und voraus auf den Ästhetiker des ersten Teils von Entweder – Oder. Zu den literarischen Vorlagen für Kierkegaards kaum ausgeführten Entwurf dürfte neben Goethes Werther v.  a. der Briefroman Nachgelassene Briefe von Gabrielis (1826) seines philosophischen Lehrers Frederik Christian Sibbern zählen. Wie intensiv Kierkegaard die zeitgenössische Brief-Literatur rezipiert hat, ist bislang kaum erforscht. In seiner Bibliothek finden sich laut Auktionsprotokoll neben Studien zu den biblischen Briefen oder Sammlungen klassischer Briefe auch literarische, philosophische, theologische und politische Brief-Werke des dänischen Goldalters, zum Beispiel Mathilde Fibigers unter dem Pseudonym Clara Raphael veröffentlichte und von Johan Ludvig Heiberg herausgegebene Zwölf Briefe (1851). (2) Die Sammlung der erhaltenen Korrespondenz kann zur Übersicht in folgende chronologisch angeführte Gruppen eingeteilt werden: die engere Familie, im Zeitraum 1829–1852, 79 Briefe; Studienkollegen, Lehrer und Fachkollegen, im Zeitraum 1835–1854, 37 Briefe; der bereits erwähnte einflussreiche Schriftsteller und Professor Johan Ludvig Heiberg, seine Mutter, die Schriftstellerin Thomasine Gyllembourg, und seine Frau, die königliche Schauspielerin Johanne Luise Heiberg, im Zeitraum 1836–1851, 9 Briefe; der enge und vertraute Freund, seit 1849 Pfarrer Emil Boesen, im Zeitraum 1838–1851, 41 Briefe; das Königshaus, öffentliche Ämter, Geistliche, Antwort- und Dankesbriefe u.  a., im Zeitraum 1838–1852, 32 Briefe; die frühere Verlobte, Regine Olsen, im Zeitraum 1840–1841, 32 Briefe, sowie sie und ihr Ehemann, Johan Frederik Schlegel, innerhalb des Jahres 1849, 2 Briefe; mit der Arbeit am literarischen Werk und dessen Veröffentlichung verbundene Personen, Sekretäre, Buchdrucker, Redakteure und Verleger, im Zeitraum 1843–1855, 26  Briefe; der Freund für gemeinsame Spaziergänge, Rechtshistoriker und Juraprofessor Janus Lauritz Andreas Kolderup-Rosenvinge, im Zeitraum 1847–1850, 17 Briefe; der in fachlicher Hinsicht nahestehende Freund und Anhänger, Philosophieprofessor Rasmus Nielsen, im Zeitraum 1848–1853, 32 Briefe; Leserinnen, im Zeitraum 1849–1852, 11 Briefe. Zum engeren Familienkreis gehörten die Familien Kierkegaard und Lund, da zwei von Kierkegaards Schwestern mit den Brüdern Johan Christian Lund bzw. Henrik Ferdinand Lund verheiratet waren. Aus dieser Gruppe besonders bemerkenswert sind die Briefe, die Kierkegaard während seines ersten Aufenthalts in Berlin, von Oktober 1841 bis März 1842, an seine Neffen und Nichten schrieb, welche zu diesem Zeitpunkt acht bis 16  Jahre alt waren. Kierkegaard zeigt in diesen Briefen besonderes Feingefühl darin, Stil und Niveau an Alter und Interessen der Kinder anzupassen, und auch eine große Einfühlungskraft in die kindliche Psyche, zumal deren Versagensängste. Er lobt die Kinder und

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würdigt ihre Fähigkeiten, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken, ehe er  – so indirekt pädagogisch wirkend – Punkte benennt, worin sie sich seiner Meinung nach verbessern sollten. Auch nutzt Kierkegaard Illustrationen als pädagogische Hilfsmittel zur Förderung der Allgemeinbildung der Kinder. Als eine Art Geburtstagsgeschenk schreibt er seiner 13-jährigen Nichte Jette einen Brief auf schönem Briefpapier mit Zeichnungen des Berliner Opernhauses, Museums und Schauspielhauses, gedruckt in Gold und umkränzt von fein ziselierten, mit Girlanden geschmückten Rahmen. Im Brief ergreift er die Gelegenheit, ihr von den großen Berliner Bauwerken zu erzählen. Diese Briefe bieten eine praktische Anwendung jener ‚Kunst, Kindern zu erzählen‘, mit der sich Kierkegaard ausführlich beschäftigt hatte (Journal BB:37, DSKE 1, 132–143). Und sie weisen voraus auf ein Prinzip der ‚Helferkunst‘, das Kierkegaard in seiner halbautobiographischen Schrift Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller (geschrieben 1848, postum herausgegeben von seinem älteren Bruder P. Chr. Kierkegaard) ausformuliert. Hierin schreibt er: „Dass man, wenn es einem in Wahrheit gelingen soll, einen Menschen an eine bestimmte Stelle zu führen, zuallererst darauf achten muss, ihn dort zu finden, wo er ist, und dort zu beginnen.“ (SKS 16, 27) Dieses Prinzip ist auch in Kierkegaards seelsorgerischen Briefen wirksam, die er an seine unter Depressionen leidende Schwägerin Henriette Kierkegaard, die oft nicht das Bett verlassen konnte, geschrieben hat, und an seinen gleichaltrigen Vetter Hans Peter Kierkegaard, der behindert war und getragen oder gefahren werden musste. Mit seelsorgerischer Empathie schreibt Kierkegaard z.  B. seinem Halbvetter, wobei er zwanglos zentrale Themen seines Werkes (Existenz, Innerlichkeit, Vorsehung) auf die konkrete Lebenssituation bezieht: Sollte ich Dir einen Rat für Dein Leben geben, oder mit besonderer Rücksicht auf Deine Bedingungen Dir eine Lebensregel empfehlen, so würde ich sagen: vergiss vor allem nicht die Pflicht, Dich selbst zu lieben, lass Deine Stellung, gewissermaßen außerhalb des Lebens, daran gehindert, wirksam darin einzugreifen, lass dies, dass Du in den dummen Augen der geschäftigen Welt überflüssig bist, lass Dich dadurch vor allem nicht der Vorstellung von Dir selbst berauben, als hätte Dein Leben, wenn es in Innerlichkeit geführt wird, für das liebende Auge einer allwissenden Lenkung nicht eben so viel Bedeutung und Gültigkeit wie das jedes anderen Menschen, und bedeutend mehr als die geschäftige, geschäftigere, allergeschäftigste Eile damit – das Leben zu vergeuden und sich selbst zu verlieren. (Brief 27, SKS 28, 48)

Eine gelehrte, der fachlichen Diskussion und dem Meinungsaustausch dienende Korrespondenz, wie z.  B. von Lessing, Hamann oder Jacobi hinterlassen, ist von Kierkegaards Hand nicht bekannt. Allenfalls mag der Briefwechsel zwischen Kierkegaard und Janus L. A. Kolderup-Rosenvinge an solche ‚Lehrbriefe‘ erinnern. Die Freundschaft zwischen dem Magister phil. Søren Kierkegaard und dem JuraProfessor Janus L. A. Kolderup-Rosenvinge beginnt 1847 durch gemeinsames

6.5 Søren Kierkegaard 

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Spazierengehen. Kierkegaard sollte dafür Sorge tragen, dass der 20 Jahre ältere Professor aus dem Haus kam und sich bewegte, mit dem Hintergedanken, dass die beiden Akademiker sich peripatetisch im Gespräch und Meinungsaustausch über dies und jenes inspirieren lassen könnten. Wenn diese Montagsspaziergänge aus dem einen oder anderen Grund abgesagt werden mussten, traten Briefe an die Stelle der Touren. Zunächst sprühen diese Briefe vor Einfällen und sind weniger themenorientiert, seit Juli 1848 aber sind sie bestimmt von gelehrtem Witz und Zitaten aus dem Kanon der Weltliteratur, hier und da leichthin auf Latein. Thematisch im Vordergrund stehen die Themen der dänischen Innenpolitik und dann der Entwicklungen im Europa der Revolutionsjahre. Die Konversation der beiden Briefschreiber distanziert sich auf satirisch-vornehme Weise von der vorherrschenden dänisch-patriotischen und deutschfeindlichen Stimmung in der Bevölkerung. Einig sind sie auch in der Distanzierung von dem neuen Phänomen ‚politischer Parteigründung‘ und ‚Parteigängerei‘. Hier führt besonders Kierkegaard das Wort, denn er betrachtet die gesamte europäische Entwicklung aufgrund von Revolutionen und Gegenrevolutionen als Taumel. Dem Einhalt zu gebieten ist für Kierkegaard nur auf eine Weise möglich: mithilfe von „jenem Einzelnen“. Damit begibt er sich auf das Gebiet des Religiösen und konzipiert den Unterschied zwischen dem Politischen und dem Religiösen in der Weise, dass die politische Bewegung nach dem Vorausliegenden fragt: wohin man kommen will; die religiöse Bewegung hat einen festen Punkt hinter sich, von dem man ausgehen muss, das heißt: Halt zu finden liegt in der Bewegung. Während Kolderup-Rosenvinge dazu neigt, auf einen Tyrannen zu setzen, erwartet Kierkegaard einen neuen Märtyrer nach dem Vorbild des Sokrates. Nach einer Briefpause, während Kolderup-Rosenvinge in Kopenhagen weilte, geht es in der 1849 wieder aufgenommenen Korrespondenz natürlich zuerst um das dänische Grundgesetz vom 5. Juni, und es ist Kierkegaard, der sich sofort darüber lustig macht, dass eine Ausgabe des neuen Grundgesetzes für acht Schilling erworben werden kann, während man bei der Abnahme von 100 Exemplaren nur die Hälfte zahlen muss. Der Quantifizierung dient das ganz große Sachinteresse – ein Beispiel für die Merkwürdigkeiten des Jahres 1848, in dem es auf und ab ging und das alles auf den Kopf stellte. Zuletzt belegt ein Brief vom April 1850, dass die Montagsspaziergänge abgesagt werden mussten, weil Kolderup-Rosenvinge sich schlecht fühlte. Er starb im selben Jahr im Alter von 58 Jahren, Kierkegaard war zu diesem Zeitpunkt 37. Sein Brief vom August 1848 schließt mit den Worten: „Hier mache ich Halt, vor Ihrer Tür; ich nehme Abschied, danke für diesen Tag, danke für den Spaziergang, danke für die Güte, die Sie mir, wie ich weiß, so wohlwollend, ja so freundschaftlich bewahren; so trennen wir uns; die Tür schließt sich; ich schaue noch einmal zurück; dann gehe ich meines Weges, verbleibe aber Ihr S. Kierkegaard.“ (Brief 264, SKS 28, 394; vgl. die Dedikationen 101 u. 111 in SKS 28, 518 bzw. 520–521)

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Die glamourösesten und bekanntesten Briefe Kierkegaards sind gewiss diejenigen, die er an seine damalige Verlobte, Regine Olsen, geschrieben hat. Wie in der Übersicht angegeben besteht diese Gruppe aus insgesamt 32 Briefen; da nur vier von ihnen datiert sind (von diesen wiederum drei jeweils auf einen Mittwoch), herrscht eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Chronologie der Briefe. Es wurden mehrere Versuche unternommen, eine solche Chronologie zu rekonstruieren auf der Grundlage mehr oder weniger, jedoch nicht vollständig überzeugender Hypothesen. Die Briefe haben zu einem bedeutenden Teil eher literarischen Charakter, mit vielen, auch deutschen Literaturzitaten, als dass sie unmittelbarer Ausdruck des (unglücklich) Liebenden wären. Die rhetorische und poetische Qualität dieser Texte, die die Briefwechsel in Entweder – Oder und Die Wiederholung präfigurieren, illustriert z.  B. der folgende Brief, in welchem die in den pseudonymen Schriften entwickelten Themen der Selbstgegenwart (bzw. einer als Ersatz präsentierten romantischen Erinnerungstechnik) sowie der Stimmung in nuce enthalten sind: Meine Regine!/Der Augenblick will uns nicht begünstigen. Nun denn, so wollen wir uns erinnern. Die Erinnerung ist mein Element; und meine Erinnerung ist ewig frisch […]. […] Für mich verklärt, transfiguriert sich jede harmonische Berührung von der Idee und dem Leben augenblicklich in eine Erinnerung, und während mir diese das längst Vergangene nahebringt, schiebt sie das eben erst Vergangene weit zurück, um es im ‚Hell-Dunkel‘ [deutsch] der Erinnerung hervorzuziehen. Obgleich uns so ja gerade heute der Augenblick seinen Beistand verweigert hat, […] erinnere ich mich an all dieses als etwas längst Vergangenes, wodurch es den Stachel des Schmerzes verliert und die Süße der Wehmut behält./ Dein/S.K. (Brief 151, SKS 28, 240–241)

Regines Briefe an Kierkegaard hat diese nach seinem Tod vernichtet; dagegen ließ sie Kierkegaards Briefe in der Kopenhagener Universitätsbibliothek aufbewahren mit der Bestimmung, diese nach ihrem Tod zusammen mit anderen ausgewählten Papieren zu veröffentlichen. Das geschah 1904, und zwar gleich in zwei konkurrierenden Ausgaben, die (von Emilie Rohr bzw. Raphael Meyer) umgehend ins Deutsche übertragen wurden  – und das auch durch Vermittlung Rainer Maria Rilkes, der sich selbst an einer Übersetzung von Kierkegaards Verlobungsbriefen versucht hatte (vgl. den editorischen Bericht zu „Notizbuch 15“ in DSKE 3, 913– 914). Die Konkurrenz der frühen Ausgaben von Kierkegaards Verlobungsbriefen ist bezeichnend für die um die Jahrhundertwende einsetzende breite KierkegaardRezeption, die zunächst von biographischen Interessen bestimmt und befördert wird. Dass Kierkegaards Briefe auch unter der dann dominierenden theologischen und philosophischen Rezeption von Interesse geblieben sind, belegen diverse, mehr oder weniger selektive und kommentierte deutsche Editionen (herausgegeben von Gerhard Niedermeyer, Emanuel Hirsch, Liselotte Richter und Walter Boehlich). Dass die Briefe in der durchaus umfassenden Kierkegaard-Forschung

6.5 Søren Kierkegaard 

 1101

für sich genommen kaum Beachtung gefunden haben, mag mit einer allgemeinen Vernachlässigung literaturwissenschaftlicher Perspektiven zusammenhängen. Dabei scheint nicht zuletzt das in diesem Artikel hervorgehobene komplexe Verhältnis von fingierter und authentischer Korrespondenz eine intensivere Beschäftigung mit Kierkegaards Briefen herauszufordern.

Zitierte Literatur Kierkegaard, Søren (1968–1978). Søren Kierkegaards Papirer. Zweite vermehrte Ausgabe v. N. Thulstrup. Kopenhagen. [Pap.] Kierkegaard, Søren (1997–2012). Søren Kierkegaards Skrifter. Bd. 1–28, K1–K28. Hg. v. Niels Jørgen Cappelørn et al. Kopenhagen. [SKS] Kierkegaard, Søren (2005  ff.). Deutsche Søren Kierkegaard Edition. [Bislang Bd. 1–6.] Hg. v. Niels Jørgen Cappelørn et al. Berlin u.  a. [DSKE] Rohde, H. P. (Hg.) (1967). Auktionsprotokol over Søren Kierkegaards bogsamling. Kopenhagen.

Weiterführende Literatur Fenger, Henning (1980). Kierkegaard, the Myths and Their Origins. Studies in the Kierkegaardian Papers and Letters. New Haven u. London. Kierkegaard, Søren (1904). Søren Kierkegaards Verhältnis zu seiner Braut. Briefe und Aufzeichnungen aus seinem Nachlaß. Hg. u. mit einem Begleitwort versehen v. Henriette Lund. Einzig autorisierte deutsche Übertragung v. E[milie] Rohr. Leipzig. Kierkegaard, Søren (1905). Søren Kierkegaard und sein Verhältnis zu „ihr“. Aus nachgelassenen Papieren. Hg. im Auftrage der Frau Regine Schlegel u. verdeutscht v. Raphael Meyer. Stuttgart. Kierkegaard, Søren (1927). Søren Kierkegaard und Regine Olsen. Briefe, Tagebuchblätter und Dokumente. Ausgewählt, übers.  u. hg. v. Gerhard Niedermeyer. München. Kierkegaard, Søren (1955a). Gesammelte Werke. Bd. 25: Briefe. Unter Mitarbeit v. Rose Hirsch ausgewählt, neugeordnet u. aus dem Dänischen übersetzt v. Emanuel Hirsch. Düsseldorf u. Köln. Kierkegaard, Søren (1955b). Briefe. Ausgewählt, übers.  u. hg. v. Walter Boehlich. Köln u. Olten. Kierkegaard, Søren (1956). Existenz im Glauben. Aus Dokumenten, Briefen und Tagebüchern. Ausgewählt, übers.  u. hg. v. Liselotte Richter. Berlin. Wiebe, Christian (2017). „‚Daseins-Ekel‘ und ‚Entsetzen vor sich selbst‘. Brief-Existenzen in Ludwig Tiecks William Lovell und Søren Kierkegaards Die Wiederholung“, in: GermanischRomanische Monatsschrift, 67.4: 395–405.

Barbara Hahn

6.6 Rahel Levin Varnhagen Als Rahel Levin Varnhagen im März 1833 starb, hinterließ sie eine der ungewöhnlichsten Handschriftensammlungen des 19. Jahrhunderts. Ein paar Tausend Briefe, verfasst von über dreihundert Menschen, die niemand außer ihr hätte zusammenbringen können. Unter den Briefschreibern viele bekannte Namen  – Politiker, Philosophen, Dichter, Schriftsteller: Clemens Brentano, Ludwig Börne, Adelbert von Chamisso, Astolphe de Custine, Friedrich de La Motte-Fouqué, Eduard Gans, Friedrich Gentz, Heinrich Heine, Alexander und Wilhelm von Humboldt, Jean Paul, Heinrich von Kleist, Hermann von Pückler-Muskau, Leopold von Ranke, Friedrich Schlegel, Henrik Steffens, Friedrich August Wolf. Daneben Schriftstellerinnen und Schauspielerinnen der Zeit wie Auguste Brede, Bettina von Arnim, Lucie Domeier, Caroline de La Motte-Fouqué, Regina Frohberg, Ottilie von Goethe, Dorothea Schlegel, Fanny Tarnow und Karoline von Woltmann. Man könnte die Sammlung auch ganz anders beschreiben: Dutzende Briefe, gerichtet an und verfasst von Schreibern, deren Namen nur hier überdauerten. Am 24. Februar 1831 schrieb Rahel Levin Varnhagen an Karoline Hübner, die als Köchin bei ihr gearbeitet hatte und nun in Zehdenick wohnte: „Schönen Dank für deine guten Briefe und für das Geschenk! Die Spückganz ist vortrefflich! Aber liebste Karoline du mußt die Geschenke die du bekommst nicht uns schicken; es ist doch ohnehin auf einem kleineren Ort nicht alles so zu haben als hier in dem großen, also muß ich dir etwas schicken und du nicht uns.“ (Ungedruckt; Sammlung Varnhagen, Biblioteka Jagiellońska, Krakau) All dies hat die Zeiten nicht zufällig überdauert. Anfang der 1790er Jahre begann Rahel Levin, Briefe zu sammeln. Ihren Freundinnen teilte sie dies offenbar nicht mit; mit Ausnahme eines Briefes an Henriette Mendelssohn sind aus der letzten Dekade des 18. Jahrhunderts nur deren Briefe vorhanden. Damals korrespondierte Rahel Levin vor allem mit jungen Berliner Jüdinnen, die aus arrangierten Ehen ausbrachen, konvertierten und christliche Männer heirateten. Die traditionelle jüdische Welt zerfiel. In welche Schwierigkeiten und Konflikte die Protagonistinnen gerieten, zeigt ein fast vollständig überlieferter Briefwechsel, der 1793 begann: Bevor David Veit, ein angeheirateter Neffe von Rahel Levins Jugendfreundin Brendel Mendelssohn Veit, der späteren Dorothea Schlegel, im Frühjahr zum Studium nach Göttingen, Jena und Halle aufbrach, kannten sich die Korrespondenten wohl nicht näher. Jedenfalls wird Veit in Briefen und Billets fast nie erwähnt. Doch dann begann ein umfangreicher Briefwechsel, der in den folgenden Jahren mit großer Sorgfalt geführt wurde. Besprochen wird alles, was zwei junge Juden, eine Frau und einen Mann, bewegt, die in eine christlich dominierte https://doi.org/10.1515/9783110376531-089

6.6 Rahel Levin Varnhagen 

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Kultur aufbrechen. Es finden sich ausführliche Debatten über philosophische und literarische Texte, scharfe Beobachtungen der seltsamen Verhaltensweisen ihrer Mitmenschen – und Klagen. David Veit kann reisen und studieren, Rahel Levin fühlt sich in Berlin gefangen: [K]ann ein Frauenzimmer dafür, wenn es auch ein Mensch ist? […] Ein ohnmächtiges Wesen, dem es für nichts gerechnet wird, nun so zu Hause zu sitzen, und das Himmel und Erde, Menschen und Vieh wider sich hätte, wenn es weg wollte, (und das Gedanken hat, wie ein anderer Mensch) und richtig zu Hause bleiben muß, das, wenn’s mouvements macht, die merklich sind, Vorwürfe aller Art verschlucken muß, die man ihm mit raison macht. (2.4.1973; Varnhagen 22011, Bd. I, 24)

Ein Briefwechsel, wohl schon zur Veröffentlichung bestimmt, bevor der erste Brief geschrieben wurde. Bereits 1816 lag die Korrespondenz druckfertig vor; Auszüge aus Veits Briefen erschienen 1836, der fast vollständige Briefwechsel – fast 600 Druckseiten – konnte allerdings erst 1861 veröffentlicht werden. Im Sommer 1800 schickte Rahel Levin einen programmatischen Brief an ihre Jugendfreundin Hitzel Bernhard, die den schwedischen Baron Gustav von Boye geheiratet hatte. Man könnte ihn als Gründungsdokument der Handschriftensammlung bezeichnen: „Adieu! – und sterb’ ich – such’ alle meine Briefe – durch List etwa – von allen meinen Freunden und Bekannten zu bekommen […] – und ordne sie mit Brinckmann. Es wird eine Original-Geschichte und poetisch.“ (Varnhagen 22011, Bd.  I, 215) Denn hier geht es nicht um Briefe, die an Rahel Levin gerichtet waren, sondern um ihre eigenen, die die Adressatin mit dem gemeinsamen Freund Carl Gustav von Brinckmann, einem schwedischen Diplomaten, von allen Freunden und Bekannten zurückfordern soll. Am Horizont dieser „Original-Geschichte“ steht eine andere Publikationsform als das dialogisch strukturierte Buch, das sie gemeinsam mit David Veit schrieb. Kurz nach ihrem Tod im März 1833 veröffentlichte Karl August Varnhagen von Ense, mit dem Rahel Levin seit 1814 verheiratet war, dieses damals konzipierte Buch: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Eine etwa 500 Seiten umfassende Kompilation von Briefen, entstanden zwischen 1793 und 1833, adressiert an „Freunde und Bekannte“, von denen viele bereits gestorben waren, weshalb sich die Briefe im Besitz von Rahel Levin Varnhagen befanden. Im Jahr darauf publizierte Varnhagen eine auf den dreifachen Umfang erweiterte Ausgabe; bis nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 arbeitete er an einer Neuauflage, die unzensiert und noch einmal stark erweitert in die Welt gehen sollte. Zu seinen Lebzeiten konnte er sie nicht mehr veröffentlichen; sie erschien erst 2011, also über 150 Jahre später (vgl. Varnhagen 22011). Briefwechsel – oder ein Buch des Andenkens für ihre Freunde: In ihren Publikationen zu Lebzeiten wechselte Rahel Levin zwischen den Präsentationsformen

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 6 19. Jahrhundert

‚Korrespondenz‘ vs. ‚Buch‘ hin und her. 1812 begann sie zu veröffentlichen: Über Goethe. Bruchstücke aus Briefen, herausgegeben von K. A. Varnhagen von Ense, eine Montage aus dem Briefwechsel mit ihrem späteren Mann. Ab 1816 erschienen Texte, die angeordnet wurden wie das Buch des Andenkens (vgl. Kinskofer 2001). Dagegen ist der Nachlass, die Sammlung Varnhagen, streng alphabetisch nach den Namen der Korrespondent*innen geordnet; eine Struktur, die die Herausgabe von Briefwechseln nahelegt. Varnhagen ging beide Wege, wollte sie sogar zusammenführen: „Ob die größeren Briefwechsel für sich abgesondert zu halten, und so in Druck zu geben sind, wie ich es früher bestimmt habe, wird mir jetzt zweifelhaft“, so schrieb er im November 1834. Ihm „dünkt fast beßer“, diese Briefwechsel in das Buch des Andenkens zu integrieren, das „solchergestalt fast auf zehn Bände anschwellen“ würde. „Aber welches Leben enthielten diese, geistiges und persönliches!“ (Varnhagen 22011, Bd. VI, 50) In den 1980er Jahren wurden diese „zehn Bände“ zusammengestellt, allerdings ganz anders, als Varnhagen sich das vorgestellt hatte. Die Rahel-Bibliothek. Rahel Varnhagen. Gesammelte Werke führte alle publizierten Ausgaben von Rahel Levins Briefen und Briefwechseln im Faksimile-Reprint zusammen (vgl. Varnhagen 1983). Eine textkritische Edition von Rahel Levin Varnhagens Korrespondenzen, deren erster Band 1998 erschien, folgt dagegen streng der Ordnung des Archivs und präsentiert einzelne Briefwechsel, von denen bisher drei erschienen sind (vgl. Varnhagen 1997; Varnhagen 2001; Varnhagen 2009), sowie die Tagebücher und Aufzeichnungen (vgl. Varnhagen 2019).

1 Freunde, Gleichgesinnte „Wann schreibt man seinen Freunden? wenn man etwas von ihnen will. Wer sind unsere Freunde? die klügsten Menschen, die da wissen, was Freundschaft ist. Was ist Freundschaft? das was sie sein kann; die Gabe, Anderer Persönlichkeit zu durchschauen, die Tugend, sie zu respektiren und anzuerkennen wie die eigene; das Glück, eine gefunden zu haben, deren Wesen und bloßes Dasein uns gefällig ist, in jeder Äußerung, im Gewähren wie im Versagen, und die wieder die Eigenschaften besitzt und verbindet, unsere in Freiheit, d.  h. in den Möglichkeiten, die ihr entsprechen, ihr Dasein entwicklen zu lassen.“ (4.2.1815; Varnhagen 22011, Bd. III, 193)

In diesem Brief Rahel Levins an Friederike Liman geht es durchaus nicht um sie selbst. Vielmehr bittet sie die Freundin, sich um die Schauspielerin Auguste Brede zu kümmern, die zu einem Gastspiel nach Berlin reiste, wo sie kaum jemanden kannte – was Friederike Liman bereitwillig übernahm. Briefe, Briefwechsel konstituieren einen Raum, den Rahel Levin mit „Freiheit“ in Verbindung bringt. Mit einem Anklang an Goethes „Freunde, Gleichgesinnte“

6.6 Rahel Levin Varnhagen 

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bestimmt sie: „Freunde sind Menschen, die von einander überzeugt sind: aber bald muß der eine, bald der andere alles leisten, ohne Kalkül anzustellen, und je etwas dafür zu erhalten, noch zu erwarten, noch in sich zu fordern.“ (Varnhagen 2 2011, Bd. V, 508) Anders als in der klassischen Tradition braucht Freundschaft hier nicht nur das Gespräch; für Rahel Levin ist das Briefeschreiben, -sammeln und -drucken der Modus von Freundschaft. Daher finden sich in ihrem Nachlass auch Briefe von und an Freundinnen und Freunde, die in der Nachbarschaft wohnten. Die Schreiber hätten hinüberfahren, sie hätten miteinander sprechen können, allerdings wüssten wir von diesen Gesprächen nichts. Doch weil sie schrieben und die Briefe aufbewahrten, wurde überliefert, wie Freundschaft entstand und gepflegt wurde. Wie im Vorgriff auf theoretische Schreibweisen des 20. Jahrhunderts zeigen diese Briefwechsel dialogisches Denken. In dichten Briefketten wie in der Korrespondenz mit David Veit und später mit Alexander von der Marwitz (vgl. Varnhagen 1983, Bd. VII; Varnhagen und Marwitz 1925); in schriftlichen Gesprächen wie mit Pauline Wiesel oder Friederike Liman, die über Jahrzehnte geführt wurden (vgl. Varnhagen 1997); in hochpolitischen Auseinandersetzungen mit Friedrich Gentz, der nach 1830 sein Projekt der Restauration als Berater Metternichs gescheitert sieht (vgl. Varnhagen 22011, Bd. V, 394–398), unterlaufen sie die Statuten moderner Autorschaft. Im Briefwechsel mit den drei Brüdern und der Schwester, mit Schwager und Schwägerinnen, Neffen und Nichten wird genau dokumentiert, wie mühselig sich der Prozess jüdischer Emanzipation in Preußen und anderen europäischen Staaten vollzog und wie schmerzlich die Konfrontation mit Antisemitismus, etwa im Zusammenhang mit den sogenannten Hep-Hep-Unruhen, war. Am Ende ihres Lebens übergab Rahel Levin drei jungen Freunden, Heinrich Heine, Eduard Gans und Ludwig Börne, den „Text aus meinem beleidigten Herzen“: „Hep ist mir so wenig unvermuthet, als alle andre Unducht. […] Die Pockenmaterie muß raus; Schminke hilft nichts; und wäre sie mit Hausanstreichpinseln aufgeklext!“ (an Heinrich Heine, 21.9.1830, Varnhagen 22011, Bd. V, 350) Das Spektrum der in den Briefwechseln angesprochenen Themen ist ungewöhnlich breit: Während in den ersten Jahrzehnten Literatur und Musik einen großen Stellenwert einnehmen, werden nach 1815 Staatsrecht, Philosophie und Politische Theorie immer wichtiger. Fichtes Staatslehre wird ebenso ausführlich debattiert wie Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (an Ludwig Robert, 26.11.1821, Varnhagen 22011, Bd.  IV, 348; 16.8.1827, Varnhagen 2 2011, Bd.  V, 137), die französische Presse noch aufmerksamer verfolgt als die preußische: „Wir lesen […] alle Blätter; Globe, alle, alle. Das kostet mich meine halbe Zeit; Debats, Constitutionnel, Gazette, Courrier, kurz, viel!“ (an Ernestine Goldstücker, 23.8.1828; Varnhagen 22011, Bd. V, 214) Präzise wird beschrieben, wie moderne Gesellschaften sich verwandeln, wie ethische und moralische Werte-

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systeme zerfallen. Die Briefe archivieren, was noch lange nicht auf den Begriff gebracht werden kann. Auch daher trug Rahel Levin Sorge dafür, dass die Korrespondenzen an die Nachwelt gesandt wurden.

2 Liebe „Lieben muß ich“, schrieb Rahel Levin, nachdem ihre erste Liebe zerbrochen war. „Ich habe, wie Posa, verloren. Und möchte doch nicht zu den Menschen gehören, die nicht sich auf das Spiel setzen.“ (An Wilhelmine von Boye, 1.7.1800, Varnhagen 22011, Bd.  I, 215) Die Lieben prägen Rahel Levins Korrespondenzen weit weniger als die Freundschaften. Das liegt nicht nur an der schwierigen Überlieferungslage: Ihre Briefe an den Grafen Finckenstein, mit dem sie von 1795 bis 1799 verbunden war, wurden von dessen Familie verbrannt; erhalten sind nur die Antworten. Die meisten Briefe von und an Rafael de Urquijo, den sie von 1802 bis 1804 liebte, hat Rahel Levin wohl selbst zerstört, als sie 1813 aus dem von französischen Truppen besetzten Berlin floh. Liebe, so definiert sie, ist „une force du cœur, une ferveur de l’ame, une unité – des Geistes – de l’esprit, une pureté de tout notre être!“ (an Rafael de Urquijo, 5.1.1804; Varnhagen 22011, Bd. I, 358) [„eine Kraft des Herzens, eine Inbrunst der Seele, eine Einheit des Geistes, eine Reinheit unsres ganzen Wesens!“ Varnhagen 1966, 453]. Am Horizont dieser Lieben steht nicht – wie damals üblich – die Ehe. Die Ehe wird im März 1803 in einem Atemzug mit „Negerhandel, Krieg“ genannt; alle drei seien nicht zu „flicken“ (Varnhagen 2 2011, Bd. 1, 346). Ganz anders der Briefwechsel mit Karl August Varnhagen von Ense. Ein Ehebriefwechsel, in dem Debatten um den gesellschaftlichen und auch den politischen Ort des Paares im Mittelpunkt stehen. Auch dies ist ein gemeinsames Schreibprojekt, das Karl August Varnhagen von Ense noch zu seinen Lebzeiten zur Publikation vorbereitete. „Die Gesellschaft war mir von je die Hälfte des Lebens“, schrieb Rahel Levin an Karl August Varnhagen von Ense (28.3.1814; Varnhagen 22011, Bd. III, 93). Das Genre, um die dramatischen Veränderungen von „Gesellschaft“ zwischen 1790 und 1830 zu diskutieren, waren die vielen Briefwechsel, die Rahel Levin führte. Im letzten Jahrzehnt ihres Lebens bemühte sie sich darum, erheblich jüngere Korrespondenten in ihr großes kommunikatives Projekt einzubinden. Das Netzwerk aus Briefwechseln, das sie knüpfte und das immer schon an die Nachwelt adressiert war, passte nicht in die Zeit: „Ach, wir könnens überhaupt nicht drucken, als nach der Revolution!“, so bemerkte sie gegenüber ihrem Mann (Varnhagen 22011, Bd. VI, 12).

6.6 Rahel Levin Varnhagen 

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Zitierte Literatur Varnhagen, Rahel u. Alexander von Marwitz (1925). Rahel und Alexander von der Marwitz in ihren Briefen: ein Bild aus der Zeit der Romantiker. Hg. v. Heinrich Meisner. Gotha. Varnhagen, Rahel Levin (1966). Briefwechsel mit Alexander von der Marwitz, Karl von Finckenstein, Wilhelm Bokelmann, Raphael d’Urquijo. Hg. v. Friedhelm Kemp. München. Varnhagen, Rahel (1983). Gesammelte Werke. 10 Bde. Hg. v. Konrad Feilchenfeldt, Uwe Schweikert u. Rahel E. Steiner. München. Varnhagen, Rahel Levin (1997). Briefwechsel mit Pauline Wiesel. Hg. v. Barbara Hahn unter Mitarbeit v. Birgit Bosold. München. Varnhagen, Rahel Levin (2001). Briefwechsel mit Ludwig Robert. Hg. v. Consolina Vigliero. München. Varnhagen von Ense, Rahel (2001). „Ich will noch leben, wenn man’s liest“. Journalistische Beiträge aus den Jahren 1812–1829. Hg. v. Lieselotte Kinskofer. Berlin u.  a. Varnhagen, Rahel Levin (2009). Briefwechsel mit der Familie. Hg. v. Renata Buzzo Margari. München. Varnhagen, Rahel (22011). Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Nach dem Manuskript der Sammlung Varnhagen. Hg. v. Barbara Hahn. Göttingen. Varnhagen, Rahel Levin (2019). Tagebücher und Aufzeichnungen. Hg. v. Ursula Isselstein. Göttingen.

Archivquellen Sammlung Varnhagen: Biblioteka Jagiellońska, Krakau.

Weiterführende Literatur Arendt, Hannah (1959). Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München. Hahn, Barbara (1990). „Antworten Sie mir“. Rahel Levin Varnhagens Briefwechsel. Frankfurt a. M. Hahn, Barbara (2015). Begegnungen mit Rahel Levin Varnhagen. Göttingen. Isselstein, Ursula (1993). Der Text aus meinem beleidigten Herzen. Studien zu Rahel Levin Varnhagen. Turin. Thomann Tewarson, Heidi (1998). Rahel Varnhagen. Life and Work of a German Jewish Intellectual. Lincoln (NE).

Hans Dierkes

6.7 Friedrich Gentz – Adam Müller – Friedrich Schlegel 1 Einleitung In der Briefkonstellation Friedrich Gentz (1764–1832), Adam Müller (1779–1829), Friedrich Schlegel (1772–1829) nimmt die Korrespondenz zwischen Gentz und Müller eine Sonderrolle ein; Schlegel stößt erst in seiner Wiener Zeit und mit Beginn der österreichischen Erhebung 1809 unter den Vorzeichen restaurativer Metternich’scher Kulturpolitik und brieflich nur randständig zu dieser Zweierkonstellation, erweitert sie aber nicht zu einem trilateralen Briefnetz. Auch aus dem in mancherlei Richtungen ausdifferenzierten politischen Briefwechsel des Friedrich Gentz – u.  a. mit Metternich, Joseph Anton von Pilat, Johannes von Müller, Carl Gustav von Brinckmann – ragt der mit Adam Müller noch einmal signifikant heraus: nicht nur, weil er über die längste Zeitspanne von beinahe dreißig Jahren (von 1800 bis zu Müllers Tod 1829) nahezu kontinuierlich  – wenn auch in unterschiedlicher und im Zeitverlauf eher abnehmender Intensität und Häufigkeit – geführt wurde, sondern vor allem, weil er für beide existentiell zwingend gewesen zu sein scheint und als solche Notwendigkeit allen gelegentlich selbst schroffen Spannungen zum Trotz geradezu gelebt worden ist. Charakteristisch für diesen Briefwechsel ist ferner, dass das Private und Intime empfindsamer Briefkultur des 18. Jahrhunderts zwar in eigener Weise bewahrt, aber zugleich erweitert wird ins Öffentlich-Politische, dabei jedoch nicht ins Diplomatisch-Strategische, d.  h. ins täuschende Taktieren oder gar ins Intrigante, abgleitet. Gentz’ Briefwechsel mit Schlegel weicht hiervon wiederum charakteristisch ab; als vornehmlich politischer Briefwechsel unter Verbündeten fehlt ihm nicht nur die personal-kommunikative Komponente, sondern er gerät mit dem Wiener Kongress auch bevorzugt ins Visier staatlicher Spitzelei und Überwachung.

2 Zur Editionslage Zu den durchaus misslichen Umständen einer Beschäftigung gerade mit dem Briefwechsel zwischen Gentz und Müller gehört der Umstand, dass eine kritische Briefausgabe, geschweige denn eine historisch-kritische, für beide Autoren bis heute nicht vorliegt. https://doi.org/10.1515/9783110376531-090

6.7 Friedrich Gentz – Adam Müller – Friedrich Schlegel 

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Schon 1840 hatte Gustav Schlesier im Rahmen seiner Schriften von Friedrich von Gentz einige Briefe zwischen Müller und Gentz ohne Anspruch auf Vollständigkeit veröffentlicht (vgl. Gentz 1840a). Ihm folgte 1857 eine erste spezifizierte Sammelausgabe: Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz und Adam Heinrich Müller. Diese ist aber weder textkritisch noch in jedem Falle datierungssicher und an einigen Stellen durchsetzt mit Einsprengseln anderer Briefe. 1910 veranstaltete Friedrich C. Wittichen schließlich eine weitere Ausgabe Gentz’scher Briefe: Briefe an und von Carl Gustav von Brinckmann und Adam Müller (vgl. Gentz 1910). Diese Ausgabe integriert aber nicht etwa die von 1857, sondern bietet eingestandenermaßen nur eine „Ergänzung“ zu ihr (Gentz 2002b, 346). Immerhin arbeitet Wittichen wenigstens ansatzweise textkritisch-editionsgeschichtlich und kann beispielsweise im Rückgriff auf verschiedene „Lesarten“ aus der Überlieferungsgeschichte GentzMüller’scher Briefe und unter Bezug auf das Gentz’sche „Briefregister“ zeigen, dass man etwa ein Schreiben, das bei Schlesier unter dem Juli 1810 gedruckt ist, „nur mit den weitestgehenden Vorbehalten“ als „Gentzsches Original ansehen“ kann (Gentz 2002b, 418). Durchgehende und anspruchsvolle Untersuchungen fehlen aber auch bei ihm. 1966 hat Jakob Baxa in seiner monumentalen Sammlung Adam Müllers Lebenszeugnisse vereinzelt noch einen weiteren, bis dato unbekannten Briefwechsel zwischen Gentz und Müller publiziert, allerdings wiederum nicht textkritisch. Auch die von Günther Kronenbitter herausgegebenen Gesammelten Schriften von Friedrich Gentz (für Müller gibt es nicht einmal Analoges) bieten für den Briefwechsel keinen Fortschritt mehr, sondern drucken nur das geringfügig erweiterte vorhandene Briefmaterial der Ausgaben von 1857 und 1910 weiter unkritisch ab: Weder werden Wittichens Bedenken eingearbeitet noch wird grundsätzlich neu aus den Handschriften ediert, ggf. vervollständigt und exakt datiert; geschweige denn, dass der verlorene Briefwechsel wenigstens registriert würde, was gerade beim Briefwechsel zwischen Müller und Gentz von besonderem Reiz wäre, weil Gentz ihn (offenbar anhand eines Brieftagebuchs) penibel nachgehalten hat. Dieser missliche Umstand hatte offenbar den Kölner Politiker Günter Herterich (1939–2014) dazu veranlasst, schon seit längerem eine eigene, heute in der Universitätsbibliothek zu Köln befindliche und digital zugängliche „Sammlung Herterich“ aufzubauen, in der sich „ca. 2.700  […] Transkriptionen von GentzBriefen“ befinden (Gentz Digital, „Einführung“). Für den Briefwechsel zwischen Gentz und Müller sind dort wohl neue Aufschlüsse zu erwarten, weniger für den mit Friedrich Schlegel. Im Ganzen bleibt hier also eine unübersichtliche, unvollständige und unbefriedigende editorische Lage. Günstiger ist es bei Friedrich Schlegel: Die 1958 begonnene Kritische Gesamtausgabe sieht, beginnend mit Band 23, in der Dritten Abteilung die Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel vor. Ab dem Band 25 (Höhepunkt und

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Zerfall der Romantischen Schule) ist diese Ausgabe auch in einem modernen und anspruchsvollen Sinne textkritisch und erfasst wenigstens listenmäßig erstmals die verlorenen Briefe. Die noch ausstehenden Bände, die vornehmlich die Jahre 1802–1814 und 1828–1838 betreffen, werden nun auch den nur noch zu erschließenden Briefwechsel als Regesten erheben und chronologisch in die Abfolge der überlieferten Briefe integrieren. Auf diese Weise wird die ohnehin schütter überlieferte Korrespondenz Schlegels sowohl mit Gentz wie mit Müller mindestens auf dem Wege der Erschließung des Verlorenen ergänzt werden.

3 Adam Müller und Friedrich Gentz: Ein Leben in Briefen Wenn man von gelegentlichen meteorologischen und homöopathischen Abschweifungen absieht, sind die geschichtlichen Zeitumstände, ihre politischpublizistische Verarbeitung sowie ihre je persönliche Aufnahme und Bewertung der invariable Rahmen des Briefwechsels zwischen Gentz und Müller – ganz selten sind es familiäre und nie amouröse Themen, obwohl doch das Gentz’sche Leben an letzteren nicht eben arm war. Dennoch ist es im Ganzen ein personal-kommunikativer Briefwechsel, kein strategischer. Innerhalb dieses Rahmens lassen sich drei Schreibfunktionen unterscheiden, die auch in ein und demselben Briefkontext unmittelbar nebeneinander stehen können: (1) die zugleich wertende wie betrachtende, sachbezogene Gegenstandsreflexion, (2) die personenbezogene aktivierende Bekenntnisfunktion sowie (3) die personale und identitätsstiftende Selbstreflexion. Beständigen Gegenstand der brieflichen Gegenwarts-, Vergangenheits- und Zukunftsanalyse bilden die Spannungen und Gegensätzlichkeiten der Machtund Regierungsverhältnisse in den 30  Jahren des gemeinsamen Austausches: der Aufstieg Napoleons zum Kaiser der Franzosen und Despoten über Europa von 1799 bis zu seinem Fall, der Wiener Kongress und der sich anschließende Deutsche Bundestag; schließlich noch der Beginn der europäischen Revolutionen u.  a. mit dem Wiedereintritt der Türkei in die zeitgenössische europäische Geschichte. Vor allem in den häufigen Zeiten der örtlichen Trennung dient diese Gegenstandsreflexion  – das Gespräch „über die großen Weltangelegenheiten“ (Gentz 2002a, 335) bis in die feuilletonistische Dokumentation des Tagesgeschehens hinein  – der gegenseitigen Information und dem wertenden Abgleich der nicht immer deckungsgleichen Meinungen, zumal Müller erst 1813 seine Sympathien für Preußen aufgibt und sich  – wie Gentz schon ab 1802  – ganz Österreich zuwendet. Nach 1814 fühlen sich beide jedoch gemeinsam der Res-

6.7 Friedrich Gentz – Adam Müller – Friedrich Schlegel 

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tauration zugehörig und bekämpfen die demokratische Revolution (vgl. Dierkes 2017). Neben die Reflexionsform tritt gerade in den nicht eben seltenen politischen Krisen während des gemeinsamen Brieflebens auch die ggf. hochemotionale Bekenntnisfunktion der epistolarischen Äußerung: sei es positiv als Triumph, als Trost, Solidaritätsadresse und Ermutigung, sei es negativ als Eingeständnis von Verzweiflung und Scheitern. Das wird beispielhaft deutlich an solch signifikanten Bruchstellen der zeitgenössischen Geschichte wie dem 3. Koalitionskrieg und der Niederlage Preußens 1806: Kurz nach Ausbruch des Koalitionskrieges schreibt Gentz an Müller: „Jetzt, oder nie;  […] so ist Bonaparte geliefert.  – Ueberlebte man denn wohl diese Freude?“ (Gentz und Müller 1857, 58) Gedämpfter ist die Reaktion Müllers: „Welch Glück, welche Wonne, daß wir von solchen Dingen nun wieder […] als wahrscheinlich, als nahe bevorstehend sprechen dürfen!“ (Gentz und Müller 1857, 60) Die vernichtende Niederlage Österreichs bei Austerlitz vernichtet dann auch Gentz: „Der Weg zum Grabe kann nicht viel herber seyn, als dieser mir war.“ (Gentz und Müller 1857, 62) In dieser Situation bekundet Müller Gentz seine vollkommene Solidarität in einem langen Bekenntnisbrief, der in der unentschiedenen Situation zu besonderem Trost gereichen soll: „Solche Zeit wie diese muß Herzen wie die unsrigen z u s a m m e n s c h m i e d e n . […] Ihnen, mein Vorbild, mein brüderlicher Freund, […] verbinde und verpflichte ich mich auf’s neue zu unverbrüchlicher Genossenschaft, vor allem des Hasses und der Liebe […].“ (Gentz und Müller 1857, 68) Nach der Niederlage aber auch Preußens im Oktober 1806 wird der Briefwechsel endgültig zur Dokumentation der Verzweiflung und des Selbstzweifels. Müller: „Die Hölle hat sich unter uns aufgetan, sie verschlingt die letzten irdischen Reste des Werkes Christi. – Leben Sie wohl, mein theurer Freund!“ (Gentz und Müller 1857, 87) Gentz, der sich zudem von Müller verlassen wähnt: „Wie kann Ihr Herz, wie kann Ihr Gewissen Ihnen Ruhe lassen, daß Sie mich – und gar in einem Augenblick wie dieser! – so unverantwortlich vernachlässigen! – […] Sie hören nun sobald nicht wieder von mir!“ (Gentz und Müller 1857, 87) In dem Maße, wie das Trostverlangen enttäuscht wird, wächst die Verbitterung und mit ihr erscheint die dritte Funktion, die Reflexion des personalen Briefverhältnisses selbst. Denn es sind die z.  T. mit den politischen Friktionen einhergehenden, aber auch die bisweilen extremen persönlichen Spannungen, die den Briefwechsel thematisch in eine ihn stets begleitende intersubjektive Selbstreflexion der Zusammengehörigkeit in Dissens und Konsens, Verstehen und Missverstehen, Drohen und Schmeicheln, Erziehen und Selbstbehaupten zwingen; aber vor allem auch in die Selbstöffnung und das stete Verbundenheitsbekenntnis. Im Wechselspiel dieser Aktionen und Reaktionen treibt sich der Briefwechsel fort, stellt sich auf Dauer und legitimiert sich in seiner Sinnhaftigkeit selbst.

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Symptomatisch für diese innere Spannung ist schon rein äußerlich, dass der Briefwechsel, er mag so freundschaftlich-intim sein wie er will, zeitlebens beim formalen „Sie“ verharrt; Gentz unterzeichnet stets mit seinem Nachnamen, nur Müller ganz selten auch einmal mit „Adam“ (Gentz 2002a, 115). In dieser Hinsicht dokumentiert dieser Briefwechsel im zeitgenössischen Kontext sicher einen markanten Gegensatz etwa zum geradezu intimen und poetischen Briefverkehr zwischen Achim von Arnim und Clemens Brentano. Sicher manifestiert sich darin bei Gentz und Müller ein inneres Spannungsverhältnis nicht des Standesunterschiedes (beide waren Beamtenkinder), sondern des politischen Einflusses und des geschichtlichen Wirkwillens: der Unterschied zwischen jemandem, der wie Gentz über hohe Durchsetzungskraft verfügt, im Glanz der Höfe und des Adels verkehrt und ein auch europäisch anerkannter Schriftsteller ist, und jemandem, der in „einem so einfachen Leben als das meinige“ (Gentz und Müller 1857, 5) steckt, wie Müller über sich selbst und sein meist introvertiertes Gelehrtendasein schreibt. Gentz lässt den Freund dies vor allem in der Zeit seines frühen Aufstiegs am österreichischen Hofe gelegentlich bis in einen quasi bramarbasierenden Briefstil spüren: „Wenn Sie gleich nicht den zehnten Teil von dem wissen können, was ich jetzt weiß, so wissen Sie doch wahrscheinlich genug von der Lage der Dinge, um zu begreifen, […] daß eine furchtbare Krisis über uns hängt […].“ (Gentz 2002b, 390) Solch rhetorische Selbstinszenierung ist Müller fremd; er begegnet Gentz’ gern gepflegter überheblicher Attitüde jedoch nicht mit Devotion, auch wenn er einräumt, „alles, was mir von dem inneren Gange der großen Weltbegebenheiten bekannt werden soll, von Ihnen zu empfangen“ (Gentz 2002a, 372), sondern er behauptet sich in ironisch-gespielter Unterwürfigkeit: „Eine Bibliothek verschenken und einem Gelehrten der geringeren Klasse ein Almosen geben, daß er die seinige wieder erhalten könne […] – so gefallen Sie [d.  i. Gentz] mir.“ (Gentz 2002a, 115) Eine erwähnenswerte Nebenlinie dieses lebenslangen Rangunterschiedes ist aber dennoch die, dass Müller auch zeitlebens der Empfangende bleibt, der zur Sicherung seiner beruflichen Existenz des vermittelnden Bitt- und korrespondierenden Dankesbriefes bei Gentz bedarf: „Meine weltlichen Angelegenheiten lege ich wiederholentlich in Ihre Hände und rechne darauf, daß Sie den Fürsten [d.  i. Metternich] ermuntern […] werden, sein Wort zu erfüllen.“ (Gentz 2002a, 259) Neben dem Rangunterschied steht der spannungsreiche Gegensatz von Politik und Platonik, von wirkmächtiger Diplomatie und einem vorwiegenden Gelehrtendasein, das nur zeitweise durch nachgeordnete politische Tätigkeit ergänzt worden ist. Obwohl beide namhafte Schriftsteller sind, bleibt doch ein eklatanter Sphärengegensatz: Gentz ist stets der ganz auf Außenwirkung bedachte politische Schriftsteller; Müller verfasst zwar auch staatspolititische, ökonomische

6.7 Friedrich Gentz – Adam Müller – Friedrich Schlegel 

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und finanzwissenschaftliche Schriften, die durchaus Außenwirkung entfalten sollten, und er ist über längere Jahre auch administrativ und diplomatisch tätig; aber der Schwerpunkt seines schriftstellerischen Schaffens bleibt auch nach eigenem Bekunden eben doch ein theoretischer: „Das ist das Uebel zwischen uns, mein verehrter Freund! […] meine Gegner stehen mehr in einer idealistischen Region […], die Ihrigen mehr in der wirklichen Welt und in der politisch-diplomatischen Sphäre […].“ (Gentz 2002a, 278) Das bestätigt Gentz schon früh: „Mein Kopf ist zu voll von gemeinen Weltaussichten und Weltangelegenheiten  […].“ (Gentz und Müller 1857, 11) Dieses antithetische Wechselspiel der Selbstreflexion erreicht in der Wiener Spätzeit ab 1818, als Müller einen immer dogmatischeren katholischen Standpunkt einzunehmen beginnt, seinen Höhepunkt. 1819 lässt Adam Müller seiner schon zitierten Charakteristik das Fazit folgen: „[…] da jeder von uns das ganze Zeughaus seiner Waffen  […] nach der Seite hin richtet, wo sich der Feind aufstellt, so ergibt sich beim Wiedersehen nach langer Trennung immer und fast unvermeidlich ein schweres Mißverständniß zwischen uns […].“ (Gentz 2002a, 278) Gerade in dieser Spätzeit kann sich der Briefwechsel anlässlich solcher Kontroversen auch zur kleinen apologetischen Abhandlung ausweiten: anlässlich von Müllers Concordia-Aufsatz (vgl. Gentz 2002a, 325) oder anlässlich seiner Staatsanzeigen, in denen Gentz sich „wildfremd, unbehaglich unheimlich, desorientirt“ fühlt (Gentz 2002a, 221). Oder aber der Briefwechsel kann bekehren wollen: von Müllers Seite her durch persuasive Bekenntnisbriefe, um „die Rettung der schönsten und treusten Seele“ (Gentz 2002a, 342) des Protestanten Gentz zu bewerkstelligen; oder umgekehrt, wenn Gentz Müller zu schriftstellerischem Aktionismus überreden will statt zu „entlegenen Meditationen“ (Gentz 2002a, 370). Sind aber Müllers schriftstellerische Arbeiten selbst betroffen, so bezieht er – anders als in rein politischen Fragen – ggf. klar und selbstbewusst Position: „Sie, mein Freund, lieben sich für einen Parteimenschen auszugeben, der ohne parteilichen Haß und Zuneigung nicht leben könne […]. Was haben Sie denn eigentlich im Fache der Abhandlung nach systematischem Leisten hervorgebracht?“ (Gentz 2002a, 132) In dieser seiner Sphäre kompensiert Müller Asymmetrie durchaus mit Augenhöhe. Dennoch scheint es zunächst, als ob das immer latent asymmetrische Verhältnis und der daraus erwachsende, ausgeprägt selbstreflexive Briefstil zwischen Gentz und Müller am besten durch jene Äußerung beschrieben würde, die Gentz im Februar 1806 gegenüber dessen Namensvetter Johannes von Müller tut: „Diesen [Adam Müller] habe ich e r z o g e n  […]. Es ist das beste Werk, welches ich einst der Welt hinterlasse.“ (Gentz 1840a, 198) Vor diesem Hintergrund können manche kritischen Einlassungen etwa zu Adam Müllers Werk und dessen Selbstrechtfertigung sicher auch gesehen werden. Aber dieser Erziehungsanspruch, der allerdings und bezeichnenderweise durch das übersteigerte Lob Müllers bereits

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gebrochen wird, bleibt aufs Ganze gesehen singulär und würde verabsolutiert sogar in die Irre führen. Im Grunde ist das Gegenteil der Fall: Die Selbstreflexion ist nur auf der Oberfläche von Erziehung und Unterwerfung, Polemik und Selbstbehauptung geprägt; im Grunde ruht sie immer auf einer geradezu selbstverständlichen Zusammengehörigkeit, die als rückhaltlose Selbstoffenbarung und vorbehaltloses Verbundenheitsbekenntnis im Hintergrund stets bewusst bleibt. So kann bei Gentz in ein und demselben Brief dialektisch die Belehrung in schneidendem Ton zu rückhaltloser Öffnung in werbendem Bekenntniston umschlagen: „Jetzt habe ich alle meine Galle gegen Sie ausgeschüttet. Ob Sie mir diesen Brief je verzeihen werden, weiß ich nicht. Meine alte unerschütterliche Freundschaft für Sie […] gab[] mir ihn ein.“ (Gentz 2002a, 223) 1807 bekennt Gentz aus der Rückschau gegenüber Müller freimütig: „Keinem verdanke ich mehr von dem, was ich heute weiß und bin.“ (Gentz 2002a, 122) Natürlich könnte dies auch Schmeichelei sein. Es gehört aber gerade zu jener wechselseitigen Rückhaltlosigkeit der Briefkommunikation zwischen Gentz und Müller, dass pure Schmeichelei von Müller durchschaut und thematisiert wird: „ Sie k ö n n e n s c h m e i c h e l n , wie keiner weiter, und ich schmeichle gern, so gut es gehen will; und doch sind wir uns gegenüber so wahr als wenige andere in dieser täuschungsvollen Welt.“ (Gentz und Müller 1857, 26) Nur in einem Briefverhältnis von solch vorbehaltloser Selbstreflexion kann man sich dem anderen bis in die tiefste persönliche Depression und Melancholie öffnen, was gerade für Gentz gilt, etwa nach der österreichischen Niederlage von 1809: „Aber mein letzter Aufenthalt in Wien […] schlug mich tot. […] und so wuchs nach und nach ein recht eigentlich krankhafter Zustand meines Gemüts, eine Abspannung, eine Mutlosigkeit, eine Leere, […] aus welcher ich mich aber durch eigene Kraft herauszureißen nicht vermag.“ (Gentz 2002b, 421, 422) Der existentielle Wunsch nach Kompensation dieser Verzweiflung resultiert vor allem bei Gentz geradezu in einer Sucht nach Briefen des Freundes: „Und […] diese meine tödliche Lähmung, die sich freilich noch in meinen Briefen an Sie abspiegeln muß […], rechnen Sie mir als ein T o r t (?) gegen S i e an und s t r a f e n mich dafür durch ein vorsätzliches Stillschweigen […].“ (Gentz 2002b, 422) Müller antwortet mit gleich rückhaltloser Offenheit: „Sie müssen unter allem Wechsel des Lebens mir wohl gegenwärtig bleiben […]. Halten Sie die großartigen Ursachen Ihrer Melancholie fest, und mit ihnen mich, Ihren Propheten.“ (Gentz 2002a, 156) Es ist diese in der brieflichen Selbstreflexion ständig beschworene Zusammengehörigkeit, die einerseits die genannte Briefsucht hervorrufen kann und die andererseits noch jeden angedrohten Briefabbruch – „Aber lassen Sie diese letzte Aufforderung auch unbeantwortet, – so […] hören [Sie] nie wieder von mir“ (Gentz 2002b, 414) – ebenso außer Kraft setzt, wie sie über die späte theologische „Fundamentaldifferenz“ (Gentz 2002a, 239), die auf ihre Weise auch an den Rand des

6.7 Friedrich Gentz – Adam Müller – Friedrich Schlegel 

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Verstummens zu führen droht, hinwegführt. Beide Seiten sind in dialektischer Einheit aufeinander bezogen: „[…] je näher wir einander stehen, um so heftiger muß die Erörterung werden.“ (Gentz 2002a, 278) So sehr zwischen Gentz und Müller private und politische Übereinstimmung den Briefwechsel trägt: Wo jedoch die politische Dimension in der Einigkeit im Kampf gegen Napoleon fehlt, wie im Falle des Johannes von Müller, der nach der preußischen Niederlage bei Jena Ende 1806 auf die französische Seite übertrat, schlägt das Politische negativ ins Private zurück, und Gentz bricht den über Jahre geführten Briefwechsel abrupt und endgültig ab: „Ich fühle also, was es heißt, Sie [zu] verlieren: Als Streiter für eine geheiligte Sache spreche ich über Ihre frevelhafte Apostasie ein unerbittliches Verdammungs-Urtheil aus […].“ (Gentz 1840a, 273)

4 Friedrich Schlegel in seinem Briefverhältnis zu Gentz und Müller Gentz’ briefliches Interesse an Schlegel war zu keinem Zeitpunkt personal-kommunikativ, sondern stets diplomatisch-strategisch: sei es politisch-werbend in der Beurteilung von Schlegels Schriften, sei es, wenn für nötig gehalten, polemischabkanzelnd in der Beurteilung seines politischen Handelns. Es ist den Umständen eines nicht erhaltenen Briefwechsels zwischen Schlegel und Gentz geschuldet, dass wir nicht wissen, wie Ersterer reagiert hat oder hätte, d.  h., ob und wie der späte Wiener Schlegel die ggf. rhetorisch messerscharfen Briefattacken seines prinzipiellen Parteigängers Gentz überhaupt noch hätte parieren können. Denn Schlegel hatte seinen witzig-ironischen und durchaus angriffslustigen Briefstil aus der Athenäumszeit im Gefolge der Auflösung der Romantischen Schule längst verloren und bevorzugte in seiner Spätzeit einen teils familiär-freundschaftlichen, teils bekenntnishaft-religiösen und, wenn nötig, auch devoten Briefton. Gentz und Schlegel kannten sich seit 1797 aus Berlin, verloren sich aber wohl wegen mangelnder politischer Affinität aus den Augen; Gentz interessiert sich erst seit Schlegels Auswahl von Lessings Gedanken und Meinungen aus dem Jahre 1804 wieder für ihn, weil sich in ihr eine sowohl antirevolutionäre als auch gegennapoleonische Gedankentendenz ankündigt, und tritt nach Schlegels Übersiedlung nach Wien Ende November 1808 sogar aktiv in brieflichen Kontakt mit ihm: „Von Genz hat Friedrich dieser Tagen einen überaus schmeichelhaften Brief, voller der wärmsten Versicherungen der Freundschaft und Theilnahme erhalten; er ist entzückt vom Werke über Indien!“ (Körner 1969, Bd. 1, 647) Doch erst mit der

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österreichischen Erhebung von 1809 beginnt eine intensive politische Zusammenarbeit zwischen Schlegel und Gentz, die zwischen 1816 und 1819 beim Deutschen Bundestag für Schlegel wenig erfolgreich fortgeführt und dort auch beendet wird (vgl. Dierkes 2017). Aus dieser Zeit und bis zu Schlegels Tod ist nur eine geringe, z.  T. noch unveröffentlichte Anzahl von Briefen bekannt, die sich von Gentz’ Seite im Wesentlichen auf Schlegels Schriften (die Auswahledition von Lessings Werken, das Indienbuch, die Wiener Geschichtsvorlesungen von 1810–1811, den ‚Jacobiaufsatz‘ von 1812) beziehen, während von Schlegels Seite her bislang keine überliefert und nur einige erschließbar sind. Zwar schreibt Gentz 1816 an Schlegel selbst von „allen Ihren Briefen“ (Schlegel 1958  ff., Bd. 29, 275), die dann entweder vernichtet, verloren oder noch nicht wieder aufgefunden worden sind. Dennoch: Da Gentz auch selbst überwacht wurde, ist sicher auch so manches über das persönliche Gespräch gelaufen, das ja mit Gentz bis zu Schlegels Tod belegt ist (vgl. Dierkes 2017) und das Gentz in einem Brief um 1811 an Schlegel ausdrücklich einfordert (vgl. Körner 1918, 385). Nur ein einziger langer und herausgehobener Brief von Gentz an Schlegel ist bislang veröffentlicht, und zwar der vom 25. November 1816, kurz nach der Eröffnung des Deutschen Bundestages. Gentz reagiert in ihm auf ein letztlich ungeschicktes Agieren Schlegels nach einem diplomatischen Eklat bei dessen Eröffnung in Frankfurt a. M. Dieser Brief ist zugleich ein Musterbeispiel rhetorischer Spiegelfechterei, weil Gentz Schlegel etwas vorwirft, was dieser nun wirklich ganz und gar nicht will: den Deutschen Bund zum Instrument „revolutionärer Umtriebe“ zu machen; und Gentz schließt nichts weniger als drohend: „Die wenigen Illusionen, in denen Sie jetzt noch schweben, werden sich zeitig genug in Luft auflösen; und dann werden Sie in dem verdammten Frankfurt keine frohe Minute haben.“ (Schlegel 1958  ff., Bd. 29, 275) Dieser Ton wäre im Briefwechsel zwischen Gentz und Müller undenkbar gewesen. Eine Antwort Schlegels ist nicht bekannt. Was Adam Müller angeht, hat Friedrich Schlegel ihn nicht vor 1808 persönlich kennengelernt, wohl anlässlich seiner Reise nach Wien und während seines Besuchs bei Gentz von Dresden aus (vgl. Körner 1969, Bd. 1, 571). Dass Müller als Katholik sich als „Mittelglied zwischen Gentz und Schlegel“ (Varnhagen von Ense 1987, 617) stellen konnte, hat den Briefkontakt ebenso wenig gefördert wie die meist große räumliche Trennung, es sei denn, die Archive brächten noch wesentlich Neues zu Tage. Bislang ist nur ein einziger Brief von Müller an Schlegel, vom 2.  Mai 1820, im Zusammenhang von Müllers Mitarbeit an Schlegels Concordia publiziert (vgl. Schlegel 1958  ff., Bd. 30, 284). Weder war Schlegel ein Parteigänger Müllers noch Müller ein bedingungsloser Anhänger Schlegels. Zwar bezeichnet sich Müller 1818 in einem Brief an Franz Bernhard von Bucholtz, einen Freund, Briefpartner und katholischen Parteigänger Schlegels, als Schlegels „dankbaren

6.7 Friedrich Gentz – Adam Müller – Friedrich Schlegel 

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Freund“ (Schlegel 1958  ff., Bd. 29, 589); zehn Jahre später aber ist Müller bestrebt, Bucholtz, dessen erklärter Feind Gentz war, „dem […] höchst nachteiligen Einflusse Schlegels zu entreißen“ (Gentz 2002b, 441). Der fehlende Briefwechsel mit Schlegel ist daher bei aller sonstigen religiösen Nähe wohl nicht ganz ohne bleibende Gegensätze in der Sache zu erklären.

Zitierte Literatur Baxa, Jakob (Hg.) (1966). Adam Müllers Lebenszeugnisse. 2 Bde. München u.  a. Dierkes, Hans (2017). [Art.] „Restauration: Gentz, Adam Müller, Metternich“, in: Friedrich Schlegel-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Johannes Endres. Stuttgart: 62–67. Gentz, Friedrich (1840a). Schriften von Friedrich von Gentz. Ein Denkmal. Vierter Theil: Briefwechsel zwischen Gentz und Johannes v. Müller. Mit einem Anhang vermischter Briefe. Hg. v. Gustav Schlesier. Mannheim. Gentz, Friedrich (1910). Briefe von und an Friedrich von Gentz. Hg. v. Friedrich C. Wittichen [fortgeführt von E. Salzer]. Bd. 2: Briefe an Carl Gustav von Brinckmann und Adam Müller. München u. Berlin. Gentz, Friedrich (2002a). Gesammelte Schriften. Hg. v. Günter Kronenbitter. Bd. 9: Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz und Adam Heinrich Müller 1802–1829. Hildesheim u.  a. Gentz, Friedrich (2002b). Gesammelte Schriften. Hg. v. Günter Kronenbitter. Bd. 11.2: Briefe von und an Friedrich von Gentz. Briefe an und von Carl Gustav von Brinckmann und Adam Müller. Hildesheim u.  a. Gentz, Friedrich u. Adam Heinrich Müller (1857). Briefwechsel. Stuttgart. Körner, Josef (1918). „Aus Friedrich Schlegels Brieftasche. Ungedruckte Briefe“, in: Deutsche Rundschau, 174: 377–388. Körner, Josef (21969). Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis. 2. Bde. Bern u. München. Schlegel, Friedrich (1958  ff.). Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner. Paderborn u.  a. Varnhagen von Ense, Karl August (1987). Werke in fünf Bänden. Hg. v. Konrad Feilchenfeldt. Bd. 2: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens (1810–1815). Frankfurt a. M.

Weiterführende Literatur Baxa, Jacob (1930). Adam Müller. Ein Lebensbild aus den Befreiungskriegen und aus der deutschen Restauration. Jena. Dombrowsky, Alexander (1908). „Gentz an Friedrich Schlegel“, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte, 15: 574. Gentz, Friedrich (1840b). Schriften von Friedrich von Gentz. Ein Denkmal. Fünfter Theil: Ungedruckte Denkschriften, Tagebücher und Briefe von Friedrich von Gentz. Hg. v. Gustav Schlesier. Mannheim.

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 6 19. Jahrhundert

Körner, Josef (1926). Friedrich und Dorothea Schlegel. Berlin. Kronenbitter, Günter (1994). Wort und Macht. Friedrich Gentz als politischer Schriftsteller. Berlin. Patsch, Hermann (2017). [Art.] „Briefe“, in: Friedrich Schlegel-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Johannes Endres. Stuttgart: 280–290. Zimmermann, Harro (2012). Friedrich Gentz. Die Erfindung der Realpolitik. Paderborn u.  a.

Online-Quellen Gentz Digital: http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/info/einleitung.html?l=d (19.10.2019).

Berthold Friemel und Vinzenz Hoppe

6.8 Gelehrtenbriefwechsel der Brüder Grimm Nicht nur als Märchensammler, Brüderpaar und Repräsentanten ihres Jahrhunderts, sondern gerade auch als prototypische Sprach-, Schrift- und Buchgelehrte sind die Brüder Grimm in Mythen des Gemeinwissens und des Alltags eingegangen. Ihre Werke zu Sprache, Literatur und Geschichte sind auch heute noch stark mit der Wissenschafts- und Alltagskultur verflochten. Allerdings waren und sind die literatur-, kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Nutzung, Einordnung und Wertung dieser Werke von mancherlei Missverständnissen und teleologischen Interpretationen überblendet. Um sie im zeitgenössischen Entstehungskontext sehen und Rezeptionsprozesse rekonstruieren zu können, sind Briefwechsel ein wesentliches Korrektiv. Sie dokumentieren ein weiteres Spektrum historischer Praxis als die druckschriftlich geführten öffentlichen Debatten und tragen dazu bei, kulturhistorisch relevante Prozesse wie die Emanzipation der neusprachlichen Fächer oder die Entstehung der Kinder- und Hausmärchen möglichst authentisch beobachten zu können.

1 Umfang und Begriff Der ursprüngliche Umfang eines Briefwechsels lässt sich aus der Zahl der Partner und aus der durchschnittlichen Zahl der jeweils ausgetauschten Briefe schätzen. Durch ältere Editionen, Zitate usw. waren etwa 580 Korrespondenten der Brüder Grimm bekannt (vgl. Denecke 1983). Rechnet man diejenigen Personen hinzu, von denen Briefe, Stammbuchblätter oder Visitenkarten im Grimm-Nachlass liegen (vgl. Daffis 1923; Moritz et al. 1988; Breslau 1997), außerdem die in Jacob Grimms Vorreden zu den Bänden 1 und 2 des Deutschen Wörterbuchs genannten Exzerptoren und die Hörer der Vorlesungen Jacob und Wilhelm Grimms in Göttingen und Berlin, kommt man auf etwa 2.100 Partner, bei denen brieflicher Kontakt entweder belegt oder unter den damaligen Kommunikationsverhältnissen (etwa im Fall der meist persönlich bekannten Studenten) wahrscheinlich ist. Beim anzunehmenden und durch das nachgewiesene Material bestätigten durchschnittlichen Umfang von 14 bis 15 Briefen pro Einzelkorrespondenz ergeben sich insgesamt etwa 30.000. Bei 60 Jahren, in denen intensiv Briefe gewechselt wurden, sind das für Jacob und Wilhelm Grimm jährlich je etwa 125 geschriebene und empfangene Briefe. https://doi.org/10.1515/9783110376531-091

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Ob man für die Rekonstruktion eines Kommunikationsnetzwerks wie desjenigen der Brüder Grimm etwas gewänne, wenn man „von staatlichen Stellen verwendete Verkehrsschriftstücke“, die sich „vor allem in ihrem Entstehungsmotiv und damit in ihrer Funktion grundsätzlich von Briefen“ unterschieden, von letzteren abgrenzte (Schmid 1988, 3), darf bezweifelt werden, denn die Zuordnung zur staatlichen Kommunikation, nicht Form oder Inhalt, wäre dann das Kriterium, nach dem ein Teil der Überlieferung als nichtbrieflich angesehen werden müsste. Serielles Schriftgut (Quittungen, Wechsel, Leihscheine, Werberundschreiben, Einladungen in Korporationen usw.) ist nach formalen oder inhaltlichen Kriterien zwar häufig Brief, seine lückenhafte Überlieferung tangiert die Rekonstruktion eines Briefwechsels aber nicht wesentlich. Wollte man den verlorenen Anteil dieses Massenschriftguts auf den vermuteten Gesamtumfang anrechnen, käme man auf eine viel höhere Schätzsumme. Relevant bleibt aber, wie viele nach transparenten Kriterien bestimmte substantielle Dokumente nachgewiesen werden können und welche geschätzte Menge ähnlichen Materials ihnen wahrscheinlich als verloren gegenübersteht. Heute sind etwa 21.600 Briefe von und an Jacob und Wilhelm Grimm nachgewiesen (vgl. Friemel et al. 2015). Etwa 6.100 der Briefe sind von Jacob Grimm geschrieben, etwa 4.500 von Wilhelm (darin etwa 580 zwischen den beiden Brüdern gewechselte sowie je etwa 200 gemeinsam geschriebene). Unter etwa 11.200 Briefen Dritter an die Brüder Grimm gingen etwa 8.400 an Jacob und etwa 3.500 an Wilhelm (darin je etwa 700 an beide). Etwa 8.900 Briefe, von denen abgesandte Fassung, Konzept oder Abschrift überliefert sind, blieben bisher unveröffentlicht. Etwa 200 weitere sind lediglich im Autographenhandel aufgetaucht, wobei den Antiquariatskatalogen häufig auch etwas zum Inhalt entnommen werden kann. Von etwa 2.700 Briefen sind nur Angaben wie Absender, Empfänger, Datum verfügbar.

2 Partner und Inhalte Hauptthemen des wissenschaftlichen Briefwechsels der Brüder Grimm und die Anfänge des zugehörigen Korrespondenznetzes entwickelten sich etwa zwischen 1807 und 1820, in ihrem dritten bzw. vierten Lebensjahrzehnt. Konzeptionell bauten die Brüder Grimm auf Achim von Arnim und Clemens Brentano auf (von denen sie sich bald emanzipierten), methodisch auf Friedrich Carl von Savigny, ihren Marburger Lehrer. Als ihr Arbeitsgebiet bezeichneten sie, wie vor ihnen schon die älteren Romantiker, eine Geschichte der Poesie, womit die Grimms vor allem eine Geschichte der Stoffe und Motive meinten (von ihnen Sagenelemente

6.8 Gelehrtenbriefwechsel der Brüder Grimm 

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genannt). Nach einigen Jahren verschoben Erfahrungen mit eigenen und fremden Editionen ihre Studienschwerpunkte, besonders die Jacobs, zunächst auf Grammatik, Lexik und Semantik der älteren germanischen Sprachstufen. Der Anfang wissenschaftlicher Briefwechsel der Brüder Grimm ist mit den Namen Arnim, Brentano und Savigny skizziert. Kontakte wie zu Joseph Görres, Hendrik Willem Tydeman und Johann Wolfgang von Goethe wurden ihnen in diesem Kreis vermittelt. Auch die beiden Brüder miteinander führten in dieser Zeit einen wissenschaftlichen Briefwechsel, wenn einer von beiden auf Reisen war. Die Mitarbeit an Zeitschriften, Kooperationen bei der Nutzung von Bibliotheken oder auch Lehrer-Schüler-Verhältnisse an den Universitäten Göttingen und Berlin leiteten weitere wissenschaftliche Beziehungen ein, wie mit Georg Friedrich Benecke, Bernhard Joseph Docen, Karl Goedeke, Friedrich Heinrich von der Hagen, Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Franz Joseph Mone und Friedrich von Schlegel. Brieflicher Austausch wurde selbstverständlich auch schlicht aufgrund gemeinsamer Interessen und Studiengegenstände, ohne äußere Anlässe, begonnen. Beispielsweise schrieb Jacob Grimm Karl Lachmann seinen ersten Brief, als er bemerkte, dass Lachmann schon vor Benecke und den Grimms Reime im Mittelhochdeutschen grammatisch auswertete. Kollegen, die ihrem Vorbild folgten, schickten den Brüdern Grimm Ergänzungen oder wandten sich mit Bitten um Rat an sie. Beispiele sind John Mitchell Kemble, der Jacob Grimms sprachgeschichtliche Erkenntnisse in die britischen Forschungen zum Angelsächsischen einbrachte, und Georg Waitz, der Jacob Grimm zu mythologischen und sprachgeschichtlichen Themen konsultierte. Moriz Haupt schickte Jacob Grimm anonyme Beiträge zu dessen Werken, ehe er sich zu erkennen gab, und Wilhelm Wackernagel stellte sich Wilhelm Grimm zunächst mit einigen ohne Briefe übermittelten kleineren Schriften vor. Im 19.  Jahrhundert verbanden Gelehrte ihre wissenschaftlichen Kontakte häufig mit Ansprüchen der Freundschaft, als deren Grundbedingung galt, Wissen zu teilen und sich gegenseitig zu helfen. So wollte Jacob Grimm in seinem ersten überlieferten Brief an Friedrich Heinrich von der Hagen annehmen, „hierdurch eine freundschaftliche Correspondenz eröffnet zu haben, deren Unterhaltung blos von Ihnen abhängen wird“ (Schoof 1960, 42–43). Lachmann spricht Grimm schon am Beginn mit „mein verehrter Herr und Freund“ an, wenige Wochen später stellt er fest, dass aus der „wissenschaftlichen Verbindung […] ein innerliches Verständniß und eine herzliche Zuneigung“ hervorgegangen seien, kurz darauf ist von Liebe die Rede (Grimm und Lachmann 1927, 1, 3, 28, 72). Manchmal blieben Freundschaft und ursprüngliche gemeinsame Interessen auch bei Meinungsverschiedenheiten noch längere Zeit tragfähig (wie mit Docen und Mone). Mitunter nahm man wissenschaftliche Briefpartner sogar als Paten von Kindern

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in die Familie auf, so Lappenberg und Wackernagel Jacob Grimm bzw. Wilhelm Grimm Benecke jeweils als Paten für einen ihrer Söhne. Die Briefe der Brüder Grimm bestätigen nicht, „daß das wissenschaftliche und das private Verhältnis […] durch ein strikt eingehaltenes, jeweils unterschiedliches Rollenverhalten geprägt“ gewesen wäre (Bluhm 1997, 172), sondern Mitteilungen über persönliches Befinden und Alltagserlebnisse, Freundschaftsbekundungen und Familiäres sind mit dem wissenschaftlichen Dialog unauflösbar verbunden. Somit wäre es unmöglich, wissenschaftlichen Briefwechsel der Brüder Grimm von privatem zu trennen. Selbst im amtlichen Schriftwechsel und in kleineren Korrespondenzen mit eng begrenzten wissenschaftlichen Anliegen ist damit zu rechnen, dass die Brüder Grimm Möglichkeiten zu subjektiven oder privaten Mitteilungen geradezu suchen, um Sympathie und Vertrauen aufzubauen oder die eigenen Anliegen möglichst erfolgversprechend zu verpacken. Im Umkreis der Brüder Grimm dienten wissenschaftliche Briefe in erster Linie dazu, Methoden und Hypothesen zu formulieren, zu erproben und zu korrigieren, unveröffentlichte Texte und Informationen auszutauschen, auf Basis gemeinsamer Ansichten und Werte Gruppen zu bilden und sich aus ebensolchen Gründen voneinander abzugrenzen. Ein gutes Beispiel sind Briefwechsel mit und um Ferdinand Glöckle, 1810 bis 1814 Skriptor an der Vatikanischen Bibliothek Rom. Gegen Bezahlung lieferte er Görres, den Brüdern Grimm, von der Hagen und anderen Kopien aus den im Dreißigjährigen Krieg geraubten Handschriften der Universitätsbibliothek Heidelberg. Um 1810 konnte Glöckle als eine der wichtigsten Figuren der damals modernen „altdeutschen“ Studien erscheinen. Seine Partner in Deutschland warben öffentlich mit dem durch ihn erlangten Zugang zu den römischen Schätzen, bis die altdeutschen Handschriften 1815/1816 nach Heidelberg zurückkehrten. In ihren Briefwechseln miteinander rückten sie schon mehrere Jahre zuvor von Glöckle ab, wesentlich deshalb, weil sich Qualitätsansprüche herausbildeten, hinter denen er zurückblieb. Die Abgrenzung von mangelhaften Texten, ein disziplinärer Reifeprozess, vollzog sich gruppenintern auch als Abgrenzung von Glöckle, der ohne eigene Publikationen, wegen exzentrischer Lebensverhältnisse und der Folgen seines Alkoholkonsums ohnehin zunehmend abseits stand. Dem aus Rom und von der philologischen Gemeinschaft verstoßenen Kopisten blieb immerhin eine von Görres besorgte Pension. Dem Briefwechsel der Grimms mit Glöckle stehen zahlreiche andere zur Seite, die ebenfalls den Hauptzweck hatten, verstreutes Material für unterschiedlichste Forschungsprojekte zusammenzutragen, und insofern typisch für die empirische Arbeitsweise des Gelehrtenkreises um die Brüder Grimm sind. Anknüpfend an Arnims und Brentanos Erfahrungen bei Des Knaben Wunderhorn beabsichtigten die Brüder Grimm zunächst, durch gedruckte Aufrufe in Briefform ein Korrespon-

6.8 Gelehrtenbriefwechsel der Brüder Grimm 

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denznetzwerk zur Sammlung von Sagen, Märchen, Volksliedern und Ähnlichem zu etablieren (vgl. Steig 1914, 152, 157, 161–172; Denecke 1968). Wesentlich mehr Erfolg als solche gedruckten Aufrufe hatten persönliche Empfehlungen, etwa wenn der Gesandte des Königreichs Westphalen in Kopenhagen, Hans von Hammerstein, Abschriften von Texten der altisländischen Edda vermitteln konnte, oder wenn der vormals lange in Kopenhagen ansässige Henrik Steffens Wilhelm Grimm 1809 an Rasmus Nyerup empfahl, der brieflich zu Wilhelm Grimms Ausbildung als Spezialist für die skandinavischen Sprachen und Literaturen beitrug und ihm bei seinen Altdänischen Heldenliedern unmittelbar half. Diese beiden Beispiele stehen für internationale Kontakte, die Jacob und Wilhelm Grimm schon im ersten Jahrzehnt ihrer Karriere knüpften, auch nach Frankreich. Sie beabsichtigten damals, romanische Kulturen in großem Umfang in ihre Projekte einzubeziehen, ehe sie sich fast ganz auf den germanischen Bereich spezialisierten. Unmittelbar nach der Vertreibung von Napoleons Truppen aus Hessen nahm Jacob Grimm durch einen auf den 4. Januar 1814, seinen 29. Geburtstag, datierten Brief an Walter Scott Kontakt mit dem bisher offiziell als verfeindet geltenden Großbritannien auf. Bekanntschaften während des Wiener Kongresses 1814/1815 dehnten seinen Briefwechsel in die slawischen Teile der österreichischen Monarchie aus. Sporadisch kamen später Russland und Nordamerika hinzu. Wissenschaftliche Briefwechsel gehörten zu den Voraussetzungen vieler Werke Jacob und Wilhelm Grimms. Besonders deutlich ist dies bei Jacob Grimms Sammlung von Weistümern, die er großenteils durch Briefwechsel zusammentrug, und beim Deutschen Wörterbuch, für das von 1838 bis zu Jacob Grimms Tod 1863 etwa 100 Personen mehrere hunderttausend Belegzettel lieferten. Das Experiment der Kooperation in einer größeren Gruppe, organisiert mit dem Medium des Briefwechsels, verwirklichten die Brüder Grimm allerdings nur im vorbereitenden Arbeitsabschnitt. Die eigentliche Ausarbeitung des Wörterbuchs praktizierten sie nach dem Selbstverständnis genialer Individuen, nicht einer Arbeitsgruppe.

3 Form und Stil Den Brüdern Grimm war durch ihre Juristen- und Theologenfamilie eine mehrere Generationen zurückreichende Tradition des Briefschreibens überliefert. Der Großvater Johann Hermann Zimmer, pensionierter Kanzleisekretär des hessischen Landgrafen, trainierte Jacob Grimm zwischen dessen achtem und vierzehntem Lebensjahr vierteljährlich hierin. Die wohl spätestens auf dem Gymnasium ihnen mitgeteilte Form des geselligen und empfindsamen Briefes, wie sie Chris-

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tian Fürchtegott Gellert empfahl, wirkte auf die Brüder Grimm schon veraltet, als etwas Gegebenes, von dem sie sich abgrenzen wollten (vgl. Stengel 1910, 31). Etwa 250 erhalten gebliebene Briefkonzepte Wilhelm Grimms zeigen, dass er Briefe oft sorgfältig entwarf und korrigierte. Sein Bruder Jacob arbeitete anders („Da ich Briefe nicht vorher entwerfe“, Jacob Grimm an Gustav Hugo, 29.10.1840; Grimm KA 3, 215), aber auch von ihm sind etwa 130 Entwürfe, meist in offiziellen Angelegenheiten, nachgewiesen. Die Sprache seiner Briefe ist wie die seiner Werke stark individualisiert und nimmt ältere Lexik und ältere grammatische Konstruktionen auf (vgl. Weinhold 1870, 377). Orthographische Reformvorschläge, wie die Verwendung von Antiqua und die Kleinschreibung von Substantiven, für die Jacob Grimm sich in der Deutschen Grammatik und im Deutschen Wörterbuch einsetzte, übertrug er auch auf seine Briefe. Im Briefwechsel verwendete er Antiqua und Kleinschreibung ab 1821, zuerst gegenüber Philologenfreunden wie Benecke und Lachmann. Wie oben näher ausgeführt, stehen in den Grimm-Briefen neben streng wissenschaftlichen Darlegungen häufig Mitteilungen über Ereignisse des Privatlebens. Einen noch höheren Grad an Vertraulichkeit bezeichnen in den wissenschaftlichen Briefwechseln diejenigen Abschnitte, die, nach Ökonomie und sachbezogener Konzentration strebend, Notizen aneinanderreihen, und die das Interesse, das sie in der Perspektive der Briefpartner hatten, nur durch genaue Kommentierung weitgehend zurückgewinnen können. Zumeist blieb die Form des Briefes mit Anrede, Unterschrift und blattfüllendem Textkörper erhalten. 1819 allerdings begann Jacob Grimm, Anmerkungen zu Beneckes Ausgabe des Wigalois von Wirnt von Gravenberg auf gefalteten Blättern mit Buchstaben fortlaufend bezeichnet so aufzuschreiben, dass der Empfänger in der anderen Spalte Gegenbemerkungen hinzufügen konnte. Da Benecke diese Form annahm, wurde sie fortgeführt, nachdem das Thema Wigalois abgeschlossen war. Jacob Grimm ging zur Nummerierung mit arabischen Ziffern über und fragte in den folgenden Jahren vorrangig zur Deutschen Grammatik. Benecke begann seinerseits eine Folge von ihm ausgehender Adversarien mit eigener Nummerierung (vgl. ausführlicher hierzu Friemel 1995). Weitere Sonderformen des wissenschaftlichen Briefwechsels sind die Klebebriefe zwischen Karl Hartwig Gregor von Meusebach und den Brüdern Grimm, „wohl die lustigsten Gelehrtenbriefe, welche existiren“ (Scherer 1893, 73), oder die in Akademien und Kommissionen üblichen Zirkularbriefe. – Bei ersteren entsteht der Text aus einer Collage von Handschrift und Ausschnitten gedruckter Texte, die Meusebach mit humoristischen Nebenabsichten einfügte. Jacob Grimm ahmte das gelegentlich nach. – Zirkularbriefe waren an Universitäten und Akademien üblich. Nachdem eingangs das Thema formuliert ist, nehmen die folgenden Eintragungen auf diese Exposition und aufeinander Bezug. Die Einzelbeiträge

6.8 Gelehrtenbriefwechsel der Brüder Grimm 

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kommen meist ohne Anreden und Schlussformeln aus, häufig informieren sie nur über Zustimmung, Ablehnung oder Kenntnisnahme.

4 Überlieferung und wissenschaftliche Rekonstruktion Der wissenschaftliche Briefwechsel Jacob und Wilhelm Grimms ist aus mehreren Gründen gut erhalten: weil sein historischer Wert ihnen bewusst war (neben dem unmittelbaren Nutzen für ihre eigene Arbeit); weil in der nächsten Generation Herman Grimm aus kulturgeschichtlichem Interesse die Entscheidung traf, Forschungen zur Epoche der Brüder Grimm zu ermöglichen (unabhängig davon, ob die Briefe der Familie noch etwas nützen könnten); und schließlich, weil im Freundes- und Arbeitsumfeld der Brüder Grimm eine auch im 19.  Jahrhundert nicht selbstverständliche Kultur des Bewahrens gepflegt wurde. Außerdem wurden Briefe der Brüder Grimm schon zu ihren Lebzeiten materiell wertvoll. Die Brüder Grimm erkannten Briefe als literarische Texte und als philologische Quellen an. Jacob Grimm lobte 1856 das vom Verfasser eines Buches über Gottfried August Bürger gesetzte und erreichte Ziel, auf Grund […] neu entdeckter Documente und Zeugnisse […] alle Daten seines Lebens ‚mit philologischer Genauigkeit‘, wie der Verf. sich ausdrückt, oder, besser gesagt, diplomatischer festzustellen. Ueberhaupt aber ist es sehr erfreulich, ein solches Streben auch auf dem Gebiete der modernen Literaturgeschichte immer mehr Platz greifen zu sehn, indem Monographien, wie die vorliegende, an die Stelle jener ästhetischen Räsonnements treten, aus welchen wir meist nur erfahren, wie gewisse Gedichte dem Hrn. X oder Y gefallen haben. Die Literaturgeschichte muß immer mehr nach allen Beziehungen zu einer wahrhaft historischen Wissenschaft ausgebildet werden. (Grimm 1856, 837)

Anfragen nach Briefen verstorbener Kollegen und Freunde kamen die Brüder Grimm stets nach. So stellte Jacob Grimm 1853 bereitwillig die Briefe Joseph Görres’ an ihn und seinen Bruder für die von Görres’ Familie vorbereitete Briefausgabe zur Verfügung. Allerdings versagte er der Absicht, auch die Grimm’schen Gegenbriefe aufzunehmen, noch seine Zustimmung. Die Ausgabe erschien 1874 – mit den Gegenbriefen (vgl. Görres 1874). Der überwiegende Teil von Bibliothek und handschriftlichem Nachlass der Brüder Grimm ging seit 1865 in den Besitz der Königlichen Bibliothek und der Universitätsbibliothek Berlin über. Die Briefe durften lange nur mit Erlaubnis der Familie eingesehen werden. Weiteres gab die Familie später nach Kassel und Marburg (vgl. detaillierter zur Überlieferung der Grimm-Bestände Stolzenberg 1985; Ehrhardt und Friemel 2009).

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15  Jahre nach Jacob Grimms Tod wurde erstmals eine Gesamtedition des Grimm-Briefwechsels öffentlich gefordert und von Herman Grimm in Aussicht gestellt. Stattdessen entstanden aber zahlreiche Einzelausgaben, zunächst im Hinblick auf die hundertsten Geburtstage der Brüder Grimm 1885/1886. Die Zahl der bekannten Briefe und Briefpartner erhöhte sich von 206 Briefen mit 33 Partnern 1878 auf etwa 1.700  Briefe mit etwa 160 Partnern bis 1900 (zur Editionsgeschichte vgl. Friemel und Reiher 1991). Im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts nahm Albert Leitzmann mit Unterstützung Konrad Burdachs Planungen für ein Grimm-Briefverzeichnis auf, von deren Ergebnissen nichts erhalten ist. Vermutlich in Kenntnis dessen sprach sich Edward Schröder 1939 für ein Repertorium in Regestenform statt einer Gesamtedition aus. Die „am 13. April 1942 durch den Gauleiter und Preußischen Staatsrat Karl Weinrich“ gegründete Brüder Grimm-Gesellschaft Kassel setzte sich u.  a. die „Neuherausgabe der Werke der Brüder Grimm, ihres Briefwechsels usw.“ zum Ziel (Brüder Grimm-Gesellschaft 1942, 1 und 3). Friedrich Stroh verlangte in seinem Handbuch der germanischen Philologie eine Gesamtausgabe (Stroh 1952, 59). Die bis dahin existierenden Einzeleditionen erfasste Ludwig Denecke 1971 und erneut 1983 in einer Bibliographie (vgl. Denecke 1971, 1983). Eine Abteilung „IV. Briefwechsel, Gesamtausgabe[.] 1. Briefwechsel der Brüder. 2. Briefwechsel Jacob Grimms. 3. Briefwechsel Wilhelm Grimms“ kündigte Ludwig Erich Schmitt 1985 für die von ihm begründete Forschungsausgabe der Sämtlichen Werke Jacob und Wilhelm Grimms an (Grimm FA, V, 5, 1, XIX). Auf das überlieferte Material wäre solch eine Gliederung schwerlich anwendbar. Zunächst erschien kein Band dieser Abteilung. 31 Jahre später wurde in diesem Rahmen jedoch überraschend der Briefwechsel der Brüder Grimm mit niederländischen und belgischen Gelehrten publiziert (Grimm FA, IV, 1; zur Vorgeschichte dieser Einzeledition bei der DFG vgl. http://gepris.dfg.de/gepris/projekt/99449271). Die 1985 angekündigte Abteilungsgliederung wurde offenbar stillschweigend aufgegeben. Seit Ende der 1980er Jahre wurden für das damals an der Humboldt-Universität zu Berlin begonnene Verzeichnis von Jacob und Wilhelm Grimms Briefwechsel Nachweise über Originale, Konzepte und Abschriften, über die jeweiligen bisherigen Editionen, über Verkäufe im Autographenhandel und auch über verschollene, aber konkret erschließbare Briefe zusammengeführt. Die bisher letzte überarbeitete Fassung des Verzeichnisses wurde 2015 veröffentlicht (vgl. Friemel et al. 2015). An das Briefverzeichnis schlossen sich unter maßgeblicher Beteiligung Ludwig Deneckes Planungen und Vorarbeiten für eine kritische Ausgabe des Grimm-Briefwechsels in Einzelbänden an. Über dieses Vorhaben wurde seit 1991

6.8 Gelehrtenbriefwechsel der Brüder Grimm 

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öffentlich informiert (vgl. Friemel und Reiher 1991). Seit 2001 sind neun Bände der Kritischen Ausgabe mit etwa 2.500 Briefen erschienen (darunter etwa 750 zuvor unveröffentlichte). 1998 kündigte die Brüder Grimm-Gesellschaft Kassel die Kasseler Ausgabe von Werken und Briefwechseln der Brüder Grimm an (vgl. Ehrhardt et al. 1998), innerhalb derer 1998 und 2000 zwei Bände mit etwa 470 Briefen von oder an Jacob und Wilhelm Grimm vorgelegt wurden (davon etwa 225 zuvor unveröffentlichte; zusätzlich enthalten die beiden Bände etwa 170 Briefe des Familienumfeldes). Die Menge gänzlich unveröffentlichter Briefe von und an Jacob und Wilhelm Grimm hat sich durch diese beiden Unternehmungen also um etwa 10 Prozent vermindert. Vom gesamten heute nachgewiesenen Briefwechsel der Brüder Grimm machen die neuen Ausgaben bisher etwa 14 Prozent mit ausführlichen Kommentaren und nach den Handschriften hergestellten Texten zugänglich (falls die Originale überliefert sind). Editionsideen des jungen Jacob Grimm und die beiden neuen Grimm-Briefsammlungen nahm Roland Reuß 2002 zum Anlass für ein Postulat aus Sicht der Frankfurter Tradition (Hölderlin-, Kleist-, Kafka-Editionen usw.), Wie zu edieren sei (vgl. Reuß 2002). Die Musteredition bietet Textfassungen von 15 Briefen, die den Originalen optimal entsprechen sollen, jedoch ohne Erläuterungen, wobei jeder Transkriptionsseite ein Faksimile des Originals in Graustufendruck gegenübergestellt wird. Wenn für eine Edition von weniger als 0,1 Prozent eines Textkorpus 200 Druckseiten verwendet werden und die Briefe dabei unkommentiert bleiben, widerlegt sich der erhobene Allgemeingültigkeitsanspruch selbst. Wert und Sinn diplomatischer Textfassungen, wie sie Reuß vorlegt, hängen wie bei jedem edierten Text von möglichst geringer Fehlerfrequenz ab (vgl. hierzu Braun 2002). Gemessen an diesem Grundanspruch werden die Editionsmodelle prinzipiell vergleichbar. Ebenso hoch wie ein korrekter Text dürfte allerdings die inhaltliche Aufarbeitung und Kommentierung der Dokumente zu gewichten sein, zumal ohne Sachrecherche kein korrekter Text herstellbar ist. In einem digitalen Archiv, in dem Scans der Originale im Mittelpunkt stehen und maschinenlesbare edierte Texte ebenso wie Apparate und Kommentare dem Ziel dienen sollen, die Originale zu erschließen, bleiben Defizite eines bisherigen Arbeits- und Forschungsstandes korrigierbar. Die Sichtbarkeit des Originals entsprechend dem Ideal der Frankfurter Editionstradition ist hier gewährleistet. Zugleich eröffnen sich in diesem neuen Medium erneut auch Optionen wie die der zeilen- und seitengetreuen Textwiedergabe oder der Differenzierung zwischen deutscher und lateinischer Schrift sowie zwischen langem und rundem s der Originale. Es ist dann eine Frage der Prioritäten, ob Ressourcen für zusätzliche Wiedergabeoptionen eingesetzt werden oder ob zunächst das gesamte Material textlich und inhaltlich erschlossen wird.

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6.8 Gelehrtenbriefwechsel der Brüder Grimm 

 1129

Moritz, Werner (1988). Verzeichnis des Nachlaßbestandes Grimm im Hessischen Staatsarchiv Marburg. Bearb. unter Mitwirkung v. Ludwig Denecke, Hans Joachim Mey, Christine Ried u. Albina Schulz-Luckenbach. Marburg. Reuß, Roland (2002). „‚Lieder […], die nicht seyn sind‘. Der Briefwechsel zwischen Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Achim v. Arnim und Friedrich Carl v. Savigny aus dem Jahre 1811 und das Problem der Edition. Einführung und Faksimile-Edition mit diplomatischer Umschrift“, in: Text. Kritische Beiträge, 7 („Wie zu edieren sei“): 1–227. Scherer, Wilhelm (1893). [Rez. zu] „Briefwechsel des Freiherrn Karl Hartwig Gregor von Meusebach mit Jacob und Wilhelm Grimm. Herausgegeben von Dr. Camillus Wendeler“, in: Ders. Kleine Schriften. Hg. v. Konrad Burdach u. Erich Schmidt. Bd. 1. Berlin: 72–77. Schmid, Irmtraut (1988). „Was ist ein Brief? Zur Begriffsbestimmung des Terminus ‚Brief‘ als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung“, in: editio, 2: 1–7. Schoof, Wilhelm (Hg.) (1960). Unbekannte Briefe der Brüder Grimm. Unter Benutzung des Grimmschen Nachlasses und anderer Quellen. Hg. in Verbindung mit Jörn Göres. Bonn. Steig, Reinhold (1914). Clemens Brentano und die Brüder Grimm. Berlin u. Stuttgart. Stengel, Edmund (Hg.) (1910). Briefe der Brüder Grimm an Paul Wigand. Veröffentlicht und erläutert. Marburg. Stolzenberg, Ingeborg (1985). „Der schriftliche Nachlaß der Brüder Grimm“, in: 200 Jahre Brüder Grimm. Dokumente ihres Lebens und Wirkens. Hg. v. Dieter Hennig u. Bernhard Lauer. Kassel: 113–132. Stroh, Friedrich (1952). Handbuch der germanischen Philologie. Berlin. Weinhold, Karl (1870). [Rez. zu] „Andresen, Karl Gustaf. Über die sprache Jacob Grimms“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 2: 376–377.

Weiterführende Literatur Grimm, Jacob u. Wilhelm Grimm (2001  ff.) Briefwechsel. Kritische Ausgabe in Einzelbänden. Bisher 9 Bde. Stuttgart. (Bd. 1.1: Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 1.2: Sagenkonkordanz. Bd. 1.3: Kommentar. Bd. 2: Karl Bartsch, Franz Pfeiffer, Gabriel Riedel. Bd. 3: Gustav Hugo. Bd. 4: Theodor Georg von Karajan, Wilhelm Wackernagel, Johann Hugo Wyttenbach, Julius Zacher. Bd. 5: Karl Reimer, Salomon Hirzel. Bd. 6: Rudolf Hildebrand, Matthias Lexer, Karl Weigand. Bd. 7: Gustav Freytag, Moriz Haupt, Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Franz Joseph Mone. Bd. 8 [in Vorbereitung]: Johann Martin Lappenberg, Friedrich Lisch, Georg Waitz.) Grimm, Jacob u. Wilhelm Grimm (1998  ff.). Werke und Briefwechsel. Kasseler Ausgabe. In kritisch-kommentierten Einzelbänden hg. im Auftrag des Vorstandes der Brüder GrimmGesellschaft e.V. Kassel u. Berlin. (Briefe, Bd. 1: Herman Grimm; Briefe, Bd. 2: Ludwig Hassenpflug.)

Wolfgang Bunzel

6.9 Bettine Brentano, Clemens Brentano und Karoline von Günderode 1 Mythos und Realität Nach wie vor ist die Ansicht weit verbreitet, dass die aus dem Kontakt zwischen Karoline von Günderode, Bettine Brentano und ihrem Bruder Clemens hervorgegangene Korrespondenz als herausragendes Beispiel romantischer Briefkultur um 1800 angesehen werden muss. Zur griffigen Formel verdichtet heißt es etwa in einer neueren Studie über schreibende Frauen um 1800: In Frankfurt, Günderrode devoted her time to her studies and writing and socialized with the Brentanos. Her extensive correspondence with the most prominent literary members of the family, Clemens and Bettina, has been a point of interest for generations of literary critics. (Hilger 2009, 92)

Dass die Forschung lange Zeit annahm, hier habe man es mit einem einzigartigen Drei-Personen-Briefnetz zu tun, verdankt sich zwei prominent gewordenen Publikationen, die bereits zur Zeit des Vormärz erschienen: In Die Günderode (1840) und Clemens Brentano’s Frühlingskranz („Erster Band“ – 1844) legte Bettine von Arnim – so schien es zumindest – die Briefe vor, die sie in den Jahren 1801 bis 1806 mit dem Bruder und der Freundin gewechselt hatte. Das Günderode-Buch enthält 60, der Frühlingskranz 83  Schreiben. Addiert man dazu die zwischen Clemens Brentano und Karoline von Günderode gewechselten Mitteilungen, die in beiden Werken erwähnt bzw. paraphrasiert und kommentiert werden, hinzu, dann entsteht der Eindruck, hier habe ein enger triangulärer Kommunikationsverbund bestanden, der mindestens 150, aber vielleicht sogar an die 200 Briefdokumente umfasst. Allerdings handelt es sich bei den beiden genannten Veröffentlichungen – wie heute hinlänglich bekannt ist – um teilfingierte Quelleneditionen (vgl. Bunzel 2001), d.  h. die Herausgeberin Bettine von Arnim nimmt sich darin alle Gestaltungsfreiheiten eines Autors, kombiniert Schriftstücke (auch solche von Dritten), stellt sie nach Belieben um und erfindet bedenkenlos weitere Dokumente hinzu mit dem Ergebnis, dass ein semifiktionales Gebilde entsteht, das wie eine authentische Briefsammlung aussieht (und auch mit diesem Anspruch auftritt), dessen Quellenwert indes gegen null geht, weil jede darin enthaltene Mitteilung im Verdacht steht, entweder komplett erfunden oder doch durch Fantasie angereichert zu sein. Die einzig zulässige Konsequenz im Umgang mit diesen Werken kann daher https://doi.org/10.1515/9783110376531-092

6.9 Bettine Brentano, Clemens Brentano und Karoline von Günderode 

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nur sein, sie nicht als historische Belege heranzuziehen, solange ihr Inhalt nicht durch andere, als authentisch einzustufende Dokumente bestätigt werden kann.

2 Clemens und Bettine Brentano Die umfangreiche Korrespondenz zwischen Clemens und Bettine Brentano erstreckt sich über einen Zeitraum von vier Dekaden und umfasst die Jahre 1800 bis 1839. Erhalten ist davon allerdings nur ein sehr kleiner Teil, denn die Hauptmasse der Dokumente – „99 eigh. Briefe m. U. an Bettine“ und „110 eigh. Briefe m. U. an Clemens“ (Henrici 1929, 54) –, die im März 1929 vom Auktionshaus Karl Ernst Henrici in Berlin angeboten und von der Firma Calvary im Auftrag des Sammlers Richard von Kühlmann ersteigert wurde, verbrannte offenbar im Zweiten Weltkrieg „während eines Bombenangriffs auf Berlin“ (Brentano 1990, 358). Wie viele Schreiben dabei aus der Phase der Jugendkorrespondenz – dem Zeitraum zwischen Clemens Brentanos Abreise von Jena und seiner Wiederbegegnung mit Bettine im August 1800 bis zum Tod Karoline von Günderodes am 26. Juli 1806 – stammen, lässt sich heute nicht mehr zuverlässig feststellen. Von den 48 Briefen des Bruders an sie und den 35 Gegenbriefen, die Bettine von Arnim später in ihrer – die Zeitspanne zwischen 1800 und 1803 umfassenden – teilfingierten Quellenedition Clemens Brentano’s Frühlingskranz aus Jugendbriefen ihm geflochten, wie er selbst schriftlich verlangte (1844) publiziert hat, sind „heute“ jedenfalls nur noch „fünf Originalbriefe Brentanos an seine Schwester Bettine bekannt“ (Brentano 1990, 358). Im Frühlingskranz finden sich davon sogar nur zwei, sodass davon ausgegangen werden muss, dass die auktoriale Editorin Bettine von Arnim auch hier ähnlich wie in ihren beiden anderen Veröffentlichungen Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde (1835) und Die Günderode (1840) sehr frei mit dem ihr vorliegenden Material umgegangen ist, wobei der Frühlingskranz auf Grund der großen Anzahl von seinerzeit vorhandenen Originaldokumenten vermutlich einen höheren Authentizitätsgrad aufweist als die ihm vorangehende Publikation. Kein Zweifel kann jedenfalls daran bestehen, dass nach dem erneuten Zusammentreffen der Kontakt zwischen den Geschwistern zunehmend enger zu werden begann. So gibt Clemens in einem in der zweiten Augusthälfte 1800 geschriebenen Brief an Bettine seiner Hoffnung Ausdruck, dass er mit ihr „eine innige Freundschaft erbauen“ (Brentano 1990, 330) könne. Auch bringt er in diesem Schreiben zwei Aspekte zur Sprache, die Bettine von Arnim später ins Zentrum ihrer teil­fingierten Briefedition stellen wird. Das ist zum einen der Effekt der Verjüngung. Den Umstand nutzend, dass zwischen den Korrespondenzpartnern ein Altersunterschied von sechseinhalb Jahren besteht, weist Clemens

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Brentano seiner Schwester die Aufgabe zu, ihn in seine verlorene Jugendzeit zurückzuführen: „Du bist viel jünger als ich, aber das thut nichts, denn auch ich muß wieder jung werden, wenn ich glüklich werden soll.“ (Brentano 1990, 330) Zum anderen betont er seine von der „Bestimmung zur Kunst“ (Brentano 1990, 331) herrührende Außenseiterposition im Familienverband der – durch das frühe Ableben der Mutter und den bald darauf folgenden Tod des Vaters – früh zu Waisen Gewordenen. Bettine sei die Einzige, die möglicherweise in der Lage sei, ihn zu verstehen, und die er deshalb in seinem Sinne charakterlich bilden und formen wolle: „Sieh ich habe keinen unter den Geschwistern, der mich so liebt, daß ich viel aus ihm machen könnte“ (Brentano 1990, 330–331). Überzeugt davon, dass Bettine und er einander „so ähnlich“ (Brentano 1990, 333) seien, spricht Clemens Brentano im September 1801 dann von der „Liebe, die wir so auffallend für einander“ hegen und von „unßrer innigen Verbindung, […] unßrer wahren Freundschaft, und gegenseitigen Hochschäzung“, die u.  a. aus der „Anbetung des Ewigen, Wahren, und Göttlichen in uns“ (Brentano 1990, 332) resultiere. Im Februar 1803 verdichtet sich das Bewusstsein des Füreinander-bestimmt-Seins schließlich zu der  – ebenso beglückenden wie resignativen  – Einsicht: „wir haben nicht viel mehr als uns“ (Brentano 1990, 342). Bestürzt reagiert der Bruder deshalb auf den Eigensinn der Schwester, den er als Versuch deutet, sich seinen Lenkungsversuchen zu entziehen. In einem zwischen Mitte Februar und Anfang März 1803 geschriebenen Brief äußert er etwa „heftigen Unwill“ über die „schlechten Bücher“, die sie bei der Großmutter Sophie von La Roche „in Offenbach“ lese, und gibt ihr dezidierte Lektüreempfehlungen: „[Ü]berhaubt ist es mir sehr verdrüßlich, daß du mir nichts von deiner innern Bildung schreibst, mich nicht fragst, waß du lesen sollst u d. g., […] besser wäre es, wenn du dein Vertrauen zu mir, so benuzztest, daß du mir Einfluß in deine Bildung gönntest, daß du mich über alle Lektüre um Rath fragtest“ (Brentano 1990, 345). Das Ende des Frühlingskranzes, wie er im Druck vorliegt, wird durch Clemens Brentanos Heirat mit Sophie Mereau geb. Schubart am 29. November 1803 markiert. Indem Bettine von Arnim den Übergang vom „Ersten Band“, der 1844 erschien, zum geplanten Folgeband – der dann freilich unausgeführt blieb – mit diesem Datum verknüpfte, machte sie die Eheschließung des Bruders zur doppelten symbolischen Zäsur: Für ihn begann mit der Fokusverlagerung auf Familie und gemeinsamen Hausstand ein neuer Lebensabschnitt, der zur Folge hatte, dass sich der Stellenwert der Schwester zwangsläufig verringerte. Für sie selbst aber war diese Neuausrichtung von Clemens’ Existenz nicht nur eine Verlusterfahrung, sondern bedeutete gleichzeitig auch einen Zugewinn an Selbstständigkeit, weil sie fortan nicht mehr im Zentrum von dessen Erziehungsbemühungen stand. Der biographisch fraglos schmerzliche Einschnitt in der Geschwisterbeziehung

6.9 Bettine Brentano, Clemens Brentano und Karoline von Günderode 

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erscheint in der späteren Konstruktion der teilfingierten Quellenedition denn auch als eine von vielen Etappen auf dem Weg der Selbstwerdung des textuell generierten Ichs ‚Bettine‘, das als maskenartige ‚persona‘ (vgl. Hock 2001) der Autorin Bettine von Arnim fungiert. Zusammenfassend lässt sich über Clemens Brentano’s Frühlingskranz deshalb sagen: „Its unifying thread is a passionate endeavor to grow up female and free – against the resistance of philistine conventions and even against the resistance of a loving brother.“ (Krimmer 2000, 158)

3 Clemens Brentano und Karoline von Günderode Spärlicher als der epistolare Austausch von Bettine Brentano und ihrem Bruder war die Korrespondenz zwischen Clemens Brentano und Karoline von Günderode. Beide wechselten miteinander lediglich zwölf Briefe, wobei zwischen den ersten und den späteren Schreiben eine zeitliche Lücke von rund zwei Jahren liegt. Zuerst gehört haben dürfte Clemens Brentano von der alleinstehenden, im v. Cronstett- und v. Hynspergischen adeligen evangelischen Damenstift in Frankfurt lebenden jungen Frau durch seine Schwester Gunda. Die enge Freundschaft, die die beiden verband, war ihm in Umrissen wohl ebenso bekannt wie die gemeinsame Schwärmerei für Friedrich Carl von Savigny. Persönlich kennengelernt hat er Günderode aber erst am 4. April 1802 bei der Geburtstagsfeier seiner Schwester Bettine. Durch diese Begegnung scheint er auch einen Einblick in den Charakter seines Gegenübers bekommen zu haben. Vermutlich wusste Brentano schon von Gunda, dass Karoline von Günderode mit ihrer Existenz als wenig bemitteltes Stiftsfräulein unzufrieden war und dass sie sich nicht nur nach einem größeren Handlungsspielraum sehnte, sondern sich auch Fähigkeiten zutraute, die gewöhnlich nur einem Mann zugestanden wurden. So hatte sie der Freundin im Sommer des vorangegangenen Jahres brieflich anvertraut, wie sehr sie an den sozialen Grenzziehungen zwischen den Geschlechtern leide: Warum ward ich kein Mann? Ich habe keinen Sinn für weibliche Tugenden, für Weiberglückseligkeit. Nur das Wilde, Große, Glänzende gefällt mir. Es ist ein unseliges, aber unverbesserliches Mißverhältnis in meiner Seele; und es wird und muß so bleiben, denn ich bin ein Weib und habe Begierden wie ein Mann, ohne Männerkraft. Darum bin ich so wechselnd, und so uneins mit mir. (Günderrode 1992, 79)

Es ist anzunehmen, dass Karoline von Günderode sich auch gegenüber Clemens Brentano zumindest andeutungsweise ähnlich geäußert und ihre Anerkennung für seine phantasievoll-spielerischen Texte mit dem Hinweis begleitet hat, sie als Frau sei den Kühnheiten romantischer Romane durchaus gewachsen und auch

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durch delikate bzw. moralisch anstößige Stellen – wie etwa das Lob der körperlichen Liebe in Friedrich Schlegels Lucinde oder die erotische Unbeständigkeit mancher Figuren im Godwi  – nicht zu irritieren. Eine solche Haltung freilich musste Clemens Brentano herausfordern, der Frauen zwar bereitwillig idealisierte, sich zugleich aber über weibliche Schamhaftigkeit und Verzagtheit ungeniert lustig machte. Wenn eine Frau es wirklich wagte, intellektuelle Ebenbürtigkeit für sich zu beanspruchen, dann galt es, das Gegenüber durch ein forciertes ‚Reden in extremis‘ auf die Probe zu stellen. Brentano tat dies, indem er Mitte Mai 1802 Karoline von Günderode ohne Ankündigung einen Brief von schockierender Drastik schrieb, der in seiner gewagten, religiöses Empfinden, medizinische Praxis und Erotik kühn verschmelzenden Vereinigungsmetaphorik auch für heutige Leser*innen noch eine Zumutung darstellt (vgl. Bunzel 2015). Sein Schreiben wirkt auf den ersten Blick wie ein exaltierter ‚Liebesbrief‘, die kommunikative Rahmensituation deutet aber darauf hin, dass es sich hier um ein literarisches Schreibexperiment handelt, das zum Ziel hat, die Adressatin auf die Probe zu stellen. Denn der Brief ist nicht Teil einer bereits bestehenden (und damit gewissermaßen eingespielten) Korrespondenzbeziehung, die Adressatin hat – das zeigt ihr Antwortschreiben – weder mit ihm gerechnet noch den Verfasser zur Niederschrift ermuntert. Stattdessen überfällt und bedrängt Brentano unter grober Missachtung aller geltenden sozialen und epistolaren Konventionen eine ihm allenfalls flüchtig bekannte junge Frau mit Äußerungen äußerster erotischer Direktheit. Dahinter verbirgt sich eine nachgerade sadistische Erwartungslust, die sich darauf richtet, wie verstört die Angesprochene sein, ob sie auf diese Provokation reagieren und inwiefern sie die Absicht seines erotischen Kommunikationsspiels durchschauen wird. Mit der Formulierung: „du magst allerhand, was man nicht soll“, rekurriert der Schreiber jedenfalls recht unverhüllt auf jene unweiblich scheinenden Ambitionen, die ihm Karoline von Günderode vor Abfassung seines Briefes angedeutet bzw. offenbart haben muss und durch die sie sich von ihren Geschlechtsgenossinnen unterscheidet. Die Empfängerin antwortete zwar auf das Schreiben, doch tat sie dies mit kühler Zurückhaltung und ohne sich von dessen forcierter Leidenschaftsrhetorik provozieren zu lassen. Darauf unternahm Brentano einen weiteren Vorstoß und verfasste einen zweiten Brief, der erkennbare Parallelen mit dem vorangegangenen hat. Allerdings ist die Schreibsituation bei aller Ähnlichkeit auf charakteristische Weise verändert. Abermals ist es früher Morgen, und abermals verortet sich das Ich im Hinblick auf die es umgebende Natur: „Vor wenigen Minuten war es Vier Uhr des Morgens und die Sonne ist so eben aufgegangen, und ich bin aus wunderlichen Träumen von Vorzeit oder Zukunft seit Vier Uhr erwacht, es ist schönes Wetter, der Himmel ist rein, es ist kühl, doch so frisch nicht, das es mir

6.9 Bettine Brentano, Clemens Brentano und Karoline von Günderode 

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auch nur eine Thräne auspreße“ (Brentano 1991, 440). An die Stelle eines „Rausches“ ist eine klare morgendliche Wachheit getreten, denn: „[I]ch bin Gestern früh zu Bett gegangen, habe sieben Stunden geschlafen, ich bin ein gesundes Kind“ (Brentano 1991, 440). Brentanos zweiter Brief ist von Trauer durchdrungen. Mit Bedauern konstatiert er das Scheitern seines Kommunikationsspiels: „[D]u verstehst die unendliche Kinderei nicht, dein Vertrauen ist kein Kind gewesen […] und konnte nicht spielen“ (Brentano 1991, 443). Auch dieses Schreiben beantwortete die Angesprochene, ohne freilich auf die zahlreichen Vorwürfe und Unterstellungen, die es enthält, einzugehen. Darauf verlor Brentano die Lust an seinem Schreibexperiment, und nach nur vier Briefen kam eine Korrespondenz zum Erliegen, ehe sie richtig begonnen hatte. Als Brentano dann den Faden zwei Jahre später wieder aufnahm, sind Ton und Gestus seines Schreibens komplett verändert. Er hatte zwischenzeitlich erfahren, dass der unter dem Pseudonym Tian neu erschienene Band Gedichte und Phantasien (1804) von jener Freundin seiner Schwestern stammte, die er seinerzeit mit seinem alle Normen kommunikativen Anstands bewusst überschreitenden Brief konfrontiert hatte. Nun zeigt er sich hochgradig erstaunt darüber, dass die Frau, die er durch ein Schreibexperiment zu provozieren versucht hatte, selbst literarische Texte verfasste – demnach mit fiktionalen Spielanordnungen vertraut war – und ihm als Kollegin entgegentrat. Am 1. Mai 1804 gesteht er Karoline von Günderode, dass er ihre Texte „mit Entzücken gelesen“ (Brentano 1991, 315) habe, und bittet sie um „Verzeihung“ dafür, dass er sie bis dato falsch eingeschätzt und „nicht […] verstanden“ (Brentano 1991, 316) habe: „[I]ch konnte damals Ihr Herz nicht errathen, Ihr großes schönes Herz, ich erkannte es nur als krank“ (Brentano 1991, 317). Brentanos Schreiben ist ein Reuebrief, in dem er seine frühere „Kränkung“ (Brentano 1991, 317) bedauert. Er erkennt nicht nur die dichterische Leistung seines Gegenübers an, sondern sieht auch eine verwandte Seele in der Briefpartnerin und erhofft sich ihre Freundschaft: „Liebe Caroline sehen Sie mich als ein Wesen an, das Sie versteht, das Ihnen traut, das Sie ehrt, […] sein Sie meine Freundin.“ (Brentano 1991, 317) Zugleich deutet er an, wie er sich den künftigen Austausch denkt, nämlich als Kommunikation zwischen zwei Dichter-Ichs, zwischen „Tian“ (Brentano 1991, 318) und – so darf man konjizieren – „Maria“, dem Decknamen, unter dem Brentanos Roman Godwi herausgekommen war. Zwei auktorial geschaffene Kunstfiguren würden also miteinander in Kontakt treten. Wie eine solche Beziehung aussehen könnte, lässt der Schluss des Briefes erkennen. Hier wechselt Brentano wieder zum vertrauten „Du“, das nun aber als Teil eines literarisierten Rollenspiels erkennbar wird: „[A]ntworte mir bald, du liebe Seele, antworte dem wunderlichen, fantastischen, furchtbaren Menschen, der sich vor sich selbsten fürchtete, den du zu einem Kinde machen kannst“ (Brentano 1991, 319).

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Möglich wurde diese Bitte, weil Brentano mittlerweile verheiratet war und so plausibilisieren konnte, dass er keine erotischen Hintergedanken hatte, die Gefahr eines erneuten epistolaren Übergriffs also nicht mehr bestand. In seinem Folgebrief vom 30.  Mai bezeichnet er sich denn auch als „Eheherr“ (Brentano 1991, 325), erwähnt seine Frau Sophie Mereau und seinen neugeborenen Sohn und drückt die Hoffnung auf ein gemeinsames Treffen aus. Wenige Tage später schrieb Brentano erneut an Günderode. Anlass dafür war diesmal die öffentliche Aufdeckung der Verfasseridentität von „Tian“. Betroffen von der damit verbundenen Kompromittierung, bekräftigt er die Aufrichtigkeit seiner „Gesinnungen“ und erneuert seinen Wunsch nach einem Neuanfang der gemeinsamen Beziehung: „Sie sollen mir wieder Vertrauen lernen“ (Brentano 1991, 327). Damit nicht genug: Er deutet sogar eine künftige Kooperation an und stellt in Aussicht, Günderode „einen Teil“ (Brentano 1991, 327) seines literarischen Rohmaterials zur eigenen Gestaltung zu überlassen. Als Zeichen dafür, wie sehr er ihre dichterische Begabung und besonders ihr „Talent zur Versifikation“ (Brentano 1991, 328) schätze, setzt er sich ausführlich mit einigen ihrer Dichtungen auseinander. Am 15. Juni übersandte er sogar zwei seiner Gedichte. Vier Wochen später kam es zur angekündigten Wiederbegegnung, bei der Karoline von Günderode erstmals auch mit Sophie Mereau zusammentraf. Da sie aber verhalten auf Brentanos Freundschaftsangebot reagierte und die Begeisterung, in die dieser sich im späten Frühjahr hineinzuschreiben begann, nicht teilte, geriet der epistolare Austausch bald erneut ins Stocken. Zwar trafen beide am 4.  August in Heidelberg erneut zusammen, und am Folgetag unternahm Brentano mit Günderode, einem ihrer Brüder, dem Ehepaar Creuzer und einigen Bekannten einen Ausflug nach dem nahegelegenen Stift Neuburg, doch kam der Briefwechsel danach ganz zum Erliegen. Das letzte Korrespondenzzeugnis datiert von November oder Dezember 1805. Es handelt sich dabei um ein Empfehlungsschreiben für einen jungen Dänen, der Karoline von Günderode kennenlernen wollte. Brentano reichert es mit einigen Lektüreempfehlungen an und gibt seiner Briefpartnerin abermals zu verstehen, wie sehr er sie „verehre“ (Brentano 1991, 472). Damit freilich riss der epistolare Kontakt endgültig ab. Es gelang Brentano nicht, das latente Misstrauen, das seine Briefpartnerin von Anfang an hatte, zu zerstreuen. Günderode blieb ihm gegenüber auf Distanz – auch und gerade in ihren Briefen. Ihr Vertrauter und sehr bald auch Geliebter wurde stattdessen Friedrich Creuzer, bei dem Brentano anfangs, als er noch über kein eigenes Quartier in Heidelberg verfügte, gewohnt hatte. Die sich anbahnende Liaison verschwiegen beide ihm offenbar ebenso wie seiner Schwester Bettine. Eine innige Dreieckskommunikation zwischen Günderode und den Brentanos hat demnach nie bestanden.

6.9 Bettine Brentano, Clemens Brentano und Karoline von Günderode 

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4 Karoline von Günderode und Bettine Brentano Auch wenn Karoline von Günderode Bettine Brentano spätestens seit Anfang des Jahres 1801 kannte – in dem ersten Brief, in dem sie erwähnt wird, bittet Günderode ihre Freundin Gunda sogar darum, die kleine Schwester in ihrem Auftrag zu „küssen“ (Günderrode 1992, 74) –, dauerte es doch geraume Zeit, bis sich ein vertrauter Umgang einstellte. Über eine längere Phase hinweg war Bettine nur eine Angehörige des ja überaus großen Brentano’schen Familienverbandes, obendrein eine, die Günderode nicht sonderlich sympathisch war. Sie „wird mir immer unangenehmer“, heißt es unverblümt in einem Brief an Gunda vom 12. Juli 1803. Erst als sich ab Frühjahr 1804 durch die Heirat der Freundin mit Friedrich Carl von Savigny der Kontakt lockerte, begann sich im Gegenzug der Umgang mit Bettine Brentano zu intensivieren. „Als Gunda und Savigny auf der Hochzeitsreise nach Italien waren – Karoline hatte deren Einladung, sie zu begleiten, abgelehnt –, besuchte Bettina Karoline nachweislich zum erstenmal im Stift“ (Becker-Cantarino 2000, 242), und während des von Oktober 1804 bis September 1805 währenden Paris-Aufenthalts der Savignys wurde aus der Bekanntschaft schließlich ein freundschaftliches Verhältnis. Vieles spricht dafür, dass es sich dabei um „eine Art von Zweckbündnis“ gehandelt hat, „da Clemens Brentano frisch verheiratet war, Gunda und Savigny nun nicht mehr in unmittelbarer Nähe, und die Möglichkeiten und der Bewegungsradius für junge unverheiratete Frauen zur damaligen Zeit eher begrenzt waren“ (Kroll 2016, 13). Jedenfalls wurde Karoline von Günderode nun  – wohl auf Betreiben, zumindest aber gefördert von der Familie Brentano – zur „Privatlehrerin“ (Becker-Cantarino 2000, 242) der fünf Jahre jüngeren Bettine, die sie in Geschichte und Philosophie unterrichtete. Diese zeigte sich dankbar und aufgeschlossen gegenüber einer solch persönlichen Form der Anleitung. In einem Brief an ihren Schwager Savigny von Anfang April 1805 charakterisiert sie die Freundin mit den Worten, sie sei ihr, „was die Krücke einem Lahmen“ (Brentano 1942, 30) sei. Der aufschlussreiche Vergleich verdeutlicht noch einmal, dass das Verhältnis der beiden jungen Frauen insgesamt gesehen weit weniger intensiv gewesen sein dürfte, als von der Forschung gemeinhin angenommen. Zur „weiblichen Utopie“ (Frederiksen und Shafi 1986) stilisiert wird es erst in der teilfingierten Quellenedition Die Günderode. Entsprechend überschaubar gestaltet sich auch die Korrespondenz, die auf jene nicht allzu langen Zeitabschnitte beschränkt ist, in denen eine der beiden Frauen sich nicht in Frankfurt aufhielt. Insgesamt sind lediglich „neun originale“ Schreiben „bekannt, darunter vier Briefe Karoline von Günderodes, und fünf Briefe Bettine Brentanos“ (Kroll 2016, 32–33). Im Günderode-Buch finden sich aber nicht weniger als 23 Briefe von Karoline und 37 von Bettine, wobei alle vier

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Originaldokumente Günderodes aufgenommen worden sind, freilich überarbeitet in der für die Autorin Bettine von Arnim charakteristischen Art und Weise (vgl. Oehlke 1905). Hier stilisiert sie das Gegenüber zum ersten Menschen außerhalb ihrer Familie, mit dem sie eine intensive Beziehung verbinde und durch den sie zuallererst erfahren habe, was Freundschaft sei: „[D]er Mensch ist doch nichts als Begehren sich zu fühlen im Andern. Du lieber Gott! eh ich Dich gesehen hatt da wußt ich nichts, da hatt ich schon oft gelesen und gehört, Freund und Freundin, und nicht gedacht, daß das ein ganz neu Leben wär“ (von Arnim 1986, 381). Der Kontakt zu Günderode wird als einzigartig und unwiederholbar beschrieben: „[D]iese Freundschaft, dies Sein mit Dir, konnte nur einmal gedeihen“ (von Arnim 1986, 709). Dementsprechend erscheint die Abwesenheit der Freundin als eine Form von Tod: „Gewiß stirbt der Mensch mehr wie einmal, mit dem Freund der ihn verläßt muß er sterben“ (von Arnim 1986, 860). Gesteigert wird diese – behauptete – Intensität der Freundschaftsbeziehung noch dadurch, dass auch Clemens Brentano in den Austausch einbezogen wird. Immerhin finden sich in zweien seiner mit Karoline von Günderode gewechselten Originalbriefe Hinweise auf Schreiben Bettines. So habe ihm die Schwester mitgeteilt, dass seine Briefe an Günderode ihr „ein Vergnügen gewährt“ (Brentano 1991, 324) und seine „Worte“ ihr „Freude“ (Brentano 1991, 326) gemacht hätten. Bezug nehmend auf solche Erwähnungen erweckte Bettine von Arnim viele Jahre später dann den Anschein, der wechselseitige Briefverkehr sei überaus dicht gewesen. Das Günderode-Buch ist regelrecht durchzogen von Hinweisen auf Mitteilungen des jeweils Dritten. Beispielsweise fordert Karoline Bettine auf: „Schreibe, wenn Du antwortest, auch einen Brief für den Clemens, er mahnt in seinem Schreiben an mich darum“ (von Arnim 1986, 326). Oder sie bittet sie darum, dem Bruder etwas in ihrem Namen auszurichten: „Grüße den Clemens wenn Du schreibst, ich denke daran, ihm zu schreiben, und warte nur den Moment ab, wo mirs wieder leichter ist, damit ich ihm mit gutem Gewissen seinen Unmut und seine Launen vorwerfen kann.“ (von Arnim 1986, 395) In Briefen Bettines wiederum werden Wünsche Karolines erwähnt: „Du willst ich soll dem Clemens mehr schreiben“ (von Arnim 1986, 880). An anderer Stelle ermuntert sie die Freundin, den Austausch mit dem Bruder doch ja aufrecht zu erhalten, auch wenn die Kommunikation manchmal schwierig sei: Dem Clemens hab ich geschrieben, einen langen Brief, und ihm auch von Dir gesagt, daß Du ihm gut bist […] – Heute schreibt er mir den langen Brief über Dich, ich hab doch recht, er hat Dich lieb […] – Du sagtest Du liebst Dich selbst in mir; so lieb Dich doch auch selbst im Clemens […]. Entlasse ihn nicht liebe Günderode, kämpf Dich mit ihm durch, der die Idee in sich trägt die Du ihm zumutest (von Arnim 1986, 877–879).

6.9 Bettine Brentano, Clemens Brentano und Karoline von Günderode 

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Dies geht zuweilen so weit, dass das Abfassen eines Briefes in Anwesenheit bzw. unter Aufsicht des Dritten vonstatten geht. In einer Mitteilung Bettines an die Freundin etwa ist zu lesen: „Günderödchen, der Clemens läßt Dich tausendmal grüßen. Ich muß es zuerst schreiben, denn er steht hinter mir und zwingt mich dazu“ (von Arnim 1986, 568). Auf diese Weise gelingt es der auktorialen Editorin Bettine von Arnim, glaubwürdig zu suggerieren, dass sie, Karoline von Günderode und Clemens Brentano beim Korrespondieren ständig auch an den jeweils nicht unmittelbar Beteiligten gedacht hätten – eine Illusion, die schließlich den Mythos von der vertrauten Dreierkorrespondenz erzeugte.

5 Die Entdeckung „ästhetischer Subjektivität“ Den hier in den Blick genommenen Personen kommt aber auch insofern eine herausgehobene Rolle in der Geschichte epistolarer Kommunikation zu, als zwei von ihnen zu Kronzeugen eines historisch neuartigen ästhetischen Phänomens erklärt worden sind. Karl Heinz Bohrer hat in seiner Studie Der romantische Brief die These entwickelt, dass bei Heinrich von Kleist, Clemens Brentano und Karoline von Günderode die „Selbstreflexion des romantischen Briefes“ (Bohrer 1987, 8) bis zur „Radikalisierung der ‚Selbstreferenz‘“ (Bohrer 1987, 41) getrieben sei – mit dem Ergebnis, dass sich der „Status der Rede von sich selbst“ (Bohrer 1987, 62) signifikant verändere: „Dieser ästhetische Status bekommt in einigen Briefen […] eine solche Autonomie, daß dabei zwei Kontinuitätsmerkmale der Briefgattung bis zur Auflösung hin zurücktreten: der Bezug auf den anderen und die Selbstmitteilung als Wiederholung bzw. Abbildung eines authentischen ‚Gefühls‘ oder ‚Gedankens‘“ (Bohrer 1987, 214). Mit der Verselbstständigung des epistolar Versprachlichten einher gehe eine „ästhetische Verfremdung des Subjekts“ (Bohrer 1987, 211). Briefe seien nun „nicht mehr als Mimesis eines jeweiligen psychisch-mentalen Zustands zu verstehen“ (Bohrer 1987, 217). Stattdessen finde eine „Überlagerung des autobiographischen Ichs durch ein […] imaginiertes Ich“ (Bohrer 1987, 224) statt, was schließlich eine dauerhafte „Differenz zwischen autobiographischem und imaginiertem Ich“ (Bohrer 1987, 224) etabliere, die als Emergenz einer spezifisch „ästhetischen Subjektivität“ (so der Untertitel von Bohrers Studie) gedeutet werden müsse. Bohrers Postulat schärft die Wahrnehmung für grundlegende Veränderungen, die nach 1800 in Redegestus und Funktionsweise von Dichterbriefen zu beobachten sind. Während das Mitteilungssubstrat immer mehr an Bedeutung verliert und der Adressatenbezug u.  U. ganz hinter projektiven Phantasmen zurücktritt, werden die „hochgradig ästhetisch konstruierten Briefe“ (Bohrer

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1987, 13) immer artifizieller. Diese Entwicklung ist allerdings – das ist gegen Bohrer einzuwenden  – kein die gesamte Briefkultur durchziehender Prozess, sondern bleibt auf einen quantitativ sehr kleinen Teil von Verfasser*innen beschränkt. Da er aber mit Verfahrensweisen ästhetischer Texte in der Moderne parallel geht, muss er als Zeichen einer prinzipiellen Zäsur in der Geschichte epistolar basierter Kommunikation ernst genommen werden. Im Grunde differenziert sich die Schriftkultur weiter aus: Der lebensweltliche, nichtfiktionale Brief kann von nun an auch alle Gestaltungsmittel ästhetischer Texte nutzen, ohne seinen sozial akzeptierten und institutionalisierten Status als Mittel zwischenmenschlichen Austauschs aufzugeben. Gerade diese Doppelfunktion lässt ihn in der Folgezeit zum Experimentierfeld avancierter Autor*innen werden. Doch nicht nur bei Clemens Brentano und Karoline von Günderode finden sich neben artifiziell verspiegelten Textgebilden, die sich ohne das Konzept „ästhetischer Subjektivität“ kaum mehr sinnvoll begreifen lassen, auch weiterhin Briefe, die den Mitteilungskonventionen und sozialen Normen herkömmlicher epistolarer Kommunikation entsprechen. Nachhaltig irritierend ist vor allem das Nebeneinander beider Brieftypen, die sich von ihrer Verfahrenslogik her auszuschließen scheinen. Bettine Brentano/von Arnim scheint auf den ersten Blick nicht in die Geschichte „ästhetischer Subjektivität“ im Medium Brief zu gehören – Bohrer hat sich in seiner Monographie deshalb auch nicht mit ihr beschäftigt. Und tatsächlich wird man die radikalen, aber eben auch häufig plakativen Selbstinfrage­ stellungsgesten des Bruders oder der Freundin kaum bei ihr finden. In der konsequent projektiven ästhetischen Erschaffung eines Gegenübers bei gleichzeitiger Monologisierung des eigenen Sprechens indes steht Bettine Brentano/von Arnim den beiden Kolleg*innen in nichts nach. Auch sie lässt ihr autobiographisches Ich hinter „Rollen“ und „Masken“ (Bohrer 1987, 244) verschwinden und entzieht es dem Authentizitätsdiskurs. Auch sie fingiert Aufrichtigkeit nur noch und erzeugt mit ästhetischen Mitteln eine Illusion subjektiv-psychologischer Glaubhaftigkeit. Bedenkt man zudem, in welch hohem Maß Bettine Brentano/von Arnim zeitlebens Briefkommunikation mit Fiktionsverträgen verkoppelt hat (vgl. Bunzel 2001, 2019), dann müssen auch ihre ästhetisch-sozialen Simulationen als – wenngleich eigenwillige  – Ausprägungsformen eines „spezifisch ästhetisch-literarischen Status“ (Bohrer 1987, 214) von Briefen anerkannt und beschrieben werden, die schließlich die Substituierung des sozial verankerten lebensweltlichen Ichs durch ein ästhetisches Ich-Konstrukt betreiben.

6.9 Bettine Brentano, Clemens Brentano und Karoline von Günderode 

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Zitierte Literatur Arnim, Bettine von (1986). Werke und Briefe in vier Bänden. Hg. v. Walter Schmitz u. Sibylle von Steinsdorff. Bd. 1: Clemens Brentano’s Frühlingskranz, Die Günderode. Frankfurt a. M. Bascoy Lamelas, Montserrat (2018). Bettina von Arnims Günderode-Roman. Der Mythisierungsprozess der Günderode-Figur als weibliches romantisches Projekt. Tübingen [Diss. Universidade de Santiago de Compostela 2007 unter dem Titel FreundIN, MeisterIN, DichterIN. Bettina von Arnim und die Konstruktion des Günderrode-Mythos in ihrem Roman Die Günderode (1840)]. Becker-Cantarino, Barbara (2000). Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche – Werke – Wirkung. München. Bohrer, Karl Heinz (1989). Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. Frankfurt a. M. Brentano, Bettine (1942). Die Andacht zum Menschenbild. Unbekannte Briefe von Bettine Brentano. Hg. v. Wilhelm Schellberg u. Friedrich Fuchs. Jena. Brentano, Clemens (1990). Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hg. v. Jürgen Behrens, Konrad Feilchenfeldt, Wolfgang Frühwald, Christoph Perels u. Hartwig Schultz. Bd. 30: Briefe II. Hg. v. Lieselotte Kinskofer. Stuttgart u.  a. Brentano, Clemens (1991). Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hg. v. Jürgen Behrens, Konrad Feilchenfeldt, Wolfgang Frühwald, Christoph Perels u. Hartwig Schultz. Bd. 31: Briefe III. Hg. v. Lieselotte Kinskofer. Stuttgart u.  a. Bunzel, Wolfgang (2001). „Ver-Öffentlichung des Privaten. Typen und Funktionen epistolarischen Schreibens bei Bettine von Arnim“, in: Briefkultur im Vormärz. Vorträge der Tagung des Forum Vormärz Forschung und der Heinrich-Heine-Gesellschaft am 23. Oktober 1999 in Düsseldorf. Hg. v. Bernd Füllner. Bielefeld: 41–96. Bunzel, Wolfgang (2015). „Bis(s) zum Morgengrauen. Clemens Brentanos erster Brief an Karoline von Günderrode – Kontext, Funktion, Materialität“, in: Romantik kontrovers. Ein Debattenparcours zum zwanzigjährigen Jubiläum der Stiftung für Romantikforschung. Hg. v. Gerhart von Graevenitz, Walter Hinderer, Gerhard Neumann, Günter Oesterle u. Dagmar von Wietersheim. Würzburg: 229–244. Bunzel, Wolfgang (2020). „Die Briefwechsel“, in: Bettina von Arnim Handbuch. Hg. v. Barbara Becker-Cantarino. Berlin u. Boston: 494–548. Frederiksen, Elke u. Monika Shafi (1986). „‚Sich im Unbekannten suchen gehen‘. Bettina von Arnims ‚Die Günderode‘ als weibliche Utopie“, in: Akten des 7. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985. Kontroversen, alte und neue. Hg. v. Albrecht Schöne. Bd. 6: Frauensprache – Frauenliteratur? Für und Wider einer Psychoanalyse literarischer Werke. Hg. v. Inge Stephan u. Carl Pietzcker. Tübingen: 54–61. Günderrode, Karoline von (1992). „Ich sende Dir ein zärtliches Pfand“. Die Briefe der Karoline von Günderrode. Hg. v. Birgit Weißenborn. Frankfurt a. M. u. Leipzig. Henrici, Karl Ernst (1929). Bettine von Arnim. Literarisches und Politisches aus ihrem handschriftlichen Nachlaß. Versteigerungskatalog Nr. 148. Berlin. Hilger, Stephanie M. (2009). Women Write Back. Strategies of Response and the Dynamics of European Literary Culture, 1790–1805. Amsterdam u. New York. Hock, Lisabeth M. (2001). Replicas of a Female Prometheus. The Textual Personae of Bettine von Arnim. New York u.  a.

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Krimmer, Elisabeth (2000). „Bettina and Louise: Gender Constructions in Bettina Brentano-von Arnim’s Clemens Brentanos Frühlingskranz“, in: Conquering Women: Women and War in the German Cultural Imagination. Hg. v. Hilary Collier Sy-Quia u. Susanne Baackmann. Berkeley: 156–176. Kroll, Irmgard (2016). Zwischen Andenkenstiftung und Selbstinszenierung. Zur Formung der „Günderode“-Figur in Bettine von Arnims gleichnamigem Briefbuch. Masterarbeit. GoetheUniversität Frankfurt am Main (Comp.). Frankfurt a. M. Oehlke, Waldemar (1905). Bettina von Arnims Briefromane. Berlin.

Jana Kittelmann

6.10 Hermann Fürst von Pückler-Muskau Hermann Fürst von Pückler-Muskau (1785–1871) gehört zu den zentralen Figuren der Briefkultur des 19. Jahrhunderts. Bekannt als genialer Gartenkünstler und erfolgreicher Reiseschriftsteller war Pückler-Muskau zugleich täglicher Verfasser und Empfänger von unzähligen Briefen. Korrespondenzen bestimmten seinen Alltag, seinen Tagesablauf, seine Reisen, seine Gedanken, seine literarischen und landschaftsgestalterischen Werke. Pückler nutzte Briefe intensiv als Medien des Austauschs, der Berichterstattung, der Selbstreflexion und -inszenierung, als Ideenspeicher, literarisches Übungsfeld oder als semantischen Flirt- und Liebesraum. Schon seine Biographin und Nachlassverwalterin Ludmilla Assing, Nichte von Pücklers langjährigem Freund und Briefpartner Karl August Varnhagen von Ense, wies auf die „Vielseitigkeit und Originalität“ (Assing-Grimelli 1873, Bd. 1, 1) der Korrespondenzen des Fürsten hin. In der Tat hat Pückler-Muskau mit über fünfhundert Personen korrespondiert. Die Liste seiner Briefpartner und -partnerinnen liest sich wie das Who’s who des 19. Jahrhunderts. Darunter sind Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Alexander von Humboldt, Rahel und Karl August Varnhagen von Ense, Bettina von Arnim, die spätere Kaiserin Augusta, Heinrich Laube, Peter Joseph Lenné, Fanny Lewald, Karl Friedrich Schinkel und viele mehr. Literat*innen und Verleger, Kunsthistoriker und Bildende Künstler, Förster und Fürsten, Konservative und Revolutionäre, Familienmitglieder und Angehörige der europäischen Adelshäuser, Naturwissenschaftler und Gärtner finden sich in Pücklers Korrespondenzen zu einem illustren Briefpanorama zusammen. Umso mehr überrascht es, dass Pückler in der Briefforschung bis heute eine Randfigur geblieben ist. Das Feld der wissenschaftlichen und editorischen Beschäftigung mit Pückler-Muskaus Briefwerk ist karg bestellt, bis heute liegt keine wissenschaftliche Gesamtausgabe seiner Briefe vor. Ludmilla Assings in den Jahren 1873 bis 1876 Aus dem Nachlass des Fürsten Pückler herausgegebene neun Bände sind immer noch die Hauptquelle unserer Kenntnis seiner Korrespondenzen (vgl. Pückler-Muskau 1873–1876). Assings Editionspraxis hält allerdings heutigen philologischen und editionswissenschaftlichen Standards nicht mehr stand. Zudem verfolgte Assing keinen Anspruch auf Vollständigkeit; zahlreiche Korrespondenzen des Fürsten blieben von ihr gänzlich unbeachtet. Und doch prägte Assings Edition die Beschäftigung mit Pückler-Muskaus Briefwerk nachhaltig, so ist das überlieferte Bild dieses Briefschreibers nicht zuletzt das seiner Editorin und Biographin. Wer ihn kennenlernen will, muss in die Biblioteka Jagiellońska nach Krakau reisen. Hier befindet sich der Hauptnachlass des Fürsten in der Sammlung Varnhttps://doi.org/10.1515/9783110376531-093

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hagen, die seit 1881 im Besitz der Königlichen Bibliothek (heute Staatsbibliothek zu Berlin) war und während des Zweiten Weltkriegs nach Schlesien ausgelagert wurde (vgl. Gatter 2000; Voigt 1997). Erst in den 1970er Jahren wurde der Standort der lange Zeit verschollen geglaubten Sammlung und mit ihr der über fünfzig Archivkästen und mehrere zehntausend Blatt umfassende schriftliche Nachlass des Fürsten Pückler bekannt und sukzessive zugänglich gemacht.

1 Materialdepot und Ideenspeicher Die überlieferten Handschriften zeigen, dass Pücklers Briefe nicht nur der Übermittlung von Informationen dienten, sondern darüber hinaus als Materialdepot und Ideenreservoir fungierten. Pückler, der seine ‚wendischen Staaten‘ nur zu gern gegen die große Welt eintauschte, war viel auf Reisen und schrieb zahlreiche Briefe an die Daheimgebliebenen, insbesondere an seine ‚Wahlverwandte‘ und Lebenspartnerin Lucie von Pückler-Muskau (geb. von Hardenberg, 1776–1854), mit der er nach der gerichtlich vollzogenen Scheidung im Jahr 1826 weiterhin zusammenlebte und unter anderem auf dem Gebiet der Landschaftsgestaltung wirkte (vgl. Kittelmann 2013, 2016). Pückler entwickelte in seinen Briefen eine eigene epistolare Mischung aus Bericht, Beschreibung, Illustration und Selbstreflexion bzw. -inszenierung. Seine Briefe bieten exklusive Einblicke in die aristokratische Welt, sie kommentieren die Politik, Gesellschaft, Kultur, Bildende Kunst und das Theater der Zeit und behalten doch stets ihren zutiefst privaten Charakter. Darauf deutet die Materialität von Pücklers handschriftlichen Briefen hin, die in den bisherigen Editionen philologisch unterrepräsentiert oder gar gänzlich unbeachtet (vgl. Hübener 2015) blieb. Ein stringenter Aufbau mit regelmäßigen Zeilenabständen, breiten Rändern oder Absätzen ist für die Pücklerʼschen Autographen kaum nachweisbar. Mit seiner großen und raumgreifenden Handschrift kultiviert Pückler eine Mischung aus Intimität und Nachlässigkeit, die allerdings weniger auf eine Geringschätzung der Adressatin Lucie als auf die impulsive Schreibweise und Persönlichkeit des Verfassers schließen lässt. Die am Tag und noch häufiger in der Nacht bei Kerzenschein, zum Teil in der Kutsche, auf holprigen Wegen in ganz Europa und im Orient verfassten Briefe sind von Pückler meist nicht noch einmal abgeschrieben oder gar durchgesehen worden. Streichungen oder unleserliche Passagen blieben im Schriftbild erhalten. Liest man Pücklers Handschriften mit Alois Hahn als „Körpersprache“ (Hahn 2000, 367) und materielle Botschaft, so artikuliert sich hierin eine im epistolaren Raum beibehaltene und noch gesteigerte Vertrautheit mit Lucie, die jegliches Korrekturverfahren überflüssig erscheinen lässt. Pückler

6.10 Hermann Fürst von Pückler-Muskau 

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pflegt auf der epistolaren Ebene eine eigene vertraute Sprache und einen nach seinen Regeln und Strukturen funktionierenden Kommunikationsraum. Sprachliche Grenzen versucht er, per Brief zu überwinden: „In der Tat, nach dem Vergnügen von Dir zu hören, habe ich nur noch eines – dir zu schreiben. Fahre nur fort so ganz zwanglos deinen Gefühlen Wort zu geben und schone auch die meinigen nicht“, heißt es in einem Brief aus dem Jahr 1826 an die Fürstin Lucie aus Dresden (Kittelmann 2010, 35). In seinen privaten Briefen folgt Pückler ganz und gar der ungezwungenen Niederschrift seiner Eindrücke und Erlebnisse. Er wollte berichten, informieren, darstellen, empfinden, veranschaulichen und sichtbar machen. Diesem Anspruch folgte Pückler nahezu täglich, das kontinuierliche Briefschreiben kann dabei auch als ein Abwehrversuch, als ein Mittel der „rhetorischen Abschirmung“ (Blumenberg 1981, 119) gegen einen möglichen Identitätsverlust in der Fremde gedeutet werden. Die von Pückler angestrebte Visualisierung und Veranschaulichung des Erlebten schlägt sich in zahlreichen Skizzen, Zeichnungen und Plänen nieder, die in seine Briefe integriert oder als Beigaben erhalten sind. Diese Zeichnungen sind ein elementarer Bestandteil der Pücklerʼschen Epistolographie. Insbesondere die während seiner mehrjährigen Englandreise (Pückler wollte hier ursprünglich eine reiche Erbin als Ehefrau finden, verlor sich aber schnell in Exkursionen durch die englischen Gärten) entstandenen Dokumente erweisen sich als ein mit Zeichnungen von Parkanlagen, Architekturen, Staffagen, Wohninterieurs, Livrées, Kostümen, Kutschen, Pflanzen und Beeten angefülltes briefliches Materialdepot, das der Fürstin Lucie einerseits das Nacherleben der Eindrücke ermöglichen und zugleich Ideen für die Gestaltung der eigenen Anlage in Muskau konservieren und transponieren sollte. Die konsequente Illustration wird begleitet von einer minutiösen und äußerst detailgenauen Darstellung, die möglichst alle Erlebnisse umfassen sollte. Dementsprechend umfangreich sind Pücklers Briefe, die zeitweilig bis zu dreißig Blatt umfassen. Zahlreiche handschriftliche Notizen Lucies in den Briefen Pücklers zeigen, dass das Fürstenpaar auf diese Weise seinen Dialog weiterführte. Diese Spuren der Fürstin in den Briefen sind nicht zuletzt deswegen so bedeutend, weil ein Großteil ihrer Briefe als verloren gelten muss. Vermutlich hat Pückler die Briefe auf ihren eigenen Wunsch hin vernichtet. Pückler-Muskaus Briefe konservieren Ideen und sind daher als Vorstufen poetischer Artikulation lesbar. Sie bilden den Grundstock für seine literarischen Werke, wie die äußerst erfolgreichen Briefe eines Verstorbenen (1830) oder das bis heute in Fachkreisen anerkannte Standardwerk Andeutungen über Landschaftsgärtnerei (1834). Dieser Literarisierung und publizistischen ‚Weiterverwertung‘ der Briefe kommt entgegen, dass das hier versammelte Material nicht nur von dem Erlebnis- und Gestaltungswillen des fürstlichen Reisenden, ‚Parkomanen‘

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und „Erdbändigers“ (Rahel Levin Varnhagen, zit. n. Assing-Grimelli 1873, Bd. 1, 246) zeugt, sondern zugleich als Protokoll seiner Gefühle, Empfindungen und Stimmungen lesbar ist. Bei all ihrer Mitteilungs- und Darstellungsfülle offenbaren sich Pücklers Briefe zugleich als Medien der Selbstreflexion und Selbstbespiegelung. Innere und äußere Wahrnehmung gehen eine untrennbare Symbiose ein. Darüber hinaus beförderte der tagebuchartige und monologische Charakter der Briefe deren Literarisierung und trug erheblich zum Erfolg des Schriftstellers Pückler-Muskau bei.

2 Literarisierte Briefe Der Schriftsteller Pückler-Muskau ging aus dem Briefschreiber hervor. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen, beruhen doch die meisten – und nicht zuletzt die populärsten – von Pücklers Werken auf dessen privaten Briefen. Die Briefe an die Fürstin Lucie bildeten die Grundlage von Publikumserfolgen wie Briefe eines Verstorbenen oder Semilassos vorletzter Weltgang. Dass sich der Autor Pückler vornehmlich der epistolaren Gattung bediente, liegt daran, dass der Brief das wesentliche Kommunikationsfeld des Fürsten darstellte. Hier agierte er von frühester Jugend an äußerst talentiert und versiert. Mit dem permanenten Rückzug in das Medium Brief ist bei Pückler zugleich der Abgesang auf den eigenen Stand verbunden. Pückler inszeniert sich als einer der letzten Vertreter*innen einer aristokratischen Briefkultur, die bei ihm bis auf Madame de Sévigné zurückgeht (vgl. Kittelmann 2012). Die berühmte Épistolière der französischen Klassik ist sein großes Vorbild, seine ‚Ahnfrauʻ, mit der er die ritualisierte Beschwörung eines gemeinsamen adligen Weltbildes sowie Bildungsund Empfindungskanons teilt. Die Teilnahme an Festivitäten, die Gestaltung von Gartenanlagen, Tage voller Müßiggang, Salonbesuche, Lektüren, stilistische Innovationen, die sich in einer betonten Nachlässigkeit äußern, sowie die melancholische Selbstbeobachtung sind Anzeichen dieser epistolaren Tradition, in die sich Pückler stellt und die bei ihm zugleich als Ausdruck einer brieflichen Abkehr von der äußeren Welt hin zur Poesie erscheint. In Pücklers Andeutungen über Landschaftsgärtnerei heißt es dazu: „Laßt dem armen ausgedienten Adel seine Poesie, das einzige, was ihm übrig bleibt.“ (Pückler-Muskau 1834, 178) Karl Gutzkows Urteil über Pückler als „barocken Charakter, in welchem sich der Dandy mit dem Fuchsjäger vermählt“ (Gutzkow 1839, 52), beruht im Wesentlichen auf Pücklers Selbstdarstellung in seinen literarisierten Briefen, in denen er sein Wissen um die Endlichkeit und den Niedergang der Aristokratie oft und genüsslich inszeniert.

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Die Gegenüberstellung von Originalbriefen und literarisierten Briefen erweist sich als reizvoll und für das Verständnis des Briefschreibers und Schriftstellers Pückler äußerst ergiebig (vgl. Kittelmann 2010). Der Abgleich der Briefe aus England mit den daraus hervorgegangenen Briefen eines Verstorbenen – der Titel ist vermutlich eine Reminiszenz an Wielands Briefe von Verstorbenen  – dokumentiert einen umfangreichen Prozess der Ästhetisierung, Fiktionalisierung, Poetisierung und schließlich der Neuinterpretation der privatbrieflich überlieferten Erlebnisse (vgl. Kittelmann 2010). Pückler, der durch die Fürstin Lucie und das befreundete Ehepaar Varnhagen von Ense zur Veröffentlichung seiner Briefe angeregt worden war, unterzog diese einer tiefgreifenden Redaktion. Er orientierte sich dabei an etablierten Wahrnehmungs- und Darstellungsmustern aus der Reiseliteratur. Die Bedürfnisse und der Erwartungshorizont des Publikums wurden ausdrücklich mitgedacht, und die intime briefliche Artikulationsebene wurde zunehmend zugunsten einer wirkungsästhetischen Intention und Durchformung der Briefe aufgelöst. Die Eingriffe betreffen alle Ebenen der Briefe und

Abb. 1: Detaillierter Parkplan von Audley End in einem Brief an die Fürstin Lucie, Biblioteka Jagiellońska Kraków, Sammlung Varnhagen, V 163, Blatt 128.

äußern sich in sprachlicher, stilistischer und inhaltlicher Form. Beispielsweise wird aus der als wenig ansehnlich beschriebenen Gartenanlage von Audley End eine bukolische und arkadische Landschaft, bei deren Inszenierung Pückler alle Register der zeitgenössischen Landschaftsbeschreibung zieht. Der Garten, in dem ihm vieles nicht passt und in dessen tiefen Pfützen er beinahe zu versinken droht, erscheint in der literarisierten Fassung als idyllisches Landschaftsgemälde im Stil Claude Lorrains. Von Begleitlektüren, wie etwa Walter Scotts Kenilworth, das der ‚Verstorbene‘ während seines Besuches in der gleichnamigen Ruine liest, ist in den Originalbriefen keine Rede. Ebenso erweist sich die Selbstinszenierung des Verfassers als Dandy, der bei Champagner und Austern in Richmond über Hegel, Kant oder saint-simonistische Ideen reflektiert, als Resultat des Redaktionsprozesses. Erst in den bearbeiteten Briefen wird aus dem Fürsten, dessen Alltag in den Originalbriefen nicht selten als trist empfunden und beschrieben wird, die literarische Figur eines erotisch anziehenden Abenteurers und romantischen Müßiggängers.

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Zugleich zeigt die Gegenüberstellung von originalem und literarisiertem Brief, wie fließend die Grenzen zwischen Authentizität und Fiktion, zwischen einem täglich genutzten Gebrauchstext und einer epistolaren Wahrnehmungsweise mit literarischer Qualität in Pücklers Briefwerk sind. Die Literarisierung gelingt deswegen, weil vieles in den privaten Briefen bereits angelegt ist und zahlreichen Darstellungen ästhetische, literarische und auch öffentlichkeitswirksame Qualitäten innewohnen.

3 Epistolare Inszenierungspraktiken und Rollenkonstellationen Das ständige Oszillieren zwischen Authentizität und Fiktion sowie der Hang zur Selbstinszenierung und Imagination ist auch in Pücklers Korrespondenzen spürbar, die ursprünglich nicht für die Veröffentlichung vorgesehen waren. Insbesondere im Austausch mit Korrespondenzpartnerinnen wie Bettina von Arnim, Ada von Treskow oder Ida Hahn-Hahn erprobte Pückler verschiedene Rollenkonstellationen und wandte zahlreiche epistolare Inszenierungspraktiken an. Im mündlichen Austausch und in Briefen an Varnhagen von Ense, Goethe, Alexander von Humboldt oder Heinrich Heine zeigte sich Pückler meist freundschaftlich, inter­essiert, bewundernd, generös und dabei zurückhaltend. Nach einem Zusammentreffen im Staegemannschen Salon schrieb Rahel Levin Varnhagen in ihr Tagebuch: „Graf Pückler war dort, ich fand ihn klug, gesammelt, gehalten: und traurig.“ (Assing-Grimelli 1873, 34) Rahel Varnhagen, der Pückler zeitlebens große Bewunderung entgegenbrachte und mit der ihn eine tiefe Freundschaft verband, ist eine der wenigen Frauen, die vor seinen epistolaren Rollenspielen sicher war. Meist schöpfte Pückler im Dialog mit Schreiberinnen die Möglichkeiten brieflicher Kommunikation und Inszenierung voll aus und ließ seiner und der (dichterischen) Phantasie seiner Briefpartnerin freien Lauf. In Briefen an die Schriftstellerin und Orientreisende Ida Hahn-Hahn bezeichnete sich Pückler als „Kind der Phantasie“, als „geborenen Komödianten“, als von Blüte zu Blüte taumelnden „Schmetterling“ und als „Chamäleon“, das beliebig die Farbe wechseln könne (Stobbe 2015a, 138). Hahn-Hahn ihrerseits sah in Pückler einen „Wandelstern“ und kam mit dieser Einschätzung wohl nicht nur seiner Persönlichkeit, sondern auch seinem Briefstil sehr nahe. In der Tat konnte der Briefschreiber Pückler zugleich galant, fordernd, zurückweisend, liebevoll, devot, dominant und verletzend sein. Phantasiereich und kreativ wies er sich und seiner Korrespondenzpartnerin eine bestimmte Rolle und damit verbundene Kommunikationsmuster zu. In der Korrespondenz

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mit der Fürstin Lucie etwa wird diese als „Schnucke“ bezeichnet, während sich Pückler „Lou“ (abgeleitet von Lupus) nennt. Die sich in den Kosenamen ausdrückende Konstellation „Schaf“ – „Wolf“ ist für den sprachlichen und inhaltlichen Duktus der Briefe nicht unerheblich. Tatsächlich taucht Lucie in ihren – freilich nur wenigen überlieferten – Briefen meist als duldsame Gefährtin auf, die unter Pücklers Abenteuerlust und Eskapaden leidet. „Von tausend Befürchtungen ewig bewegt zu sein ist nun einmal mein Schicksal“, schrieb sie 1836 an ihre Tochter Adelheid von Carolath-Beuthen, während Pückler im Orient herumreiste und Lucie sehnsüchtig auf Briefe von ihm wartete (Kittelmann 2016, 143). Der mehr als tausend Dokumente umfassende Briefwechsel der Fürstin Lucie mit ihrer Tochter folgte den Rollenspielen des Fürsten und nahm dessen verschiedene Identitäten in die interne Kommunikation bereitwillig auf. Pückler wird hier nicht nur als „Lou“, sondern zugleich als „Garten-Genie“, romantischer Wanderer und „Wahlverwandter“ beschrieben und nicht selten mit seinen literarischen Pseudonymen „Semilasso“ oder der „Verstorbene“ bezeichnet. Die enge Verwebung von Realität und Imagination beeinflusste demnach auch das epistolare Umfeld des Fürsten (vgl. Kittelmann 2013, 50). Als spannungsgeladen und von enormer poetischer Brisanz offenbart sich Pücklers Briefwechsel mit Bettina von Arnim. Die Witwe Achim von Arnims lernte den Fürsten im Todesjahr Goethes im Salon der Varnhagens kennen und schloss bald darauf „eine Art Seelenbund, halb im frivolen Scherz, halb im tiefern Ernst“ (BW 2001, 249) mit ihm. Bettina, die Pückler ihr literarisches Debüt Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (1833) widmete, stand vor allem in den Jahren 1832 bis 1834 in einem engen brieflichen Kontakt mit dem Fürsten. Die 145 überlieferten Schreiben Bettinas und Pücklers bilden eine der „ungewöhnlichsten und bizarrsten Korrespondenzen des 19.  Jahrhunderts“ (Bunzel 2015, 15). Entgegen dem üblichen brieflichen Austausch, der durchaus das Weiterreichen und Mitlesen von Informationen durch Dritte einschloss, gingen die beiden einen „epistolaren Pakt“ (Bunzel 2015, 15) ein, der die bedingungslose Vertrautheit und die Abkehr von der Außenwelt sowie die „Hermetisierung und Intimisierung“ (Bunzel 2015, 17) der Kommunikation voraussetzte. Daraus resultierten unterschiedliche epistolare Rollenspiele, auf die sich Pückler und Bettina einließen und die zuweilen die Umkehr realer Geschlechterrollen beinhalteten. So bezeichnet sich Pückler einmal als „empfänglichen“ Geist, redet Bettina mit „lieber Mann“ an und betont: „Sie sind das männliche Prinzip in unserem Verhältnis, ich das weibliche. […] Ich mache es mir bequem, denn ich habe als Weib mehr Verstand als Sie, wenngleich weniger Geist, ich darf Launen haben und inconsequent sein“ (BW 2001, 87). Zum „inszenatorischen Kernelement“ (Bunzel 2015, 19) der Korrespondenz wird schließlich die Rollenkonstellation von passivem „Sultan“ und aktiver „Sclavin“ (Bunzel 2015, 19), wobei Pückler Bettina wiederholt daran erinnert, dass sie

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dienen lernen müsse (BW 2001, 81) und dass er keinen „Schrei der Leidenschaft“ (BW 2001, 81) von ihr hören wolle. Mit dem stürmischen Wesen und dem erzieherischen Anliegen seines Gegenübers hatte Pückler Schwierigkeiten und wollte sich „als kaltblütige Eidechse […] mit diamantnen Augen“ aus den Händen Bettinas „immerfort“ flüchten (BW 2001, 81). Das Unberechenbare und Unkontrollierbare der „schauspielerischen Bettina“ (BW 2001, 112) reizte Pückler und schreckte ihn zugleich ab. Als Bettina die imaginäre Ebene des Briefwechsels verließ und ihn in der realen Welt seines Muskauer Schlosses aufsuchte, zog er sich verstört zurück. Verschleiert war Bettina durch den Muskauer Park spaziert und hatte vergeblich auf den Fürsten gewartet. Ihr Versuch, aus den Rollenspielen der Briefe eine Beziehung im wirklichen Leben aufzubauen, scheiterte kläglich. Nach der „Bataille von Muskau“ schrieb Pückler: „Beste Bettina. Nicht überspannt wenn ich bitten darf“ (BW 2001, 238) und löste den epistolaren Pakt nach einem kurzen weiteren Versuch der gegenseitigen brieflichen Annäherung schließlich auf. Knapp dreißig Jahre später ließ sich der mittlerweile 75-jährige Pückler auf eine erotisch aufgeladene Korrespondenz mit der jungen Schriftstellerin Ada von Treskow ein. Im Dialog mit der Adligen, die Zeitschriftenbeiträge, Gedichte, Novellen und Romane publizierte, lebte Pückler seine epistolare Meisterschaft und galante Kommunikation noch einmal voll aus. Ähnlich wie in der Korrespondenz mit Bettina von Arnim entspinnt sich ein von der Außenwelt abgeschirmtes Spiel mit verschiedenen Rollen, in dem sich die Briefpartner mit „Sclavin“, „feurige Gnomin“, „Biondetta“, „Pascha“ oder „Günther“ (in Anspielung auf Treskows Pseudonym Günther von Freiberg) anreden (Stobbe 2015a, 141). Als epistolarer Mentor unterstützt Pückler Treskow in deren schriftstellerischen Ambitionen und fördert deren dichterische Phantasie und Ausdruckskraft per Brief. Die Einladung, verkleidet in Pücklers Branitzer „Zauberschloß“ zu erscheinen, schlägt Ada von Treskow allerdings aus (Stobbe 2015a, 144). Bis zum Tode Pückler-Muskaus im Jahr 1871 begegneten sich die beiden allein im imaginären Raum ihrer Briefe. Der Briefwechsel mit Treskow ist ein weiteres Kapitel in dem an Facetten, Inhalten, Themen und Rollenspielen reichen Briefwerk des Fürsten Pückler-Muskau, das es weiter zu erforschen gilt.

Zitierte Literatur Arnim, Bettine von u. Hermann von Pückler-Muskau (2001). Die Leidenschaft ist der Schlüssel zur Welt. Der Briefwechsel zwischen Bettina von Arnim und Hermann von Pückler-Muskau. Hg. v. Enid u. Bernhard Gajek. Stuttgart. [BW] Assing-Grimelli, Ludmilla (1873). Fürst Hermann von Pückler-Muskau. Eine Biographie. 2 Bde. Hamburg.

6.10 Hermann Fürst von Pückler-Muskau 

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Blumenberg, Hans (1981). „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“, in: Ders. Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart: 104–136. Bunzel, Wolfgang (2015). „Der epistolare Pakt. Zum Briefwechsel zwischen Bettine von Arnim und Hermann Fürst von Pückler-Muskau“, in: Briefnetzwerke um Hermann von PücklerMuskau. Hg. v. Jana Kittelmann. Dresden: 15–27. Gatter, Nikolas (2000). „‚sie ist vor allem die meine‘. Die Sammlung Varnhagen bis zu ihrer Katalogisierung, Anhang: Die Sammlung Varnhagen in Testamenten und Verfügungen“, in: Wenn die Geschichte um eine Ecke geht. Hg. v. dems. Berlin: 268–271. Gutzkow, Karl (1839). Beiträge zur Geschichte der neuesten Literatur. Bd. 1. Stuttgart. Hahn, Alois (2000). „Handschrift und Tätowierung“, in: Ders. Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Frankfurt a. M.: 367–386. Hübener, Andrea (2015). „‚Mondscheinʻ – ‚Wolkenʻ – ‚Endeʻ. Zur Inszenierung von Brief­ ereignissen und deren Materialität in der Korrespondenz zwischen Lucie und Hermann von Pückler-Muskau“, in: Briefnetzwerke um Hermann von Pückler-Muskau. Hg. v. Jana Kittelmann. Dresden: 61–81. Kittelmann, Jana (2013). Herrinnen des Terrains. Der Briefwechsel zwischen Lucie von PücklerMuskau und Adelheid von Carolath-Beuthen. Cottbus. Kittelmann, Jana (2010). Von der Reisenotiz zum Buch. Zur Literarisierung und Publikation privater Reisebriefe Hermann von Pückler-Muskaus und Fanny Lewalds. Dresden. Kittelmann. Jana (2012). „Gartenbeschreibungen und Gartenzeichnungen in privaten Reisebriefen Hermann von Pückler-Muskaus und Fanny Lewalds“, in: Reisen in Parks und Gärten. Eine Rezeptions- und Imaginationsgeschichte. Hg. v. Hubertus Fischer, Joachim Wolschke-Bulmahn u. Sigrid Thielking. München: 154–171. Kittelmann, Jana (2012). „‚Mit Lucie Sevigné zu Tischʻ – Pücklers Rezeption französischer Briefliteratur“, in: Fürst Pückler und Frankreich. Hg. v. Christian Friedrich, Ulf Jacob u. Marie-Ange Maillet. Berlin: 115–131. Kittelmann, Jana (2016). „‚Im Einklang zweier ausgezeichneter Naturenʻ. Lucie von PücklerMuskau, die Frau an seiner Seite“, in: Parkomanie. Die Gartenlandschaften des Fürsten Pückler. Hg. v. der Bundeskunsthalle Bonn. München: 137–143. Pückler-Muskau, Hermann von (1873–1876). Aus dem Nachlaß des Fürsten Pückler-Muskau: Briefwechsel und Tagebücher des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau. 9 Bde. Hg. v. Ludmilla Assing-Grimelli. Hamburg. Stobbe, Urte (2015a). „Adlige Briefschreiber unter sich. Pücklers Selbstdarstellung gegenüber Schriftstellerkolleginnen“, in: Briefnetzwerke um Hermann von Pückler-Muskau. Hg. v. Jana Kittelmann. Dresden: 133–149. Voigt, Gudrun (1995). Die kriegsbedingte Auslagerung von Beständen der Preußischen Staatsbibliothek und ihre Rückführung: eine historische Skizze auf der Grundlage von Archiv­ materialien. Hannover.

Weiterführende Literatur Friedrich, Christian u. Ulf Jacob (Hg.) (2010). „… ein Kind meiner Zeit, ein ächtes bin ich…“. Stand und Perspektiven der Forschung zu Fürst Pückler. Berlin. Kittelmann, Jana (Hg.) (2015). Briefnetzwerke um Hermann von Pückler-Muskau. Dresden. Stobbe, Urte (2015b). Fürst Pückler als Schriftsteller. Hannover.

Sabine Henze-Döhring

6.11 Carl Maria von Weber – Giacomo Meyerbeer – Felix Mendelssohn Bartholdy Die Briefe Webers, Meyerbeers und Mendelssohn Bartholdys lassen sich schlüssig in eine Reihe stellen: Als jeweils in Personalunion international erfolgreiche Komponisten, Pianisten und Kapellmeister von Rang, darüber hinaus weitsichtige Gestalter des öffentlichen Musiklebens der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts pflegten sie ungewöhnlich facettenreiche, inhaltlich wie stilistisch anspruchsvolle Korrespondenzen. Die Zahl der überlieferten Dokumente bewegt sich jeweils im vierstelligen Bereich. Da alle drei bedeutende Musiker waren, wurden bzw. werden die Konvolute im Rahmen von Langzeitprojekten wissenschaftlich ediert, kommentiert und publiziert. Sie geben faszinierende Einblicke in kompositorische Schaffensprozesse, in Aufführung und Rezeption eigener und fremder Werke, in wirtschaftliche und kulturelle Strukturen des damaligen Opern- und Konzertlebens sowie des Musikgeschäfts. Sie spiegeln Wahrnehmungen von Politik und Öffentlichkeit, dokumentieren Freundschaften und porträtieren das Wirken gesellschaftlich bedeutender Familien.

1 Familienbriefe Alle drei Korrespondenzen bestehen zu einem Großteil aus Familienbriefen. Weber, Mendelssohn und Meyerbeer waren seit frühester Jugend viel unterwegs, woraus sich das umfangreiche Corpus des verwandtschaftlichen Briefaustauschs erklärt. Meyerbeers und Mendelssohns Briefe insbesondere an ihre familiär jeweils engsten Vertrauten, an Meyerbeers jüngsten Bruder, den Schriftsteller Michael Beer, bzw. an Mendelssohns Lieblingsschwester, die Komponistin Fanny Hensel, eröffnen menschlich wie künstlerisch sehr persönliche, augenscheinlich ungefilterte Einblicke in das zeitgenössische Musikleben, in geglückte und weniger geglückte Versuche, in der Fremde als Musiker zu reüssieren. Sie bezeugen anrührend durchlebte Glücksmomente und Phasen herber Enttäuschung. Während der aus einer Musikerfamilie stammende Weber seit 1804 – noch nicht achtzehnjährig – für seinen Lebensunterhalt selbst aufkam, seine Reisetätigkeit rein beruflich bedingt war, wurden den aus begüterten Bankiers- und Unternehmerfamilien stammenden Meyerbeer und Mendelssohn traditionelle Bildungsreisen (grand tours) nach Italien sowie in die Metropolen Wien, Paris und London https://doi.org/10.1515/9783110376531-094

6.11 Carl Maria von Weber – Giacomo Meyerbeer – Felix Mendelssohn Bartholdy 

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ermöglicht. Diese Reisen dienten der künstlerischen und wissenschaftlichen Allgemeinbildung, dem Erwerb musikalischen Metiers für international angelegte Karrieren als Komponisten und Interpreten, dem Knüpfen eines Netzwerkes aus Künstlern, Gelehrten, Bankiers, Kaufleuten, Diplomaten und Politikern, generell der Weltläufigkeit und der Kontaktaufnahme mit Persönlichkeiten, die sich für ihre beruflichen Wege als nützlich erweisen konnten. Die Briefe berichten über Sängerinnen und Sänger, Virtuosen wie Paganini und Franz Liszt, über die Qualität von Orchestern, über Komponisten wie Cherubini oder Rossini, jeweils in der Frühzeit über die Lehrer Carl Friedrich Zelter (Meyerbeer, Mendelssohn) oder Georg Joseph Vogler (Weber, Meyerbeer). In ihrer Vertrautheit und Frische sind sie – ob Weber an seine Braut und spätere Frau, Meyerbeer an seine Brüder, Eltern und Gattin oder Mendelssohn an seine Geschwister und Eltern schreibt – ebenso lebendige wie subjektive Schilderungen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und der musikalischen Institutionen samt ihrer Protagonisten. Man spürt die Feder extrem begabter, wacher und auffallend ehrgeiziger Musiker. Mendelssohns, zuweilen auch Meyerbeers Briefe darf man literarisch ambitioniert nennen.

2 Künstler- und Freundschaftsbriefe Carl Maria von Weber (1786–1826) und Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) haben nicht miteinander korrespondiert. Mendelssohn erlebte jedoch 1821 in Berlin Webers Freischütz, den Giacomo Meyerbeer (1791–1864) nicht sehen konnte, da er zwischen 1810 und 1824 weder in Berlin noch an anderen Orten war, wo die Oper gespielt wurde. Weber und Meyerbeer waren Freunde. Während ihrer gemeinsamen Ausbildung 1810/11 bei Vogler in Darmstadt gründeten sie mit Gefährten den Harmonischen Verein, eine Organisation zur journalistischen Verbreitung ihrer musikästhetischen Positionen und zur Förderung ihrer Karrieren, indem sie satzungsgemäß gegenseitig ihre Werke rezensierten und die Besprechungen in Zeitschriften publizierten. Weber wurde von den Beers, Meyerbeers Eltern, wie ein Sohn empfangen und nannte sie noch Vater und Mutter, als auf seine Freundschaft zu dem als Opernkomponist in Italien reüssierenden Giacomo vorübergehend ein Schatten fiel. Meyerbeer und Mendelssohn waren aufgrund ihrer musikalischen und gesellschaftlichen Sozialisation Geschwister im Geiste: Beide entstammten jüdischen Berliner Familien, die durch mitinitiierte Reformen ihres gelebten Glaubens oder durch Annahme der protestantischen Konfession gesellschaftliche Integration anstrebten. Beide Familien verfügten in ihren Villen über Konzertsäle, in denen nicht zuletzt zur Förderung ihrer Kinder Veranstaltungen von künstlerischem Prestige stattfanden; beide ließen ihre Söhne bei Carl

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Friedrich Zelter, einem Protagonisten der Bach-Renaissance und Gründer der Berliner Singakademie, ausbilden und ihren Söhnen eine umfassende humanistische und künstlerische Bildung zukommen. Doch obwohl beider Wege – zeitlich versetzt – in parallelen Spuren verliefen, blieben sich Meyerbeer und Mendelssohn zeitlebens fremd. Die Briefwechsel mit Dritten dokumentieren davon unabhängig eines der spannendsten Kapitel preußischer Kulturpolitik in Sachen Musik, insbesondere wenn man weitere Korrespondenzen, zum Beispiel diejenigen Alexander von Humboldts mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. oder mit den Mendelssohns miteinbezieht. Im Zuge der Neuorganisation von Wissenschaften und Künsten nach dem Tod Friedrich Wilhelms III. am 7. Juni 1840 und der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. beförderte Alexander von Humboldt zwar mit Hindernissen, doch als Ordenskanzler letztlich erfolgreich die Idee, anlässlich der Stiftung des Ordens Pour le mérite der Friedensklasse am 31. Mai 1842 Meyerbeer und Mendelssohn in den Orden aufzunehmen. Humboldt bat den König, sich im Umgang mit Juden nicht länger an seinem Vater zu orientieren, da sich das politische Klima gewandelt habe. Er unterstützte darüber hinaus bestehende Pläne, Meyerbeer und Mendelssohn zu preußischen Generalmusikdirektoren zu ernennen, und verband damit die Hoffnung, die dem Hof unterstellten Musikinstitutionen grundlegend zu erneuern. Die Förderung hochbegabter Söhne der Stadt aus Familien jüdischer Abstammung verstand er als ein Zeichen religiöser Toleranz, damit als gesellschaftlichen und politischen Fortschritt. Meyerbeer wurde am 11.  Juni 1842 zum Königlichen Generalmusikdirektor und Hofkapellmeister ernannt und verantwortete die gesamte Hofmusik mit Ausnahme der kirchlichen und geistlichen Musik, für die Mendelssohn zuständig war, der am 22. November 1842 ebenfalls zum Generalmusikdirektor ernannt wurde. Mendelssohn und Meyerbeer gingen ihre Ämter durchaus engagiert an, doch gaben beide – aus unterschiedlichen Gründen – alsbald auf, ließen sich (teil-)entpflichten und wandten sich für sie interessanteren Aufgaben im In- und Ausland zu. Sind, von einem Hinweis auf einen erschlossenen Brief Mendelssohns an Meyerbeer abgesehen, auch keine Briefe zwischen Meyerbeer und Mendelssohn publiziert, so vergegenwärtigen die Korrespondenzen dennoch einen kulturellen und gesellschaftlichen Wandel. Der Umgang des preußischen Hofes mit zwei Berliner Söhnen, die – wie Humboldt explizit schreibt – „semitische[] Namen“ trugen (Henze-Döhring und Döhring 2014, 85), gab zumindest vorübergehend Anlass zur Hoffnung. Ein aus den Korrespondenzen ablesbares wichtiges Phänomen lässt sich unter dem Stichwort Vernetzung fassen. Weber, Meyerbeer und Mendelssohn hatten gemeinsame Freunde von Rang und Namen in der damaligen Musikwelt: den Geiger und Komponisten Louis Spohr, den Pianisten und Komponisten Ignaz Moscheles, den Klarinettisten Heinrich Baermann und viele andere. Die Briefwechsel mit diesen Freunden liefern Anschauungsmaterial für das öffent-

6.11 Carl Maria von Weber – Giacomo Meyerbeer – Felix Mendelssohn Bartholdy 

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liche Musikleben im deutschsprachigen Raum wie im europäischen Ausland. Sie lassen Rückschlüsse auf Strukturprobleme zu, geben Einblick in Musikpublizistik, Finanzierungsfragen, Vertragswesen, in Urheber- und Verlagsrecht mit ihren für die Komponisten vielfach bedrückenden Folgen. Musiker, die sich Hoffnungen auf eine Karriere machten, zumindest den Anspruch erhoben, vom Komponieren oder von Einnahmen als Interpreten angemessen leben zu können, mussten ins Ausland gehen. Alle Genannten wirkten zumindest vorübergehend in Italien, Paris und London. Meyerbeer – finanziell unabhängig – lebte bereits als junger Mann in Italien, seit 1826, von seinen Berliner Intermezzi als preußischer Generalmusikdirektor abgesehen, bis ins vorgerückte Alter überwiegend in Paris. Weber suchte seit Frühjahr 1826 sein Glück als Opernkomponist ebenfalls in Paris, wo er sich schließlich zweier Opernaufträge gewiss wähnte, und ging dann nach London, wo er jedoch bald nach der Uraufführung seines Auftragswerks Oberon Mitte April nach schwerer Krankheit Anfang Juni 1826 verstarb. Mendelssohn profilierte sich wie Meyerbeer schon während seiner Bildungsreisen nach Paris, England und Italien als Pianist und Komponist (1825–1831) und wählte neben Leipzig als künstlerische Lebensmitte England, wo er zum Beispiel im Rahmen des Birmingham Festivals 1846 sein Oratorium Elias uraufführte. Ob Spohr als Hofkapellmeister in Kassel, Weber als Hofkapellmeister in Dresden oder Heinrich Baermann als Hofklarinettist in München: Sie alle litten an Unterfinanzierung, Rückständigkeit und Enge der musikalischen Institutionen, um deren qualitativen Aufbau sie ohne entsprechenden Verdienst rangen. Im Ausland nun griffen sie auf das engmaschig gepflegte Netzwerk der Freunde zurück, unter denen insbesondere Meyerbeer in Paris und Moscheles in London zu nennen sind, die aufgrund ihrer vollkommenen Integration in gesellschaftliche Kreise, auf die es in den europäischen Metropolen ankam, tatsächlich helfen konnten.

3 Briefe als Spiegel von Schaffens-, Aufführungsund Publikationsprozessen Das Komponieren großformatiger Werke ist eine langwierige, nicht selten zum Scheitern verurteilte Prozedur. Sie zieht sich in der Regel über Jahre, wenn nicht über Jahrzehnte hin und schließt umfangreiche Kooperationen mit künstlerischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, mit Vertragspartnern und Verlegern ein. Webers, Meyerbeers und Mendelssohns Briefe und Briefwechsel sind unter diesem Aspekt Musterkonvolute, streckenweise als Werkstattberichte lesbar. Sie ermöglichen den Nachvollzug von Werkgenesen, der intensiven Vorbereitung von Aufführungen, der oft ermüdenden Proben mit steten Anpassungsprozessen

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und vieles mehr. Schon bald nach der Uraufführung spiegeln die Briefe den nicht weniger aufwendigen Publikationsprozess, die Kooperation mit den Verlegern, das Ringen um professionelle Korrekturen und schließlich um den Vertrieb. Dass Komponistenbriefe innerhalb von Künstlerkorrespondenzen besonderes Interesse beanspruchen, beruhte vor der Erfindung der Aufzeichnung von Musik auf Tonträgern auf ihrer Flüchtigkeit. Musik als Klangereignis entsteht im Akt ihrer Interpretation. Waren die Komponisten an den Werkwiedergaben, an Besetzungsfragen und Proben beteiligt, lebten sie in einer Art Spannung zwischen künstlerisch Erstrebtem und interpretatorisch Machbarem. Die Korrespondenzen geben mithin Einblick in Fragen und Probleme der musikalischen Interpretation. Meyerbeers Briefwechsel scheint unter diesem Aspekt besonders ergiebig. Mendelssohns Briefe beanspruchen schaffenspsychologisches Interesse.

4 Überlieferungen und Editionsgeschichten Carl Maria von Webers Briefe aus den Jahren 1810 bis 1826 lassen sich anhand des Tagebuchs, das er seinerzeit führte, zuverlässig erschließen. Es handelt sich um ca. 6.000 Briefe, von denen allerdings nur knapp 2.000 überliefert sind. Die Zahl der überlieferten Gegenbriefe ist demgegenüber gering. Das Corpus befindet sich heute überwiegend in der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, die ihren Bestand von Seiten der Erben 1956 zunächst durch Leihgabe, 1986 durch Schenkung des bei der Familie verbliebenen Nachlasses erweitern konnte und weiterhin mit Zukäufen ergänzt. – Die Editionsgeschichte setzt um 1900 mit Auswahlausgaben ein, darunter die von Ernst Rudorff (1900), Leopold Hirschberg (1926), Wilhelm Virneisel (1951), Werner Bollert und Arno Lemke (1973) sowie Eveline Bartlitz (1986). Anfang der 1990er Jahre wurde unter Leitung Gerhard Allroggens die Herausgabe der Gesamtkorrespondenz Webers im Rahmen der Edition Carl Maria von Weber. Sämtliche Werke, Tagebücher, Briefe und Schriften im Mainzer Verlag Schott Music in Angriff genommen. Editionsleiter des in den Anfängen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, seit Mitte der 1990er Jahre von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur finanzierten, in der Trägerschaft des Vereins Gesellschaft zur Förderung der CarlMaria-von-Weber-Gesamtausgabe e.V. stehenden Projekts ist Joachim Veit. Geplant war die kommentierte Herausgabe der Briefe in zehn Bänden. Derzeit in Arbeit ist die digitale Publikation der Briefe und Gegenbriefe, die stufenweise erfolgt (vgl. von Weber 2011  ff.). Im Volltext kommentiert und editorisch abgeschlossen sind inzwischen 122 Briefe der Jahrgänge 1817 und 1818. In editorisch vorläufigen Kommentierungsstadien befinden sich die Texte von 1.142 Briefen, schwerpunktmäßig

6.11 Carl Maria von Weber – Giacomo Meyerbeer – Felix Mendelssohn Bartholdy 

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aus den Jahren 1810 bis 1826. Weitere 1.380 Briefe und Dokumente sind provisorisch sowie über 3.500 Briefe (einschließlich Gegen- und Drittbriefen) durch ihre Metadaten erfasst. Ein Großteil der Briefe und Gegenbriefe Giacomo Meyerbeers war bis 1987 als „Meyerbeer-Archiv“ in Familienbesitz, stand jedoch von 1952 bis 1984 im Berliner Staatlichen Institut für Musikforschung – Stiftung Preußischer Kulturbesitz für die wissenschaftliche Auswertung zur Verfügung. Dabei handelte es sich um ca. 3.000 Briefe und Dokumente. Dieses Archiv wurde 1987 von der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz käuflich erworben und befindet sich heute als Ergänzung des von den Erben 1916 als Depositum übergebenen Meyerbeer-Nachlasses in deren Musikabteilung, die kontinuierlich zukauft. Weitere Meyerbeer betreffende Konvolute sind im Bestand anderer Sammlungen und Abteilungen der Berliner Staatsbibliothek sowie im Staatlichen Institut für Musikforschung. Mehrere Hundert Briefe der Meyerbeer-Korrespondenz gehören der Bibliothèque nationale de France, Paris (in diversen Abteilungen und Nachlässen archiviert). Eine Reihe größerer und kleinerer Konvolute sind aufgrund der internationalen Streuung der in etwa 600 Korrespondenten Meyerbeers im Besitz zahlreicher Bibliotheken, Sammlungen und Archive weltweit. Laufend kommen Meyerbeer-Briefe über den internationalen Autographenhandel auf den Markt. 1952 begannen Gudrun und Heinz Becker mit der Aufarbeitung des Konvoluts und entwickelten ein originelles Editionskonzept. In den Briefwechsel integrierten sie  – chronologisch eingeordnet  – Meyerbeers überwiegend in Abschrift überlieferte Tagebücher und – soweit vorhanden – seine Taschenkalender. Den Kommentar legten sie umfassend an, fügten weitere Dokumente bei, um die im Briefwechsel thematisierten Gegenstände und Zusammenhänge transparent und in ihrer musik- wie allgemein kulturgeschichtlichen Bedeutung greifbar zu machen. Heinz und Gudrun Becker, letztere seit 1975 als Mitherausgeberin, legten von 1960 bis 1985 vier Bände vor. 1992 übergaben sie das Projekt Sabine Henze-Döhring. Als neue Herausgeberin behielt sie das Editionskonzept bei, verfasste als Alleinautorin die Kommentare, passte die Editionsrichtlinien jedoch wissenschaftlich neueren Standards an. Von 1993 bis 2004 wurde das Projekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Zwischen 1999 und 2006 erschienen vier weitere Bände. Die von Anfang an vom Verlag de Gruyter betreute Publikation Giacomo Meyerbeer. Briefwechsel und Tagebücher, hg. von Heinz Becker (Bde. 1 und 2), Heinz und Gudrun Becker (Bde. 3 und 4) und Sabine Henze-Döhring (Bde. 5–8) war damit abgeschlossen. Felix Mendelssohn Bartholdy hat 5.000 Briefe geschrieben und 7.000 erhalten (Seidel 2008, 7). 700  Briefe Felix und Fanny Mendelssohns im ursprünglichen Besitz der Nachkommen befinden sich heute in der New York Public Library (Mendelssohn Family Letters). Mendelssohn hatte die an ihn gerichteten 7.000 Briefe

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(Gegenbriefe) in 27 grüne Bücher binden lassen. 1935 wurden sie von seinem Enkel, dem 1934 zur Emigration gezwungenen Juristen Albrecht Mendelssohn Bartholdy, nach England gebracht und gelangten schließlich in die Bodleian Library in Oxford. Über den ebenfalls verfolgten, 1945 nach Basel übergesiedelten Urenkel Hugo von Mendelssohn Bartholdy, der eine eigene Sammlung aufbaute, kam ein bedeutender Bestand an Briefen in die Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (Mendelssohn-Archiv der Musikabteilung). Dieser Bestand wurde und wird – wie im Falle Webers und Meyerbeers – durch Zukäufe ständig erweitert. Die Editionsgeschichte der Briefe Mendelssohns begann 1860, als sich der Bankier Paul Mendelssohn Bartholdy (seit ca. 1871 Mendelssohn-Bartholdy), Felixʼ jüngerer Bruder, mit der Bitte an die Öffentlichkeit wandte, ihm Briefe des Komponisten zu überlassen, um sie zu Felixʼ Gedächtnis zu publizieren. Schon ein Jahr später konnte Paul Reisebriefe von Felix Mendelssohn Bartholdy aus den Jahren 1830 bis 1832, Leipzig 1861, herausgeben. Diesem Band folgte 1863 ebenfalls in Leipzig  – unter Mitherausgeberschaft Carl [!] Mendelssohn Bartholdys, Felixʼ Sohn, – Felix Mendelssohn Bartholdy. Briefe aus den Jahren 1833 bis 1847. Die ungewöhnlich erfolgreiche Publikation erlebte zahlreiche Auflagen und Ausgaben. Als weitere Auswahlausgaben erschienen Felix Moscheles (Hg.), Briefe von Felix Mendelssohn-Bartholdy an Ignaz und Charlotte Moscheles, Leipzig 1888 (in englischer Übersetzung London 1888); Julius Schubring [jr.] (Hg.), Briefwechsel zwischen Felix Mendelssohn-Bartholdy und Julius Schubring […], Leipzig 1892; Karl Klingemann [jr.] (Hg.), Felix Mendelssohn-Bartholdys Briefwechsel mit Legationsrat Karl Klingemann in London, Essen 1909 und Carl Wehmer (Hg.), Ein tief gegründet Herz. Der Briefwechsel Felix Mendelssohn-Bartholdys mit Johann Gustav Droysen, Heidelberg 1959. Als nach neuerem Verständnis wissenschaftliche Auswahl-Editionen entstanden: Peter Sutermeister (Hg.), Felix Mendelssohn-Bartholdy. Briefe einer Reise durch Deutschland, Italien und die Schweiz und ein Lebensbild, Zürich 1958; Rudolf Elvers, Felix Mendelssohn Bartholdy. Briefe an deutsche Verleger, Berlin 1968; Hans-Joachim Rothe und Reinhard Szeskus (Hg.), Felix Mendelssohn Bartholdy. Briefe aus Leipziger Archiven, Leipzig 1971; Eva Weissweiler (Hg.), „Die Musik will gar nicht rutschen ohne Dich“. Fanny und Felix Mendelssohn. Briefwechsel 1821 bis 1846, Berlin 1997. Als die Herausgabe einer von Rudolf Elvers geplanten wissenschaftlichen Briefausgabe nach dem Erscheinen des ersten Bandes (Briefe an deutsche Verleger, siehe oben) nicht fortgeführt wurde, initiierte Ende der 1990er Jahre Wilhelm Seidel noch in Kooperation mit Rudolf Elvers die wissenschaftlich-kritische Gesamtausgabe der Briefe und Gegenbriefe Felix Mendelssohn Bartholdys und begründete die Arbeitsstelle „Felix Mendelssohn Bartholdy Briefausgabe“ in Leipzig. Nach einem Konzeptionswechsel im Jahre 2006 wurde die auf zwölf Bände ausgelegte Edition Felix Mendelssohn Bartholdy. Sämtliche Briefe entwickelt, die seit 2008 im Verlag Bärenreiter, Kassel, erschien. Heraus-

6.11 Carl Maria von Weber – Giacomo Meyerbeer – Felix Mendelssohn Bartholdy 

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geber dieser Ausgabe sind Helmut Loos und Wilhelm Seidel. Ediert und kommentiert wurden die Briefe Felix Mendelssohn Bartholdys, die Gegenbriefe wurden nurmehr für den Kommentar ausgewertet. Unter der Leitung Uta Walds edierten und kommentierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Arbeitsstelle die Bände jeweils in Einzelherausgabe. Das Projekt wurde seit 2007 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert und 2017 abgeschlossen.

Zitierte Literatur Henze-Döhring, Sabine u. Sieghart Döhring (2014). Giacomo Meyerbeer. Der Meister der Grand Opéra. Eine Biographie. München. Mendelssohn Bartholdy, Felix (2008–2017). Sämtliche Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Helmut Loos u. Wilhelm Seidel. Kassel. Meyerbeer, Giacomo (1960–2006). Briefwechsel und Tagebücher. Hg. u. kommentiert v. Gudrun Becker, Heinz Becker u. Sabine Henze-Döhring. Berlin u. New York. Seidel, Wilhelm (2008). „Die Briefe von Felix Mendelssohn Bartholdy. Einleitung in die Gesamtausgabe“, in: Felix Mendelssohn Bartholdy. Sämtliche Briefe. Bd. 1: 1816 bis Juni 1830. Hg. u. kommentiert v. Juliette Appold u. Regina Back, Kassel: 7–30. Weber, Carl Maria von (2011  ff.). Gesamtausgabe. Digitale Edition. Hg. v. Gerhard Allroggen. Version 3.3.1 vom 24.8.2018. http://weber-gesamtausgabe.de (31.8.2018).

Rolf Lessenich

6.12 Die Briefe von Lord Byron und John Keats Die Romantik war eine Zeit, als der offene klassische oder klassizistische Versbrief wie Horaz’ Epistula ad Pisones [De Arte Poetica] (14 v. Chr.) bzw. Alexander Popes Epistle to Dr.  Arbuthnot (1735) noch eine lebendige literarische Gattung öffentlicher Belehrung war, so Samuel Taylor Coleridges „Letter to Sara Hutchinson“ (1802). Zugleich etablierte sich auch unter den Romantikern der in Pamphleten oder Zeitschriften publizierte jüngere Prosabrief wie William Hazlitts Letter to William Gifford (1819) als literarische Gattung zur Verteidigung ihrer Politik und Ästhetik. Doch auch private Briefe (familiar letters) gehorchten noch den etablierten Regeln literarischer Briefkunst. Lehrbücher der Prosabriefkunst (wie Samuel Richardsons Letters […] Directing the Requisite Style and Forms to Be Observed in Writing Familiar Letters (1741, 1742, 1746, 1750 etc.) wurden noch gelesen (vgl. Robertson 1942). Dieser Umstand und der mühsame Prozess des Schreibens mit Tinte und Feder im Bewusstsein der hohen Kosten von Papier und Transport sicherten bewusstes, rhetorisch reflektiertes, auf die Briefintention (genus deliberativum, genus demonstrativum) ausgerichtetes Schreiben. Öffentliche Anliegen wie Poetologie, Philosophie, Politik, Theologie und Naturwissenschaft waren Gegenstände einer seit Antike und Mittelalter ständig transformierten ars dictaminis, welche die Charakteristika der jeweiligen Epoche widerspiegelten. Im Empfindsamkeitskult der Vorromantik kam das inszenierte persönliche Bekenntnis hinzu, am deutlichsten sichtbar im fiktionalen Briefroman der RichardsonNachfolge: Samuel Richardsons Pamela (1740/41) und Clarissa (1747–1748), JeanJacques Rousseaus Julie, ou La Nouvelle Héloïse (1761), Henry Mackenzies Julia de Roubigné (1777), Goethes Leiden des jungen Werthers (1774). Auch knappe geschäftliche Mitteilungen, die das Etymon des Briefs (‚brevis‘) lieferten, gehorchten dem Gebot der sprachlichen Sorgfalt, bevor Telefon, Fax, E-Mail, SMS und sich mit rasanter Geschwindigkeit ausbreitende neue Kommunikationstechniken die Belletristik der Briefkultur zerstörten. Die offenen und privaten Prosabriefe der englischen Romantiker an Verleger, Geliebte, Freunde oder die Öffentlichkeit sind nicht nur Nebentexte zum Verständnis ihrer belletristischen Werke, ein Fundus biographischer Information und lebendige Zeugnisse des Bildungsstands sowie der Ästhetik und der Streitkultur der Umbruchzeit der Französischen Revolution. Im Falle von George Noel Gordon, Lord Byron (1788–1824) und John Keats (1790–1821) bilden sie auch eigenständige literarische Werkkorpora, die sich wie vorromantische Briefromane lesen lassen, zumal auch hier Gedichte eingefügt sind und Schreiben der Adressaten, https://doi.org/10.1515/9783110376531-095

6.12 Die Briefe von Lord Byron und John Keats 

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auf die Bezug genommen wird, fehlen. Die Briefe von Byron und Keats wurden schon zu ihren Lebzeiten als bewahrenswert wahrgenommen, kopiert sowie nach ihrem Tod gesammelt und ediert; die Briefe ihrer Adressaten sind zum großen Teil verloren. Keats etwa hat sie verbrannt, und Byron hat zum mindesten die Briefe seiner geschiedenen Ehefrau vernichtet, die seinen Nachruhm beschädigen könnten. Die Herausgeber der Briefe haben sie seit den frühesten Editionen im 19. Jahrhundert (Thomas Moore, Lord Houghton) bis in die Gegenwart (Leslie Alexis Marchand, Hyder Edward Rollins) als Literatur eigenen Rechts neben ihre anderen Werke gestellt (vgl. Byron 2014, XI–XXIII). Alle Briefe, nicht nur offene Schreiben, sind Selbstinszenierungen der Briefschreiber hinsichtlich ihrer imaginierten Rezeption durch abwesende Adressaten. Der Dialog im privaten Briefaustausch ist dem Dialog mit dem Leser publizierter Literaturwerke verwandt – eine Tatsache, derer sich besonders Keats sehr bewusst war (vgl. Barnard 2001, 120–134). In ihren Briefen reflektierten Keats und Byron den performativen Charakter ihrer Schreiben sowie die Grenzen von Sprache in Ermangelung der nonverbalen Reaktion ihrer Adressaten: deren gestus sine voce, den sie sich vorstellten. Das gilt auch für Byrons zahlreiche und Keats’ wenige Geschäftsbriefe. So führte Byron in seiner Korrespondenz mit seinem Londoner Verleger John Murray von Italien aus lebhafte Diskussionen über Poetologie, gleich als ob sein Gesprächspartner und ein Publikum anwesend wären, etwa über den relativen Wert seiner romantisch-fantastischen und seiner realistischsatirischen Versepen, Childe Harold’s Pilgrimage (1812–1818) und Don Juan (1819– 1824): „[…] if one’s years can’t be better employed than in sweating poesy – a man had better be a ditcher. – […] you have so many ‚divine‘ poems, is it nothing to have written a Human one? without any of your worn out machinery.“ (Brief an John Murray, 6.4.1819; Byron 1973–1994, Bd. VI, 105) Dieser performative Aspekt erlaubt es nicht, die privaten Briefe der Dichter als Offenlegungen des ‚wahren‘ Ich gegenüber dem ‚inszenierten‘ Ich ihrer anderen literarischen Werke zu lesen. Byron und Keats schrieben sie in einer Zeit, als (in der Folge David Humes und der entstehenden Psychoanalyse) das idem einer homogenen Identität zugunsten der ‚antithetically mixed nature of man‘ (Byron; vgl. dazu Lessenich 2017) in Frage gestellt wurde. Beide wechselten laufend die Rollen, wie Byron offen eingestand: „If I am sincere with myself (but I fear one lies more to one’s self than to any one else), every page should confute, refute, and utterly abjure its predecessor.“ (Tagebuch von 1813–1814, 6.12.1813, Byron 1973–1994, Bd. III, 233) Der romantische Brief bildet damit auch in England den Übergang von der aufklärerischen Autonomie des Subjekts zu einer vormodernen Subjektivität, die nicht mehr durch Vernunft bestimmt ist, sondern durch imaginative und ästhetische Kategorien. Die Ich-Kontinuität wird aufgehoben, der Dynamik

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eines romantischen Naturverständnisses (natura naturans statt natura naturata) ausgeliefert, permanent überholt; das Vergangene weicht Neuem, das schnell wieder Vergangenheit wird (vgl. Bohrer 1987). Typisch romantisch ist die Selbstreflexivität der Briefe, das Kreisen um und Eintauchen in das eigene Ich – eine säkularisierte Form des puritanischen Seelentagebuchs des 17. Jahrhunderts, die in der Vorromantik zwei neue Wissenschaften begründete, Psychiatrie und Psychoanalyse. Das Ich findet und erfindet sich ständig neu. Bei Byron verwundert das nicht, wohl aber bei Keats, der in seinen Briefen ganz verschieden sein kann und völlig anders als in seinen hehren ‚priester-prophetenhaften‘ Gedichten, wie etwa, wenn er Nonsens-Verse an seine Schwester schreibt und vital-lebenslustig den Cockney-Proleten spielt. Byron versteht sich in seinen Briefen als Zuschauer seiner verschiedenen Rollen in der Komödie wie Tragödie seines Lebens, lacht und weint über sich selbst (vgl. Clubbe 1975, 507–515). Byron und Keats waren sich beide ihrer Chamäleon-Natur bewusst. Byrons Vertraute Lady Blessington prägte in ihren Conversations with Lord Byron (1832) das gängige Bild des ‚chameleon Byron‘ (vgl. Townsend 1971). Und Keats selbst räumte in einem poetologischen Brief an einen jungen Bewunderer und Förderer dem ‚chameleon poet‘ (sich selbst und Shakespeare) klaren Vorrang gegenüber dem Dichter des ‚egotistical sublime‘ (John Milton und William Wordsworth) ein: „[The poetical character] has no self – it is everything and nothing. […] What shocks the virtuous philosopher, delights the chameleon poet. […] A poet […] has no Identity […].“ (Brief an Richard Woodhouse, 27.10.1818; Keats 1958, Bd. I, 227) Diese Einordnung ist eines der für die Romantik typischen Merkmale des Wechsels von der aufklärerischen Autonomie des Individuums und der erlernbaren Kunst des Dichters zu einer schicksalhaften Passivität. Der Mensch wird zum Medium nicht kontrollierbarer Mächte, die seine Geschichte (Georg Wilhelm Friedrich Hegel) und Inspiration (Percy Bysshe Shelley) lenken, ihn wie eine Aeolusharfe unter ‚Inspiration‘ (Samuel Taylor Coleridge) in verschiedener Weise ertönen lassen. So verstand sich Byron als Schauspieler festgelegter Rollen. Doch waren diese Mächte bei den neuplatonischen Romantikern wie Keats jenseitige Mächte der Ideenwelt, bei den desillusionistischen Romantikern wie Byron innere Impulse des Unbewussten, in seinen Briefen als bloße irdische „lava of the imagination“ veranschaulicht und italienisch als „estro“ (Laune) bezeichnet (Wellek 1955–1986, Bd. II, 123, 384). Diesem Selbstverständnis entsprechend pflegten die so unterschiedlichen englischen Dichter Keats und Byron keine Korrespondenz und besaßen keinerlei Bewusstsein einer gemeinsamen romantischen Tradition – zumal bei der langwährenden Weigerung der englischen Romantiker, sich auf die seit 1797 entstehende Schlegel’sche Unterscheidung von ‚Klassisch und Romantisch‘ einzulassen. Die Heftigkeit des Streits der englischen Romantiker, auch in privaten wie offenen Briefen untereinander ausgetragen, entsprach kaum

6.12 Die Briefe von Lord Byron und John Keats 

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modernen Vorstellungen von einer zivilisierten konstruktiven Streitkultur. Selbst die mächtige Phalanx der Gegner der Romantik vermochte es nicht, dass die englischen Romantiker sich zu ihren Lebzeiten einer ‚romantischen Schule‘ zugehörig fühlten. Byron, obgleich als armer Mittelklassejunge in Aberdeen großgeworden und erst zehnjährig zu Adelstitel und Vermögen gekommen, genoss eine elitäre Bildung in Harrow und Cambridge, kannte die Classical Tradition aufgrund seiner Kennerschaft der antiken Sprachen, schätzte auch die klassizistische Dichtung Alexander Popes und war Mitglied des House of Lords. Für ihn war John Keats, der Sohn eines Pferdestallvermieters in Moorfield in der City of London, ein Cockney sprechender geschmackloser Prolet, dessen Bildung in der Schule des ‚Radikalen‘ John Clarke (Vater von Charles Cowden Clarke) im vorstädtisch-ländlichen Enfield nahe Hampstead bei London defizitär und dessen nichtuniversitäre Ausbildung als praktischer Arzt und bloßer Lizenziat der Society of Apothecaries (1816) unqualifiziert sei. In seinem vernichtenden Urteil über Keats war Byron sich einig mit dem Urteil des klassizistischen Establishments (John Gibson Lockhart, John Wilson Croker), das Keats als sozial und poetologisch inakzeptablen ‚upstart‘ betrachtete. Keats’ Kenntnisse des Lateinischen und seine autodidaktische Aneignung der Classical Tradition einschließlich ihrer literarischen Rhetorik vermochten Byron nicht zu überzeugen. Umgekehrt sah Keats den allgemein bekannten und bewunderten Byron als Dichter niederen Rangs, den er nicht als Romantiker anzuerkennen bereit war, wie er 1819 in einem Brief an einen seiner beiden Brüder schrieb: „He describes what he sees – I describe what I imagine – Mine is the hardest task.“ (Brief an George Keats, 20.9.1819, Keats 1958, Bd. II, 200) Dabei kehrte er den in der Streitkultur der Zeit von Klassizisten gegen die Romantiker erhobenen Vorwurf anspruchslosen Schreibens um und ordnete Byron den Klassizisten zu, im Gegensatz zu seinem früheren Sonett „To Lord Byron“ (MS 1814). Byron wechselte wie viele seiner Zeitgenossen (Walter Scott, Lockhart, James Hogg, Thomas Campbell, Samuel Rogers, Thomas Love Peacock) häufig die ‚Schule‘, schrieb einmal elegische romantische Bekenntnisdichtung und orientalische Verserzählungen, dann wieder klassizistische satirische Gedichte und offene Vers- und Prosabriefe wider die Romantik: English Bards and Scotch Reviewers (1809), Hints from Horace (MS 1811), und der polemische „Letter to John Murray Esq“ (Ravenna, 7.2.1821, zur Verteidigung Popes wider die Kritik des Vorromantikers William Lisle Bowles). Aus dieser Perspektive spottete er über die selbstbekennenden erotischen Gedichte Keats’ als Verstoß wider die klassizistische Schicklichkeitsregel, schalt sie „the Onanism of Poetry“ (Brief an John Murray, 4.11.1820, Byron 1973–1994, Bd.  VII, 217) und „a sort of mental masturbation“ (Brief an John Murray, 9.11.1820, Byron 1973–1994, Bd. VII, 225). Überhaupt war er voll von aristokratischem Spott über die soziopolitisch wie ästhetisch reformorientierte Dichtergruppe im ‚grünen‘ Hampstead (Keats,

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Leigh Hunt, William Hazlitt, Charles Lamb), welche von dem konservativen Blackwood’s Edinburgh Magazine in einer zeittypischen Verleumdungskampagne ab 1817 als ungebildete „Cockney School of Poetry“ eingestuft wurde. Byrons Wandlungsfähigkeit zwischen Romantik und Klassizismus wie zwischen Whigs und Torys spiegelt sich auch in seinen Briefen. Spätestens seit 1812 (Publikation der beiden ersten Cantos der schnell europaweit rezipierten elegischen romantischen Verserzählung Childe Harold’s Pilgrimage) wusste er, dass sie auch als nichtoffene, ungedruckte Briefe nicht mehr privat bleiben würden und dass er seinen Nachruhm durch seine Briefe steuern konnte. Im November 1812 schrieb er an Lady Melbourne: „I never laughed at P- (by the bye this is an initial which might puzzle posterity when our correspondence bursts forth in the 20th century.“ (Brief an Lady Melbourne, 6.11.1812, Byron 1973–1994, Bd. II, 240) Dazu gehört seine Bemühung, in der zunehmenden Homophobie Englands seine in früheren privaten Briefen offener eingestandene Jünglingsliebe, die er in aristokratischer Tradition neben seinen wechselnden Frauenliebschaften pflegte (,Greek love‘), nur codiert zu thematisieren (vgl. Crompton 1985; MacCarthy 2002). Es ist anzunehmen, dass Byrons Vertraute John Cam Hobhouse Broughton (sein Begleiter und Beobachter seiner Liebschaften im Osmanischen Reich 1809–1811) und Thomas Moore, die im Bilde waren und Byron zur Vorsicht rieten, viele Briefe vernichteten – so wie auch Byrons Autobiographie am 17. Mai 1824 im Haus seines Verlegers John Murray verbrannt wurde, um die Skandale des kürzlich verstorbenen weltbekannten Dichters auf die Gerüchte um den Inzest mit seiner Halbschwester Augusta zu begrenzen. Der damals noch relativ unbekannte Keats hatte diese Probleme nicht. Der heute nur noch Fachkennern der britischen Romantik vertraute Dichter Bryan Waller Procter alias Barry Cornwall aus dem gemeinsamen Radikalen-Kreis um Leigh Hunt in Hampstead war damals bekannter als Keats, der als Cornwalls Rivale um Anerkennung kämpfen musste und sich in seinen Briefen als kompetenter Dichter und reflektierter Poetologe profilieren wollte (vgl. Marggraf Turley 2009). Aber auch Keats’ Bewunderer Richard Woodhouse und John Hamilton Reynolds, die in Erwartung seines späteren Dichterruhms seine Briefe sammelten oder kopierten, selektierten und bearbeiteten die Texte, etwa durch Weglassungen oder Streichungen. Ein Grund, warum die Briefe Byrons und Keats’ einem ‚policing‘ durch ihre Freunde und Verleger unterworfen wurden, war ihr höherer Schreibfluss. Das erklärt, warum von Byron weit mehr als 3.000 Briefe erhalten sind und während des Erscheinens der von Leslie Alexis Marchand verantworteten Edition 1973– 1994 noch immer neue auftauchten. Trotz ihrer Selbstinszenierung und ihrer rhetorischen Machart je nach Adressat und Intention zeigen sie sehr viel mehr Spontaneität und unfertige Gedanken in statu nascendi als ihre Gedichte, was sich

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auch in Keats’ Orthographie äußert (vgl. Rodríguez 1993). Nur wenige Stellen sind gestrichen und überschrieben. Bei Byron kommen die vielen Gedankenstriche hinzu, welche die Adressaten als implizite Leser in die Sinnfindung des Textes einbezogen, sicherlich auch unter dem Einfluss von Laurence Sternes Roman Tristram Shandy (1759–1767), der auch als bewusst unfertiges Werk in statu nascendi daherkam. In ihrer romantischen Poetologie erhoben beide Dichter natürlichen, unreflektierten, ungekünstelten Gedanken- und Wortfluss zum Ideal. Keats etwa verkündete in einem Brief an seinen Verleger, Dichtung müsse so natürlich wachsen wie Blätter an einem Baum (Brief an John Taylor, 27.2.1818, Keats 1958, Bd. I, 238–239). Briefstellen, an denen sie die Mühen des Dichtens mehr nolens als volens eingestanden, strafen sie jedoch Lügen und erweisen ihre Werke als Artefakte von Natürlichkeit – was ihnen die klassizistischen Gegner der Romantik gerne zum Vorwurf machten, wenn sie denn nicht die Romantiker als Ignoranten, Anbiederer an den Pöbel, Nichtskönner und Massenproduzenten einer ‚littérature facile‘ diskreditierten. Im Zusammenhang dieses Widerspruchs in den Briefen ist auch der primitivistische romantische Dichtergestus der Philosophie-Enthaltung zu sehen, wohlbekannt aus Coleridges Depressions-Ode, wo sein Hang zu „abstruse research“ als Antagonist des natürlichen, ursprünglichen, unverfälschten „shaping spirit of Imagination“ erscheint (Coleridge, „Dejection: An Ode“, 1802, Zeilen 84–91). Byron spottete häufig über die Philosophen einschließlich der ‚natural philosophers‘ (Naturwissenschaftler), kannte und rezipierte sie aber. Bei ihm kam noch die skeptizistische epoché (Urteilsenthaltsamkeit) hinzu, wie vielfach geäußert in seinem komisch-satirischen Versepos Don Juan (1819–1824) und in einem Brief an einen christgläubig-klerikalen Freund (Brief an Francis Hodgson, 3.9.1811, Byron 1973–1994, Bd. II, 88–90). Seine Kenntnis naturwissenschaftlicher Schriften (Georges Cuvier, Erasmus Darwin) und Auseinandersetzung mit Systemen (Platon, Isaac Newton) auch in seinen Gedichten jedoch straft ihn Lügen. Eine echte nostalgische Rückkehr des modernen Menschen zur Ursprünglichkeit des Kindes und des Wilden, von ‚experience‘ zu ‚innocence‘, war unmöglich. Mit dem gleichen romantischen Gestus empfahl Keats trotz seiner Kenntnis der naturwissenschaftlichen Schriften von Erasmus Darwin, die auch Wordsworth und Byron in ihren Gedichten verwendeten, in einem Brief an seine Brüder „Negative Capability“, „[…] that is when a man is capable of being in uncertainties, Mysteries, doubts, without any irritable reaching after fact & reason“ (Brief an George und Thomas Keats, 21.12.1817, Keats 1958, Bd. I, 193). Der Brief liest sich wie ein Nebentext zu der vielzitierten Stelle in der magischen Verserzählung Lamia (1820), wo in typisch romantischer Topik Newtons Spektralanalyse als Zerstörerin der Magie des Regenbogens und Reduktion von Realität auf Materie attackiert wird:

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Do not all charms fly At the mere touch of cold philosophy? […] Philosophy will clip an Angel’s wings, Conquer all mysteries by rule and line, Empty the haunted air […].

In einigen Briefen jedoch zeigt sich Keats selbst als Philosoph und wirft Wordsworth als Defizit vor, kein Philosoph zu sein. In einem Brief an einen in Oxford ausgebildeten Freund reflektiert er, wenngleich sprunghaft und mythisch verbildlicht sowie mit einem Bezug auf Miltons Paradise Lost, die höhere Authentizität und Erkenntniskraft der Imagination gegenüber der Vernunft: „The Imagination may be compared to Adam’s dream – he awoke and found it truth. […] O for a Life of Sensations rather than of Thoughts!“ (Brief an Benjamin Bailey, 22.11.1817, Keats 1958, Bd.  I, 185) In einem späteren langen Brief an seinen Bruder George und dessen Frau Georgiana, beide inzwischen nach Kentucky ausgewandert, erweist er sich, wenngleich in einer schnellen Abfolge ähnlich ekstatischer Ausrufe und disparater Bilder, als neuplatonischer Philosoph, der den Gedanken der Geburt und des Falls des Kindes aus der Ideenwelt und seiner Entfernung vom Ursprung im Prozess des Erwachsenwerdens (Wordsworth, Coleridge) weiter verfolgt. Keats’ Bruder Tom war an der von der Mutter vererbten Schwindsucht gestorben, und er wusste als Arzt, dass auch er bald der Krankheit erliegen würde. Er beschreibt in einer Art universalreligiöser Theodizee die Erde als „vale of Soul-Making“ und das Leiden (Schulstrafen, Mühsal, Krankheiten) als notwendigen dialektischen Individuationsprozess vor der Rückkehr in die Ideenwelt: Do you not see how necessary a World of Pains and troubles is to school an Intelligence and make it a soul? […] As various as the Lives of Men are – so various become their souls, and thus does God make individual beings, Souls, Identical Souls of the sparks of his own essence – This appears to me a faint sketch of a system of Salvation [Christianity] which does not affront our reason and humanity  […]. (Brief an George und Georgiana Keats in Louisville, 21.4.1819, Keats 1958, Bd. II, 102–103)

Und in einem Brief an Reynolds verbildlicht Keats einen neuplatonischen Gedanken, den William Blake schon im Book of Thel (1789) und den Songs of Innocence and Experience (1794) formuliert und illustriert hatte: das irdische Leben als Abfolge durchschrittener Zimmer, die sich zunehmend verfinstern. Sein „Chamber of Maiden-Thought“ entspricht dem naiv-illusorischen und doch prophetischen Blake’schen „innocence“-Zustand des noch der Ideenwelt nahestehenden Kindes, in dem wir alles verklärt sehen „and think of delaying there for ever in delight“ (Brief an John Hamilton Reynolds, 3.5.1818, Keats 1958, Bd. I, 281).

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Hinsichtlich der Adressaten beider Dichter fällt auf, dass beide mit Frauen zwar Gedichte und belletristische Prosa lasen, sie aber nicht als Ansprechpartner für theologische, philosophische und politische Gespräche betrachteten. Lady Melbourne, eine kluge adlige Witwe in ihren Sechzigern, die Mutter des späteren Premierministers William Lamb Melbourne und Schwiegermutter von Byrons Geliebter Lady Caroline Lamb, die Byron als Vertraute und Beraterin annahm, obgleich als „man’s woman“ bekannt, war keine Ausnahme (Marchand 1971, 127). Auch ihr erzählte Byron lieber seine Erlebnisse in der Londoner Gesellschaft. Er hegte ein tiefes Misstrauen gegenüber intellektuellen Frauen wie Germaine de Staël, die er lieber als Mann gesehen hätte (Tagebuch von 1813–1814, 28.– 30.11.1813, Byron 1973–1994, Bd. III, 227), und Joanna Baillie, weil er sich ein Genie ohne männliche Genitalien nicht vorstellen mochte (Brief an John Cam Hobhouse, 17.5.1819, Byron 1973–1994, Bd. VI, 130–131). Hinzu kommt, wie in Keats’ und Byrons Gedichten, die topische Vorstellung der wider Willen Männer mordenden femme fatale und des schicksalhaft zerstörerischen amour fatal. Gefahr, Krankheit, Tod und die schöne Frau sind in ihrer Bildlichkeit eng verbunden. Seine Ehe mit Anne Isabella Milbanke, die ihn zu vernichten trachtete, beschrieb Byron als ebenso gefährlich wie seine strafrechtlich lebensbedrohlichen Jünglingsliebschaften und seine ehebrecherischen oder gar inzestuösen Affären mit seiner verheirateten Halbschwester Augusta Leigh, Lady Caroline Lamb, Lady Frances Webster-Wedderburn oder Teresa Guiccioli, deren cavalier servente er in Italien war, obwohl er wusste, dass ihr ältlicher Ehemann nach seinem Leben trachtete. Wie in seinen Werken erscheint Liebe in seinen Briefen und Tagebüchern als schicksalhafte Krankheit zum Tode, der man trotz Wissens nicht entrinnen kann, so in einem Brief über seine Liebschaft mit Teresa Guiccioli: „[…] the Cavalier Conte G[uiccioli] her respected Lord – is shrewdly suspected of two assassinations already – […]. But be that as it may – every thing is to be risked for a woman one likes […].“ (Brief an John Cam Hobhouse, 17.5.1819, Byron 1973–1994, Bd. VI, 130–131) Von dem weit weniger skandalösen, aber doch keinesfalls sexuell enthaltsamen oder gar weltfremden Keats sind Briefe an eine Geliebte Fanny Brawne aufschlussreich (vgl. Roe 2012). Fanny war seine ‚princesse lointaine‘, sein leuchtender Stern, der wegen seiner tödlichen Tuberkulose für ihn unerreichbar blieb wie Beatrice für Dante und Laura für Petrarca. Seine Briefe an sie lassen in ihrer Verbindung von Liebe, Krankheit und Tod gar Edgar Allan Poe vorausahnen: „You absorb me in spite of myself  […] I have two luxuries to brood over in my walks, your Loveliness and the hour of my death. O that I could have possession of them both in the same minute. […] Yours ever, fair Star“ (Brief an Fanny Brawne, 25.7.1819, Keats 1958, Bd. II, 133). Byrons Briefe in seiner Zerrissenheit zwischen Augusta und Anne Isabella, seiner „moral Clytemnestra“ (Brief an Augusta Leigh, 19.12.1816, Byron 1973–1994,

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Bd. V, 144), thematisieren die tödlichen Gefahren der Liebe, und seine Briefe nach der Nachricht vom Tode seines geliebten sechzehnjährigen Chorsängers John Edleston, die Strophen von Childe Harold’s Pilgrimage vorwegnehmen, bezeugen Lebensüberdruss in Ermangelung von Lebenssinn: „My friends fall around me, and I shall be left a lonely tree before I am withered.“ (Brief an R. C. Dallas, 11.10.1811, Byron 1973–1994, Bd. II, 110) Sein Gedicht über den guten Tod, „Euthanasia“ (1812), dessen Sprecher – Childe Harold alias Byron in seiner romantischelegischen Gestimmtheit – sich sein stilles Begräbnis in einem letzten Ausbruch von Liebesekstase vorstellt, erweist seine häufige Nähe zu Keats: Yet Love, if Love in such an hour Could nobly check its useless sighs, Might then exert its latest power In her who lives and him who dies. („Euthanasia“, Zeilen 13–16, Byron 1980, 353)

Briefe werden aus moderner Sicht oft eindimensional als Seelenschau betrachtet, besonders bei den ‚selbstbekennenden‘ Romantikern. Doch waren Byron und Keats sich der alles andere als privaten Natur ihrer Briefe wohl bewusst, und damit wurden ihre Briefe zu Selbstinszenierungen. Sie verkündeten philosophische Weltsicht, Anthropologie und Poetologie. Keats’ und Byrons widersprüchliche Briefe verkünden neben Vitalität und Lebenslust romantische Todessehnsucht: bei Keats in der Erwartung einer neuplatonischen Rückkehr in die Heimat der Ideenwelt, bei Byron in der Hoffnung einer endgültigen Befreiung von der Bürde und absurden Zirkularität des Lebens.

Zitierte Literatur Barnard, John (2001). „Keats’s Letters“, in: The Cambridge Companion to John Keats. Hg. v. Susan J. Wolfson. Cambridge: 120–134. Bohrer, Karl Heinz (1987). Der romantische Brief: Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München u. Wien. Byron, George Gordon (1973–1994). Letters and Journals. Hg. v. Leslie A. Marchand. 13 Bde. London. Byron, George Gordon (1980). The Complete Poetical Works. Bd. I. Hg. v. Jerome J. McGann. Oxford. Byron, George Gordon (2014). Letters and Journals: A New Selection. Hg. v. Richard Lansdown. Oxford. Clubbe, John (1975). „Byron in his Letters“, in: The South Atlantic Quarterly, 74: 507–515. Crompton, Louis (1985). Byron and Greek Love: Homophobia in Nineteenth-Century England. Berkeley (CA).

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Keats, John (1958). The Letters of John Keats, 1814-1821. Hg. v. Hyder Edward Rollins. 2 Bde. Cambridge (MA). Lessenich, Rolf (2017). Romantic Disillusionism and the Sceptical Tradition. Göttingen. MacCarthy, Fiona (2002). Byron: Life and Legend. London. Marchand, Leslie Alexis (1971). Byron: A Portrait. London. Marggraf Turley, Richard (2009). Bright Stars: John Keats, „Barry Cornwall“ and Romantic Literary Culture. Liverpool. Robertson, Jean (1942). The Art of Letter Writing: An Essay on the Handbooks Published in England During the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Liverpool. Rodríguez, Andrés (1993). Book of the Heart: The Poetics, Letters, and Life of John Keats. New York. Roe, Nicholas (2012). John Keats: A New Life. New Haven (CT). Townsend, Richard Lee (1971). Lord Byron as Literary Chameleon: A Study in Literary Influence. Ann Arbor (MI). Wellek, René (1955–1986). A History of Modern Criticism. 6 Bde. London.

Weiterführende Literatur Curran, Louise (2016). Samuel Richardson and the Art of Letter Writing. Cambridge. Ellis, Jonathan (2015). Letter Writing among Poets: From William Wordsworth to Elizabeth Bishop. Edinburgh. Graham, Peter W. (Hg.) (1984). Byron’s Bulldog: The Letters of John Cam Hobhouse. Columbus (OH). Gross, Jonathan (Hg.) (1997). Byron’s „corbeau blanc“: The Life and Letters of Lady Melbourne. Houston (TX). Lessenich, Rolf (2012). Neoclassical Satire and the Romantic School 1780–1830. Göttingen. Schwinn, Holger (2007). „Brentanos Briefkunst“, in: Romantische Metaphorik des Fließens: Körper, Seele, Poesie. Hg. v. Walter Pape. Tübingen: 105–122.

Jochen Grywatsch

6.13 Annette von Droste-Hülshoff als Briefschreiberin 1 Einleitung Die in erster Linie als Lyrikerin (Haidebilder, Geistliches Jahr u.  a.) und als Verfasserin der Erzählung Die Judenbuche in Erscheinung getretene Autorin Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848) hat auch auf dem Gebiet der Korrespondenz ein außergewöhnliches und hochrangiges Œuvre hinterlassen. Ihre Briefe, die erst Ende des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Historisch-kritischen Droste-Ausgabe (Droste-HKA, 1978–2000) umfassend erschlossen wurden, gehören zu den herausragenden Zeugnissen der deutschen Briefliteratur überhaupt. Über ihr epistolares Werk eröffnet sich eine komplementierende und in vielem überraschende Sicht, die das Bild der Autorin, wie es sich über das literarische Werk erschließt, vielfältig und detailreich ergänzt und neu konturiert. Sichtbar wird – und das ist bei einer Literatin der wohl wichtigste Faktor – die herausragende Prosaistin Annette von Droste-Hülshoff, eine überaus befähigte Erzählerin, die in ihren Briefen zeigt, dass sie im Bereich der ansonsten in ihrem Œuvre nur begrenzt profilierten Prosa „über eine dem lyrischen Werk nicht nachstehende kunstvolle Kompositionskraft und einen ausgeprägten Gestaltungswillen verfügte“ (Blasberg und Grywatsch 2010, 129). So sind ihre Korrespondenzen ein Medium par excellence einer Autorin, die den Brief für sich als ein weiteres Genre entdeckte, das sie zwischen privater Alltagskunst und quasi-literarischem Schreiben entwickelte. Daneben behaupten die Droste-Briefe ihre Bedeutung wesentlich auch als Quelle für das autor- und zeitspezifische Wissen, mit dem sich die Biographie Annette von Drostes konkretisiert. Vieles, was über ihren Entwicklungsgang, ihren familiären Hintergrund, ihre Lebensumstände, die Kontexte ihres literarischen Schreibens und ihr schriftstellerisches Fortkommen bekannt ist, beruft sich auf die Inhalte ihrer Briefe. Sie sind reiche Fundgrube und unverzichtbare Quelle für das Gerüst und die Details einer Biografie, in deren Fokus von früher Zeit an prominent die Schreibkontexte der Autorin stehen, während sich gleichzeitig die Lebensumstände des privaten Alltagsmenschen konturieren. Denn es sind Briefe einer Frau mit dem Selbstverständnis einer Autorin von Rang, einer selbstbewussten und sich im Schreiben emanzipierenden Literatin, für die im privaten Bezugsfeld des Briefes selbstverständlich war, was ihr als adeliger Frau in der öffentlichen Sphäre verschlossen blieb: das Sprechen über Literatur als ihr genuines Betätigungsfeld. Zum anderen Teil aber sind es Familienbriefe, deren Fokus in erster https://doi.org/10.1515/9783110376531-096

6.13 Annette von Droste-Hülshoff als Briefschreiberin 

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Linie auf das Alltagsleben des weitverzweigten westfälischen Adels gerichtet ist. Dabei sind die Briefe beredte Zeugnisse der bedrängten Situation der Menschen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, einer Zeit großer Unsicherheiten, wie sie sich infolge eines massiven Veränderungsdrucks zwischen den historischen Polen Restauration und Revolution ausprägten. Es eröffnen sich vielfältige Einsichten in die Gefühlskultur und Mentalitätsgeschichte des 19.  Jahrhunderts, gerade im Kontext der westfälischen Adelswelt. Drostes Briefe machen Geschichte auf besondere Weise lebendig; sie sind Zeugnisse des tiefgreifenden Wandels im 19. Jahrhundert, der alle gesellschaftlichen Bereiche und mithin das private Leben erfasst hatte. Gerade für Frauen war der Privatbrief eine Möglichkeit, in Bereiche vorzudringen, die ihnen bisher weitgehend vorenthalten waren. Briefschreiberinnen begannen sich explizit literarisches Terrain zu erobern, als sie das antike Muster des Kunstbriefs insbesondere auf dem Gebiet der literarischen Korrespondenz ausprägten und der poetische Charakter von Briefen gerade durch musterhafte Schriftstellerkorrespondenzen immer stärker in den Vordergrund trat. Es ist diese Tradition, die in Gellerts einflussreicher Brieflehre (1751) ihren Ursprung hat, in die sich das Droste’sche Briefœuvre einordnet (vgl. Blasberg 2009, 218–219, 222– 226; Spies 2010, 97–107). Dabei ist das, was sich auf mehr als 1.200 eng bedruckten Buchseiten im Rahmen der Edition der Historisch-kritischen Droste-Ausgabe eröffnet, nicht gerade einfach zugänglich, denn die Briefschreiberin macht es ihren Leser*innen nicht leicht – zu überbordend ist ihr Mitteilungsdrang, zu komplex ihre Schreibweise, zu detailreich ihre Schilderungen, zu ungewöhnlich ihre Briefdiktion. Um die „Dornhecken des Verständnisses“ (Arens 1912, 178) zu überwinden, müssen sich heutige Leser ihren Zugang erst schaffen und sich einlesen in einen stets geistvollen, von unbändiger Erzähllust geprägten, ebenso weitläufigen wie pointierten und immer wieder witzig-ironischen Briefstil  – und sich mittels der im Rahmen der Droste-HKA erarbeiteten Kommentarbände Verständnishilfe holen. Dabei sind die vielen Familienbriefe mit ihren oft seitenlangen Aneinanderreihungen von Informations- und Ereignisberichten aus dem Verwandtschaftskreis und den heute eher für den Lokalhistoriker noch interessanten Nachrichten aus dem bäuerlichen Umfeld von Burg Hülshoff und Haus Rüschhaus eine besondere Herausforderung. Doch allenthalben können überraschende Wendungen gehaltvolle, ausdrucksstarke und auf ihre je spezifische Weise außergewöhnliche Blickwinkel eröffnen, und schon die nächste Passage kann Bedeutendes und Denkwürdiges, Erstaunliches und Einzigartiges vermitteln. Gerade der Briefwechsel mit Freund*innen ist in dieser Hinsicht reichhaltig bestückt, wenn Kontexte literarischen Schreibens und des zeitgenössischen Literaturbetriebs prominent ins Blickfeld rücken. Daneben stehen, sowohl im Freundes- als auch im Familien-

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briefwechsel, immer wieder zeitpolitische Themen punktuell im Fokus (Kölner Kirchenstreit, Preußische Expansionspolitik, Provinziallandtage u.  a.).

2 Edition, Bestand, Forschungslage Die Briefe der Annette von Droste-Hülshoff, soweit sie überliefert sind, liegen heute in zuverlässiger Textgestalt gedruckt vor. Nach den Handschriften ediert sind sie veröffentlicht in den Bänden VIII (1987), IX (1993) und X (1992) der Droste-HKA (sowie gesammelt 1996 als Sämtliche Briefe im Nachdruck einer dtv-Taschenbuchausgabe). Hinzu kommen zwei Bände Briefe an die Droste XI (1994) und XII (1995). Allen Textbänden ist je ein umfangreicher Kommentarband mit Erläuterungen zu Überlieferung, Datierung, Textgestaltung, Lesarten sowie einem ausführlichen Einzelstellenkommentar beigegeben. Die Briefbände der HKA sind der vorläufige Endpunkt einer bewegten Editionsgeschichte, an deren Anfang Bemühungen der Familie standen, die Droste-Briefe zusammenzutragen und im Rahmen einer – freilich gescheiterten – ersten Gesamtausgabe ihres Werks zu veröffentlichen (vgl. Gödden 1991, 150–169; HKA VIII, 1266–1274). In der Folge erschienen Droste-Briefe in verschiedenen Teil- und Sammelausgaben, die den Gesamtbestand sukzessive vermehrten. Die Reihe beginnt mit Christoph Bernhard Schlüters Ausgabe von 1877, der die Edition Hermann Hüffers v.  a. der Briefe an Anton Matthias Sprickmann im Rahmen seiner Droste-Biografie von 1887 folgte. Etwa zeitgleich erschien ein weiteres Briefkonvolut in der Werkausgabe von Wilhelm Kreiten (1884/87), die er zusammen mit der Nichte der Droste, Elisabeth von Droste-Hülshoff, herausgab. 1893 kam ein dritter großer Briefbestand auf den Markt, nämlich die Korrespondenz mit dem engen Freund und Schriftsteller Levin Schücking, herausgegeben von dessen Tochter Theophanie Schücking, – ein Band, der viel Aufsehen erregte, da die bisher in der gelenkten Biografik heruntergespielte Beziehung zu Schücking nun in ihrer ganzen Vertrautheit sichtbar wurde. Sehr einflussreich aufgrund des umfangreichen Vorworts von Reinhold Conrad Muschler, das die Beziehung Droste–Schücking mystifizierte und zu einer pathetisch gefärbten Freundschaftslegende stilisierte, wurde die dritte Auflage des Schücking-Briefwechsels von 1928. Zuvor hatte 1909 auf der Basis der bis dahin bekannten Briefe Hermann Cardauns die erste Gesamtausgabe der Droste-Briefe herausgegeben. 1912 erweiterte sich das Korpus um die Briefe Drostes an Elise Rüdiger, die Kurt Pinthus herausgab. Einen weiteren Schritt unternahm Manfred Schneider, der 1923 Dreiundzwanzig neue Droste-Briefe edierte. Inzwischen wurden DrosteBriefe in zahlreichen Anthologien abgedruckt. Prominentestes Beispiel ist die Aufnahme des Briefs an Sprickmann vom 8. Februar 1819 in die von Walter Ben-

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jamin unter dem Pseudonym Detlef Holz herausgegebene Sammlung Deutsche Menschen. Eine Sammlung von Briefen (1935). 1944 schließlich erschien die zweibändige Briefsammlung von Karl Schulte Kemminghausen, die nochmals einen großen Zuwachs an Briefzeugnissen brachte und insgesamt 245 Briefe abdruckte. Der weitere Zugewinn im Rahmen der Droste-HKA machte 52 neue Briefe oder Briefvervollständigungen aus. Im Ganzen ist nach der systematischen Recherche der HKA in der Zukunft kaum mehr mit nennenswerten Neufunden zu rechnen. Die Briefe Annette von Droste-Hülshoffs sind bisher nur in begrenztem Maß Gegenstand (literatur-)wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Die im Kontext der erwähnten Briefausgaben publizierten Vor- und Nachworte lassen oft die notwendige Objektivität vermissen und zeichnen sich eher durch die Neigung zur tendenziösen Stilisierung aus. Einige zuletzt erschienene Auswahlausgaben gehen mit dem Gegenstand seriöser um, indem sie sich einem Erkenntnisinteresse verschreiben und ihre begleitenden Darlegungen entsprechend perspektivieren (vgl. Naumann 1992; Blasberg und Grywatsch 2010). Monographisch sind die Droste-Briefe in zwei Untersuchungen zum Thema geworden. Dabei leistete die Studie Die andere Annette. Annette von Droste-Hülshoff als Briefschreiberin (1991) von Walter Gödden Pionierarbeit, indem sie das umfangreiche Material erstmals erschloss und dabei vielfältige Bedingungen und Umstände der Briefschreiberin Droste-Hülshoff explizit in den Blick rückte. 2010 erschien die Dissertation von Heike Spies, deren Interesse vor allem den literarischen Anteilen der Droste-Briefe galt (Literatur in den Briefen Droste-Hülshoffs). In einem Aufsatz konkretisierte sie 2008 ihre These der Ausprägung dreier unterschiedlicher Briefstile. Hinzu kommen wenige weitere wissenschaftliche Aufsätze zum Thema: Arend (1990) zum Droste’schen Humor, Plachta (1995) zur Interaktion von Brief und Gegenbrief, Niethammer (1995) zum Verhältnis Brief/Werk, Blasberg (2009) zum Konstitutionsverhältnis von Brief und Raum, Köhn (2009) zur Raumerfahrung sowie übergreifend Blasberg 2018 im neuen Droste-Handbuch. Die Anzahl der zumindest mit einem Ausschnitt, aber zumeist vollständig überlieferten Droste-Briefe beläuft sich auf insgesamt 270. Zudem verzeichnet die HKA insgesamt 154 erschlossene Briefe, also solche, deren ehemalige Existenz zweifelsfrei nachzuweisen ist, von denen aber kein Text überliefert ist und daher nur Rückschlüsse auf die Inhalte möglich sind. Wie hoch die Zahl der Briefe Annette von Droste-Hülshoffs insgesamt war, lässt sich nur grob schätzen: Gödden geht unter Berücksichtigung der vielen nachgewiesenen Verluste davon aus, dass nur etwa 10 Prozent der Briefe erhalten sind (vgl. Gödden 1991, 149), während Spies diese Größe bei 50 Prozent ansetzt (vgl. Spies 2010, 26). Meines Erachtens greift die Annahme einer Gesamtzahl von ca. 2.700 zu hoch, während eine geschätzte Anzahl von etwa 550 wiederum zu niedrig liegt. Berücksichtigt man die spezifischen Bedingungen wie familiäre Inanspruchnahmen, Schreib-

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umstände, lange Krankheitsphasen, Vorzug der literarischen Arbeit ebenso wie die nachweisbaren Verluste, so ist anzunehmen, dass etwa 20 Prozent der Briefe erhalten sind, also die Gesamtzahl der geschriebenen Briefe etwa bei 1.000 gelegen haben mag. Bekannt ist, dass Annette von Droste ganze Konvolute von Briefen vernichtete und dies auch von ihren Briefpartner*innen erwartete. „ [ B ] i t t e v e r b r e n n e n S i e d i e s e n B r i e f “ , schrieb sie am 5. Januar 1844 an Schücking, „ich möchte um Alles nicht, daß diese letzten Worte in der Welt blieben“ (HKA X, 129). Ihr selbst galt die Privatsphäre als äußerst schützenswert, und sie bemühte sich darum, Lebensspuren zu verwischen. Zumindest zweimal hat sie in großem Umfang Briefe vernichtet. Es fehlen heute fast vollständig die Briefwechsel mit den Freundinnen Amalie Hassenpflug und Adele Schopenhauer, die die Freundin in einem der wenigen überlieferten Schreiben als „Schwester Scheherezade“ (HKA XI, 31) bezeichnete, ebenso der mit Luise von Bornstedt sowie der frühe Briefwechsel mit Levin Schücking. Ähnliches trifft auf die Korrespondenzen mit Sibylle MertensSchaaffhausen und Wilhelmine von Thielmann zu, mit denen Droste zeitweise engen Kontakt hatte. Im Falle Wilhelm Junkmanns ist bekannt, dass dieser die an ihn gesandten Briefe größtenteils vernichtet hat. Anders bei Elise Rüdiger, die Drostes Aufforderung nur bedingt nachkam, so dass ca. dreißig Briefe von einem freilich viel umfangreicheren Gesamtbestand erhalten geblieben sind, während von ihr selbst nur zwei Schreiben vorliegen. Da Briefe durchaus nicht privat bleiben konnten und im Familienkreis gelesen wurden, überrascht nicht, dass vor allem die unverfängliche Familienkorrespondenz erhalten geblieben ist, während die vertraulichen und zum Teil brisanten Briefe zwischen Freund*innen nicht überliefert, also der Vernichtung anheimgefallen sind. Insgesamt teilt sich der Gesamtbestand der Briefe der Annette von DrosteHülshoff einschließlich der erschlossenen Briefe in zwei große Abteilungen, wozu sich eine dritte, kleinere Gruppe gesellt. Das sind in der Hauptsache die beiden Großkomplexe Familienkorrespondenz (v.  a. Jenny von Laßberg, Therese von Droste-Hülshoff, Sophie und Ludowine von Haxthausen) und Freundschaftskorrespondenz (v.  a. Levin Schücking, Elise Rüdiger, Christoph Bernhard Schlüter, Amalie Hassenpflug, Anton Matthias Sprickmann). Hinzu kommt die kleine Gruppe von Briefwechseln mit anderen Personen, v.  a. den Verlegern Coppenrath und Cotta und ihrem Homöopathen von Bönninghausen. Insgesamt sind 177 Familienbriefe und 223 Freundesbriefe erhalten; die dritte Gruppe macht 24 Schreiben aus.

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3 Form und Gestalt Drostes Briefe, das zeigt der Blick in die Handschriften, sind wahre Schriftlandschaften, ausufernde Buchstaben- und Wortarchitekturen von einer eigenen Ästhetik, die den bzw. die Leser*in – und umso mehr die heutigen Rezipient*innen – schon im Hinblick auf ihre Entzifferbarkeit vor eine Herausforderung stellten (vgl. Gödden und Grywatsch 1996). Dem einen oder anderen Briefpartner mögen sie als Kryptographien erschienen sein, die es regelrecht zu erforschen galt. Klagen über die Unleserlichkeit, die mikroskopisch kleine Handschrift und die übervollen Briefblätter jedenfalls sind von mehreren Briefpartner*innen überliefert. In der Tat, die Briefblätter beschrieb Droste exzessiv vollflächig bis zum äußersten Rand und in die hinterste Ecke. Selbst der Briefumschlag wurde in der Regel bis in den letzten Winkel hinein genutzt, was häufig unfreiwillig zu Textverlust infolge des Siegelausrisses führte. Das Papier war knapp, das Porto für die Beförderung teuer  – neben diesen funktionalen Gründen waren es die unbändige Fabulierlaune und ihr Selbstverständnis als mitteilsame Korrespondentin, die hier als ursächlich zu nennen sind. Dennoch, wer in der Gunst stand, von Annette von Droste Briefe zu bekommen, der konnte sich, trotz mancher anderslautenden Meldung, sofern er über gute Sehschärfe verfügte oder sich zur Vergrößerung entsprechender Hilfsmittel bediente, nach der notwendigen Angewöhnung in der Regel gut zurechtfinden in einer Droste’schen Epistel. Denn die Autorin gab sich durchaus Mühe mit der Handschrift, die sie zwar klein bis winzig, aber durchaus normgerecht und sauber zu Papier brachte – ganz anders, als es z.  B. auf die nur mit größter Anstrengung zu entziffernden Arbeitsmanuskripte für den eigenen Gebrauch zutraf. Annette von Droste war sich der Konventionen und der Bedeutung des Briefs nur allzu bewusst, eines Mediums, das ihre Zeit als gesellschaftliche Alltagsform mit Anspruch auslegte, die sie wiederum als eigene Kunstform (s.  u.) auffasste. Das Abfassen der Briefe zog sich oft über mehrere Tage, manchmal sogar Wochen hin. Immer wieder behinderten längere Krankheiten die Schreibverpflichtungen. An Sibylle Mertens-Schaaffhausen schreibt sie am 11. Juli 1843: [J]etzt hat sich mir der Krankheitsstoff wieder auf den Kopf geworfen, der mir den ganzen Tag summt und siedet wie eine Theemaschine – Ohr – Zahn – Gesichts – Schmerz – Ich möchte mich zuweilen, wie jener Halbgeköpfte, (Kindermährchen von Grimm) bey den Haaren nehmen, und mein weises Haupt in den Fischteich unter meinem Fenster werfen, wo es ihm wenigstens kühl werden würde. (HKA X, 64)

In der Regel bestanden ihre Briefe aus ein bis zwei engbeschriebenen Doppelblättern in Oktavformat sowie einem innen beschriebenen Umschlagblatt, worauf Brieftext bis zu einem Umfang von neun bzw. 18 Druckseiten untergebracht war.

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Der Schreibfluss materialisierte sich in einer fortlaufenden, absatzlosen und über lange Strecken ohne Satzabschlusszeichen auskommenden Fabulierkunst. Um ihre Gedanken zu trennen und in Schreibabschnitte zu unterteilen, setzte Droste eher auf Semikola und Kommata. Im Ergebnis schuf sie mit „Feder, Dinte, und Papier“ (HKA I, 612) engmaschige Schriftarchitekturen, die sie in der Regel mit Stahlfedern anstelle der favorisierten, aber nicht handhabbaren Gänsekiele erzeugte (HKA X, 327). Für die ihr wichtigen Briefwechsel hatte Droste, um unliebsame Überschneidungen möglichst zu verhindern, oft bestimmte Schreibabfolgen verabredet. Das betraf vor allem die Freundschaftskorrespondenz, in der sich die Gepflogenheit durchsetzte, die auch Notwendigkeit war, vertraulich zu handhabende Einzelblätter einzulegen, auf denen man sich freier, ungezwungener und offener, als es in den vom ganzen Familienkreis neugierig aufgenommenen Briefen möglich war, artikulieren konnte. Denn es war üblich und wurde demnach in der Familie wie selbstverständlich erwartet, dass die Briefinhalte geteilt wurden. Man las aus Briefen vor, man teilte sie mit Freunden, und hin und wieder verschenkte man sie gar. Briefe waren eine hochgeschätzte Unterbrechung des Alltags, sie waren Informationsmedien für die ganze Familie, vor allem aber auch emotionale Stützen, „Trostspender und Lebenselixier“ (Gödden 1991, 14). Für die Freunde war das Eintreffen eines Schreibens oft gleichbedeutend mit einem Festtag: So wurde die Lektüre von Drostes Brief vom November 1835 aus Eppishausen von Schlüter und Freund Junkmann in einer Art Zeremonie regelrecht gefeiert (HKA XI, 91–94; HKA XII, 207). Im Hinblick auf die Beförderungssituation hatte sich durch die Angliederung Westfalens an Preußen und die damit verbundene Ausweitung des preußischen Postsystems ab 1802 bzw. 1815 vieles verbessert. Das Durcheinander der zahlreichen verschiedenen Kleindistrikte war mit dem zügigen Ausbau des Straßen- und Wegenetzes einem einheitlichen, übergreifenden und weitgehend funktionierenden Postverkehr und Beförderungssystem gewichen. Zweimal in der Woche verkehrte die preußische Post in Münster, feste Termine, auf die Annette von Droste ihre Korrespondenz ausrichtete. Freilich mussten die Schreiben auch noch von den abgelegenen Wohnorten Rüschhaus bzw. Hülshoff nach Münster expediert werden, was in der Regel durch Boten bewerkstelligt wurde. Angekommene und bei befreundeten Familien in Münster hinterlegte Briefe wurden auf ebendiesem Weg überbracht (vgl. Gödden 1991).

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4 Adressat*innen und Inhalte Unter den beiden Großgruppen der Korrespondenz stellen die Familienbriefe mit ihren oft ausufernden Berichten aus dem weitläufigen Verwandten- und Bekanntenkreis auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten eine besondere Herausforderung für den Leser dar. Dennoch haben auch diese, obwohl sich hier oft ellenlange Klatsch- und Tratschgeschichten in die Rapporte über Geschicke und Missgeschicke der Verwandten und Bekannten mischen, ihren eigenen Reiz. Denn die Schilderungen sind oft ungeheuer humorvoll, witzig, ironisch, mitunter beißendspöttisch formuliert, während sie ein lebendiges, eindrückliches Bild sowohl der westfälischen Adelswelt als auch des bäuerlichen Lebens im Münsterland zeichnen und in dieser Weise beredte Quellen einer Gefühlskultur und Mentalitätsgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellen. Hauptadressat*innen im Familienkreis sind die Schwester Jenny, die als vertraute Freundin in alle Geheimnisse eingeweiht wird und als Ratgeberin und Seelentrösterin fungiert, sowie die Mutter Therese von Droste-Hülshoff, der Droste lebenslang im Gestus der gehorsamen Tochter im Sinne einer Pflichterfüllung schreibt und dabei manch heiklen Punkt nur in einer der Erwartung der Mutter angepassten, entschärften Form anspricht. Weiter sind Sophie und Ludowine von Haxthausen, Bökendorfer Stieftanten fast gleichen Alters, in das epistolare Netzwerk der Familiennachrichten einbezogen. Daneben entfaltete sich mit den z.  T. literarisch und wissenschaftlich hochgebildeten und politisch aktiven Stiefonkeln Werner, Moritz und August von Haxthausen eine punktuelle, oft spezifisch kulturelle Aktivitäten wie Sammel- oder Herausgabeprojekte fokussierende Korrespondenz, die eher funktional als emotional geführt wurde. Bei allem Schreibeifer – die Familienkorrespondenz war für Droste mehr lästige Pflichtübung, mit der sie den Erwartungen an ihre Rolle nachkam, als Herzensangelegenheit.

5 Elise Rüdiger Ganz anders dagegen nimmt sich die Freundschaftskorrespondenz aus, die Droste mit besonderem Eifer und Hingabe geführt hat  – in hohem Maß zugewandt, authentisch, vertraut, geistreich und eloquent, emotional und immer wieder hochliterarisch. Hier präsentiert sich die Autorin als achtungsvolle und eng vertraute Briefschreiberin, die das persönliche Gespräch in der Form des brieflichen Austauschs fortzusetzen sucht. Es sind vor allem vier Korrespondenzen, die mit je eigenen Spezifika hier in den Fokus rücken. Die wichtigste Briefpartnerin der späten Jahre war zweifellos Elise Rüdiger, zu der sich ab 1838 eine immer vertrau-

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tere Beziehung aufbaute. Die stetig wachsende Verbundenheit wird durch liebevolle, fast intime Anreden („mein Herzchen“, „mein gut Liebchen“, „mein liebstes Herz“) bestätigt. Droste sah in Elise Rüdiger ihr Alter Ego, „mein anderes Ich, oder vielmehr meine abhanden gekommene Hälfte, da Sie grade Alles haben, was mir fehlt“ (HKA X, 95). Die Briefe an die Freundin enthalten einige der dezidiertesten Urteile über Literatur und die pointiertesten künstlerischen Selbstverortungen Drostes in ihren späten Jahren. Die wohl bekannteste poetologische Positionsbestimmung und Formulierung literarischen Selbstverständnisses findet sich in einem Brief an Elise Rüdiger: [S]o steht mein Entschluß fester als je, nie auf den Effect zu arbeiten, keiner beliebten Manier, keinem anderm Führer als der ewig wahren Natur durch die Windungen des Menschenherzens zu folgen, und unsre blasirte Zeit und ihre Zustände gänzlich mit dem Rücken anzusehn,  – ich mag und will j e t z t nicht berühmt werden, aber nach hundert Jahren möcht ich gelesen werden, und vielleicht gelingts mir, da es im Grunde so leicht ist wie Columbus Kunststück mit dem Ey, und nur das entschlossene Opfer der Gegenwart verlangt. (HKA X, 89)

Der freundschaftlich-liebevolle Briefwechsel ist geprägt von Offenheit, Vertrautheit und einer oft verblüffenden alltagsphilosophischen Klarheit. Sehr deutlich pointiert Annette von Droste-Hülshoff ihr Verständnis des Briefs als Fortsetzung des persönlichen Gesprächs, wenn sie der nach Minden verzogenen Elise Rüdiger 1845 von der Erfindung des Fernsprechens berichtet: […] durch eine, wenig kostbare, Vorrichtung von drahtdünnen Röhrchen unter der Erde, den Schall auf große Wegstrecken so fortzupflanzen, daß man z.  B. in Minden nur sprechen, und ein Anderer in Münster das Ohr anlegen darf […] [und man würde] nach vorläufiger Bestellung, zu Unterredungen zugelassen; – Ach Gott, Lies, was würden wir da manchen halben Gulden todtschlagen! (HKA X, 325–326)

6 Levin Schücking Von herausragender Bedeutung war auch der Briefwechsel mit Levin Schücking, um dessen Gunst beide Freundinnen zeitweise in diskreter Konkurrenz standen. Der seit 1838 zunehmend herzlicher werdende Kontakt zu dem Sohn der früh verstorbenen Droste-Freundin und Autorin Katharina Busch-Schücking dokumentiert sich in häufigen Zusammentreffen, gemeinsamen Unternehmungen und Gesprächen, vor allem aber in einem regen Briefwechsel. Dieser erfuhr seine größte Intensität nach dem Weggang Schückings aus Meersburg nach dem gemeinsam dort verbrachten Winter 1841/42. Die nachfolgenden Briefe zeichnen

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ein eindrückliches Bild von dem Schmerz über den Verlust der vertrauten Verbindung. Einige sehr innige, persönlich-vertrauliche Passagen dieser Briefe („guten Morgen Levin! – ich habe schon zwey Stunden wachend gelegen, und in einem fort an dich gedacht, ach, ich denke immer an dich – immer […] schreib mir nur oft – mein Talent steigt und stirbt mit deiner Liebe – was ich werde, werde ich durch dich und um deinetwillen“, HKA IX, 295) haben bewirkt, dass nach deren Veröffentlichung über die Beziehung Drostes und Schückings vieles gemutmaßt wurde. Bis mindestens Ende 1844, dem Zeitpunkt des Erscheinens ihrer großen Gedichtausgabe im Cotta-Verlag, blieb Schücking, der gleichzeitig literarischer Agent Drostes war und für ihre Verlagskontakte sorgte, enger Korrespondenzpartner, obwohl sich beide nach Schückings Verlobung und Heirat mit Louise von Gall auf persönlicher Ebene zunehmend distanzierten. Die späteren Briefe kreisen deshalb in der Hauptsache um literarische und Publikationskontexte. Infolge der Veröffentlichung von Schückings Roman Die Ritterbürtigen (1846), durch den sich Droste hintergangen fühlte, stellte sie den Briefkontakt abrupt ein.

7 Weitere Korrespondenzen Ebenso eng korrespondierte Droste über längere Zeit mit Christoph Bernhard Schlüter, obwohl dieser Briefwechsel nicht in gleicher Weise intim und vertraut war, sondern sich zeitweise, wenn Schlüter theologisch fundierte Gedichtaufgaben an Droste herantrug, eher als literarisches Arbeitsverhältnis ausprägte. Dennoch ist an Schlüter einer der eindrucksvollsten Droste-Briefe gerichtet, als sie ihm, dem Erblindeten, 1835 aus der Schweiz das grandiose Alpenpanorama ihres Aussichtspunkts so anschaulich schildert, als nehme sie den Freund an die Hand und führe ihn durch die Landschaft (HKA VIII, 175–190). Als letzter, aber chronologisch an vorderer Stelle stehender Briefpartner ist Anton Matthias Sprickmann zu nennen, dem Annette von Droste als Jugendliche und junge Frau wahre Kunstbriefe schrieb, mit denen die 17-jährige dem 50  Jahre älteren arrivierten Wissenschaftler und ehemaligen Sturm-und-Drang-Autor auf Augenhöhe entgegentrat (vgl. HKA VIII, 22–29). Weitere Briefwechsel mit Sibylle MertensSchaaffhausen, Adele Schopenhauer und Amalie Hassenpflug wären zweifelsfrei auch in dieser Reihe zu nennen, würden sie noch vorliegen. Die wenigen erhaltenen Zeugnisse jedenfalls lassen auf vertraute Briefverhältnisse schießen. Übergreifend ist festzuhalten, dass Annette Droste, bei aller Unterschiedlichkeit der verschiedenen Briefpartner*innen und Briefanlässe, nicht nach wichtigen und weniger wichtigen Kontakten differenzierte: Allen trat sie mit großer Aufmerksamkeit entgegen. Jeder Korrespondent konnte sich individuell gewürdigt

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fühlen durch einen auf ihn abgestimmten Briefstil, durch eine ihm angemessene Ansprache, mit der die Schreiberin stets eine vertraute und vertrauensvolle Briefkommunikation erzeugte.

8 Sprache, Stil, Literarizität Auf dem Boden der in der Nachfolge von Gellerts Brieflehre maßgeblichen Stilvorgaben für Korrespondenzen der Zeit sind Individualität, Natürlichkeit, ausgeprägte Adressatenbezüge sowie ein gehöriges Maß an Literarizität die charakteristischen Kennzeichen der Briefe Annette von Droste-Hülshoffs, deren epistolarem Schreiben in der Form des Kunstbriefs, wie es z.  B. der Eppishausen-Brief an Schlüter ist, durchaus der Rang einer literarischen Gattung zukommt. Droste-Hülshoff besaß ein dezidiertes, eigenes Selbstverständnis als Briefschreiberin, das sich mit einem hohen Anspruch verband, den ihre Briefpartner*innen oft nicht erfüllen konnten. Neben einem natürlichen Stil und der Nähe zum persönlichen Gespräch erwartete sie von einem Brief Originalität, durchdachte Gedankenordnung und Orientierung am Informationsbedürfnis des Briefpartners (vgl. Gödden 1991, 25). Selbstverständlich gehörten zur ungezwungenen Eloquenz des guten Briefs, der sich durch die simulierte Mündlichkeit der Sprache ebenso auszeichnen sollte wie durch die gefühlsbetonte Ansprache, auch die originelle erzählerische Komposition und der gewandte, geistreiche Ausdruck, dessen Kennzeichen feines Gespür, Witz und Humor waren. „[Z]ur Prosa gehören“, so bringt sie es der Freundin Elise Rüdiger gegenüber auf den Punkt, „Vielseitigkeit, natürlicher Styl, und Kenntnisse“ (HKA X, 238). Mit ihrer Begabung für messerscharfe Beobachtungen und ihrem ausgeprägten Gespür für Feinheiten und Zwischentöne gelang es Droste, auch aus vermeintlichen Belanglosigkeiten stets etwas Besonderes zu schaffen. Zwei ebenso herausstechende wie charakteristische Stilmerkmale sind für die Droste-Briefe über die einzelnen Adressatengruppen hinaus konstitutiv. Ihr beachtlicher Humor und ihre besondere Literarizität sind diejenigen Eigenschaften, die viele ihrer Briefe als einzigartige und außergewöhnliche Beispiele der gehobenen Briefliteratur im Ganzen auszeichnen. Ihrem zweifellos ausgeprägten Sinn fürs Humoristische, dem sie im literarischen Werk, mit Rücksicht auf die Konvention, nur wenig Platz einräumte, ließ Droste in ihren Briefen freien Lauf. Sie sind reich an äußerst humorvollen Passagen, die schnell auch beißenden Spott, Sarkasmus und ein hohes Maß an Selbstironie transportieren. Als privates Ausdrucksmedium erlaubte die Briefform offensichtlich, alle Vorgaben von Konvention und Sitte, die die öffentlich agierende adelige Frau im Biedermeier

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ansonsten stark reglementierten, über Bord zu werfen und einer Fabulierlaune zu frönen, die sich in eigenwilliger, selbstbewusster, geistreich-exquisiter und oft witziger Prosa ausprägen kann. Wenn sich so abseits der literarisch-gesellschaftlichen Norm eine gänzlich unkonventionelle, weiblich codierte Kunstform Bahn brechen kann, dann bilden die Briefe einen „Schutzraum, ein spezifisches ‚Literatop‘“ (Blasberg und Grywatsch 2010, 133), das Annette von Droste allein ihren Vorstellungen gemäß gestalten konnte. In ihrem „epistolarischen Lustgarten“ (Arend 1990, 52) operierte Droste, die in der Familie als ‚Hoflustigmacherin‘ galt, vor allem mit ironischer Übertreibung, mit inkongruenten und damit überraschend komisch wirkenden Verbindungen, mit frappanten, humorvollen Personifizierungen, mit doppel- und hintersinnigen Spitzfindigkeiten, mit einer Tendenz zur derben Direktheit sowie der Vorliebe für kreativ-witzige Tiervergleiche (vgl. Arend 1990; Gödden 1991, 58–71). Unter dem Aspekt des offenen, unverhohlenen, scharfzüngigen, bisweilen bissig-spottenden Sprechens waren die Briefe durchaus eine Form der Befreiung aus Norm und Konvention. Zuletzt ist der Blick auf ein Charakteristikum zu richten, das die Droste-Briefe in besonderer Weise, nämlich als Schriftstücke einer hochrangigen Literatin auszeichnet. Drostes briefliches Schreiben ist immer ein gehobenes, sprachlich anspruchsvolles Mitteilen. Dabei ist die literarische Form in vielen Passagen in einer besonderen Weise zugespitzt und zugleich abgerundet, sodass prägnante Abschnitte entstehen, in denen Droste bestimmte Inhalte treffend und akzentuiert, mit Witz und Scharfsinn, starker Bildkraft und pointenhafter Zuspitzung und immer in sprachlicher Meisterschaft vermittelt. Aus solchen „Erzählkerne[n]“ (Blasberg und Grywatsch 2010, 132) – diese Annahme liegt nahe – hätten leicht eigene Prosastücke entstehen können, bricht sich hier doch die versierte Erzählerin Bahn, der es gelingt, ihre Schilderungen mit „Miniaturerzählungen“ auszustatten, die als potentielle Keime neuer Geschichten gelten können und denen so „ein nicht ausgeschöpftes literarisches Potential, ein unrealisierter Überschuss an dichterischer Kreativität“ (Blasberg 2018, 97) eignet. Dabei ist das Panorama der Schilderungen weit geöffnet: Kunstkeime dieser Art entstehen im Zusammenhang von Reiseschilderungen, sie können Landschaften, eindrucksvolle Personen oder Bauwerke in den Blick rücken, aber auch überraschende Ereignisse, soziale und zwischenmenschliche Situationen, besondere Begebenheiten im Familien- und Freundeskreis oder auch virulente politische Themen, wie die Ereignisse um die Inhaftierung des Erzbischofs Clemens August von Droste-Hülshoff zu Vischering im Zuge des Kölner Kirchenstreits oder die Wirren des Schweizer Sonderbundkrieges. Das Erzählen im Zeichen potentieller Geschichten kennzeichnet die wohl auffälligste und eindrucksvollste stilistische Besonderheit der Briefe der Annette von Droste-Hülshoff.

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Zitierte Literatur Arend, Angelika (1990). „‚Es fehlt mir allerdings nicht an einer humoristischen Ader‘. Zu einem Aspekt des Briefstils der Annette von Droste-Hülshoff“, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur, 82.1: 50–61. Arens, Eduard (1912). „Studien zu Annette von Droste. II. Sprachliches und Sachliches zu den Briefen“, in: Literarischer Handweiser, 50: Sp. 178. Blasberg, Cornelia (2009). „‚Versprengter Tropfen von der Quelle Rande‘. Zum Ort des Subjekts in den Briefen der Annette von Droste-Hülshoff“, in: Raum. Ort. Topographien der Annette von Droste-Hülshoff. Hg. v. Jochen Grywatsch: 215–241. Blasberg, Cornelia (2018). [Art.] „Korrespondenzen“, in: Annette von Droste-Hülshoff. Handbuch. Hg. v. ders.  u. Jochen Grywatsch. Berlin u. Boston: 89–97. Blasberg, Cornelia u. Jochen Grywatsch (2010). „Nachwort“, in: Annette von Droste-Hülshoff. Aus ihren Briefen. Ausgewählt, kommentiert u. mit einem Nachwort versehen v. dens. Münster: 128–134. Droste-Hülshoff, Annette von (1996). Sämtliche Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Winfried Woesler. München. Droste-Hülshoff, Annette von (2010). Aus ihren Briefen. Ausgewählt, kommentiert u. mit einem Nachwort versehen v. Cornelia Blasberg u. Jochen Grywatsch. Münster. Droste-Hülshoff, Annette von (1978–2000). Historisch-kritische Ausgabe. Werke – Briefwechsel. Hg. v. Winfried Woesler. 14 Bde. in 28 Teilbd. Tübingen: Bd. I/2: Gedichte zu Lebzeiten. Dokumentation. Bearb. v. Winfried Theiß. 1997; Bd. VIII/1: Briefe 1805–1838. Text. Bearb. v. Walter Gödden. 1987; Bd. IX/1: Briefe 1839–1842. Text. Bearb. v. Walter Gödden und Ilse-Marie Barth. 1993; Bd. X/1: Briefe 1843–1848. Text. Bearb. v. Winfried Woesler. 1992; Bd. XI/1: Briefe an die Droste 1809–1840. Text. Bearb. v. Bodo Plachta. 1994; Bd. XII/1: Briefe an die Droste 1841–1848. Text. Bearb. v. Stephan Thürmer. 1995. Gödden, Walter (1991). Die andere Annette. Annette von Droste-Hülshoff als Briefschreiberin. Paderborn. Gödden, Walter u. Jochen Grywatsch (1996). „Ich, Feder, Tinte und Papier“. Ein Blick in die Schreibwerkstatt der Annette von Droste-Hülshoff. Paderborn. Köhn, Lothar (2009). „Ort, Nicht-Ort, Heterotopie in Brief und Versepos der Droste“, in: Raum. Ort. Topographien der Annette von Droste-Hülshoff. Hg. v. Jochen Grywatsch. Hannover: 197–213. Naumann, Ursula (1992). „Nachwort“, in: Annette Droste-Hülshoff. „Mein lieb lieb Lies!“ Die Briefe der Annette von Droste-Hülshoff an Elise Rüdiger. Frankfurt a. M. u. Berlin: 259–288. Niethammer, Ortrun (1995). „Ein jeder hat eine gewisse Art zu denken und sich auszudrücken“. Aspekte der Diskussion um Frauenbriefe und -werke zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Westfälische Forschungen, 45: 156–168. Plachta, Bodo (1995). „‚Le papier ne rougit pas‘. Das Verhältnis von Brief und Gegenbrief in der Korrespondenz der Droste“, in: Ders. „1000 Schritte von meinem Canapee“. Der Aufbruch Annette von Droste-Hülshoffs in die Literatur. Bielefeld: 151–171. Spies, Heike (2008). „Die Briefe Annette von Droste-Hülshoffs als Beitrag zu einer modernen Prosa“, in: „Zu früh, zu früh geboren…“. Die Modernität der Annette von Droste-Hülshoff. Hg. v. Monika Salmen u. Winfried Woesler. Düsseldorf: 64–75. Spies, Heike (2010). Literatur in den Briefen Droste-Hülshoffs. Frankfurt a. M. u.  a.

Roman Lach

6.14 Liebes- und Ehebriefe im 19. Jahrhundert – Bismarck, Sacher-Masoch, Stifter, Haeckel 1 Liebesbrief im Realismus Die Zusammenstellung der hier verhandelten Liebesbriefwechsel erscheint so heterogen, wie sie zugleich in ihrer Heterogenität das sich gern als ‚im Widerspruch‘ oder ‚zerrissen‘ charakterisierende 19.  Jahrhundert spiegeln. Gewissermaßen von den Rändern her greifen sie auf die Epoche aus und vertreten – sei es auch ex negativo  – deren große Tendenzen. Adalbert Stifters von den Vertreter*innen des Poetischen Realismus scharf kritisierter Detailstil, Leopold von Sacher-Masochs obsessive Wirkungsästhetik, Otto von Bismarcks Ringen mit der Romantik und Ernst Haeckels Darwinismus, der sein idealistisches Erbe nicht verleugnen kann, stehen allesamt im Spannungsfeld zwischen einer Öffnung zum Neuen hin, zur Wissenschaft, zu unerschlossenen Bereichen der Realität, wie Handel, Industrie oder den Schattenseiten der aufkommenden Massengesellschaft, und dem Versuch, gerade auch im Briefwechsel, gemeinsam mit den Partnerinnen dagegen anzuschreiben, Sicherheiten zu gewinnen. Sie lassen sich allesamt unter dem Begriff des Realismus subsumieren, der angetreten ist, ein Sammelbecken der heterogenen Zeittendenzen zu sein, in dem diese sich dem Prinzip der Objektivität unterordnen sollen. Allen Briefwechseln gemeinsam ist, dass Literatur – im Zitat wie in erzählerischen Verfahren und Wirkungstechniken – eine wichtige Rolle spielt und dass es hierbei immer wieder zu ‚unrealistischenʻ Überschreitungen zwischen der Ebene literarischer Invokation und der Alltagsreferenz kommt. Im Sinne romantischer Liebe dient literarisches Schreiben der Überhöhung und Sinnstiftung der Paarbeziehung und soll diese zugleich auf ein reales Fundament stellen.

2 Forschungslage Die Autor*innen der wichtigsten Arbeiten zu Korrespondenzen im 19. Jahrhundert (vgl. Wyss 2010; Chartier und Boureau 1991; Lystra 1989) stellen gleichermaßen fest, dass der Briefverkehr einen enormen Zuwachs erfährt. „Weit über das Bürgertum hinaus“ werde der Briefwechsel zu einer „kulturellen Institution“ (Wyss https://doi.org/10.1515/9783110376531-097

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2010, 86). Zudem gewinne mit zunehmender Alphabetisierung das Briefschreiben einen individuelleren und intimeren Charakter (vgl. Chartier und Boureau 1991, 12). Was Lystra für diesen Zeitraum für die USA aufzeigt, gilt auch für Deutschland: Zunehmende Bildung und Lektüre befördern die Eloquenz der Briefschreiberinnen und -schreiber. Die zum stilistischen Allgemeingut gewordenen „conven­tions of romantic love“ (Lystra 1989, 21) ermutigen sie dabei insbesondere, über sich selbst zu schreiben und über ihr „wahres Selbst“ Rechenschaft zu geben. Das „romantische Ich“ – so sehr es gegenüber Bohrers „ästhetischem Subjekt“ auch nur konventionelle Folie aufgesetzter Individualität sein mag (Bohrer 1987, 12, 13) – wird vor allem im Bürgertum zum paradigmatischen Identitätsmuster (vgl. Lystra 1989, 27).

3 Briefpublikationen Auch das Interesse an „Originalbriefen“ sowie die Zahl der publizierten Privatkorrespondenzen steigen im 19. Jahrhundert enorm an. Prominente Briefschreiber*innen denken schon beim Schreiben daran, dass ihr Brief künftig veröffentlicht werden könnte. Adalbert Stifter bespricht bereits in seinen Briefen an den Verleger Heckenast deren spätere Publikation, und schon ein Jahr nach Stifters Tod, 1869, erscheint eine dreibändige, von Johannes Aprent herausgegebene Auswahl seiner Briefe. Bismarcks Briefe an die Braut und Gattin erscheinen ebenfalls bald nach seinem Tod, im Jahr 1900; eine Auswahl der Brautbriefe der Fürstin Johanna von Bismarck folgt jedoch erst 1931. Ebenso erscheinen Ernst Haeckels Brautbriefe an die früh verstorbene Verlobte Anna Sethe schon im Jahr nach seinem Tode (Italienfahrt, Briefe an die Braut, 1921). Es folgen weitere Briefbände und bereits 1927 wird auch der Briefwechsel mit seiner heimlichen Geliebten Frida von Uslar-Gleichen, angeblich auf Haeckels ausdrücklichen Wunsch, mit veränderten Namen und in romanhafter Zuspitzung unter dem Titel Franziska von Altenhausen publiziert, wodurch zwar die Identität der Geliebten verborgen bleibt, Haeckel als weltweit bekannter Forscher jedoch von den meisten Lesern identifiziert wird. Dass von dem Briefwechsel Sacher-Masochs mit seiner Frau Weniges erhalten ist, liegt an dem in mehreren Streitschriften ausgetragenen Konflikt der beiden nach der Scheidung, der Nachlass ist ansonsten größtenteils verbrannt. Hier kann nur auf wenige als Beweismaterial herangezogene Briefauszüge zurückgegriffen werden, die aber ausgezeichnete Einblicke in den erotischepistologischen Charakter des Masochismus geben.

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4 Der ‚monologische Brief‘ In Briefwechseln nach 1848 macht Baasner (1999, 25) einen Niedergang der geselligen Kultur des 18.  Jahrhunderts hin zu einer „narrativen Schau des eigenen Lebens“ aus, in der realistische Modi des Erzählens die Oberhand gewännen über die dialogische Kultur der Aufklärung und Romantik. Entsprechend wandelt sich der Stil der Briefe vom galanten „erschriebenen Gespräch“ zum erzählten Bekenntnis, gewinnt epischeren Charakter, wird romanhafter. Immer wieder wird in der Briefforschung (vgl. Hillard 1969; Baasner 1999) auf den monologischen Charakter einzelner Briefwechsel oder des Briefs im 19. Jahrhundert insgesamt verwiesen. Laut Baasner ist „Selbstversicherung“ (1999, 25) das Hauptmotiv der Schreibenden, „dialogische Elemente“ seien rar. „Briefeschreiben wird zur Rekapitulation des Erlebten“ (Baasner 1999, 25), übernehme praktisch Funktionen des Tagebuchs, eine Entwicklung, die vom Brautbrief ausgehend auch auf den Ehebrief übergreift. Weniger negativ lässt sich die „Selbstversicherung“ als wieder auflebende Kultur der Selbstsorge verstehen; Rekapitulation des Erlebten ist, wie Michel Foucault aufgezeigt hat, seit der Briefpraxis der Stoiker ein eminenter Bestandteil der gegenüber dem Briefpartner abgelegten Rechenschaft über den Tag (vgl. Foucault 2012, 64).

5 Problemstellungen und Gegenstände des Ehebriefwechsels Die im 19. Jahrhundert so virulent werdende Opposition von ‚Kunst‘ und ‚Leben‘ stellt korrespondierende Paare immer wieder vor die Schwierigkeit, sich zwischen beiden entscheiden zu müssen. Ernst Haeckels in den Jugendbriefen an die Verlobte Anna Sethe geäußerte Überzeugung, vor der Wahl zwischen Wissenschaft und Liebe zu stehen (vgl. Haeckel 1927, 14–15), zeigt deutlich, wie unversöhnlich solche Gegensatzpaare gedacht wurden. Der Brief ist ein Ort, an dem Gegensätze wie Liebe und Alltag, Öffentlichkeit und Privatheit, Fiktion und Wirklichkeit umspielt werden und an dem auch nach einem Ausgleich zwischen diesen gesucht wird. Während es laut Ledanff (1991, 369) im Brautbrief ein Übergewicht der „Ausbreitung der mit der Liebeserfahrung verbundenen inneren Geschichte“ gegenüber der Schilderung äußerer Umstände und Alltagsprobleme gebe, haben ausgedehnte Schilderungen von Alltagssorgen und die Klärung von mit dem gemeinsamen Leben verbundenen Routinefragen einen festen Platz in den Ehebriefen. Mit der Ehe hält der Realismus Einzug in die Liebesbriefwechsel. Hier wie in französischen Geschäfts- und Privatkorrespondenzen des 19. Jahrhunderts gilt

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Chartiers Diktum: „Les affaires et la vie privée ne sont pas deux mondes à part.“ [„Geschäft und Alltag sind keine getrennten Welten.“] (Chartier und Boureau 1991, 398; Übers.  d. Verf.) Der Wunsch, Liebe und Leben zu vereinen, führt zu häufigen Wechseln zwischen Sentimentalität und scheinbar banalen Auslassungen über Alltagssorgen, etwa über Portogebüren in den Briefen der Stifters (Stifter, BW 5, 210/211). Selbst die von Baasner (1999, 15) diagnostizierte „Konventionalität“ der Gefühlsäußerungen kann in diesem Kontext, wie Lystra (1989, 21) dies tut, als Versuch gesehen werden, in der Vielfalt der Möglichkeiten emotionaler Selbstdarstellung Orientierung zu finden. Briefwechsel stiften ein „Band“ (Adalbert an Amalie Stifter am 8.6.1866, BW 5, 210) zwischen den Partnern, das der Beziehung Festigkeit und Stabilität gibt, auch und gerade durch ausgedehntes Erzählen von Alltäglichem.

6 ‚Literaturliebe‘ Das 19. Jahrhundert kann als Epoche der Ehe betrachtet werden. „Im Zuge des deutschen Idealismus bekommt die Ehe eine vorher nicht gekannte Bedeutung ‚für die sittliche Persönlichkeitʻ“ (Ledanff 1991, 399; vgl. Kluckhohn 1966, 327). Das beginnt mit der Propagierung der romantischen Ehe durch Friedrich Schleiermacher, der in den Vertrauten Briefen über Schlegels Lucinde und in seiner Ethik (vgl. Hartlieb 2006, 172) ein radikales Konzept der auf Liebe gegründeten Ehe vertreten hatte, die sich über die Welt und ihre Konventionen erhebt, in der sich die Bestimmung zweier Wesenheiten füreinander realisiert, deren Rechte im Zweifelsfalle sogar über die bürgerliche Ehe hinausgehen. Den Versuch der Realisation eines solchen Konzepts durch Romantiker wie Clemens Brentano bezeichnet Ricarda Huch in ihrer Darstellung der romantischen Ehe als den verfehlten Versuch, „die Ehe wesentlich als eine Privatangelegenheit zwischen zwei Personen“ zu betrachten (Huch 1969, 822). Das Fehlen der „Pflicht“, von Widerständen, die sich einer derart absolut aufgefassten Liebe entgegenstellen, sah Huch als den Grund für das Scheitern der romantischen Ehe an (Huch 1969, 824): „Gerade das Schöne und Große der menschlichen Natur hängt mit Druck, Zwang und Widerstand zusammen […]. Auch ist es ja die Liebe selbst, die dem ihr innewohnenden Verlangen nach Ewigkeit gemäß eine ewig bindende Fessel verlangt.“ Die „erzieherische, bildende Wirkung der Ehe“ (Huch 1969, 829) wieder herzustellen ist das Projekt, das um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Angriff genommen wird. Vom Brautbriefwechsel aus, den Ledanff als eine „Kurzfassung des deutschen Bildungsromans“ (Ledanff 1991, 369) charakterisiert, greift dessen pädagogisches Programm auf eine Konzeption von Ehe über, in der wechselseitige Erziehung zur Realität geübt

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werden soll. Rebekka Habermas (2000, 339) spricht vom Ehebriefwechsel als „informelle Bildungswelt“. Auf der anderen Seite ist Sorge darauf zu verwenden, eine „Stagnation der Ehe in der Prosa der Angewöhnung“ zu verhindern „und den dauernden Reiz geheimnisvoller Magie in die Alltäglichkeit“ (Gregorovius 2010, 76) zu legen, wie Ferdinand Gregorovius, Anhänger eines von Johann Wolfgang Goethe inspirierten Ehe- und Bildungskonzepts, formuliert. Hier zeichnet sich ein Medialitätsbewusstsein ab, das im Brief nicht mehr das erschriebene Gespräch sieht, sondern ein Mittel, Einfluss auszuüben, Bilder, Symbole und Emotionen performativ zu setzen. Briefschreiber*innen sind sich als Autor*innen bewusst, bei den Leser*innen mit den Mitteln des Erzählens Emotionen auszulösen – „think that you will soon read all the words I am writing here and that it will make your heart beat faster to read, that you will be glad“, schreibt einer der von Lystra (1989, 26) untersuchten Korrespondenten. In Briefen der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts lässt sich eine Zunahme an erzählerischen Anteilen beobachten (vgl. Baasner 1999, 15). Dazu gehört, dass Literatur nicht allein in der Anspielung und im Zitat, sondern auch in der Anverwandlung realistischer Techniken, szenischen Erzählens etwa, aber vor allem in dem parallel in den Poetiken und Romanen des Realismus entdeckten Phänomen der Spannung oder des Aufschubs Einzug hält in die Korrespondenz (vgl. Lach 2012, 55, 167–169). Alle Anstrengungen, das Anwachsen der Briefe zu regelrechten Erzählwerken, das eklektische Spiel mit empfindsamen, romantischen, aber auch naturwissenschaftlichen Formeln, das Aufeinander-zu-Schreiben, aber auch das Sich-Behaupten gegenüber dem Partner bzw. der Partnerin sind darauf gerichtet, Dauer und Stabilität der Beziehung zu sichern. Eine solche Reizung durch Aufschub wird auch in der Korrespondenz zwischen Verlobten oder Eheleuten zum Stilmittel – sei es in der Thematisierung der Ungeduld und der ausgedehnten Schilderung der Hemmnisse des Wiedersehens, sei es im Ausmalen von Erwartungen und psychologischen Zuständen. In den Schriften Sacher-Masochs wird Spannung zum tragenden Prinzip – und dies ist sie auch für die gesamte masochistische Praxis. Hinauszögern der Erfüllung – auch durch Vermeidung realer Begegnung – wird dann bei Stifter in an die Jean Paulʼsche Konzeption der „Fernliebe“ (Hagel 2003, 90–91) gemahnender Weise ein den Brief begründender Faktor. Man kann deshalb durchaus von einer Literarisierung des Briefs sprechen, wie der naturalistisch argumentierende Publizist Max Nordau (1891, 261), wenn er die aufkommende „Litteraturliebe“ aus kulturkritischem, antimodernem Ressentiment heraus kritisiert. Er trifft damit letzten Endes recht genau die sich hier vollziehende Entdeckung der Literatur als Formungsprinzip einer Liebe, die sich in jedem Augenblick aufs Neue erzählen muss. Hierin zeigt sich vielleicht am deutlichsten die Schwellenposition zwischen Literatur und ‚Nicht-Literaturʻ, die der Brief einnimmt. Gerade in der zweiten

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Hälfte des 19. Jahrhunderts ist diese Schwelle heftig umstritten. Einerseits gibt es zahlreiche Projekte zur Isolation des ästhetischen Bereichs vom Profanen – wobei Kunst und Literatur als ein überhistorischer, als der ‚eigentliche‘ Ort autonomen Menschseins aufgesucht werden –, auf der anderen Seite stehen zahlreiche Konzepte von Ganzheitlichkeit, die Kunst und Welt zu versöhnen trachten. Gegenüber dem dialogischen Postulat des empfindsamen Briefs bildet sich ein deutlich anderes, pädagogisches Paradigma heraus. „Die Sozialität des Liebens wird“ im Sinne Luhmanns „als Steigerung der Chance zur selbstbewußten Selbstbildung begriffen“ (Luhmann 1982, 172). Der enorme Aufschwung diätetischer und hygienischer Literatur im 19. Jahrhundert geht hiermit einher (vgl. Sarasin 2001, 155).

6.1 Otto von Bismarck und Johanna von Bismarck, geb. Puttkamer Bei Otto von Bismarck und seiner Braut Johanna von Puttkamer liefern literarische Zitate – in erster Linie Gedichte Byrons und Zitate von Jean Paul – Motive und Themen der Paarsprache. Zugleich aber werden diese Zitate im Rahmen des Liebesbriefdialogs wieder Literatur, provozieren Interpretation und Verknüpfung in alle Richtungen, literarisieren das Gespräch und untergraben dadurch Selbstbilder und Rollenmuster, auf die man sich gerne zurückziehen würde. Dabei scheint Voraussetzung dieser prekären Verunsicherung ein wechselseitiges Einverständnis zu sein, das diese Beziehung gleichzeitig stabilisiert. Zahlreiche Konflikte werden ausgetragen  – Bismarcks ‚role modelʻ in dieser Zeit, Byron, wird gegen den von Puttkamer favorisierten Jean Paul ausgespielt, ihre pietistische Frömmigkeit wiederholt mit Sarkasmus und faustischen Attitüden angegriffen. So sehr sich Bismarck zunächst von den Schleiermacherʼschen Einflüssen seiner Erziehung distanziert hatte, so sehr steht er hier, stehen beide, unter dem Vorzeichen des Schlegel-Schleiermacher’schen Konzepts der Ehe als einer die Ganzheit der Person in Geist und Körper erfassenden Verbindung (vgl. Kluckhohn 1966, 362–383). Offenbar aus dem Anspruch, sich in diesem Sinne seiner zukünftigen Frau ganz zu offenbaren, legt Bismarck im Februar 1847 einem Schreiben an seine Braut einen Brief bei, den er einmal an eine frühere Geliebte geschrieben hat. In ihrer Antwort greift Johanna von Puttkamer diese Konfrontation mit der Vergangenheit ihres Partners als Rollenspiel auf und versetzt sich in eine fiktive Sphäre, in der sie die Rolle einer „Freundin“ oder „Schwester“ des Geliebten innehat. So löst sie dessen Offenlegung seines früheren Ich in ein komplexes raum-zeitliches, Außen und Innen aufhebendes Nebeneinander auf und führt dabei zugleich das Konzept der romantischen ganzheitlichen Liebe in die Krise. „Mich versetzte das alles so in Deine Vergangenheit […]; ich hatte alles Gegenwärtige spurlos verges-

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sen – und bildete mir ein, Deine Freundin zu sein, Otto, die sich warm für Dich interessierte […], – ich hätte Dich trösten mögen wie eine Schwester, die Deinen Kummer reichlich mitempfindet, aber doch unangefochten bleibt.“ (Bismarck 1931, 47) Wie in einem Roman tritt die Wirklichkeit von Bismarcks langen erzählenden Briefen in Konkurrenz zu der die Leserin umgebenden Wirklichkeit. Wie die Leserin eines Romans nimmt sie Anteil am Schicksal des Erzählers und kann dies als dessen Partnerin nur, indem sie selbst die Rollen tauscht, eine zwischen Schwester und Freundin oszillierende Identität annimmt. Die prekären Zustände, die der Brautbriefwechsel hier erreicht, werden später, in den Bismarckʼschen Ehebriefen, eingedämmt, indem kaum noch auf Literatur rekurriert wird.

6.2 Leopold von Sacher-Masoch und Aurora Rümelin Der Masochismus verlegt das romantische Liebesideal vollends in die Einbildungskraft der Liebenden. Das zeigt sich in den wenigen überlieferten Briefen von Leopold und Wanda von Sacher-Masoch. Als ‚Brief‘ fungieren hier aber auch die Novellen, es gibt in Sacher-Masochs Biographie mehrere Beispiele, dass dessen Werke tatsächlich als kaum verschlüsselte Bekenntnisse und SuchAnnoncen gelesen werden. In einem recht handfesten Sinne sind hier, gemäß der Jean Paulʼschen Briefpraxis, Bücher nur dickere Briefe. Bei Sacher-Masoch wie bei Adalbert Stifter wird die Jean Paulʼsche „Brief-Metaphysik“ aufgegriffen und der Brief in Wechselwirkung mit dem literarischen Werk zum Medium einer okkasionellen Welterzählung erhoben. Sacher-Masochs erste Frau, Aurora Rümelin, die sich später hinter dem Pseudonym der Heldin seines berühmtesten Romans verbergen wird, stellte den Kontakt zu ihrem zukünftigen Ehemann durch einen größtenteils erlogenen, zunächst nur auf finanzielle Ausbeutung des Adressaten ausgehenden Brief her. Fiktionen  – literarische Erfindungen ebenso wie erschwindelte Identitäten – werden hier, anders als im komplexen, die Korrespondenten auch psychisch überfordernden Briefwechsel der Bismarcks, zunächst also einfach als Realität gesetzt (bedenkenlos geht Rümelin vom autobiographischen Charakter des Romans Die geschiedene Frau [1870] aus) und mit Fiktionen, mit Literatur beantwortet. Der Erfolg von Rümelins Schreiben basiert dabei zum Großteil darauf, dass es ihr in ihrer Mimikry gelingt, den aufreizenden Ton der Sacher-Masochʼschen Romane nicht nur zu imitieren, sondern auch Erfindungen beizusteuern, die eine Spannung der Einbildungskraft generieren, auf der das masochistische Spiel größtenteils beruht.

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Ich habe heute wieder in ihrer ‚geschiedenen Frauʻ gelesen. Ich könnte Sie hassen um des Glückes willen, daß [sic] Sie mit ihr genossen! – Sagen Sie mir, war diese Frau denn wirklich so schön? Ja sie muß schön gewesen sein! Aber ich muß ich will schöner sein und ich bin es. […] Wenn Sie diese Zeilen gelesen verbrennen Sie dieselben Sie dürfen sie nur einmal lesen, denn ich habe all diese wahnsinnigen Gedanken hingeschrieben die mich erfassen, wenn ich an Sie denke – (Schlichtegroll 1906, 232)

6.3 Adalbert Stifter und Amalia Stifter, geb. Mohaupt Literaturzitate, die den Bezugs- und Vermittlungspunkt der drei anderen Korrespondenzen bilden, kommen in Stifters Briefen an seine Frau und ihren wenigen Gegenbriefen nicht vor. Dagegen besteht eine intensive Wechselwirkung zwischen der Korrespondenz mit Amalia Stifter, geborene Mohaupt, mit der Stifter seit 1837 verheiratet war, und seiner literarischen Arbeit. Bereits auf der Ebene der Schreibarbeit wird hier die Trennlinie zwischen literarischem Schaffen und profanem Schreiben durchbrochen und die Hierarchie zwischen beiden Bereichen aufgehoben. Die berühmten Winterbriefe, die er ihr in den 1860er Jahren aus dem Kurort Kirchschlag in das 15 km entfernte Linz schreibt, entstehen parallel und zeitweise in Konkurrenz zu literarischen Arbeiten. De facto macht Stifter keinen Unterschied zwischen dem Schreiben von Briefen an seine Frau und dem Schreiben eines Romans (vgl. Brief v. 23.3.1866, BW 5, 182). Andererseits wird der autofiktionale Bericht Aus dem bairischen Walde zum Teil aus den die Vorgänge protokollarisch wiedergebenden Briefen zusammengestellt (vgl. Dusini 1998). Stifters Liebeskorrespondenz, Teil eines großen Korrespondenzwerks, ist auch ein ethisches Projekt, in dem die problematische Spannung zwischen den Individuen, zwischen Subjekt und Welt, zwischen Einzelnem und Ganzem in schreibender und lesender Selbstverobjektivierung aufgehoben werden soll. Stifter zeigt ein Konzept auf, in dem Liebe, Brief und Wirklichkeit zusammengehören. Zu ihrem 28. Hochzeitstag schreibt Amalia Stifter ihm am 13. November 1865 einen Brief, dessen Funktion die einer quasi-vertraglichen Stabilisierung der Beziehung ist: „[I]ch bin wohl Überzeugt, daß auch Du jetzt nicht anderst Denkst als wie Damahls, und der liebe Gott wird es doch wieder so fügen daß wir noch viele Jahre glüklich und zufrieden mitsamen leben werden, und ich hoffe daß alle diese Wünsche, wohl auch die Deinigen sein werden, und deßhalb vereinige ich meine Wünsche, mit den Deinigen.“ (BW 8, 82–83) Stifter liest Amalias ungelenken Brief nicht als mit konventionellen Formeln abgearbeitete Schreibpflicht, sondern findet in ihren Beteuerungen, die keinerlei Anspruch auf Originalität erheben, eine Form puristischer Poetik realisiert: „Du sagst immer, du könnest nicht schreiben, und schreibst mir einen Brief, den der erste Dichter unsers Volkes

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nicht schöner zu schreiben im Stande wäre.“ (BW 5, 75) Darin äußert sich eine Literaturauffassung, die den Brief bereits zum ästhetischen Paradigma erhoben hat. Absatz für Absatz wird der Brief einer interpretierenden, diskutierenden Lektüre unterzogen. „Du sprichst die Hoffnung aus, daß auch ich jezt noch so denke, wie an jenem Tage. Wohl denke ich noch so, alles ist auch mir noch klar und deutlich, wie es gewesen ist“ (BW 5, 74). In der Korrespondenz werden beide Partner füreinander ‚lesbarʻ. Selbst das imaginierte Gespräch wird als ein Akt der Übertragung beschworen: „Könnte ich deine guten Augen sehen, dein freundliches Angesicht und deinen lieben Mund, und könnte ich die Worte hören, welche dieser Mund spricht.“ (BW 6, 57) So macht Stifter auch in den minutiösen Berichten seiner Tagesabläufe ganz in der Tradition stoischer Freundschaftskorrespondenz seinen Tag lesbar, „liest“, wie Mark Aurel gegenüber Fronto, „gleichsam noch einmal den verflossenen Tag“ (Foucault 2012, 65): „Wie der Tag bis Mittag war, hast du in dem vorigen Briefe gelesen. Ich aß mit Nani ein Stückchen Kalbsbraten, und ging dann auf die Kegelbahn spazieren. Dann that ich einen kurzen Schlummer, las dann die Linzerzeitung und ein wenig Göthe. Die Dämmerung verplauderte ich mit Nani. Sie erzählte mir von dem Blechingerischen Hause, ich ihr von dir.“ (BW 6, 34) In dieser Neuauflage der Jean Paulʼschen Brief-Metaphysik wird erst durch die Trennung eine Möglichkeit der Kommunikation geschaffen, deren Uneigentlichkeit Voraussetzung einer Liebe ist, in der alles Zeichen ist, in der alles zum Symbol für den Anderen werden kann.

6.4 Ernst Haeckel und Frida von Uslar-Gleichen Ernst Haeckel, der als Propagandist eines materialistischen Monismus ein weltanschauliches Konzept der Ganzheitlichkeit auch in seinem Leben zu realisieren trachtet, und seine Geliebte Frida von Uslar-Gleichen, die ihm hierin nacheifert, sind einerseits ein Paar, das konsequent den Brief nutzt, um eine Liebe, die beide für unrealisierbar halten, zu begründen und zu befestigen und dazu in umfangreicher Weise Literatur und Naturwissenschaft einzubeziehen. Andererseits kommen beide nicht aus den Widersprüchen des von ihnen – von Haeckel mehr als von Uslar-Gleichen – abgelehnten Idealismus heraus. Sie denken und argumentieren in absoluten Begriffen und Ideen, von denen sie sich determiniert glauben. Ganzheitlichkeit wird hier zum Weltgesetz, dem alles individuelle Glücksstreben unterliegt. Das Projekt einer Verbindung von Liebe, Wissenschaft und Leben misslingt, weil beide ‚Persönlichkeit‘ und Welt, Imagination und Realität, trotz allem behaupteten Monismus, nur als unvereinbare Gegensätze denken. Anscheinend ist es vor allem ein naturwissenschaftlicher Diskurs, der die Liebeskorrespondenz nicht bloß flankiert, sondern Tropen und Bilder liefert, die in sehr

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komplexer Weise die Konflikte, Wünsche und Ängste des Paares in dieser fast ausschließlich schriftlich stattfindenden Beziehung thematisierten (vgl. auch Erdbeer 2013, 222). Doch ist die Zahl literarischer Verweise hier mindestens ebenso groß und sind Biologie wie Literatur gleichermaßen an der Konstruktion einer ideellen Sphäre beteiligt, aus der diese Beziehung ihren Sinn und ihre resignative Grundstimmung zieht. In einem Brief Haeckels vom 5. August 1899 wird der Verweis auf Naturwissenschaft zur Begründung eines Fatalismus der Bestimmung herangezogen, der beide wie ein Naturgesetz zusammengebracht habe. Wir sind kein gewöhnliches junges Liebespaar, meine Frida, welches mit der Neigung scherzt und tändelt. Wir sind beide ‚Einsame Menschenʻ von hoher Begabung, denen das Schicksal sehr viele Illusionen grausam zerstört hat.  […] Liebste Frida, das ist eben das Räthsel der ‚Wahlverwandtschaftʻ! dieses wunderbaren psychologischen ‚Chemotropismusʻ, über dessen Macht ich in den ‚Welträthselnʻ (– ebenso wie früher in der Anthropogenie –) gesprochen habe,  – nicht ahnend, daß ich selbst noch im hohen Alter ihr unterliegen würde! (Haeckel und Uslar-Gleichen 2000, Bd. 1, 203)

Nicht nur wird zugleich auch auf Einsame Menschen, ein Stück von Gerhart Hauptmann, angespielt, sondern Emotion und Naturgesetz werden mit dem Begriff der „Wahlverwandtschaft“ und dem Beiwort „wunderbar“ in einen Bereich verlegt, in dem Emotionen biologisch erklärt und umgekehrt auch Biologie literarisch und poetisch aufgefasst werden kann. Auch dieses Paar bürdet sich eine Fernliebe auf. In enger Verzahnung stehen literarische Anspielung und wissenschaftliche Erklärung, es werden geradezu ‚Fußnotenverweiseʻ auf das eigene Werk gegeben. In den elegischen Entsagungston mischt sich der bibliographische Nachweis. Eine derartige Zitatakkumulation  – parallel findet Ähnliches in den späten Romanen von Wilhelm Raabe statt – hat nur im avancierten Roman oder im Brief eine Legitimation. Der literarische Charakter dieser Beziehung, die nur in Briefen, im Verweis auf Bücher besteht, ermöglicht erst ihre Vernetzung in einem weltanschaulichen System, das, wie meist im 19. Jahrhundert, auf Ganzheitlichkeit zielt, Allgemeingültigkeit beansprucht, das Welträtsel offenbaren will. Naturgesetzlichkeit ist nur eine andere Form des Mythos und der Literatur. Robert J. Richards hat aufgezeigt, wie viel Haeckels Denken der Goetheʼschen Naturtheorie schuldet (vgl. Richards 2008, 124–128, 456–461). Gültig erweist sich diese erst, indem Haeckel und seine Geliebte sich diesem System selbst einschreiben.

6.14 Liebes- und Ehebriefe im 19. Jahrhundert 

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Rüdiger Jacobs von Luxburg

6.15 Briefwechsel Richard Wagner – König Ludwig II. von Bayern Zweifellos nimmt der Briefwechsel zwischen Richard Wagner und König Ludwig II. von Bayern eine besondere Stellung innerhalb der deutschen Briefkultur ein. Diese Besonderheit resultiert zum einen aus der Unterschiedlichkeit der Korrespondenten – der eine Revolutionär, Künstler, Exilant, der andere König, Träumer, Phantast –, zum anderen scheint sich in dem fast 20 Jahre währenden Briefwechsel das herkömmliche Rollenverhältnis von König und Künstler umzukehren: Der König zeigt sich in seiner Diktion bisweilen untertänig, der Künstler mitunter fordernd. Dennoch herrscht trotz der sozialen und weltanschaulichen Differenzen, der gegensätzlichen Neigungen und Charaktereigenschaften, der ungleichen Herkunft und gesellschaftlichen Stellung, aber auch des nicht unerheblichen Altersunterschieds von 32 Jahren stets ein Ton außergewöhnlicher Vertrautheit und gegenseitiger Hochachtung – ungeachtet der vielen Enttäuschungen, Intrigen und Zwänge, denen das Verhältnis im Laufe der Zeit ausgesetzt war. Bis zum Ende der Korrespondenz (bedingt durch Wagners Tod 1883) gipfeln die Briefe immer wieder in Treueschwüren und Bekundungen unverbrüchlicher Freundschaft. Allerdings bleiben die zahlreichen Phrasen nicht der realen politischen Welt verhaftet, sondern verweisen auf eine fiktionale Ebene idealer Freundschaft. Auf dieser Ebene gelingt letztlich die Gemeinsamkeit der gegensätzlichen Korrespondenten, die im Briefwechsel oftmals ihre Positionen tauschen: Der weltzugewandte Künstler versucht das Irreale in die Realität zu holen, während der weltabgewandte König das Reale in die Irrealität verlagern will. Damit ist eine Tragik verbunden, die sich in der Regentschaft Ludwigs widerspiegelt und die Nachwelt zu Deutungsversuchen hinsichtlich der Bedeutung des Briefwechsels herausfordert. Stets kreisen die Interpretationen um die Frage, was Wagner dazu bewogen haben mag, mit seinen Briefen den König in dessen irrealer Vorstellungswelt gewissermaßen ‚gefangen’ zu halten.

1 Die Korrespondenz: Situation und Motivation Um der drohenden Schuldhaft zu entgehen, floh Wagner am 23. März 1864 aus Wien. Sein Weg führte ihn über München, Zürich, Basel nach Stuttgart, wo ihn am 3. Mai der bayerische Kabinettssekretär Franz Seraph von Pfistermeister nach dreiwöchiger Suche aufspürte; er überbrachte Wagner die Botschaft, dass König https://doi.org/10.1515/9783110376531-098

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Ludwig II. von Bayern ihm ewige Freundschaft und ein sorgenfreies Leben ohne jeden „Unbill des Schicksals“ (ML 755) verspreche. Einen Tag später stand der an Lebenserfahrung, ausgeprägtem Selbstbewusstsein und eisernem Selbstbehauptungswillen reiche 50-jährige Wagner einem unreifen 18-jährigen König gegenüber, der sich von nun an immer wieder für die Freundschaft mit dem ehemaligen Revolutionär und maßlosen Künstler rechtfertigen musste. Vor allem Wagners Verschwendungssucht, aber auch dessen Einmischung in die Politik führte den König psychisch wie politisch mehrmals an den Rand des Abgrundes. In den Briefen lässt sich dieser Kampf Ludwigs um den Freund nachvollziehen, der Bayern Ende 1865 schon wieder verlassen musste, um einer Regierungskrise vorzubeugen.

1.1 Politische und persönliche Verstrickungen Bald nach Beginn der Freundschaft mit dem König griff Wagner in das politische Geschehen Bayerns ein: In seinen Briefen empfahl er die Umbesetzung des Kabinetts (23.11.1865, SB 17, 306; 26.11.1865, SB 17, 309; 27.11.1865, SB 17, 310; 12.9.1866, SB 18, 234) oder riet zu konsequenteren Regierungsprinzipien (18.6.1866, SB 18, 207; 27.7.1866, SB 18, 219; 6.10.1866, SB 18, 251). Wenngleich der König die Vorstellungen Wagners nicht umsetzen konnte, zeigen die Briefe dennoch, wie sehr Wagner versuchte, in politischen Dingen Einfluss auf den König auszuüben. Dem Kabinett blieb dies nicht verborgen, was schließlich zur Ausweisung Wagners aus Bayern führte (6.12.1865). Ganz offensichtlich hatte Wagner die politischen Möglichkeiten des Königs überschätzt, der eben kein unumschränkter Herrscher war. Und auch König Ludwig bewegte sich bisweilen in einer absolutistischen Scheinwelt, wenn er Wagner Versprechungen machte, die er nicht halten konnte (etwa den Bau eines Festspielhauses in München). Nach den politischen Skandalen um Wagner und den Intrigen des Kabinetts gegen den Künstler musste sich der König öffentlich von seinem Freund distanzieren, doch die enge Verbundenheit blieb. Die Briefe werden inniger; man spürt, wie der König unter der Abwesenheit Wagners litt und in eine tiefe Krise stürzte. Erst nach 1868 kühlte sich das vertrauliche Verhältnis ab. Nicht das Verbot einiger inzwischen von Wagner publizierter politischer Aufsätze bildete hierbei die entscheidende Ursache, sondern die Aufdeckung der Liaison mit Cosima von Bülow, die Wagner dem König gegenüber geleugnet hatte, sowie die kurz darauf von Ludwig gegen den ausdrücklichen Willen Wagners befohlene Aufführung des Rheingold in München. In dieser Zeit der Spannungen beschwor Wagner immer wieder die alte Freundschaft  – und konnte den König schließlich milde stimmen. Der König vergab dem Freund und blieb ihm treu, wenngleich nunmehr aus einer gewissen Distanz. Nach dem

6.15 Briefwechsel Richard Wagner – König Ludwig II. von Bayern 

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‚Cosima-Skandal‘ schrieb der König unmissverständlich an Wagner: „Tausend Grüße der geliebten Freundin; ich werde nie an Ihnen irr, in keiner Weise, Sie verstehen mich. Auch hierin stehe ich allein.“ (22.10.1869, KB 2, 436) Man kann insofern ab 1868 eher von Trübungen der Freundschaft sprechen als von Brüchen. Das zeigt sich auch in dem Brief des Königs vom 5. Juni 1870: „An Ihre Unfehlbarkeit (aber keine sonst) glaube ich mit festester Zuversicht; alle Versuche, die unternommen wurden, mich von Ihnen zu entfernen, haben gerade das Gegentheil bewirkt: immer mehr u. mehr ging ich in Ihnen auf; eine Entfremdung von Ihnen und Ihrer himmlischer Werke Wesen, hieße für mich Wahnsinn oder Tod.“ (KB 2, 448) Der König hielt sich an sein ursprünglich gegebenes Versprechen ewiger Treue. Noch wenige Wochen vor dem Tod Wagners bekundet er in seinem letzten Brief die unverbrüchliche Liebe und Verehrung dem Meister gegenüber (26.11.1882, KB 3, 595) – und auch Wagner spricht dem König seine tiefe Zuneigung und Dankbarkeit aus (10.1.1883, KB 3, 597). Bis zum Schluss behüteten beide Korrespondenten die Scheinwelt reinster und innigster Freundschaft, die in ihren Briefen stets viele Facetten der Realität ausgeblendet hatte.

1.2 Homoerotik, Liebe, Freundschaft Obwohl der König in seinen Briefen an Wagner diesen stets mit „mein geliebter Freund“ (7.10.1864, W-L 10), „Innig Geliebter“ (10.5.1865, W-L 21), „Mein Einziger! Wonne meines Lebens!“ (19.7.1865, W-L 28) anredet oder ihn als „Ein und All! Inbegriff meiner Seligkeit!“ (15.5.1865, W-L 22), „Heiß Geliebter! Mein Einziger!“ (23.3.1865, W-L 18), „Mein treu geliebter Freund! – Mein Alles“ (21.4.1866, W-L 42), „Einziger! Herr meines Lebens“ (15.5.1866, W-L 44) bezeichnet, und Wagner seinerseits in Analogie dazu entgegnet: „mein inniggeliebter, wundervoller Freund“ (16.2.1865, W-L 14), „Mein angebeteter, wunderbarer Freund!“ (14.4.1865, W-L 19) und „Mit innigster Liebe Ihr treuester Richard Wagner“ (13.9.1865, W-L 31) unterzeichnet, lässt sich trotz all der Liebesbekundungen eine homosexuelle Beziehung nicht belegen. Gleich zu Beginn der Freundschaft stellt Wagner klar: „Was Ihnen die Welt, die Familie, der hohe Lebensberuf, irgendein Freund, – dereinst das Weib Ihrer Wahl sein kann, – das habe ich Ihnen nicht zu sein.“ (24.3.1865, KB 66) König Ludwig spricht in seinen Briefen daher lediglich von „heiliger Liebe“ zu Wagner, die ihm zum „religiösen Cultus“ geworden sei (3.3.1867, KB 2, 352). Es sollte eine platonische Liebe sein, die ihre Vollkommenheit – wie bei Tristan und Isolde – nur im Tod finden könne. So übe, schreibt Ludwig am 30. August 1878 an Wagner, allein „der Gedanke an die heilige Liebe und durch nichts zu erschütternde Treue, die Uns so innig verbindet und dem Irdischen oft entrückt, […] stets seinen weihevollen, versöhnenden und beseligenden Einfluß aus, und beglückt!“

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(KB 535) Dieser beglückende Gedanke an die ‚heilige Liebe‘ schafft zugleich die Verbindungslinie zu Wagners Kunst, die für König Ludwig eine Erlösungsreligion darstellt, deren metaphysische Fragestellungen die Phantasie des jungen Fürsten schon früh angeregt haben mögen. Auf dieser „dem Irdischen oft entrückt[en]“ (KB 535) abstrakten Ebene spielt sich nicht nur die Liebe zu Wagner, sondern auch ein Großteil des Briefwechsels ab, sofern nicht belanglose Dinge des täglichen Lebens oder künstlerische Überlegungen zu Skizzen und neuen Opernprojekten, zu politischen Themen oder zum aktuellen Stand der Arbeiten Wagners behandelt werden.

2 Zum Briefkorpus Zwischen 1864 und 1883 richtete Wagner insgesamt 258  Briefe an den König, dieser schrieb 183  Briefe an den Künstler. Der anfangs sehr rege schriftliche Gedankenaustausch nahm – bedingt durch die ab 1868 erfolgten menschlichen Enttäuschungen – in den späteren Jahren etwas ab. Fast der gesamte Briefwechsel liegt heute im Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung bzw. im Wittelsbacher Hausarchiv, lediglich fünf Briefe des Königs lassen sich nicht mehr auffinden. Insofern scheint sich zunächst ein nahezu lückenloses Bild der Beziehung zwischen Richard Wagner und König Ludwig II. von Bayern zu offenbaren. Doch die Briefe verschleiern oft mehr, als dass sie das komplexe Verhältnis der Korrespondenten erhellen. Auch die zahlreichen weiteren Schriftzeugnisse  – die ‚Rechtfertigungsschriften‘ gegenüber König Ludwig, in denen Wagner über seine (frühere) revolutionäre Gesinnung berichten musste (1864), die kulturpolitischen Artikel und Aufsätze während der Zeit der Freundschaft, die 70 Telegramme Wagners an den König, die 86 Depeschen des Königs an Wagner, die verstreuten (Huldigungs-)Gedichte und sonstigen Schreiben – lassen oftmals nur Spekulationen über die wahren Beweggründe hinter den Briefen zu. Vieles bleibt unausgesprochen oder verliert sich in Andeutungen; theoretische Ausführungen kommen über ihre Ansätze nicht hinaus. Bewusst wird eine fiktive Welt gegen die reale gestellt, indem sich die Briefpartner als „König Parzival“, „Siegfried“ oder „Walther“ (von Stolzing) bezeichnen bzw. anreden. Bisweilen scheint allerdings die Absicht der Korrespondenten hindurch, oft nur mittelbar in Form von Fragen, Abstraktionen oder Analogien, sodass sich die Motive dann leicht ergründen lassen. Wenn Wagner am 16. Oktober 1865 beispielsweise an den König schreibt: „Bin ich es nun, der aus mir spricht, wenn ich Ihnen rathe? ist es nicht nur, was Sie sind, was Sie wollen, sage ich Ihnen, was ich aus Ihnen errathe? Ich bin nur Ihr Bewusstsein von Sich selbst“ (KB 1, 152) – dann wird trotz sprachlich

6.15 Briefwechsel Richard Wagner – König Ludwig II. von Bayern 

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geschickter Formulierungen unschwer die eigentliche Intention des Autors deutlich: Wagner möchte seinen Willen dem König als dessen eigenen suggerieren, da er aufgrund der sozialen Differenz nicht in der Position ist, den König zu zwingen. Über die Vertauschung der Persönlichkeitsebenen drängt Wagner seinen Willen dem König auf mit der Begründung, dieser Wille sei im Grunde nur Ausdruck von dessen eigenem Bewusstsein. Nach Hegel’scher Diktion wird hier die Umkehr des königlichen Willens in der Einheit der Willen ‚aufgehoben‘, die im Grunde genommen nur der Wille Wagners ist. Auf dieser konstruierten gemeinsamen – abstrakten  – Ebene spielt sich ein Großteil des Briefwechsels ab, der insofern nicht bloß ein Dokument banaler Freundschaftsbekundungen ist, sondern ein Zeugnis sophistischer und psychologischer Spielereien. Einzig der aktuelle Stand des künstlerischen Fortschreitens bleibt in dem Briefwechsel zwischen Wagner und König Ludwig dem Konkreten verhaftet und erfährt eine breitere Erörterung, wobei das Private der Korrespondenten so weit wie möglich ausgespart bleibt.

2.1 Intention und Interpretation Angesichts der skizzierten epistolaren Besonderheit schwankt die Interpretation der Briefe zwischen der Auffassung, die Korrespondenz sei Ausdruck „echter Freundschaft“ (Strobel 1936, 18), und der Überzeugung, die Korrespondenz sei „genau berechnetes Rollenverhalten“ (Gregor-Dellin 1983, 121). Die Wahrheit dürfte in der Mitte liegen. So scheint die Darstellung, die Korrespondenz sei primär „von einem schwärmerischen Enthusiasmus getragen, an den Wagner wohl kaum selber glaubte, den er aber zum Rollenspiel gebrauchte“ (Wagner 1995, 7), gewiss zu weit gegriffen, während die These des selbstlosen Freundschaftsbundes (vgl. Strobel 1936, XV, XIX) zumindest seit der Veröffentlichung der Tagebücher Cosima Wagners (1976) relativiert werden muss. Wenn Cosima in ihren Tagebüchern vermerkt, die Briefe ihres Mannes an den König seien ihm „ein immer schwereres Tun“ (TB 21.12.1872, I, 614), sie erschienen ihm als „etwas Künstliches“ (TB 27.3.1879, II, 322), so offenbart dies sicherlich nur ein Moment des Wagner’schen Empfindens, doch die Äußerungen können nicht für den gesamten Briefwechsel gelten, sondern lediglich für den Zeitraum nach den menschlichen Enttäuschungen ab 1868. Die Freundschaft des Königs war Wagner von Anfang an wichtig. An August Röckel, seinen revolutionären Freund von 1849, schreibt Wagner am 15. Juli 1865 über seine ehrliche Begeisterung für den König, die seinen überschwenglichen Briefstil zumindest teilweise erklärt, „dass dieser Jüngling der schönste und edelste Mensch ist, […] ich muss gestehen, dass diese Überzeugung sich zu einer wirklich ekstatischen Schwärmerei in mir ausbildet“ (SB 17, 207). Und kurze Zeit

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später: „Daß all mein Zauber zuende ist, sobald ich einmal heuchle u. lüge – das weiß ich so instinctiv, daß ich’s einfach nicht kann.“ (an Röckel 16.12.1865, SB 17, 340) Nie vergaß Wagner, dass er diesem König durch die gewährte finanzielle Absicherung letztlich auch die feste Beziehung zu Cosima zu verdanken hatte (TB 1.4.1880, II, 515). Zweifel an seinem Duktus lassen erst die Verstimmungen ab 1868 zu, doch die innere Haltung zum König war stets geblieben, einzig die äußere Form, die unentwegt an die alte Freundschaft anknüpft, stellt nun für Wagner eine „notgedrungene Künstlichkeit“ dar (TB 1.4.1880, II, 515).

2.2 Gesinnungswandel Wagners in den Königsbriefen? Spekulationen darüber, ob Wagner angesichts der in den Königsbriefen gewählten Formulierungen seine frühen revolutionären Ideale aufgegeben hatte (vgl. Meyer 1978, 132), führen letztlich an der eigentlichen Problematik vorbei. Für Wagner stand stets außer Frage, dass jedes gesellschaftliche System nur mit einem König an der Spitze existieren könne, wobei dieser König allein dem kulturellen Impetus des Volkes unterworfen sei, den er befördern müsse. Monarchische und dynastische Interessen seien daher generell zu beseitigen, nicht aber das „königliche Ideal“, das sich im (wahren) Königtum verwirkliche (NTA 8, 197). ‚Aufgabe‘ des Königs sei demnach dessen ‚Selbstaufgabe‘, d.  h. die Selbstüberwindung (Transzendierung) des Königs in das „reinmenschliche“ Prinzip, unter dem Wagner die allen Menschen inhärente überindividuelle Empfindungsebene versteht, die nur durch den ‚idealen‘ König zur Wirklichkeit gelangen könne. Dieser Gedanke findet sich in Wagners ‚Revolutionsschriften‘ von 1848 ebenso wie in den späteren ‚Rechtfertigungsschriften‘ für König Ludwig und auch in den Briefen an diesen, die insofern das zentrale Anliegen Wagners immer weiter vertiefen. Aber auch der König greift  – trotz der revolutionären Implikationen  – den dialektischen Gedanken auf. Er will jener ideale König sein, von dem Wagner in seiner Kunsttheorie spricht: Das Reinmenschliche, das ja in uns Allen schlummert, woran wir uns Alle als Brüder erkennen, muß, wie in Ihren unsterblichen Werken es sich offenbart, in der Brust eines Jeden zur ‚läuternden‘ Flamme sich entzünden! – Ja, das ‚Volk‘ lässt sich durch Nichts in seiner Denk- und Gefühlsweise beirren; doch wohl denen, die es richtig leiten, glorreicher Sieg wird Ihnen zu Theil werden. (27.6.1865, W-L 24)

Ludwig will diesen ‚glorreichen Sieg‘ durch seine ‚Selbstaufgabe‘ als Monarch erreichen, indem er den Willen des Volkes externalisiert und so zum ‚wahren’ König aufsteigt. Den Weg zu diesem Ideal hat Wagner ebenfalls in seinen Kunstschriften vorgegeben, die in den Briefen eine breite Erörterung finden: Nur aus

6.15 Briefwechsel Richard Wagner – König Ludwig II. von Bayern 

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der im ‚wahren‘ (Wagner’schen!) Kunstwerk vermittelten ‚höheren Erkenntnis‘ könne der König das Wesen der Welt erspüren, um es sodann unmittelbar auf die Wirklichkeit zu übertragen (Jacobs 2010, 239–246; 2013, 124–128). Insofern bedürfen sich Künstler und König stets gegenseitig; nur gemeinsam vermögen sie die Welt aus ihren politischen Verstrickungen zu erretten (NTA 5, 112; 8, 197). Dies ist zugleich der ideale Vereinigungspunkt der beiden. Auch in diesem Aspekt folgt Ludwig den Überlegungen Wagners: „Das Ideal, welches wir Beide uns ersehnten, soll nicht mehr in der Einbildungskraft schweben; es soll unseren Boden berühren!“ (7.10.1864, W-L 10) Der König verspricht, alles zu tun, um dem revolutionären Werk Wagners zum Durchbruch zu verhelfen: „Was ich meinerseits zu tun vermag, will ich thun und keine Mühe scheuen; dieß wundervolle Werk wollen wir der deutschen Nation zum Geschenk machen und ihr sowie den anderen Nationen zeigen, was ‚deutsche Kunst‘ vermag!“ (7.10.1864, W-L 10) Dass hierbei nur ein König Wagners kulturrevolutionäre Ideale realisieren könne, bildet also keinen Widerspruch zum früheren Leben des Dresdener Revolutionärs. In Ludwig schien Wagner vielmehr jenen ‚idealen‘ König gefunden zu haben, der ihm bei der Umsetzung seiner revolutionären Ideale hilft, weshalb er den König letztlich von dessen geplanter Abdankung im Sommer 1866 abbringt: „Während Deutschland politisch sich vielleicht in einen langen Winterschlaf unter preussischer Obhut begiebt, bereiten Wir wohl und ruhig und still den edlen Herd, an dem sich einst die deutsche Sonne wieder entzünden soll.“ (24.7.1866, W-L 47) Aber auch die persönliche Errettung aus den finanziellen Schwierigkeiten sowie die Aufführung der komplexen ‚Ring‘-Tetralogie konnte sich Wagner nur durch einen König vorstellen. Bereits zwei Jahre vor der Begegnung mit Ludwig II. hatte Wagner in seinem „Vorwort zur Herausgabe der Dichtung des Bühnenfestspieles Der Ring des Nibelungen“ konstatiert, dass lediglich ein „deutscher Fürst“ die Aufführung dieses Riesenprojektes ermöglichen könne (NTA 8, 187). Wagner gab diese Hoffnung nie auf. Noch im April 1864 äußerte er sich ähnlich gegenüber seiner Freundin Mathilde Maier (5.4.1864, SB 16, 67), dem Komponisten Peter Cornelius (8.4.1864, SB 16, 68) und dem Wiener Förderer Josef Standhartner (12.4.1864, SB 16, 74). Insofern schien die Königsfreundschaft für Wagner als die Erfüllung eines vorausempfundenen Schicksals, nicht aber als Verrat seiner früheren revolutionären Ideale. Im Königtum sah Wagner stets ein Gebilde, welches über das rein Politische hinausweist: „Königthum – glauben Sie! – ist eine Religion!“, schreibt Wagner am 24. Juli 1866 an den König (W-L 47), dessen ‚Rückbindung‘ (religio) in das ‚königliche Ideal‘ dazu führen werde, „etwas noch höheres [zu] sein, als König von Bayern“ (W-L 47).

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2.3 Religiöse Dimension In zahlreichen Briefen spielt das Motiv der ‚Erlösung‘, welches auch in den Opern Wagners von zentraler Bedeutung ist, eine entscheidende Rolle. Denn einerseits musste Wagner die Errettung durch König Ludwig II. wie eine ‚Erlösung‘ aus seiner existentiellen Katastrophe empfinden, wie ein Wunder, auf das er zeitlebens vertraut hatte. Wenn er Ludwig daher in seinen Briefen als „Erlöser“ anspricht, reflektiert er auf dessen Rolle als Retter. Andererseits sieht aber auch König Ludwig II. in Richard Wagner einen „Erlöser“, weil dieser ihm eine Kunst beschert hat, die ihm als das Höchste menschlicher Schöpfung gilt, als eine ins Jenseits weisende Religion, die nur ein Gott oder gottähnlicher Mensch verkünden könne. Entsprechend greift Ludwig auf Adorationen zurück, indem er Wagner in seinen Briefen als „Heiland, der mich beseligt! […] Heilig, heilig bist Du!“ (28.1.1866, W-L 39), „mein Erlöser! […] Gott auf Erden“ (21.4.1866, W-L 42), „Geliebter, Heiliger!“ (11.12.1864, W-L 12), „Gottmensch, der in Wahrheit nicht fehlen und nicht irren kann!“ (12.8.1876, W-L 64) bezeichnet. Nur ein solcher göttlicher Künstler vermochte Ludwig in jene phantastische Welt zu führen, die für alle seine Mitmenschen unerreichbar schien: „[I]ch halte es ohne den heiligen, den gottgesandten Freund auf der traurigen Erde  – allein! verlassen!  – nicht aus! Sie sind meine Welt, mein Erlöser! […] Ich liebe kein Weib, keine Eltern, keinen Bruder, keine Verwandten, Niemanden innig und von Herzen, aber Sie!“ (21.4.1866, W-L 42) Zugleich vermittelt auch Wagner dem König, dass dieser ebenfalls ein Teil des göttlichen Auftrages sei, weil sich nur mit dessen Hilfe die geplanten Kunstprojekte und mit ihnen die Revolutionierung der Welt vollenden ließen: „Du bist göttlich! […] Gesegnet sei der göttliche König meines Lebens!“, antwortet Wagner (11.12.1864, W-L 12). Dementsprechend sieht Ludwig in dem Verhältnis zwischen sich und dem von ihm angebeteten „Künstler von Gottes Gnaden, der das heilige Feuer vom Himmel auf die Erde brachte, um sie zu läutern, zu beseligen, zu erlösen!“ (12.8.1876, W-L 64), nur einen Sinn, nämlich die Erfüllung eines göttlichen Auftrages, um die Welt – gemäß der in den Opern Wagners vermittelten Prophetien  – ihrer schicksalhaften Bestimmung zuzuführen: „Zu Großem hat uns das Schicksal berufen: daß wir Zeugnis geben von der Wahrheit, sind wir in die Welt gekommen.“ (22.6.1868, W-L 56) Denn nicht nur Ludwig sollte Teil der von Wagner verkündeten Erlösung werden, sondern die ganze Welt. Diese Ideen ziehen sich durch den gesamten Briefwechsel zwischen Wagner und König Ludwig II.

6.15 Briefwechsel Richard Wagner – König Ludwig II. von Bayern 

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2.4 Dank als zentrales Motiv Im Dezember 1861 hatte Ludwig 15-jährig erstmals Lohengrin gesehen und war derart ergriffen von diesem Werk, dass er sich dem Meister zeitlebens zu Dank verpflichtet sah: „Vor allem drängt es mich, angebeteter, großer Freund, Ihnen meinen glühenden, unauslöschlichen Dank entgegen zu jauchzen für den unbeschreiblichen Hochgenuss, den Sie mir […] bereitet haben.“ (16.11.1880, W-L 71) Umgekehrt war auch Wagner voller Dank demjenigen gegenüber, der ihn einst „rettete aus dieser schwärzesten Todesnacht“ (an Mathilde Maier, 5.5.1864, SB 16, 110). An den König schrieb er am 23. September 1865: „O mein himmlischer Freund! Aus tiefster Seele segne ich Sie für diese Rettung meines Heiles! Kein Morgen bricht jetzt in meinem Leben an, an dem ich nicht mit liebevoller Inbrunst dem treuen Engel meiner Erlösung danke!“ (W-L 32) Wenngleich für Wagner eher die konkrete Hilfe des Königs im Mittelpunkt gestanden haben mag, so war sein Dank dennoch ehrlich. In nahezu allen Briefen findet sich ein zutiefst empfundener Dank an den Retter. Mit einem emphatischen Dankesbrief beginnt dementsprechend der Briefwechsel zwischen König Ludwig II. und Richard Wagner (3.5.1864, W-L 1), und mit einem Gedenken „der Hulden, in deren edlem Genuss ich ersterbe als meines angebeteten Herren und Freundes ewiges Eigen“, endet die Korrespondenz am 10. Januar 1883, wenige Wochen vor dem Tod Richard Wagners (KB 3, 597). Auch König Ludwig überhäuft Wagner zeitlebens mit Dankesbekundungen und kehrt den Dank des Meisters stets um. Auch dies ist keine Höflichkeitsfloskel: „Alles, Alles verdanke ich Ihnen, was ich bin, was ich denke, fühle, genieße. Gestatten Sie mir freundlich, als eine liebevolle Verkehrtheit es zu bezeichnen, wenn Sie mir stets danken, Sie, dem einzig aller Dank gebührt. O was Sie mir sind, ist unsagbar!“ (24.6.1869, KB 2, 428) So lässt sich der wechselseitige Dank in der Korrespondenz als zentrales Motiv und gemeinsame Grundlage unverbrüchlicher Freundschaft konstatieren. Beide Korrespondenten verbindet ein aufrichtiges Gefühl des Dankes und der gegenseitigen Bewunderung. Der König bewundert den Künstler für dessen Werke, Wagner schätzt an dem König die Fähigkeit, die Tragweite der (Wagner’schen) Erlösungsmetaphysik zu erkennen – was zugleich Einblick in die monomane Welt Wagners gewährt. An seiner Dankbarkeit dem König gegenüber ändert das jedoch nichts, er widmet dem König alle seine Kunstwerke; der König seinerseits widmet dem Meister Schloss Neuschwanstein als „würdige[n] Tempel für den göttlichen Freund, durch den einzig Heil und wahrer Segen der Welt erblühte“ (13.5.1868, W-L 54).

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3 Sprache Der Briefwechsel ist gekennzeichnet durch einen äußerst schwärmerischen Ton. Formulierungen wie „meine einzige Liebe sind und bleiben Sie ewig.  […]  – In ewiger Liebe“ (11.12.1864, W-L 12), „Meine Liebe zu Ihnen währt ewig“ (7.12.1865, W-L 35) lassen sich in fast allen Briefen des Königs finden. Wagner formuliert ähnlich, doch seine Floskeln wirken kopiert: „Selig und ewig beglückt der liebende Geliebte! Treu und ewig sein Eigen“ (16.2.1865, W-L 14), „Bis in den Tod getreu“ (11.3.1865, W-L 16). Immer steht bei Wagner der Dank im Vordergrund, der zu ewiger Treue verpflichte, während bei Ludwig das Gefühl der Freundschaft aus der Verehrung der Werke Wagners herrührt, die in den Briefen mit der Person des Schöpfers verschmelzen. In der geistigen Verbindung von Schöpfer und Werk findet Ludwig schließlich den Vereinigungspunkt, der jedoch nur auf ideeller Ebene stattfinden kann. Entsprechend sind die Briefe, die später einen durchaus reiferen Ton erhalten, von einer starken poetischen Sprache durchwirkt, deren Tenor im Laufe der Zeit durch Güte und Resignation abgelöst wird. Auffallend ist das außergewöhnliche Gedächtnis des Königs. Noch nach Jahren erinnert er sich an Einzelheiten aus der Vergangenheit, wann und wo welche Gespräche worüber stattgefunden haben; ständig hat er Schillers oder Goethes Dramen gegenwärtig, aus denen er ebenso zutreffend zitiert wie aus den Werken Wagners. Während in den Briefen König Ludwigs eine über Jahre hinweg gleichbleibende Einstellung zu Wagner erkennbar ist, die sich auch im Stil ausdrückt  – selbst nach dem Vertrauensbruch von 1868 –, zeichnen sich die Briefe Wagners durch einen ständigen Wechsel der Sprachgebärden aus: Einmal spricht aus ihnen der Freund mit großer Vertrautheit, das andere Mal schildert der Künstler seine Projekte und behält dabei eine gewisse Distanz zum König, die ihm die Etikette vorschreibt; einmal spricht Wagner dozierend als Lehrer, Ratgeber, priesterlicher Mentor, das andere Mal bewundernd und huldvoll als dankbarer Untertan des Königs. Dazwischen findet sich immer wieder der Appell an die alte Liebe und Freundschaft, der mitunter an Korrespondenzen des 18. Jahrhunderts erinnert.

4 Bedeutung Veröffentlicht wurde der Briefwechsel erstmals 1936, fünfzig Jahre nach dem Tod König Ludwigs II. Herausgeber waren der Wittelsbacher Ausgleichs-Fonds sowie Winifred Wagner als Chefin des Richard-Wagner-Familienarchivs (Richard-Wagner-Archiv/Wahnfried-Archiv). Die Bearbeitung hatte Otto Strobel übernommen. Ein Nachtragsband zu dieser vierbändigen Ausgabe erschien 1939. Damit konnten

6.15 Briefwechsel Richard Wagner – König Ludwig II. von Bayern 

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endlich die zahlreichen Spekulationen über das Verhältnis zwischen Richard Wagner und König Ludwig II. von Bayern beendet werden, obwohl der hochgestochene Briefstil der Korrespondenten neue Rätsel aufgab. Gleichwohl trat nun deutlich zutage, was die Korrespondenten trotz der Unterschiedlichkeit der sozialen Stellung oder des Alters verband: Beide wandten sich von einer Politik ab, in der sie erfolglos waren – und die sie unter wirklichkeitsfernen Aspekten betrachteten. Beide flüchteten sich in eine Kunstwelt, die sie auf ein Jenseits vertröstete, deren metaphysische Implikationen sie aber im Diesseits zusammenhielt. Durch all diese sonderbaren Konstellationen, die dem Briefwechsel insofern durchaus ein Alleinstellungsmerkmal zuweisen, wird allerdings eine Tragik deutlich, die gleich mehrere Komponenten besitzt: Zum einen offenbart der Briefwechsel die Idealisierung einer Freundschaft, die in der realen Welt zwangsläufig zur ‚Entzauberung‘, zur Desillusionierung des als wahr empfundenen Irrealen führen musste. Zum anderen belegt die Korrespondenz eine Ernüchterung auf politischem Gebiet, weil die konstruierten Scheinwelten weder für einen Monarchen noch für das kulturrevolutionäre Ansinnen eines Künstlers taugten, der sich permanent anschickte, für die Sache Deutschlands zu stehen. Dadurch lebt der Briefwechsel hauptsächlich von der Ambivalenz der skizzierten Welten. Und dennoch besitzt er eine wichtige kulturelle wie historische Dimension: Er enthüllt zentrale biographische Details, gibt wertvolle Einblicke in die Gedankenund Gefühlswelt des Königs, vermittelt Einsichten in das Schaffen Wagners, in seine Ideen und Ziele, offenbart die Geschichte der Werke und ihrer Aufführungen, sowie deren Resonanz. Vor allem aber ist der Briefwechsel Zeugnis eines romantischen Denkens und Fühlens, wie es sich im 19. Jahrhundert zwar häufiger in Briefen findet, jedoch nicht in dieser Intensität. Wegen der überwiegend im Irrealen verhafteten Gedankenführung nimmt der Briefwechsel eine Sonderstellung ein, auch im gesamten Briefwerk Wagners. Einem bestimmten Briefgenre – Liebesbrief, Künstlerbrief bzw. politische, literarische oder philosophische Korrespondenz – lässt sich der Briefwechsel daher nicht zuordnen; er bildet vielmehr einen Solitär in der Briefkultur des 19. Jahrhunderts, vor allem auch deshalb, weil die in den Briefen geäußerten Gedanken keine bloßen Phantastereien der Autoren darstellen, sondern konkrete politische Bezüge herstellen sollten.

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Zitierte Literatur Eger, Manfred (1986). „Richard Wagner und König Ludwig II.“, in: Richard-Wagner-Handbuch. Hg. v. Ulrich Müller u. Peter Wapnewski. Stuttgart: 162–173. Gregor-Dellin, Martin u. Michael von Soden (1983). Richard Wagner. Leben, Werk, Wirkung. Düsseldorf. Jacobs, Rüdiger (2010). Revolutionsidee und Staatskritik in Richard Wagners Schriften. Perspektiven metapolitischen Denkens. Würzburg. Jacobs, Rüdiger (2013). Richard Wagner. Konservativer Revolutionär und Anarch. Kritik von Staat und Gesellschaft aus Sicht eines „Unpolitischen“. Graz. König Ludwig II. u. Richard Wagner (1936). Briefwechsel. Mit vielen anderen Urkunden in vier Bänden hg. v. Wittelsbacher Ausgleichs-Fonds u. Winifred Wagner. Bearbeitet v. Otto Strobel. Karlsruhe. („Königsbriefe“ [KB]) Meyer, Hans (1978). Richard Wagner. Mitwelt und Nachwelt. Stuttgart u. Zürich. Strobel, Otto (Hg.) (1936). König Ludwig II. und Richard Wagner. Briefwechsel. Karlsruhe. Wagner, Cosima (1976). Die Tagebücher. Hg. v. Martin Gregor-Dellin u. Dietrich Mack. München. [TB] Wagner, Richard (1967–). Sämtliche Briefe. Gesamtausgabe in 35 Bänden und Supplementen. Hg. v. Gertrud Strobel et al. Leipzig u. Wiesbaden. [SB] Wagner, Richard (1976). Mein Leben. Hg. v. Martin Gregor-Dellin. München. [ML] Wagner, Richard (1995). Briefe. Hg. v. Hans-Joachim Bauer. Stuttgart. Wagner, Richard (2013). Neue Textausgabe. Hg. v. Rüdiger Jacobs. Frankfurt a. M. u. Halle. [NTA] Wagner, Richard u. König Ludwig II. von Bayern (1999). Briefwechsel. Hg. v. Kurt Wölfel. Stuttgart. [W-L]

Weiterführende Literatur Röckl, Sebastian (1913/1920). Ludwig II. und Richard Wagner. 2 Bde. München.

Klaus Nippert

6.16 Chemikerkorrespondenz um die Mitte des 19. Jahrhunderts: Der Nachlass Karl Weltzien 1 Korpus und Kontext Der Chemikerbrief um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird hier an den rund 550 Stücken untersucht, die sich im Nachlass des ab 1841 an der Polytechnischen Schule Karlsruhe wirkenden Karl Weltzien (1813–1870) erhalten haben. Die aus den Jahren von 1834 bis 1870 stammenden Briefe eignen sich für eine disziplinspezifische Betrachtung, weil darin ein großer Teil der seinerzeit herausragenden Vertreter der Chemie als Briefsteller vertreten ist. Unter den 189 Absendern finden sich etwa Robert Bunsen, Remigius Fresenius, Hermann von Helmholtz, Justus von Liebig, Louis Pasteur und Friedrich Wöhler. Die meisten Briefsteller haben Lehrstühle der Chemie oder angrenzender Fachgebiete oder sind Schüler Weltziens. Neben den vorherrschenden Briefen mit fachlichem Schwerpunkt stehen auch eher private. Deren Absender sind zumeist Studienfreunde, Familienangehörige oder sonst nahestehende Personen. Es handelt sich nahezu vollständig um Eingänge und nicht um Briefe von Weltzien. Weltzien trat vor allem als Wissenschaftsorganisator hervor. Nach einem in Heidelberg und Göttingen absolvierten Medizinstudium orientierte er sich ganz auf die Chemie. 1841 erfolgte Weltziens Eintritt in die Polytechnische Schule Karlsruhe als Privatdozent. In den ersten Jahren profilierte er sich durch die Lehre der Organischen Chemie. Nach seiner 1851 erfolgten Berufung auf die Karlsruher Professur für Chemie war Weltziens wichtigste Leistung die noch im gleichen Jahr erfolgte Gründung eines Chemischen Instituts sowie eines Studiengangs nach Liebigs Gießener Vorbild (vgl. Wetzel 1999, 298). Damit verankerte er die Forschung an der bis dahin auf die Lehre konzentrierten Polytechnischen Schule und gab einen der Impulse für die Entwicklung dieser Institution zur Technischen Hochschule. Zusammen mit August Kekulé und Adolphe Wurtz veranstaltete Weltzien 1860 in Karlsruhe den ersten internationalen Chemikerkongress, dessen Beratungen die Aufstellung des Periodensystems der Elemente anregten (vgl. Stock 1933; Mönnich 2010). Weltziens eigene Arbeiten galten Ammoniumverbindungen, den Zersetzungsprodukten des Harnstoffs und den Oxidationsstufen des Stickstoffs. Weitere persönliche Arbeitsgebiete waren Mineralien, das Schießpulver sowie badische Trinkwässer. https://doi.org/10.1515/9783110376531-099

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Im ersten und zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts vollzog sich die Entwicklung der Chemie zu einer eigenständigen Disziplin (vgl. Baumgarten 1997, 85–87, 282–286; Johnson 2008, 114–115; Rocke 1993, 934; Wetzel 1999, 293, 300–301). Innerhalb der einzelnen Einrichtungen geschah dies durch den zahlenmäßigen Aufwuchs von Lehrstühlen und Assistentenstellen sowie die Einrichtung von Instituten und Studiengängen. Begleitet wurde dieser Prozess von der Gründung spezifischer Publikationsorgane und wissenschaftlicher Gesellschaften. Die Etablierung der Chemie stand in Wechselwirkung mit der industriellen Revolution, zu deren zweiter Schlüsseldisziplin sie nach dem Maschinenbau wurde (vgl. Wetzel 1994, 592–599). Der vom Korpus abgedeckte Zeitabschnitt wird noch immer als Gründungsepoche betrachtet, doch ist diese Phase bereits abgrenzbar von der Zeit, in der für die Pioniergestalten der wissenschaftlichen Chemie (etwa Amedeo Avogadro, 1776–1856; Jöns Jakob Berzelius, 1779–1848; Joseph Louis Gay-Lussac, 1778–1850; Antoine Laurent Lavoisier, 1743–1794; Justus von Liebig, 1803–1873; Friedrich Wöhler, 1800–1882) der Weg in das Fach noch in einem stärkeren Maß auf persönliche Begegnung gegründet war. Die hier untersuchten Briefe bilden die Zeit nach der Etablierung der durch Liebig geprägten Laborausbildung ab, bei der Dutzende von Teilnehmern ihr Studium mit einem großen Anteil praktischer Arbeit in entsprechend eingerichteten Laboren absolvierten (vgl. Rocke 1993, 22–23). Die nachfolgend beobachtete Neigung der Briefsteller zur Konzentration auf abgegrenzte fachliche Themen mag im Zusammenhang stehen mit dem vollzogenen Schritt in eine Phase der disziplinären Konsolidierung. Demgegenüber sind in Briefen früherer Spitzenvertreter der Chemie zusätzliche Akzente in Sachen thematischer Weite, Theoriediskussion oder persönlicher Nähe wahrscheinlich. Schließlich ist hier anzumerken, dass nach einigen Seitenblicken in Bunsens Korrespondenz (vgl. Stock 2007) bei entsprechender Ausweitung der Quellengrundlage keine markanten Schwerpunktverlagerungen gegenüber dem in dieser Untersuchung geschilderten inhaltlichen und funktionalen Spektrum des Chemikerbriefs erwartet werden.

2 Form und allgemeine Merkmale Die im Nachlass vorhandenen Zuschriften haben fast durchweg die Form des Privatbriefs. Nur vereinzelt sind behördliche Schreiben in entsprechend regulierter Gestaltung vorhanden. Die Sprache der Chemikerbriefe ist weitgehend ungeschmückt. Rhetorische Mittel oder Anzeichen eines Bemühens um Leichtigkeit, Eleganz oder Originalität sind kaum zu bemerken. Dieser an sich unspektakuläre

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Befund gilt mit wenigen Ausnahmen auch für die zumal in der Romantik genre­ relevante Gestaltung von Emotionalität und Innerlichkeit (vgl. Nickisch 1991, 54–57). Nahezu solitär erscheint eine – nicht in fachlichem Kontext stehende – Diskussion über die Zulässigkeit des Ausdrucks „Gefühlsreife“ im Hinblick auf eine Frauenbekanntschaft (KIT-Archiv, 27072 Nachlass Karl Weltzien, Signatur 102. Im Folgenden Nachweise von Briefen aus diesem Bestand allein mit der Signatur). Metaphorische Ausdrucksformen und die damit einhergehende indirekte Kommentierung durch Wahl eines bestimmten Bildes sind selten, etwa in Gestalt einer galligen Note, mit der Pompejus Bolley als Direktor der Polytechnischen Schule Zürich die dort nach dem anscheinend allzu verpflichtenden Karlsruher Vorbild betriebene Einführung einer landwirtschaftlichen Abteilung bedenkt: „Wir liegen in Wehen mit diesem Bastard“ (30). Besondere Formen der Gesamtstruktur fallen nicht auf. Einigermaßen typisch, wenngleich nicht obligatorisch, ist die auch sonst gewöhnliche Einleitung unter Bezug auf berufliche oder auch private Aspekte der Schreibsituation (vgl. Baasner 1999, 24). Ähnliches gilt für den Schluss. Die Anredeformen sind unauffällig. Je nach Verhältnis der Briefpartner erscheinen akademische und sonstige Titel, die Anrede mit ‚Lieber Weltzien‘ oder die in Beziehungsfragen wenig aussagekräftige Formel ‚Lieber Freund‘ (vgl. Baasner 1999, 18). Die Anrede mit dem Vornamen ist im beruflichen Kontext nicht üblich.

3 Positionierung im Gefüge der Kommunikationsformen Die Rolle der Chemikerbriefe ist im Zusammenspiel mit anderen Arten der Mitteilung zu bestimmen. Das gilt besonders für die zu jener Zeit entstehenden Fachzeitschriften. Diese sind die eigentlich relevanten Plattformen für die Kommunikation ausgereifter Ergebnisse. Briefe können in diesem Zusammenhang die Publikationen anbahnen und dienen dem zur Drucklegung nötigen Austausch. Eine zunehmend wichtige Rolle spielen Kongresse, vor allem die Jahrestagungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und die Weltausstellungen (London 1851, Paris 1855, London 1862, Paris 1867). Auch der 1860 in Karlsruhe veranstaltete Chemikerkongress ist hier hervorzuheben. Die Tagungen wie auch an deren Rand stattfindende Treffen werden teilweise brieflich organisiert und kommuniziert. Man erkundigt sich bei Bekannten über deren Teilnahme oder berichtet an Ferngebliebene. Die Eisenbahn ist in den Briefen als eine im Aufbau befindliche und das Kommunikationsverhalten verändernde Infrastruktur unübersehbar. Man trifft

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briefliche Verabredungen zum Besuch mit dem neuen Verkehrsmittel – wichtig auf der früh gelegten südlichen ‚Rheinschiene‘ mit den akademischen Stationen Heidelberg, Karlsruhe, Freiburg, (Straßburg), Basel und Zürich –, klagt über fehlenden Anschluss an das Streckennetz als Ursache kommunikativer Unterversorgung oder freut sich auf den bevorstehenden Eisenbahnbau. Die aufkommende Telegrafie ist in Briefen erst vereinzelt, zunächst als Gegenstand der Lehre (vgl. 330), dann als praktisch eingesetztes Mittel zur schnellsten Benachrichtigung über Eisenbahnreisen bezeugt (vgl. 70, 71). Zur Kommunikation wissenschaftlicher Inhalte bietet sich der Brief unter diesen Rahmenbedingungen vorrangig bei eher kurzfristigen und detaillierten Informations- und Organisationsinteressen an sowie beim Aus- und Aufbau von Strukturen für Forschung und Lehre.

4 Fachnahe und fachferne Inhalte Mitteilungen über aktuelle Forschungsgegenstände haben einen deutlich wahrnehmbaren, doch keineswegs vorherrschenden Anteil und begegnen auch nicht ubiquitär. Sie erfolgen oft als eher knappe Angabe eines Arbeitsinhalts, auch unter Benennung eines Problems (vgl. z.  B. 68: Bunsen über seine Arbeit mit Kirchhoff an der Spektralanalyse; 77, 78: Bunsen über stöchiometrische Schwierigkeiten). Kooperation ist überwiegend als Inanspruchnahme von Dienstleistungen auswärtiger Spezialisten zu verzeichnen, speziell für die Aufklärung von Kristallstrukturen (vgl. 339, 341, 386, 387, 408–415, 417, 418, 553). Gleiches gilt für das von Bunsen und Kirchhoff entwickelte Verfahren der Gasanalyse (vgl. 50, 51, 72). Briefe dienen in solchem Zusammenhang dem Erwirken von punktueller Forschungsarbeit, der Mitteilung erzielter Messwerte und darauf aufbauender Einschätzungen, aber auch dem Transfer von Untersuchungsmethoden (58: Bunsen mit Vorschlag gemeinsamer Übung zur Gasanalyse). In seinem grundsätzlichen Charakter außergewöhnlich ist ein Brief, in dem Hermann Helmholtz über die Anteile von Blut, Plasma, Blutasche und Stickstoff im menschlichen und tierischen Organismus belehrt (vgl. 172). In der Überschau wird deutlich, dass Briefe nicht – vielleicht nicht mehr – ein wichtiges schriftliches Medium für den allgemeineren Austausch oder gar die Entwicklung umfassender Theorien sind, denn solche Darlegungen haben ein sehr geringes Gewicht. Eine Ausnahme sind hier Briefe Carl Löwigs mit Berichten zur Herstellung organischer Verbindungen und daran angeknüpften grundsätzlichen Über­le­ gun­gen (vgl. 284, 285), einer Affirmation der Radikaltheorie (vgl. 284) und gar

6.16 Chemikerkorrespondenz um die Mitte des 19. Jahrhunderts 

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der Aussage, er habe eine „ganz neue Theorie über die Zusammensetzung der Molecüle aufgestellt“ (286). Die meist knappen Berichte über Forschungsaktivitäten mögen schon mit der Pflege freundschaftlicher Beziehungen motiviert sein, einschlägige Hinweise verdeutlichen aber auch den Zweck, inhaltliche Kollisionen zu vermeiden und den Prioritätsanspruch für ein Arbeitsgebiet zu etablieren (vgl. z.  B. 92). Neben den Nachrichten über das eigene Tun stehen Beobachtungen bei Dritten. Herausragend sind in dieser Hinsicht die von Weltziens Studienfreund Wilhelm Keller in den Jahren 1840 und 1841 über das Gießener Labor Justus Liebigs verfassten Berichte. Hier wird eine prominente Stätte bereits in dem Bewusstsein ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung beschrieben (vgl. 192, 194–198). Im Ansatz vergleichbare Darstellungen sind zu Laboren in Marburg (vgl. 471, 472) und Paris (vgl. 508) vorhanden. Die Berichte Kellers verdienen Hervorhebung auch wegen der Mitteilung von Spezialwissen zur Ausführung organischer Analysen, von dem es ausdrücklich heißt, es würde in der einschlägigen Publikation nicht mitgeteilt (vgl. 195). Zudem schreibt Keller von seinen Bemühungen, für Weltzien das zur organischen Analyse erforderliche, auf dem Markt nicht erhältliche Spezialgerät durch den Glasbläser des Gießener Labors fertigen zu lassen (vgl. 195–198). Die über mehrere Briefe verhandelte Beschaffungsmaßnahme ist auch ein Beispiel für weitere, im Kontext gegenseitiger Hilfe unter Kollegen stehende Korrespondenz. Briefe dienen der Erlangung von Geräten (Glaswaren, Presse, Waage, Gebläse, Elektrophor, Mikroskop), im Labor hergestellter Substanzen, von Rohstoffen und immer wieder von Mineralien. Korrespondenz zur Erlangung von Spezialbedarf ist damit ein deutlich wahrnehmbarer Schwerpunkt der Chemikerbriefe. Eine vergleichbare Funktion auf dem Gebiet der Lehre spielen die in der Anfangszeit von Weltziens Karlsruher Tätigkeit geschriebenen Briefe des in Berlin wirkenden, dort Eilhard Mitscherlich assistierenden Carl August Trommer. Hier geht es um die für Weltzien erbrachte Ausarbeitung von Vorlesungen nach dem Muster von Veranstaltungen an der Berliner Universität (vgl. 491, 492). Noch deutlicher durch eine Dienstleistungsbeziehung geprägt sind die Briefe von Weltziens Schüler Johann Georg Mosmann, der neben seinen in der Schweiz mit einigem Unmut versehenen Lehrerstellen Nebenverdienste als Laboreinrichter, Publizist und Entwickler industrieller Projekte sowie als Produzent von wissenschaft­ lichem Gerät sucht (vgl. 307–336). Ein häufiges Korrespondenzthema ist das Laboratorium als die notwendige Arbeitsumgebung des Chemikers. Der Gegenstand spielt schon deshalb eine solche Rolle, weil Weltzien als Berufungszusage ein neu gebautes Institutsgebäude erhielt. In der Folgezeit diente der mit verschiedenen Laboren und einem Hörsaal ausgestattete Bau als Referenz für andernorts folgende Bemühungen um

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zeitgemäße Ausstattung. Einschlägige Zuschriften gelten Besichtigungsterminen sowie Erkundigungen nach der institutionellen Einordnung und dem Budget, wie sie für die Planung und die Einwerbung von Mitteln gebraucht wurden. In diesen Zusammenhang gehört auch die Abstimmung zwischen den im Großherzogtum Baden in Freiburg, Heidelberg und Karlsruhe bestehenden chemischen Lehrstühlen. So kommt die Karlsruher Expertise in Sachen Laboreinrichtung bei dem bald nachfolgenden Neubau für den ab 1852 in Heidelberg wirkenden Bunsen zur Geltung (vgl. 52, 54, 56–58). Allerdings werden die Laborverhältnisse nicht allein in strenger Bindung an bestimmte Vorhaben thematisiert. Es wird auch einfach der Status quo kommuniziert, mitunter geklagt, etwa über den Verlust von Gaslicht und -brenner nach dem Weggang aus Karlsruhe, der Fortschritt vor Ort in Aussicht genommen oder als erbrachte Leistung beschrieben. Orientierung, Planung und Selbstdarstellung greifen ineinander. Die bereits angesprochene Organisation von Publikationen kann in ihrer Ähnlichkeit mit heutiger Behandlung der Thematik und im Unterschied zu den eben beschriebenen Inhalten den Anschein von Banalität erwecken. In den Briefen des als Herausgeber der Annalen der Chemie und Pharmacie wirkenden Hermann Kopp kommt dies in vielen Einzelheiten zum Ausdruck. Es geht nicht allein um die Ausführung von Korrekturen, um Satzprobleme und das unauffindbare Zitat, sondern auch um Erscheinungstermine, die Reihung von Beiträgen, Fragen der Titulatur und die Moderation von Spitzen gegen Fachkollegen. Auch Nachrichten des Heidelberger Verlegers Otto Friedrich Bassermann über massive Restbestände einer Monografie Weltziens können vertraut anmuten (vgl. 13–16). Ein Brief des Braunschweiger Verlegers Eduard Vieweg gilt Fragen der Buchgestaltung, nicht zuletzt der Beschaffung von Illustrationen (vgl. 501). Nur selten gibt es Hinweise auf den Versand von Sonderdrucken unselbstständiger Publikationen, vielleicht schon bedingt durch Verlust von auf knappe Formeln reduzierten Begleitschreiben. Für Monografien hingegen ist die Sitte des von einem Brief begleiteten Versands an Kollegen wie auch an mögliche Fürsprecher deutlich wahrnehmbar. Wie die unmittelbare Arbeitsumgebung des Chemikers ist auch die Verfasstheit der Lehrstuhl und Institut tragenden Institution Gegenstand kollegialer Erörterung. Dieser Aspekt hat besondere Bedeutung im Verhältnis zwischen den Polytechnischen Schulen, die im zweiten Drittel des 19.  Jahrhunderts bereits eine nennenswerte Strecke ihrer Entwicklung hin zu Technischen Hochschulen zurücklegten (vgl. Manegold 1970, 34–63; Nippert 2013, 11–13). Mit den Anstalten in Clausthal und Freiberg erscheinen die Bergakademien in diesen Diskurs eingebunden. Themen sind hier die Formen der Selbstverwaltung und der fachlichen Gliederung, aber auch Fragen des Lehrbetriebs. Naturgemäß reicht das Spektrum vom sachlichen Austausch einschlägiger Satzungen oder Angaben zum Budget bis zum Intrigenbericht, Letzteres in den Briefen des Friedrich Julius Otto anläss-

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lich der 1862 vollzogenen Umformung des Braunschweiger Collegium Carolinum zu einer Polytechnischen Schule (vgl. 359, 360, 363). Ein weiterer Hauptgegenstand sind Personalfragen. Manche beiläufige Einzelheit zu Berufungsvorgängen mutet an, als sei sie lediglich eine spekulative Vorleistung im ständigen Geben und Nehmen von Informationen, Tratsch im landläufigen Sinn. Die Komplexität der Darstellung schwankt von lapidaren Angaben über Ruferteilungen an Dritte bis zur Zeichnung eines mehrschrittigen Rochadeplans (vgl. 53). Ebenso gibt es Erkundigungen nach der Neigung zur Annahme eines eventuellen Rufes. Der Praxis, die Ruferteilung als institutionelle Initiative ohne vorherige Bewerbung ergehen zu lassen, steht die brieflich betriebene ‚indirekte Bewerbung‘ gegenüber, bei der man sich durch einen Mittelsmann für einen Ruf nominieren lässt (vgl. 290). Für Berufungen wie auch zur Besetzung von Assistentenstellen und Positionen in der Industrie sind Gutachten üblich, die wissenschaftliche Befähigung, Qualität der Lehre und Charaktereigenschaften beurteilen, ohne aus der Briefform herauszufallen. Für Assistentenstellen begegnet auch die Initiativbewerbung, eigenständig oder durch einen Fürsprecher (vgl. 360). Umgekehrt kommt es bei unvorhergesehener Vakanz zu der an Kollegen gerichteten Frage nach Kandidaten. Die briefliche Kontaktpflege der in die Industrie, den Schuldienst oder an eine höhere Lehranstalt gegangenen Schüler steht ebenfalls im Zusammenhang der weiteren Karriere, sei dies nun implizit oder explizit. Die Gruppe der Studierenden erscheint vor allem in Empfehlungsschreiben, mit denen diese etwa durch entfernte Bekannte oder gar nicht weiter bekannte Landsleute eingeführt und der Fürsorge des Adressaten empfohlen werden. Vor einer im Anzug befindlichen problematischen Persönlichkeit unter den zwischen den Lehranstalten wechselnden Studenten wird auch einmal gewarnt (vgl. 481). Schließlich sind Anschreiben jener zu nennen, die Rat für die Gestaltung des Ausbildungsweges oder die Vermittlung von Industriekontakten erbitten, wie sie für Einstellungen oder Praktika wichtig sind. Wiederholt wird über die chemische Industrie berichtet (vgl. z.  B. 287). Hier geht es um Zustand und Verbesserung von Laboren und persönliche Arbeitsbedingungen sowie um Produktionsprozesse, allgemeine wirtschaftliche Entwicklungen oder die Darstellung einer ganzen Industrielandschaft. Dabei kommt es auch zur Sendung von Materialproben oder Gerät. Mit dem Antworten auf Fragen des Adressaten oder Eingehen auf dessen Interessenschwerpunkte wird nicht nur ein persönliches Profil Weltziens kenntlich, sondern auch die für technische Lehranstalten wesensbestimmende Austauschbeziehung mit der Industrie. Dies verdient Aufmerksamkeit vor dem Hintergrund, dass die sich zu Technischen Hochschulen entwickelnden Polytechnischen Schulen die Technische Chemie mit Rücksicht auf die industriellen Bedürfnisse als eine spezifische Fach-

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richtung ausprägten und damit strukturelle Grundlagen für eine dauerhafte Symbiose schufen (vgl. Wetzel 1994, 597–598; Wetzel 1999, 299–300). Die typischerweise in den Einleitungs- und Schlussteil gerückten und schon damit gegenüber den fachnahen Inhalten als marginal ausgewiesenen privaten Themen können als ein Festhalten an Formen des Privatbriefs gedeutet werden, auch in dem Sinne, dass hier eine Einheit segmentierter Lebenssphären hergestellt wird. Man findet die allgemein üblichen Glückwünsche und Beileidsbekundungen, Nachrichten über Erkrankungen, Geburt, Verlobung, Verheiratung und Todesfälle im Familienkreis, darüber hinaus Nachrichten zu Reisen. Der Gruß an Ehefrau und Haustöchter ist geläufig. Nur selten findet sich der Ausbruch aus der überwiegend beruflichen in eine allgemeinere oder eine soziale Thematik, etwa mit Reiseberichten oder anlässlich einer Sammlung für die Witwe eines Kollegen (vgl. 26, 138, 231, 362, 436). Im Zusammenhang der Nachrichten über private Verhältnisse kann es nicht überraschen, dass der Brief auch Medium der Klage ist. Wiederholt wird mit einer konventionell einleitenden Entschuldigung später Antwort (vgl. Baasner 1999, 20) Aufgabendruck, speziell in der Lehre, angesprochen. Es werden aber auch gravierende berufliche Probleme thematisiert, etwa das Leiden an Unterforderung (vgl. 477, 479) oder Schwierigkeiten, sich in eine neue berufliche Stellung einzufinden (vgl. 300, 301). Eindrücklich sind hier Zuschriften von Schülern Weltziens, deren Weg in den Schuldienst oder die Industrie führte. Briefe gewinnen hier autotherapeutische Züge, indem das Ungenügen an provinzieller Umgebung (Victor Cruse [96]: „Sonst ist in Oldenburg ganz und gar kein Leben oder von wissenschaftlichem Verkehr auch keine Rede“), mangelhafte Laborausstattung oder Probleme der Unterrichtspraxis ausgesprochen und anschließend Pläne für eine bessere Zukunft entwickelt werden. Ein zwanzigseitiger Brief von Weltziens Schüler Mosmann dokumentiert 1857 dessen unverwirklichtes Projekt, die Stadt Chur mit Gaslicht auszustatten (vgl. 333). Als das eigentliche Schreibmotiv tritt dabei Hader mit der Ehrung Max von Pettenkofers für die Einführung des Gaslichts in Zürich hervor. Hier geht es ausdrücklich um Ruhm, den Weltzien durch die Bekanntmachung von Mosmanns Plan bewirken soll. Klagesituationen führen auch zu den sonst kaum vorkommenden Schilderungen von Innerlichkeit, etwa nach dem Verlust des Ehepartners (Johann August Streng [483]: „Ich fürchte mich vor dem Augenblick, an dem ich meine Kinder an den Christbaum hinführen muß“). Auch an dem betrachteten Korpus bestätigt sich die Beobachtung, dass Briefe besonders dann durch inhaltliche Tiefe auffallen, wenn der Briefschreiber seine persönliche Situation als randständig erlebt (vgl. Nickisch 1991, 17–18). Eine eigene und auf verschiedenen Ebenen berührte Thematik ist die von den Briefstellern bereits als abgegrenzter sozialer Körper behandelte Fachgemeinschaft der Chemiker. Das gilt schon für eine mit Blick auf den geselligen Teil der Jahresver-

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sammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte eingeflochtene Bitte, diesmal auch die ‚Chemikerinnen‘, also die Ehefrauen mitzubringen (vgl. 124). Über fachliche Zusammenkünfte und Besuche in renommierten Laboren wird vermerkt, wer anwesend war, und damit ein Soziogramm gezeichnet. Gegenstand der disziplinspezifischen Berichterstattung sind auch Parteiungen, Zwistigkeiten oder Wertschätzung, wobei selbst die allerknappste Form gedeutet wird, wenn sie nur von einer herausragenden Person stammt (Wilhelm Keller über Eilhard Mitscherlich [193]: „[I]ch stand daneben, er nannte Sie ‚unsern Welzin‘“). Wie bereits angedeutet, werden auch Habitus und Umgangsformen festgehalten: In Wurtz’ Pariser Labor singt, schreit oder pfeift man (vgl. 508); Liebig erscheint geistig abwesend, antwortet auf Fragen aber treffend (vgl. 455); die Gießener Chemiker pflegen viel privaten Umgang (vgl. 192, 195, 197, 198); Bunsens Marburger Abschiedsessen sind beschwerlich (vgl. 156). Zeichen von Berühmtheit werden notiert und damit die Ehre der Disziplin: Britische Zöllner kennen Liebig (vgl. 455; ferner 459). Der briefliche Beleg für eine mit Bunsen unternommene Italienreise ­Weltziens ist trotz des trivialen terminorganisatorischen Inhalts (vgl. 64) ebenso im Nachlass überliefert wie die Terminabstimmung für eine Jagd mit Prinz Wilhelm von Baden (vgl. 530, 531). Das entspricht auch andernorts möglichen Beobachtungen zum Umgang mit Briefen hochangesehener Absender, die wohl vorrangig als Zeichen der jeweiligen Personenbeziehung bewahrt werden. Gescherzt wird ganz selten. Ausdruck eines spezifisch fachlichen Selbstbewusstseins ist dies in einem Brief, mit dem Bunsen die Rückgabe eines an Weltzien ausgeliehenen Mantels anmahnt. Der als Alternative angeschlossene Vorschlag, Weltzien möge sowohl den Mantel Bunsens als auch den eigenen bei einer Nürnbergreise dem Germanischen Nationalmuseum stiften, artikuliert dabei Selbstsicht in Gipfelhöhe (vgl. 80). Außerhalb der hier eigentlich betrachteten Fachkorrespondenz steht die Fraktion der Briefe von Studienfreunden, die oft im Abstand von Jahren über ihren Verbleib und den anderer Kommilitonen berichten. Solche Briefe kontrastieren mit denen der chemischen und naturwissenschaftlichen Kollegen, indem hier Beziehungen über viele Jahre ganz oder vorrangig über dieses Medium gepflegt werden. Dementsprechend neigen derartige Mitteilungen zum biografischen Kondensat. Geschildert werden insbesondere die Stationen der weiteren Ausbildung, auch garniert mit Andeutungen alkoholischer Exzesse und sexueller Erkundungen (Carl Panten), im weiteren biografischen Verlauf folgen Fragen der Partnerwahl und der Gestaltung des Berufswegs. Die teils intimen Äußerungen verstärken den Kontrast zwischen privatem Briefwechsel und dem mit Partnern in einem überwiegend wissenschaftlichen Kontext. Die Scheidung von privaten und wissenschaftlichen Kontakten scheint auch bei den wenigen Äußerungen zu politischen Vorgängen möglich, die in die Sphäre der persönlichen Nähe und der

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Verwandtschaft einzuordnen sind. Ein regelrechtes ‚Politisieren‘ findet auch hier nicht statt, wohl aber wird einmal der Wunsch ausgesprochen, dies in persön­ licher Gegenwart und dann beim Bier zu tun (vgl. 174). Auch die Formulierung antisemitischer Ansichten durch den Chemikerkollegen Carl Löwig erfolgt in einer engeren als nur fachlich geprägten Bekanntschaft (vgl. 290, 292). Einmal erwähnt wird die Rolle des aufbewahrten und bei einer um Jahre verzögerten Antwort hervorgeholten Briefs als Vergegenwärtigung des Adressaten (vgl. 200; Baasner 1999, 28–29). Explizite Ansprachen der zwischen den Briefpartnern bestehenden Beziehungen sind in der fachlichen Korrespondenz jedoch selten. Solche Ausnahmen sind Bunsens 1861 ergehende Aufforderung, „den leidigen Visitencomment“ hintanzustellen (72), oder der aus Irritationen einer Drucklegung heraus an Weltzien gerichtete Appell des Herausgebers Kopp: „Ich bitte Sie, wie sich auch das beregte papierne Verhältnis gestalten möge, zwischen uns sich nichts ändern zu lassen“ (228).

5 Schluss Chemikerbriefe hatten im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts ihren funktionalen Schwerpunkt als Medium der auf abgegrenzte wissenschaftliche Arbeitsvorhaben und organisatorische Anliegen bezogenen Kommunikation. Damit ergibt sich ein Kontrast zu Nickischs Darstellung für die etwa gleichzeitige Gründungsepoche der historisch-philologischen Wissenschaften, von denen es heißt, ihre Vertreter hätten „intensive und ausgebreitete Briefwechsel“ sowohl zum Austausch über wissenschaftliche Probleme wie auch zur persönlicheren Kommunikation geführt (1991, 56–57). Bei den Chemikern scheint sich der umfassendere Gedankenaustausch zumeist auf anderen Kanälen vollzogen zu haben. Dieser Bestimmung der Brieffunktion für den Einzelfall steht gegenüber, dass die Korrespondenz der Chemiker eine substanzielle Rolle auch für die längerfristige Beziehungspflege hatte. Die kommunikative Situation war aus heutiger Sicht durch lange Pausen im Austausch geprägt, Briefeschreiben wichtig zur Aufrechterhaltung und Entwicklung wissenschaftlicher Kontakte, ebenso zur Erlangung nötiger Kenntnisse über das institutionelle, organisatorische und personelle Umfeld. Gerade bei der Chemie, die in der betrachteten Zeit einen Prozess des strukturellen Aufbaus und der disziplinären Abgrenzung durchlief, wirkte solche Kommunikation auch sozial, nicht nur als Abbildung des disziplinären Beziehungsnetzes, sondern das Briefeschreiben hatte Teil an der Konstitution von Fachgemeinschaft. Briefliche Nachrichten über die in Laboren und auf Kongressen versammelte Gesellschaft sowie insbesondere zum Berufungsgeschehen, aber auch zum Transfer von wissen-

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schaftlichem Nachwuchs erweiterten die Zweiseitigkeit brieflicher Kommunikation. Ebenso begründeten sie eine Erwartung des Absenders auf informationelle Gegenleistung. Dieser Aspekt gewinnt bei einem Blick auf die weitere organisatorische Entwicklung der Chemie besondere Relevanz. Denn die hier betrachtete Phase ist nicht nur von davor bestehenden Verhältnissen abzugrenzen, sondern auch gegenüber dem späten 19. Jahrhundert, das von einer Fortentwicklung fachspezifischer Öffentlichkeit durch wissenschaftliche Gesellschaften geprägt war (vgl. Johnson 2008, 115). In der Zeit davor musste briefliche Kommunikation noch eine wichtigere Rolle zur Gestaltung von Beziehungen und zum Erwerb des notwendigen Wissens über den Gesamtbetrieb der Fachgemeinschaft haben. Die neben den fachlichen Inhalten regelmäßig erscheinenden Bezüge auf private Verhältnisse sind als Niederschlag sozialer Beziehungen neben der wissenschaftlichen Existenz nicht nur selbstverständlich. Das Vorhandensein und die Marginalität dieser Elemente werfen zusammen Licht auf Koordinaten des wissenschaftlichen und nicht zuletzt des Chemikerlebens im 19. Jahrhundert. Das Dasein war geprägt durch ein hohes Maß an beruflicher Widmung. Im fachlichen Brief wird aber immer wieder das Konzept einer alle Lebensbereiche umfassenden Einheit bedient. Chemiker zeigen damit eine Beharrungstendenz gegenüber der für das 19. Jahrhundert typischen, große Teile der Bevölkerung erfassenden Auflösung des Zusammenhangs von häuslich-familiärem und beruflichem Leben, und das, während die räumliche Abgrenzung zeitintensiver Laborarbeit gerade in diese Richtung wirkt. Es kann gefragt werden, ob sich die Wahrung einer Integration von Berufs- und Privatleben im Brief eher unprogrammatisch, als Ausfluss allgemeiner Gepflogenheiten des Bürgertums als dem regulären sozialen Ort des Chemikers ergab oder eher als spezifische Implikation der akademischen Kooptation und des zeittypischen akademischen Konnubiums. Jedenfalls liegt es nahe, die bei der wissenschaftlichen Korrespondenz beobachtete Wahrung von Grundformen des Privatbriefs in diesen Zusammenhängen zu sehen.

Zitierte Literatur Baasner, Rainer (1999). „Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis“, in: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Hg. v. dems. Tübingen: 1–36. Baumgarten, Marita (1997). Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler. Göttingen. Johnson, Jeffrey Allan (2008). „Discipline – Industry – Profession: German Chemical Organizations, 1867–1914“, in: Creating Networks in Chemistry: The Founding and Early History of the Chemical Societies in Europe. Hg. v. Sona Strbanova u. Anita Kildebaek Nielsen. Cambridge: 113–138.

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Manegold, Karl-Heinz (1970). Universität, Technische Hochschule und Industrie. Ein Beitrag zur Emanzipation der Technik im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Bestrebungen Felix Kleins. Berlin. Mönnich, Michael (2010). „Für unsere schöne Wissenschaft eine Einigung anzubahnen“, in: Nachrichten aus der Chemie, 58: 539–543. Nickisch, Reinhard M. G. (1991). Brief. Stuttgart. Nippert, Klaus (2013). „Wie entstand die Technische Hochschule? Zum Einfluss der Polytechnischen Schule Karlsruhe auf die Entwicklung eines Hochschultyps“, in: Fridericiana. Zeitschrift der Karlsruher Universitätsgesellschaft, 68: 9–16. Rocke, Alan J. (1993). The Quiet Revolution. Hermann Kolbe and the Science of Organic Chemistry. Berkeley u. Los Angeles. Stock, Alfred (1933). Der internationale Chemiker-Kongreß Karlsruhe, 3. bis 5. September 1860, vor und hinter den Kulissen. Zur 38. Hauptversammlung der Deutschen BunsenGesellschaft in Karlsruhe, 25. bis 28. Mai 1933. Berlin. Stock, Christine (2007). Robert Wilhelm Bunsens Korrespondenz vor dem Antritt der Heidelberger Professur (1852). Kritische Edition. (Diss. Univ. Marburg 2005) Stuttgart. Wetzel, Walter (1994). „Chemie und Chemische Technologie als Triebkräfte zur Industriellen Revolution im 19. Jahrhunderts“, in: Ad Radices. Festband zum fünfzigjährigen Bestehen des Instituts für Geschichte der Naturwissenschaften der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt am Main. Hg. v. Anton Gotstedter. Stuttgart: 589–599. Wetzel, Walter (1999). „Der Beitrag der deutschen Technischen Hochschulen zur Evolution der Chemie. Eine deutsche Singularität“, in: Der Weg der Wahrheit. Aufsätze zur Einheit der Wissenschaftsgeschichte. Festgabe zum 60. Geburtstag von Walter G. Saltzer. Hg. v. Peter Eisenhardt, Frank Linhard u. Kaisar Petanides. Hildesheim: 293–304.

Archiv-Quellen Archiv des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT-Archiv), 27072 Nachlass Karl Weltzien.

Susanne Müller

6.17 Das Briefnetzwerk Jacob Burckhardts 1 Geschichte der Briefedition Jacob Burckhardt (1818–1897) machte Zeit seines Lebens nie einen Hehl aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber einer möglichen Veröffentlichung seiner Korrespondenz: „Ich sehe zB: nicht ein, daß einst Beamte Professoren und Literaten in meinen Briefen an L.[übke] sollten wühlen und daraus beliebiges veröffentlichen dürfen.“ (Burckhardt 1949–1994 [Briefe], Bd.  10, 88) Diese dezidierte Aussage sowie die testamentarischen Verfügungen (StABS PA 207, 49) lassen keinen Zweifel daran, dass dem Schweizer Gelehrten die Neugierde von Biografen unerwünscht war und dass er weder Briefzitate noch die Publikation ganzer Briefe autorisiert hätte. Die skeptische Haltung gegenüber der Veröffentlichung von Briefschaften merkte er selbst in seinen Werken an (vgl. z.  B. Burckhardt 1860, 311). Einen entsprechenden Standpunkt vertrat Burckhardt auch in Bezug auf die Publikation seiner wissenschaftlichen Schriften, auf die er mit blauem Buntstift die Weisung „einzustampfen“ angebracht hatte, um eine postume Veröffentlichung zu verhindern. Noch einen Monat vor seinem Tod widerrief er die testamentarische Verfügung, in der er ein Jahr zuvor seinen Neffen Jacob Oeri ermächtigt hatte, wenigstens die kunsthistorischen Altersmanuskripte (Das Altarbild, Das Porträt, Die Sammler und Erinnerungen aus Rubens) herauszugeben. Gleichwohl sind heute sowohl die Briefe von (vgl. Burckhardt 1949–1994) und an Burckhardt (vgl. die digitale Briefedition http://burckhardtsource.org) sowie auch das gesamte Werk ediert (bzw. in Vorbereitung, vgl. Werke): Schlussendlich haben sich alle Herausgeber über die Willensbekundung des Autors hinweggesetzt. Zu deren Verteidigung ist anzuführen, dass die Nachwelt nur eine sehr begrenzte Kenntnis von Burckhardts wissenschaftlichen Studien gehabt hätte, wären seine Weisungen befolgt worden, denn nach 1860 (Die Cultur der Renaissance in Italien) publizierte er keine weiteren Schriften mehr. Lediglich erschien 1867 die ihm mit Beharrlichkeit durch die Nachkommen von Franz Kugler (1856–1873) abgerungene und durch Wilhelm Lübke veröffentlichte Schrift Die Renaissance in Italien, die das Werk seines Lehrers vervollständigte. Nach diesem Zeitpunkt blieben die Arbeiten entweder in der Schublade liegen, oder der Kulturhistoriker ließ die Ergebnisse seiner Forschungen in die universitären Vorlesungen und öffentlichen Vorträge einfließen: „Bücher lasse ich keine mehr drucken, da ich die Zeit für die Vorlesungen besser angewandt glaube […].“ (Briefe, Bd. 4, 138) Demzufolge übertrifft der Umfang des handschriftlichen Materials bei Weitem die zu Lebzeiten veröffentlichten Werke. Hätte man also den Willen des Forschers https://doi.org/10.1515/9783110376531-100

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befolgt, wäre der wissenschaftliche Makrotext  – in den vierzig Jahren nach der letzten veröffentlichten Schrift entstanden und aus verschiedenen Textsorten (zur Publikation bestimmten Texten, Vorlesungsmanuskripten, öffentlichen Vorträgen, Vorbereitungsmaterial und, nicht zuletzt, Briefen) zusammengesetzt – mit seiner thematischen oder metatextuellen Kohärenz (vgl. Blühdorn et al. 2006, 285) nie ans Licht gekommen. Es ist aber gerade diese ‚Kehrseite des Teppichsʻ (vgl. Briefe, Bd. 4, 229), dieses Gewebe aus Kett- und Schussgarnen, das die Komplexität des „homo scribens“ (Ghelardi 2016, XVIII) Burckhardt und seinen Kosmos charakterisiert. Die Korrespondenz Burckhardts ist heute in zwei verschiedenen Ausgaben publiziert: Während seine Briefe in einer gedruckten Ausgabe vorliegen (vgl. Burckhardt 1949–1994), sind die Zuschriften an ihn in einer durch den European Research Council geförderten Open-access-Edition herausgegeben (vgl. http:// burckhardtsource.org). Um zu verstehen, wie es zu dieser Sachlage kam, sind kurz die Stadien der Veröffentlichung aufzuzeigen – umso mehr, als sie exemplarisch für die Editionsgeschichte von Briefen im Allgemeinen stehen. Rund zwanzig Jahre nach dem Tod des Wissenschaftlers setzte die Veröffentlichung einzelner Briefe oder Briefschaften mit einem bestimmten Empfänger ein, wobei sich die Herausgeber mehrheitlich auf die Texte Burckhardts konzentrierten, während sie die Zuschriften an ihn unerschlossen ließen. Ab 1949 erschienen dann in chronologischer Reihenfolge sämtliche bis dahin bekannten Briefe Burckhardts in einer mit einem ausführlichen Sachkommentar versehenen Ausgabe (vgl. Burckhardt 1949–1994). Einmal mehr wurden nur die Briefe Burckhardts veröffentlicht. Mit dem Argument, die Überlieferung der Gegenbriefe sei sehr lückenhaft, blieben Letztere unveröffentlicht und wurden bestenfalls zur Kommentierung herangezogen: „Erhaltene Äußerungen der Gegenseite bleiben für die Verarbeitung in den Apparat reserviert.“ (Herausgeber Max Burckhardt in Briefe, Bd. 1, 17) Diese editorische Entscheidung gründet auf der Auffassung des Briefes als historisches Dokument, dessen Funktion vor allem darin bestehe, Angaben zur besseren Kenntnis des Werks zu liefern, „da [Burckhardts] Publikationen sehr vielfältig aber auch sehr sporadisch waren“ (Briefe, Bd. 1, 17). Wie der Editor Max Burckhardt im Vorwort erläutert, sind die Briefe der Schlüssel zum Verständnis der Lebensarbeit des Verfassers und ermöglichen die Darstellung „geistiger Zusammenhänge“. Bei der Fokussierung des Erkenntnisinteresses auf die Interpretation des Werkes Burckhardts spielen die Briefe der Korrespondenzpartner tatsächlich eine untergeordnete Rolle und können aus diesem Grunde vernachlässigt werden. Sobald der Brief nicht mehr nur als rein wissenschaftshistorische Quelle, sondern auch als Medium betrachtet wird, das Beziehungen herstellt und unterhält, öffnet sich der Weg zur Publikation des vollständigen Briefwechsels, denn die Gegenbriefe erweisen sich als für die Analyse der Vorgänge des Informationsaustausches und der Rollen der einzelnen Akteure unentbehrlich. In diesem

6.17 Das Briefnetzwerk Jacob Burckhardts 

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Kontext ist die kritische Edition der Briefe an Burckhardt anzusiedeln, die die Texte digital veröffentlicht (http://burckhardtsource.org) und die Briefschaften als intellektuellen Austausch versteht, in dem die Arten der Wechselbeziehung Licht auf die Vernetzung und die Stellung der einzelnen Akteure werfen. Unter der Perspektive der Korrespondenz als Gespräch über eine räumliche Distanz gibt der Briefwechsel ebenso Auskunft über inhaltliche wie auch über soziale Aspekte: Er dokumentiert sowohl den gegenseitigen Transfer von Wissen, Kritik und Ideen als auch die individuellen Beziehungen, deren Dynamik und Intensität. Kennzeichen der digital library ist eine moderne Methodologie und Präsentation der Briefe: Dem Benutzer werden verschiedene Visualisierungen angeboten – das Faksimile, die diplomatische Umschrift mit den textgenetischen Varianten und der konstituierte Lesetext mit dem Sachkommentar. Die Gegenüberstellung von digitaler Abbildung des Originals und Transkription macht die editorische Arbeit transparent und einsichtig, zudem gestattet sie dem Benutzer, die Materialität des Textzeugen wie Papierqualität, Schreibmaterial, Schriftduktus und Darstellung des Textes zu prüfen, denn bekanntlich liefert diese nonverbale Ebene der Kommunikation wertvolle Hinweise zum Verhältnis von Schreiber und Adressat. Um den historischen Kontext der interaktiven Prozesse zu erschließen, konzentrieren sich die erläuternden Anmerkungen des Sachkommentars in erster Linie auf materiale Gegebenheiten. Für die Untersuchung des Schriftstückes als Dokument und seiner relationalen und archivalischen Implikationen sind die einzelnen Briefe mit ausführlichen Metadaten versehen. Schließlich gestatten die verschiedenen Suchfunktionen eine schnelle und tiefe Untersuchung der Texte. Die Möglichkeit, vielfältige Fragestellungen in Form von aktiven Suchen an die Briefe herantragen zu können, führt nicht zuletzt zu einer Erweiterung des Nutzerkreises. Im Besonderen schafft die online-Publikation die bestmöglichen Voraussetzungen für eine vertiefte Analyse des schriftlichen Netzwerkes und dessen Ausstrahlung, denn die technischen Funktionen versetzen den Benutzer in die Lage, auch die indirekten Kontakte und Verbindungen zu erforschen. In den nächsten Jahren wird die Plattform mit den Briefen des Basler Kulturhistorikers ergänzt werden, damit Lesende endlich über eine geschlossene Korrespondenzausgabe verfügen und damit die Möglichkeit haben, die Kommunikationsprozesse und den inhaltlichen Austausch zu untersuchen.

2 Überlieferung Wie er seinem Freund Friedrich von Preen anvertraute, verwahrte Burckhardt die eingegangenen Schreiben in einer „Schublade, welche der allgemeine Brief-Hades ist“, um sie dann am Ende eines Jahres in „Pakete zu sortieren“ (Briefe, Bd. 6,

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71). Von dieser chronologischen Ordnung ist im heutigen archivalischen Zustand nichts mehr zu sehen, denn die Korrespondenz wurde bei der Archivierung des Nachlasses nach Briefverfassern sortiert. Das bis jetzt definierte Korpus umfasst ungefähr 3.000 Briefe – die sich sowohl im Staatsarchiv Basel wie in anderen europäischen Bibliotheken oder Archiven befinden –, davon sind 1.800 von Jacob Burckhardt, der Rest stammt von seinen Gesprächspartnern. Was das Korpus der Gegenseite anbetrifft, so ist es mit großer Sicherheit als definitiv anzunehmen, da für die digitale Ausgabe die in Europa verstreuten Nachlässe der Korrespondenten systematisch nach Schreiben an Jacob Burckhardt durchforstet wurden. Für die Briefe des Schweizer Hochschullehrers ist dieselbe Ermittlung noch nicht abgeschlossen; so wird sich die Zahl seiner schriftlichen Mitteilungen gewiss noch erhöhen, was das numerische Dokumentationsgefälle zwischen den beiden Kommunikationsseiten zwangsläufig vergrößern wird. Ein grundlegender Unterschied betrifft die Überlieferung der Textzeugen und deren editorische Behandlung: Von Burckhardts wissenschaftlichen Briefschaften an Gelehrte, Verleger und Institutionen sind in der Regel nur die Entwürfe oder Konzepte überliefert, während die Originale verschollen sind. Das bedeutet, dass die aktuelle gedruckte Ausgabe der Briefe (vgl. Burckhardt 1949–1994) zu einem großen Teil auf den Entwürfen und nicht auf den effektiv versandten Schriftstücken beruht: In Ermangelung der Originale wurde also den Arbeitshandschriften mit den graphischen Abbreviaturen (Kürzeln, Auslassungen von Buchstaben oder Wörtern, Verschleifungen usw.) implizit eine präsumtive Autorität zugewiesen. Aus der oben zitierten Perspektive des Herausgebers, dem es vor allem um die Definition und Darstellung des Autors durch seine Briefe ging, lässt sich denn auch die editorische Entscheidung erklären, die Texte – losgelöst von ihrer fragmentarischen und abgekürzten Originalform – zu konstituieren. Das Interesse am Text überwog die Aufmerksamkeit für seine materielle Gestalt. Anders sieht der Überlieferungsbefund für die Schreiben an Burckhardt aus: Hier sind ausschließlich die Originalbriefe aufbewahrt, weshalb die elektronische Edition von abgesandten Texten ausgehen kann. Zudem folgt sie dem Prinzip der Authentizität, indem sie den Zeugen in seiner historischen Form publiziert. Wie aus den Zahlen des Korpus hervorgeht, ist die Tradierung von Burckhardts Briefen fragmentarisch und unzusammenhängend, wobei dieser Befund nicht allein das Ergebnis einer lückenhaften Konservierung ist, vielmehr wurde die Korrespondenz durch Eingriffe des Basler Forschers bewusst geglättet. So forderte er verschiedene Adressaten schriftlich auf, seine Briefe zu vernichten: Die Nachkommen Franz Kuglers bat er mehrfach um die Eliminierung seiner Schreiben an den Lehrer (vgl. Briefe, Bd. 4, 36; Briefe, Bd. 7, 242), während er Max Alioth den Rat gab: „Meine alten Briefe sollten Sie nicht wieder lesen sondern verbrennen“ (Briefe, Bd. 10, 88). Wie er 1859 Paul Heyse berichtete (vgl. Briefe,

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Bd. 4, 36), verbrannte er selbst, im Einverständnis mit seinem Bruder, nach dem Tode seines Vaters dessen Korrespondenz. Dieser gezielten Vernichtung fiel selbstverständlich auch das schriftliche Gespräch zwischen Vater und Sohn zum Opfer, sodass wir nur über zwei Briefe des Antistes an seinen Sohn (vgl. http:// burckhardtsource.org/letter/727; http://burckhardtsource.org/letter/737) bzw. einige wenige schriftliche Mitteilungen des jungen Jacob an seine Eltern verfügen. Der Nachlassbefund legt nun aber nahe, dass sich diese ‚Säuberungsaktionʻ nicht nur auf den Briefwechsel mit dem Vater beschränkte, vielmehr deutet alles darauf hin, dass Burckhardt nach seiner Rückkehr 1856 in die Heimatstadt die früheren Briefschaften, abgesehen von wenigen amtlichen Schreiben, endgültig beseitigte. Der Verlust der „ästhetischen Unschuld“ (Benne 2015, 13) des Nachlasses führt auch den ‚Leerstellenʻ einen bedeutungsreichen Wert zu. Von Belang ist in diesem Zusammenhang z.  B. die Tatsache, dass von und an den Karlsruher Kunsthistoriker Wilhelm Lübke keine Zeile tradiert ist, dass aber Lübke die am häufigsten erwähnte Person in der überlieferten Korrespondenz darstellt. Es stellt sich daher die Frage nach den Kriterien, auf Grund derer ein Briefwechsel aufbewahrt oder vernichtet wurde. Grundsätzlich scheinen pragmatische, historische und persönliche Motive Burckhardts Entscheidungen geleitet zu haben. In Bezug auf die private Korrespondenz veranlassten offenbar persönliche Überlegungen das Ausscheiden von Textzeugen: Je vertrauter das Verhältnis mit dem Empfänger gewesen war, desto weniger ist der schriftliche Austausch erhalten. Tatsächlich ist nicht nur die Familienkorrespondenz fast vollständig zerstört, es fehlen auch die intimeren Briefe an Burckhardt aus der zweiten Lebenshälfte. Dank der Bekannten, die sich hingegen in vielen Fällen nicht an die Weisung hielten, die erhaltenen Schreiben den Flammen zu übergeben, sind umfangreiche Briefkonvolute des Kulturhistorikers aus diesem Kreise überliefert, wie etwa die Schreiben Burckhardts an Friedrich von Preen, an Max Alioth oder an Robert Grüninger. Wie die fehlenden Briefe von Gottfried Kinkel veranschaulichen, stellte der Bruch einer Freundschaft einen weiteren Beweggrund für den Gelehrten dar, Zuschriften auszusondern. Kinkel verwahrte indessen die schriftlichen Nachrichten Burckhardts zumindest teilweise. Man kann also folgern, dass in den privaten Briefwechseln Burckhardts Bedürfnis überwog, die Vertraulichkeit des Austausches zu respektieren und möglichst wenige persönliche Spuren für neugierige Blicke zu hinterlassen, damit „nicht Batterien gegen die Hauptwerke und das Andenken des Mannes daraus erbaut werden sollen“ (Briefe, Bd. 5, 260). Im Falle des nicht mehr vorhandenen Schriftverkehrs mit dem Lehrer und Freund Franz Kugler ist der Grund eine historisch-kulturelle Sitte, der gemäß die Schreiben eines Verstorbenen an dessen Familie zurückgegeben wurden (vgl. Briefe, Bd. 7, 242).

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Eher pragmatische Kriterien scheinen dagegen die Aufbewahrung der wissenschaftlichen Korrespondenz bestimmt zu haben: Höchst wahrscheinlich wurden z.  B. die Briefe des Kunstkenners Johann Matthias Commeter wegen der Bestandsaufnahmen der Kunstdenkmäler Mittelitaliens von Burckhardt aufgehoben. Der gebürtige Norddeutsche gab nämlich in seinen Nachrichten Auskunft über die sommerlichen Kunstreisen in Italien und stellte für den Verfasser des Cicerone seitenlange Aufzählungen mit den Kunstwerken zusammen, die er in Kirchen und Privatsammlungen gesehen hatte und die in Burckhardts Werk fehlten. Bei den erhaltenen Amtsschreiben, in denen Burckhardt als Ordinarius angesprochen war, wird in der Regel dem Aufheben von Schriftstücken eine dokumentarische Funktion zugemessen worden sein. Eine solche kann vermutet werden, wenn in einem Schreiben die Nachfolge auf einen Lehrstuhl (http:// burckhardtsource.org/letter/535; Briefe, Bd. 9, 73–74) erörtert wird oder wenn die Universität Zürich die Bitte an Burckhardt richtet, die offizielle Anfrage zu unterstützen, eine Dame (Meta von Salis) als Hörerin seiner Vorlesungen zuzulassen (http://burckhardtsource.org/letter/147; Briefe, Bd. 8, 271–274). Indessen scheinen Burckhardt Motive wie die Glättung des Briefwechsels im Hinblick auf eine bewusste Selbstdarstellung oder eine gelenkte Rezeption fremd gewesen zu sein. Was die Überlieferung nach Brieftypen anbelangt, so weist der Nachlass einen proportional umgekehrten Befund auf: von Burckhardt selbst sind vornehmlich reine Freundschaftsbriefe erhalten, unter den erhaltenen Schreiben an den Kulturhistoriker überwiegt die fachliche Privatkorrespondenz. Diese Tatsache steht nicht im Gegensatz zur selektiven Vernichtung der Korrespondenz: Wie bereits angedeutet, bewahrten die Freunde die Briefe Burckhardts sorgfältig auf.

3 Korrespondenzpartner Bei der Korrespondenz Burckhardts handelt sich um einen europaweiten Schriftverkehr des 19. Jahrhunderts mit rund 400 dokumentierten Personen. Auch wenn die soziale Stratifikation des Netzes insgesamt eine beträchtliche Breite aufweist, gehört doch der überwiegende Teil der Briefpartner dem gleichen oder ähnlichen Stand an wie Burckhardt. Es finden sich darunter ebenso Verleger, Wissenschaftler, Literaten wie Künstler und gebildete Personen des gesellschaftlichen Lebens, bemerkenswert ist dabei die große Zahl an Kunsthistorikern und Kunstkennern. Die geographische Streuung der Briefschreiber ist einerseits durch die persönlichen Beziehungen, andererseits durch Burckhardts Forschungsschwerpunkte in der Kultur- und Kunstgeschichte Italiens bedingt. Relevant erweist sich in diesem

6.17 Das Briefnetzwerk Jacob Burckhardts 

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Zusammenhang insbesondere die Tatsache, dass sich die Kunstgeschichte zuerst im deutschen Sprachraum zum eigenständigen Unterrichtsfach entwickelte und dass Burckhardt mit seinen Publikationen einen entscheidenden Beitrag zur Festsetzung der wissenschaftlichen Grundlagen lieferte. Demgemäß konzentriert sich der Großteil der Gesprächspartner im deutschen Sprachraum, gleichzeitig erweisen sich die letzten zwei Lebensjahrzehnte des Gelehrten als die quantitativ intensivste Zeit, in der die wissenschaftlichen Kontakte ihren Höhepunkt erreichen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der kunsthistorischen Studien zu einer historisch-kritischen Disziplin werden Burckhardts Schriften (Der Cicerone, Die Cultur der Renaissance, Die Geschichte der Renaissance in Italien) neu rezipiert, wodurch er zu einem maßgeblichen Bezugspunkt für das neue Spezialgebiet wird: „Ich bin nämlich in der Kunstgeschichte allmählig ein ‚Tierʻ geworden […].“ (Briefe, Bd. 8, 61) Seine Bedeutung lässt sich ebenso aus den Anfragen der Fachkollegen bewerten wie aus der wachsenden Zahl der öffentlichen Institutionen, die Burckhardt um Rat und Stellungnahmen ersuchen. So richtet der Konservator der Großherzoglich badischen Sammlungen für Altertums- und Völkerkunde, Ernst Wagner, die Anfrage an den Basler Professor (vgl. u.  a. http://burckhardtsource. org/letter/1525), eine dem Museum zum Kauf angebotene private Kunstsammlung zu begutachten, oder der Ministerialrat für Kultus und Unterricht, Ludwig Arnsperger (vgl. u.  a. http://burckhardtsource.org/letter/34), bittet ihn, ein Gesuch um die Förderung einer kunstwissenschaftlichen Studie zu beurteilen. In mehrfacher Hinsicht interessant ist auch der Brief eines besorgten Vaters, dessen Sohn mit der Kunst- und Kulturgeschichte liebäugelte und „offenbar von dem Gesichtspunct aus[geht] nicht ein Fach zu suchen, welches ihm am frühesten und leichtesten den Brodkorb giebt, sondern Dinge zu treiben, bei denen er seine Neigungen befriedigen kann“ (http://burckhardtsource.org/letter/1526). Ob Burckhardt dem Wunsch, den Filius in seiner Studienwahl zu beraten, nachgekommen war, wissen wir nicht, auf jeden Fall wurde der Sohn, Heinrich Wölfflin, der Nachfolger Burckhardts auf dem kunsthistorischen Lehrstuhl in Basel. Bei den fremdsprachigen Briefwechseln handelt es sich in der Regel um Gelehrtenkorrespondenz, um Übermittlung von Informationen und Wissen. Mit rund zwanzig Briefpartnern und einem Zehntel aller überlieferten Zuschriften gebührt Italien der proportional zweitgrößte geographische und sprachliche Anteil an Burckhardts Briefschaften. Der Austausch mit Italien und mit dort lebenden Personen nahm seinen Anfang nach der ersten langen Italienreise 1853 und dem Erscheinen des Cicerone. Einen deutlichen Hinweis auf den frühen Bekanntheitsgrad – „der Ruhm, der von Ihnen in Italien verdientermaßen erklingt“ [„[l] a fama che meritamente risuona di Lei in Italia“] (http://burckhardtsource.org/ letter/1394; Übers.  d. Verf.) – liefert das Schreiben von 1866, in dem Burckhardt eingeladen wird, als Sachverständiger in der Kommission zur Beurteilung der

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für die Fassade des Florentiner Doms eingereichten Projekte mitzuwirken. Dem Autor der Cultur der Renaissance in Italien verschaffte dann 1876 die Übersetzung von Diego Valbusa, deren Entstehung im Briefwechsel nachgelesen werden kann, eine große Resonanz in den gebildeten Kreisen Italiens. Ungeachtet der zeitgenössischen italienischen Rhetorik – „wenn Sie wüssten, wie Ihr Name uns Italienern lieb und maßgebend ist […]“ [„Se Ella sapesse quanto caro ed autorevole è il suo nome presso noi Italiani  […]“] (http://burckhardtsource.org/letter/12; Übers.  d. Verf.) – veranschaulicht der schriftliche Verkehr mit dem italienischen Senator und Historiker Pier Desiderio Pasolini die Reaktion auf Burckhardts Betrachtung der italienischen Kultur und die daraus resultierenden Beziehungen. Bestimmt wäre es verfehlt, in diesem Falle von einem Lehrer-Schüler-Verhältnis im engeren Sinne zu sprechen, aber die Unterstützung, die Burckhardt dem Italiener in seinen historischen und ikonographischen Nachforschungen zu Caterina Sforza (vgl. Pasolini 1893) zuteilwerden lässt, zeigt seine intellektuelle Großzügigkeit und insbesondere seine Verfahrensweise im Wissensaustausch. Aus dem französischen Sprachraum stammen wenige Briefpartner, die Schreiben berühren meist die wissenschaftlichen Verdienste Burckhardts: „Erlauben Sie einem Ihrer Zuhörer, sich von ganzem Herzen für die Erlaubnis zu bedanken, Ihre Vorlesung über die Geschichte der Revolution zu besuchen […], er fühlte sich besonders durch den Bildungscharakter, den hohen moralischen Charakter der Lehrveranstaltung gefangen genommen.“ [„Permettez à l’un de vos auditeurs de venir vous exprimer ses remercîments bien sincères pour la permission […] de suivre votre Cours sur l histoire de la Revolution […] il s est surtout senti entraîné par le caractere éducatif, par le caractère de haute moralité de votre enseignement.“] (http://burckhardtsource.org/letter/92; Übers.  d. Verf.) In diesen Fällen lässt sich nur ausnahmsweise ein Dialog oder eine Austauschbeziehung nachweisen, im Allgemeinen bleibt es bei den einzelnen ‚Gelegenheitsschreibenʻ. Nur vereinzelt finden sich auch Briefe aus England und Übersee. Was die Briefschreiberinnen anbetrifft, so entspricht deren Zahl ungefähr derjenigen der italienischen Gesprächspartner, aber im Unterschied zu Letzteren stellen sich die Damen als ephemere Korrespondentinnen heraus, die entweder eine Frage an den Adressaten richten oder sich für eine erwiesene Freundlichkeit bedanken – „denn ich habe den ganzen Winter Abend für Abend […] über Ihrer ‚Kultur der Renaissanceʻ gesessen und sie langsam, Absatz für Absatz mit Freude und Genuß und Respect zu mir genommen“ (http://burckhardtsource.org/ letter/153). Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind keine eigentlichen Briefwechsel zwischen den weiblichen Mitgliedern der Gesellschaft und Burckhardt überliefert, der erhaltene Nachlass enthält meist nur Zeugen eines einmaligen Gespräches. Als weiteres Merkmal fällt die Heterogenität in der sozialen Herkunft und dem Bildungsstand der Briefschreiberinnen ins Auge, denn in der kleinen

6.17 Das Briefnetzwerk Jacob Burckhardts 

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Gruppe finden sich neben Dichterinnen eine Wirtstochter, italienische Adlige, Übersetzerinnen, Wohnungsvermieterinnen und Basler Bürgerinnen. Burckhardt selbst war ein großer und regelmäßiger Briefschreiber, der sich täglich dieses Kommunikationsmittels für persönliche Mitteilungen ebenso wie für fachlichen Wissens- und Informationstransfer bediente. Die Gattung der amtlichen Schreiben ist im Vergleich dazu wenig vertreten; ein Umstand, der darauf zurückzuführen ist, dass er in den beinahe vierzig Jahren seiner Lehrtätigkeit nie eine universitätspolitische Funktion ausübte. In erster Linie benutzte er das Medium, um seinen Freundes- und Bekanntenkreis zu pflegen. Wie die Berichte von seinen Reisen deutlich zeigen, gewann dieser Aspekt an Bedeutung, wenn geographische Distanzen einen kontinuierlichen mündlichen Austausch verunmöglichten: „Wenn dieser Brief zu Ihnen gelangt, sind Sie wahrscheinlich eben von der großen Tour wieder in Basel angelangt […], nichtsdestoweniger werde ich Montag 26 August und Dienstag 27 August in Bologna nach Briefen poste restante fragen, und das wissen Sie, daß ich auf einige Zeilen von Ihnen etwas halte […].“ (Briefe, Bd. 6, 265) Es erstaunt daher nicht, dass die Periode der qualitativ umfangreichsten Briefe Burckhardts in die siebziger Jahre fällt, als er auf Grund seiner offiziellen Vorlesungstätigkeit als Kunsthistoriker zahlreiche Reisen unternahm, um seine Kenntnisse der Kunstwerke autoptisch zu überprüfen und zu festigen.

4 Fallbeispiele Um die Kommunikationsprozesse zu verdeutlichen, seien im Folgenden zwei wissenschaftliche Briefwechsel und ein schriftlicher Dialog zwischen Freunden betrachtet. Als erstes Beispiel dient der Austausch zwischen zwei ebenbürtigen Persönlichkeiten, einem Museumsdirektor und einem Universitätsprofessor: Wilhelm Bode und Burckhardt führten in den Jahren 1874 bis 1891 einen um die methodischen Grundlagen der zeitgenössischen Kunstgeschichte kreisenden Briefwechsel, der durch gegenseitige Besuche zusätzlich belebt wurde. In den überlieferten Schreiben ist immer wieder die Rede von den Bemühungen Bodes, die biographische und narrative Form der Kunstgeschichtsschreibung durch Studien der Morphologie und der Kunstgattungen zu überwinden. Er weist auf seine Schwierigkeiten hin, die neue Methode Burckhardts, die „Kunstgeschichte nach Aufgaben und Gattungen“, in seinen eigenen Publikationen umzusetzen: „Dass Sie […] mich ermuntern in der Richtung weiter vorzugehen, ist mir eine ganz besondere Freude u. macht mir in der That Muth zu weiteren Versuchen der Art. Um so mehr bedaure ich aber, dass Ihr M.S. über die italien. Sculptur [Geschichte

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der Renaissance in Italien], in das Sie mich einmal haben hineinblicken lassen, im Pulte liegen geblieben ist  […].“ (http://burckhardtsource.org/letter/44) Und als greifbaren Beweis seiner Anstrengungen sendet er seine Publikationen nach Basel. Als Bode 1889 Rat für die Neukonzeption der Galeriekataloge einholte, empfahl ihm Burckhardt, die Handbücher nicht chronologisch, sondern „nach Gattungen und Aufgaben“ zu gliedern (http://burckhardtsource.org/letter/1431). Ein häufiges Thema sind Bodes Erwerbungen von Kunstwerken und die damit verbundenen Zuschreibungen. In diesem Zusammenhang werden verschiedene wissenschaftliche Ansätze miteinander verglichen, wobei insbesondere die positivistische Methode Giovanni Morellis diskutiert wird. Typischerweise war Burckhardt in seinen Urteilen maßvoll, indem er dem Vorgehen einen gewissen Wert einräumte, auch wenn er den Eindruck hegte, „daß bei diesem Mann zwar sehr viel zu lernen wäre, daß er aber nie auf Das eingehen würde was mir das Wesentliche wäre“ (http://burckhardtsource.org/letter/1431). Bode war hingegen in der Ablehnung der Methode entschiedener und erklärte die „Betrachtung der Gemälde unter dem Secirmesser“ als unvereinbar mit dem Kunstgenuss und die Beurteilung eines Bildes „nach ‚Ohrʻ, Landschaft, Gewandung etc“ als unzureichend für eine exakte Zuschreibung (http://burckhardtsource.org/ letter/3). Seine Haltung war sicher nicht vorurteilslos, da er in jenen Jahren mit Morelli einen Kleinkrieg um verschiedene Attributionen führte (vgl. bes. http:// burckhardtsource.org/letter/58), gleichzeitig drückt sie aber auch die Auffassung aus, dass die stilistische Analyse zur Erforschung eines Kunstwerkes von historischen und kulturwissenschaftliche Studien begleitet sein sollte. Obgleich Burckhardt sich oft in der Rolle des Ratgebers befindet und Bode sich in äußerst ehrerbietiger Weise an Burckhardt wendet, lässt der Briefwechsel keinen Zweifel an der gleichwertigen Beziehung, die sowohl aus der gegenseitigen Wertschätzung und Achtung als auch aus den wechselseitig voneinander abhängigen Interessen entstanden sein muss, wie denn die geistige Anteilnahme an den Arbeiten des anderen zur Vertiefung einer persönlichen Verbindung führt. Mit Wilhelm Bode verband Heinrich von Geymüller die auf Zuschreibungen und Datierungen – im Falle Geymüllers von Bauwerken – gerichtete Aufmerksamkeit ebenso wie die gemeinsame Tätigkeit an der fünften Auflage des Cicerone, für die ihn der Konservator gewonnen hatte: „Dass ich zur Durcharbeitung einzelner Theile der Renaissance-Architectur die Beihilfe von H. von Geymüller gewonnen habe, wird denke ich Ihren Beifall finden.“ (http://burckhardtsource.org/letter/89) Die Bekanntschaft mit Burckhardt ging aber bereits auf Ende 1863 zurück, während der schriftliche Dialog zwischen den beiden ab 1867 nachgewiesen werden kann. Geymüllers wegbereitende Studien auf dem Gebiet der Architekturzeichnungen und -geschichte verfolgte der Basler mit Neugierde und Teilnahme (vgl. z.  B. Briefe, Bd. 8, 92–95), während er in den Fällen, in denen er Zweifel an dessen Hypothesen

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hegte, Wohlwollen übte: „Überlassen wir den lieben G.[eymüller] seiner Begeisterung, die ihm schon für so viele schöne Entdeckungen als Lampe gedient hat, und erlauben wir ihm auch einige Fehler.“ [„Lasciamo il caro G. al suo entusiasmo che gli ha servito da lucerna già per tante belle scoperte e permettiamogli anche qualche sbaglio.“] (Briefe, Bd. 8, 182; Übers.  d. Verf.) Schützenhilfe gewährte er dem Architekturhistoriker selbst in praktischer Hinsicht, wie er Bode nach dem Fahnenlesen für den Cicerone gestand: „Jetzt dürfen Sie auch wissen, was ich letzten Winter mit der Doppelcorrectur ausgestanden habe welche Freund Geymüller in Paris und ich in Basel zu üben hatten; mehrere wichtige Sachen hatte er so oraculös gesagt, daß ich ihm 6mal nach Paris schreiben und ihn beschwören mußte sich für gewöhnliche Sterbliche deutlicher auszudrücken  […].“ (http:// burckhardtsource.org/letter/1440) Dem Austausch mit Bode entsprechend handelt es sich hier um eine wissenschaftliche Korrespondenz, aber im Unterschied zu der vorangehenden ist das Verhältnis zwischen den Akteuren nicht ausgewogen. Aus den Briefen und den zitierten Aussagen gegenüber Dritten lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass Burckhardt in diesem Falle die Stellung eines Mentors einnimmt, der auch für die Unvollkommenheiten des Jüngeren Verständnis aufbringt. Für Geymüller war der Basler Gelehrte stets ein Vorbild, wenngleich sich in seinen Arbeiten keine direkte Abhängigkeit nachweisen lässt. Wie der letzte Brief Burckhardts zeigt, bot eine so geartete Beziehung auch die Voraussetzungen für Gefühlsäußerungen: „Nun leben Sie wohl und bleiben Sie Ihrem alten ‚Ciceroneʻ freundlich gewogen, nachdem unser Leben nun einmal so oft und freundlich zusammen getroffen ist: nehmen Sie mich auch nach meinem Tode ein wenig (nicht zu viel) in Schutz […].“ (Briefe, Bd. 10, 317) Neben seiner Rolle als Briefschreiber ist Geymüller in der Korrespondenz zusätzlich auf einer Meta-Ebene vertreten: als Freund von Max Alioth, einem engen Basler Vertrauten Burckhardts, in dessen Briefen immer wieder die Rede von ihm ist, und als wissenschaftlicher Autor, der von anderen Briefpartnern zitiert und kommentiert wird (vgl. dazu http://burckhardtsource.org/letter/366, -letter/619, -letter/1116, -letter/670). Diese indirekten Konnexe und vermittelten Inhalte bringen zusätzliche Dynamik und Mobilität in die Kommunikation. Als Beispiel eines freundschaftlichen Briefwechsels sei hier derjenige mit Gustav Stehelin zitiert, zu dem Burckhardt ein besonderes Vertrauensverhältnis hatte und dem er lebenslang verbunden blieb. Aus allen Briefen spricht eine große gegenseitige Verbindlichkeit, die auf dem gemeinsamen Interesse für Kunst, Literatur, Musik und der Liebe zu Italien gründete. Aus beruflichen Gründen hielt sich Stehelin jahrelang in Italien auf, von wo er Burckhardt regelmäßig Notizen über das kulturelle und politische Geschehen zukommen ließ: „Ich schicke Ihnen diesen Abend, was ich von Zeitungen werde erwischen können. Wie Sie sehen hat sich der römische Pöbel wieder wie die Saue aufgeführt […]. Dan̄ finden Sie in

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den Blättern, die fast gleichzeitig mit obigen Skandalen stattgehabte Ermordung des Bischoffs von Foligno.“ (http://burckhardtsource.org/letter/1309) Und in den späten Jahren, als die Altersbeschwerden Burckhardt das Reisen verunmöglichten, wurde Stehelin der unentbehrliche Vermittler von Fotografien: „Seit Trapani habe ich nichts mehr von mir hören lassen, aber es machte mich falsch mit leeren Händen kommen zu müssen und doch war in Sizilien nichts zu haben […] denn so zimlich Alles Photographirte habe ich Ihnen bei meinen früheren Reisen geschickt“ (http://burckhardtsource.org/letter/1324). Ein Jahrgang seiner Schreiben (fünfunddreißig Schriftstücke aus den Jahren 1891–1892) ist der Vernichtung entgangen, während von Burckhardt vereinzelte Briefe vor allem von seinen Reisen nach Italien (1883) und Wien (1884) überliefert sind: „Wissen Sie daß hier in der Galerie der Academie (nicht im Belvedere) ein Pendant zu den tre vescovi des Paolo [Veronese] existirt, nämlich i due vescovi! und ist noch mächtiger.“ (Briefe, Bd. 8, 226) Eine zusätzliche Vertiefung und externe Verknüpfung erfährt der Briefwechsel durch die Bezüge auf den gesamten Basler Freundeskreis, dem beide Briefschreiber angehörten (vgl. z.  B. Briefe, Bd. 8, 137–139).

5 Schlussbetrachtung Obwohl der fragmentarische Überlieferungsbefund eine genaue Analyse der Dichte und Häufigkeit der einzelnen Kontakte verunmöglicht, zeigt die Korrespondenz Burckhardts die Rolle des Briefes im Sozialisierungs- und Vergesellschaftungsprozess auf. Der Brief setzt Verfasser und Adressaten in direkte Verbindung, außerdem verknüpft er einzelne Korrespondenzpartner miteinander und zuletzt werden außenstehende Individuen indirekt in das Gespräch und damit in die Gemeinschaft integriert. Aus diesen Bezügen bildet sich ein zum konkreten Austausch paralleles Netz, das die Briefpartner im sozialen Kontext verankert. Burckhardts Kommunikationssystem ist reich an Schreibern, die mit weiteren Personen in Verbindung stehen, oder deren Position es ermöglicht, zu anderen Gesprächsteilnehmern Kontakt aufzunehmen. Neben dem oben zitierten Heinrich von Geymüller kann etwa auf den italienischen Absender Gustavo Frizzoni verwiesen werden, der als Anhänger der vergleichend-empirischen Methode Giovanni Morellis eng mit diesem verbunden war und dessen Ideen vermittelte. Morelli und sein Ansatz bildeten in vielen Briefen von und an Burckhardt den Gegenstand des Gesprächs; Frizzoni wiederum stand in Mailand in direktem Kontakt mit Gustav Stehelin. In dem überlieferten Nachlass sind die Regeln und die Dynamik der schriftlichen Kommunikation augenscheinlich: Im Bereich der wissenschaftlichen Privatkorrespondenz geht die Initiative eines Kontaktes von der Gegenseite aus. Burckhardt ist

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der Adressat, das Verhältnis zwischen ihm und dem Absender ist in den meisten Fällen durch eine Asymmetrie charakterisiert. Diese Beziehungsstruktur drückt sich sowohl semantisch auf der Textebene als auch in den materiellen Gegebenheiten des Textträgers aus. Aus den Erwiderungen Burckhardts ist zudem erkennbar, in welchen Fällen die Antwort aus Interesse oder aus reiner Pflichterfüllung erfolgte. Wie er einmal seinem Freund Friedrich Preen gestand, hatte er nachgerade „ein stehendes Formular ersonnen“, mit dem er unerwünschte Zusendungen von „Autorensendungen, Kunstgeschichte, Geschichte und namentlich auch Poesien“ (Briefe, Bd. 9, 199) zurückschickte. Im Gegensatz zum wissenschaftlichen Schriftverkehr ergreift Burckhardt im Austausch mit dem Basler Freundeskreis auch die Initiative, denn die persönliche Verbundenheit beruht auf einer Gleichwertigkeit, die sich in einem symmetrischen Gedankenaustausch niederschlägt. Dies bedeutet aber nicht, dass Burckhardt nicht auch in diesen Briefschaften die Behandlung der Themen und das sprachliche Register dem einzelnen Adressaten angleicht (vgl. z.  B. die Briefe an Robert Grüninger und an Friedrich von Preen). Wie die freundschaftlichen Briefwechsel zudem zeigen, stellt die Intensität eines Kontaktes ein wichtiges Maß dar, um eine Verbindung zu beurteilen. Ist für die Analyse der Gesprächsdynamik der gesamte Briefwechsel, d.  h. Brief und Gegenbrief, unerlässlich, gilt dies auch für die Korrespondenz als Zeugnis der politischen, ökonomischen und sozialen Umstände ihrer Zeit. Wie die wenigen Beispiele erkennen lassen, stehen die Gesprächsthemen in enger Relation zum Brieftypus: Briefe von und an Freunde halten aus subjektiver Sicht historische Tatsachen wie beispielsweise die Einigungskriege in Italien oder die deutsch-französischen Auseinandersetzungen von 1870/71 fest und kommentieren kulturelle Ereignisse wie Konzerte oder Opernaufführungen, während der Schriftverkehr zwischen Forschern Aufschlüsse über die Erörterungen fachlicher Probleme sowie Hinweise zu wissenschaftspolitischen Vorgängen der Zeit gibt. Im Besonderen gewährt er Einblick in die Theoriebildung und Entstehung der neuen Wissenschaftsdisziplin Kunstgeschichte. Nur das gesamte Korpus des Schriftverkehrs Burckhardts, d.  h. die Freundschafts- und Familienbriefe zusammen mit der wissenschaftlichen Korrespondenz, dokumentiert also einen Abschnitt der europäischen Zeit- und Kulturgeschichte. Daher muss die Entscheidung eines Editors, nur eine Auswahl der Briefe zu veröffentlichen, zwangsläufig auf die Rezeption einwirken und die Auslegung der Geschichte im weitesten Sinne beeinflussen. Im Falle von Burckhardt, in dem bis zum Erscheinen der digitalen Edition nur seine Briefe zur allgemeinen Verfügung standen, bestätigt sich dies ausdrücklich: Es sind in erster Linie die Zuschriften an Burckhardt, aus denen hervorgeht, dass der Basler Gelehrte von seinen Zeitgenossen als Kunsthistoriker und nicht als Historiker wahrgenommen wurde.

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Zitierte Literatur Benne, Christian (2015). Die Erfindung des Manuskripts. Zu Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit. Berlin. Blühdorn, Hardarik, Eva Breindl u. Ulrich Hermann Waßner (Hg.) (2006). Text – Verstehen. Grammatik und darüber hinaus. Berlin u. New York. Burckhardt, Jacob (1949–1994) [Briefe]. Briefe. Vollständig und kritisch bearbeitete Ausgabe mit Benützung des handschriftlichen Nachlasses hergestellt von Max Burckhardt. 11 Bde. Basel. Burckhardt, Jacob (1855). Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel. Burckhardt, Jacob (1860). Die Cultur der Renaissance. Ein Versuch. Basel. Burckhardt, Jacob (1876). La civiltà del secolo del Rinascimento in Italia. Saggio di Jacopo Burckhardt tradotto sulla seconda edizione tedesca dal prof. Valbusa; con aggiunte e correzioni fornite dellʼautore. Florenz. Burckhardt, Jacob (2000). Die Baukunst der Renaissance in Italien, in: Ders. Werke. Bd. 5. Hg. v. Maurizio Ghelardi. München u. Basel. Burckhardt, Jacob (2000). Das Altarbild. Das Portrait in der Malerei. Die Sammler, in: Ders. Werke. Bd. 6. Hg. v. Stella von Boch, Johannes Hartau, Kerstin Hengevoss-Dürkop u. Martin Warnke. München u. Basel. Burckhardt, Jacob (2001). Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens, in: Ders. Werke. Bd. 2 u. 3. Hg. v. Bernd Roeck, Christine Tauber u. Martin Warnke. München u. Basel. Burckhardt, Jacob (2006a). Erinnerungen aus Rubens, in: Ders. Werke. Bd. 11. Hg. v. Edith Struchholz u. Martin Warnke. München u. Basel. Burckhardt, Jacob (2006b). Geschichte der Renaissance in Italien, in: Ders. Werke. Bd. 16. Die Kunst der Renaissance 1. Hg. v. Maurizio Ghelardi, Susanne Müller u. Max Seidel. München u. Basel: 3–257. Burckhardt, Jacob u. Wilhelm Lübke (1867). Geschichte der neueren Baukunst, 1. Buch: Die Renaissance in Italien, Stuttgart. Ghelardi, Maurizio (2016). Jacob Burckhardt. Le Stanchezze della Modernità. Rom. Jünger, Ernst (1951). Das Haus der Briefe. Olten. Kugler, Franz (1856–1873). Geschichte der Baukunst. 5 Bde. Stuttgart. Pasolini, Pier Desiderio (1893). Caterina Sforza. Rom.

Online- und Archiv-Quellen Staatsarchiv Basel, Abt. Privatarchive: StABS PA 207, 49. Digitale Brief-Edition Jacob Burckhardts: http://burckhardtsource.org (28.11.2019).

Weiterführende Literatur Bohnenkamp, Anne u. Elke Richter (Hg.) (2013). Brief-Edition im digitalen Zeitalter. Berlin. Fangerau, Heiner (Hg.) (2009). Netzwerke. Bielefeld.

Thorsten Gabler

6.18 Theodor Fontanes Briefe 1 Briefliterat Es gehört zu den Topoi der Forschung, dass Theodor Fontane (1819‒1898) nicht bloß die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts geprägt hat, sondern auch als Briefschreiber ins kulturelle Gedächtnis eingegangen ist (vgl. Reuter 1970, 8). Dieses Urteil basiert zum einen auf der Menge der Schreiben. Eigenen Bekundungen zufolge will Fontane allein an seine Ehefrau Emilie „an die 10000 Briefe“ (an Martha Fontane, 25.2.1890, Fontane 2001 et al., 401) geschrieben haben ‒ eine Zahl, die aufgrund des archivierten Bestandes und entsprechender Hochrechnungen keineswegs übertrieben zu sein scheint (vgl. Erler 1968, 314). Dass der von Gotthard Erler erstmals 1998 herausgegebene Ehebriefwechsel statt der avisierten 10.000 lediglich 750 Schreiben umfasst (570 Briefe von Fontane, 180 von Emilie), ist dem Umstand geschuldet, dass Emilie zahlreiche Briefe der ehelichen Korrespondenz sowie den Briefwechsel der Verlobungszeit nach Fontanes Tod vollständig vernichtet hat (Erler 2000a, 210). Zudem ‒ und dieses Schicksal teilt das Konvolut der Ehebriefe mit vielen anderen Schriftwechseln Fontanes – sind zahlreiche Schriftstücke während des Zweiten Weltkrieges verloren gegangen (Jolles und Müller-Seidel 1988, 15). Zum anderen ist es die Literarizität der Briefe, die „saloppe[] und gleichwohl makellose[] Eleganz“ (Reich-Ranicki 41990 [1972], 12) der Schriftstücke, die bis heute beeindruckt. Fontanes Briefe, vor allem diejenigen an Familienangehörige und Freunde, seien „Romane en miniature“ (Dieterle 2002, 3), weshalb man Fontane ‒ da sind sich Literaturhistoriker einig ‒ auch unter der Bedingung, dass nichts überliefert wäre außer den Briefen, zu den Koryphäen der deutschen Literatur rechnen müsste (vgl. Reuter 1970; Nürnberger 1977; Drude 1981). Obwohl systematische Studien zur spezifischen Rhetorik von Fontanes Schreiben bislang nicht vorliegen ‒ Poser (1958) arbeitet die Gesellschaftskritik, Förster-Habrich (1991) die Poetologie des Romanciers aus dessen Briefwerk heraus, Schmidt-Supprian (1993) untersucht die dramaturgische Funktion der Briefe in den erzählenden Texten, nicht aber die Briefe ‒, lässt sich doch festhalten, dass Fontanes Briefe ein subtiler, zuweilen ironisch-gebrochener Stil auszeichnet (vgl. Jurgensen 2000, 774), in dem Mitteilungen, Beobachtungen und Bekenntnisse, Reflexionen, Aperçus und Kalauer derart leichthändig aneinander­ gereiht präsentiert werden, dass der Eindruck entsteht, Fontane plaudere schreibend geradewegs drauflos. https://doi.org/10.1515/9783110376531-101

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Wie eine Anzahl mehrfach überarbeiteter Entwürfe dokumentiert (vgl. Rosenfeld 1992), ist dies jedoch nicht der Fall. Tatsächlich erweist sich Fontanes „schriftliche[s] Geplauder“ (an Mathilde von Rohr, 15.4.1870, Fontane 2000, 139) als Resultat einer intensiven schriftstellerischen Arbeit ‒ „das Ergebnis eines ebenso feinfühligen wie hingebungsvollen Ringens um jedes ‚und‘“ (Reuter 1970, 10) ‒, zu der sich eine Passion des präzisen Beobachtens gesellt, die den „Ausund Abdruck einer Stimmung“ (an Theodor Storm, 6.10.1853, Fontane 2011, 38), tiefenscharf erfasst: „Die im scheinbar unbeschwerten ‚Bummelton‘ gehaltenen Briefe werden so zu künstlerisch geformten und von Lebenserfahrung gespeisten literarischen Miniaturen“, in denen Fontane beispielsweise „eine bissige Typologie des Bourgeois skizziert, illusionsreich ein Programm für die ‚Luftmedizin‘ der Zukunft entwirft oder die nächtliche Rückkehr in die Wohnung bei vergessenem Schlüssel oder den Besuch eines ‚Reklame-Novellisten‘ schildert“ (Fontane et al. 2001, 549‒550).

2 Briefthemen Dass Fontanes Briefe als wesentlicher Bestandteil seines Gesamtwerks betrachtet werden (vgl. Jurgensen 2000, 772), hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Fontane keine strikte Trennung zwischen Briefe(schreibe)n und Literatur(produktion) vornimmt: „[J]eder Brief“, bekennt der junge Fontane, sei „ja immer eine Stylübung und somit ein Schritt auf dem Wege zur ‒ Vollendung“ (an Bernhard von Lepel, 8.9.1851, Fontane 1976, 191), und der alte ergänzt in diesem Sinne: „Ohne applaudierendes Publikum schläft jede Produktion ein, auch die kleine des Briefschreibens.“ (an Martha Fontane, 4.8.1885, Fontane et al. 2001, 310) Für Fontane sind Briefe folglich literarische Experimentierfelder: Themen, die er in seinen Kriegsbüchern, Reisebeschreibungen, Novellen und Romanen verarbeitet, verhandelt Fontane (auch) in seinen Briefen. Aus diesem Grund ‒ und das macht die Briefe für die Fontane-Philologie so interessant ‒ lesen sich zahlreiche Briefe, vor allem diejenigen an Autoren und Verleger, wie Werkstattgespräche, in denen Fontane seine literarischen Einfälle und Absichten erläutert, die Entstehungsbedingungen seiner Werke darlegt und deren Aufnahme durch das Publikum kommentiert (vgl. hierzu die von Richard Brinkmann und Waltraud Wiethölter herausgegebenen zwei Bände Dichter über ihre Dichtungen: Fontane aus dem Jahre 1973, die Fontanes briefliche Äußerungen zu einzelnen Texten unter dem jeweiligen Werktitel chronologisch versammeln). Darüber hinaus stellen Briefe, insbesondere solche, die Fontane erhält, dem Romancier ein Ideenmagazin zur Verfügung: Vor allem Mathilde von Rohr, mit der Fontane einen ver-

6.18 Theodor Fontanes Briefe 

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trauensvollen, mehr als zwanzig Jahre währenden Briefwechsel unterhält, dient dem Schriftsteller als Lieferantin: „Ich hoffe“, lauten die häufig gestellten Anfragen, „durch Ihre Güte Rohrstoff [!] genug zu erhalten, um ein Kapitel arrangieren zu können“ (an Mathilde von Rohr, 28.6.1864, Fontane 2000, 79). Als „Stoffundgrube“ (an Georg Friedlaender, 14.12.1891, Fontane 1994, 224) dienen Fontane seit den 1880er Jahren auch die Briefe des Schmiedeberger Amtsgerichtsrats Georg Friedlaender: „Ihre Briefe“, schwärmt Fontane, „haben nicht bloß die Tugend interessant zu sein, sondern auch stofflich inhaltvoll“ (an Georg Friedlaender, 27.6.1890, Fontane 1994, 177). Neben der verwertbaren Fülle an Stoffen und Themen zeichnet den Briefwechsel mit Friedlaender ein Kriterium aus, das für Fontanes Familien- und Freundschaftskorrespondenzen insgesamt gilt: „Ihrem Inhalt und Gehalt nach sind sie ein scharf-kritischer Spiegel der kleinen wie der großen Welt, in der Fontane lebte“ (Reuter 1970, 10). Die ‚große Welt‘, das sind die welt- und landespolitischen Ereignisse und Entwicklungen, auf die Fontane ‒ je nach Aktualität ‒ in seinen Briefen zu sprechen kommt (vgl. Reuter 1970, 9: „Das Leben der Gegenwart pulsiert in Fontanes Briefen“); das sind aber auch Beobachtungen und Erörterungen zur Situation der Gesellschaft, die Fontane festhält. Adressaten dieser Mitteilungen sind neben der Ehefrau und den Kindern die engeren Freunde Bernhard von Lepel (vgl. Fontane und Lepel 2006a), Friedrich Eggers (vgl. Fontane und Eggers 1997), Mathilde von Rohr (vgl. Fontane 2000), die Eheleute Merckel (vgl. Fontane 1987), Wilhelm Wolfsohn (vgl. Fontane und Wolfsohn 2006b) und Georg Friedlaender (vgl. Fontane 1994), aber auch zeitgenössische Autoren wie etwa Theodor Storm (vgl. Fontane und Storm 2011) und Paul Heyse (vgl. Fontane und Heyse 1972b) oder Herausgeber, Verleger, Redakteure und Rezensenten wie Julius Rodenberg (vgl. Fontane 1969) oder Wilhelm und Hans Hertz (vgl. Fontane 1972a). Und obwohl Fontane seine Themen mit Blick auf den jeweiligen Empfänger auswählt und die entstehungsgeschichtlichen Umstände der 66 Jahre währenden Korrespondenzen die Inhalte der Nachrichten mitbeeinflussen, lassen sich vier Schwerpunkte identifizieren (vgl. Jurgensen 2000, 776‒785): Erstens durchzieht den Schriftverkehr eine vielschichtige kritische Auseinandersetzung Fontanes mit dem eigenen Verhältnis zu Preußen, insbesondere zum Adel sowie zu Otto von Bismarck, den Fontane verehrt, sich dann aber von ihm abwendet. Gleiches lässt sich für den preußischen Adel festhalten: Fontanes „zunächst positive Haltung dem Junkertum gegenüber wandelt sich bald in eine zunehmend scharfe Ablehnung“ (Jurgensen 2000, 779). Gleichwohl bleiben Preußen- und Kaisertum bis zu Fontanes Tod im Jahr 1898 die „kulturhistorische[n] und soziopolitische[n] Koordinaten“ (Jurgensen 2000, 779) seines literarischen Schaffens (vgl. Jolles 41993, 116‒124, dort auch weiterführende Literatur). Zweitens durchleuchtet Fontane die kulturpolitischen Beziehungen von Kunst, Adel und Bürgertum und bringt die finanziell

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prekären Lebensumstände des (Berufs-)Schriftstellers in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Sprache. In diesem Kontext spricht sich Fontane früh dafür aus, dass die Kunst imstande sei, politische Differenzen zu überwinden (vgl. an Bernhard von Lepel, 24.9.1848; Fontane 1976, 43‒44). Drittens enthalten Fontanes Briefe zahlreiche Äußerungen zu seinen Arbeiten als Journalist, Theater- und Literaturkritiker. In diesen wird deutlich, dass der „Rezensent Fontane […] allen künstlerischen und gesellschaftlichen Entwicklungen mit programmatischer Offenheit“ begegnet: „Feinsinnig erspürt seine historische Sensibilität Anzeichen geschichtlichen Wandels“ (Jurgensen 2000, 777). Viertens thematisieren Fontanes Briefe dessen ambivalentes Verhältnis zum Judentum (vgl. exemplarisch an Martha Fontane, 20.3.1898, Fontane et al. 2001, 539‒540) und dokumentieren damit in mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht den Antisemitismus des Bürgertums im Industriezeitalter (vgl. Horch 2000). Die ‚kleine Welt‘, das sind die diversen Geschehnisse des Alltags, über die Fontanes Briefe detailliert Auskunft geben: über Freud und Leid im Familienund Freundeskreis, über Krankheits- oder Todesfälle, Hochzeiten und Geburten, aber auch über geschäftliche Vereinbarungen, Arbeitsbedingungen und Freizeitbeschäftigungen, über das gesellschaftlich-kulturelle Leben im Berlin der Kaiserzeit und vieles andere mehr. Diese Informationen entwerfen in summa ein „von Lebenserfahrung gespeiste[s]“ (Fontane et al. 2001, 549) Kaleidoskop deutscher Alltagsgeschichte in der Wilhelminischen Epoche. Darüber hinaus enthalten Fontanes Briefwechsel zahlreiche moralische Maximen und Reflexionen, die eine „Kunst der Lebensführung“ (an Karl Zöllner, 12.12.1891, Fontane 1982, 168) verhandeln, in der vor allem ethische Fragen nach der „Grenzlinie zwischen einem (menschlich gesprochen) tolerablen und intolerablen Sündenmaß“ (an August von Meding, 19.1.1870, Fontane 1979, 289) eine Rolle spielen: „Fontanes Ästhetik“, so fasst es Jurgensen (2000, 784) zusammen, „impliziert ihre eigene Ethik“.

3 Briefpassion Fontanes umfangreiches Briefkorpus verdankt sich weniger dem Umstand, dass Fontane während längerer Zeiten im Ausland oder auf Reisen schreibend Kontakt zur Heimat suchte; der wahre Grund liegt darin, dass für Fontane das Briefeschreiben und -lesen keine aufreibende Arbeit oder lästige Pflicht darstellt, sondern der Erholung dient. Um nach einem langen Werktag sein „Pause-Bedürfniß“ (an Georg Friedlaender, 20.11.1892, Fontane 1994, 273) zu befriedigen und Stoff für die literarische und journalistische Produktion zu finden, legt Fontane die Feder nicht aus der Hand, sondern verfasst Briefe: „Nun endlich!“, atmet

6.18 Theodor Fontanes Briefe 

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Fontane beispielsweise in den Schreiben an Georg Friedlaender auf, habe er „die großen Conceptpapierbogen zurückgeschoben“ und „die kleinen Briefbogen zur Hand“ (an Georg Friedlaender, 7.11.1892, Fontane 1994, 266) genommen, um sich mittels „weitre[r] Plaudereien“ (an Georg Friedlaender, 12.1.1887, Fontane 1994, 93) die Arbeitsmuße für die folgenden Tage zurückzuerobern. Um sicherzustellen, dass sich Fontane von den Mühen des Schriftstellerdaseins zum gewünschten Zeitpunkt briefschreibend erholen kann, hat er „ein präzis terminiertes Korrespondenzprogramm“ entwickelt, „dessen Einhaltung er mit fast pedantischer Sorgfalt überwacht[]“ (Erler 1968, 315): Den Briefwechsel mit seiner Frau etwa „führte Fontane in gewissem Sinne geplant und organisiert, es gab Briefschreibetage, so daß beide Partner bei normalen Postbedingungen an bestimmten Tagen mit einem Brief rechnen konnten“ (Drude 1981, 502‒503): „Du mußt diesen Brief am Sonnabend früh erhalten“, lauten in der Regel die erklärten Planungen gegenüber Emilie, „und wenn Du gleich schreibst und  […] den Brief schnell spedirst, muß ich ihn am Montag früh haben. Ueberhaupt wenn Du es so einrichtest, daß ein nach Berlin gehender Mittagszug Deine Briefe mitnimmt, müssen sie noch am selben Abend weiter gehen.“ (an Emilie Fontane, 11.6.1856, Fontane 1998, I, 307)

Fontanes Vorliebe für das Schreiben und Lesen von Briefen ist in einer regelrechten „Familienkultur“ (Dieterle 2002, 1) aufgegangen. Sobald die Kinder des Paares nämlich erste Schreibfertigkeiten erworben hatten, wurden sie von den Eltern ermutigt, sich an der Korrespondenz zwischen Vater und Mutter zu beteiligen ‒ was zur Folge hat, dass die Briefe der Familienmitglieder „nicht nur an den expliziten Adressaten“ gerichtet sind, sondern andere Familienmitglieder mit ansprechen: „So wendet sich Martha Fontane in der Anrede meistens an die Mutter, spricht innerhalb des Briefes aber beide Eltern an und wechselt gelegentlich sukzessive über zum Vater“ (Dieterle 2002, 2), während Fontane bei zahlreichen Briefen, die er an die Ehefrau adressiert, zugleich die Tochter, aber auch die Söhne als Leser*innen im Sinn hat (vgl. Dieterle 2002, 2). Wie ‒ im besten Sinne des Wortes ‒ ‚lebensnotwendig‘ das Schreiben und Lesen von Briefen für Fontane ist, zeigt sich während Fontanes depressiver Erkrankung im Jahre 1892 (vgl. Nürnberger 2007, 690–694). In dieser Phase, in der „der Trübsinn […] die Oberhand“ (an Karl Zöllner, 13.8.1892, Fontane 1982, 205) hat, schreibt sich Fontane mit Briefen buchstäblich gesund, vor allem mit denen an Friedlaender, „die zu den umfangreichsten gehören, die er je zu Papier gebracht hat, und die dem Aufbau nach ‚beinah tagebuchartig‘, nämlich ‚in Etappen‘ vorgehen, sich jeweils über mehrere Tage hin erstrecken und dem Partner minutiös den Ablauf dieser Tage und die damit verbundenen Empfindungen schildern“ (Mittenzwei 1993, 323‒324).

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4 Briefmaterial Fontane bringt den materialen Aspekten seiner brieflichen Plaudereien ein ebenso sorgfältiges Interesse entgegen wie der Suche nach dem richtigen Ton. Regelmäßig kommt er auf die Herkunft beziehungsweise Qualität des Papiers, die Prozeduren des Faltens und Verschließens, die Beschaffenheit der Schreibwerkzeuge und -flüssigkeiten ‒ Fontane schreibt für gewöhnlich mit einer selbstzugeschnittenen, vom Geheimen Expeditionssekretär des Königlichen Hofjagdamtes August Peege bezogenen Schwanenfeder (Erler 1968, 319) ‒ sowie auf die gestalterischen Vorlieben seiner Briefpartner*innen zu sprechen. Als erfahrener Briefschreiber weiß Fontane, dass „die ganze Schreibelust“ von der Beschaffenheit der Schreibmaterialien „abhängig“ (an Emilie Fontane, 12. oder 13.5.1884, Fontane 1998, III, 379) ist, und als versierter Briefleser ist er sich darüber im Klaren, dass die sinnlichen Dimensionen der Briefgestalt(ung) die Kommunikations- und Transferleistungen der Schriftstücke maßgeblich mitbeeinflussen – mit der Folge, dass sich daraus für die Ästhetik von Fontanes Briefen zwei fundamentale Rückschlüsse ziehen lassen (vgl. Gabler 2014). Erstens: Der Verlauf der Buchstaben, der Tintenfluss, der Schwung der Abstriche und viele weitere Phänomene sind für Fontane und dessen Briefpartner*innen bedeutsame (An-)Zeichen: „Ihrem Briefe“, freut sich Fontane in einem Schreiben an Friedrich Stephany, könne er „nach Inhalt und Handschrift“ entnehmen, dass Stephany „dem Leben wieder angehöre[], und trotz allem Schweren […] wieder der Alte“ (an Friedrich Stephany, 14.9.1892, Fontane 1982, 213‒214) sei. Oder: Während der Niederschrift des Briefes an Lepel vom 21. August 1851 ergreift Fontane „eine andre Feder“, um dem besten Freund „mit dickeren Buchstaben wichtigere Mit­ theilungen zu machen“ ‒ nämlich die, dass Fontane am „14ten (Donnerstag) 11½ Uhr Abends“ (an Bernhard von Lepel, 21.8.1851, Fontane 1976, 181) Vater geworden ist. Zweitens machen solche und vergleichbare Äußerungen deutlich, dass es für Fontane keinen Inhalt jenseits der Form gibt: Die Zeilen, die er im Herbst des Jahres 1896 von Maximilian Harden erhält, empfindet Fontane als „liebenswürdig[]“, weil sie „zierlich[]“ (an Maximilian Harden, 21.9.1896, Fontane 1982, 595) sind, und als eine Zierde, weil sie Liebenswürdigkeiten enthalten.

5 Briefschreibszene Das Zusammenspiel von ‚Was‘ und ‚Wie‘ gestaltet Fontane in seinen Briefen entsprechend augenfällig: Die „Seitenbild[er]“, schwärmt Hanns Fechner, ein Portraitzeichner und Briefpartner Fontanes, seien mit ihrem „Linien- und Schnör-

6.18 Theodor Fontanes Briefe 

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kelwerk […] ein künstlerischer Genuß fürs Auge“ (Fechner 1927, 63‒64), weshalb Andersen (1987) bereits Ende der 1980er Jahre dafür plädierte, Fontanes Handschriften faksimiliert zu edieren, damit sich deren Sinn- und Bedeutungsgehalt angemessen einschätzen ließe. Denn Fontanes „Sinn fürs Formale schafft nicht nur ungemein reizvolle Bilder“, sondern „regt […] zum Sichvertiefen in den Inhalt an“ (Fechner 1927, 64). Das besondere Erscheinungsbild von Fontanes Briefen (vgl. die Beispiele in Fontane und Fontane 1998, I‒III) ist folgendermaßen zustande gekommen: „Die Seiten werden zunächst normal beschrieben“, das heißt der Briefetikette gemäß die Vorder- und Rückseite des Bogens der Reihe nach von links oben nach rechts unten; danach beginnt Fontane „bei der jeweils letzten Seite die linken Ränder quer zu benutzen, bis er wieder auf der ersten Seite ankommt“; da „dieser Querrand nur selten ausreicht, wird der Brief noch um 180 Grad gedreht und der freie Raum am Briefkopf mit zwei Schriftblöcken gefüllt, in deren Trichter Anrede und Datum hoffnungslos verschwinden“; wenn „dies noch nicht ausreicht, kommen die oberen Ränder der Innenseiten an die Reihe“ (Erler 1968, 319). Ziel dieses von Fontane in den Korrespondenzen der 1850er Jahre entwickelten und zeitlebens aufrechterhaltenen Prozederes ist es weniger, die anfallenden Portokosten niedrig zu halten, als vielmehr „besonders breite Ränder zu erzielen“: Fontane scheint „seine Zeilen absichtlich schmal gehalten zu haben“, um den „Text auf dem Rande genauso umfangreich […] wie de[n] auf der Mitte des Bogens“ (Erler 1968, 319) anlegen zu können. Mit Blick auf diese Art der Beschriftung hat Erler (1968, 319) von einer „Architektur der Randbeschriftung“ gesprochen und damit einen Begriff eingeführt, der die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenkt, dass Fontanes randbeschriebene Briefe sowohl bestimmten ‚architektonischen‘ Gesetzmäßigkeiten gehorchen als auch Schrift-‚Räume‘ entwerfen, die eigene Valenzen entfalten. Die Art und Weise der Schriftanordnung hängt aufs Engste mit Fontanes Vorstellungen vom Zweck eines Briefes zusammen: Für Fontane ist der Brief ein dialogisch strukturiertes, auf den Partner bezogenes Medium (Reuter 1970, 13), das im literalen Sinn des Wortes der ‚Mit-Menschlichkeit‘ dient („nur durch Briefe hängen wir mit der Welt zusammen“; an Martha Fontane, 23.7.1875, Fontane 2011, 11) und das aus diesem Grund den Gütekriterien eines kultivierten Gesprächs entsprechen muss: „[E]in richtiges Gespräch will geführt sein, es bedarf einer Einleitung, muß sich erstrecken, darf und soll abschweifen, um ein besonderes Thema mehrfach aufnehmen zu können und darf auch nicht abrupt abbrechen.“ (Drude 1981, 501; vgl. Ester 1989; Naumann 2015) Aus diesem Grund pflegt Fontane in den Zentren der Briefseiten ein ‚abschweifendes‘ Schreiben ‒ ein ‚Verplaudern‘ ‒, das jedoch insofern nicht planlos verläuft, als sich Fontane der Mitteilungs- und Darstellungsfreude seiner Feder nur so lange überlässt, bis die Zentren der Briefseiten beschrieben sind. Dann notiert

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er in den Randzonen seiner Schreiben die Informationen, auf die es ihm eigentlich ankommt und die der Grund des Briefes sind: die „Hauptsache“ (an Eduard Engel, 2.11.1882, Fontane 1980, 215), wie Fontane sagt (vgl. Förster-Habrich 1991, 75; Erler 1968, 315; Drude 1981, 500‒501). Die Verteilung der bedeutsamen Mitteilungen in die Ränder des Briefbogens stellt nicht bloß gängige Briefkonventionen auf den Kopf. Sie führt dazu, dass sich die Empfänger der Schreiben bei der Lektüre der teilweise mikrographischen Schriftzüge in den Rändern stärker auf deren Inhalte konzentrieren müssen als in den Zentren der Briefseiten und damit Fontanes ‚Hauptsachen‘ ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit entgegenbringen (vgl. Förster-Habrich 1991, 75). Zudem ist das in den Rändern Notierte besser vor den Blicken Dritter geschützt. Denn in den Rändern kommt Fontane auf Privates zu sprechen: Im Ehebriefwechsel teilt er in den Rändern seine Sorgen und Nöte, Gedanken und Gefühle mit und trägt mit Emilie die Konflikte des Ehelebens aus; in Briefwechseln mit Freunden, insbesondere Mitgliedern der literarischen Vereinigungen Der Tunnel über der Spree und Ellora, denen Fontane mehrere Jahrzehnte angehörte, sind die Ränder die Bereiche, in denen Fontane die Beziehungen der Vereinsmitglieder untereinander thematisiert (vgl. Gabler 2014).

6 Briefausgaben, Briefforschung Die Ausgaben von Fontanes Briefen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen sind (vgl. z.  B. Fritsch 1905; Pniower und Schlenther 1910; Petersen 1940), genügen heutigen editionsphilologischen Standards zwar nicht mehr, gleichwohl „wird man weiter auf sie zurückgreifen müssen, soweit die darin enthaltenen Briefe nicht neu ediert oder sogar etwa verloren oder verschollen sind“ (Jolles 41993, 139; vgl. hierzu das mittlerweile in die Jahre gekommene, aber noch immer brauchbare Verzeichnis und Register der Briefe Theodor Fontanes von Jolles und Müller-Seidel aus dem Jahr 1988). Wort- und buchstabengetreu nach den Originalen gedruckt und mit Kommentaren versehen sind die vierbändige Ausgabe der Briefe des Propyläen Verlags (vgl. Fontane 1968‒1971) sowie die fünfbändige, mit 2.478 Briefen bislang umfangreichste Ausgabe des Hanser Verlags (vgl. Fontane 1976‒1982). Daneben sind in den letzten Jahren Publikationen zu einzelnen Korrespondenzen erschienen (vgl. die in Abschnitt „2. Briefthemen“ aufgelisteten Ausgaben), die sich um philologische Genauigkeit bei der Edition bemühen. Neu aufgefundene und erworbene Briefe werden in den aktuellen Ausgaben der seit 1965 vom Fontane-Archiv Potsdam herausgegebenen FontaneBlättern ediert.

6.18 Theodor Fontanes Briefe 

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Trotz der Vielzahl der Publikationen ist die Editionslage nach wie vor unbefriedigend, da bislang keine historisch-kritische Gesamtausgabe der Briefe vorliegt. Das Theodor-Fontane-Archiv Potsdam plant eine solche als Hybrid-Edition. Diese virtuell unterstützte Form der Publikation hätte den Vorteil, dass sich der Kommentarapparat fortlaufend erweitern (oder korrigieren) ließe und Digitalisate eine Vorstellung von der schriftbildlichen Zurichtung der jeweiligen Schriftstücke vermitteln könnten. Überblicksdarstellungen zur Editionsgeschichte des Briefkorpus bietet Jolles 1989; exemplarisch zeichnet Nürnberger (2015) die Schwierigkeiten nach, mit denen die Herausgeber der Hanser-Ausgabe zu kämpfen hatten, und Beyer (2014) arbeitet am Beispiel der ersten Briefausgabe von 1905 heraus, unter welchen familien- und editionspolitischen Erwägungen die Briefe für eine Veröffentlichung bearbeitet worden sind. Die meisten Forschungsbeiträge nutzen Fontanes Briefe als Quelle für Fragestellungen zu Leben und Werk; die wenigsten setzen sich mit den Briefen als eigenständigem Forschungsobjekt auseinander ‒ was nicht zuletzt auf den Mangel adäquater Editionen zurückzuführen ist (vgl. Fontane 1980, 71, 74). Da die Forschungsliteratur zur ersten Gruppe, zu Leben und Werk, immens ist, sei lediglich auf Titel hingewiesen, die für bestimmte Forschungsansätze exemplarisch sind: Unter sozial-, kultur- oder mentalitätsgeschichtlichen Erkenntnisinteressen werden Fontanes Briefe als Dokumente eines gesellschaftskritischen Realisten gelesen und auf ihre historische Aussagekraft hin ausgewertet (Poser 1958; Höfele 1963; Betz und Thunecke 1984/1985) oder als Zeugnisse für die „geistige[] Persönlichkeit Fontanes und das Wesen seines Weltbildes“ (Jolles 41993, 119) analysiert (so etwa bei Stockum 1961). Der Frage, welche narrativen Funktion(en) Briefe in Fontanes Erzähltexten erfüllen, gehen insbesondere Honnefelder (1973) und Schmidt-Supprian (1993) nach; während Mittenzwei (1993) und Naumann (2015) versuchen, den Besonderheiten der Fontane’schen Gesprächskunst auf die Spur zu kommen. Die Arbeiten von Aust (1998) und Berner (2003) sind den ehelichen respektive innerfamiliären psychostrukturellen Beziehungsdynamiken gewidmet, die sich innerhalb der Briefwechsel Fontanes mit der Ehefrau und der Tochter abzeichnen. In der Gruppe der Arbeiten, die sich mit Fontanes Briefen beschäftigen, sind zum einen die Arbeiten zu erwähnen, die sich mit der Stilistik von Fontanes Briefen beschäftigen und die rhetorische Faktur der Schreiben – respektive des Schreibens – herausarbeiten (vgl. Reuter 1970; Fontane 1980; Mittenzwei 1993; Förster-Habrich 1991); zum anderen diejenigen Beiträge, die der Materialität und Ästhetik von Fontanes brieflichen Schriftstücken gewidmet sind und sich mit der Wechselwirkung von Sinn und Sinnlichem in Fontanes Briefschreibeszenen auseinandersetzen (vgl. Erler 1968; Andersen 1987; Gabler 2014).

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Zitierte Literatur Andersen, Paul Irving (1987). „Psychographie und Correktur. Plädoyer für die FaksimileHerausgabe der Handschriften Fontanes“, in: Fontane-Blätter, 43: 516‒526. Aust, Hugo (1998). „Künstlerisch betreute Privatheit. Theodor Fontanes und Thomas Manns Briefe an Frau, Tochter und Freundin“, in: Theodor Fontane und Thomas Mann. Hg. v. Eckhard Heftrich. Frankfurt a. M.: 187‒215. Berner, Elisabeth (2003). „Der Ehebriefwechsel zwischen Emilie und Theodor Fontane. Eine diskursanalytische Annäherung“, in: Berührungsbeziehungen zwischen Literatur­wissen­ schaft und Linguistik. Hg. v. Michael Hoffmann u. Christine Keßler. Frankfurt a. M.: 263–286. Betz, Frederick u. Jörg Thunecke (1984/1985). „Die Briefe Theodor Fontanes an Fritz Mauthner. Ein Beitrag zum literarischen Leben Berlins in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts“, in: Fontane-Blätter, 38: 507‒559; 39: 7‒53. Beyer, Uta (2014). „Bemerkungen zur palimpsestischen Editorik der frühen Familienbriefausgaben Fontanes am Beispiel der ‚Briefe an seine Familie‘ (1905)“, in: Fontanes Briefe ediert. Hg. v. Hanna Delf von Wolzogen u. Rainer Falk. Würzburg: 131‒155. Dieterle, Regina (2002). „Einführung“, in: Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Familienbriefnetz. Hg. v. ders. Berlin u. New York: 1‒34. Drude, Otto (1981). „Fontane und seine Briefe“, in: Theodor Fontane: Ein Leben in Briefen. Hg. v. dems. Frankfurt a. M.: 493–510. Erler, Gotthard (1968). „‚Ich bin der Mann der langen Briefe‘. Bekanntes und Unbekanntes über Fontanes Briefe“, in: Fontane-Blätter, 7: 314–330. Erler, Gotthard (2000a). „‚Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles‘ ‒ Der Fontanesche Ehebriefwechsel“, in: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Hg. v. Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger. Würzburg: 209‒215. Erler, Gotthard (2000b). „Der Briefwechsel zwischen Theodor und Emilie Fontane“, in: Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Hg. v. Jürgen Barkhoff. Tübingen: 267–274. Ester, Hans (1989). „‚Das Geistreiche geht mir am leichtesten aus der Feder‘. Theodor Fontane als Briefschreiber“, in: Zeit-Schrift, 3.6: 7‒27. Fechner, Hanns (1927). Menschen, die ich malte. Mit 17 Abbildungen nach eigenen Werken. Berlin. Förster-Habrich, B. Susann (1991). Die Briefe Theodor Fontanes. Romane und Erzählungen im Spiegel seiner Briefe. Grafenberg. Fontane, Theodor (1968‒1971). Briefe. Erste wort- u. buchstabengetreue Edition nach den Handschriften. 4 Bde. Hg. v. Charlotte Jolles u. Kurt Schreinert. Berlin. Fontane, Theodor (1969). Briefe an Julius Rodenberg. Eine Dokumentation. Hg. v. Hans-Heinrich Reuter. Berlin. Fontane, Theodor (1972a). Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859–1898. Hg. v. Kurt Schreinert. Vollendet u. mit einer Einführung versehen v. Gerhard Hay. Stuttgart. Fontane, Theodor u. Paul Heyse (1972b). Der Briefwechsel. Hg. v. Gotthard Erler. Berlin u. Weimar. Fontane, Theodor (1976). Briefe. Erster Band: 1833‒1866. Hg. v. Otto Drude u. Helmuth Nürnberger. Darmstadt. Fontane, Theodor (1979). Briefe. Zweiter Band: 1860‒1878. Hg. v. Otto Drude, Gerhard Krause u. Helmuth Nürnberger unter Mitwirkung von Christian Andree u. Manfred Hellge. Darmstadt.

6.18 Theodor Fontanes Briefe 

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Fontane, Theodor (1980). Briefe. Dritter Band: 1879‒1889. Hg. v. Otto Drude, Manfred Hellge u. Helmuth Nürnberger unter Mitwirkung v. Christian Andree. Darmstadt. Fontane, Theodor (1982). Briefe. Vierter Band: 1890‒1898. Hg. v. Otto Drude u. Helmuth Nürnberger. Darmstadt. Fontane, Theodor (1987). Die Fontanes und die Merckels. Ein Familienbriefwechsel. 1850‒1870. 2 Bde. Hg. v. Gotthard Erler. Berlin u. Weimar. Fontane, Theodor (1988). Briefe an den Verleger Rudolf von Decker. Mit sämtlichen Briefen an den Illustrator Ludwig Burger und zahlreichen weiteren Dokumenten. Hg. v. Walter Hettche. Heidelberg. Fontane, Theodor (1994). Briefe an Georg Friedlaender. Aufgrund der Edition von Kurt Schreinert und der Handschriften neu hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Walter Hettche. Frankfurt a. M. Fontane, Theodor u. Friedrich Eggers (1997). Der Briefwechsel. Mit Fontanes Briefen an Karl Eggers und der Korrespondenz von Friedrich Eggers mit Emilie Fontane. Hg. v. Roland Berbig. Berlin u. New York. Fontane, Theodor u. Emilie Fontane (1998). Der Ehebriefwechsel. Hg. v. Gotthard Erler unter Mitarbeit v. Therese Erler. 3 Bde. Berlin. Fontane, Theodor (2000). „Sie hatte nur Liebe und Güte für mich“. Briefe an Mathilde von Rohr. Hg. v. Gotthard Erler. Berlin. Fontane, Theodor, Emilie u. Martha Fontane (2001). Meine liebe Mete. Ein Briefgespräch zwischen Eltern und Tochter. Hg. v. Gotthard Erler. Berlin. Fontane, Theodor u. Bernhard von Lepel (2006a). Der Briefwechsel. Hg. v. Gabriele Radecke. 2 Bde. Berlin u. New York. Fontane, Theodor (2006b). Theodor Fontane und Wilhelm Wolfsohn: Eine interkulturelle Beziehung. Briefe, Dokumente, Reflexionen. Hg. v. Hanna Delf von Wolzogen u. Itta Shedletzky. Tübingen. Fontane, Theodor u. Theodor Storm (2011). Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Gabriele Radecke. Berlin. Gabler, Thorsten (2014). „‚Fontanes Briefe ediert‘? Zur Aisthetik des Briefes“, in: Fontanes Briefe ediert. Hg. v. Hanna Delf von Wolzogen u. Rainer Falk. Würzburg: 158‒175. Höfele, Karl Friedrich (1963). „Theodor Fontanes Kritik am Bismarckreich“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 14: 337‒342. Honnefelder, Gottfried (1973). „Die erzähltechnische Konstruktion der Wirklichkeit bei Theodor Fontane. Zur Funktion des Briefes im Roman“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 92 (Sonderheft): 1‒36. Horch, Hans Otto (2000). „Theodor Fontane, die Juden und der Antisemitismus“, in: FontaneHandbuch. Hg. v. Christian Grawe u. Helmuth Nürnberger. Stuttgart: 281‒305. Jolles, Charlotte u. Walther Müller-Seidel (Hg.) (1988). Die Briefe Theodor Fontanes. Verzeichnis und Register. Bearb. v. Rainer Bachmann, Walter Hettche u. Jutta Neuendorff-Fürstenau. München. Jolles, Charlotte (1989). „Fontanes brieflicher Nachlaß. Bestand und Edition. Einführung“, in: Fontane-Blätter, 47: 53‒62. Jolles, Charlotte (41993). Theodor Fontane. Stuttgart u. Weimar. Jurgensen, Manfred (2000). „Das Briefwerk“, in: Fontane-Handbuch. Hg. v. Christian Grawe u. Helmuth Nürnberger. Stuttgart: 772‒787. Mittenzwei, Ingrid (1970). Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsromanen. Bad Homburg.

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Mittenzwei, Ingrid (1993). „Spielraum für Nuancierungen. Zu Fontanes Altersbriefen“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 37: 313–327. Naumann, Barbara (2015). „Übergängig, umschweifend, beiläufig. Theodor Fontanes Gesprächskunst“, in: Theodor Fontane: Dichter und Romancier. Seine Rezeption im 20. und 21. Jahrhundert. Hg. v. Hanna Delf von Wolzogen u. Richard Faber. Würzburg: 67‒84. Nürnberger, Helmuth (1977). „Fontanes Briefstil“, in: Probleme der Brief-Edition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Schloß Tutzing am Starnberger See, 8.–11.9.1977. Hg. von Wolfgang Frühwald, Hans-Joachim Mahl u. Walter Müller-Seidel. Boppard: 163–186. Nürnberger, Helmuth (2007). Fontanes Welt. Eine Biographie des Schriftstellers. München. Nürnberger, Helmuth (2015). „Der ‚Mann der langen Briefe‘ ‒ und seine Leser: Die HanserAusgabe“, in: Fontanes Briefe ediert. Hg. von Hanna Delf von Wolzogen u. Rainer Falk. Würzburg: 58‒100. Poser, Wolfgang (1958). Gesellschaftskritik im Briefwerk Theodor Fontanes. Frankfurt a. M. Reich-Ranicki, Marcel (41990 [1972]). „Fontane, der unsichere Kantonist“, in: Ders. Nachprüfung. Aufsätze über deutsche Schriftsteller von gestern. München: 9‒22. Reuter, Hans-Heinrich (1970). „Der Briefschreiber Fontane“, in: Theodor Fontane: Von dreißig bis achtzig. Sein Leben in seinen Briefen. Hg. v. dems. München: 7–17. Rosenfeld, Hans-Friedrich (1992). „Vom Schicksal Fontanescher Briefentwürfe“, in: Euphorion, 86: 90‒106. Schmidt-Supprian, Alheide (1993). Briefe im erzählten Text. Untersuchungen zum Werk Theodor Fontanes. Frankfurt a. M. Stockum, Theodor C. van (1961). „Zu Theodor Fontanes Lebensanschauung“, in: Neophilologus, 45: 123‒138.

Anna Busch

6.19 ‚Leben in Briefenʻ – ein Buchtypus des 19. Jahrhunderts 1 Begriffsumfang und -abgrenzung Der Terminus Leben in Briefen beschreibt einen Publikationstyp, der seine Blütezeit in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfährt. Die biographische Darstellung wird durch Briefabdrucke oder -auszüge untermauert, teilweise werden ganze Briefe oder -teile mit und ohne Kennzeichnung in den Fließtext integriert. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass Briefe als autobiographische Dokumente integral für biographische Schilderungen gelten müssen, da sie einen vermeintlich unverstellten Zugang zur Ideen- und Gedankenwelt des biographischen Subjekts gewähren. Die Veränderung der Briefform seit Christian Fürchtegott Gellert (vgl. Gellert 1751) und die damit einhergehende Aufwertung des privaten Charakters der Mitteilung prädestinieren den Brief bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zum biographischen Beleg. Seine Aufnahme in die Biographie trägt damit dem aufkommenden Wunsch nach Identifikation, Anleitung und Einblick in die Lebensgeschichten von Einzelpersonen Rechnung. Im Gegensatz zu anderen biographischen Darstellungsverfahren, die Briefe regelmäßig unter dem Aspekt der begleitenden Quellen und Materialien betrachten, nehmen Briefe in diesem speziellen Biographietypus eine zentrale Rolle ein. Der Übergang zu einer Briefedition, der ein biographischer Kommentar beigegeben ist, ist mitunter fließend. Vielfach sprechen die Biographen in ihren Vorworten entsprechend auch von Zusammenstellung oder Zusammentragung von Material anstatt von der Abfassung oder dem Schreiben einer Biographie; sich selbst verstehen sie als Herausgeber, nicht als Autor. Dabei kommen wiederkehrende Verfahren zur Anwendung: die Sammlung und chronologische Ordnung der Korrespondenzen und persönlichen Dokumente, die Herauslösung, Bearbeitung und Zensur des brieflichen Materials, wo es Pietät und Takt zu gebieten scheinen, die Abfassung einer (kurzen) Einleitung und die Kontextualisierung durch biographische Verbindungstexte. Dieses Vorgehen wird regelmäßig dadurch gerechtfertigt, dass man das biographische Subjekt für sich selbst sprechen lasse und ihm die Möglichkeit gebe, sich posthum zu Leben und Wirken zu erklären. Die Methode, dafür persönliche Briefe zu reproduzieren, komme dem Wunsch der Leser*innen nach historischer Authentizität und unvoreingenommener Annäherung an das biographische Subjekt nach. Der Biograph entspricht diesem Wunsch also durch ein vermeinthttps://doi.org/10.1515/9783110376531-102

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lich objektives, modernes wissenschaftliches Vorgehen: durch den Abdruck persönlicher Briefe und Nachlassdokumente. Leben in Briefen wurden häufig von Nachkommen, Verwandten, Freunden oder Verlegern verfasst, die in naher Verbindung zu dem Verstorbenen standen, dadurch über Zugang zu umfangreichem brieflichem (Nachlass-)Material verfügten und durch ihre Nähe zum Subjekt für sich eine Art Zuständigkeit ableiteten. Nicht unüblich war auch eine Zeitungsannonce mit der Bitte um die Briefe des Verstorbenen zum Zweck der Biographieabfassung. Standardmäßig erfolgten Eingriffe in das handschriftliche Material: Entweder wurden Briefstellen durch den Herausgeber gestrichen, geschwärzt oder auf andere Weise unleserlich gemacht; einzelne Sätze, Absätze und Briefteile fielen z.  B. der Schere des Bearbeiters zum Opfer. Das Auf-, Um- oder Zusammenkleben einzelner Briefauszüge für den Druck hatte oft den Verlust der jeweiligen Briefrückseite zur Folge. Eine große Zahl von Originalbriefen, die für die Publikation nicht notgedrungen abgeschrieben wurden, fiel so der Zensur des Herausgebers zum Opfer und ist, da sie als Druckvorlagen dienten und nicht immer retourniert wurden, grundsätzlich verloren. Die so entstandenen Biographien gewähren oftmals den einzigen Einblick in die Korrespondenz des jeweiligen Autors. Nachfolgende Generationen sind entsprechend der subjektiven Bearbeitung durch den Herausgeber des Lebens in Briefen unterworfen. Für den Leser sind Art und Umfang der vorgenommenen Eingriffe schließlich nicht ohne weiteres erkennbar. Ihm wird suggeriert, es handele sich um persönlich getauschte Briefe im Originalwortlaut. Tatsächlich sind die Briefe aber häufig umfassend bearbeitet worden (vgl. Busch 2016; Busch und Görbert 2016). Der Stellenwert des Briefs für den Texttypus Leben in Briefen wird oft durch die Beigabe eines Faksimiles als Schriftprobe unterstrichen. Eine begriffliche Abgrenzung des Terminus Leben in Briefen zu den regelmäßig synonym verwendeten Begriffen „Briefsammlung“ (Schlawe 1969), „biographische Geschichtsschreibung“ (Fuld 1991, 44), „biographische Literatur“ (Anton 1995, 129), „Briefnachlass“ (Baasner 1999, 31), „epistolary biography“ (Price 2000), „life and letters“ (Moldenhauer 2008, 44), „Briefbiographie“ (Busch 2016) steht aus. Ebenso fehlt es an einer das Genre in seiner Gesamtheit einordnenden Studie.

2 Systematische und historische Aspekte Bereits in der griechisch-römischen Biographie gibt es Briefanhänge, die sich als Ergänzung zur eigentlichen Lebensbeschreibung verstehen. Diese Briefe sind selten dem biographischen Subjekt zuzuordnen, sondern erweisen sich

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als Ergänzungen des Verfassers der Biographie. Friedrich Leo spricht in diesem Zusammenhang von „einer rhetorischen Übung“, einer Fülle „unechter Briefe und Briefsammlungen von litterarischen Personen“, die von den Biographen als „echt“ ausgegeben werden (Leo 1901, 300). Die Beigabe fiktiver Briefe zur Biographie ist kennzeichnend für eine ganze Reihe von Lebensbeschreibungen, die sich durch vermeintliche Autorauthentizität zu legitimieren suchen. Regelmäßig wird daher die Engführung oder gegenseitige Bedingung von Briefromanen (epistolary novel) und Briefbiographie (epistolary biography) vor allem in der englischsprachigen Literatur betont (Altick 1969, Price 2000). Die Wiederaufnahme eines Bearbeitungsmodus von Briefen fällt daher  – wenig überraschend  – nicht mit dem Rückgang der Gattung Briefroman zusammen, sondern mit dem Aufstieg einer briefbiographischen Form. In serielle Produktion ging dieser Buchtyp in Deutschland unter der Feder von Heinrich Döring, der sich einen Namen als erster Biograph Goethes machte und zahlreiche weitere ‚Klassikerʻ-Biographien u.  a. von Friedrich Schiller (vgl. Döring 1822), Johann Gottfried Herder (vgl. Döring 1823), Friedrich Gottlieb Klopstock (vgl. Döring 1825), Gottfried August Bürger (vgl. Döring 1826), Christian Fürchtegott Gellert (vgl. Döring 1833), Christoph Martin Wieland (vgl. Döring 1840) und Nikolaus Lenau (vgl. Döring 1854) veröffentlichte, die sich des immer gleichen Musters des Briefabdrucks im Rahmen seiner Lebensbeschreibungen und der regelmäßigen Bearbeitung des Materials bedienten. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls die Friedrich-Schiller-Biographie seiner Schwägerin, Karoline von Wolzogen, zu nennen, die durch die Wiedergabe authentischer Zeugnisse aus dem Besitz ihrer Familie ein ungetrübtes Bild Schillers präsentieren wollte (vgl. Wolzogen 1830). In ihrer Biographie liegt das Hauptaugenmerk auf Briefen, die hier erstmals gedruckt wurden und daher entsprechende Aufmerksamkeit durch die Öffentlichkeit erfuhren. Allerdings finden sich ebenfalls umfangreiche, zum Teil auch sinnverändernde Eingriffe in das Briefmaterial, die sich zum Beispiel auf dialektgefärbte Ausdrücke Schillers oder auch auf lebensweltliche Dinge wie Geldschulden beziehen. Um ihr eigenes Verhältnis zu Schiller zu kaschieren, machte Karoline von Wolzogen ihre Schwester Lotte in manchen Briefen, die eigentlich an beide Schwestern gerichtet sind, zur einzigen Adressatin (vgl. Boerner 1990, 323). Als ein weiteres prominentes Beispiel eines Lebens in Briefen ist die von Georg Nikolaus Nissen verfasste Biographie Wolfgang Amadeus Mozarts (vgl. Nissen 1828) zu nennen. Als Grundlage dienten umfangreiche Familienkorrespondenzen, die Nissen, dem zweiten Mann von Constanze Mozart, wegen der Nähe zur Familie vorlagen. Ziel war es, Mozarts Lebensgeschichte durch authentische Dokumente zu belegen, wofür allerdings viele Briefe gekürzt und nur in Teilen abgedruckt oder auch leicht umformuliert wurden. Verfasser und Datum sind

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zumeist richtig angegeben, gelegentlich werden zwei Briefe unter einem Datum zusammengefasst. Fast alle diese Briefe waren zu dem Zeitpunkt unveröffentlicht. Daher galt die Nissen-Biographie, trotz der Eingriffe in das handschriftliche Material, lange Zeit als hilfreiche Briefedition, obwohl sie nie als solche konzipiert war. Ähnliches gilt für Julius Eduard Hitzigs Biographien E. T. A. Hoffmanns (vgl. Hitzig 1823) und Adelbert von Chamissos (vgl. Hitzig 1839). Friedrich Hölderlins Leben in Briefen (vgl. Hölderlin 1846) erschien als zweiter Band der zweibändigen Gesamtausgabe von Hölderlins Werken und macht deutlich, welcher Stellenwert dem Brief sowohl als biographischer Beleg als auch als Teil des Gesamtwerks eines Autors beigemessen wurde. Die Biographie Heinrich von Kleists, die bezeichnenderweise schon im Titel Heinrich von Kleist’s Leben und Briefe den Texttypus nennt (vgl. von Bülow 1846), erschien erst 35 Jahre nach Kleists Tod und ist durch eine Auswahl des vermeintlich wichtigsten Materials gekennzeichnet, wie der Herausgeber Eduard von Bülow im Vorwort einräumt. Deutlich wird hier, dass der Zeitraum, der zwischen dem Tod des biographischen Subjekts und der Veröffentlichung des jeweiligen Lebens in Briefen liegt, dazu einlädt, eine Konstruktion eines Lebens vorzunehmen, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und eine Stringenz, die es mitunter gar nicht gegeben hat, zu entwerfen. Für Bülow war, laut Klaus Kanzog, die Biographie weder Geschichte noch Psychogramm, sondern eine spezifische Darstellungsform der Literatur, d.  h. die Möglichkeit, ein ins Exemplarische transportiertes Lebensschicksal mit literarischen Mitteln zu zeichnen und hinter der äußeren Wirklichkeit die innere sichtbar zu machen (vgl. Kanzog 1974, 144). Um das Authentische gegenüber der Interpretation abzugrenzen, flocht er Brieftexte als ‚Fakten‘ ein. Für den Biographietypus kennzeichnend sind ebenfalls die beiden Lebensbeschreibungen Ludwig Uhlands (vgl. Notter 1863; Vischer Uhland 1874). Beide werden in nachfolgenden Biographien als Referenzmodelle herangezogen. Die ebenfalls von Friedrich Notter herausgegebene Biographie Eduard Mörikes (1875) folgt dem bereits in seiner Uhland-Biographie angewendeten Muster von Briefabdruck und verbindenden Zwischentexten. Hermann Hüffers Biographie Annette von Droste-Hülshoffs (1887) ist die erste Biographie der Autorin, die als dem Typ Leben in Briefen zugehörig zu verstehen ist. Wiewohl Levin Schücking für sein Lebensbild (1862) auf einen umfangreichen eigenen Brieffundus zurückgreifen konnte, ist es diesem Genre nicht zuzuordnen. Eine graduelle Anpassung findet die Methode in der Biographie Friedrich Hebbels (vgl. Kulke 1878), die ein Jahr nach der ersten zweibändigen Biographie Hebbels von Emil Kuh erscheint (vgl. Kuh 1877). Bei Kulke werden die verwendeten Briefe in einem Anhang aufgelistet und dokumentiert, wodurch sich die Transparenz hinsichtlich des verwendeten Materials für den Leser erhöht. Eine

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Verschiebung findet sich ebenfalls in den Briefen in drei Bänden von Adalbert Stifter (vgl. Stifter 1869). Der Übergang von einer Biographie zu einer Briefausgabe, der eine biographische Skizze vorangestellt ist, die ebenfalls Briefauszüge enthält, ist hier vollzogen. Die Biographie Ferdinand Freiligraths, Ein Dichterleben in Briefen in zwei Bänden (vgl. Buchner 1881), deren Zusammenstellung nur aufgrund des Briefwechsels möglich wurde, ist – wiewohl vom Herausgeber als Leben in Briefen angelegt, das ein autobiographisch geprägtes Lebensbild nachzeichnet – ebenfalls als Briefedition verstanden und genutzt worden. Der explizite Rekurs auf das Leben in Briefen-Vorbild der Uhland-Biographie durch dessen Frau, Emilie Uhland, wird im Vorwort zur Biographie Gottfried Kellers (vgl. Baechtold 1894–1897) durch Jakob Baechtold zur Legitimation der Vorgehensweise verwendet. Die umfangreiche, dreibändige Biographie beruht auf ca. 300 herangezogenen Briefen, die durch Baechtolds Schilderungen nur dann ergänzt werden, wenn keine Briefe zum Abdruck vorliegen. Grundsätzlich zeichnet sich die Biographie durch ein strenges wissenschaftliches Vorgehen, die Durchnummerierung der mitgeteilten Briefe und Erschließung der Briefschaften durch entsprechende Empfängerregister aus. Eingriffe in die Brieftexte und Auslassungen erfolgen allerdings auch hier. Die nachlassende Popularität der Biographieform Leben in Briefen ist zum einen einer einsetzenden Reflexion über die Funktion des Briefes als kommunikatives Phänomen im Spannungsfeld zwischen dokumentarischem Charakter und seinem inszenatorisch-fiktionalen Potential geschuldet, zum anderen aber auch der immer unzuverlässigeren Chronologie und Überlieferung von Briefen anzulasten. Tatsächlich bedient die Biographieform Leben in Briefen auch einen briefoptimistischen Positivismus des 19. Jahrhunderts, wonach nur die Zusammentragung des Belegbaren, des Stofflichen und der Fakten als eine sich von interpretatorischer Absicht distanzierende Forschungsmethode auszureichen scheint. Deutlich wird an dieser Stelle, dass so geartete Biographien weit in den Bereich der Edition hineinragen und sie hinsichtlich Überlieferung, ihrer Autorisation und exakter Textkonstitution ihre eigenen Schwierigkeiten mit sich bringen. Auf dem Gebiet der Quellenforschung, Textedition und Biographie ist damit dennoch der Grundstein für sich anschließende Forschung gelegt.

3 Bisherige Forschung und Perspektiven Bei der Hybridform Leben in Briefen handelt es sich um die typische Form, derer sich ernsthafte Biographien vor allem des 19. Jahrhunderts bedienten, um sich gegen den Vorwurf der Subjektivität zu wappnen. Der Abdruck von Briefen im

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Rahmen einer Lebensbeschreibung verbürgt vermeintlich deren Authentizität. Die dahinterstehende Idee, dass Briefe tatsächlich das Leben einer Person enthielten, dass das Leben am nachhaltigsten und vor allem am wahrhaftigsten durch die Kompilierung und den Abdruck großer Korrespondenzmengen und anderer persönlicher Papiere zu erzählen sei, ist kennzeichnend für die Biographik des frühen 19. Jahrhunderts. Der positivistisch begründete Anspruch des Texttypus Leben in Briefen, einen Lebenslauf so originalgetreu wie möglich abzubilden, setzt schon durch die Form voraus, was sich keineswegs von selbst versteht: die innere Logik eines Lebens mit einem sinnvollen zeitlichen Verlauf und einer zielstrebigen Entwicklung (vgl. Mattenklott et al. 1988). Die vielen im biographischen Gewand erscheinenden Briefsammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts dienten – ähnlich wie die Memoiren – der Forschung lange Zeit, namentlich bei monographischen Betrachtungen, als erste und zuverlässigste Quelle. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang beispielhaft die Briefe von und an Goethe, die Briefe Gottfried August Bürgers (vgl. Strodtmann 1874), die von Karl von Holtei herausgegebenen Briefe an Ludwig Tieck (vgl. Holtei 1864) und auch Christoph Martin Wielands Briefe an Karl Leonhard Reinhold (vgl. Keil 1885). Der Rückgriff auf die problematischen Briefabdrucke in den Biographien des 19. Jahrhunderts wurde oft in den Fällen nötig, in denen sich die Originalmaterialien nicht erhalten hatten. Genannt werden kann hier beispielsweise die Biographie Kleists (vgl. Bülow 1846). Obwohl sich die Briefe in der Biographie Bülows durch editorische Eingriffe stark von den auf Basis der zu ihrem Erscheinungsdatum noch existierenden Handschriften edierten Ausgaben (vgl. Kleist 1904/05; Kleist 21936/38) unterschieden, wurde sie mitunter als Textkonstituens herangezogen. Dabei vermitteln die in Ausschnitten und Bruchstücken wiedergegebenen Briefe nur selten eine Idee davon, welche Gestalt die verlorenen Originale gehabt haben. Sind die Briefe erhalten, ist eine Gegenüberstellung von Druck und Original unerlässlich, da es gerade die unterdrückten, gestrichenen, bearbeiteten Textteile sind, die mitunter Zusammenhänge hinreichend erklären und den Bewertungsfokus neu ausrichten können. Liegen keine textsicheren Editionen vor, wird bisweilen auch heute noch mit den problematischen Publikationen des 19. Jahrhunderts gearbeitet. Dies gilt zum Beispiel für die Briefe Adelbert von Chamissos, deren bearbeitete Form aus seiner ersten Biographie (vgl. Hitzig 1839) immer wieder Eingang in die Forschungsliteratur findet, da bisher keine Edition seiner Briefe vorliegt (vgl. Busch und Görbert 2016). Tatsächlich ist auf die Sonderstellung des Briefs für die Biographik immer wieder hingewiesen worden: Sigrid Weigel definiert in Anlehnung an Derridas Konzept der „Carte Postale“ die Biographie eines Autors sogar per se als ein Netz aus „Korrespondenzen und Konstellationen“. Dabei sind „Korrespondenzen“ durchaus auch wörtlich als „Briefwechsel“ zu verstehen (Weigel 2002, 41–54).

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Und Jean Pauls Verständnis des Briefnachlasses eines Autors als „Collektivselberlebensbeschreibung“ wird von Dorothea Böck aufgenommen, die den „auto-biographischen Commentar“, den die Briefe bilden, gleichsam als „biographisches Dokument“ interpretiert (Böck 1994, 307, 309). Dennoch wird der Brief in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung regelmäßig naiv zu den autobiographischen Quellen und Materialien gerechnet (vgl. Fetz 2009). Die Eigenarten des Briefs und ihre Instrumentalisierung in der Biographie werden dabei nur am Rande gestreift. Christian Klein und Falko Schnicke verorten den Brief tatsächlich in erster Linie als „Paratext“ zur eigentlichen Biographie, als Quellenbeigabe, die die Überprüfbarkeit des Mitgeteilten sichert und der damit besondere legitimatorische Kraft zukommt (2016, 29–30; so auch Berghahn 2008, 82). Dass der Brief in der speziellen Biographieform Leben in Briefen des 19.  Jahrhunderts aber weniger Para- als tatsächlich literarisch überformter Text ist, der nicht nur eine*n einzige*n Autor*in hat, sondern mehrere, gilt es in zukünftigen Untersuchungen zu bedenken. Durch die Biographieforschung ist das Thema bis dato weitestgehend ausgespart worden. Weder der Sammelband Grundlagen der Biographik (vgl. Klein 2002) noch das Handbuch Biographie (vgl. Klein 2009) oder das Studienbuch Theorie der Biographie (vgl. Fetz und Hemecker 2011) nehmen sich des Themas gesondert an. Von Seiten der Briefforschung ist das Phänomen zwar erkannt und beschrieben worden (vgl. Anton 1995; Baasner 1999), aber auch hier fehlt eine grundsätzliche Auseinandersetzung.

Zitierte Literatur Altick, Richard D. (1969). Lives and Letters. A History of Literary Biography in England and America. New York. Anton, Annette C. (1995). Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart. Baasner, Rainer (1999). „Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis“, in: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Hg. v. dems. Tübingen: 1‒36. Baechtold, Jakob (1894–1897). Gottfried Kellers Leben. Seine Briefe und Tagebücher. 3 Bde. Berlin. Berghahn, Cord-Friedrich (2008). „Das Schreiben der Liebe. Wilhelm von Humboldt an Caroline von Dacheröden“, in: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Renate Stauf, Annette Simonis u. Jörg Paulus. Berlin u. New York: 81–106. Böck, Dorothea (1994). „Autobiographische Schriften und Zeugnisse zur Biographie. Probleme ihrer Edition am Beispiel der Briefe an Jean Paul. Ein Werkstattbericht.“, in: Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie. Internationale Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition an der Stiftung Weimarer Klassik. Hg. v. Jochen Golz. Tübingen: 304–320.

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Hüffer, Hermann (1887). Annette v. Droste-Hülshoff und ihre Werke. Vornehmlich nach dem litterarischen Nachlaß und ungedruckten Briefen der Dichterin. Mit vier bildlichen Beilagen und zwei Schriftproben. Gotha. Kanzog, Klaus (1974). Edition und Engagement. 150 Jahre Editionsgeschichte der Werke und Briefe Heinrich von Kleists. Berlin u. New York. Keil, Robert (Hg.) (1885). Aus klassischer Zeit. Wieland und Reinhold. Original-Mittheilungen als Beiträge zur Geschichte des deutschen Geisteslebens im XVIII. Jahrhundert. Leipzig u. Berlin. Kleist, Heinrich von (1904/05). Heinrich von Kleists Werke. Im Verein mit Georg Minde-Pouet u. Reinhold Steig hg. v. Erich Schmidt. Leipzig u. Wien. Kleist, Heinrich von (21936/38). Heinrich von Kleists Werke. Im Verein mit Georg Minde-Pouet u. Reinhold Steig hg. v. Erich Schmidt. Neu durchgesehene u. erweiterte Aufl. Leipzig u. Wien. Klein, Christian (Hg.) (2002). Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographi­ schen Schreibens. Stuttgart u. Weimar. Klein, Christian (Hg.) (2009). Handbuch der Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart u. Weimar. Klein, Christian u. Falko Schnicke (2016). „Legitimationsmechanismen des Biographischen. Bestimmung und Systematik“, in: Legitimationsmechanismen des Biographischen. Kontexte – Akteure – Techniken – Grenzen. Hg. v. dens. Bern u.  a.: 9–31. Kuh, Emil (Hg.) (1877). Biographie Friedrich Hebbel’s. 2 Bde. Wien. Kulke, Eduard (1878). Erinnerungen an Friedrich Hebbel. Wien. Leo, Friedrich (1901). Die griechisch-römische Biographie nach ihrer litterarischen Form. Leipzig. Mayer, Karl (1853). Nicolaus Lenau’s Briefe an einen Freund. Hg. mit Erinnerungen an den Verstorbenen v. Karl Mayer. Stuttgart. Mattenklott, Gert, Hannelore Schlaffer u. Heinz Schlaffer (Hg.) (1988). Deutsche Briefe 1750‒1950. Frankfurt a. M. Moldenhauer, Dirk (2008). Geschichte als Ware. Der Verleger Friedrich Christoph Perthes (1772–1843) als Wegbereiter der modernen Geschichtsschreibung. Köln. Moritz, Karl Philipp (1793). Allgemeiner deutscher Briefsteller, welcher eine kleine deutsche Sprachlehre, die Hauptregeln des Styls und eine vollständige Beispielsammlung aller Gattungen von Briefen enthält. Berlin. Nissen, Georg Nikolaus (1828). Biographie W.A. Mozarts. Nach Originalbriefen, Sammlungen alles über ihn Geschriebenen, mit vielen neuen Beylagen, Steindrücken, Musikblättern und einem Facsimile. Leipzig. Notter, Friedrich (1863). Ludwig Uhland. Sein Leben und seine Dichtungen mit zahlreichen ungedruckten Poesien aus dessen Nachlaß und einer Auswahl von Briefen. Stuttgart. Notter, Friedrich (1875). Eduard Mörike. Ein Beitrag zu seiner Charakteristik als Mensch und Dichter. Stuttgart. Schlawe, Fritz (Hg.) (1969). Die Briefsammlungen des 19. Jahrhunderts. Bibliographie der Briefausgaben und Gesamtregister der Briefschreiber und Briefempfänger 1815–1915. Halbband I und Halbband II. Stuttgart. Stifter, Adalbert (1869). Adalbert Stifters Werke. Briefe. 3 Bde. Hg. v. Johannes Aprent. Pest. Strodtmann, Adolf (Hg.) (1874). Briefe von und an Gottfried August Bürger. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte seiner Zeit. Aus dem Nachlaß Bürgers und anderen, meist handschriftlichen Quellen. 4 Bde. Berlin.

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Vischer Uhland, Emilie (1874). Ludwig Uhlands Leben. Aus dessen Nachlaß und aus eigener Erinnerung. Stuttgart. Weigel, Sigrid (2002). „Korrespondenzen und Konstellationen. Zum postalischen Prinzip biographischer Darstellungen“, in: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Hg. v. Christian Klein. Stuttgart u. Weimar: 41‒54. Wolzogen, Caroline von (1830). Schillers Leben. Verfaßt aus Erinnerungen der Familie, seinen eignen Briefen und den Nachrichten seines Freundes Körner. 2 Bde. Stuttgart u. Tübingen.

Wolfgang Bunzel

6.20 Briefnetzwerke der Junghegelianer 1 Die Junghegelianer als Generationengruppe Die Junghegelianer sind eine recht heterogene Gruppe von Intellektuellen, die nach Hegels Tod (1831) ihre Unzufriedenheit mit einer orthodoxen Deutung seiner Philosophie zum Ausdruck brachten und dessen  – als in die Zukunft weisend verstandenes  – Gedankengut weiterentwickeln und damit auch tagespolitisch dynamisieren wollten. Wichtige Impulse für eine ‚radikale‘ Auslegung von Hegels Denken gingen zunächst von Heinrich Heine und Eduard Gans aus. Zu einer personenübergreifenden Fraktionierung einzelner Positionen kam es allerdings erst im Gefolge von David Friedrich Strauß’ (1808–1874) Buch Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (2 Bde., 1835/36). Zwei Jahre nach Erscheinen gelangte der Verfasser zu dem Schluss, dass es mittlerweile drei „verschiedene Richtungen innerhalb der Hegel’schen Schule in Betreff der Christologie“ (Strauß 1838, 95) gebe, nämlich einen rechten und einen linken Flügel sowie ein Zentrum. Ähnliche weltanschauliche Differenzierungen nahm auch der am Königlichen Paedagogicum der Franckeschen Stiftungen zu Halle als Privatdozent Ästhetik und Philosophie unterrichtende und daneben publizistisch tätige Arnold Ruge (1802–1880) wahr. In seinem Aufsatz Unsere gelehrte kritische Journalistik unterschied er deshalb zwischen Vertretern des „alt-Hegel’schen Princips“ und „jungen Leuten mit ‚neuen Systemen‘“ (Ruge 1837, 910) des Hegelianismus. Um Letzteren ein öffentliches Forum zu verschaffen, beschloss Ruge im Spätsommer 1837, gemeinsam mit seinem ebenfalls am Königlichen Paedagogicum lehrenden Kollegen Theodor Echtermeyer (1805–1844) eine literarisch-philosophische Rezensionszeitschrift zu gründen, die als „eine Art gegenwärtiger Zeiger auf der Uhr des deutschen Lebens in Wissenschaft u Kunst“ (Hundt 2010, Bd. 1, 6) fungieren sollte. Geplant war freilich kein unparteiisches Referateorgan, sondern ein kämpferisch auftretendes Periodikum, das „unabhängige, wirkliche Kritik […] aus dem Gesichtspunkt der Wissenschaft“ betreibt und es sich zur Aufgabe macht, schonungslos die „Trübungen des gegenwärtigen Geistes“ (Hundt 2010, Bd.  1, 3) zu diagnostizieren und anzuprangern. Indem Ruge und Echtermeyer beschlossen, den Lesern als neuartigen Textsortenmix „Kritiken. – Charakteristiken. – Correspondenzen. – Uebersichten.“ vorzulegen, rückten sie vom Standardtypus der Buchbesprechung – einem eher neutralen Inhaltsreferat des anzuzeigenden Werks mit zumeist vorsichtiger Wertung – ab. An dessen Stelle traten nun stärker journalistisch-belletristisch geprägte Ausdrucksformen wie der Essay und die Polemik. Wie aggressiv die Herausgeber dabei vorzugehen gedachten, https://doi.org/10.1515/9783110376531-103

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erhellt ein Schreiben Ruges vom 10. August 1837, in dem er seinem Freund Adolf Stahr (1805–1876) die neuesten Entwicklungen in Halle schildert und ihn wissen lässt: „[E]s hat sich  […] eine heldenmüthige Gesellschaft zusammengefunden, und wir wollen die Alten nicht abwarten, d.  h. natürlich sterben lassen, sondern sie müssen bei lebendigem Leibe todtgemacht werden, litterarisch vernichtet“ (Hundt 2010, Bd. 1, 3). Diese Briefstelle verdeutlicht auch, wie sehr sich die nach und nach als Gruppe konstituierenden Junghegelianer als Generationenverbund betrachteten. In historischer Perspektive lässt sich dieser sogar als erste Jugendbewegung der deutschen Philosophiegeschichte ansehen (vgl. Bunzel 2007; Briese 2013). Innerhalb des junghegelianischen Gruppenzusammenhangs kamen die Verbindungen zwischen den einzelnen Personen entweder durch gewisse biographische Übereinstimmungen (so verfügten mehrere Junghegelianer als ehemals verfolgte Burschenschaftler über einen homogenen Erfahrungshintergrund) oder durch vage gemeinsame philosophische und politische Grundüberzeugungen (vgl. Schenk 1983) zustande. Im Kern freilich war das eigentliche junghegelianische Netzwerk publizistischer Natur; es dokumentiert sich in einer – in dieser Form vorher noch nicht dagewesenen – breit gefächerten journalistischen Tätigkeit. Erst im kollektiven Medium von Zeitungen und Zeitschriften bündelten sich die Einzeläußerungen zu einer gemeinsamen und öffentlich weithin hörbaren ‚Stimme‘ des Junghegelianismus. Eine Generation, deren Vertreter wegen ihrer als oppositionell wahrgenommenen Gesinnung ständig Erfahrungen des Zurückgesetztwerdens hinnehmen mussten und denen es nicht oder nur in Ausnahmefällen gelang, an den Universitäten Fuß zu fassen und eine akademische Karriere zu machen (vgl. Eßbach 1988, 124), war – um sich Gehör zu verschaffen – nachgerade dazu gezwungen, sich als Gruppe zusammenzuschließen. Um eine wahrnehmbare publizistische Präsenz zu gewährleisten, musste vorab aber der eigene Auftritt in der Öffentlichkeit abgesprochen, organisiert und koordiniert werden – dies geschah im Medium Brief.

2 Die Hallischen (1838–1841) und Deutschen Jahrbücher (1841–1843) als Zentralorgan des Junghegelianismus Was die Hallischen Jahrbücher von anderen Zeitschriften unterschied, war aber nicht nur das veränderte publizistische Selbstverständnis, sondern auch die ungewöhnlich enge Bindung zwischen Herausgebern und Beiträgern:

6.20 Briefnetzwerke der Junghegelianer 

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Die Autoren wurden von der Redaktion, also Ruge und z.  T. Echtermeyer, viel mehr als bei anderen Blättern gesucht, die Themen mehr und vor allem gezielter vorgegeben, […] die Reisetätigkeit Ruges und auch Echtermeyers, später Besuche von Autoren in der Redaktion […] schufen persönliche Beziehungen zwischen Redaktion und Autoren, was in diesem Umfang von anderen Redaktionen dieser Zeit nicht bekannt ist. (Hundt 2010, Bd. 3, 31)

Dieser Prozess begann damit, dass Arnold Ruge Ende Oktober 1837 zu einer rund vierwöchigen Reise durch Deutschland aufbrach, die ihn in fast alle wichtigen Universitätsstädte führte und während der er gezielt Kontakt zu potentiellen Mitarbeitern suchte. Personen, die er nicht vor Ort antraf, oder die abseits seiner Reiseroute wohnten, ersuchte er brieflich um ihre Unterstützung. Durch die so getroffene Vorauswahl wurde der Kreis der künftigen Beiträger bereits in einer Weise eingegrenzt, die eine Gruppenbildung begünstigt. Gleichwohl musste Ruge anfangs natürlich diverse Kompromisse eingehen, um das neue Zeitschriftenunternehmen auf eine tragfähige Grundlage zu stellen. Letztlich repräsentieren die zu Beginn akquirierten Mitarbeiter (von denen dann gar nicht alle tatsächlich auch Texte einreichten) noch ein recht breites Meinungsspektrum; lediglich orthodoxe oder reaktionäre Positionen blieben ausgeschlossen. Doch schon zu diesem Zeitpunkt ließ Ruge deutlich erkennen, welche Zielsetzungen er mit der Gründung der Hallischen Jahrbücher verfolgte. So lässt er Ludwig Feuerbach (1804–1872) am 14. Oktober 1837 wissen, wie „wichtig“ es ihm und Echtermeyer sei, sich von den „steifleinenen und stereotypen Berlinern“ (Hundt 2010, Bd. 1, 7) abzusetzen, womit der Mitarbeiterstab der noch von Hegel (1770–1831) selbst gegründeten, in der preußischen Hauptstadt verlegten Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik gemeint war. Und am Tag darauf heißt es in einem Brief an Friedrich Ritschl (1806–1876), dass das neue Organ „gegen die Perückenbatterien der alten Hähne“ (Hundt 2010, Bd. 1, 8) Front machen wolle. Teil der Programmpolitik des wochentäglich erscheinenden Periodikums war es, in den ersten 14 Monaten ihres Bestehens jeder Monatslieferung den zur Akquirierung von Mitarbeitern verschickten Programmtext der Zeitschrift beizulegen, so dass die Beiträger nachdrücklich auf die von der Redaktion vorgegebenen Darstellungsziele und Textsorten verpflichtet wurden. Verstärkt wurde die Bindung an das Blatt noch dadurch, dass während dieses Zeitraums auch nach und nach aktualisierte Übersichten mit den Namen der Beiträger mitabgedruckt wurden. Die damit einhergehende Personalisierung schuf sehr bald ein Zugehörigkeitsgefühl und damit auch ein Exklusivitätsbewusstsein, das den Gruppenbildungsprozess der Bewegung weiter vorantrieb, zumal schon im ersten Jahr des Bestehens mehrere Personen die Zusammenarbeit wieder aufkündigten und freiwillig aus dem Kreis der Mitarbeiter ausschieden. Von der Redaktion wurde dieser Rückzug ausdrücklich begrüßt, weil „das Ausscheiden […] pietistisch ver-

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stimmter […] Männer“ (Nr. 1, 1.1.1839, Sp. 6) eine Schärfung des publizistischen Profils bewirke. Vor allem für die neu auf der Mitarbeiterliste Genannten gilt, dass sie nun weithin sichtbar als kritische Hegelianer erkennbar waren. Entscheidend befördert wurde der einsetzende ideologische Differenzierungsvorgang durch den sogenannten Leo-Hegelschen Streit. Der Hallenser Historiker Heinrich Leo (1799–1878) griff in der Kampfschrift Die Hegelingen (1838) die ‚linken‘ Hegel-Nachfolger massiv an und bezichtigte sie der Propagierung des Atheismus. Leos Attacke führte zu einer Flut von Entgegnungen und Folgeschriften, welche die intellektuelle Welt in zwei Lager spaltete. Während orthodoxe Hegelianer und Hegel-Skeptiker sich nun endgültig von den Hallischen Jahrbüchern lossagten, rückten die Junghegelianer noch enger zusammen und scharten sich um Ruge und seine Zeitschrift, die damit zum publizistischen Kristallisationskern des sich herausbildenden Gruppenzusammenhangs wurde und sich von einem allgemeinen Forum der modernen Philosophie mit moderater weltanschaulicher Tendenz zu einem parteiischen Kampforgan der Hegelschen Linken entwickelte (vgl. Pepperle 1978). Die zentrale Figur war und blieb dabei Arnold Ruge, der die Programmgestaltung in seinen Händen hatte, nach Erscheinungsbeginn die weitere Mitarbeiterakquise übernahm und den Großteil der Korrespondenz führte. Deshalb sind die Hallischen und Deutschen Jahrbücher (1838–1843) auch im Wesentlichen als „Ruges Werk“ (Hundt 2010, Bd.  3, 31) zu betrachten. Da sie bis zuletzt das Zentralorgan der Bewegung bildeten, wuchs Ruge durch seine Herausgeberschaft die definitorische Macht darüber zu, wer zum Kreis der Junghegelianer gehörte und wer nicht. Ruge übernahm bei den Beiträgern die Aufgabe der ideologischen Kontrollinstanz, die darüber befand, wer sich von den als unerlässlich definierten Grundüberzeugungen entfernt hatte und deshalb verwarnt oder gar aus dem Gruppenzusammenhang ausgeschlossen werden musste. Dass und in welchem Ausmaß er diese Grenzwächterfunktion wahrnahm, ist von der Forschung bislang kaum registriert oder, wenn doch, zumeist als Faktum hingenommen worden. Dabei bedürften sowohl die Formen wie die Auswirkungen dieser von ihm so selbstverständlich ausgeübten Macht einer eingehenden Untersuchung. Die Legitimität seiner Position wurde im Grunde von allen Gruppenmitgliedern akzeptiert, und zwar offenbar deshalb, weil diese selbst ständig eine ideologische Kontrolle von Inhalt und Beiträgerschaft der Hallischen Jahrbücher vornahmen. Die Gruppe delegierte also unausgesprochen die Grenzziehungsaufgabe an Ruge, der sich der ihm übertragenen Verantwortung so lange würdig erwies, wie es ihm gelang, diese Aufgabe zur Zufriedenheit aller zu erfüllen. Insofern kann er tatsächlich als „Türhüter der Hegelschen Schule“ (Heine 1976, 510) angesehen werden, wie ihn Heinrich Heine ironisch-treffend in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1852) titulierte. Und

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trotz der zwischenzeitlich auftauchenden Konkurrenz durch andere Organe – wie das Athenäum und die Rheinische Zeitung – konnte er diese Rolle bis zum Verbot der Deutschen Jahrbücher Anfang 1843 ausüben.

3 Das Briefnetzwerk der Hallischen (1838–1841), Deutschen (1841–1843) und Deutsch-Französischen Jahrbücher (1844) Da die in den Jahrbüchern abgedruckten Artikel – darunter nicht wenige Besprechungen der von Mitarbeitern verfassten, selbständig erschienenen Bücher und Broschüren – gewissermaßen den jeweils aktuellen Stand der junghegelianischen Debatten anzeigten, war jeder Text darin auch ein Beitrag zur Selbstverständigung der Gruppe. Um mitdiskutieren zu können bzw. gehört zu werden, war es freilich nötig, vorab Ruges Einverständnis zu gewinnen. Die Korrespondenz mit ihm besteht daher zu einem Gutteil aus Stellungnahmen zu dort Publiziertem, Angeboten von Beiträgen sowie Vorschlägen für und Bitten um künftige Rezensionen und Artikel. Der in großen Teilen erhaltene und seit 2010 auch publizierte Redaktionsbriefwechsel dokumentiert die Kommunikation innerhalb der junghegelianischen Bewegung in breiter Ausführlichkeit und gibt nicht nur weitreichenden Aufschluss über deren Entwicklung, die durch Abspaltungserscheinungen und die Bildung von kleineren Nebenzentren gekennzeichnet ist, sondern gestattet auch minutiöse Einblicke in die Programmpolitik Ruges. Während die Artikel der Jahrbücher das Selbstverständnis der Junghegelianer spiegeln, gestattet die Korrespondenz einen Blick ins Innere der Bewegung. Dies ist insofern von Bedeutung, als der Junghegelianismus vor allem wegen der staatlichen Zensur vielfältige Strategien der Verstellung und der uneigentlichen Rede entwickelte. In den Zeitschriften zu lesen waren also jene Artikel, die man für öffentlichkeitstauglich hielt, die Briefe dagegen thematisieren vieles von dem, was nur privat kommunizierbar schien. Zu Recht lässt sich daher über die Hallischen und Deutschen Jahrbücher sagen: „Eigentlich erschlossen wird diese Zeitschrift erst durch den um ihr Zustandekommen geführten Briefwechsel.“ (Hundt 2010, Bd. 1, XXIV) Erkennbar wird bei diesem Blatt eine einzigartige Verbindung von Epistolarität und Publizistik. Dementsprechend sind weite Teile der Redaktionskorrespondenz „– wiewohl in vielen Passagen sehr persönlich gehalten – keine Privatbriefe“ (Hundt 2010, Bd. 3, 13). Nur zu einem geringen Maß enthalten sie Persönliches. Stattdessen sind sie fokussiert auf die Durchsetzung der gemeinsamen Ziele, die Behauptung gegenüber den Angriffen der Widersacher und die Weiterentwick-

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lung der philosophischen Debatten in den Jahrbüchern, die in mancherlei Hinsicht als Gemeinschaftswerk unter der redaktionellen Oberaufsicht von Arnold Ruge angesehen werden können. Allerdings wäre es abwegig zu meinen, dass dabei „wohl erstmals die wirklich demokratische Gestaltung eines Periodikums in größerem Umfang erprobt wurde“ (Hundt 2010, Bd. 3, 3) – zumal wenn man bedenkt, wie autokratisch Ruge bei der Auswahl von Mitarbeitern bzw. der Zurückweisung von eingereichten Texten verfuhr. An der Redaktionskorrespondenz beteiligt waren rund 200 Personen. Ruge selbst bezifferte die Zahl im Dezember 1837 auf „140“ (Hundt 2010, Bd. 1, 43) bzw. „159 Mitarbeiter“ (Hundt 2010, Bd. 1, 38). Die dem Prospekt der Zeitschrift beigefügte Liste von Anfang 1838 umfasst 143 Namen. „In vielen Briefen ist die Rede von vorangegangenen, auf die Bezug genommen [wird] oder die beantwortet werden, die jedoch nur in wenigen Fällen selbst vorliegen. Daher könnte in Bezug auf die bisher ermittelten Briefe etwa die doppelte Zahl ursprünglich vorhandener angenommen werden.“ (Hundt 2010, Bd. 1, XXV) Da in Martin Hundts dreibändiger Edition insgesamt 1.222 Briefe abgedruckt sind, dürfte die gesamte Redaktionskorrespondenz der Hallischen, Deutschen und Deutsch-Französischen Jahrbücher mindestens 2.000, vielleicht sogar 2.500 Schreiben umfassen. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass es sich „bei der Redaktion der Jahrbücher niemals um eine von Arnold Ruges familiärer Umgebung getrennte Institution handelte“, deshalb „gehören zum Redaktionsbriefwechsel in vielen Fällen auch Briefe an seine Frau, seinen Bruder Ludwig, später auch an seine Mutter“ (Hundt 2010, Bd. 1, XXVII) mit dazu. Des Weiteren „ging stets ein Teil der Briefe über […] [die] Leipziger Buchhändler-Adresse“ (Hundt 2010, Bd. 1, XXVII) des Verlegers Otto Wigand (1795–1870). Es gab also in vielen Fällen Personen, die Kenntnis von diesen Briefen bzw. Einblick in sie hatten und selbst möglicherweise Wortlaut und Tendenz der Antwortschreiben beeinflussten. Um den Überblick über die weitverzweigte Korrespondenz zu behalten, führte Ruge ein „Postbuch“ (Hundt 2010, Bd. 3, 7), das allerdings nicht überliefert ist. Der Mitarbeiterstamm der Jahrbücher war fast über die gesamten deutschsprachigen Länder verteilt. Beiträger lebten außer in Halle, Leipzig (dem Verlagsort) und Berlin (als preußischer Hauptstadt) u.  a. in Marburg, Göttingen, Bonn, Erlangen, Dresden, Greifswald, Breslau, Stettin und Königsberg, aber auch in Zürich (Johann Caspar Bluntschli) sowie in Paris (Jacob Venedey) oder Kopenhagen (Friedrich Beck). „Von großer Bedeutung war es, dass sich an einigen Orten Kreise von Korrespondenten bildeten. Das betraf vor allem Halle, Stuttgart/Tübingen und umliegende Städte, Berlin, Stettin, Göttingen.“ (Hundt 2010, Bd. 3, 35) Um die Zeitschrift am Laufen zu halten, sprach Ruge häufig Wünsche nach Abfassung bestimmter Artikel aus und gab Anregungen, welche Neuerscheinun-

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gen rezensiert werden sollten. Doch war er grundsätzlich durchaus offen für Vorschläge seiner Mitarbeiter, ging aber beileibe nicht auf jedes Angebot ein. Vor allem Neulingen gab Ruge klare Direktiven. So ersuchte er etwa Karl Rosenkranz am 3. Dezember 1839 darum, seine Ansichten dem Beiträgeraspiranten Alexander Jung (1799–1884) mitzuteilen, damit dieser sich in seinem Text daran orientieren könne. Und als Moriz Carriere begann, für die Hallischen Jahrbücher zu schreiben, erläuterte Ruge ihm ausführlich die Besonderheiten im Argumentationsgestus der hier abgedruckten Artikel (vgl. Bunzel 1996/97). Die Behandlung einzelner Personen und ihrer Texte habe, so schreibt er am 1. Februar 1839, grundsätzlich „nicht von Seiten der Gesinnung, sondern aus dem Interesse des Begriffs der ganzen Richtung“ (Hundt 2010, Bd. 1, 282) zu erfolgen, für welche die jeweilige Person stellvertretend stehe. Denn: „Die Gesinnung ist factiös, die Wissenschaft nicht“, deshalb sei es auch von eminenter Bedeutung, „die ‚gute‘ Gesinnung […] nicht für die wissenschaftliche zu nehmen, d.  h. wir müssen uns in Acht nehmen, um der Freundschaft und guten Gesinnung willen nicht aus der kritischen Rolle zu fallen“ (Hundt 2010, Bd. 1, 282–283). Dabei war die Einflussnahme auf Auswahl, Inhalt und Gestus der Artikel in jedem Fall stärker als bei anderen Zeitschriften. Dass die meisten Beiträger eine derartige Lenkung akzeptierten, hängt mit der faktischen Monopolstellung der Hallischen und Deutschen Jahrbücher zusammen. Da es schwer war, bestimmte Texte andernorts unterzubringen, und viele Mitarbeiter unbedingt im Zentralorgan des Junghegelianismus vertreten sein wollten, hatte dies eine stark disziplinierende Wirkung und stärkte die Bereitschaft, im Sinne des – hauptsächlich von Ruge definierten – Gruppenkonsenses zu schreiben. Doch nicht immer stießen seine „Argumentationshilfen für die Autoren“ (Hundt 2010, Bd. 3, 6) auf Verständnis. Eduard Meyen (1812–1870) etwa insistierte nach seiner im Herbst offenbar verkürzt erschienenen Besprechung der ersten beiden Bände der Sämmtlichen Werke Achim von Arnims darauf, bei der Anzeige der Folgebände freie Hand zu haben. Der Umstand, dass sein nächstes Schreiben nicht erhalten ist, verdeutlicht schlaglichtartig, welche Informationslücken fehlende Briefe in der Redaktionskorrespondenz reißen können. Denn genau diese Mitteilung enthielt sehr wahrscheinlich die Nachricht, ob Meyen die von ihm angekündigte Folgerezension tatsächlich geliefert hat oder nicht. Und da eine derartige Besprechung nicht in den Jahrbüchern erschien, könnte nur das fehlende Schriftstück darüber Auskunft geben, ob Meyen auf die Abfassung des Textes verzichtet oder Ruge ihn unpubliziert gelassen hat. Bestimmte Rezensionswünsche wies Ruge auch zurück, weil er die entsprechende Schrift von einem anderen Mitarbeiter besprechen lassen oder sie gar selbst anzeigen wollte. In Einzelfällen mag es zwischen Beiträgern sogar zur Weitergabe von vorbereitendem Textmaterial gekommen sein; Ruge jedenfalls bat am

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9. Dezember 1840 seinen Freund Adolf Stahr darum, ihm dieses „zu überlassen“, wenn er „schon Studien und Gesichtspuncte“ (Hundt 2010, Bd. 1, 627) zu seiner projektierten Rezension von Karl Gutzkows Börne-Biographie notiert habe. „In einzelnen Fällen wurden Briefe als Informationsquelle oder Argumentationshilfe an potentielle Autoren der ‚Jahrbücher‘ weitergegeben. So schickte Ruge am 10. Februar 1842 einen Brief Max Dunckers an Moritz Fleischer, der ihm ‚einige Orientierung‘ für dessen geplante Kritik der Berliner Litterarischen Zeitung geben werde.“ (Hundt 2010, Bd. 3, 6) Letztlich verhalten sich die Jahrbücher und der Redaktionsbriefwechsel um sie herum supplementär: Das geht so weit, dass einige Briefe nicht gedruckte Stellen der Zeitschrift enthalten, so z.  B. Ruges Brief an [Robert Eduard] Prutz [(1816–1872)] vom 9.  Januar 1842 einen ganzen vom Zensor gestrichenen Absatz. Rosenkranz’ Brief an Ruge vom 29. Mai 1839 und der von Hermann Büttner an Ruge vom 28.  Mai 1841 listen eine Reihe von Druckfehlern auf, die nicht mehr korrigiert werden konnten. […] Schließlich ließen sich durch den Briefwechsel zahlreiche Pseudonyme entschlüsseln und die Autoren anonymer Artikel ermitteln (Hundt 2010, Bd. 2, XXIV, Anm. 5).

Die Verschränkung von Publizistik und Epistolarität geht zuweilen sogar soweit, dass die Jahrbücher selbst als Medium epistolarer Kommunikation dienten: „In zwei Fällen schickte Ruge seine Antwort nicht per Post, sondern veröffentlichte die Antwort in der Zeitschrift“ (Hundt 2010, Bd. 1, XXIV, Anm. 5). Am deutlichsten kommt dieses enge Austauschverhältnis in einer Rubrik zum Ausdruck, die im dritten Jahrgang der Hallischen Jahrbücher neu eingeführt wurde und sich an Journalen des angelsächsischen Raums orientiert: Sie trägt den Namen „Wastebook“ und diente eigens dazu, Inhalte aus Schreiben an die Redaktion öffentlich zu machen. Die Deutsch-Französischen Jahrbücher nutzten dann mit Moses Hess’ Briefen aus Paris und Ein Briefwechsel von 1843, der Schreiben von Marx, Ruge, Bakunin und Feuerbach enthält, das Medium Brief als wirkungsvolle publizistische Ausdrucksform und übernahmen damit Strategien der Jungdeutschen.

4 Weitere Briefnetzwerke um junghegelianische Periodika Schon vor der bzw. parallel zur Gründung der Hallischen Jahrbücher hatte es vereinzelt Versuche gegeben, bereits bestehende Zeitschriften für (links-)hegelianisches Gedankengut zu öffnen und sie zu publizistischen Sprachrohren der sich gerade erst formierenden Bewegung umzufunktionieren. Ein Beispiel hierfür ist

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die in Berlin verlegte Literarische Zeitung. Eduard Meyen hatte 1836 damit begonnen, für dieses Blatt Artikel zu schreiben, und übernahm schließlich mit Beginn des Jahres 1838 die Redaktion des fünften Jahrgangs. Obwohl er nur Ludwig Buhl (1814–1882) und Moriz Carrière aus der jüngeren Generation der Hegel-Nachfolger gewinnen konnte, gelang es ihm aber doch, das dröge Rezensionsorgan zu einer im Wesentlichen junghegelianischem Gedankengut verpflichteten Zeitschrift umzufunktionieren. Ähnliches gilt auch für den von Julius Leopold Klein redigierten dritten Jahrgang der Baltischen Blätter (Wismar), die dann ab Juli 1838 unter dem Namen Deutsche Blätter erschienen. Meyen, der mit Klein eng befreundet war, lieferte dafür Nachrichten aus Berlin und vermittelte Beiträger. Als „Monatsschrift für das gebildete Deutschland“ erschien von Juli 1838 bis Ende 1839 das von Karl Riedel (1804–1878) herausgegebene Athenaeum für Wissenschaft, Kunst und Leben (Nürnberg), an dem außer Riedel selbst u.  a. David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach, Georg Friedrich Daumer (1800–1875), Friedrich Wilhelm Carové (1789–1852) und Franz Dingelstedt (1814–1881) mitwirkten (vgl. Härtl 2016, 55–88). Eine Fortsetzung bzw. Wiederauflage erlebte das Blatt dann in der ebenfalls unter dem Titel Athenäum firmierenden „Zeitschrift für das gebildete Deutschland“ (Berlin), die Riedel 1841 gemeinsam mit Meyen herausgab (vgl. Bunzel 1997). Auch dieses Periodikum war nicht als Konkurrenzunternehmen zu den Hallischen Jahrbüchern gedacht, sondern sollte vielmehr die publizistischen Einflussmöglichkeiten der Junghegelianer vergrößern. In diesem Sinn ermunterte Meyen Ruge zur Mitarbeit: „Thun Sie was für das Athenäum!“, forderte er ihn am 30. März 1841 eindringlich auf. Doch dieser lieferte keinen einzigen Artikel für das Schwesterblatt und unterließ es sogar, in den Hallischen und Deutschen Jahrbüchern darauf hinzuweisen. An diesem Punkt wird endgültig deutlich, dass die Jahrbücher einen Alleinvertretungsanspruch hatten und der Junghegelianismus in die Krise geriet, sobald dieser intern mit einer gewissen Militanz verteidigt werden musste (vgl. Bunzel et al., 2006). Das lässt sich auch am Umgang mit dem von Alexander Jung redigierten Königsberger Literatur-Blatt erkennen, gleichfalls eine Zeitschrift, die dazu gedacht war, das publizistische Schlachtschiff Ruges zu flankieren, die dann aber im Juli 1842 von Friedrich Engels in den Deutschen Jahrbüchern gezielt lächerlich und damit für potentielle Beiträger unattraktiv gemacht wurde. Eine Sonderstellung nimmt lediglich die am 1. Januar 1842 in Köln als Nachfolgerin der Rheinischen Allgemeinen Zeitung gegründete Rheinische Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe ein. Die Liste der dem Junghegelianismus nahestehenden Mitarbeiter ist lang (vgl. Klutentreter 1966). Die meisten von ihnen publizierten auch in den Hallischen und Deutschen Jahrbüchern. Karl Marx übernahm am 15. Oktober 1842 die Redaktionsleitung und behielt sie bis zum 31. März 1843. Mitte 1841 hatten die preußischen Behörden den Vertrieb der Hallischen Jahr-

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bücher auf dem eigenen Staatsgebiet untersagt. Deshalb sah sich Arnold Ruge dazu gezwungen, die Redaktion nach Dresden zu verlegen und die Zeitschrift in Deutsche Jahrbücher umzubenennen. Da sich das Blatt von diesem Zeitpunkt an stets in der Gefahr befand, auch in Sachsen und den übrigen deutschen Staaten verboten zu werden, war die Rheinische Zeitung ein willkommenes Ausweich- und Alternativorgan – zumal sich der Mitarbeiterkreis stark überschnitt. Doch letztlich wurde die publizistische Verkoppelung beiden Organen zum Verhängnis, denn auf das Verbot der Deutschen Jahrbücher Ende Januar 1843 folgte zwei Monate später auch das Verbot der Rheinischen Zeitung. Immerhin bemühten sich einige Junghegelianer um neue publizistische Artikulationsmöglichkeiten. Ruge und Marx ließen im Februar 1844 als Nachfolger die Deutsch-Französischen Jahrbücher erscheinen, die allerdings nur eine einzige Doppelnummer erlebten. Auch in diesem Organ spielten wieder Briefe eine wichtige Rolle; zum Abdruck gelangten Schreiben von Marx, Ruge, Feuerbach, Hess und Michail Bakunin (1814–1876). Nach dem Ende der Deutschen Jahrbücher brachte Bruno Bauer erst eine Allgemeine Literatur-Zeitung (1844) und dann als „Monatsschrift für Kritik, Literatur und Unterhaltung“ die Norddeutschen Blätter (1844/45) heraus; die Beiträge aus Letzterer erschienen später in Buchform gesammelt unter dem Titel Beiträge zum Feldzuge der Kritik (1846). Ludwig Buhl begründete eine Berliner Monatsschrift (1844), Karl Nauwerck die Berliner Blätter (1844) und Eduard Meyen eine Norddeutsche Revue (1844), die heute nur noch dem Titel nach bekannt ist und als verschollen gelten muss. Länger als ein Jahr existierte einzig Otto Wigand’s Vierteljahrsschrift (1844/45), welcher der Verleger noch das Periodikum Die Epigonen (1846–1848) folgen ließ. War im Fall der Hallischen, Deutschen und Deutsch-Französischen Jahrbücher die „Rekonstruktion eines Redaktionsbriefwechsels“ und des „damaligen Redaktionsarchivs“ (Hundt 2010, Bd. 1, XXVII) möglich, so fehlen entsprechende Korrespondenzen um fast alle anderen junghegelianischen Zeitschriften. Lediglich die Geschichte der Rheinischen Zeitung ist erforscht und mit Quellendokumenten belegbar. Auch an Briefen zwischen den Beiträgern der Jahrbücher bzw. der Rheinischen Zeitung mangelt es weitgehend, weil nur die Korrespondenzen der wenigen prominenten Vertreter greifbar sind. Dass es entsprechende Dokumente aber durchaus gegeben hat, dokumentiert schon der bereits 1844 von den Beteiligten selbst veröffentlichte Briefwechsel zwischen Bruno Bauer und seinem Bruder Edgar aus den Jahren 1839 bis 1842. Bereits zuvor hatte Ruge in den Aktenstücken zur Censur, Philosophie und Publicistik aus dem Jahre 1842 Teile seiner Korrespondenz mit dem preußischen Innenministerium und dem Zensurkollegium publik gemacht (vgl. Ruge 1842). Zu den Desideraten der Forschung gehören daher Briefeditionen aller Art aus dem Umfeld des Junghegelianismus ebenso wie Untersuchungen zu den Brief-

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netzwerken der Vorgänger- und der Parallelpublikationen sowie der Folgeunternehmen. Allerdings ist die archivalische Quellenlage in nahezu allen Fällen unbefriedigend. Nachlässe der weniger bekannten Figuren des Junghegelianismus haben sich höchst selten erhalten. Als einzigartiger Glücksfall ist in diesem Zusammenhang das Bekanntwerden des in Familienbesitz befindlichen Nachlasses von Karl Nauwerck anzusehen (vgl. Lambrecht 2016). Aber auch in öffentlichen Archiven und Bibliotheken liegt noch eine erhebliche Anzahl unausgewerteter Briefdokumente. Einen quantitativ großen Bestand umfasst beispielsweise das Verlagsarchiv des mit der junghegelianischen Bewegung eng verbundenen Literarischen Comptoirs, das Teil des Nachlasses von Julius Fröbel ist und in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt wird (Signatur Ms ZII 87–87,91). Selbst Hinterlassenschaften von Forschern enthalten gelegentlich Material; Briefe, die zwischen Mitarbeitern des Literarischen Comptoirs gewechselt wurden, finden sich etwa – teils als Original, teils abschriftlich – im Nachlass von Werner Näf in der Kantonsbibliothek St. Gallen (Signatur VadSlg NL201=4). Gerade angesichts der wenig üppigen Ressourcen erscheint es umso dringlicher, das (noch) Vorhandene zu sichten, zu sichern und editorisch zu erschließen.

Zitierte Literatur Briese, Olaf (2013). „Akademikerschwemme. Junghegelianismus als Jugendbewegung“, in: Umstürzende Gedanken – Radikale Theorie im Vorfeld der 1848er Revolution. Hg. v. Lars Lambrecht. Frankfurt a. M.: 123–141. Bunzel, Wolfgang (1996/97). „‚Muth und Opferkraft für die Idee‘. Briefe Moriz Carrieres an Arnold Ruge und Theodor Echtermeyer (1839/41)“, in: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft, 8/9: 39–73. Bunzel, Wolfgang (1997). „‚Die vollkommenste Einigung der Wissenschaft mit dem Leben‘. Briefe von Eduard Meyen an Arnold Ruge (1839–1841)“, in: Schnittpunkt Romantik. Text- und Quellenstudien zur Literatur des 19. Jahrhunderts. Festschrift für Sibylle von Steinsdorff. Hg. v. dems., Konrad Feilchenfeldt u. Walter Schmitz. Tübingen: 143–203. Bunzel, Wolfgang (2007). „Form- und Funktionswandel der Philosophie im Vormärz. Sozial-, medien- und kommunikationsgeschichtliche Aspekte des Junghegelianismus“, in: Entstehen des Öffentlichen – Eine andere Politik. Hg. v. Lars Lambrecht. Frankfurt a. M.: 11–38. Bunzel, Wolfgang, Martin Hundt u. Lars Lambrecht (Hg.) (2006). Zentrum und Peripherie. Arnold Ruges Korrespondenz mit Junghegelianern in Berlin. Frankfurt a. M. u.  a. Eßbach, Wolfgang (1988). Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe. München. Härtl, Heinz (2016). „Drei Briefe von Beethoven“. Genese und Frührezeption einer Briefkomposition Bettina von Arnims. Bielefeld.

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Heine, Heinrich (1976). Sämtliche Schriften. Hg. v. Klaus Briegleb. Bd. 3: Schriften 1831–1837. Hg. v. Karl Pörnbacher. München u. Wien. Hundt, Martin (Hg.) (2010). Der Redaktionsbriefwechsel der Hallischen, Deutschen und Deutsch-Französischen Jahrbücher (1837–1844). 3 Bde. Berlin. Klutentreter, Wilhelm (1966). Die Rheinische Zeitung von 1842/43. Dortmund. Lambrecht, Lars (2016). Karl Nauwerck – ein „bekannter patentirter Revolutionär“. Herkunft und Jugend – von der Aufklärung zum Aufbegehren, nebst Anhängen mit Archivalien und Dokumenten von und zu Ludwig und Karl Nauwerck sowie mit Exkursen. Frankfurt a. M. u.  a. Pepperle, Ingrid (1978). Junghegelianische Geschichtsphilosophie und Kunsttheorie. Berlin. Ruge, Arnold (1837). „Unsere gelehrte kritische Journalistik“, in: Blätter für literarische Unterhaltung, Nr. 223 u. 224, 11. u. 12. Aug.: 905–907 u. 909–910. Ruge, Arnold (Hg.) (1842). Aktenstücke der Censur, Philosophie und Publicistik aus dem Jahre 1842. Erster und Zweiter Theil. Mannheim. Schenk, Michael (1983). „Das Konzept des sozialen Netzwerkes“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 25 (Sonderheft): 88–104. Strauß, David Friedrich (1838). Streitschriften zur Vertheidigung meiner Schrift über das Leben Jesu und zur Charakteristik der gegenwärtigen Theologie. Bd. 1. Heft 3. Tübingen.

Christian Jansen

6.21 Briefnetzwerke von Achtundvierzigern nach dem Scheitern der Revolutionen Unter Achtundvierzigern werden hier diejenigen verstanden, die sich in der Revolution 1848/49 im Deutschen Bund politisch engagiert hatten und die diese Erfahrung in ihrem weiteren politischen Engagement und in ihrer Wahrnehmung der politisch-sozialen Konstellationen prägte. Entgegen einer immer noch verbreiteten Annahme blieben die meisten Achtundvierziger über die Niederschlagung der Revolution hinaus politisch aktiv. In einer breiten, selbstkritischen Diskussion, die jedoch in der Reaktionszeit nicht öffentlich ausgetragen werden konnte und deshalb vornehmlich anhand von Briefen nachzuvollziehen ist, zogen sie Konsequenzen aus ihrer Niederlage. Neue politische Ideen und Strategien, die sich im Schlagwort „Realpolitik“ (vgl. Rochau 1972 [1853]; Jansen 2007, 223–259) zusammenfassen lassen, brachten die Achtundvierziger als Teil der bürgerlichen Linken seit Mitte der 1850er Jahre langsam wieder aus der Defensive heraus. Es kam zu klandestinen und zunächst auf enge Kreise beschränkten Versuchen, oppositionelle Politik, die auf lokaler und einzelstaatlicher Ebene teilweise fortgesetzt werden konnte (aber nicht erforscht ist), erneut überregional zu koordinieren. Da öffentliche Versammlungen in vielen Staaten unterdrückt wurden, jedenfalls aber die Aufmerksamkeit der politischen Polizei erregten, waren Briefe neben beruflich und privat motivierten Reisen (vgl. Jansen 2005, 101–107) das geeignetste Kommunikationsmittel zwischen den versprengten Achtundvierzigern, zumal sie häufig nicht weiter an ihren Heimat- oder ursprünglichen politischen Wirkungsorten leben konnten, sondern inhaftiert waren, sich versteckten, innerhalb des Deutschen Bundes in liberalere Staaten ausgewichen waren oder in die Nachbarländer Schweiz, Frankreich oder Belgien emigriert und von dort meist weiter nach Großbritannien und in die USA vertrieben worden waren (vgl. Jansen 2005, 55–90). Die Verschiebung innerhalb der europäischen Mächtekonstellation, die aus dem Krimkrieg resultierte, und das Scheitern der Reaktionspolitik führte in den meisten deutschen Staaten Ende der 1850er Jahre zu einer Lockerung der politischen Verfolgung sowie zu Regierungs- und Systemwechseln. Dies gab der politischen Opposition Auftrieb, die personell und inhaltlich an 1848/49 anknüpfte, also weiterhin „Einheit, Macht und Freiheit für Deutschland“ forderte. Seit 1859 wurde – ausgehend von intensiven Diskussionen, welche Folgerungen aus der italienischen Nationalstaatsgründung zu ziehen seien – auch wieder öffentlich über unterschiedliche deutschlandpolitische Strategien diskutiert. Gleichzeitig kam es zu zahlreichen Neugründungen politischer Vereine, die sich schnell überregional vernetzten. https://doi.org/10.1515/9783110376531-104

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Zeitlich lässt sich die nachrevolutionäre Epoche als Gründerzeit begreifen – und zwar nicht nur des Deutschen Kaiserreichs, sondern der Industrialisierung, der Etablierung einer bürgerlichen Gesellschaft, Öffentlichkeit und Politik sowie des Organisations- und Parteienspektrums, das die deutsche Politik bis 1914 bestimmte (vgl. Jansen 2014; ausführlicher Jansen 2011). Die so definierte Gründerzeit gliedert sich in vier Phasen: 1849 bis 1851 waren Übergangsjahre, in denen das Schicksal der europäischen Revolutionen nicht endgültig entschieden war und die Achtundvierziger eine zweite Revolution jederzeit für möglich hielten. Von 1852 bis Mitte 1857 vollzog die Opposition einen folgenreichen Umdenkprozess – die Wende zur Realpolitik. Dies geschah zunächst weitgehend außerhalb der von politischer Repression reglementierten Öffentlichkeit. Erst infolge des Krimkrieges (1854–1856) löste sich die deutschlandpolitische Erstarrung allmählich. Die dritte Phase der Reorganisation der liberal-nationalistischen Opposition (1857–1864) begann nicht mit der „Neuen Ära“ in Preußen im Herbst 1858. Vielmehr entstanden schon seit dem zweiten Halbjahr 1857 überregionale Organisationen, die sich, ausdrücklich an 1848 anknüpfend, „Einheit, Macht und Freiheit“ auf ihre Fahnen schrieben (vgl. Biefang 1994; Jansen 2005, 323–357; Jansen 2004, 767–781). In der vierten Phase (1864–1871) scheiterten die deutschlandpolitischen Pläne der Opposition, die eine Reichsgründung auf der Basis der Verfassung von 1849 und unter maßgeblicher Beteiligung „von unten“, also seitens der nationalistischen Bewegung forderte. Dieses erneute politische Scheitern der Achtundvierziger war hauptsächlich den Erfolgen des preußischen Militärs und des Ministerpräsidenten Otto von Bismarck geschuldet, die einerseits die deutsche Einigung in enormem Tempo voranbrachten, andererseits die Einigungsbewegung ausmanövrierten und über ihre wichtigsten politischen Forderungen hinweggingen. Diese vierte Phase der Gründerzeit brachte in zwei Etappen (1867/1871) nicht nur den ersehnten deutschen Nationalstaat, sondern auch Spaltung und Untergang der lagerübergreifenden politischen Organisationen (Deutscher Nationalverein, Fortschrittspartei etc.), die den liberalen Nationalismus getragen hatten und maßgeblich von Achtundvierzigern bestimmt waren (vgl. Jansen 2011, 205–211 u. 223–228; Jansen 2012). Politische Briefe aus der nachrevolutionären Epoche veranschaulichen diese politischen Entwicklungen. Die Überlieferung ist sehr facettenreich, je nach Perspektive. Selbst Bismarck, dessen Briefe in verschiedenen Ausgaben, aber keineswegs vollständig ediert wurden, und andere Gegenrevolutionäre waren zutiefst vom „tollen Jahr“ 1848/49 geprägt und hatten politisch zu berücksichtigen, dass eine Fundamentalpolitisierung stattgefunden hatte und die „deutschen Fragen“ nicht mehr nur eine kleine Minderheit interessierten, sondern große Teile des Bürgertums, und partiell sogar in den Unterschichten Resonanz fanden. Achtundvierziger-Briefe finden sich in diversen Editionen (vgl. die Liste in Jansen 2004,

6.21 Briefnetzwerke von Achtundvierzigern nach dem Scheitern der Revolutionen 

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XVVII–XLIX). Im oppositionellen Lager sind drei Akteurs- und Briefschreibergruppen zu unterscheiden: die Achtundvierziger (vgl. Jansen 2004; Hartmann 1921; Jacoby 1974/1978; Schurz 1965; Köhler 1990, 2001; Meysenbug 1982; Näf 1932; Ruge 1985; Uhland 1914/16; Vogt 1870), die jüngere Generation der liberal-nationalistischen Opposition (vgl. z.  B. Conrad 1994; Dehio 1927) und die Arbeiterbewegung (eine bisher kaum genutzte Fundgrube sind die vorbildlich edierten Bände der 3. Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), außerdem: Freiligrath 1976; Liebknecht 1963, 1973/1988). In einer Zeit scharfer Pressezensur und der Unterdrückung jeglicher Gründung politischer Vereine kommt Briefen der politischen Akteure eine herausragende Bedeutung zu. Diese allgemeine Feststellung gilt in besonderem Maße für die Achtundvierziger, die infolge der Niederschlagung der revolutionären Bewegungen teilweise im Gefängnis saßen, teilweise über ganz Westeuropa, die USA und weitere Weltgegenden verstreut lebten. Anhand ihrer Briefe lassen sich ihre Kommunikations-, Freundschafts- und Aktionsnetze wie auch ihre nichtöffentlichen Debatten teilweise rekonstruieren. In der bisher umfangreichsten, nicht personenzentrierten Edition (vgl. Jansen 2004) werden enge Freundschaften plastisch, etwa die zwischen Moritz Hartmann und Ludwig Bamberger oder zwischen Hermann Becker und Christian Baute, aber auch ein Schweizer ExilNetzwerk ehemaliger demokratischer Paulskirchenabgeordneter, denen sogar, mit Hilfe von Spendensammlungen in Ortsgruppen des Centralmärzvereins, die (reduzierte) Weiterzahlung der Abgeordnetendiäten gelungen ist. Mit den Methoden der historischen Netzwerkforschung (vgl. Düring 2016) ließen sich aus dem Material aller vorliegenden Editionen wesentlich komplexere und komplettere Akteurskonstellationen rekonstruieren (vgl. hierzu Jansen 2018). Die besonderen Rahmenbedingungen prägten die meisten Briefe, allerdings in unterschiedlichem Maße, und beeinflussten die in ihnen verhandelten Inhalte und häufig stärker noch den Ton und Duktus der Texte: (1) Aufgrund der sich während der 1850er Jahre verschärfenden politischen Repression und der Zensur in den Staaten des Deutschen Bundes bzw. wegen der berechtigten Sorge, Briefe könnten von der politischen Polizei mitgelesen werden, wurde vielfach politisch Wichtiges und insbesondere Subversives nicht offen geschrieben, sondern nur angedeutet oder verschlüsselt übermittelt. Personennamen wurden häufig abgekürzt oder durch Umschreibungen vermieden. Das erschwert die Verständlichkeit vieler Briefe und erfordert die sachkundige Kommentierung. (2) Aus der Jugendlichkeit vieler Protagonisten der Revolution und mehr noch aus ihrer Außenseiterstellung in der nachrevolutionären Epoche resultierten einerseits oftmals pathetischer Überschwang, politischer (Über-)Eifer, Fundamentalismus und Aggressivität sowie die Ablehnung von (Spieß-)Bürgerlichkeit und

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politischer Mäßigung, andererseits auch politische Konsequenz und Weitsicht, Humor, satirische Schärfe und antiautoritäre Respektlosigkeit. (3) Die politische Marginalisierung der Achtundvierziger und ihre Verfolgung führten zu einem die unterschiedlichen politischen Strömungen übergreifenden Hang zu Verschwörungstheorien und politischer Gespensterseherei, die die Geschehnisse unnötig dramatisierten, aber auch die eigene Einflusslosigkeit und unerwünschte politische Entwicklungen erklären sollten. Die Informationen, die sich aus edierten und weiteren überlieferten Briefen schöpfen lassen, beschränken sich nicht auf die skizzierte politische Entwicklung im engeren Sinne, sondern sind auch auf ökonomische, gesellschaftliche, kulturelle und mentale Dispositionen und deren Veränderung bezogen. Zu nennen wären speziell für die Achtundvierziger-Briefe Emigrationserfahrungen, insbesondere Urteile über die Verhältnisse in den häufigen Exilländern Frankreich, Großbritannien, in der Schweiz oder den USA, die sich folgendermaßen pointieren lassen: Die Schweiz und die USA als Republik wurden positiv gezeichnet, was Kritik an ihrer Provinzialität bzw. Kulturlosigkeit nicht ausschloss. Hingegen boten die klassischen Vorbilder der deutschen Opposition – Frankreich, das Ideal der Demokraten und Republikaner, und Großbritannien, das Mekka des Liberalismus – vielerlei Anlass zur Enttäuschung: Frankreich wegen Napoleons Staatsstreich, der die Hoffnungen auf eine baldige, zweite Revolution beendete; Großbritannien wegen der scharfen Klassengegensätze und wegen der Unterschätzung der von der bürgerlichen Linken perhorreszierten ‚russischen Gefahr‘. Sehr aufschlussreich sind auch zahlreiche, oft unterschwellige Äußerungen zum Ehrgefühl. Denn viele Achtundvierziger fühlten sich durch das Scheitern ‚ihrer‘ Revolution in ihrer Ehre verletzt. Dies bedeutete einen Stachel für weiteres politisches Engagement und für das Festhalten an den Zielen der Revolution. Mit dem verletzten Ehrgefühl hing ihr Verständnis von Männlichkeit eng zusammen. Darüber hinaus enthalten die Briefe viele biographische Informationen über die Lebensverhältnisse der Achtundvierziger im Deutschen Bund und im Exil sowie über die politische Kultur in den deutschen Staaten der Reaktionsära, die nach wie vor unzulänglich erforscht sind. Die Briefe geben schließlich Auskunft über geplante, realisierte oder gescheiterte politische Aktionen und Projekte sowie über Korrespondenzzeichen, Pseudonyme und die Autorschaft von Texten, mit denen sich manche der meist anonymen politischen Publikationen der Gründerzeit ihren Verfassern (und selten Verfasserinnen) zuordnen lassen. Die Achtundvierziger-Briefe bieten also zu einer Vielzahl von Aspekten der Sozial-, Politik- und Mentalitätsgeschichte der nachrevolutionären Epoche aufschlussreiches und anschauliches Material. Dies gilt besonders für Fragestellungen zu den folgende Themen: Wie kam es zur parteiübergreifenden Kooperation innerhalb der bürgerlichen Linken seit Anfang der 1850er Jahre, die auf die Erfolge

6.21 Briefnetzwerke von Achtundvierzigern nach dem Scheitern der Revolutionen 

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der Gegenrevolution seit 1848 reagierte und die Differenzen zwischen Liberalen und Demokraten, zwischen „Gothaern“ und „Radikalen“ schrumpfen ließ? Was waren die wesentlichen Argumente in der insbesondere unter Demokraten geführten Diskussion, ob man als Antwort auf die reaktionären Verfassungs- bzw. Wahlgesetzrevisionen die Wahlen und die machtlosen Parlamente boykottieren müsse oder sie weiter als Agitationsbasis nutzen solle? Die Konflikte zwischen Exilierten und den weiter innerhalb des Deutschen Bundes Engagierten lassen sich präzise verfolgen, in denen die Exilierten ihren früheren Genossen immer wieder Opportunismus vorwarfen, während die im Lande Gebliebenen den Geflohenen ihre Unkenntnis der veränderten Verhältnisse im Deutschen Bund – also mangelnden Realismus  – vorhielten. Auch den folgenreichen Paradigmenwechsel hin zur „Realpolitik“ veranschaulichen viele Achtundvierziger-Briefe, wobei u.  a. ins Auge fällt, wie unterschiedlich das neue Paradigma „Realismus“ verstanden wurde: von (vulgär-)materialistischer Anwendung naturwissenschaftlicher Gesetze auf die Politik (etwa Ludwig Pfau an Carl Vogt, 9.3.1850, Jansen 2004, 85–87) bis zur kaum verschleierten Anpassung ehemaliger Revolutionäre an die herrschenden Verhältnisse (etwa Johannes Miquel an Fedor Streit, 11.6.1860, Jansen 2004, 679–680). Die Briefe zeigen ebenso eindrucksvoll das Ausmaß und die Gnadenlosigkeit der Verfolgung der Achtundvierziger, vor allem in den Briefen Inhaftierter, sowie die Funktion des Briefeschreibens als Therapie gegen politische Verzweiflung und Depression – vor allem für diejenigen, die in Zuchthäusern und in den Festungen saßen, aber auch für viele Exilierte. Überraschend häufig finden sich militaristische und bellizistische Töne. Hier verband sich die Erfahrung der militärischen Unterlegenheit der Revolutionäre mit älteren Forderungen nach allgemeiner Wehrpflicht und Wehrhaftigkeit. Viele Achtundvierziger forderten paramilitärische Jugenderziehung und die Schaffung einer Milizarmee anstelle der stehenden Heere und hielten einen Krieg, der die Nation zusammenschweißen sollte, gegen die Gegner eines deutschen Nationalstaats  – Österreich und Frankreich  – für unvermeidlich. Denn die meisten Achtundvierziger hielten die Bildung eines Nationalstaates für historisch notwendig – Indiz für ihren allgegenwärtigen Fortschrittsglauben und ihr lineares Geschichtsbild, demzufolge Liberalisierung, Demokratisierung wie die Nationalstaatsbildung unaufhaltsame Entwicklungen waren. Greifbar wird in den edierten Briefen auch ein Generationskonflikt innerhalb der Nationalbewegung  – zwischen den eher fundamentalistischen Achtundvierzigern und dem eher pragmatischen Nachwuchs. Schließlich geben die Briefe aus den Netzwerken der Achtundvierziger detailliert Auskunft zur Sozial- und Alltagsgeschichte und zur materiellen Lage zweier für das aufkommende Zeitalter der Massenpolitik prägender Berufe: der Politiker und Journalisten. Denn weil sie ihre bürgerlichen Karrieren für die Politik aufs

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Spiel gesetzt hatten, mussten viele Achtundvierziger nach der Niederschlagung der Revolution versuchen, von der Politik zu leben. Solange es keine politischen Organisationen gab, die sie (wie seit 1859 der Nationalverein) als Funktionäre beschäftigen konnten, und solange mit Diäten ausgestattete Parlamentsmandate unerreichbar waren (insbesondere für die im Exil Lebenden), war der wichtigste Gelderwerb der frühen Berufspolitiker journalistische und publizistische Arbeit. Dieser Tätigkeit war der Widerspruch zwischen Marktorientierung und Anpassung an den Zeitgeist einerseits und den eigenen politischen Überzeugungen und Zielen andererseits inhärent.

Zitierte Literatur Biefang, Andreas (1994). Politisches Bürgertum in Deutschland 1857–1868. Nationale Organisationen und Eliten. Düsseldorf. Conrad, Horst (Hg.) (1994). Ein Gegner Bismarcks. Dokumente zur Neuen Ära und zum preußischen Verfassungskonflikt aus dem Nachlass des Abgeordneten Heinrich Beitzke – 1798–1867. Münster. Dehio, Ludwig (1927). „Die preußische Demokratie und der Krieg von 1866. Aus dem Briefwechsel von Karl Rodbertus mit Franz Ziegler“, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, 39: 229–259. Düring, Marten et al. (Hg.) (2016). Handbuch Historische Netzwerkforschung. Grundlagen und Anwendungen. Berlin. Freiligrath, Ferdinand (1976). Freiligraths Briefwechsel mit Marx und Engels. Bearb. v. Manfred Häckel. 2 Bde. Berlin. Hartmann, Moritz (1921). Briefe. Ausgewählt u. eingeleitet v. Rudolf Wolkan. Wien. Jacoby, Johann (1974/1978). Briefwechsel 1816–1877. Hg. v. Edmund Silberner. 2 Bde. Hannover u. Bonn. Jansen, Christian (2004). Nach der Revolution 1848/49: Verfolgung – Realpolitik – Nationsbildung. Politische Briefe deutscher Liberaler und Demokraten aus den Jahren 1849–1861. Düsseldorf. Jansen, Christian (2005). Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche. Studienausgabe. Düsseldorf. Jansen, Christian (2007). „‚Revolution‘ – ‚Realismus‘ – ‚Realpolitik‘. Der nachrevolutionäre Paradigmawechsel in den 1850er Jahren im deutschen oppositionellen Diskurs und sein historischer Kontext“, in: Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Der Materialismusstreit. Hg. v. Kurt Bayertz, Myriam Gerhard u. Walter Jaeschke. Hamburg: 223–259. Jansen, Christian (2011). Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871. Paderborn. Jansen, Christian (2012). „Die Fortschrittspartei – ein liberaler Erinnerungsort? Größe und Grenzen der ältesten liberalen Partei in Deutschland“, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung, 24: 43–56. Jansen, Christian (2014). „Die Gründerzeit 1850–1870. Von der gescheiterten Revolution bis zur Reichsgründung. Basisbeitrag“, in: Praxis Geschichte, 3: 4–9.

6.21 Briefnetzwerke von Achtundvierzigern nach dem Scheitern der Revolutionen 

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Jansen, Christian (2018). Netzwerke und virtuelle Salons. Bedeutung und Erschließung politischer Briefe des 19. Jahrhunderts im digitalen Zeitalter. Berlin. Köhler, Manfred H. W. (Hg.) (1990). „Aus dem Lande des Republikanismus, der Sklavenbefreiung und des Nützlichkeitsprinzips. New Yorker Briefe des Mainzers Franz Zitz an Julius Fröbel, 1851–1865“, in: Mainzer Zeitschrift, 84/85: 167–199. Köhler, Manfred H. W. (2001). „So sehr ich die die Demokratie liebe, so satt bin ich die Demokraten“: Briefe des Wormser Achtundvierzigers Ferdinand von Loehr aus der Schweiz und Frankreich von Juli bis Oktober 1849 […]. Darmstadt u. Marburg. Lassalle, Ferdinand (1921–1925). Nachgelassene Briefe und Schriften. Hg. v. Gustav Mayer. 6 Bde. Stuttgart. Liebknecht, Wilhelm (1963). Briefwechsel mit Karl Marx und Friedrich Engels (1853–1894). Hg. v. Georg Eckert. Den Haag. Liebknecht, Wilhelm (1973/1988). Briefwechsel mit deutschen Sozialdemokraten. Hg. v. Georg Eckert. 2 Bde. Assen. Marx, Karl u. Friedrich Engels (1975–2013). Marx-Engels-Gesamtausgabe, 3. Abteilung: Briefwechsel. Bd. 1–13 und 30. Hg. v. der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin; die restlichen Bände erscheinen digital: https://megadigital.bbaw.de/briefe/ (20.4.2020). [MEGA] Meysenbug, Malwida v. (1982). Briefe an Johanna und Gottfried Kinkel 1849–1885. Hg. v. Stefanie Rossi u. Yoko Kikuchi. Bonn. Näf, Werner (1932). „Nach der deutschen Revolution von 1848/49. Briefe von Ludwig Pfau und Carl Vogt aus dem Exil“, in: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte, 12: 166–209. Rochau, Ludwig August v. (1972 [1853/1869]). Grundsätze der Realpolitik. Hg. u. eingeleitet v. Hans-Ulrich Wehler. Berlin 1972 (1. Teil: 1853, 2. Teil: 1869). Ruge, Arnold (1985). Werke und Briefe in 12 Bänden. Hg. v. Hans-Martin Sass. Bd. 11. Aalen (= Reprint v. Arnold Ruge (1886). Briefwechsel und Tagebuchblätter aus den Jahren 1825–1880. Hg. v. Paul Nerrlich. Bd. 2: 1848–1880. Berlin). Schurz, Carl (1965). Die Briefe von Carl Schurz an Gottfried Kinkel. Hg. v. Eberhard Kessel. Heidelberg. Uhland, Ludwig (1914/1916). Briefwechsel. Hg. v. Julius Hartmann. Teil 3: 1834–1850, Teil 4: 1851–1862. Stuttgart. Vogt, Carl (1870). Politische Briefe an Georg Kolb. Biel.

Gerald Hubmann

6.22 Der Briefwechsel Karl Marx – Friedrich Engels Der über sechzig Jahre sich erstreckende Briefwechsel des Autorenduos Karl Marx und Friedrich Engels sowohl untereinander als auch mit mehr als 2.000 Korrespondenzpartnerinnen und -partnern in nahezu allen europäischen und zehn außereuropäischen Ländern ist von außerordentlicher Bedeutung sowohl für die biographische und werkgeschichtliche Forschung als auch für die politische Geschichte des 19. Jahrhunderts. Gleichwohl ist der Briefnachlass bislang noch nicht vollständig erschlossen, vor allem die Briefe an Marx und Engels in den Jahren nach 1866 liegen noch nicht ediert vor.

1 Umfang, Überlieferungs- und Editionslage Der Briefverkehr von Marx und Engels erstreckt sich über den Zeitraum von 1835 bis 1895 und umfasst etwa 14.400 überlieferte Briefe: Knapp 1.600 Briefe enthält der Briefwechsel zwischen Marx und Engels, mehr als 2.500 Briefe haben Marx und Engels an Dritte gerichtet, etwa 10.000  Schreiben von Dritten an sie sind erhalten; hinzu kommen etwa 5.000 Briefe (von ihnen und an sie gerichtete), die nicht überliefert sind (vgl. diese und weitere Daten bei Bagaturija 2002, 335–349, insb. 13–15). Marx und Engels korrespondierten mit etwa 2.000 Personen (darunter 270 Organisationen) in allen größeren Ländern Europas sowie zehn außereuropäischen Staaten, zuvorderst den USA. Die vergleichsweise vollständige Überlieferung dieses Briefwechsels aus dem 19. Jahrhundert hat mehrere Gründe. Zunächst haben Marx und Engels bereits wechselseitig ihre Korrespondenzen gesammelt. Die Briefe von Marx gingen nach dessen Tod an Engels, dieser wiederum hat August Bebel und Eduard Bernstein als Erben des Briefnachlasses eingesetzt (vgl. Mayer 1967, 40). Zudem wurde später in der Sowjetunion großer Aufwand betrieben, um den Nachlass von Marx und Engels – darunter die Briefe – ausfindig zu machen und zu erhalten; wo dies nicht möglich war, wurden Kopien angefertigt. Bis heute gelangen gelegentlich bislang unbekannte Briefe auf den Autographenmarkt, die vor allem aus Privatbesitz stammen. Die überlieferten Originalbriefe sowie die Kopien der Korrespondenz werden zum größeren Teil am Russischen Staatsarchiv für Sozial- und Politikgeschichte (RGASPI, Moskau) aufbewahrt, ein kleinerer Teil liegt im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG, Amsterdam). https://doi.org/10.1515/9783110376531-105

6.22 Der Briefwechsel Karl Marx – Friedrich Engels 

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Die Editionsgeschichte des Briefnachlasses ist, bedingt durch die politischen Kontexte des Wirkens von Marx und Engels, von Beginn an durch Kontroversen, Selektionen und Manipulationen belastet. Die 1913 erschienene erste Ausgabe des Briefwechsels zwischen Friedrich Engels und Karl Marx 1844 bis 1883 (Marx und Engels 1913) konnte erst nach langen Auseinandersetzungen vorgelegt werden, herausgegeben von August Bebel und Eduard Bernstein im Parteiverlag Dietz. Die Debatten drehten sich darum, ob durch die Wiedergabe der derben Sprache nicht das Andenken an die Gründungsväter beschädigt, durch den Inhalt der Korrespondenz andere Personen (wie Lassalle oder Liebknecht) kompromittiert und damit der Partei insgesamt Schaden zugefügt würde. Schon früh wurde deshalb in Bezug auf den Briefwechsel zwischen Marx und Engels über „Streichungen“, „Korrekturen“ und „Reinigung“ gestritten (Rojahn 2013, 209–285). Auch wenn man hier nicht heutige editorische Standards und Intentionen zum Maßstab nehmen kann, lässt sich doch festhalten, dass der Zugang zum Briefnachlass von Beginn an stark durch parteipolitische Interessen bestimmt war. Die erste vollständige Edition des Briefwechsels zwischen Marx und Engels erfolgte in der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA1), in der die sämtlichen damals bekannten 1.569 Briefe zum Abdruck kamen (III. Abteilung: Briefwechsel, Bd. 1–4, Berlin 1929–1931). Aber auch in dieser – abgesehen von einer Modernisierung der Rechtschreibung – ersten Edition „ohne die geringste Streichung und Änderung“ findet sich eine ausführliche, politisch motivierte Polemik des Herausgebers Rjazanov gegen die „verfälschende“ Vorgänger-Edition (MEGA1 III/1, X–L). Zudem sind in der ersten MEGA keine Briefe an Dritte und von Dritten enthalten. Die Briefe von Marx und Engels an Dritte finden sich vollständig erstmals in den Marx-Engels-Werken (MEW, Bd.  27–39), wodurch das zugängliche Konvolut auf insgesamt 4.170 Briefe erweitert wurde. Mit der Publikation der Briefe auch von Dritten an Marx und Engels wurde erst in der zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA2) begonnen, deren erster Briefband 1975 erschienen ist. Die Bearbeitung der MEGA2 ist noch nicht abgeschlossen; bis dato liegen insgesamt 14 Briefbände vor, die den Briefwechsel von Marx und Engels für die Jahre 1835 bis Dezember 1865 lückenlos in historisch-kritischer Form ediert darbieten. Die chronologisch späteren Briefe werden, beginnend mit dem Jahr 1866, im Rahmen der MEGA2 nicht mehr in Buch-, sondern in digitaler Form jahrgangsweise veröffentlicht (vgl. http://megadigital.bbaw.de/index.xql). Neben einem höheren Editionstempo hat die Online-Edition für die Nutzerinnen und Nutzer vor allem den Vorteil der leichteren Zugänglichkeit und besserer Recherchemöglichkeiten. Hinzu kommt die Verknüpfung mit den Korrespondenzen anderer Autorinnen und Autoren über das digitale Recherchenetzwerk correspSearch (vgl. http://correspsearch.net/) und damit die Überwindung der Grenzen autorzentrierter Editionen.

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2 Das Autorenduo Marx und Engels: Die biographischen und werkbezogenen Dimensionen ihrer Korrespondenz Das Verhältnis zwischen Marx und Engels ist bekanntermaßen gekennzeichnet durch ihre seit 1842 bestehende, in der Nachlasspflege über das Lebensende von Marx hinausreichende enge Freundschaft und Arbeitsbeziehung. Zentrale Schriften wie die Heilige Familie, die Manuskripte zur Deutschen Ideologie oder das Manifest der kommunistischen Partei verantworten sie als Autorenduo gemeinsam, ebenso wie die Arbeit an Zeitungsprojekten und sogar Lexikonartikeln. Die briefliche Kommunikation zwischen ihnen ist in der Phase nach der Revolution von 1848, in der Marx in London, Engels in Manchester lebte, am intensivsten; nach dem Umzug von Engels nach London im September 1870 lässt sie bedeutend nach: Umfasst der Briefwechsel zwischen den beiden beispielsweise für das Jahr 1867 noch 78 Briefe, so sind für das Jahr 1878 nur sechs Briefe nachgewiesen. Aufgrund ihrer engen Verbundenheit bietet der Briefwechsel zwischen Marx und Engels tiefe Einblicke in ihre persönlichen Lebensverhältnisse. So lässt sich die finanzielle Misere der Familie Marx ebenso verfolgen wie deren durchgehende finanzielle Unterstützung durch Engels. Selbst ein schwerer Konflikt, der im Januar 1863 fast zum Bruch zwischen Marx und Engels geführt hätte  – der Grund war die mangelnde Anteilnahme von Marx angesichts des Todes von Engels’ Lebensgefährtin Mary Burns  –, ist durch die Korrespondenz lückenlos dokumentiert (vgl. MEGA2, Bd. III/12, Briefe 198–200, 204). Auch im Hinblick auf die jeweiligen familiären Verhältnisse findet sich für die biographische Forschung bedeutendes Material, so in Marx’ Brief an seinen Vater, in dem er seine Studiensituation umfassend darlegt und die Abwendung von der Jurisprudenz und die Hinwendung zur Philosophie begründet (Marx an Heinrich Marx, 10./11.11.1837, in: MEGA2 III/1, 9–18), sowie in Engels’ authentischer Schilderung der Spannungen mit seinem Vater aufgrund seiner kommunistischen Auffassungen (Engels an Marx, 17.3.1845, MEGA2 III/1, 272)  – eine Passage, die in der ersten Ausgabe des Briefwechsels durch Bebel und Bernstein übrigens zunächst „ausgemerzt“ (so Rjazanov in MEGA1 III/1, XVII) wurde. Über biographische Aspekte hinaus bietet der intensive Briefdialog umfassende Informationen zu ihrem jeweiligen Lektüre- und Arbeitsprogramm, über das sich die Autoren austauschten. So ist beispielsweise die jahrzehntelange, intensive Rezeption naturwissenschaftlicher Forschungen bei Marx (abgesehen vom Exzerpt-Nachlass) nur durch briefliche Äußerungen dokumentiert. Eine typische Passage, in der diese enzyklopädischen Forschungsinteressen zum Ausdruck kommen, lautet: „In dieser Zeit, wo ich ganz arbeitsunfähig, gelesen:

6.22 Der Briefwechsel Karl Marx – Friedrich Engels 

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Carpenter, Physiology, Lord ditto, Kölliker Gewebelehre, Spurzheim, Anatomie des Hirns u. Nervensystems, Schwann u. Schleiden über die Zellenscheisse. In der Popular Physiology v. Lord gute Kritik der Phrenologie, obgleich der Kerl religiös. Eine Stelle erinnert an Hegel’s Phänomenologie“ (Marx an Engels, 4.7.1864, MEGA2 III/12, 585). Über Jahre erstreckt sich auch die briefliche Korrespondenz zum Kapital. Hierbei steht weniger die Diskussion theoretischer Probleme im Vordergrund – der Brief an Engels vom 6. Juli 1863, in dem Marx sein „Tableau économique“ zum kapitalistischen Reproduktionsprozess übersendet, erläutert und um Stellungnahme bittet (MEGA2 III/12, 398–404), bildet eher eine Ausnahme –, sondern Engels wird in vielfacher Weise als „Practicus“ konsultiert, um Fragen der betrieblichen Abläufe und unternehmerischen Praxis zu klären (Marx an Engels, 20.8.1862, MEGA2 III/12, 212); später kommen Ratschläge von Engels zur Publikation, Distribution, Propagierung und zu Neuauflagen des Kapital hinzu. Über Engels hinaus finden sich auch in Briefen an andere Korrespondenzpartner wichtige Mitteilungen von Marx zum Kapital, wie etwa in der grundlegenden Darlegung seines „6 Bücher“-Plans zum Kapital-Projekt, das sich in einem Brief an Lassalle findet (Marx an Ferdinand Lassalle, 22.2.1858, MEGA2 III/9, 73) und bis heute Gegenstand heftiger Kontroversen in der Forschung ist. Nicht nur dieses Beispiel zeigt, dass die Auswertung der Briefkorrespondenz für die Forschung unverzichtbar ist. Dies gilt auch auf dem Feld der publizistischen Zusammenarbeit von Marx und Engels, und hier insbesondere für ihre insgesamt 465 Beiträge für die New-York Tribune, die zwischen 1851 und 1862 erschienen sind (vgl. Bochinski und Neuhaus 1982, 215–256). Da diese Korrespondenzen zur europäischen Politik zumeist anonym publiziert wurden, bildet der Briefwechsel eine wichtige Grundlage für Autorschaftsuntersuchungen in der Forschung. Zur Illustration sei der Beginn eines Briefes zitiert: „Lieber Engels, Strohn ist hier und hindert mich heute leider einen Article an die Tribune zu senden. Ich bezwecke deßhalb Freitag einen Artikel über die lezte Ministerkrise unter dem Datum Dienstag fortzuschicken und es wäre mir sehr lieb, wenn Du mir gleichzeitig einen über z.  B. die preussische Armee schicktest“ (Marx an Engels, 17.7.1855, MEGA2 III/7, 199). In Briefpassagen wie diesen werden nicht nur die Sujets genannt, über die Artikel verfasst wurden, auch die Autorschaft (Marx, Engels oder beide) geht aus ihnen hervor. So eröffnet der Briefwechsel also einerseits Einblicke in persönliche Verhältnisse und Arbeitszusammenhänge sowie intellektuelle Hintergründe und bietet damit besondere Authentizität; andererseits waren aber gerade briefliche Äußerungen von Marx gelegentlich spontan oder – im Gegenteil – taktisch motiviert, entsprechen also nicht immer den Tatsachen und können in die Irre führen, wenn sie ungeprüft übernommen werden. Dieser Vorbehalt ist etwa bei den eben genannten Autorschaftsuntersuchungen zu berücksichtigen, da die von Marx

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oder Engels verfassten Arbeiten nicht immer von den Redaktionen auch veröffentlicht wurden. Er betrifft ebenso Äußerungen über Dritte  – wie etwa die durch eine Brief-Kampagne vorbereitete Marx’sche Streitschrift gegen Carl Vogt (vgl. Jansen 2002, 49–100; MEGA2 III/10, 625–628) –, und selbst Engels verfügte durchaus nicht immer über zutreffende Informationen über die Forschungen von Marx, wie er nach dessen Tod anlässlich der Ordnung des Kapital-Nachlasses beklagt: „Er hat uns aber stets den Stand seiner Arbeiten verheimlicht“ (Engels an Pjotr Lawrowitsch Lawrow, 2.4.1883, MEW 36, 3).

3 Die Korrespondenz mit Dritten: Das politische Brief-Netzwerk von Marx und Engels Briefe waren das wichtigste Kommunikationsmedium der (illegalen) Netzwerke von Emigranten sowie der Oppositions- und Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert, und die Korrespondenz von Marx und Engels bildet hierin einen zentralen Knotenpunkt. Marx war bereits in den Konstituierungsprozess der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) involviert, er verfasste mit der Inauguraladresse im September 1864 deren programmatischen Gründungsaufruf. Seine politische Tätigkeit war seit Herbst 1864 vor allem der IAA gewidmet und erreichte in dieser Zeit ihren Höhepunkt. Die politischen und organisatorischen Fäden der IAA liefen bei Marx zusammen, insofern kommt dem Briefverkehr eine über die Marx-Forschung hinausreichende Bedeutung zu. Der intensive Briefwechsel für die Gründungsphase der IAA liegt in der MEGA2 ediert vor, es handelt sich um die Bände MEGA2 III/12 (Briefwechsel Januar 1862 bis September 1864), hier insbesondere um den Briefverkehr mit Ferdinand Lassalle und Wilhelm Liebknecht, und III/13 (Briefwechsel Oktober 1864 bis Dezember 1865). Da die Bearbeitung in der MEGA2 jedoch bislang nur bis zum Jahr 1868 reicht, sind wesentliche Teile der Briefe der Korrespondenzpartner und -partnerinnen an Marx und Engels noch nicht ediert. Der Briefwechsel soll deshalb hier nicht im Hinblick auf einzelne Personen, sondern in quantitativer Weise betrachtet werden: Bereits in den ersten Jahren der Emigration nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 steigt der Umfang ihres Briefverkehrs an (3.200 Briefe zwischen Juni 1849 und 1864) und erreicht dann in der Phase der Ersten Internationale den Gipfelpunkt (4.000  Briefe im Zeitraum von 1864 bis 1872) (vgl. Bagaturija 2002, 343–344). Insbesondere für diese Periode bleibt deshalb auf die Publikation der Briefe an Marx und Engels zu warten, da diese, sosehr sie einerseits die zentrale Rolle Marxʼ für die Erste Internationale dokumentieren, doch andererseits die Sichtweisen und Darstellungen von Marx und Engels ergänzen, relativieren oder korrigieren können. Bemer-

6.22 Der Briefwechsel Karl Marx – Friedrich Engels 

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kenswert ist, dass in den zwölf Jahren nach Marxʼ Tod (1883 bis 1895) Engelsʼ Briefverkehr auf 4.400 Briefe anwächst. Diese Korrespondenzen zeigen, wie sehr Engels – in Abstimmung mit Marx’ Tochter Laura Lafargue und anderen – um die Sicherung des intellektuellen und politischen Erbes des Freundes bemüht war. Er betrieb die Neuauflage früherer Werke und Schriften, prüfte Übersetzungen und verfasste neue Vorworte. Darüber hinaus kümmerte er sich um die Koordination der erstarkten politischen Bewegung, um Grundsatzfragen und Organisationsprobleme der Arbeiterbewegungen auf internationaler Ebene. Seine Briefwechsel geben hierüber umfassend Auskunft. So kommunizierte er im Zeitraum zwischen Oktober 1889 und November 1890 mit 130 Briefpartnerinnen und -partnern in 13 Ländern. Diese Daten ergeben sich aus dem ersten bislang in der MEGA2 edierten Band des Spätwerks, der zugleich die Bedeutung der An-Briefe noch einmal verdeutlicht: 173 Briefe an Engels werden hier erstmals, 3 erstmals vollständig und 19 erstmals in der Originalsprache veröffentlicht (MEGA2 III/30, 673).

4 Die wechselnde Bedeutung des Mediums Brief in der Marx-Rezeption Wie vorstehend gezeigt, wurde der Briefnachlass von Marx und Engels zunächst für Zwecke der Heroisierung und Parteipolitik in Anspruch genommen. Bereits im Vorfeld und dann nach Erscheinen der ersten Briefausgabe (vgl. Marx und Engels 1913) kam es zu heftigen Kontroversen über die „‚Säuberungs‘-prinzipien“ der ersten Briefausgaben und das dort propagierte Marx-Bild einerseits und die Darstellung der Parteigeschichte andererseits (Rojahn 2013, 210). Mit Beginn der Arbeiten an der ersten MEGA in den 1920er Jahren stand dann eher die Bedeutung der Korrespondenz für die biographische und werkgeschichtliche Erschließung des Œuvres im Fokus. Angesichts einer großen Anzahl anonym publizierter Schriften, nicht final ausgearbeiteter Werke (Das Kapital) oder unpubliziert gebliebener Projekte (Deutsche Ideologie) war und ist der Rekurs auf den Briefwechsel unverzichtbar. Diese auf die Autoren Marx und Engels zentrierte Perspektive wurde in den letzten Jahren erweitert durch Forschungen zu den Briefnetzwerken der 1848er Opposition insgesamt und zur frühen deutschen Sozialdemokratie, deren lokale Strukturen über Briefkommunikationen zu einer zusammenhängenden Organisation vernetzt wurden (vgl. Welskopp 2002, 105). Dem Briefwechsel kommt damit eine zentrale Bedeutung für eine sachgerechte Marx-Rezeption zu. Darüber hinaus handelt es sich um eine kulturhistorische Quelle ersten Ranges, wie bereits der  – des Marxismus gewiss unverdächtige – Historiker Hermann Oncken festhielt:

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Unübersehbar aber, von verwirrender Buntheit und nur in letzter Synthese einheitlich, ist der stoffliche Inhalt dieses Briefwechsels. Menschliches, Allzumenschliches  […] von den intimsten Kreisen des Hauses wird man unaufhörlich in den weitest gespannten Rahmen der Weltpolitik und Weltwirtschaft versetzt, Klatsch und Zank des Tages wechseln mit den Tiefen philosophischer Spekulation und ökonomischer Einsicht. Diplomatie und Krieg aller Völker, die Interna der englischen Politik, in einer gewissen Entfernung der leidenschaftlich verfolgte Gang unserer deutschen Entwicklung in den Jahrzehnten der Einigung; […] Presse, Broschüren, Resolutionen, Blaubücher und parlamentarische Reports, ein Kleinkampf von aufreibender Kleinlichkeit, aber immer über alle Völker, von Rußland bis nach Amerika sich spannend: was zieht nicht an Menschen, an Namen und Namenlosen hier vorüber. (Oncken 1914, 213)

Zitierte Literatur Bagaturija, Georgij (2002). „Die Briefpartner von Karl Marx und Friedrich Engels“, in: Politische Netzwerke durch Briefkommunikation. Briefkultur der politischen Oppositionsbewegungen und frühen Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Hg. v. Jürgen Herres u. Manfred Neuhaus. Berlin: 335–349. Bochinski, Hans-Jürgen u. Manfred Neuhaus (1982). „Marx und Engels und die New-York Tribune“, in: Marx-Engels-Jahrbuch, 5: 215–256. Jansen, Christian (2002). „Politischer Streit mit harten Bandagen. Zur brieflichen Kom­mu­ni­ka­ tion unter den emigrierten Achtundvierzigern – unter besonderer Berücksichtigung der Kontroverse zwischen Marx und Vogt“, in: Politische Netzwerke durch Briefkommunikation. Briefkultur der politischen Oppositionsbewegungen und frühen Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Hg. v. Jürgen Herres u. Manfred Neuhaus. Berlin: 49–100. Marx, Karl u. Friedrich Engels (1913). Der Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und Karl Marx 1844 bis 1883. Hg. v. August Bebel u. Eduard Bernstein. 4 Bde. Stuttgart. Marx, Karl u. Friedrich Engels (1929–1931). Historisch kritische Gesamtausgabe. Werke, Schriften, Briefe. Im Auftrage des Marx-Engels-Instituts Moskau hg. von D. Rjazanov. Dritte Abt.: Briefwechsel. Bd. 1–4. Berlin. [MEGA1] Marx, Karl u. Friedrich Engels (1975–2013). Gesamtausgabe. Hg. v. den ZKs der KPDSU und der SED (bis 1990). Hg. v. d. Internationalen Marx-Engels-Stiftung (seit 1993). Dritte Abt.: Briefwechsel. Bd. 1–13; Bd. 30. Berlin. (In Bearb.) [MEGA2] Marx-Engels-Werke (1956–1968/1989). Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. 39 Bde. u. 4 Erg.bde. Berlin. Abt.: Briefe. Bd. 27–39 (1957–1968). [MEW] Mayer, Paul (1967). „Die Geschichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs und das Schicksal des Marx-Engels-Nachlasses“, in: Archiv für Sozialgeschichte, 6/7: 4–198. Oncken, Hermann (1914). „Marx und Engels“, in: Preußische Jahrbücher, 155: 209–256. Rojahn, Jürgen (2013). „‚Er soll den beiden Alten ein Denkmal setzen…ʻ Die Entstehung der Ausgabe des Marx-Engels-Briefwechsels von 1913“, in: Marx-Engels-Jahrbuch 2012/2013. Berlin: 209–285. Welskopp, Thomas (2002). „Vernetzte Vereinslandschaften. Zur Briefkommunikation in der frühen deutschen Sozialdemokratie“, in: Politische Netzwerke durch Briefkommunikation. Briefkultur der politischen Oppositionsbewegungen und frühen Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Hg. v. Jürgen Herres u. Manfred Neuhaus. Berlin: 101–117.

6.22 Der Briefwechsel Karl Marx – Friedrich Engels 

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Weiterführende Literatur Herres, Jürgen u. Manfred Neuhaus (2002) (Hg.). Politische Netzwerke durch Brief­kommu­ ni­kation. Briefkultur der politischen Oppositionsbewegungen und frühen Arbeiter­ bewegungen im 19. Jahrhundert. Berlin. Sperl, Richard (2005). „Marx-Engels-Editionen“, in: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hg. v. Rüdiger Nuth-Kofoth u. Bodo Plachta. Tübingen: 329–360.

Thomas Welskopp

6.23 Briefnetzwerke der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert 1 Briefkommunikation in der frühen deutschen Sozialdemokratie Für eine Untersuchung der Briefnetzwerke der Arbeiterbewegung im 19.  Jahrhundert gilt es nicht, den ‚Brief‘ als literarisches Genre zu betrachten, sondern als Medium der Kommunikation. Mit dem Verfassen schriftlicher Nachrichten war für die zeitgenössischen Akteure kaum jemals etwas anderes als ein unmittelbar praktischer Zweck verbunden, zumal die Fähigkeiten, sich mittels der Feder auszudrücken, enorm variierten. Trotzdem muss man im Fall der frühen deutschen Arbeiterbewegung von einem im internationalen Vergleich geradezu sensationellen Grad von Schriftlichkeit ausgehen. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung beruhte auf Kommunikationsformen der Kopräsenz und der Faceto-Face-Interaktion. Das legte sie in erster Linie auf lokale Verkehrsformen fest und prägte den Modus translokaler Kommunikation als netzwerkartig verzweigte Kanäle bilateralen Austauschs. Das geschah per Brief. Dieser Modus der Integration eigentlich lokal situierter Praxisreservate war dabei in dieser Zeit des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts nicht auf die Arbeiterbewegung beschränkt. Auch Unternehmen, die Betriebe an mehreren Standorten unterhielten, regelten das zentrale Management bis in die 1870er Jahre weitgehend per Briefkommunikation (vgl. Welskopp 1994, 195).

2 Kommunikationsbedingungen in einer politischen Kultur der Kopräsenz Das organisatorische Rückgrat der frühen deutschen Sozialdemokratie war der lokale Arbeiterverein. Eine ‚allgemeinpolitische‘, auf nationale und politische Systemfragen fokussierte Ausrichtung war sein Kennzeichen. Diese Charakterisierung galt bereits für die der Allgemeinen deutschen Arbeiterverbrüderung angeschlossenen Vereine zwischen 1848 und 1850; sie galt für die lokale Basis des Vereinstages deutscher Arbeitervereine, der sich 1868 von seinen nationalliberal dominierten Zweigen trennte, und für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die „Eisenacher“, deren Gründung im Jahre 1869 sich der Initiative des https://doi.org/10.1515/9783110376531-106

6.23 Briefnetzwerke der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert 

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radikaldemokratischen „Vereinstags“-Flügels um August Bebel und Wilhelm Liebknecht verdankte. Sie galt aber auch für den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein Ferdinand Lassalles (1863), obwohl sich dieser in seinen Statuten als eine über Gesamtdeutschland verbreitete, zentralistisch gesteuerte Organisation ohne Zweigvereine bezeichnete. Das eigentliche Innenleben sämtlicher Arbeiterassoziationen spielte sich in den lokalen Gliederungen ab, und da machte es keinen Unterschied, welchem Dachverband man sich angeschlossen hatte. Die Arbeitervereine boten für die Handwerksgesellen, kleinen Meister, lokalen Geschäftsleute und ärmlichen Intellektuellen, die sich dort trafen, eine soziale Heimat. Isolation am Arbeitsplatz, Ausgrenzung aus dem sozialen Raum der Städte und die Übermacht eines als bedrückend empfundenen doppelten Herrschaftsdrucks von Obrigkeitsstaat und Kapital trieben sie in einen sozialen Parallelkosmos, in dem sie sich als vollberechtigte Bürger, Produzenten und Männer auf der Basis eines freiwilligen Zusammenschlusses ausleben konnten. Der Verein war der Ort, an dem Freundschaften entstanden, geselliges Trinken und Rauchen florierte und Unterhaltung geboten wurde. Eine symbolische Überhöhung erfuhr diese Geselligkeitskultur dadurch, dass hier beständig über die Identität einer sozialen Gruppe verhandelt wurde, die erst auf dieser Basis des überberuflichen Diskurses als ‚Arbeiterschaft‘, entstand. Der Verein avancierte zur Bühne für eine selbstbewusste Form der ‚Volkspolitik‘. In den Diskussionen und ‚Volksversammlungen‘ war das gesprochene Wort Trumpf. Es dominierte das Ideal des freien Diskurses unter gleichberechtigten Männern, die mit der Macht des stärkeren Arguments dem ‚legitimen Volkswillen‘ Geltung verschaffen sollten. Die Verpflichtung zum mutigen Engagement, die man mit den Rechten des vollwertigen Bürgers verband, wurde gleichbedeutend mit der Entschlossenheit, vor dem versammelten ‚Volk‘ in öffentlicher Rede das Wort zu ergreifen. Der rhetorisch geschliffene ‚Volksredner‘ personifizierte den demokratischen ‚Staatsbürger‘ schlechthin. Nahezu alle aktiven Mitglieder der sozialdemokratischen Organisationen zwischen Vormärz und Sozialistengesetz, über die sich biographische Informationen erhalten haben, waren zunächst als Redner hervorgetreten. Die kommunikative Kultur der deutschen Sozialdemokratie in ihrer Entstehungsphase war eine mündliche, eine Face-to-Face-Kultur, die auf die Kopräsenz der Akteure angewiesen war. Nicht alle Arbeitervereine waren in dieser Hinsicht auf der gleichen Höhe ihrer organisatorischen Entwicklung. Alle hatten mit einer immensen Fluktuation zu kämpfen, die durch viele Faktoren gefördert wurde, nicht zuletzt durch die Verpflichtung der Mitglieder auf Beitragszahlung. Aber die Vereine unterschieden sich deutlich in ihrem Umfang, in der Zahl der aktiven Mitglieder, der Vitalität ihres internen Soziallebens und ihrer Ausstrahlungskraft. Es gab überregional ausgreifende Zentren wie Hamburg, Leipzig, Nürnberg, das Wuppertal, bald

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Braunschweig und erst später Berlin. Neben solchen hegemonialen Gliederungen existierten starke lokale Vereine, die bei geringerer Mitgliederzahl gleichwohl ein vitales Organisationsleben besaßen, eigene Führungspersönlichkeiten herausbildeten und auf ihr Umland einwirkten. Autonome Gliederungen, wie sie hier heißen sollen, waren z.  B. Frankfurt am Main, Bremen und Dresden sowie einige südwestdeutsche Städte. Vor allem die westsächsischen Hochburgen der frühen Sozialdemokratie mit ihren Zentren in Chemnitz, Crimmitschau, Glauchau und Meerane zeichneten sich durch eine hohe Dichte autonomer Gliederungen aus. Von Vereinen dieser beiden Typen gingen oft Initiativen aus, in benachbarten kleineren Städten sozialdemokratische Gruppierungen zu gründen. Daraus konnten an vielen Orten Gliederungen entstehen, die, einmal auf die Füße gestellt, selbständig mit ihnen gehen lernten. Trotzdem waren solche autonomen Koloniegründungen wie etwa Solingen, Mönchengladbach, Rendsburg, Neumünster oder die Weberstädte um Berlin – von Bernau bis Luckenwalde – auf die Verbindung zu stärkeren Zentren angewiesen, denn es mangelte an Führungspersonal, Ressourcen und Debattenstoff (vgl. Welskopp 2000, 114–116). Aber das Mindestmaß an eigener Organisationsfähigkeit und sozialer Anschlussfähigkeit unterschied Gliederungen dieses Typs von Satellitengründungen, die nur von außen zu mobilisieren waren, kein eigenes Organisationsleben entwickelten und von der ‚Blutzufuhr‘ von ‚Patengemeinden‘ abhängig blieben (vgl. Welskopp 2000, 121–125).

3 Translokale Kommunikations- und Vernetzungsformen in der Sozialdemokratie Untereinander waren die sozialdemokratischen Arbeitervereine, vor allem, wenn sie benachbart waren, auch in erster Linie über die Herstellung von Kopräsenz und über Face-to-Face-Kontakte verbunden. Die Vereine besuchten einander zu Gelegenheiten wie gemeinsamen ‚Lustpartien‘ oder den Stiftungsfesten. Es wurden Redner ausgetauscht. Hegemoniale und autonome Gemeinden sandten regelmäßig ihre besten Redner auf Agitationstour; im ADAV avancierte die Agitation zeitweise zu einem Hauptberuf. Zu ‚Volksversammlungen‘ lud man befreundete Vereine ein, um Rückhalt gegen Liberale oder feindliche sozialdemokratische Kräfte zu gewinnen; überregionale Kongresse wiederum zogen die Delegationen vieler lokaler Gliederungen an, sofern sie sich eigene Abordnungen leisten konnten. Auf dem Postwege kursierte Broschürenliteratur. Stärker integrierend wirkten die früh erscheinenden Zentralorgane: Der Social-Demokrat (später Neuer Social-Demokrat) des ADAV, das Demokratische Wochenblatt und die Deutsche Arbeiterhalle im Umfeld des Verbandes deutscher Arbeitervereine,

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Der Volksstaat der „Eisenacher“ und schließlich der Vorwärts, Parteiblatt der vereinigten Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands seit 1876.

4 Die zentrale Rolle der Briefkommunikation für die Integration einer dezentralen Vereinspartei Alle diese Kommunikations- und Integrationsformen waren von den Initiativleistungen der Mitglieder vor Ort abhängig. Diese verständigten sich untereinander per Brief. Die Vorbereitung, Koordination, inhaltliche Ausgestaltung der Veranstaltungen und schließlich die Berichterstattung über sie erfolgten durchweg per Briefkommunikation. Dabei waren ideologische Bekenntnisse eher selten. Es dominierten die technische Information, die taktische Abwägung, die Abstimmungsprobleme, die Berichte über die Stärke und Gestalt der eigenen Gliederung und der Gegner, die Schilderung von Stimmungslagen an der Basis und die immer präsente Werbung um gute Redner und zusätzliche Ressourcen. So erhält man tiefe Einblicke in den organisatorischen Alltag der Bewegung. 1870 schrieb der junge Zigarrenarbeiter Otto Häusler an August Bebel: Ich bin in Gera längere Zeit Mittglied der S.  D. Arbeiterpartei gewesen, leider war es nicht für immer meines bleibens da, wegen geringen verdienst. Ich verließ daher Gera, und kam nach Frohburg. Weil der Verein hier noch nicht bestehth so ging mein Bestreben erst dahin, meine Collegen und guten Freunde, von den Prinziebchen und Bestrebungen der So. Demokraten zu unterrichten, so weit es in meiner Macht lag. (Otto Häusler an August Bebel, 15.1.1870; SAPMO-BArch, NY 4022/109)

Häusler wandte sich an Bebel mit dem Anliegen, in Frohburg eine Versammlung abzuhalten, in deren Rahmen er einen sozialdemokratischen Arbeiterverein zu gründen plante. Er hatte Bebel beim „gemüthlichen“ Ausklang einer Volksversammlung in Gera kennengelernt: „Als wier nach der Versammlung aus dem Lade Saal nachs Bellewü gegangen waren saßen Sie, Herr Motteller und Herr [Brätter] an einem Tisch und ich nahm mir die Erlaubniß auf einige Minuten zu Ihnen zu setzen und sprach einiges mit Motteller. Ich bin Cigarrenarbeiter.“ Bebel solle einen Agitator schicken oder – besser – selber kommen. So drängte er: Ich habe nun Lust Plakate drucken zu lassen. […] Ich weiß nun aber nicht was ich auf die Tagesordnung setzen soll. Ich ersuche sie deshalb hierüber zu Bestimmen.  […] Ich habe bereits schon kleine Versammlungen unter der Hand abgehalten. Meine ganzen Bemühungen sind mit guten Erfolge gekrönt. (Otto Häusler an August Bebel, 15.1.1870; SAPMO-BArch, NY 4022/109)

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Von der schließlich am 24.  April 1870 abgehaltenen Versammlung berichtete Häusler jedoch enttäuscht: Es kommt mir sehr erwünscht das sie selbst einmal nach Frohburg kommen wollen, es wäre freilich besser gewesen wen sie das vorige mahl hätten kommen können, sie können sich den Schaden nicht erdenken, den uns ihr Ausbleiben gebracht hat. Hätten wier keine Versammlung gehalten, wären wier hier bedeutend weiter. Ich war mit Dittmar durchaus nicht zufrieden. Er hat einen ganz schlechten Eindruck gemacht. 1tens grief er die ganze Sache zu schroff an und 2tens lies er die Hauptpunkte unerklärt. Deshalb kommt es das die Leute die ganze Sache falsch aufgefasst haben. (Otto Häusler an August Bebel, 23.1. und 24.4.1870; SAPMO-BArch, NY 4022/109)

Über diese Form des Briefwechsels lässt sich die leibhaftige Vernetzung der Vereine untereinander lebendig rekonstruieren. Zudem tritt uns der aktive Kern der lokalen Mitgliedschaften als Gruppe von identifizierbaren Akteuren gegenüber. Sozialprofile werden deutlich, Freundschaften und Feindschaften bekannt, Einblicke in die familiären Situationen eröffnet und schließlich scheint die Organisationskultur der Bewegung an dem Ort, an dem sie sich manifestierte, in den Beschreibungen in all ihren Facetten auf. Selbst die in den Vereinsteilen der Zeitungen abgedruckten Veranstaltungsberichte waren in der Regel redaktionell nur wenig überarbeitete briefliche Zuschriften der lokalen Mitgliedschaften. Der Bestand an eingegangener Korrespondenz, der sich im Nachlass August Bebels findet, verteilt sich auf mehrere Archive und umfasst mehrere Tausend Briefe. Über diese Briefe erschließt sich eine allgemeine Lokalgeschichte der frühen deutschen Sozialdemokratie, die an vielen Orten zugleich stattfand. Vielfältig geht es um eine Vorstellung der lokalen Vereine, eine Schilderung der jeweiligen Verhältnisse, die den Anschluss einer örtlich begrenzten Assoziation an eine deutschlandweite Bewegung zum Ausdruck brachte und in der Hoffnung übermittelt wurde, die Dachorganisation möge der lokalen Gliederung mit der Entsendung zugkräftiger Redner oder mit Sach- und Finanzhilfen unter die Arme greifen. Ein zweiter Typus der Korrespondenz befasste sich mit der Vorbereitung und Organisation von Versammlungen und anderen Veranstaltungen bzw. berichtete über deren Ablauf in einer der Kriegsberichterstattung entlehnten Rhetorik (vgl. Welskopp 2000, 312–315). Da die Briefpost z.  B. in Sachsen zeitweise dreimal am Tag ausgetragen wurde, konnte man auf diese Weise per Kurzmeldung extrem schnell und kurzfristig reagieren und etwa Redner spontan umdirigieren, wenn sich starke Gegner in einer Versammlung angekündigt hatten. Die Briefkommunikation, ergänzt durch das neuartige Nachrichtenmedium der Telegraphie, das die Sozialdemokratie trotz hoher Kosten nutzte wie heute Twitter, erlaubte in Kombination mit den damals gängigen Transportmitteln – dem Pferdeomnibus und der Eisenbahn – eine Reaktionszeit von einem halben Tag Vorlauf.

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5 Vielfalt der Formen und Inhalte Die erwähnten Berichte waren oft persönlich gefärbt und enthielten Charakterskizzen von Freund und Feind. Sie repräsentierten den gängigen Modus der Fühlungnahme zwischen Vereinsbasis und Zentralorganisation und waren in eher abgelegenen Gebieten in der Regel die einzige Quelle der Information über die dortigen lokalen Organisationen. Das spiegelt sich in der Materialität der überlieferten Briefe. Papier scheint ein knappes, kostspieliges Gut gewesen zu sein (vgl. Müller 2014). Julius Motteler schrieb an Bebel in winziger Schrift auf in unregelmäßigen Winkeln ausgeschnittenen kleinen Papierstücken; Buchdrucker und Schriftsetzer nutzten die Rückseiten von Makulatur, Metallhandwerker verwendeten gern Reste des für technische Zeichnungen vorgesehenen rautierten Papiers. Hier kamen auch die im Arbeitsalltag nützlichen Kopierstifte zum Einsatz; in vielen anderen Briefen wurde die Schrift nicht nach abgeschlossenen Wörtern abgesetzt, sondern erst, wenn die Tinte an der Feder erschöpft war. In der Briefkommunikation der Sozialdemokratie tritt uns die aktive Mitgliedschaft vor Ort, die Männer aus der dritten und vierten Reihe, die die Bewegung maßgeblich trugen, in Selbstzeugnissen und Fremdbeobachtungen plastisch entgegen. Personalien und politische Verabredungen, Stimmungsberichte und taktische Zielsetzungen vermischen sich nicht selten mit Geschäftlichem und Privatem. So erfährt man von der Überbeanspruchung des Magdeburger Böttchermeisters Julius Bremer durch die Nachtwachen am Bett seines kranken Kindes, von dem Gesuch des Eisenacher Schneidermeisters Carl Leinhos um Vermittlung eines Gesellen, von den gesundheitlichen Problemen des Braunschweiger Getreidehändlers und Verlegers Wilhelm Bracke und vom Einzug des Dresdner Schuhmachergesellen Moritz Kobitzsch in eine eigene Bleibe, zwei ärmliche Stuben in der Wohnung eines Schuhmachermeisters Simon auf der vierten Etage eines Hinterhauses. Bracke charakterisierte 1870 den gerade verhafteten Ersten Sekretär der „Eisenacher“ SDAP, den Wiesbadener Techniker und Gewerbeschullehrer Leonhard von Bonhorst, in einem Brief an Bebel: „Der arme Bonhorst! Und doch möchte ich ihm zürnen wegen seiner überspannten Ideen. Jetzt, nachdem ich die Wiesbadener weltbewegenden Pläne kenne, weiß ich auch, warum er eine Flugmaschine erfinden will. Das ist ja als ‚Verkehrsmittel‘ das nothwendige Dritte im Bunde! Komisch, komisch! Und dabei diese ‚Sicherheit‘, das kurze, abstoßende Wesen gegen die meisten Menschen, das ‚Aus der Kiepehucken‘ u.s.w.! Wunderbarer Charakter!“ (Wilhelm Bracke an August Bebel, 1.2.1870; SAPMO BArch NY 4022/99) Zugleich künden die Briefwechsel aus den lokalen Gliederungen vom mühsamen Geschäft des Organisationsalltags. Es waren letztlich überschaubare Netzwerke der wirklich aktiven Mitglieder, die die Fäden in der Hand hielten und

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auch die Kommunikationsverbindungen zu anderen Vereinen und zur Zentrale aufrechterhielten. „Nimm es nur nicht übel, dass ich so selten schreibe“, bat der Vorsitzende des Braunschweiger Parteiausschusses Bracke Bebel im Dezember 1869, „aber ich habe zu viel zu thun. Die Arbeit im Ausschuß, so weit sie Leber nicht thut, ist meine Sache; Spier ist zum Arbeiten zu gut, dagegen zum Denken ganz ausgezeichnet! Er ist ein guter treuer u. gescheiter Kerl, aber ich habe mich über ihn diese Zeit, wo Bonhorst nicht da ist, einige male böß geärgert.“ (Wilhelm Bracke an August Bebel, 8.12.1869; SAPMO BArch NY 4022/99) Auch die ‚Eroberung‘ neuer Territorien durch die ‚fliegende‘ oder ‚stabile‘ Agitation hatte Briefkommunikation zur Voraussetzung. Die Agitatoren konnten nicht ‚auf blauen Dunst hin‘ in die Städte reisen, in denen sie die Gründung sozial­ demokratischer Arbeitervereine zu initiieren planten. Stets schickte man Briefe voraus, die einen Besuch ankündigten, dazu aufriefen, Säle zu mieten und Versammlungen einzuberufen sowie auf den Druck von Plakaten und Flugblättern drängten. Es musste am Zielort bereits eine zumindest kleine Gruppe von Vertrauenswürdigen geben, die als Adressaten solcher Schreiben in Frage kamen. Entsprechend nachgefragt waren für die Agitation ‚gute Adressen‘ als Anlaufpunkte der Kontaktanbahnung.

6 Struktur des sozialdemokratischen Briefnetzwerks Die Briefkommunikation zwischen den frühen deutschen Sozialdemokraten ist in den angeführten Archivbeständen dicht gebündelt. Das bedeutet natürlich nicht, dass es sich um ein vollständiges oder auch nur irgendwie geschlossenes Korpus handeln könnte. August Bebel, Wilhelm Liebknecht und die rasch wechselnden charismatischen Führer von ADAV und LADAV haben Hubs („Nodes“, Knoten) im Briefnetzwerk der frühen deutschen Arbeiterbewegung gebildet, und sie haben auch direkte Briefkontakte zwischen lokalen und regionalen Gliederungen der Sozialdemokratie vermittelt, die dann überlieferungstechnisch kaum mehr aufzuspüren sind. Die überragende Bedeutung der Briefkommunikation für den Zusammenhalt der frühen deutschen Sozialdemokratie ist Indiz dafür, dass sie noch keine hierarchisch gestaffelte Organisation mit spezialisierten internen Kommunikationskanälen war, sondern ein locker geknüpftes Netzwerk autonomer lokaler Vereine. Die dialogische Struktur dieses Kommunikationsmediums machte das Verbindunghalten von der kontinuierlichen Initiative vor Ort abhängig. Die Führungszentren der Bewegung dienten als Knotenpunkte der Kommunikation. Ein Groß-

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teil der innerorganisatorischen Verständigung lief über eine Vielzahl bilateraler Kontakte zwischen der lokalen Vereinsbasis und der Zentrale ab. Erst 1875 war die nun vereinigte deutsche Sozialdemokratie in der Lage, sich zwei vollbesoldete Sekretäre zu leisten. Für viele führende Parteigenossen mochten die Versammlungen und das öffentliche Reden die Kür ihres Engagements sein; ihre Verantwortlichkeit für die Korrespondenz, die unerlässlich für die Integration der Bewegung war, war die mühselige Pflicht des Organisationsalltags. Über den Verband der deutschen Arbeitervereine in den Jahren 1868 und 1869 berichtete August Bebel in seinen Memoiren: Der Verkehr und die daraus entstehende Korrespondenz mit den Vereinen wuchs allmählich ins Riesenhafte. Am Schlusse des ersten Geschäftsjahres – Ende August 1868 – betrug die Zahl der Eingänge nur 253, die der Ausgänge nur 543, immerhin erheblich mehr als bisher. Aber vom Nürnberger Vereinstag September 1868 bis zum Eisenacher Kongreß Anfang August 1869 erreichten die Eingänge die Zahl 907, die Ausgänge die Zahl 4.484, darunter die größere Hälfte Streifbandsendungen, alles übrige waren Briefe und oft lange Briefe von mir. (Bebel 1986, 136–137)

Das Netz der Briefkommunikation in der frühen deutschen Sozialdemokratie bildete die Kräfteverhältnisse der Vereinslandschaften und die Wechselbeziehungen zwischen den Vereinen exakt ab. In nahezu jeder hegemonialen Gemeinde fand sich ein Knotenpunkt dieses Kommunikationsnetzes, der durch den Kern der aktivsten Mitglieder gebildet wurde. Bei überregionalen Führungsfiguren wie August Bebel konzentrierten sich die Nachrichtenverbindungen vereinslandschaftsübergreifend. Wilhelm Liebknecht besaß europa-, wenn nicht weltweite Briefkontakte eher zu Vertretern eines publizistisch und journalistisch tätigen Milieus, das Parteigrenzen übergriff. Als Kommunikationsschwerpunkte lassen sich Hamburg für den norddeutschen Raum, Leipzig, Dresden, Glauchau und Chemnitz für die sächsisch-thüringische Region, Berlin, Braunschweig, Stuttgart und das Wuppertal bzw. auch Solingen ausmachen. In Köln, Düsseldorf und Hannover waren äußerst schreibfreudige Einzelpersonen (zumeist mit einer revolutionären Vorgeschichte im Bund der Kommunisten) ansässig, etwa der mit Marx befreundete Arzt Louis Kugelmann, der zeitweilig eine Art Liaisonoffizier zwischen der mitteldeutschen Sozialdemokratie und den Londoner Exilanten war. Ganz deutlich muss aber hervorgehoben werden, dass Karl Marx und Friedrich Engels weit entfernt davon waren, im Mittelpunkt des sozialdemokratischen Kommunikationsnetzes zu stehen. Die Vereinslandschaften waren untereinander autonom vernetzt; in ihrer Briefkommunikation spielte der Bezug auf die Londoner nur eine untergeordnete Rolle. Und die Beziehung zur Internationalen Arbeiterassoziation wurde eher über den Bürstenbinder Johann Philipp Becker, den Leiter der deutschsprachigen Sektion in Genf, aufrechterhalten. Vielleicht ist

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dies symptomatisch dafür, dass Marx und Engels, jedenfalls in den 1860er/1870er Jahren, die deutschen Verhältnisse nur aus ‚zweiter Hand‘ beobachten konnten. Sicherlich standen sie als politische Akteure nur in zweiter Reihe.

7 Ausdifferenzierung der Kommunikation im Übergang zur formalen Organisation Erst Anfang bis Mitte der 1870er Jahre weichte das Monopol auf, das die briefliche Korrespondenz in der Kommunikation der Bewegung besessen hatte. Vor allem die Expansion der sozialdemokratischen Lokalpresse trug hierzu bei. Die kleine Reichstagsfraktion begann, zu einem eigenständigen Kommunikationszentrum aufzusteigen, das sich auch über andere Kanäle – wie die allgemeine Tagespresse oder die Protokolle der Reichstagssitzungen – mitzuteilen verstand. Die zunehmende Prominenz der führenden Sozialdemokraten ermöglichte neue symbolische Formen der Massenkommunikation. Und schließlich avancierte die immer perfektere Organisation der Wahlkämpfe zu einer Kommunikationsmaschinerie, die intern straff hierarchisch gegliedert war und über die Medien der Plakate, der Flugschriften und der Wahlzettelverteilung Zugang zur Sympathisanten- und potentiellen Wählerschaft suchte. Erst jetzt bildete sich auch ein abgegrenztes, in Arbeitervierteln konzentriertes sozialdemokratisches Sozialmilieu heraus, in dem lebensweltliche Verbindungen für eine Kommunikation der ‚kurzen Wege‘ sorgten. Die Kommunikationskanäle in der deutschen Sozialdemokratie wurden hierarchischer und an der Basis informeller. Während der Stellenwert der Faceto-Face-Kommunikation groß blieb, stellte sich die übergreifende Integrations­ kommunikation zunehmend von Netzwerk auf ‚Flow‘ um. Parteipresse, Wahlkampforganisation und Milieubindungen retteten die Bewegung über die Durststrecke des Sozialistengesetzes hinweg, obwohl gerade in dieser Zeit Briefe weiter eine unverzichtbare Kommunikationsfunktion erfüllten.

Zitierte Literatur Bebel, August (1986). Aus meinem Leben. Ungek. Ausg. mit einer Einleitung v. Brigitte Brandt. Berlin u. Bonn. Fischer, Ilse (Hg.) (1994). August Bebel und der Verband Deutscher Arbeitervereine 1867/68. Brieftagebuch und Dokumente. Bonn. Liebknecht, Wilhelm (1973). Briefwechsel mit deutschen Sozialdemokraten. Bd. I: 1862–1866. Hg. v. Georg Eckert. Assen.

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Müller, Lothar (2014). Die Epoche des Papiers. München. Welskopp, Thomas (1994). Arbeit und Macht im Hüttenwerk. Arbeits- und industrielle Beziehungen in der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von den 1860er bis zu den 1930er Jahren. Bonn. Welskopp, Thomas (2000). Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz. Bonn.

Archiv-Quellen Archiv der sozialen Demokratie, Bonn, Bestand Frühzeit der Arbeiterbewegung [AdsD, FdA]. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv [SAPMO]. – SAPMO-BArch, NY 4022, Bestand August Bebel. – SAPMO-BArch, RY 15, Bestand LADAV.

Weiterführende Literatur Bebel, August u. Julie Bebel (1997). Briefe einer Ehe. Hg. v. Ursula Herrmann. Bonn. Gotthardt, Christian (1992). Industrialisierung, bürgerliche Politik und proletarische Autonomie. Voraussetzungen und Varianten sozialistischer Klassenorganisationen in Nordwestdeutschland 1863 bis 1875. Bonn. Held, Adolf (1873). Die deutsche Parteipresse der Gegenwart. Leipzig. Hirsch, Carl (1876). Die Parteipresse. Ihre Bedeutung und Organisation. Leipzig. Offermann, Toni (Hg.) (2001). Die erste deutsche Arbeiterpartei. Organisation, Verbreitung und Sozialstruktur von ADAV und LADAV 1863–1871. Bonn. Schmidt, Jürgen (2013). August Bebel. Kaiser der Arbeiter. Biografie. Zürich. Schmidt, Jürgen (2018). Brüder, Bürger und Genossen. Die deutsche Arbeiterbewegung zwischen Klassenkampf und Bürgergesellschaft 1830–1870. Bonn. Welskopp, Thomas (2002). „Vernetzte Vereinslandschaften. Zur Briefkommunikation in der frühen deutschen Sozialdemokratie“, in: Politische Netzwerke durch Briefkommunikation. Briefkultur der politischen Oppositionsbewegungen und frühen Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Hg. v. Jürgen Herres u. Manfred Neuhaus. Berlin: 110–115.

Kathrin Fehringer

6.24 Gustave Flaubert 1 Erfassung und Bedeutung von Flauberts Korrespondenz Gustave Flaubert (1821‒1880) gilt als einer der wichtigsten Autoren der Literaturgeschichte. Mit seinem Erstling Madame Bovary (1857) begründet er den modernen europäischen Roman. Einen Großteil dessen, was über Flaubert bekannt ist, weiß man aus seiner umfangreichen Korrespondenz, die er mit zahlreichen namhaften Personen seiner Zeit unterhielt. Sie stellt ein wertvolles zeit- und ideen­ geschichtliches Dokument über das künstlerische, gesellschaftliche und politische Frankreich des 19. Jahrhunderts dar. Denn anders als etwa die Tagebücher der Chronistenbrüder Goncourt waren Flauberts Briefe nicht für eine eventuelle Veröffentlichung gedacht. Sie zeugen daher von einem unzensiert intimen, klarsichtigen, komplexen Blick auf das 19. Jahrhundert. Dabei erweist sich Flaubert als viel offener und neugieriger als die von ihm analysierte und verachtete Bourgeoisie, deren bêtises (Dummheiten) er in seinen Romanen den Prozess macht. Flaubert war über die Maßen belesen; er verfügte über profunde Kenntnisse der französischen Literatur seit der Renaissance, der griechischen und römischen Antike sowie der deutschen und englischen Literatur. So eröffnen die in seinen Briefen unternommenen tiefgründigen Überlegungen zu den alten und neuen Denkern und Dichtern, aber auch zu wissenschaftlichen Texten ‒ insbesondere zu Biologie und Medizin ‒ einen idealen Zugang zu seiner Persönlichkeit und seinem literarischen Werk (vgl. Bruneau 22008 [1973], XXVII‒XXVIII). Als Geburtsorte eines bahnbrechenden neuen Stils, der Flauberts in seiner Korrespondenz geführten intensiven Auseinandersetzung mit der alten und modernen Welt entsprungen ist, zählen diese Briefe sprachlich zu den schönsten der Literaturgeschichte. Auf diesen Stil und damit auf Flauberts Korrespondenz haben sich Generationen berühmter Autoren*innen bezogen und ihrerseits die Kunst des Erzählens über das 19. Jahrhundert hinaus revolutioniert. Dazu gehören Marcel Proust mit seinem Monumentalwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913‒1927) oder, noch hundert Jahre nach Madame Bovary, die Autoren des Nouveau Roman wie Alain Robbe-Grillet und Nathalie Sarraute (1950er bis 1970er Jahre). Der Surrealist André Gide urteilte nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs sogar: „Ich habe Flaubert so geliebt! […] Seine Korrespondenz hat mehr als fünf Jahre lang auf meinem Nachttisch die Bibel ersetzt“ [„J’ai tant aimé Flaubert! […] Sa correspondance a durant plus de cinq ans, à mon chevet, remplacé la https://doi.org/10.1515/9783110376531-107

6.24 Gustave Flaubert 

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Bible“] (zit. n. Barnes 1995, 7; Übers.  d. Verf.). Jean-Paul Sartre bezeichnete Flauberts Briefe als „ideales Beispiel freier Assoziation auf einer präfreudianischen Couch“ und meinte damit Flauberts darin bekundete sexuelle Offenherzigkeit, seine ungestüme Intelligenz wie auch seinen flüssigen Stil (Barnes 1995, 7). Dieser Stil hat die Übertragung der Flaubert’schen Briefe in andere Sprachen bis heute höchst anspruchsvoll gemacht und zahlreichen französischen Autor*innen die Mängel des eigenen Stils vor Augen gehalten. So ließ Sartre in seiner FlaubertBiographie L’idiot de la famille (1971‒1972, dt.: Der Idiot der Familie, 1977–1980), obwohl er sich darin auf zahlreiche Briefe Flauberts bezog, diesen gar nicht selbst zu Wort kommen (vgl. Barnes 1995, 7). Der enorme Umfang von Flauberts Korrespondenz ist auf seine einsiedlerische Lebensweise zurückzuführen (s. Punkt 3): Einen Großteil seiner Briefe hat er von seinem elterlichen Landsitz aus, Croisset bei Rouen, nach Paris geschrieben, das bei den damaligen Reisebedingungen in nur drei Stunden von seinem Zuhause aus zu erreichen war (vgl. Vinken 2009, 44). Er mied die Hauptstadt jedoch konsequent. In diesem Zusammenhang stehen die (lebens-)philosophischen Gedankengänge in Flauberts zuweilen viele Seiten langen Briefen, in denen er über die Rolle des Schriftstellers und die Möglichkeit von Literatur in der modernen Zeit nachdachte ‒ insofern und als ‚Stil-Labor‘ erringt die Korrespondenz Flauberts in ihrer Literarizität herausragende Qualität. Während er der Stadt fernblieb, unterhielt Flaubert sich in und mit Briefen. So enthält sein Briefwerk zahlreiche scharfsinnige Bemerkungen und Urteile über die Geschehnisse und Personen der Zeit, die er durch keinerlei briefliche Konventionen zensierte. Zu den berühmten Autoren, mit denen Flaubert korrespondierte, gehörte Guy de Maupassant, der wie er aus Rouen stammte und den Flaubert brieflich in der Kunst des Erzählens unterwies. Mit seiner eigenen Lehrerin, der großen Autorin der Romantik George Sand, tauschte er sich zum Beispiel über den 1870 ausgebrochenen deutsch-französischen Krieg aus (vgl. Pléiade IV, 1998, 22.7.1870, 212). Literaturwissenschaftlich gesehen sind Flauberts Briefe an die heute vergessene Autorin Louise Colet besonders interessant, da sie in den Jahren 1851 bis 1857 von der Entstehung seines ersten Romans zeugen: Fast alle Urteile über Madame Bovary, die seither etikettengleich zu Flauberts berühmtem Stil gehören, entstammen dieser Korrespondenz (s. Punkt 2). Nach Flauberts Tod 1880 kümmerte sich seine Nichte Désirée-Caroline um seinen Nachlass. Zum einen aus finanziellen Gründen und zum andern, um das Andenken ihres Onkels zu ehren, bemühte sie sich um die Wiederbeschaffung zahlreicher Briefe; diese erschienen 1887 bis 1893 in vier Bänden bei Charpentier ‒ ausgenommen ihre eigene Korrespondenz mit dem Onkel, die sie als eigenes Buch veröffentlichen ließ. 1910 verlegte Louis Conard die erste kommentierte Gesamtausgabe der Flaubert’schen Correspondance in fünf Bänden. Nachdem Conard

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fast alle Briefe Flauberts an Louise Colet aufgekauft hatte, erschien 1926 bis 1933 seine zweite, neunbändige Ausgabe (vgl. Flaubert 1926–1933/1954), die nun 1.992 Briefe verzeichnete (vgl. Bruneau 22008 [1973], IX; Leclerc 2001). Bis heute sind 4.335 Briefe Flauberts wiedergefunden und publiziert worden (vgl. Guinot 2010, 176). Die wichtigste und aktuellste Referenzausgabe hierfür stellt die sogenannte Pléiade-Ausgabe von Jean Bruneau dar (4  Bde., 1973‒1997). Deren von Bruneau und Yvan Leclerc überarbeitete Neuauflage erschien 2002 bis 2008 (vgl. Pléiade): Sie umfasst Nachdrucke der in den 1990er Jahren aktualisierten vier Bände I (1992), II (1991), III (1991) und IV (1998), ergänzt diese jedoch zum ersten Mal mit einem Band V (2007) sowie einem Indexband VI (vgl. Flaubert 2007) mit Namen und Begriffen, welcher eine Orientierung in Flauberts immensem Briefwerk erleichtern soll. Auch diese Ausgabe verzeichnet jedoch weiterhin nur einen Teil von Flauberts Briefen, von denen viele verloren sind. Man weiß, dass der Autor seiner Nachwelt am liebsten nichts als seine literarischen Werke hinterlassen hätte, und zwar aus Gründen der impersonnalité, der Unpersönlichkeit, die er als Dogma auch seinen Romanen zugrunde gelegt hatte. So veranlasste Flaubert im Einverständnis mit einigen seiner Korrespondenten noch zu seinen Lebzeiten die Vernichtung dieser Briefe. Nach seinem Tod jedoch, und auf Bitten von Désirée-Caroline, stellten sich einige Schriftsteller gegen diesen seinen ausdrücklichen Wunsch, etwa der Begründer des Naturalismus, Émile Zola, und die Brüder Goncourt; so überlebte ein wichtiger Teil von Flauberts Korrespondenz (vgl. Leclerc 2001, 157‒159). Nicht mehr erhalten dagegen sind viele Briefe Flauberts an seine Mutter, insbesondere jene von seiner Afrikareise 1858 durch Tunesien und Algerien. Auch etliche seiner Jugendbriefe, etwa an den besten Freund Maxime Du Camp oder an seine ältere Schwester Caroline, die 1846 nach der Geburt seiner Nichte Désirée-Caroline im Wochenbett starb (vgl. Neefs 22008, 559), sind verloren. Ebenso ein Großteil der Briefe von 1848 ist verschwunden (vgl. Guinot 2010, 176), dem Jahr der europaweiten Revolutionen, die als Pariser Barrikadenkämpfe zum berühmten Gegenstand wurden in Flauberts drittem, wie Madame Bovary epochemachendem Roman, L'Éducation sentimentale (1869).

2 Briefe an Louise Colet: Die Genese von Madame Bovary Über Fragen des Schreibens und des Stils korrespondierte Flaubert insbesondere mit drei Personen, wobei der Umgangston jeweils ein ganz anderer war: In der Korrespondenz mit der zwar fast zwanzig Jahre älteren George Sand, der er ab 1866 schrieb und die er „chère maître“ ‒ seinen „lieben Meister“ ‒ nannte, herrschte

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dennoch der Ton zweier gleichberechtigter Literaten. Siebzehn Jahre lang und bis zu Flauberts Tod war der in Paris lebende russische Schriftsteller Iwan Turgenjew ein wichtiger Brieffreund, der in vielem (ob gesellschaftlich-politisch, weltphilosophisch oder literarisch) die gleichen Ansichten wie er vertrat und somit ein ‚Brief-Seelenverwandter‘ war. Die Korrespondenz des jungen Flaubert mit Louise Colet dagegen war ein Austausch zwischen Lehrer und Schülerin ‒ und zwar sowohl in Fragen des Schreibens als auch in Fragen der Liebe (vgl. Barnes 1995, 8): Der 25-jährige Flaubert hatte Colet 1846 in Paris kennengelernt. Louise war bereits 35, die Herrin eines eigenen Salon und galt, auch nach eigenem Dafürhalten, als große Schönheit (vgl. Vinken 2009, 44). Sie war verheiratet und eine bereits erfolgreiche, preisgekrönte Autorin. Zu ihren Liebhabern zählten einige Schriftstellergrößen der Romantik, Alfred de Musset, Alfred de Vigny und Champfleury (vgl. Barnes 1995, 9‒12). Während ihrer Affäre mit Flaubert war dieser noch vollkommen unbekannt. Aufgrund seiner mysteriösen Nervenanfälle (aus heutiger Sicht wohl Epilepsie) hatte er 1844 sein Jurastudium aufgegeben und lebte vom Familienvermögen auf dem elterlichen Landsitz, wo er sich ausschließlich dem Schreiben widmete (vgl. Neefs 22008, 558‒559; Vinken 2009, 44). Seine tatsächliche Affäre mit Louise war kurz, denn Flaubert weigerte sich, die in Paris lebende Geliebte zu treffen. Stattdessen fand seine Leidenschaft für sie in fetischistischer Manier in seinen Briefen statt, die er ihr in den Jahren 1846 bis 1854 schrieb (vgl. Vinken 2009, 44‒74). Bereits in seinem zweiten Brief an Louise erklärte Flaubert ihr, wer sich liebe, der brauche sich zehn Jahre lang nicht zu sehen und leide nicht darunter. Während der zehnjährigen Korrespondenz sollten sich die beiden in der Tat so gut wie nie treffen. Louise reagierte auf Flauberts ständigen Rückzug mit einmal flehentlichen, einmal ärgerlich-frustrierten Briefen. Viele von diesen Briefen muss Flaubert wohl vernichtet haben, sie sind jedenfalls bis heute nicht gefunden worden, doch lassen Flauberts Repliken auf ihren Inhalt schließen (vgl. Vinken 2009, 45). Die Korrespondenz zwischen den beiden endete endgültig mit einem barschen, verächtlichen Brief Flauberts im März 1855 (vgl. Barnes 1995, 12‒14). Flauberts Korrespondenz mit Louise ist also zum einen eine eigenartige, ausschließlich auf dem Papier vollzogene, unglückliche Liebesgeschichte, die einiges über Flauberts beinahe soziopathische Persönlichkeit erkennen lässt. Zum anderen und insbesondere sind diese Briefe jedoch eine Schreibwerkstatt für Madame Bovary. Dies ist dem Umstand zu verdanken, dass die bereits erfolgreiche Autorin Louise mit Flaubert in Fragen des Schreibens und des Stils stets uneinig war: Der Provinzautor, noch ohne Veröffentlichungen, hatte erkannt, dass Louise einer seiner Ansicht nach nicht überlebensfähigen Tradition, der Romantik nämlich, verhaftet war, und erklärte ihr geduldig und en détail seine Auffassung von Literatur (vgl. Barnes 1995, 12‒14). So ist einerseits aufgrund von

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Louises selbstgewissem Starrsinn, der Flaubert stets zum Widerspruch herausforderte, und andererseits dank der Bemühungen des Verlegers Louis Conard um diese Briefe die Entstehung von Madame Bovary recht genau nachvollziehbar. Flauberts Korrespondenz mit Louise über ihre jeweiligen literarischen Arbeiten begleitete die Genese seines ersten Romans als erzähltheoretische Reflexion. Sie begründete also eine Poetologie, die ‒ zusammen mit dem Erzähltext ‒ die Literatur der Moderne eröffnete. So schreibt der dreißigjährige Gustave Flaubert an einem Samstagabend im September 1851 aus seinem „Elfenbeinturm“ Croisset (Pléiade II, 1991, 4.9.1852, 149) an die Geliebte nach Paris, dass er mit der Arbeit an Madame Bovary begonnen habe  – ein Projekt, das ihn die nächsten fünf Jahre intensiv beschäftigen sollte: „Gestern Abend habe ich mit meinem Roman begonnen. Ich sehe jetzt Schwierigkeiten des Stils auf mich zukommen, die mir Angst einjagen. Es ist keine kleine Angelegenheit, simpel zu sein. Ich habe Angst davor, […] einen chateaubrianisierten Balzac zu schreiben“ [„J’ai commencé hier au soir mon roman. J’entrevois maintenant des difficultés de style qui m’épouvantent. Ce n’est pas une petite affaire que d’être simple. J’ai peur […] de faire du Balzac chateaubrianisé“] (Pléiade II, 1991, 20.9.1851, 5; Übers.  d. Verf.). Nach dem Tod des großen Romantikers René de Chateaubriand 1848 und dem des großen Realisten Honoré de Balzac 1850 überwand Flaubert mit Madame Bovary und mithilfe seiner Briefe diese literarischen Traditionen, die er Louise gegenüber immer wieder für überholt erklärte. Der Tod Balzacs hatte Flaubert recht mitgenommen (14.11.1850, Pléaide I, 1992, 710), denn er verehrte den Vorgänger so sehr, wie er dessen „mangelhaften Stil“ verachtete; er wurde nie müde, in seinen Briefen immer wieder auf Balzacs „défaut de style“ hinzuweisen (so etwa am 28.−29.6.1853, Pléiade II, 1991, 367). Die Suche nach dem richtigen Stil war Flauberts große Sorge; immer wieder äußerte er sich dazu. Ein Jahr später etwa, am 16.  Januar 1852, bezeichnete er Louise gegenüber seinen Roman als „livre sur rien“, als „Buch über nichts“ (Pléiade II, 1991, 31). Dieser Ausspruch ist berühmt geworden: Er meint die Alltäglichkeit eines Ehebruchs als niederes Sujet, das jedoch in einem so kunstreich umgesetzten, hohen Stil erzählt wird, dass der sich damit zum eigentlichen Gegenstand des Textes erhebt ‒ eine für die Literatur (in der traditionell der erhabene Stil für hehre Geschichten und adliges Personal reserviert ist) enorme Innovation (vgl. Auerbach 71982): Madame Bovary ist die Geschichte der Bauerstochter Emma, die sich vergiftet, als sie erkennt, dass die Realität ihrer bürgerlichen Ehe nichts mit der Welt ihrer (romantischen) Romane zu tun hat. Der Roman spielt zum Teil in Flauberts Heimatstadt Rouen, vor allem aber in der Provinz der Normandie. Zusammen mit Leo Tolstois Anna Karenina (1878) und Theodor Fontanes Effi Briest (1896) gilt Madame Bovary als einer der großen Ehebruchsromane des literarischen Realismus, als dessen Ursprung Flauberts Korrespondenz gelten kann. Die metatextuellen, poetologi-

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schen Formeln, die seither zu diesem mit Madame Bovary geschaffenen, neuen Stil gehören und Berühmtheit erlangt haben, stammen allesamt aus Flauberts Briefen, so etwa seine Rede über dieses „Buch über nichts“. Auch das Postulat der „couleur normande“, der normannischen Färbung, die er in realistischer Manier seiner Geschichte zu verleihen gedenke, stammt aus einem Brief (Pléiade II, 1991, 10.4.1853, 301) wie auch das Dogma der „impersonnalité“ (Pléiade II, 1991, 18.3.1857, 691): Der Autor müsse in seinem Werk wie Gott sein, „überall anwesend und nirgends sichtbar“ [„présent partout et visible nul part“] (Pléiade II, 1991, 9.12.1852, 204; Übers.  d. Verf.). Mit diesen in seinen Briefen formulierten Dogmen seines Erzählens ‒ impassibilité, impersonnalité, impartialité (Ungerührtheit, Unpersönlichkeit, Unparteilichkeit) ‒ begründete Flaubert den sogenannten Zweiten Realismus, der den von Stendhal geschaffenen und insbesondere von Honoré de Balzac vertretenen Ersten Realismus ablöst. Sein personaler Erzähler tritt vollkommen hinter dem für Flaubert typischen ironischen Diskurs zurück (vgl. Warning 1982). Er überwindet auf revolutionäre Weise die starke Präsenz eines wertenden, sich in das Geschehen einmischenden Erzählers, welcher in der Romantik oft als Ich-Erzähler, bei Balzac stets als allwissender Erzähler figuriert. Mit Madame Bovary lässt Flaubert die Autoren der Romantik wie auch Balzacs Stil weit hinter sich. Mit dem Epochenbegriff des Realismus, für den er literaturgeschichtlich wie kein anderer Autor steht, konnte Flaubert allerdings nichts anfangen: Er „verabscheute“ ihn als geistlosen Gemeinplatz, als bêtise [„j’exècre ce qu’on est convenu d’appeler le réalisme“] (6.2.1876 an Georges Sand, Pléiade V, 2007, 12). Auftakt zu Flauberts Erstlingsroman war die große Reise in den Orient, die er mit seinem Freund, dem Photographen und Schriftsteller Maxime Du Camp, 1849 bis 1851 entlang des Nils unternahm. Sie stand unter der Voraussetzung des modernen (photographischen) Bildes, über das sich Flaubert zeitlebens kaum geäußert hat (vgl. Sicard 2014). Du Camp ermöglichte diese Reise, indem er sie als photographische Exkursion archäologischen Interesses affichierte und so erfolgreich finanzielle Mittel von der Regierung einwarb. Flaubert dagegen sollte zeitlebens eine Abneigung gegenüber der Photographie und den modernen Bildverfahren beibehalten. So ließ er sich äußerst ungern photographieren und widersetzte sich konsequent dem Ansinnen, seine Romane illustrieren zu lassen (vgl. Mohs 2013, 197−201; Jurt 2010, 40‒42). Die Ausarbeitung von Madame Bovary wurde jedoch von dieser Reise tiefgreifend beeinflusst, insbesondere durch Flauberts Erfahrung mit den vor allem in Rom betrachteten Gemälden, über die er in seinen Briefen begeistert berichtete. Über Bildende Kunst und Musik schrieb Flaubert zwar (anders als über Literatur) sonst so gut wie gar nicht (vgl. Bruneau 2 2008 [1973], XXVIII) ‒ aus Rom jedoch äußerte er sich enthusiastisch dazu. „Was für Gemälde! Was für Gemälde! Ich habe zu einigen Notizen gemacht“ [„Quels

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tableaux! quels tableaux! jʼai pris des notes sur quelques-uns“] (Pléiade I, 1992, 4.5.1851, 779; Übers.  d. Verf.), berichtet er dem Jugendfreund Louis Bouilhet. Seiner Mutter schrieb er, er verlasse die Museen gar nicht mehr („nous ne sortons pas des musées“, Pléiade I, 1992, 8.4.1851, 769). Wieder zurück in der Normandie, erklärte Flaubert Louise, er habe nun vor, „mit der Außenwelt zu brechen“ [„rompre avec l’exterieur“] (Czyba 1980, 94; Übers.  d. Verf.); er sperrte sich in Croisset ein, um zu schreiben, und seine Briefe an Louise wimmeln von Metaphern der Inklusion. Gerade wegen Flauberts Rückzug jedoch steht sein Roman Madame Bovary in einem direkten Bezug zur Moderne, zu den neuen Medien und allen Neuerungen seiner Zeit wie der Photographie, denen er äußerst skeptisch, wenn nicht feindselig gegenüberstand. Flauberts Auseinandersetzung mit dem Fortschritt und der industriellen Revolution, die ab den 1840er Jahren ihr volles Ausmaß erreichte, findet in seinen Briefen statt. Fortschritt und Stil, so bezeugt es die Korrespondenz, insbesondere mit seinem Reisefreund Maxime Du Camp, sind in der Moderne untrennbar miteinander verquickt.

3 Briefe an Maxime Du Camp: Selbstinszenierung und Fortschrittskritik Flaubert war als Vollblut-Normand in Rouen geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Als er sich nach Croisset zurückzog, um zu schreiben, nahm er detailreiche Eindrücke seiner Heimatstadt und ihrer Umgebung, dem Pays de Caux und dem Andelle-Tal, die er wie seine Hosentasche kannte, mit in die Dachkammer (vgl. Canu 1933; Fehringer 2017). Diese „couleur normande“, die Farbe seiner Heimat, erzählte er mit Madame Bovary als Entfremdung von der Welt gerade im Zeichen der Hauptstadt, zu der er seit seinem gescheiterten Jurastudium nicht das beste Verhältnis hatte. Seit dem Umzug der Eltern von Rouen ins Landhaus Croisset 1844 blieb Flaubert daher der Hauptstadt fern (vgl. Senneville 1996). Nicht nur Louise ärgerte sich darüber, auch der in Paris lebende Freund Maxime, der Flaubert im Zuge ihrer Korrespondenz schließlich lakonisch als „armen Jungen“ bezeichnete, „der sich in seinem einsamen Leben verbarrikadiert, sich nur von Rouen nach Croisset und von Croisset nach Rouen bewegt und sich Räume erträumt“ [„pauvre garçon claquemuré dans sa vie solitaire, se transportant de Rouen à Croisset et de Croisset à Rouen, rêvant les espaces“] (Du Camp 2002 [1881], 7; Übers.  d. Verf.). Beharrlich versuchte Du Camp in seinen Briefen, Flaubert zum Umzug nach Paris zu bewegen. Aus dieser Konstellation – Flaubert in der „Provinz“, wie Du Camp es nannte, und Du Camp in Paris – kristallisierte sich in einem heftigen Briefwechsel zwischen den beiden Autoren ein

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Streit über die gerade entstehende Madame Bovary, der wegen zweier sehr gegensätzlicher Auffassungen von Kunst sowie der sehr differenten Einstellung der beiden zur Schreib- bzw. Publikationspraxis ausbrach (vgl. Caraion 2008, 13‒15; Leclerc 1991, 134‒139). Du Camp, der Flaubert drängte, schnell zu publizieren, definierte in seiner Kunst des l’art pour l’art die Moderne über den Fortschritt, dessen begeisterter Befürworter er war (vgl. Caraion 2008) und als dessen Ort er in seinen Briefen immer wieder Paris ausweist. Die „neue Schule“ [„renouvellement littéraire“] einer Literatur der Moderne, die Du Camp im Zusammenhang mit der industriellen Revolution und dem Fortschritt ankündigte – und damit im Schulterschluss mit Mitstreitern wie, zumindest für eine gewisse Zeit, Charles Baudelaire argumentierte –, negierte Flaubert kategorisch und behauptete, von einer solchen literarischen Neuerung weit und breit nichts zu spüren (Pléiade II, 1991, Juli 1852, 121). Während Du Camp 1855 seinen Gedichtband Les chants modernes [Moderne Gesänge] veröffentlichte und darin den Fortschritt in Gestalt der Eisenbahn oder einer Spinnerei-Fabrik als lyrisches Du ansprach (vgl. Caraion 2008, 56‒153), schrieb Flaubert einen Roman „über nichts“, dessen Schauplatz gerade vom Fortschritt entkoppelt scheint. Paris ist in unerreichbare Entfernung gerückt und figuriert im Roman lediglich als Stadtkarte und erträumter Raum der Heldin (Flaubert 22013, 199‒200). Dem Stellvertreter des begeisterten Fortschrittsglaubens im Roman, dem Apotheker Homais, wird der Orden der Ehrenlegion verliehen ‒ dieses berühmte Ende des Romans ist jedoch tatsächlich der Gipfelpunkt der Ironisierung dieser modernen Fortschrittsbegeisterung à la Homais (oder: à la Maxime Du Camp), von der Flaubert sich hiermit auch in seinem Roman voller Verachtung distanziert. Die „normannische Färbung“ von Madame Bovary geht jedoch über die ironisierte Darstellung normannischer Lebensart (als bêtise) und örtlicher Details weit hinaus. Es handelt sich dabei gleichzeitig um einen ganz privaten Modus Vivendi, den sich Flaubert in seinen Briefen an Maxime Du Camp während seiner Arbeit an Madame Bovary erschrieb. Seine Selbstinszenierung als ein Normand, dessen freier Wille von Normandismen kategorisch unterlaufen werde, führte zu dem ersten ernsten Zerwürfnis mit Du Camp und stand im Zusammenhang mit dessen ständigem Drängen, nach Paris zu ziehen und zu publizieren. Du Camp schrieb immer wieder von einem geradezu literarischen Muss, am Puls der Zeit, in Paris eben, zu residieren, um die neuen, der Moderne geschuldeten intellektuellen Strömungen nicht zu verpassen. Das beständige Drängen des Freundes leid, antwortete Flaubert in immer bissigerem Ton. Er redigierte diese Briefe sorgfältig und bewahrte deren Kopien auf (vgl. Goncourt 1989 [1956], 51). Zu diesem ausschließlich über Briefwechsel ausgetragenen Streit zwischen Du Camp und Flaubert, deren Korrespondenz nach Flauberts Tod 1880 veröffentlicht werden sollte, notierte Edmond de Goncourt am 27.  März 1889: „Das sagt einiges über

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ihn [Flaubert] aus […] und bestätigt nur, was ich dachte: dass er nicht der ach so spontane Monsieur war, den einige in ihm sehen wollen, und dass hinter seinem Verhalten oft das Kalkül eines Normannen steckte“ [„Cela dit bien des choses sur lui […] et confirme joliment ce que je pensais: que ce n’était pas le Monsieur tout spontané que quelques-uns veulent voir en lui et qu’il y avait souvent dans sa conduite du calcul du Normand“] (Goncourt 1989 [1956], 51; Übers.  d. Verf.). Im ersten der drei Briefe, die den Streit zwischen Du Camp und Flaubert initiieren, erinnert dieser durchaus sentimental an die tiefe Freundschaft, die die beiden seit Schultagen verbunden hatte, zieht aber eine harte Bilanz. Flaubert inszeniert sich wieder einmal als lethargisch, depressiv und zu Tode gelangweilt und wirft Maxime in diesem Zuge vor, „du hast dich immer gegen diese undefinierten Normandismen aufgelehnt, für die ich so ungeschickt war mich zu entschuldigen, und das hat mir von dir, Maxime, nur hartherzige Kommentare eingetragen, dir mir oft bitter aufgestoßen sind“ [„tu t’es toujours révolté contre ces normandismes indéfinis que j’étais si maladroit à excuser et cela m’a valu de ta part, Maxime, des duretés qui m’ont souvent été amères“] (Pléiade II, 1991, 21.10.1851, 10; Übers.  d. Verf.). Du Camp geht gegen diese Selbstinszenierung seines Freundes, der seine „Normandismen“ pathetisch und selbstmitleidig als ein Gefangensein in Untätigkeit und Melancholie beschreibt, hart vor. Er entlarvt diese Diskurse als ennui und damit als längst überholte Lebensform der Romantik. Mit Bezug auf eine neue Literatur, die ungefilterte Wahrheiten finden und abbilden soll, resümiert er: „Wenn du erfolgreich sein willst […], wenn du wahr sein willst, komm aus deiner Dachkammer heraus, von wo dich kein Mensch herausholen wird und komm ans Tageslicht ‒ Reib dich an der Welt […]. Meine hartherzigen Worte haben dich verletzt, sagst du, und du schreibst sie deinen Normandismen zu ‒ Da hast du dich geirrt“ [„Si tu veux réussir […] si tu veux être vrai, sors de ta tanière où personne n’ira te chercher et viens au jour – Frotte-toi au monde […]. Mes duretés t’ont été pénibles, dis-tu, et tu les attribues à tes normandismes – Tu t’es trompé“] (Pléiade II, 1991, 29.10.1851, 865‒867; Übers.  d. Verf.). Doch für Flaubert zählte nur die Kunst, die in seiner Sicht vollkommen unabhängig vom Fortschritt war. Der Bau von Fabriken, der Preis für Kautschuk, so argumentiert er, sei ihm einerlei, denn „wenn Euer Kunstwerk gut ist, wenn es wahr ist, wird es sein Echo, seinen Platz bekommen, in sechs Monaten, sechs Jahren, oder nach Euch. Egal!“ [„Mais si votre œuvre d’art et bonne, si elle est vraie, elle aura son écho, sa place, dans six mois, six ans, ou après vous. Qu’importe!“] (Pléiade II, 1991, 26.6.1852, 114; Übers.  d. Verf.) Die versöhnlichen Worte, die Flaubert fand, um sich für einen seiner ätzenden Briefe an Du Camp zu entschuldigen, lauteten lediglich (und auch nur gegenüber Colet): „Normannen, die wir doch alle sind, haben wir Cidre in den Adern, der lässt uns manchmal den Kragen platzen“ [„Normands, tous que nous sommes, nous avons quelque peu de cidre dans les veines  […]

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qui quelque fois fait sauter la bonde“] (Pléiade II, 1991, 3.7.1852, 123; Übers.  d. Verf.). Flaubert verharrte in seinem selbst gewählten Inklusorium Croisset und distanzierte sich derart konsequent vom literarischen Diskurs en mode, dass es zum Zerwürfnis mit seinem langjährigen Freund kam: Du Camp besiegelte dieses durch einen zensorischen Eingriff in den Text von Madame Bovary zugunsten der fortschrittsorientierten Zeitschrift Revue de Paris, in der der Roman erschien und deren Mitherausgeber Du Camp war (vgl. Leclerc 1991). Gerade im Kontext von Fortschrittsoptimismus und einer damit einhergehenden neuen Konzeption von Kunst, in dem Madame Bovary entstand, hinterließ diese in seinen Briefen ausgefaltete Thematik tiefe Spuren in Flauberts Roman und schlug sich in einer Narration nieder, in der lediglich der Stil Bedeutung erlangt und Sujet wie auch Erzählerstimme hinter ironischen Diskursen verborgen sind. Flauberts Zeitgenossen trieben sich in den Straßen der Hauptstadt herum, wo die Moderne in den gängigen Diskursen der Zeit ihren Ort hat; ihre Beobachtungen flossen in ihre Korrespondenzen und Werke ein. Berühmt für diese Praxis ist z.  B. Émile Zola mit seinen naturalistischen Romanen über die Unterschicht von Paris. Wie seiner Korrespondenz zu entnehmen ist, und wie es der mittels dieser Briefe entstandene Roman Madame Bovary belegt, rieb sich Flaubert dagegen gerade durch seinen konsequenten Rückzug an jener Welt. Während (Handels-)Räume in der Zeit des Hochkapitalismus dank neuer Transportwege zusammenwachsen und sich dadurch zugleich weiten, schildert Flaubert die klaustrophobisch erfahrene Welt seiner zu Tode gelangweilten, träumenden Heldin in der Provinz und zeigt damit auch sich selbst (vgl. Fehringer 2017). Flauberts Briefe erweisen sich daher als Voraussetzung nicht nur für eine neue Literatur, sondern, wenn man so will, für das, was man heutzutage als Moderne bezeichnet. In seiner Korrespondenz offenbart sich der Autor nicht nur als komplizierte Privatperson mit einer tiefen Ablehnung gegen Großstadt und Fortschrittsdenken; Briefe sind für Flaubert der alleinige Ort, an dem Konflikte ausgetragen werden und Emotionen statthaben dürfen. Dass Flaubert dabei auf eine zuweilen enervierende Selbstinszenierung angewiesen war, zeigt sich besonders in seiner diffizilen, fetischistischen Liebe zu Louise Colet und im Umgang mit seinem Freund Du Camp. Als Schreibwerkstatt und Geburtsort von Madame Bovary kulminieren in Flauberts Korrespondenz die normannische Selbstdarstellung eines Einsiedlers in der Provinz mit messerscharfen Beobachtungen zu seiner Zeit, zur Aufgabe der Literatur und zum Sinn des Schreibens in der Moderne.

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Zitierte Literatur Auerbach, Erich (71982). „Im Hôtel de la Mole“, in: Ders. Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern: 422–459. Barnes, Julian (1995). „Vorwort“, in: Gustave Flaubert. Die Briefe an Louise Colet. Zürich: 7‒16. Bruneau, Jean (22008 [1973]). „Préface“, in: Gustave Flaubert. Correspondance. Janvier 1830− Avril 1851. Bd. 1. Hg. v. Jean Bruneau u. Yvan Leclerc. Paris: IX‒XXXI. Canu, Jean (1933). „La couleur normande de Madame Bovary“, in: PMLA, 48.1: 167–208. Caraion, Marta (2008). Les philosophes de la vapeur et des allumettes chimiques. Littérature, sciences et industrie en 1855. Genf. Czyba, Lucette (1980). „Écriture, corps et sexualité chez Flaubert“, in: Corps création. Entre lettres et psychanalyse. Hg. v. Jean Guillaumin. Lyon: 93–104. Du Camp, Maxime (2002 [1881]). Souvenirs littéraires: Flaubert, Fromentin, Gautier, Musset, Nerval, Sand. Paris. Fehringer, Kathrin (2017). Textile Räume. Visuelle Poetologien in Gustave Flauberts Madame Bovary. Bielefeld. Flaubert, Gustave (1926‒1933/1954). Correspondance. 9 Bde. u. 4 Bde. Supplemente. Paris. Flaubert, Gustave (1971‒1975). Correspondance. 5 Bde. Paris. Flaubert, Gustave (1995). Die Briefe an Louise Colet. Mit allen erhaltenen Briefen und Tagebuchnotizen von Louise Colet an Gustave Flaubert u. einem Vorwort v. Julian Barnes. Zürich. Flaubert, Gustave (2000). Correspondances. Flaubert − Le Poittevin, Flaubert − Du Camp. Hg. v. Yvan Leclerc. Paris. Flaubert, Gustave (22002−2008). Correspondance. Janvier 1830−Mai 1880. 5 Bde. Hg. v. Jean Bruneau u. Yvan Leclerc. Paris. [Pléiade] Flaubert, Gustave (2007). Correspondance. Index. Hg. v. Yvan Leclerc u. Jean Bruneau. Paris. Flaubert, Gustave (22013). Madame Bovary. Mœurs de province, in: Ders. Œuvres complètes. Bd. III. 1851−1862. Hg. v. Claudine Gothot-Mersch, Jeanne Bem, Yvan Leclerc, Guy Sagnes u. Gisèle Séginger. Paris. Flaubert, Gustave (2017). Correspondance. Édition électronique. Hg. v. Yvan Leclerc u. Danielle Girard. http://flaubert.univ-rouen.fr/correspondance/edition/ (28.11.2019). Goncourt, Edmont u. Jules (1989 [1956]). Journal. Mémoires de la vie littéraire. 22 Bde. Bd. 16: 1889‒1890. Hg. v. Robert Ricatte. Monaco. Guinot, Jean-Benoît (2010). Dictionnaire Flaubert. Mit einem Vorwort v. Pierre-Marc de Biasi. Paris. Jurt, Joseph (2010). „Intermedialität bei Flaubert“, in: Praktizierte Intermedialität: Deutschfranzösische Porträts von Schiller bis Goscinny/Uderzo. Hg. v. Fernand Hörner, Harald Neumeyer u. Bernd Stiegler. Bielefeld: 37–51. Leclerc, Yvan (1991). Crimes écrits. La littérature en procès au XIXe siècle. Paris. Leclerc, Yvan (2001). „Les éditions de la correspondance de Flaubert“, in: Revue de l’Aire. Recherches sur l’épistolaire, 27: 157‒166. Mohs, Johanne (2013). Aufnahmen und Zuschreibungen: Literarische Schreibweisen des fotografischen Akts bei Flaubert, Proust, Perec und Roche. Bielefeld. Neefs, Jacques (22008). „Préface, notes et dossier“, in: Gustave Flaubert. Madame Bovary. Paris. Sartre, Jean-Paul (1977‒1980). Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821–1857. Reinbek bei Hamburg. Senneville, Gérard de (1996). Maxime Du Camp. Un spectateur engagé du XIXe siècle. Paris.

6.24 Gustave Flaubert 

 1303

Sicard, Monique (2014). „Gestes et images du voyage en Orient“, in: Flaubert. Revue critique et génétique, 12 [unpag.]. Vinken, Barbara (2009). „Briefe an Louise Colet“, in: Dies. Flaubert. Durchkreuzte Moderne. Frankfurt a. M.: 44‒74. Warning, Rainer (1982). „Der ironische Schein: Flaubert und die ‚Ordnung der Diskurseʻ“, in: Erzählforschung. Ein Symposion. Hg. v. Eberhard Lämmert. Stuttgart: 290–318.

Weiterführende Literatur Debray-Genette, Raymonde u. Jacques Neefs (Hg.) (1993): L’œuvre de l’œuvre: études sur la correspondance de Flaubert. Vincennes. Reid, Martine (1995). Flaubert correspondant. Paris.

Stephan Landshuter

6.25 Die Korrespondenzen Conrad Ferdinand Meyers 1 Die späte epistolare Vernetzung Meyers Gleich im Vorwort der ersten umfangreichen, zweibändigen Ausgabe der Briefe Conrad Ferdinand Meyers (1908) meint der Herausgeber Adolf Frey, den zehn Jahre zuvor verstorbenen Schriftsteller in Schutz nehmen zu müssen: Bis gegen die Mitte seines fünften Jahrzehnts schrieb Conrad Ferdinand Meyer von der Reise oder aus einem Sommerbergasyl zuweilen umfängliche Briefe. Sie zeigen Schreibart, Geist und Sinnen eines Dichters.  […] Als er aber endlich einzuziehen vermochte in sein poetisches Reich und zur Macht zu gelangen begann, da leistete er Verzicht auf den Kranz des Epistolographen. Er trennte Kunst und Korrespondenz, […] beschränkte sich auf das Nötige und wartete […] keine Briefstimmung mehr ab. (Frey 1908 I, III)

Dieser Passus enthält gleich eine ganze Reihe zeittypischer Vorstellungen: Ein Dichter habe im Prinzip Briefe in einiger Ausführlichkeit und mit poetischem Mehrwert zu verfassen. Meyers Briefe vor seinem späten Erfolg als Literat ab seinem 47. Lebensjahr würden dieses Potential auch belegen, doch Meyer habe in der Phase seines zunehmenden Ruhms als Dichter bewusst Abstand davon genommen, seine Korrespondenzen sprachlich auszugestalten (vgl. Bebler 1949, 2). Tatsächlich regiert oft bei aller Freundlichkeit im Grundton eine gewisse Trockenheit im Ausdruck. Dafür sind die Briefe auf materieller Ebene oft umso ‚beredter‘ (vgl. Zeller 2002; Lukas 2008). Freys Beobachtung einer Zweiteilung der Biographie Meyers und, eng damit verbunden, auch der Grundcharakteristik seiner Korrespondenz ist cum grano salis zutreffend: Bis zum Erscheinen des Versepos Huttens letzte Tage (1871) führte Meyer weitgehend das Leben eines psychisch labilen Sonderlings ohne vorzeigbaren Beruf und ohne literarische Meriten. Gesellschaftlich war er als Mitglied einer angesehenen Zürcher Familie zwar nicht zur Gänze isoliert, aber mehr geduldet denn geachtet. Zudem lebte er beinahe bis zur Vollendung seines 50. Lebensjahres unverheiratet mit seiner Schwester Betsy Meyer zusammen, was bürgerlichen Vorstellungen von einem ‚normalen‘ Leben ebenfalls nicht entsprach. Zwar fühlte er sich immer wieder zum Dichter berufen, doch auch nach der Veröffentlichung seines ersten Lyrikbandes Zwanzig Balladen von einem Schweizer (1864) im Alter von 39 Jahren blieb der Erfolg noch aus. Vereinzelte Unternehmungen als Übersetzer von Geschichtswerken bzw. religiösen Schriften aus dem Französischen https://doi.org/10.1515/9783110376531-108

6.25 Die Korrespondenzen Conrad Ferdinand Meyers 

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(letztere zusammen mit seiner Schwester Betsy Meyer) waren eher Surrogate für die lange ausbleibende eigene literarische Produktion. An den überlieferten Briefen aus den 1850er und 1860er Jahren, die im Wesentlichen an einen engen Kreis von Verwandten und Bekannten in der Schweiz gerichtet waren, lässt sich ablesen, wie wichtig es Meyer war, sich als geistig wertvollen Menschen darzustellen: In sehr ausführlichen Briefen an den Vetter Friedrich von Wyß von seiner Italienreise 1858 bzw. von seiner Reise durch die Schweiz 1866 (vgl. MBW 3, 8–19) versucht Meyer, sich als hochgebildet und sprachlich versiert zu beweisen (ähnlich auch Meyer an Johann Rudolf Rahn aus Verona vom 10.12.1871, vgl. Frey 1908 I, 228–231). Bis gegen Ende der 1860er Jahre aber gehen innere und äußere Isolation Hand in Hand: Die briefliche Vernetzung eines Menschen, der von seiner unmittelbaren Umgebung als Nichtsnutz am psychischen Abgrund mit poetischen Anwandlungen angesehen wird, bleibt lange Zeit minimal. Mitte der 1860er Jahre bahnt sich allmählich eine Wende in Meyers Biographie an, die sowohl in der Zahl als auch dem gesellschaftlichen Rang der Korrespondenzpartner ihren Niederschlag findet: Seit 1864 wechselt Meyer Briefe mit seinem Idol Friedrich Theodor Vischer, und im Jahr darauf kommt er auf dem Umweg über seine Schwester, die den Erstkontakt wegen einer Übersetzungsarbeit herstellt, brieflich in Kontakt mit seinem späteren Verleger Hermann Haessel (vgl. MBW 4.1). 1868 bringt den Anfang einer regen Korrespondenz mit dem Begründer der schweizerischen Kunstwissenschaft Johann Rudolf Rahn, und im nächsten Jahr beginnen die Briefwechsel mit François und Eliza Wille (vgl. MBW 2) sowie Mathilde Wesendonck (vgl. Bissing 1942). Ab 1870 wechselt Meyer auch Briefe mit dem berühmten 1848er-Flüchtling Gottfried Kinkel, der seit 1866 in Zürich eine Professur für Kunstgeschichte innehatte (vgl. Bebler 1949). Meyer wird nach seinem großen Erfolg von Huttens letzte Tage bei Kritik und Publikum zunehmend als anhaltend produktiver Schriftsteller geschätzt: Er publiziert bis Anfang der 1890er Jahre regelmäßig Lyrik (zum ersten Mal gesammelt 1882 in Gedichte) bzw. historische Novellen (u.  a. 1876 Jürg Jenatsch, 1880 Der Heilige, 1884 Die Hochzeit des Mönchs, 1885 Die Richterin, 1887 Die Versuchung des Pescara, 1891 Angela Borgia). Je mehr Meyer als Autor in den Fokus der Öffentlichkeit gerät, desto mehr Briefpartner gewinnt er in der Welt der Gebildeten. Aus dem sozial abweichenden Einzelgänger von einst wird, zumindest äußerlich, ein mit Gelehrten aus allen Teilen der deutschsprachigen Welt verbundener erfolgreicher Schriftsteller, dem Bewunderung entgegengebracht wird. Ein Mann, der genussvoll ein Leben in der Öffentlichkeit zelebriert, wird aus ihm dennoch nie. Auch als literarische Berühmtheit zieht er es vor, ein möglichst zurückgezogenes Leben in seinem Anwesen in Kilchberg zu führen, das er ab 1877 meist nur noch zu gelegentlichen gesellschaftlichen Anlässen in Zürich, denen er sich nicht entziehen kann, und für sommerliche Reisen innerhalb der Schweiz verlässt (von einer Reise 1880 nach

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 6 19. Jahrhundert

Nürnberg, Dresden, Leipzig und Berlin abgesehen, bei der er zum einzigen Mal bei seinem Verleger Haessel zu Gast ist, vgl. MBW 4.3, 84).

2 Meyers wachsendes Kommunikationsnetz in der literarischen Welt Bis zum Beginn der 1870er Jahre sind Meyers Korrespondenzpartner fast nur in seiner näheren Umgebung zu finden. Auch dies ändert sich nach dem Erscheinen von Huttens letzte Tage, denn es ergeben sich nun Briefkontakte mit den erfolgreichen Schriftstellern Felix Dahn in Königsberg (1872  ff.), Alfred Meißner in Bregenz (1874  ff.) sowie den in München ansässigen Hermann Lingg (1875  ff.) und Paul Heyse (1878  ff.), wobei Letztgenannter als einer der wenigen Meyer des Öfteren sogar auf direktem Weg massiv kritisiert (am vehementesten in einem Brief vom 10.  November 1884 für die Novelle Die Hochzeit des Mönchs; vgl. Frey 1908 II, 341). Hinzu kommt ab 1877 Julius Rodenberg, der in Berlin als Herausgeber der populären und niveauvollen Deutschen Rundschau tätig ist, in der, angefangen mit Der Heilige (1879/80), die Journalausgaben fast aller Novellen Meyers erscheinen (vgl. Meyer und Rodenberg 1918). Doch nicht einmal mit Rodenberg, dem ihm wohlgesinnten Förderer, der immer wieder auch als umsichtiger Lektor fungiert und auf stilistische Unebenheiten sowie inhaltliche Ungenauigkeiten hinweist, tauscht sich Meyer weltanschaulich oder persönlich aus. Bei aller stilistischen Anspruchslosigkeit dominiert ein freundlicher Ton in den Briefen Meyers, der nicht zuletzt eine Reaktion auf Rodenbergs Enthusiasmus für die Novellen des Kilchberger Dichters ist (extrem für Der Heilige, Die Richterin und Die Versuchung des Pescara, wobei in Rechnung gestellt werden muss, dass Rodenberg auch andere Literaten vermutlich nicht ohne Berechnung mit überschäumendem Lob bedachte, um sie an die Rundschau zu binden, vgl. Storm an Keller, 3.1.1882, Storm und Keller 1992, 85–86). In den 1880er Jahren weitet sich das Kommunikationsnetz Meyers weiter aus, da er von vielen Verehrern angeschrieben oder sogar in Kilchberg besucht wird, woraus sich oft mehr oder minder lang andauernde Briefwechsel ergeben: Mit Johanna Spyri, der Autorin des Erfolgsromans Heidi’s Lehr- und Wanderjahre (1880), entspinnt sich ab den frühen 1880er Jahren eine enge persönliche Beziehung, die aber in den Briefen nur spärlich widerhallt (vgl. Spyri und Meyer 1977), da die beiden regelmäßig persönlich zusammentrafen: Meyer hatte nach der Fertigstellung des Heiligen und dem nachfolgenden Rückzug seiner Schwester eine neue Beraterin in literarischen Fragen gesucht. Weitere neue Briefpartnerschaften mit bedeutenden Persönlichkeiten beginnen u.  a. mit Georg Ebers

6.25 Die Korrespondenzen Conrad Ferdinand Meyers 

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(1880  ff.), Louise von François (1881  ff., vgl. François und Meyer 21920 [1905]), Otto Brahm, Marie von Ebner-Eschenbach, Ernst von Wildenbruch, Carl Spitteler (alle 1882  ff.), Karl Emil Franzos (1884  ff.) und dem Reichstagsabgeordneten und Bismarck-Anhänger Hans Blum (1887  ff.). Eine Tragödie für die Meyer-Forschung stellt der fast vollständige Verlust von Meyers Korrespondenz mit seiner Schwester Betsy dar. Meyers Tochter Camilla verfügte testamentarisch, dass diese Briefe nach ihrem Tod zu vernichten seien. Daher sind nur einige wenige Stücke, und meist nur indirekt, überliefert (vgl. MSW 2, 50–51). Als Kuriosum lässt sich der über zwei Dezennien dauernde Briefwechsel zwischen Gottfried Keller und Meyer (vgl. MBW 1) beschreiben: Diese beiden Schriftsteller, die rückblickend als die herausragenden Klassiker der Schweizer Literatur in der Epoche des Bürgerlichen Realismus gelten dürfen, hatten sich im Grunde kaum etwas zu sagen. Das Wesentliche steht bestenfalls versteckt zwischen den dürftigen Zeilen: zum einen Meyers Minderwertigkeitsgefühl und seine latente Furcht vor Keller, zum anderen Kellers Ambivalenz gegenüber dem Sonderling aus Kilchberg, dessen literarisches Talent er zwar achtet, den er aber als Person eher geringschätzt. Das Diktum vom „gesammelten Schweigen zweier Männer“ (Wysling 1990, 374) ist durchaus zutreffend (vgl. Jäger 1999, 88–91). Keller schätzte Meyer vor allem als Lyriker, hatte aber Vorbehalte gegen manche seiner Novellen (wie man insbesondere aus Briefen Kellers an Dritte erfährt, vgl. z.  B. Keller an Heyse, 26.12.1876/1.3.1877, Keller 1952, 25–26; Keller an Theodor Storm, 29./30.12.1881 u. 21.11.1882; Storm und Keller 1992, 83–84, 96). Meyer hingegen schätzte Keller offensichtlich literarisch hoch ein, ohne allerdings eine Art geistiger Verwandtschaft zu verspüren (vgl. Wysling und Lott-Büttiker 1998, 442–443). Seine Briefe an Keller enthalten dementsprechend viele Bescheidenheitstopoi und Unterwerfungsgesten (vgl. z.  B. 12.2.1877, 9.4.1880, 9.10.1881; MBW 1, 14–18, 116, 134). Die wohl interessanteste Korrespondenz ist allein schon wegen ihres Umfangs und ihrer Dauer diejenige zwischen Meyer und seinem Leipziger Verleger Hermann Haessel, die eine Fülle von Material zur Verlagsgeschichte und zur deutschsprachigen Literaturszene in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bietet, wobei man für die vollständige Verlagskorrespondenz die Briefwechsel von Meyers Schwester Betsy bzw. seinem zeitweiligen Sekretär Fritz Meyer mit Haessel hinzuziehen muss. Hätte Betsy Meyer in der Zerwürfnisphase zwischen Meyer und Haessel 1874–1876 nicht den Kontakt gehalten und am Ende die Versöhnung eingeleitet, hätte diese Autor-Verleger-Beziehung wahrscheinlich frühzeitig ihr Ende gefunden (vgl. Zeller und Zeller 1998, 154–161; MBW 4.2, 7–49). Zudem ist Meyers Schwester bis zu ihrem Rückzug auch für die persönlicheren Töne im Verkehr mit Haessel zuständig (vgl. R. Zeller 2001; Lukas 2006, 405–408). Erst in der Entstehungszeit der 1891 erscheinenden Novelle Angela Borgia und in

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den Jahren danach tritt Betsy Meyer nach zehnjähriger Zurückhaltung wieder in ihrer alten Funktion in Erscheinung. Mit ca. 2.000 Briefen liegt ein großer Fundus zur Entstehungsgeschichte von Meyers Werken vor. Über Meyers Ansichten oder poetologische Positionen erfährt der Leser aber auch hier bezeichnenderweise nahezu nichts, denn auch bei diesem Briefwechsel regiert von Seiten Meyers eine nur selten überwundene Knappheit im Duktus. Haessels Briefe hingegen haben über die Autor-Verleger-Kommunikation hinaus einen hohen Eigenwert, da er in vielen Briefen Details aus dem Leben eines Leipziger Verlegers preisgibt, der sich in Kunstdingen oft konservativ, politisch aber liberal gibt. Bismarck ist dabei immer wieder eine Reizfigur für Haessel, der er nichts Positives abgewinnen kann (vgl. MBW 4.3, 111; MBW 4.4, 182), während Meyer dem deutschen Reichskanzler eher bewundernd gegenübersteht. Reizvoll sind auch die Passagen, in denen Haessel andere Künstler kritisiert: So bringt er mehrmals deutlich zum Ausdruck, wie sehr er die Novellen und Romane Paul Heyses, die gesamte naturalistische Strömung, die Opern Richard Wagners und die Gemälde Hans Makarts verabscheut. Meyer hingegen hält sich im Urteil über andere Kunstschaffende zurück. Aus den Briefen Haessels tritt den Lesern auch ein warmherziger Mann entgegen, der stets um das Wohlergehen seiner Angehörigen und Freunde bemüht ist. Meyer hätte sich keinen loyaleren Verleger wünschen können, der seinen Autor – wenn auch nicht unkritisch – bewunderte und uneingeschränkt förderte (vgl. Zeller und Zeller 1998, 168; Lukas 2006, 398–404). Ebenfalls ergiebig sind die über lange Zeiträume andauernden Briefwechsel Meyers mit dem nach der Revolution von 1848/49 wegen seiner demokratischen Überzeugung wie Kinkel aus Deutschland geflohenen François Wille und dessen Frau Eliza (vgl. MBW 2) sowie seinen gelehrten, aber erzkonservativen Cousins Friedrich von Wyß und Georg von Wyß (vgl. MBW 3). Letztgenannter war Historiker und beriet Meyer des Öfteren in Fragen des historischen Kolorits von dessen Novellen. Meyer bleibt letztlich auch in seinen erfolgreichen und gesunden Jahren bis 1892 eher passiver Beiträger im epistolaren Kommunikationsnetz mit Schriftstellerkollegen (vgl. Jäger 1999, 88). Für ihn sind Briefe kein bevorzugtes Medium, um sich emotional auszudrücken – derlei behielt er wohl dem vertraulichen Gespräch vor. Man vergleiche Meyers Ausdrucksweise mit den jeweiligen Briefwechseln zwischen seinen Zeitgenossen Fontane, Storm, Heyse und Keller, in denen oft regelrecht sprachliche Feuerwerke gezündet werden. Sie erzählen sich sogar zutiefst Privates und ziehen manchmal auch über Kollegen her. Unter den ‚Opfern‘ befindet sich mehrfach auch Meyer. So deutet etwa Gottfried Keller in einem Brief an Paul Heyse vom 12. Dezember 1884 die seiner Meinung nach verfehlte Wahl des Rahmenerzählers Dante in Die Hochzeit des Mönchs in psychologisierender Weise als Überheblichkeit Meyers, anstatt sich mit dieser erzählerischen Konstruktion

6.25 Die Korrespondenzen Conrad Ferdinand Meyers 

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ästhetisch-literarisch auseinanderzusetzen: Meyer substituiere sich angeblich in der Novelle durch den großen italienischen Dichter, um sich in dieser Spiegelung narzisstisch selbst bewundern zu können (vgl. Keller 1952, 112). Meyer erfüllt in seinen Briefen mit Schriftstellerkollegen meist nicht viel mehr als die üblichen Rituale gegenseitiger Respektsbekundung: Man schickt sich gegenseitig seine Werke und lobt einander maßvoll. Tiefergehenden Erörterungen oder gar Selbstinterpretationen seiner eigenen Werke geht Meyer aus dem Weg. Unter den Ausnahmen: Meyers Briefe an die Wiener Schriftstellerin und Rezensentin Betty Paoli vom 19. April 1880 (vgl. Frey 1908 II, 347) und an Lingg vom 2. Mai 1880 (vgl. Frey 1908 II, 305–306), beide Male über den Heiligen, oder an Heyse vom 12. November 1884 (vgl. Frey 1908 II, 340–341) über die Hochzeit des Mönchs, hier aber eher ausweichend denn auf Heyses Kritik eingehend. Gründe für diese Zurückhaltung könnten in Meyers Persönlichkeit zu finden sein: Meyer hatte vermutlich zeitlebens Furcht vor psychischen Aufwallungen, die das innere Gleichgewicht ins Wanken bringen könnten. Nach den psychischen Tumulten der Jugendzeit, insbesondere den Krisen- und Gesundungsjahren 1852 bis 1856 und der Zeit danach (vgl. d’Harcourt 1913), huldigt Meyer zur Zeit seines literarischen Erfolgs im privaten Leben einem Ideal der Ereignislosigkeit. So schreibt er am 5. Februar 1883 an den berühmten Berliner Theaterkritiker der Vossischen Zeitung, Otto Brahm, vielsagend: „Im Ganzen wünsche ich nichts, als dass das Morgen dem Heute gleiche“ (Frey 1908 II, 379). Zwei Korrespondenzen bilden jedoch eine Ausnahme von der Regel, da Meyers notorische Reserviertheit hier in den Hintergrund tritt: Zum einen der 1875 einsetzende Briefwechsel mit dem von Meyer verehrten Münchner Schriftsteller Hermann Lingg (der auch dafür sorgt, dass Meyer 1888 mit dem bayerischen Maximiliansorden ausgezeichnet wird), zum anderen und in noch stärkerer Weise der über zehn Jahre andauernde Austausch mit der in den 1870er Jahren erfolgreichen Erzählerin Louise von François in Weißenfels (vgl. François und Meyer 21920 [1905]). Lingg gegenüber betont Meyer vor allem in den ersten Jahren oftmals dessen angeblich höheren Rang, indem er fortwährend die Anrede „verehrter Meister“ oder „lieber Meister“ benutzt (Frey 1908 II, 289 u. 291–295), um jeder Konkurrenzsituation vorauseilend aus dem Weg zu gehen (vgl. Jäger 1999, 91–94). Allmählich hält aber ein ungezwungenerer, von großer gegenseitiger Sympathie getragener Umgangston Einzug in diesen Briefwechsel, der auch viel Privates enthält. So wird aus dem „Meister“ ab Ende Juni 1877 schließlich endgültig der „Freund“. Louise von François gegenüber äußert sich Meyer gleich von Beginn an in bemerkenswert persönlicher Weise. Günstig für eine offene Kommunikation ist, dass es in diesem Fall keine Konkurrenzsituation unter Kollegen gibt, da sich die Autorin schon bei Einsetzen der Korrespondenz im ‚literarischen Ruhestandʻ befindet. Meyer schreibt ihr über einen langen Zeitraum ausführliche Briefe, die

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bisweilen sogar in eine Art unbefangenen Plauderton münden. Ausführliche Diskussionen poetologischer Natur meidet er aber auch hier (vgl. Wysling und LottBüttiker 1998, 444–445; Jäger 1999, 98–99). So ergibt sich in der Gesamtschau ein ambivalentes Bild: Trotz zunehmender Vernetztheit bleibt Meyer zeit seines Lebens ein introvertierter Außenseiter des Literaturbetriebs, der sich nicht in eine Clique eingliedern möchte und daher vermutlich bewusst am Rand des epistolaren Netzwerks des Bürgerlichen Realismus verbleibt. Nach Meyers psychischem Zusammenbruch im Jahr 1892 reißt sein Briefnetzwerk mit seinen Zeitgenossen allmählich, weil er von da an geistig kaum noch in der Lage ist, längere, zusammenhängende Gedanken zu formulieren, und weil ihn seine Ehefrau von da an kontrolliert und von der Umwelt abschirmt. Der schon zu seiner schriftstellerischen Blütezeit wortkarge Briefschreiber Meyer verstummt in den sieben Jahren vor seinem Tod bis auf einige wenige, meist knappe Mitteilungen immer mehr.

3 Die wichtigsten Editionen von Meyers Korrespondenzen Während Freys 1908 erschienene Briefedition im Prinzip nur Briefe von Meyer enthält (mit Ausnahme des Briefwechsels mit Keller und verstreuten An-Briefen in Fußnoten), gibt es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts einige Ausgaben, die Einzelbriefwechsel in den Fokus stellen. Hervorzuheben sind vor allem die von Anton Bettelheim respektive August Langmesser herausgegebenen Bände, die die Korrespondenzen mit Louise von François (21920 [1905]) bzw. Julius Rodenberg (1918) zugänglich machen. Eine weitere wichtige Publikation ist die 1949 von Emil Bebler besorgte Darstellung der Beziehung Meyers mit Gottfried Kinkel, die auch deren Briefverkehr enthält. Waren all diese genannten Ausgaben noch Leseausgaben im klassischen Sinn, so begaben sich Hans und Rosmarie Zeller 1977 auf editorisches Neuland, als sie an Meyers Briefwechsel mit Johanna Spyri erstmalig ansatzweise die Integration von genetischer Information in den edierten Text erprobten (vgl. Spyri und Meyer 1977). Seit dem Abschluss der historisch-kritischen Werkausgabe (15  Bde., Bern 1958–1996) stellt sich die 1998 von Hans Zeller gegründete Reihe C. F. Meyers Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe der Aufgabe, das Forschungsdesiderat einer wissenschaftlich gesicherten und kommentierten Edition der Korrespondenz Meyers mit der Herausgabe ausgewählter Einzelbriefwechsel zu erfüllen. Diese noch nicht abgeschlossene Reihe stellt die erste systematische Anwendung des Modells einer ‚integralen‘ textgenetischen Wiedergabe dar (MBW 1 ist allerdings,

6.25 Die Korrespondenzen Conrad Ferdinand Meyers 

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abweichend von den folgenden Bänden, noch vollfaksimiliert und diplomatisch ediert). Sie verfolgt zudem das Ziel, eine Alternative sowohl zu einer Faksimile­ edition mit strikt diplomatischer Transkription als auch zu konventionellen Editionsweisen anzubieten. Während faksimilegestützte Ausgaben aufgrund des überbordenden diakritischen Zeichenapparates dem Normalbenutzer die Lesbarkeit erschweren können und sich im Großen und Ganzen an ein wissenschaftlich orientiertes Publikum richten, haben konventionelle Ausgaben oft den Nachteil, in der Regel einen bereinigten (i.  e. oft emendierten und normalisierten) Lesetext zu bieten (somit wissenschaftlich nur eingeschränkt brauchbar zu sein) und dokumentarische Informationen über Textträger und Schreibverläufe in den Apparat zu verbannen. Durch die konsequente Integration nonverbaler ‚materieller‘ und genetischer Informationen in den edierten Brieftext strebt die Ausgabe C. F. Meyers Briefwechsel im Kontrast dazu eine innovative Synthese der beiden grundsätzlichen Dimensionen Textualität und Materialität an: Streichungen, Überschreibungen, Einfügungen, Positionsangaben von Nachträgen etc. werden bereits in die Edition des Briefteils selbst eingearbeitet. Auch die räumliche Verteilung des Textes in der Handschrift wird, soweit sie als bedeutungstragend interpretiert wird, im Rahmen des im Blocksatz Möglichen berücksichtigt. Des Weiteren werden Schreibfehler und Irrtümer nicht emendiert, sondern erst im Apparat ‚korrigiert‘ und orthographische Besonderheiten nicht angetastet (vgl. Zeller 2002; Lukas 2006, 408–413). Den quantitativ wie qualitativ bedeutendsten Briefwechsel enthält der vierte Band, der in acht Teilbänden Meyers vollständige Verlagskorrespondenz bringt, welche sich über ca. 35 Jahre erstreckt (sechs Teilbände bereits erschienen: Göttingen 2014–2020; zwei weitere Teilbände erscheinen voraussichtlich bis 2023). Auch die bislang kaum erschlossenen Briefwechsel mit den Münchner Schriftstellern Heyse und Lingg, mit Meyers engem Zürcher Freund Rahn sowie mit seinem späteren Biographen Frey wären es wert, in gleicher Weise ediert zu werden.

Zitierte Literatur Bebler, Emil (1949). Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Kinkel. Ihre persönlichen Beziehungen auf Grund ihres Briefwechsels. Zürich. Bissing, Friedrich Wilhelm von (1942). Mathilde Wesendonck. Die Frau und die Dichterin. Wien. [Im Anhang Briefe Meyers an M. Wesendonck.] François, Louise von u. Conrad Ferdinand Meyer (21920 [1905]). Ein Briefwechsel. Hg. v. Anton Bettelheim. Berlin u. Leipzig. [Die erste Auflage von 1905 enthält weniger Briefe.] Frey, Adolf (Hg.) (1908). Briefe Conrad Ferdinand Meyers. Nebst seinen Rezensionen und Aufsätzen. 2 Bde. Leipzig. d’Harcourt, Robert (Hg.) (1913). C. F. Meyer. La Crise de 1852–1856. Lettres de C. F. Meyer et de son entourage. Paris.

1312 

 6 19. Jahrhundert

Jäger, Andrea (1999). „‚Ich habe für den Bettel höflich gedankt‘. Conrad Ferdinand Meyers Briefe an Kollegen“, in: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Hg. v. Rainer Baasner. Tübingen: 83–99. Keller, Gottfried (1952). Gesammelte Briefe. Bd. 3/1. Hg. v. Carl Helbling. Bern. Lukas, Wolfgang (2006). „Die Korrespondenz zwischen Conrad Ferdinand Meyer und seinem Leipziger Verleger Hermann Adolf Haessel. Vorstellung eines Editionsprojekts“, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte, 15: 395–422. Lukas, Wolfgang (2008). [Unbetitelter Beitrag], in: Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 11.9. bis 16.11.2008. Hg. v. Waltraud Wiethölter u. Anne Bohnenkamp. Frankfurt a. M. u. Basel: 253–254. Meyer, Conrad Ferdinand u. Julius Rodenberg (1918). Ein Briefwechsel. Hg. v. August Langmesser. Berlin. Meyer, Conrad Ferdinand (1964). Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. v. Hans Zeller. Zweiter Band: Gedichte, Bericht des Herausgebers, Apparat zu den Abteilungen I und II. Bern. [MSW 2] Meyer, Conrad Ferdinand (1998). Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Hans Zeller. Bd. 1 (1998): Conrad Ferdinand Meyer – Gottfried Keller. Briefe 1871 bis 1889. Bearb. v. Basil Rogger, Stefan Graber, Kurt Werder u. Hans Zeller. Bern. [MBW 1] Meyer, Conrad Ferdinand (1999). Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Hans Zeller. Bd. 2: Conrad Ferdinand Meyer – François und Eliza Wille. Briefe 1869 bis 1895. Bearb. v. Stefan Graber, Basil Rogger, Kurt Werder u. Hans Zeller. Bern. [MBW 2] Meyer, Conrad Ferdinand (2004). Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Hans Zeller. Bd. 3: Conrad Ferdinand Meyer – Friedrich von Wyß und Georg von Wyß. Briefe 1855 bis 1897. Hg. v. Hans Zeller u. Wolfgang Lukas, unter Mitarb. v. Stephan Landshuter u. Thomas Lau. Bern. [MBW 3] Meyer, Conrad Ferdinand (2014). Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Wolfgang Lukas u. Hans Zeller. Bd. 4.1: Verlagskorrespondenz: Conrad Ferdinand Meyer, Betsy Meyer – Hermann Haessel. Briefe 1855 bis April 1874. Besorgt v. Sandra Fenten, Thomas Goetz, Wolfgang Lukas, Ute-Recker-Hamm (philolog. Datenverarbeitung), Hans Zeller u. Patricia Zihlmann, unter Mitarb. v. Stephan Landshuter u. Maya Zellweger. Göttingen. [MBW 4.1] Meyer, Conrad Ferdinand (2014). Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Wolfgang Lukas u. Hans Zeller. Bd. 4.2: Verlagskorrespondenz: Conrad Ferdinand Meyer, Betsy Meyer – Hermann Haessel. Briefe Juli 1874 bis 1879. Besorgt v. Stephan Landshuter, Wolfgang Lukas, Matthias Osthof (philolog. Datenverarbeitung), Elisabeth Rickenbacher u. Hans Zeller, unter Mitarb. v. Sandra Fenten, Thomas Goetz u. Patricia Zihlmann. Göttingen. [MBW 4.2] Meyer, Conrad Ferdinand (2015). Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Wolfgang Lukas. Bd. 4.3: Verlagskorrespondenz: Conrad Ferdinand Meyer, Betsy Meyer – Hermann Haessel. Briefe 1880 bis 1882. Hg. v. Stephan Landshuter, Wolfgang Lukas, Elisabeth Rickenbacher, Rosmarie Zeller u. Matthias Osthof (philolog. Datenverarbeitung), unter Mitarb. v. Sandra Fenten. Göttingen. [MBW 4.3] Meyer, Conrad Ferdinand (2017). Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Wolfgang Lukas. Bd. 4.4: Verlagskorrespondenz: Conrad Ferdinand Meyer, Betsy Meyer – Hermann Haessel. Briefe 1883 bis 1885. Hg. v. Stephan Landshuter, Wolfgang Lukas, Elisabeth Rickenbacher, Rosmarie Zeller u. Matthias Osthof (philolog. Datenverarbeitung), unter Mitarb. v. Sandra Fenten. Göttingen. [MBW 4.4]

6.25 Die Korrespondenzen Conrad Ferdinand Meyers 

 1313

Meyer, Conrad Ferdinand (2019). Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Wolfgang Lukas. Bd. 4.5: Verlagskorrespondenz: Conrad Ferdinand Meyer, Betsy Meyer – Hermann Haessel. Briefe 1886 bis 1887. Hg. v. Stephan Landshuter, Wolfgang Lukas, Elisabeth Rickenbacher, Rosmarie Zeller u. Matthias Osthof (philolog. Datenverarbeitung), unter Mitarb. v. Sandra Fenten. Göttingen. [MBW 4.5] Meyer, Conrad Ferdinand (2020). Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Wolfgang Lukas. Bd. 4.6: Verlagskorrespondenz: Conrad Ferdinand Meyer, Betsy Meyer – Hermann Haessel. Briefe 1888 bis 1890. Hg. v. Stephan Landshuter, Wolfgang Lukas, Elisabeth Rickenbacher, Rosmarie Zeller u. Matthias Osthof (philolog. Datenverarbeitung), unter Mitarb. v. Sandra Fenten. Göttingen. [MBW 4.6] Spyri, Johanna u. Conrad Ferdinand Meyer (1977). Briefwechsel 1877–1897. Hg. v. Hans Zeller u. Rosmarie Zeller. Kilchberg. Storm, Theodor u. Gottfried Keller (1992). Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. Karl Ernst Laage. Berlin. Vischer, Robert (Hg.) (1906). „Conrad Ferdinand Meyer und Friedrich Theodor Vischer“, in: Süddeutsche Monatshefte, 3: 172–179 [enthält Briefe aus dem Briefwechsel Vischer– Meyer: zwölf Briefe Meyers, zwei Briefe Vischers]. Wysling, Hans (1990). Gottfried Keller. Zürich. Wysling, Hans u. Elisabeth Lott-Büttiker (1998). Conrad Ferdinand Meyer 1825–1898. Zürich. Zeller, Hans (2002). „Authentizität in der Briefedition. Integrale Darstellung nichtsprachlicher Informationen des Originals“, in: editio, 16: 36–56. Zeller, Hans u. Rosmarie Zeller (1998). „‚Das wirklich bestehende Verhältniß eines Dichters zu seinem Verleger‘: C. F. Meyer und Hermann Haessel“, in: Geehrter Herr – lieber Freund. Schweizer Autoren und ihre deutschen Verleger. Hg. v. Rätus Luck. Basel u. Frankfurt a. M.: 147–168. Zeller, Rosmarie (2001). „Betsy Meyer, Sekretärin, Kopistin, Mitarbeiterin. Ihre Selbst­ darstellung im Briefwechsel mit dem Verleger“, in: Literarische Zusammenarbeit. Hg. v. Bodo Plachta. Tübingen: 157–166. [Nochmals abgedruckt in: MBW 4.1: 539–548.]

Weiterführende Literatur Gerlach, U. Henry (1994). Conrad-Ferdinand-Meyer-Bibliographie. Tübingen. Jackson, David A. (1975). Conrad Ferdinand Meyer. Reinbek bei Hamburg. Lukas, Wolfgang (2004). „‚Realität‘, Geschichte, Kunst – eine literarhistorische Lektüre des Briefwechsels von C. F. Meyer mit Friedrich von Wyß und Georg von Wyß“, in: Conrad Ferdinand Meyer. Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Hans Zeller. Bd. 3: Conrad Ferdinand Meyer – Friedrich von Wyß und Georg von Wyß. Briefe 1855 bis 1897. Hg. v. Hans Zeller u. Wolfgang Lukas, unter Mitarb. v. Stephan Landshuter u. Thomas Lau. Bern: 217–228. [MBW 3] Nutt-Kofoth, Rüdiger (2005). „Meyer-Editionen“, in: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hg. v. dems.  u. Bodo Plachta. Tübingen: 361–387. Storm, Theodor u. Paul Heyse (1974). Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Bd. 3: 1882–1888. Hg. v. Clifford Albrecht Bernd. Berlin.

Cornelia Ortlieb

6.26 Stéphane Mallarmé – Stefan George Mit dem wenig bekannten Briefwechsel zwischen dem ‚Meister‘ des französischen Symbolismus und seinem jungen Bewunderer und Adepten gerät eine besondere Beziehung zweier charismatischer Autoren in den Blick, deren wenige persönliche Begegnungen von einer interessanten Serie des Gabentauschs, der Widmungen und der Versicherung wechselseitiger Bewunderung begleitet waren, die auch poetologische Implikationen hat. Die Bedeutung Mallarmés für das poetische Schreiben Georges, seine Arbeit an Schriftform und Ausstattung von Texten und seine Wahl bestimmter Modi der Darbietung eigener und fremder Werke kann dabei kaum überschätzt werden. Umgekehrt hat Mallarmé seinem deutschen Bewunderer eine erste Verbreitung seiner Texte in Deutschland zu verdanken: George hat durch die Übersetzung und Aufnahme der beiden Versgedichte „Brise marine“ und „Apparition“ und einer Szene des Dramas Hérodiade in seine Anthologie Zeitgenössische Dichter (vgl. George 1905) wie durch das literarische Porträt Mallarmés in seiner Reihe Dichterköpfe von 1893 (vgl. George 1893, 137) die Aufmerksamkeit auf dessen besondere Poetik und Persönlichkeit gelenkt. Der erst 2013 vollständig veröffentlichte, eher schmale Briefwechsel – insgesamt nur elf Briefe oder Karten und vier Widmungen –, der auf den ersten Blick nur standardisierte Dank- und Grußformeln bietet, ist so als Teil einer komplexen Verbindung zweier Avantgarde-Autoren zu lesen, die in teils vorgefundenen, teils hergestellten verblüffenden Ähnlichkeiten der Schreibweise, der Kunstauffassung und des Habitus kulminiert.

1 Paris, 1889. Geschichte und Implikationen einer Begegnung Dem Briefwechsel war eine für Georges weiteres Leben und seine Kunst entscheidende persönliche Begegnung vorausgegangen: Der erst zwanzigjährige Student der Philologie und angehende Dichter war durch die Vermittlung Albert SaintPauls in den exklusiven Kreis der Dienstagabend-Gäste aufgenommen worden und hatte, vermutlich eher passiv, an dem von Mallarmé allwöchentlich zelebrierten Ritual des gemeinsamen Diner mit Lesungen und Gesprächen über neue Entwicklungen der zeitgenössischen Literatur teilgehabt. Mallarmé, der sich von seinen teils erheblich jüngeren Freunden und Dichterkollegen mehr oder weniger scherzhaft als „Maître“/„Meister“ titulieren ließ, hatte an diesen geselligen Abenden https://doi.org/10.1515/9783110376531-109

6.26 Stéphane Mallarmé – Stefan George 

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stets den Vorsitz und entsprechend waren die Diskussionen neuer Gedichte und poetologischer Fragen auch der respektvollen und bewundernden Auseinandersetzung mit seinem Werk gewidmet. Offenkundig konnte diese Selbstinszenierung des berühmten Autors als Anführer einer literarischen Avantgarde und Herr über Poesie, Rhetorik und Geselligkeit ein geeignetes Vorbild für Georges spätere Organisation seines ‚Kreises‘ abgeben; zu diesem Zeitpunkt dürfte aber die Entdeckung der Gedichte Baudelaires, die gleichfalls Saint-Paul durch die Überlassung seines Exemplars der Fleurs du mal und den dezidierten Hinweis auf die Bedeutung der skandalisierten Texte für die Poesie der Moderne initiiert hatte, noch entscheidender gewesen sein (vgl. Karlauf 2007, 79). Noch während dieses Parisaufenthalts, dem zu Lebzeiten Mallarmés zwischen 1890 und 1892 und in den Jahren 1895, 1896 und 1897 einige weitere folgen sollten (vgl. Karlauf 2007, 79), hat George mit der Übersetzung des programmatischen Eröffnungsgedichts und einer (sprechenden) Auswahl weiterer Gedichte begonnen und der Verweis auf diese Tätigkeit soll ihm erst den Eintritt in Mallarmés Welt ermöglicht haben. Nach einer bereits 1891 fertiggestellten Teilübersetzung von 40 Gedichten Baudelaires, die in der handschriftlichen Fassung Carl August Kleins in 25 zinkographisch vervielfältigten Exemplaren „freunden und verehrern überreicht“ wurden (George 1982  ff., Bd. XIII/XIV, 198), erschienen zu Mallarmés Lebzeiten 1896 nochmals zwei dieser Übertragungen in einem Sammelband der Pariser Zeitschrift La Plume [Die Feder], mit dessen Erlös ein Denkmal für Baudelaire finanziert werden sollte  – ein Unternehmen, das von Mallarmé, dem berühmtesten lebenden Nachfolger des 1867 verstorbenen Begründers der literarischen Moderne, in Frankreich prominent unterstützt wurde. In Deutschland wird das Projekt flankiert durch einen entsprechenden Aufruf Georges in den Blättern für die Kunst (vgl. George 1892, Bd. I, 1, 32; Zeller et al. 21968, 19). Auch Mallarmé hatte seine ersten Versgedichte offensichtlich an seinem berühmten Vorgänger orientiert und sein Experimentieren mit Prosagedichten und der Annäherung von Malerei oder Zeichnung und Schrift ist von Baudelaires Arbeiten mehr als inspiriert, sodass George in Mallarmé nicht nur den bewunderten Meister auf dem Höhepunkt seines Ruhms, sondern auch den ehemaligen Schüler und Bewunderer wiedererkennen konnte. Auf diesen „gedoppelte[n] Einfluss (Baudelaire direkt plus Baudelaire durch Mallarmé)“, „ergänzt durch die Bewunderung für Verlaine“ (George und Mallarmé 2013, 12), hat George selbst schon 1892 in einer ironischen Bemerkung hingewiesen, die seine ‚Schülerschaft‘ zugleich bestätigt und verneint: „Früher hat man mich einen Schüler Baudelaires genannt, heute bin ich der von Verlaine, morgen werde ich der Mallarmés sein“ [„Autrefois on m’appelait disciple de Baudelaire aujourd’hui je suis celui de Verlaine demain je serai celui de Mallarmé“] (Zeller et al. 21968, 56; Übers.  d. Verf.). Im Jahr 1903, vierzehn Jahre nach der Pariser Begegnung und fünf Jahre nach

1316 

 6 19. Jahrhundert

dem Tod Mallarmés, stand der Dichter seinem Bewunderer offenbar noch mit sprechenden physiognomischen Details seines Aussehens und der Schrift vor Augen: „Den jähen aufstrich in handbewegung stimme und (lächeln wir!) selbst in der bezeichnenden haarlocke und den endhaken der schrift  […]: der mann Stéphane Mallarmé“ (George 1893, 134). Wenngleich George hier eine auch in Paris sprichwörtliche Arbeit des Dichters an sprechenden Details, bis hin zur Stilisierung des berühmten Schnurrbarts, beschreibt, „glaubt man einen ersten zaghaften Versuch zu einem Selbstporträt zu erkennen“ (Karlauf 2007, 83). Das Paradox der Nachahmung eines unnachahmlichen Vorbilds benennt der Artikel in bewundernder Anrede selbst: „Deshalb o dichter nennen dich genossen und jünger so gerne meister, weil du am wenigsten nachgeahmt werden kannst und doch so grosses über sie vermochtest“ (George 1893, 137). Ein vermeintlich kontingentes biographisches Detail verstärkt diese (teils konstruierte) Ähnlichkeit der Konfiguration von Autorschaft und dichterischem Schreiben: Unter dem Eindruck der Begegnung mit Stéphane Mallarmé hat George seinen Rufnamen Étienne nach seinem Taufnamen Stephan in die deutsche Version Stefan übersetzt (vgl. Karlauf 2007, 35), wie Mallarmé ehemals denselben französischen Vornamen durch die gräzisierende Variante Stéphane ersetzt hatte. Entsprechend sollen es den Zeitzeugen zufolge vor allem Mallarmés Auftreten und die Organisation seiner Dichterrunde gewesen sein, was George nachhaltig beeindruckt hat, aber auch dessen geheimnisvolles Projekt mit dem vielsagenden Titel „Le Livre“ [„Das Buch“], zu dem Mallarmé nach seinem berühmten Aufsatz von 1866 über „Le Livre, instrument spirituel“ [„Das Buch, Instrument des Geistes“] selbst nur wenig veröffentlicht hat (Mallarmé 2003, 2 u. 224). Das „Buch“, das zugleich alle bereits erschienenen Bücher übertreffen und das Konzept Buch überwinden sollte, war offenbar kurz vor Georges Eintreffen in Paris im März 1889 auch Gegenstand der Gespräche (vgl. George und Mallarmé 2013, 41; Millan 2008, 60–61): „Die ‚Gebärde des Lebens‘ zusammen mit diesen Livre-Vorwegnahmen führten bei George zur Bildung eines eigenen Kreises, in dem er mit ‚Meister‘ angesprochen wurde (wie Mallarmé mit maître), und in dem die Mitglieder ‚Mitbrüder‘ hießen, wie jene confrères Mallarmés.“ (George und Mallarmé 2013, 41) Etwa ab 1901, nach dem Erscheinen der Buchausgabe seiner Blumen des Bösen, soll George sich dezidiert von Baudelaire abgewandt und den wiederholt behaupteten Einfluss der französischen Symbolisten auf sein poetisches Schaffen bestritten haben, wie neben den distanzierenden Stellen im Vorwort des Buchs auch einige unmutige Briefäußerungen zu seiner vermeintlichen ‚Schülerschaft‘ bei Autoren wie Baudelaire, Mallarmé und Verlaine belegen (vgl. Karlauf 2007, 286–287). Mit dem neuen Vorbild Dante und dem Beginn der Übersetzung von dessen Divina Commedia endet so nicht nur die mehr als zehn Jahre fortgeführte

6.26 Stéphane Mallarmé – Stefan George 

 1317

Arbeit an den Fleurs du mal-Gedichten und jede Bezugnahme auf Baudelaire als dichterisches Vorbild, sondern auch Georges intensive Auseinandersetzung mit der französischen Dichtung der Moderne.

2 Aneignung und Überschreibung: Der Briefwechsel zwischen Übersetzung und Kalligraphie Nach früheren Teil-Veröffentlichungen ist der Briefwechsel in französischer Sprache mit deutscher Übersetzung 2013 erstmals vollständig publiziert worden, nachdem Robert Boehringer in der zweiten Auflage seines Buchs über George bereits 1968 den Briefwechsel George Mallarmé (freilich nur „nach damaligem Kenntnisstand“; Oelmann 2013, 149) veröffentlicht hatte, mitsamt den Abschriften Georges von den Mallarmé-Dichtungen „Apparition“ und „Hérodiade“ (vgl. Boehringer 21968, 201–206). Die Briefe Mallarmés an George waren im Rahmen der Veröffentlichung seiner gesamten Korrespondenz bereits 1945 erschienen, einschließlich einiger (unvollständiger) Briefe Georges in verschiedenen Bänden der Briefausgabe oder in ihrem Anmerkungsteil (vgl. George und Mallarmé 2013, 51). Die erste zweisprachige Ausgabe des gesamten Briefwechsels von 2013 gibt zunächst jeden Brieftext in Originalsprache und typographischer Nachahmung seiner je spezifischen Einrichtung, etwa mit Zeilenbruch bei den offenbar kleinformatigen Briefkarten oder Billets, wieder, in einem zweiten Teil dann die deutsche Übersetzung der französischen Passagen. Sie eröffnet zudem die beiden Kapitel, die jeweils eine Gattung oder ein Medium der Korrespondenz präsentieren („Briefe“, „Widmungen“), mit kursiv gesetzten Hinweisen zu Material und Format jedes Schriftstücks, und schließt mit Angaben zum historischen Kontext, beispielsweise mit dem Hinweis auf seinen Status als Beilage zu einer anderen Sendung. So ist gleich der erste ‚Brief‘ eine Visitenkarte, die auf der Vorderseite nur den aufgedruckten Namen in Versalien STEFAN GEORGE enthält und auf der Rückseite die Widmungsadresse: „Herrn Stéphane Mallarmé/ein fremder, doch gestatten Sie, verwandter Autor“ [„A Monsieur Stéphane Mallarmé/un auteur étranger mais daignez familier“] (George und Mallarmé 2013, 89; Übers.  d. Verf.); die nachgestellte Anmerkung erläutert, dass George am 11. Dezember 1890 drei Exemplare seines ersten Gedichtbands Hymnen (von insgesamt nur hundert, die überwiegend für Freunde bestimmt waren, vgl. Jacob 22016, 107) mit der Bitte an Saint-Paul geschickt hatte, eines davon an Mallarmé weiterzuleiten. Entsprechend ist dieser erste weder datierte noch unterzeichnete ‚Brief‘ bereits ein Grenzfall seiner Gattung; ungeachtet der

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 6 19. Jahrhundert

Sammelüberschrift „Briefe“ wäre eine Unterscheidung nach Brief und Billet angesichts der reichen Tradition dieser Gattung, ihrer eigenen Medialität und Materialität, sicher sinnvoll (vgl. Oesterle 2015). Auch Mallarmé wird (unter 8. rubriziert) im April 1895 und nochmals am 23. Februar 1896 (vgl. Nr. 12 des Briefwechsels, George und Mallarmé 2013, 72) eine solche eigene Visitenkarte zu einer Danksagung nutzen (vgl. George und Mallarmé 2013, 67). Letztere ist samt ihrem von Mallarmé beschrifteten Umschlag als Faksimile wiedergegeben, so dass erkennbar wird, wie die sorgfältig in den begrenzten weißen Raum gefügten Zeilen genau in der Mitte durch den in Versalien gedruckten Namen STÉPHANE MALLARMÉ geteilt werden, der zudem, wie häufig bei Mallarmé, in einer Art Künstlersignatur aus den beiden verschlungenen Initialen S und M unter dem Schriftgebilde wieder aufgenommen ist (vgl. Ortlieb 2015). Diese zeichnerische Ergänzung des geschriebenen Textes ist umso sprechender, als Mallarmé hier mit einem „stummen Handschlag“ [„muette poignée de main“] (George und Mallarmé 2013, 72/92; Übers.  d. Verf.) für Georges Gedichte in deutscher Sprache (vermutlich aus dem Jahr der Seele, vgl. George und Mallarmé 2013, 72; Boehringer 21968, 204) dankt, die er mit eingestandener „Unwissenheit“ [„ignorance“] als „gebieterisch sichtbare Melodie“ [„impérieuse mélodie visible“] und „breiten und sicheren Flug“ [„vol épars et certain“] bezeichnet, „die mit einem sicheren Zug die fließende Träumerei begrenzen“ [„avec un trait sûr limitant la rêverie fluide“] (George und Mallarmé 2013, 72/92; leicht modifizierte Übers.  d. Verf.). Zwei weitere faksimilierte Widmungen aus wechselseitig übersandten eigenen Buchausgaben machen die Gemeinsamkeiten der kalligraphischen Arbeit an Schrift und Text nochmals deutlich: Hier scheint George mit sorgfältig gemalten Druckbuchstaben mit durchgehender Kleinschreibung in vier abgesetzten, versartigen Zeilen auch formal auf Mallarmés kunstvoll geschriebene und mit den charakteristischen Aufstrichen verzierte Schreibschrift in ähnlicher räumlicher Anordnung zu antworten (George und Mallarmé 2013, 88). Diese Widmungssätze oder -verse, die in der neuen Briefausgabe unübersetzt bleiben, stellen einen eigenen kleinen Dialog dar, der in der wechselseitigen Versicherung von Bewunderung und Zuneigung durchaus mehrdeutig ausfällt. So nennt Mallarmé sich in der ersten erhaltenen Widmung von 1893 (in seinem eben erschienenen Buch Vers et prose), die historischen Verhältnisse geradezu umkehrend und großzügig überschreitend, den „Bewunderer und Freund“ [„admirateur et ami“] des adressierten George, um 1895 ein Exemplar seines Essaybands La Musique et les Lettres mit einer besonderen handschriftlichen Ehrung zu eröffnen: „Für Stefan George/Ehrung/gefühlvoll und bewundernd/von Stéphane Mallarmé“ [„A Stefan George/Hommage/affectueux et admiratif/de Stéphane Mallarmé“] (George und Mallarmé 2013, 87; Übers.  d. Verf.). Im selben Ton antwortet George 1895 und 1897, bezeichnenderweise in beiden einschlägigen Sprachen: „au Cher Maître/

6.26 Stéphane Mallarmé – Stefan George 

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Stéphane Mallarmé [„dem Teuren Meister“]/Stefan George“ und „dem Meister/ Stéphane Mallarmé/in verehrung und treue/Stefan George“. Auch wenn diese wechselseitige Verneigung den konventionellen Mustern solcher Übereignungstexte folgt, bleibt doch die Insistenz auf dem doppelten Dichternamen, der sich hier im gemeinsamen Vornamen zudem echoartig wiederholt, auffällig: Man begegnet sich, bei aller Devotion, zumindest in diesen Schriftzeichen und in der Symmetrie der Buchgeschenke, unter Gleichen. Von einer solchen symbolischen Mehrdeutigkeit können die nur im Drucktext wiedergegebenen Briefe aus den Archiv-Nachlässen beider Autoren deutlich weniger anzeigen, entsprechend entschieden werden sie eingeführt: „Der Briefwechsel ist kein Dichtergespräch. […] Mallarmé war nicht in der Lage, sachliche Fragen, Georges Dichtung betreffend, zu besprechen, George seinerseits tat es nicht mit Mallarmé.“ (George und Mallarmé 2013, 52) Dennoch ist in den Briefen in einem anderen Sinn ausschließlich von Dichtung die Rede: Mallarmé dankt in seinem ersten Brief vom 28. Februar 1891 für die Übersendung der Buchausgabe der Hymnen, die ihm durch eine Übersetzung in seiner Umgebung zugänglich gemacht worden sei, findet präzise Lobesworte für die Eigenart der Dichtung Georges und ordnet ihn mit einer Art literarischem Ritterschlag der zeitgenössischen Avantgarde zu: „Ich war entzückt durch den ursprünglichen und stolzen Wurf, sprudelnd und träumerisch, dieser Hymnen (kein Titel könnte schöner sein); aber auch, mein verehrter Emigrant (ja, so möchte ich fast sagen), dass Sie mit Ihrem Kunstwerk, so fein und besonders, einer der unsrigen und von heute sind.“ [„J’ai été ravi par le jet ingénu//et fier, en de l’éclat/et la rêverie, de ces Hymnes (nul titre qui soit plus beau); mais aussi, mon cher exilé (je dirai/presque, oui) que vous soyez/par votre main d’œuvre,/si fine et rare, un des nôtres et dʼaujourd’hui.“] (George und Mallarmé 2013, 58/89; Übers.  d. Verf.) Diese Eröffnung gibt den Ton für alle weiteren kurzen Schreiben an, die teils an den Austausch von Buch-Gaben gebunden sind (Nr. 1, 2 u. 15), teils die Entstehung der Übersetzung von drei Gedichten Mallarmés durch George und ihre Übersendung kommentieren (Nr. 3, 4, 6, 7, 8, 12 u. 14) und, hier erstmals dokumentiert, Georges Engagement für eine autorisierte Veröffentlichung von Mallarmés Aufsatz über Richard Wagner belegen (Nr.  5) oder mehrfach ein neuerliches persönliches Treffen anbahnen sollen (Nr. 9, 10, 12, 13, 16, 17). Während die neueste GeorgeBiographie bis zu Mallarmés Tod im Jahr 1898 nur für 1895 einen „Zwischenstopp in Paris“ und zwei „Paris-Reisen 1896 und 1897“, die „nur indirekt mit den Franzosen zu tun [hatten]“ verzeichnet (Karlauf 2007, 287), spricht ein kurzer Brief Georges vom Bedauern, Mallarmé während seines „so kurzen Aufenthaltes in Paris nicht getroffen zu haben“ (George und Mallarmé 2013, Nr. 9, 68, 91), dokumentieren zwei Billets eine Verabredung in Mallarmés Pariser Wohnung am 8. März 1896 (George und Mallarmé 2013, Nr. 11, 13, 71, 74, 92–93) und zwei weitere

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Briefe ein offenbar knappes Verfehlen am 30. April 1897 (George und Mallarmé 2013, Nr. 16, 17, 78–81, 94–95). Mallarmé war bereits auf dem Weg zu seinem Landhaus in Valvins; mit George hatte, seinem etwas längeren Brief zufolge, „nicht der Dichter der Ulaïs, sondern einer meiner österreichischen Freunde, Graf Schoenborn, begierig, Sie kennenzulernen“, offenbar unangekündigt versucht, den „liebe[n] Meister“ persönlich anzutreffen (George und Mallarmé 2013, Nr. 17, 80, 94). Karl Wolfskehl, der Verfasser des genannten Gedichtbands, war nicht nur in diesem Fall das Opfer einer Verwechslung: In einem kuriosen postalischen Verwirrspiel hatte Mallarmé offenbar ihm und zugleich Alfred Douglas, dessen zweisprachigen Gedichtband Poems/Poèmes er ebenfalls kurz zuvor zugeschickt bekommen hatte, im März 1897 jeweils mit einer „Karte“ (oder einem Billet) für die Übersendung ihrer Bücher gedankt, dabei aber die Briefumschläge verwechselt und anschließend George gebeten, den ihm sofort von Douglas zurückgesandten Irrläufer an seinen richtigen Adressaten weiterzuleiten. Bereits ein paar Tage zuvor hatte George jedoch schon Wolfskehl über die „[s]eltsame wechselei“ verständigt und weitere Briefe an verschiedene Personen geschickt, von denen er sich Hilfe bei der neuerlichen Zustellung versprach. Dabei hat er aber offenbar bei Wolfskehl das neuerliche Missverständnis provoziert, Mallarmé habe ihm zu seinen Gedichten gratuliert; dieser hat eine vollständige Abschrift des Textes der vermeintlich an ihn gerichteten lobenden Worte einem Brief an Carl August Klein beigefügt und ihn um seine Meinung zu „diesen entzückenden Zeilen“ gebeten. Auch ein nochmaliger Versuch Georges, Wolfskehl zur Rücksendung der fehlgeleiteten Lobesworte an den anonymen „lieben Dichter“ [„cher Poète“] zu bewegen, scheint gescheitert zu sein; das „Rätsel, wie sich Wolfskehl täuschen konnte“ (George und Mallarmé 2013, 84), ist so wenig gelöst wie das Verschwinden mancher Schreiben aus diesem mysteriösen postalischen Reigen erklärt werden kann (George und Mallarmé, 82–85). Die Episode ist aber auch symptomatisch für die anhaltende postalische Verwirrung, die Georges rastlose Bewegung durch verschiedene europäische Länder mit ständigen Adresswechseln ausgelöst hat. Das Verfehlen und Versäumen, von dem die zwischen George und Mallarmé gewechselten Billets handeln, wo sie eigentlich Begegnung und Austausch antizipieren, erhält so eine sprechende Ergänzung von anderen Händen, die immer wieder auf Briefumschlägen einzelne Wörter oder ganze Zeilen streichen, Adresszeilen aktualisieren oder die Unzustellbarkeit der Sendung vermerken, bis hin zu einem vielfach bestempelten und handschriftlich annotierten Umschlag, der den freundlich adressierten Stefan George von der Hand Berliner Postbeamter vergeblich klassifiziert als „Adresse in Schwedtstr 30/nicht bekannt im Adreßbuch/nicht ersichtlich/xx Berlinmitte/ […] Nicht gemeld[…]/Polizeilich be[…]/Meyer/Bez. 6 (P.A. 8/Unbekannt Inconnu“ (George und Mallarmé 2013, 75–76) – ein zweisprachiges Post-Gedicht, das, nach

6.26 Stéphane Mallarmé – Stefan George 

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Paris zurückgesandt, den Verfasser zahlreicher Briefumschlag-Gedichte mit dem Sammeltitel Vergnügen der Post [Loisirs de la Poste] trotz der Widrigkeiten neuer Sendungen auch erfreut haben dürfte.

3 Forschungsstand Enrico De Angelis präsentiert in seiner detail- und materialreichen Einführung zu dem von ihm herausgegebenen Briefwechsel auch eine thematisch gegliederte „Zusammenstellung“ der Eigenarten von Schreibverfahren und Textgestaltung beider Autoren, die deren vielfältige Übereinstimmungen belegt. Dabei handelt es sich erklärtermaßen um „Forschungsergebniss[e], die einerseits der George- und andererseits der Mallarmé-Forschung vertraut sind“. Man finde daher „im Detail zwar nichts Neues“, durch die in Spalten gesetzte Gegenüberstellung von Zitaten und Kommentaren aber ein neues „Gesamtbild“ (George und Mallarmé 2013, 22). Im Einzelnen geht es dabei u.  a. um die analoge Arbeit an und mit „Interpunktion und Rechtschreibung“, „Archaismen“, „Wortstellungen, Inversion“ (George und Mallarmé 2013, 23, 26–27, 32–38). Dieses einführende Referat der Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte gibt zudem auch Einblick in die unterschiedlichen Bewertungen der Beziehung zwischen den beiden Autoren. Verschiedene Zeitzeugen haben einerseits Georges Teilnahme an den Dienstagabenden relativiert, indem etwa Albert Mockel behauptet, es könne nur von zwei solchen Abenden die Rede sein, an denen George zudem überwiegend geschwiegen habe, oder Saint-Paul und André Gide den deutschen Gast als schweigsam und schüchtern charakterisieren, andernorts aber betont wird, dass George in Gesprächen mit den Schriftstellern dieses Kreises der Diskussion um „Poesie, Verstechnik“, nicht nur „mit leidenschaftlicher Neugier“ zugehört (Boehringer 1968, 207; Gsteiger 1971, 10), sondern auch selbst einiges dazu beigetragen habe (Revue d’Allemagne 1928, 388; Gsteiger 1971, 10). Über diese historisch-biographische Rekonstruktion hinaus ist schon von den Zeitgenossen teils polemisch auf Georges schülerhafte Annäherung an den französischen Symbolismus, namentlich die für ihn besonders wichtigen Autoren Charles Baudelaire, Paul Verlaine und Stéphane Mallarmé, hingewiesen worden, bis hin zu seiner literaturwissenschaftlichen Klassifikation als „Mallarmés Jünger in Deutschland“ (Hamburger 1995, 20). Diese Formulierung mag auf Georges eigene Würdigung des Dichters zurückgehen (vgl. George 1893, 137), dennoch betonen neuere Arbeiten eher, dieser habe in keinem der französischen Dichter ein „Idol“ oder „Vorbild“ gesehen, sondern das an Mallarmé Beobachtete wie den „Zug ins Gewollte, die theatralische Leidensfähigkeit, das Pathos, die Pose […]

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 6 19. Jahrhundert

übernommen  – um sich zugleich davon zu emanzipieren“ (Karlauf 2007, 86). Armin Schäfer hat jedoch „die Initiation beim Meister (Stéphane Mallarmé)“ als Narrativ einer „George-Biographik“ beschrieben, die aus einem bereits in Richard Strauss’ Tondichtung Ein Heldenleben op. 40 explizit formulierten „Reservoir fester Motive [schöpft]“ (Schäfer 2005, 22). Zu den wenigen, gezielt verknappten Veröffentlichungen des Dichters, „der um den Warencharakter seiner Kunst wußte“ und „die Regeln des literarischen Markts [souverän beherrschte]“, zählt jedoch bezeichnenderweise auch seine Übersetzung von Mallarmés Gedicht „Apparition“ [„Erscheinung“] für den „exklusiven Privatdruck L’album des derniers auditeurs [Das Album der letzten Zuhörer], der Stéphane Mallarmé 1897 zu seinem 55. Geburtstag von 23 Freunden überreicht wurde.“ (Schäfer 2005, 23, 24) Georges Poetik sei entsprechend in der Verlängerung einer „Entwicklungslinie der Moderne“ zu sehen, die sich „ausgehend von Poe und dessen Rezeption bei Baudelaire über Rimbaud und Mallarmé bis hin zu Valéry […] extrapolieren [läßt]“; die „wortkünstlerischen Verfahren der Gedichte sind eindeutig der Moderne verpflichtet“, so dass in diesem speziellen Sinn vom „Mallarmé-Schüler George“ gesprochen werden kann, auch wenn dieser die „Prinzipien seiner Poetik […] mit Nietzsche bei Horaz und Hölderlin [findet]“ (Schäfer 2005, 86, 87, 89). Das Porträt Mallarmés als „Dichterkopf“ fasst Steffen Martus mit Blick auf die „Initiation des Werks“ in Georges Gedicht „Weihe“ als Teil „werkpolitischer Strategien“ (Martus 2007, 542) auf; er sieht hier die „Elemente einer neuen ‚selektionslosen Aufmerksamkeit‘, die George in seiner Lobrede auf Mallarmé als Exempel der Wahrnehmbarkeit des Werks entwirft“ (Martus 2007, 543). Mit Verweis auf das implizite Zitat von Mallarmés wirkungsmächtigem Essay „Hérésies artistiques. L’art pour tous“ [„Ästhetische Irrlehren. Die Kunst für alle“] in seiner „Lobrede auf Mallarmé“ ist zudem betont worden, dass der frühe George seine Sprachexperimente, darunter zuerst den „Versuch, eine geheime Literatursprache zu erfinden“, begonnen habe, um „die Sprache der Poesie so zu erneuern, dass sie für den allgemeinen Gebrauch untauglich wird“: „Von der Möglichkeit dieses zweiten Schritts ist nicht nur Mallarmé überzeugt, sondern George selbst.“ (Brokoff 22010, 478) George entwickle so, in direkter Bezugnahme auf Mallarmés Poetik, drei „Hauptmerkmale“ für die „erfundene Sprache wie auch seine Poesie in deutscher Sprache“, nämlich die „Aufwertung der klanglichen Qualitäten der Sprachlaute, die damit einhergehende Abwertung des Sinns […] und die ungewöhnliche Wortstellung“ (Brokoff 22010, 479). Künftige Studien zu den vermeintlich auf den kommunikativen Gebrauch beschränkten Briefen, Billets und Widmungen Georges und Mallarmés könnten diesen poetischen Neuerungen und ihrer je spezifischen medialen und materiellen Realisierung entsprechende Aufmerksamkeit widmen. Zudem kann die der Briefausgabe in Text und Faksimile beigegebene Übertragung des Hérodias-Fragments die augenfällige Annäherung von Georges Schreibweise

6.26 Stéphane Mallarmé – Stefan George 

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an die Mallarmés – hier unterstützt durch die prachtvollen Zeichnungen und graphischen Ornamente Melchior Lechters – nicht nur als „Sinnbild der Verehrung Mallarmés im George-Kreis“ demonstrieren (Schloon 2016, 282), sondern einmal mehr den Blick für die besondere Medialität und Materialität poetischer Texte beider Autoren schärfen.

Zitierte Literatur Boehringer, Robert (21968). Mein Bild von Stefan George. Textband. Zum Jubiläumsjahr. München. Brokoff, Jürgen (22010). Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde. Göttingen. George, Stefan (1892). „Nachrichten“, in: Blätter für die Kunst, Bd. I.1: 32. George, Stefan (1893). „Mallarmé“, in: Blätter für die Kunst, Bd. V.1: 134–137. George, Stefan (1982  ff.). Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. v. der Stefan George-Stiftung, bearb. v. Georg Peter Landmann, Ute Oelmann u. Christoph Perels. Stuttgart. George, Stefan u. Stéphane Mallarmé (2013). Briefwechsel und Übertragungen. Hg. u. eingel. v. Enrico De Angelis. Mit einem Nachwort v. Ute Oelmann. Göttingen. Gsteiger, Manfred (1971). Französische Symbolisten in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende (1869–1914). Bern u. München. Hamburger, Michael (1995). Wahrheit und Poesie. Spannungen in der modernen Lyrik von Baudelaire bis zur Gegenwart. Wien u. Bozen 1995. Jacob, Joachim (22016). „2.2. Hymnen Pilgerfahrten Algabal“, in: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Hg. v. Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer u. Ute Oelmann. Berlin u. Boston. Bd. 1: 107–121. Karlauf, Thomas (2007). Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. München. Mallarmé, Stéphane (1897). „Le Livre instrument spirituel“, in: Ders. Divagations. Paris: 273–280. Mallarmé, Stéphane (2003). Œuvres complètes. Hg. v. Bertrand Marchal. Bd. 2. Paris. Martus, Steffen (2007). Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Berlin u. New York. Millan, Gordon (2008). Les mardis de Stéphane Mallarmé. Mythes et réalités. Saint-Genouph. Oelmann, Ute (2013). „Nachwort. Stéphane Mallarmé in den Beständen des Stefan George Archivs“, in: Stefan George, Stéphane Mallarmé: Briefwechsel und Übertragungen. Hg. v. Enrico De Angelis, Göttingen: 147–150. Oesterle, Günter (2015). „Schreibszenen des Billets“, in: Schreibszenen. Kulturpraxis – Poetologie – Theatralität. Hg. v. Christine Lubkoll u. Claudia Oelschläger. Freiburg: 115–136. Ortlieb, Cornelia (2015). „Miniaturen und Monogramme. Stéphane Mallarmés Papier-Bilder“, in: Sprechen über Bilder – Sprechen in Bildern. Studien zum Wechselverhältnis von Bild und Sprache. Hg. v. Lena Bader, Georges Didi-Hubermann u. Johannes Grave. Berlin u. München: 113–128. Ortlieb, Cornelia (2015). „Verse unter Umständen. Goethes und Mallarmés Schreib-Materialien“, in: Ästhetik der Materialität. Hg. v. Christine Heibach u. Charten Rohde. Paderborn: 173–196.

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Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande (1928). Numéro consacré à Stefan George, 13/14. Schäfer, Armin (2005). Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik. Köln u.  a. Schloon, Jutta (²2016). „Zeitgenössische Dichter (SW XV, XVI)“, in: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Hg. v. Achim Aurnhammer u. a. Berlin u. Boston: 269–289. Zeller, Bernhard, Werner Volke u. Gerhard Hay (Hg.) (21968). Stefan George 1868–1968. Der Dichter und sein Kreis. Katalog zur Ausstellung Marbach. München.

Bodo Plachta

6.27 Vincent van Gogh – Paul Gauguin 1 Kontexte Vincent van Gogh (1853–1890) und Paul Gauguin (1848–1903) gehören zu den ‚Superstars‘ der Kunstgeschichte. Während Ausstellungen mit ihren Werken ein Millionenpublikum in die Museen locken, haben ihre Briefe über einen langen Zeitraum hinweg meistens nur in biographischer Hinsicht Beachtung gefunden und dadurch nicht unerheblich zur Bildung der Legende beigetragen, Gauguin sei entscheidend für den psychischen Zusammenbruch van Goghs im Dezember 1888 verantwortlich gewesen. Die persönliche wie künstlerische Beziehung zwischen van Gogh und Gauguin ist aber viel komplexer – eine Feststellung, die die Korrespondenz bestätigt. Diese Korrespondenz ist nicht allein aufgrund der angesprochenen Themen ein Musterbeispiel für die ‚Modernität‘ dieses Künstlerbriefwechsels, auch Ton und Gestus dieser Briefe sind neu und anders. Gerade die gravierenden Unterschiede in der Kunstauffassung machen die Substanz dieser Briefe aus, die immer auch eine Suche nach dem ‚modernen‘ Künstler sind: „Die Diskussion ist von elektrischer Spannung. Zuweilen gehen wir mit ermüdetem Kopf daraus hervor, wie eine elektrische Batterie nach der Entladung.“ [„La discussion est d’une électricité excessive. Nous en sortons parfois la tête fatiguée comme une batterie électrique après la décharge.“] (Vincent van Gogh an Theo van Gogh, 17. oder 18.12.1888, van Gogh 2009, Brief 726, Übers.  d. Verf.) Es liegt noch immer keine Gesamtausgabe der Briefe Gauguins vor, Inter­ essierte müssen sich daher mit zahlreichen Einzelausgaben von divergierender Textqualität behelfen, die das Briefœuvre nach Adressaten ordnen oder in Lebensabschnitte aufspalten. Eine Übersicht über seine Korrespondenz und zahlreichen Briefpartner ist derzeit weder nach quantitativen noch inhaltlichen Kriterien zuverlässig möglich, was eine angemessene Begutachtung schon wegen der Gefahr der Perspektivenverengung an dieser Stelle nicht zulässt. Ganz anders dagegen stellt sich die Situation für die Briefwechsel van Goghs dar: Seit 2009 gibt es mit Vincent van Gogh. The Letters eine Gesamtausgabe seiner Briefe, die vor allem in ihrer digitalen Version die überlieferten Dokumente als Faksimile und in Transkriptionen mit zuverlässiger Textgestalt sowie mit instruktivem Kommentar präsentiert. Diese Edition erschließt das van Gogh’sche Briefuniversum vorbildlich und schafft so die Voraussetzung für eine eingehendere Bewertung. Im Verhältnis zu seinem äußerst umfangreichen Werk hat van Gogh eine zahlenmäßig übersichtliche Korrespondenz von 819 überlieferten Briefen hinterlassen, obwohl die tatsächliche Zahl erheblich höher gewesen sein dürfte. (Zum Vergleich: Von https://doi.org/10.1515/9783110376531-110

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Eugène Delacroix kennen wir etwa 1.500 und von Claude Monet über 3.000 Briefe.) Auch die Zahl der Korrespondenzpartner ist mit 26 überschaubar. Die Mehrzahl der Briefe (651) ist an den Bruder Theo van Gogh gerichtet, die übrige Korrespondenz teilt sich in Briefe an Familienangehörige und Künstlerfreunde; außerdem sind 83 an den Maler gerichtete Briefe überliefert. So elementar der Briefwechsel zwischen den Brüdern van Gogh auch ist und durch alle Lebensepochen die Entwicklung der Künstlerschaft Vincent van Goghs illustriert, die Briefe an Künstlerfreunde (Anthon van Rappard, Émile Bernard, Paul Gauguin, John Peter Russell, Arnold Koning, Paul Signac, Charles Angrand, Horace Mann Livens und Eugène Boch) und deren Gegenbriefe nehmen noch einmal eine besondere Stellung für das Verständnis der Entwicklung van Goghs als Maler ein. Obwohl Vincent van Gogh überwiegend allein arbeitete und als überzeugter Autodidakt die akademische Malausbildung ebenso ablehnte wie die damals beliebte und fortschrittliche Gruppenbildung von Künstlern, suchte und fand er immer wieder Partner, mit denen er praktische Erfahrungen austauschen, seine Werke mit denen anderer Künstler vergleichen oder seine idealistisch gefärbten Auffassungen sowie grundsätzliche Fragen des Kunstbetriebs erörtern konnte. Der Einzelgänger van Gogh ging persönlichen Begegnungen durchaus nicht aus dem Weg, fand Gefallen am persönlichen Gespräch, wie seine Kontakte in der Kunstszene während seiner Pariser Jahre 1886–1888 zeigen, und beteiligte sich auch an gemeinsamen Ausstellungsprojekten. Doch das Bedürfnis nach Rückzug und Distanz, verbunden mit Ortswechseln und der latenten Gefahr, in Isolation und Einsamkeit abzugleiten, wirkte sich auch auf diese Freundschaften aus. Das Beharren auf einmal geäußerten Meinungen führte nicht selten zu Spannungen oder Streit und belastete diese Freundschaften erheblich. Vielfach war der Brief dann das einzige Medium, um Kontakte aufrechtzuerhalten und ein Gespräch über alle denkbaren Barrieren fortzusetzen. Über viele Jahre hinweg war sein Bruder Theo van Gogh bevorzugter, manchmal sogar ausschließlicher Ansprechund damit Briefpartner. Der Briefwechsel zwischen den Brüdern hat in vieler Hinsicht eine Sonderstellung, denn anders als die Korrespondenz mit Verwandten, Freunden oder Kollegen hielt diese Kommunikation Konflikte, Meinungsverschiedenheiten, Missverständnisse und vermeintliche Zurückweisungen aus, während andere Korrespondenzen zu Monologen ausarten oder im Streit enden konnten und auch abrupt beendet wurden. Dennoch gestatten gerade die Briefwechsel mit Künstlerfreunden einen tiefen Einblick in van Goghs Kunstverständnis, informieren darüber, wie der Maler seine Sujets gefunden hat, und gewähren Einblick in seine Malwerkstatt sowie in seine Arbeitsweise bis hin zum Gebrauch von Leinwänden, Farben und Pinseln. (Dass aus diesen Briefen auch Informationen zur Datierung von Bildern gewonnen werden, soll nicht unerwähnt bleiben, da dies ein konstantes Thema/Problem in der van Gogh-Forschung ist.)

6.27 Vincent van Gogh – Paul Gauguin 

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Diese allgemeine Beschreibung trifft auch auf den Briefwechsel zwischen Vincent van Gogh und Paul Gauguin zu, der häufig als einer der berühmtesten Künstlerbriefwechsel überhaupt apostrophiert worden ist. Das persönliche wie künstlerische Verhältnis zwischen den beiden Malern war einerseits von gegenseitiger Achtung, andererseits von heftigen Spannungen im Umgang zweier sehr verschiedener und zudem temperamentvoller Künstlerpersönlichkeiten geprägt, die in den Briefen ihren Niederschlag fanden und sich außerhalb des Briefwechsels in erregten Debatten über die Rolle des Künstlers und die Aufgabe der Kunst überhaupt Luft verschafften, wie durch Äußerungen Dritter überliefert ist. In seinen auf den Marquesainseln verfassten Memoiren Avant et Après (1989 [1903], dt. Vorher und Nachher, 1920) bilanziert Gauguin: „Zwischen uns beiden – Vulkan der eine, kochend auch, aber innerlich, der andere – bereitete sich eine Art Kampf vor.“ (Gauguin 1920, 22) [„Entre deux êtres, lui et moi, l’un tout volcan et l’autre bouillant aussi, mais en dedans il y avait en quelque sorte une lutte qui se préparait.“] (Gauguin 1989 [1903], 19) – Gerade deshalb gilt dieser Künstlerbriefwechsel nicht nur als ein bedeutendes biographisches, sondern auch als wichtiges kulturund kunsthistorisches Dokument, durchbricht er doch in exemplarischer Weise die Isolation van Goghs im zeitgenössischen Kunstbetrieb und wirft Schlaglichter sowohl auf die Versuche Paul Gauguins, sich ästhetisch und konzeptionell in den späten 1880er Jahren neu zu orientieren, als auch auf den radikalen Wechsel in der Malweise van Goghs (Aufhellung der Palette, andere Pinselführung) während seines Aufenthaltes in der Provence (1888–1890). Dieser Briefwechsel konstituiert einen „Dialog aus Worten und Bildern“ (Druick und Zegers 2002, 1), wie er in der Ateliergemeinschaft von van Gogh und Gauguin im ‚Gelben Haus‘ von Arles im Herbst 1888 seinen legendären, allerdings auch von Mythen, Spekulationen und Halbwahrheiten umrankten Höhepunkt gefunden hat. Er dokumentiert weiterhin in einer Art von „Wetteifer und Widerstand“ (Druick und Zegers 2002, 3), wie sehr beide Künstler einander in ihren künstlerischen Zielen beeinflussten; die ungemein intensive und zahlenmäßig beeindruckende Produktion von Kunstwerken in der kurzen, nur 63 Tage umfassenden Zeit des Arlesiner Experiments spricht eine eindeutige Sprache. Wenn Paul Gauguin den Aufenthalt in Arles in Avant et Après als Wendepunkt seiner künstlerischen Laufbahn beschreibt, dann gibt er indirekt zu, dass es das ‚Atelier der Tropen‘ ohne das ‚Atelier des Südens‘, wie es sich van Gogh als ständige Einrichtung erträumt hatte, kaum gegeben hätte.

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2 Überlieferung und Umfang Aus dem Zeitraum März 1888 bis Juni 1890 sind von Gauguin 16 und von van Gogh fünf Briefe (sowie ein nicht abgeschickter Briefentwurf) an den jeweiligen Partner erhalten. Gauguin ist offenbar lax mit van Goghs Briefen umgegangen; anders ist die prekäre Überlieferung, in der die an Gauguin gerichteten Briefe mehrheitlich verschollen sind, nicht zu erklären. Hinzuzuzählen sind außerdem 26 Briefe, die Gauguin und Theo van Gogh in diesem Zeitraum gewechselt haben, weil Theo van Gogh als Geschäftsführer der Pariser Galerie Boussod, Valadon & Cie mit Bildern Gauguins handelte, den Kontakt zwischen seinem Bruder und Gauguin wenn nicht vermittelt, so doch gefördert hat und stets in die Beziehung der beiden Maler eingebunden war. Es ist dadurch ein – wenn auch lückenhaftes – Korrespondenzgeflecht zwischen zwei bildenden Künstlern und einem für die Avantgarde wichtigen Kunsthändler überliefert, der sich mäzenatisch für beide Maler einsetzte und von Gauguin als ausgesprochen seriös geschätzt wurde. Nach dem Tod von Vincent und Theo van Gogh 1890 und 1891 führten Gauguin und Theos Witwe Johanna (Jo) van Gogh-Bonger die Korrespondenz im Frühjahr 1894 kurzzeitig fort (3 Briefe), in der es in erster Linie um die Identifikation von Gemälden geht, die sich van Gogh und Gauguin gegenseitig geschenkt hatten (oder nicht) und deren Eigentumsrechte nun zu klären waren. Während die Briefe van Goghs an Gauguin seit den Verzamelde brieven (1952–1954) in Editionen zugänglich waren, kamen die Briefe Gauguins an Vincent, Theo und Johanna van Gogh erstmals 1983 in der Faksimile-Ausgabe von Douglas Cooper auf den Markt (einzelne Brieffaksimiles erschienen bereits 1975 im Katalog zur Ausstellung Œuvres écrites de Gauguin et Van Gogh im Institut Néerlandais in Paris). Inzwischen ist die Korrespondenz in allen gängigen Briefeditionen sowie Übersetzungen greifbar, zuletzt in der erwähnten Edition Vincent van Gogh. The Letters.

3 Materiale Aspekte Die Handschriften der Korrespondenz zwischen Gauguin, Vincent, Theo und Johanna van Gogh werden sämtlich im Van Gogh Museum Amsterdam unter der Signatur GAC aufbewahrt. Sie sind nicht nur als Träger der Brieftexte relevant, sondern teilweise als regelrechte Kunstwerke, weil sie Werkskizzen enthalten. Während die Briefe Gauguins durchweg der zeitgenössischen formalen Briefnorm entsprechen, kaum Korrekturen enthalten und ausgesprochen gut lesbar sind, zeigen die Briefe van Goghs eine Vielzahl von Eigenwilligkeiten, die seine Korrespondenz generell charakterisieren; van Gogh schreibt keine ‚schönen‘

6.27 Vincent van Gogh – Paul Gauguin 

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Briefe. Charakteristisch ist eine spontane, hastige und häufig von emotionalen Erregungszuständen beeinflusste Schreibweise, die wenig Rücksicht auf formale, orthographische und grammatische Regeln nimmt. Oft ändert sich der Schriftduktus, zugleich die Schreibrichtung und Größe der Schrift, und der Druck auf das Schreibmittel wird stärker. Manchmal wechselt er sogar die Tintenfarbe und verleiht dem Schriftbild durch heftige, teilweise mehrfache Unterstreichungen einen unübersehbaren Nachdruck. Insgesamt lassen sich in van Goghs Briefen – nicht nur in denen an Gauguin – spontane und eruptive Schreibgewohnheiten erkennen, die einen individuellen und selbststimulierenden Umgang mit dem Medium Brief illustrieren. Dennoch wahrt van Gogh ebenso wie Gauguin stets eine höfliche Distanz. Beide Briefschreiber formulieren abgewogen und wenig impulsiv (wie es sonst van Goghs Art war), reden sich höflich mit „vous“ an und bemühen sich ausnahmslos um einen respektvollen Umgang. Diese Umgangsformen bewährten sich besonders nach dem Eklat während der Ateliergemeinschaft in Arles, als sich van Gogh der erdrückenden Gegenwart Gauguins im Dezember 1888 offenbar nur dadurch erwehren konnte, dass er sich demonstrativ einen Teil seines rechten Ohrläppchens abschnitt, damit aber Gauguins Abreise und das Scheitern der gemeinsamen Zusammenarbeit nicht verhindern konnte, wie er es erhofft hatte. Schon vier Wochen nach diesen dramatischen Ereignissen führte man die Korrespondenz fort und blieb auch über Dritte in Kontakt.

4 Historische, biographische und thematische Eckpunkte Vincent van Gogh und Paul Gauguin begegneten sich erstmals im November oder Dezember 1887. Gauguin war kurz zuvor aus Martinique nach Frankreich zurückgekehrt und musste sich eingestehen, dass seine Stellung in der Pariser Kunstszene nicht einfach war und seine Bilder sich nur schwer verkaufen ließen. In dieser Situation hatte sich Theo van Gogh bereitgefunden, einige von Gauguins in der Bretagne und in der Karibik gemalten Bildern in Kommission zu nehmen und auszustellen. Er beseitigte damit für den Moment Gauguins Geldsorgen und eröffnete ihm gleichzeitig eine neue Arbeitsperspektive. Vincent van Gogh teilte das Interesse seines Bruders an Gauguins Bildern mit noch größerem Enthusiasmus und schlug dem Malerkollegen mit Erfolg vor, gegenseitig Bilder zu tauschen. Die offenkundig imponierende Künstlerpersönlichkeit Gauguin und sein Ruf als unangepasster Bohemien, aber auch seine in der Karibik weiterentwickelte, stärker symbolistische Aspekte betonende Malweise zogen van Gogh an. Ungewiss ist, was Gauguin über Vincent van Gogh und seine Bilder dachte – er

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schreibt am 22. Mai 1888 an dessen Bruder Theo : „Er hat ein neugieriges Auge und ich hoffe, dass er es nicht gegen ein anderes eintauschen wird.“ [„Son oeil est curieux et je j’espère qu’il ne va pas le changer pour un autre.“] (Cooper 1983, 37; Übers.  d. Verf.) Vincent van Gogh sah in ihm wohl nicht nur einen Mentor, sondern vielmehr die Verkörperung eines modernen Künstlers, wie er als Typus in seinen imaginären Gesprächen mit den Meistern der Kunstgeschichte wie Rembrandt, Delacroix, Millet und Monticelli immer wieder Thema in den Briefen mit dem Bruder oder mit dem Künstler Émile Bernard war. Es hat in dieser Zeit aber nur wenige persönliche Kontakte zwischen van Gogh und Gauguin gegeben. Ende Januar 1888 begab sich Gauguin wieder in die Bretagne nach Pont-Aven, und van Gogh reiste im Februar nach Arles ab, ohne dass man sich gegenseitig über diese Reisepläne in Kenntnis gesetzt hätte. Gauguin informiert am 29. Februar van Gogh über seinen neuen Aufenthaltsort und hält ihn auch in der folgenden Zeit über seine materiell schwierige Situation und Gesundheitsprobleme auf dem Laufenden. Van Goghs Antwortbriefe sind zwar nicht erhalten, aber er bemüht sich nachdrücklich bei seinem Bruder Theo darum, etwas für Gauguin zu unternehmen, um dessen finanzielle Notlage zu beseitigen. Auch bringt er dem Bruder gegenüber Ende Mai seinen Wunsch zum Ausdruck, mit Gauguin in der Provence zusammenzuarbeiten, und bittet Theo, dieses Projekt zu finanzieren. Mehrfach hatte er beim Bruder geklagt, er habe nur Kontakt zu Amateurkünstlern, fühle sich isoliert, leide unter Inspirationsmangel und vermisse künstlerische Anregungen. Eine Ateliergemeinschaft mit Gauguin preist Vincent dem Bruder immer wieder als Investition in die moderne Kunst an. Im Juli 1888 reagiert Gauguin auf einen (ebenfalls verlorenen Brief) van Goghs, in dem erstmals konkrete künstlerische Fragen angesprochen werden, über aktuelle Projekte berichtet wird und Gauguin positiv, wenn auch noch nicht überzeugt, auf den Plan reagiert, in der Provence eine Ateliergemeinschaft mit dem Künstlerkollegen einzugehen, um sich solchen Fragen in Theorie und Praxis zu widmen. Vielleicht reagierte er deswegen zurückhaltend, weil er gerade in Pont-Aven eine Periode intensiver Arbeit erlebte, aus der zentrale Werke hervorgegangen sind. Bei der Einschätzung der Beziehung Gauguins zu den Brüdern van Gogh darf auch nicht außer Acht bleiben, dass der Kunsthändler Theo van Gogh für Gauguin letztlich der wichtigere Partner war, eben weil er seine Bilder verkaufen konnte und dies auch tat. Dennoch lässt sich Gauguin allmählich mit Vincent van Gogh auf eine Diskussion über sein künstlerisches Selbstverständnis ein, wenn er um den 8. September 1888 schreibt: Ja, Sie haben Recht, wenn Sie eine Malerei wollen, die mit ihrer suggestiven Farbgebung poetische Ideen gestaltet, und ich stimme Ihnen da ganz zu, allerdings mit einem Unterschied. Ich selbst kenne keine poetischen Ideen, das ist vielleicht ein Sinn, der mir fehlt. Ich finde ALLES poetisch und ahne Poesie in den manchmal geheimnisvollen Winkeln meines

6.27 Vincent van Gogh – Paul Gauguin 

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Herzens. Die Harmonie von Formen und Farben schafft Poesie. Ohne mich von dem Motiv überraschen zu lassen und je nachdem, ob sich die intellektuellen Kräfte des Malers davon lösen, spüre ich vor dem Gemälde eines anderen eine Empfindung, die mich in einen poetischen Zustand versetzt. [Oui vous avez raison de vouloir de la peinture avec une coloration suggestive d’idées poetiques et en ce sens je suis d’accord avec vous avec une différence. Je ne connais pas d’idées poétiques, c’est probablement un sens qui me manque. Je trouve TOUT poetique et c’est dans les coins de mon cœur qui sont parfois mysterieux que j’entrevois la poesie. Les formes et les couleurs conduites en harmonies produisent d’elles mêmes une poesie. Sans me laisser surprendre par le motif je ressens devant le tableau d’un autre une sensation qui m’amène à un état poetique selon que les forces intellectuelles du peintre s’en dégagent.] (van Gogh 2009, Brief 675; Übers.  d. Verf.)

Konkret expliziert Gauguin seine Vorstellungen in einem Brief vom oder um den 26. September 1888 (van Gogh 2009, Brief 688), wenn er van Gogh detailliert Konzeption und malerische Umsetzung seines Bildes La vision du sermon (Die Vision der Predigt) anhand einer beigelegten Skizze erläutert. Es sind genau solche faszinierenden Erörterungen am konkreten Beispiel, die sich van Gogh, der gerade an dem Bild Sternennacht über der Rhône arbeitete, durch Gauguin erhoffte und weswegen er nun beinahe verbissen das Projekt eines ‚Ateliers des Südens‘, also de facto einer Künstlerkolonie ‚en miniature‘, verfolgt, Gauguin mit großer rhetorischer Sorgfalt umwirbt und dabei zweifellos dessen ureigenes Interesse an Unabhängigkeit ausblendet. Er feiert ihn sogar als einen neuen Malerpoeten, als einen ebenso modernen wie veritablen Nachfolger des Dichters Petrarca, der zeitweise in der Provence gelebt hat. Gleichzeitig treibt er aber die Erwartungen an eine Ateliergemeinschaft derart in die Höhe, dass man den Eindruck gewinnt, das Projekt sei schon zum Scheitern verurteilt, als Gauguin am 23. Oktober 1888 endlich in Arles eintrifft. Einen Eindruck von der Intensität der folgenden Wochen illustriert die oben zitierte Bemerkung Vincent van Goghs von einer entladenen elektrischen Batterie im Brief an den Bruder vom 17. oder 18. Dezember 1888. Die Ateliergemeinschaft währte zwei Monate, bis sie in dem bereits erwähnten Fiasko endete und man eigentlich erwartet hätte, dass beide Künstler nie wieder ein Wort miteinander wechseln würden. Aber van Gogh und Gauguin nehmen ihren Briefwechsel wieder auf, wobei es van Gogh ist, der trotz tiefer Enttäuschung über Gauguins Verhalten am 4. Januar 1889 die Initiative ergreift. Er informiert ihn über seinen Gesundheitszustand, versichert ihn seiner Freundschaft und beschwört ihn, „dass Sie bitte nichts Schlechtes über unser armes kleines gelbes Haus sagen, bevor Sie nicht alles gründlich von allen Seiten bedacht haben –“ [„que vous vous absteniez jusqu’à plus mure reflexion faite de part et d’autre de dire du mal de notre pauvre petite maison jaune –“] (van Gogh 2009, Brief 730; Übers.  d. Verf.). Zugleich aber übergeht van Gogh die Ereignisse und seine Gefühle nicht, denn er

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empfiehlt Gauguin am 21. Januar 1889 die Lektüre von Alphonse Daudets Roman Tartarin de Tarascon, dessen Protagonist seinen Freund belügt und betrügt. Allerdings relativiert er auch diesen indirekten Vorwurf, wenn er schreibt: „[D]ie Phantasie des Südens macht einen nun mal zu Freunden, und zwischen uns wird immer Freundschaft sein.“ [„[L]’imagination du midi rend copains, allez, et entre nous nous avons amitie toujours.“] (van Gogh 2009, Brief 739; Übers.  d. Verf.) Der Briefwechsel lebt vorsichtig und mit größeren Abständen zwischen den einzelnen Briefen wieder auf, erfährt sogar eine gewisse Stetigkeit, nachdem sich van Gogh im Mai 1889 in die Obhut der Heilanstalt von Saint-Rémy begeben hat. Dagegen tritt in der geschäftlichen Beziehung zwischen Gauguin und Theo van Gogh weitgehend Stillstand ein. Gegenüber Vincent van Gogh geht Gauguin zur Tagesordnung über, informiert den Kollegen über seine Arbeit, erzählt von Begegnungen und gibt praktische Maltipps (z.  B. zur Vorbereitung von Leinwänden), bemüht sich aber immer wieder auch mit Hinweis auf van Goghs prekären psychischen Zustand um Distanz und vermeidet jeden Anschein von persönlicher Nähe. Gauguin wünscht sich aber auch Bilder von van Gogh zur Erinnerung, darunter eine Fassung der Sonnenblumen und der Berceuse. Van Gogh dagegen beschwört immer wieder die gemeinsame Arbeit, schmiedet Pläne, Gauguin in der Bretagne zu besuchen, und macht sich auch die von Gauguin erwähnte Idee eines Schule bildenden ‚Ateliers der Tropen‘ zu eigen. Aber die erörterten Themen zeigen bei aller weiterhin bestehenden Hochachtung, wie sehr die Auffassungen beider Künstler voneinander abweichen und wie groß die künstlerische Distanz eigentlich ist. Besonders Vincent van Gogh erkennt mehr und mehr, dass er sich durch Gauguin von seinen eigentlichen künstlerischen Vorstellungen hat abbringen lassen, etwa, wenn Gauguin ihn davon zu überzeugen sucht, seine naturalistischen Motive im Atelier zu abstrahieren und dadurch zu verinnerlichen und nicht, wie van Gogh es überzeugend praktiziert, vor dem Motiv sitzend zu malen. Gauguin versucht, dem Kollegen seine „Vorliebe für eine ziemlich unkomplizierte Form von Realismus“ (Dumas et al. 2010, 157) auszureden. Van Gogh dagegen hält Gauguins Abstraktionsvorschläge für eine gefährliche, das Malen behindernde Sackgasse: „Aber das ist verhextes Land  […] und schnell steht man vor einer Mauer. –“ [„Mais c’est terrain enchanté“, schreibt er um den 26. November 1889 an Émile Bernard, „et vite on se trouve devant un mur. –“] (van Gogh 2009, Brief 822; Übers.  d. Verf.) Dem Bruder Theo erläutert er am 12. Februar 1890 sein künstlerisches Credo, das sich von dem Gauguins erkennbar abwendet: Wäre ich mutig genug, mich gehen zu lassen, würde Auriers Artikel mich zu dem Wagnis ermutigen, mich mehr von der Wirklichkeit zu entfernen und mit der Farbe etwa eine Musik aus Tönen zu machen, so wie manche Monticellis sind. Aber die Wahrheit ist mir so lieb, auch das Streben wahr zu sein, kurz: ich glaube, ich glaube, ich bin doch lieber Schuster als Musiker, der mit Farben arbeitet.

6.27 Vincent van Gogh – Paul Gauguin 

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[L’article d’Aurier m’encouragerait, si j’osais m’y laisser aller, à risquer davantage à sortir de la réalité et à faire avec de la couleur comme une musique de tons ainsi que sont certains Monticelli. Mais elle m’est si chère la vérité, le chercher à faire vrai aussi, enfin je crois, je crois que je préfère encore être cordonnier à être musicien, avec les couleurs.] (van Gogh 2009, Brief 854; Übers.  d. Verf.)

In gewissem Maße war sich auch Gauguin über diese prinzipielle künstlerische Differenz im Klaren. Um den 20. März 1890 heißt es in einem Brief an den Kollegen wohlmeinend: „Unter denjenigen, die nach der Natur malen, sind Sie der Einzige, der denkt.“ [„Avec des choses de nature vous êtes là le seul qui pense.“] (van Gogh 2009, Brief 859; Übers.  d. Verf.)

Zitierte Literatur Cooper, Douglas (Hg.) (1983). Paul Gauguin: 45 lettres à Vincent, Théo et Jo van Gogh. Collection Rijksmuseum Vincent van Gogh, Amsterdam. ‘s-Gravenhage u. Lausanne. Druick, Douglas W. u. Peter Kort Zegers in Zusammenarbeit mit Britt Salvesen (2002). Van Gogh und Gauguin. Das Atelier des Südens. Mailand. Dumas, Ann mit Leo Jansen, Hans Luijten u. Nienke Bakker (2010). Van Gogh. Der Künstler und seine Briefe. London u. Köln. Gauguin, Paul (1920). Vorher und Nachher. Aus dem Manuskript übertragen v. Erik-Ernst Schwabach. München. Gauguin, Paul (1989 [1903]). Avant et Après. Taravao/Tahiti. Gauguin, Paul u. Vincent van Gogh (1975). Œuvres écrites de Gauguin et Van Gogh. Collections du Musée National Vincent van Gogh, Amsterdam. Exposition, 14 mai–29 juin 1975. Paris. [Gogh, Vincent van] (1952–1954). Verzamelde brieven van Vincent van Gogh. 4 Bde. Hg. v. Vincent Willem van Gogh. Amsterdam u. Antwerpen. Gogh, Vincent van (2009). The Letters. The Complete Illustrated and Annotated Edition. Hg. v. Leo Jansen, Hans Luijten u. Nienke Bakker. 6 Bde. u. CD-ROM. Amsterdam u.  a.; http://www.vangoghletters.org/ (23.11.2018).

Weiterführende Literatur Gogh, Vincent van (2017). „Manch einer hat ein großes Feuer in seiner Seele“. Die Briefe. Mit 110 Originalzeichnungen. Ausgew. u. hg. v. Leo Jansen, Hans Luijten u. Nienke Bakker. München. Gogh, Vincent van (32019 [2001]). Briefe. Ausgew. u. hg. v. Bodo Plachta. Stuttgart. Hulsker, Jan (1993). Vincent van Gogh. A Guide to his Work and Letters. Amsterdam u. Zwolle. Jansen, Leo (2006). Van Gogh en zijn brieven. Amsterdam u.  a. Merlhès, Victor (Hg.) (1984). Correspondance de Paul Gauguin. Documents. Témoignages. Paris. [nur ein Band erschienen] Merlhès, Victor (1989). Paul Gauguin et Vincent van Gogh 1887–1888. Lettres retrouvées, sources ignorées. Taravao/Tahiti.

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Kerstin Wolff

7.1 Die Funktion von Briefen in der Frauen­bewegungskultur Das 19. Jahrhundert in Deutschland ist geprägt durch zwei große soziale Bewegungen. Dies ist zum einen die Arbeiterbewegung, die für die politische Anerkennung des Proletariats kämpfte, und zum anderen die Frauenbewegung, die die gesellschaftlich abgewertete Position des weiblichen Geschlechts in Frage stellte und einen Weg suchte, die einseitige Fokussierung des Politischen auf das männliche Geschlecht aufzuheben. Wie den Arbeitern (und mit ihnen den Arbeiterinnen) auch, ging es also den (größtenteils) bürgerlichen Frauen um die Möglichkeit, am Auf- und Ausbau der bürgerlichen Gesellschaft zu partizipieren (vgl. Schraut 2013). Der organisatorische Beginn der Frauenbewegung in Deutschland liegt im Jahr 1865 in Leipzig. In diesem Jahr wurde zwischen dem 16. und 19. Oktober – den Gedenktagen der Völkerschlacht  – eine reichsweite Frauenkonferenz abgehalten, die sich zum Ziel gesetzt hatte, einen Frauenverein zu gründen (vgl. Schötz und Hundt 2015, 8–17). Im Rahmen der Konferenz wurde dann der Allgemeine Deutsche Frauenverein (ADF) gegründet, der sich in erster Linie als Frauenbildungsverein verstand. Sein Ziel war es, „für die erhöhte Bildung des weiblichen Geschlechts und die Befreiung der weiblichen Arbeit von allen ihrer Entfaltung entgegenstehenden Hindernissen mit vereinten Kräften zu wirken“ (vgl. OttoPeters 1890, 10–11). Die Gründung des ADF in Leipzig wirkte wie eine Initialzündung für die weitere Entwicklung der bürgerlichen Frauenbewegung, die hier ihren organisatorischen Ausgangspunkt nahm. In den nächsten Jahren wurde der Verein in Leipzig der Initiator eines weitverzweigten Frauenvereinsnetzes, indem er zur Gründung von Ortsgruppen, den sogenannten Frauenbildungsvereinen, anregte. Diese lokalen Frauenbildungsvereine schufen in den 1870er und 1880er Jahren ein breites Spektrum von lokalen Bildungseinrichtungen: Handelsschulen, Lehrerinnenseminare, Fortbildungsschulen oder Buchhaltungskurse, die alle zum Ziel hatten, die Stellung von bürgerlichen Frauen in der Gesellschaft durch die Möglichkeit einer eigenständigen Berufstätigkeit zu stärken. Organisiert wurde dieses frauenbewegte Netz in der Form eines bürgerlichen Vereins, der ja generell als eine der wichtigsten Organisationsformen des 19. Jahrhunderts gilt. Der Frauenverein wurde so zu einem Synonym für die frühe Frauenbewegung und bildete das organisatorische Rückgrat der Bewegung. Die inhaltliche Arbeit wurde zusammengehalten durch eine eigene Vereinszeitschrift, die Neuen Bahnen, die sowohl als interne als auch externe Plattform der Bewegungskommunikation diente. https://doi.org/10.1515/9783110376531-111

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Im Nachhinein kann konstatiert werden, dass die Gründung des ADF stilbildend für die Entwicklung der Frauenbewegung war. Durch diese Gründung entwickelte sich gleichsam ein ‚Muster‘ für alle nachfolgenden Gründungen. Dieses Muster beinhaltete sowohl die Organisationsform – nämlich den Frauenverein – als auch die Gründung einer Organisationskommunikation in Form einer eigenen Vereinszeitschrift. Dieses Organisationsmuster  – Verein mit eigenem Publikationsorgan  – zieht sich durch die Geschichte der Frauenbewegungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und prägte das Bild und die Aktionen dieser Bewegung entscheidend mit. Die Wichtigkeit der eigenen Bewegungskommunikation kann dabei nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn die Vereine hatten mit ihren Zeitschriften ein Medium in der Hand, mittels dessen sie die eigenen Themen und Forderungen sowohl innerhalb der Bewegung bekannt machen als auch in die ‚allgemeine‘ Öffentlichkeit hineinwirken konnten (vgl. Wischermann 2003, 6). So wichtig die eigenen Zeitschriften, die bald einsetzende Buchpublikation und das (autobiographische) Schreiben für die Bewegung auch waren, bei der Aufzählung dieser Kommunikationsmedien darf jedoch nicht vergessen werden, dass es der Brief war, der grundlegend für die Arbeit der Frauenbewegung im 19. und 20. Jahrhundert war.

1 Der Brief als Bewegungs-Kitt Die Wichtigkeit des Briefs hängt damit zusammen, dass die Frauenbewegung eine spezifische Frauenbewegungskultur herausgebildet hatte, deren Basis durch die persönliche Briefkultur getragen wurde. Die Grundlage dieser Kultur stellte die starke Stellung der F ­ rauenbeziehungen dar, die es den einzelnen Mitgliedern ermöglichte, ein selbständiges und gesellschaftlich (teil-)akzeptiertes Lebensmodell außerhalb einer heterosexuellen Ehe zu leben (vgl. Gerhard et al. 1993; Kuhn 2000). Das Lebensmodell der frauenzentrierten (Liebes-)Beziehung, die auch das Teilen eines Hausstandes und das gemeinsame Engagement innerhalb der Bewegung einschloss, wurde in den Reihen der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gelebt und praktiziert. So entstand die alte Frauenbewegung „aus einem Netzwerk von Beziehungen, das von den Frauen weitergeknüpft und ausgespannt“ wurde (Gerhard et al. 1993, 26). Marianne Weber, die selbst in der Frauenbewegung aktiv war und die Frauenbewegungskultur daher genau kannte, analysierte in ihrer Schrift Die Frauen und die Liebe, erschienen 1935, die Bedeutung dieses Modells für die Arbeit in der Frauenbewegung:

7.1 Die Funktion von Briefen in der Frauen­bewegungskultur 

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Frauen haben in unserem Zeitalter gelernt, sich zur Interessensvertretung und zum Gemeinschaftshandeln zusammenzuschließen. Damit ist die Bereicherung ihres persönlichen Lebens ursächlich verknüpft, die darin besteht, daß Zuneigung sich heute oft an Gesinnungsgenossenschaft entzündet und an gemeinsamen sachlichen Aufgaben verankert. (Weber 1935, 235)

Was diese Bewegungskultur für die Frauen also besonders wichtig machte, war die Verknüpfung eines Lebensstils mit einem Engagement in der Bewegung. So lebten die Frauen nicht nur zusammen, sondern engagierten sich auch gemeinsam. Dadurch entstand ein spezifischer ‚Frauenraum‘, in dem neue Ideen entwickelt und politische Aktionen geplant werden konnten. „Ohne den emotionalen Rückhalt in der Bewegung, das persönliche Netzwerk, wäre die Stellung jeder einzelnen angesichts einer den Forderungen eher ablehnend gegenüberstehenden Gesellschaft sehr prekär gewesen.“ (Gerhard et al. 1993, 29) Aus dieser Kultur resultierte dann für die Aktivistinnen auch ein permanenter Dauereinsatz: „[…] it was also true that they worked not only from nine to five, but day and night, for the cause.“ (Bosch und Kloosterman 1990, 25) Das Medium, welches das politikmächtige Netzwerk der Aktivistinnen zusammenhielt bzw. erst ermöglichte, war der Brief, der als „gruppenbildendes Kommunikationsmittel“ verstanden werden kann (Herres und Neuhaus 2002, 8). Können die bald einsetzenden Zeitschriften und andere schriftliche Propagandamaterialien als Außenkommunikation verstanden werden, strukturierte der Brief die inneren Abläufe, die einen unmittelbaren Einfluss auch auf die Außenkommunikation hatten bzw. diese vorbereiteten und flankierten. Der Brief war aber auch für den Aufbau einer gelingenden Organisationsstruktur nötig, da er die Teilnehmerinnen aus den verschiedenen regionalen Zentren miteinander verband. Interessant ist hierbei, dass der Brief auch nach dem Aufbau anderer Kommunikationsformen, wie z.  B. der eigenen Zeitschriften, nicht seine Funktion verlor. Im Gegenteil – um Artikel für die Zeitschriften zu akquirieren, um Rednerinnen zu organisieren, Tagungen und Sitzungen, ja sogar internationale Großveranstaltungen zu managen, brauchte es den Brief. Während Thomas Welskopp für die frühe Sozialdemokratie die wichtige Funktion des Briefs noch herausstellt, aber konstatiert, dass der Brief ab den 1870er Jahren durch den Aufbau einer sozialdemokratischen Lokalpresse seine zentrale Stellung verlor, kann dies für die Frauenbewegung nicht nachgewiesen werden (vgl. Welskopp 2002, 113). Auch um 1900, als sich sowohl das Vereinsnetz der verschiedenen Flügel der Frauenbewegung pluralisiert hatte als auch die wichtigsten Zeitschriften gegründet worden waren, lief über den Brief die alles tragende Organisationsarbeit. Bei der Durchsicht von Briefen aus der (bürgerlichen) Frauenbewegung fällt sofort auf, dass nicht zwischen ‚öffentlich‘ (also der inhaltlichen Arbeit im Verein

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und in der Bewegung) und ‚privat‘ (Freundschaften in der Bewegung), zwischen Geschäftsbrief oder Privatbrief und auch nicht zwischen ‚öffentlicher Person‘ und ‚privater Person‘ unterschieden werden kann. Allerdings sollte man sich auch nicht vom meist freundlichen Ton, von der klaren Bezogenheit aufeinander täuschen lassen. Hier werden keine reinen Freundschaftsbriefe ausgetauscht. Vielmehr werden hier politische Positionen verhandelt. Dies kann übrigens nicht nur für die deutsche Frauenbewegung festgestellt werden, auch die internationalen Briefkontakte in der International Women Suffrage Alliance (IWSA) weisen diese Machart auf. „In spite of this, most of the letter is about a very sensitive political and strategic question.“ (Bosch und Kloosterman 1990, 24) Leider sind aufgrund der schlechten Quellenlage die Briefe der deutschen Frauenbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch nicht grundlegend untersucht worden, Untersuchungen zu Briefen aus der proletarischen Frauenbewegung fehlen vollständig. In vielen Fällen sind die Briefe – durch Kriegsschäden, Flucht, Vertreibung oder Tod der Protagonistinnen – zerstört bzw. durch das jahrzehntelange Fehlen eines eigenen Archivs verlorengegangen. Eigenständige Forschungen zur Briefkultur der deutschen Frauenbewegung des 19. und beginnenden 20.  Jahrhunderts fehlen daher fast vollständig; bezogen auf die Verknüpfungen der international agierenden Verbände liegen erste Vorarbeiten vor (vgl. Bosch und Kloosterman 1990; Rupp 1997). Dieses Manko hängt sicher auch damit zusammen, dass bis heute keine  – wissenschaftlichen Standards genügenden – edierten und dadurch gut zugänglichen Briefsammlungen der ersten deutschen Frauenbewegung vorliegen. Es existieren aus den 1920er Jahren zu einzelnen Frauen aus der Bewegung Werke, in die auch Briefe mit aufgenommen wurden (Marie Wegner, Henriette Schrader-Breymann, Jenny Apolant), aus den 1950er Jahren Briefsammlungen zu Helene Lange und Gertrud Bäumer, die aus der Bewegung selbst stammen (herausgegeben von Emmy Beckmann), und einige wenige moderne Monographien (oder Aufsätze) mit Briefen zu Hedwig Dohm, Clara Zetkin, Louise Otto-Peters oder Luise Büchner. Werke, die die Vernetzung oder die tatsächliche Korrespondenz (also Brief und Gegenbrief) untersuchen, liegen lediglich für Agnes Bluhm vor, allerdings wird hier ihr Briefwechsel mit Alfred Ploetz vorgestellt, in dem es nur am Rande um die Frauenbewegung geht. Selbst über den Umfang der Korrespondenz können also keine abschließenden Urteile gefällt werden, hier müssten zuerst mühsam die Briefnetze der wichtigsten Protagonistinnen rekonstruiert werden  – ein Unterfangen, das für die meisten der in Frage kommenden Personen wahrscheinlich nicht realisiert werden kann, da die Überlieferungslage mehr als desolat ist. Um aber trotzdem erste Hinweise geben zu können und gleichzeitig zu verdeutlichen, was die Besonderheit von Briefen aus der Frauenbewegung ausmacht, sollen im Folgenden Briefe an oder von Anna Pappritz vorgestellt werden.

7.1 Die Funktion von Briefen in der Frauen­bewegungskultur 

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Sie ist eine der wenigen Frauenrechtlerinnen, deren Nachlass überdauert hat, in dem sich also auch Briefe aus der Bewegung finden. Anna Pappritz war ab 1899 eine der führenden Abolitionistinnen des Kaiserreichs und in dieser Position ein wichtiger Teil der bürgerlichen Frauenbewegung um 1900.

2 Anna Pappritz – die Praxis der Frauenbewegungskultur im Brief Die Abolitionistische Bewegung setzte sich im deutschen Kaiserreich ab 1900 für eine Abschaffung der Reglementierung der Prostitution ein. Entstanden in Großbritannien, erstreckte sich der Abolitionismus über ganz Europa; in Deutschland organisierte er sich innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung (vgl. Kretzschmar 2014). Zum Gesicht der Bewegung avancierte die 1861 geborene Rittergutstocher Anna Pappritz, die 1899 den ersten abolitionistischen Zweigverein in Berlin gründete (vgl. Wolff 2017). Ausgehend von diesem ersten Verein entwickelten sich bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs eine nationale Dachorganisation, die sich der internationalen Bewegung anschloss, und 21 Ortsvereine mit insgesamt rund 1.200 Mitgliedern (vgl. Kretzschmar 2014, 88). Diese niedrigen Mitgliederzahlen sollten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Einfluss des Aboli­tionismus beträchtlich war. Dies lag vor allem daran, dass in dieser Zeit eine Sexualreform diskutiert wurde und dass darüber hinaus die sich ausdifferenzierende Ärzteschaft das Thema der ‚gesundheitsgefährdenden‘ Prostitution vermehrt aufgriff (vgl. Sauerteig 1999). Die Autodidaktin Anna Pappritz hatte die Bewegung in England kennengelernt und baute sie ab 1899 im deutschen Kaiserreich auf. Die sich in ihrem Nachlass befindlichen Briefe zeigen, wie wichtig diese Kommunikationsform für die Auf- und Ausbauarbeit war. Pappritz stand mit allen wichtigen Protagonistinnen der Bewegung (national und international) in Kontakt, nicht nur mit denen, die sich für den Abolitionismus einsetzten, und organisierte durch ihre Briefkommunikation ein dichtes und sehr lebendiges Frauennetzwerk. Ihre Korrespondenz soll im Folgenden in Auszügen und exemplarisch vorgestellt werden, um die Praxis der Frauenbewegungskultur im Brief näher zu beleuchten. Dabei sollen zwei Bereiche der Kommunikation analytisch voneinander unterschieden werden, die im Leben und Arbeiten in der Bewegung und vor allem in den Briefen auf das engste miteinander verknüpft waren, nämlich die praktische und die theoretische Seite der Frauenbewegungskultur.

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2.1 Die praktische Seite – Reisen, Vorträge, Tagungen und die Arbeit vor Ort In fast jedem der vorliegenden Briefe an Anna Pappritz aus einem Zeitraum von fast 50 Jahren (1890 bis 1935) wird auf die praktische Organisation der Frauenbewegungsarbeit eingegangen, so etwa wenn Vereine aufgebaut oder aufgelöst, wenn (inter-)nationale Kontakte angestoßen oder beendet werden oder wenn es darum geht, Übernachtungen, Reisen, Tagungen oder Vorträge zu organisieren. Gleichzeitig werden Geschäfte abgewickelt, Artikel abgerechnet und neue bestellt und die Briefadressatin als Kundschafterin im Ausland mit einer Mission betraut. Gerade die Auslandsreisen, überhaupt die Reisen in andere Städte, werden in der Briefkorrespondenz zwischen den verschiedenen Protagonistinnen sehr häufig kommuniziert. Damit einher gingen Einladungen zum Übernachten, was das ausgedehnte Vortrags- und Agitationsprogramm der Frauen überhaupt erst ermöglichte. Exemplarisch kann hier auf einen Brief von Anna Pappritz an Käthe Schirmacher hingewiesen werden, der 1903 die Übernachtungsplanungen für den großen internationalen Kongress (1904 in Berlin) ansprach: Frl. Dr. Bluhm hofft darauf, daß Sie während d. Kongresses bei ihr wohnen. Natürlich hätte ich Sie gern selbst als Gast gehabt, aber Bluhm wünscht sich so sehr eine Bekannte, u. da sie Sie besser kennt als Frau Scheven, so haben wir es so vereinbart, daß Scheven bei mir, Sie bei Bluhm nächtigen, denn tagsüber werden wir ja nicht zu Hause sein, sondern in der Philharmonie herumtoben. Jedenfalls freu ich mich sehr auf d. Zusammen sein mit Ihnen […]. (Anna Pappritz an Käthe Schirmacher, Brief vom 15.12.1903, in: Nachlass Schirmacher, Universitätsbibliothek Rostock, Nr. 41, 4/004–007)

Diese Praxis war keine deutsche Besonderheit, sondern zeigt sich auch in internationalen Kontexten – hier war die Möglichkeit, bei Freundinnen in ‚Übersee‘ zu übernachten noch viel existentieller für das Gelingen der Arbeit als im nationalen Kontext. „Having friends in all countries made traveling for the Alliance [gemeint ist der internationale Stimmrechtsbund, International Woman Suffrage Alliance (IWSA); d. Verf.] easier. It was cheaper to stay in each other’s houses – and also more fun.“ (Bosch und Kloostermann 1990, 27) Passagen aus Briefen zeigen übrigens auch, dass Briefe weitergegeben und herumgeschickt wurden. Dies erleichterte die Organisation – gerade von Vorträgen in anderen Städten – und erlaubte den Briefschreiberinnen und -empfängerinnen die optimale Ausnutzung des weitverzweigten Beziehungsnetzes.

7.1 Die Funktion von Briefen in der Frauen­bewegungskultur 

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2.2 Die theoretische Seite – Positionierungen, Abgrenzungen und Gemeinsamkeiten Den größten Platz in der untersuchten Korrespondenz nimmt allerdings die Besprechung der inhaltlichen Positionen ein, wobei diese nicht explizit, sondern meistens implizit verhandelt werden. Diese Inhalte und Positionierungen zu entschlüsseln, ist in der überlieferten Korrespondenz (vor allem, wenn – wie in den meisten Fällen – die Gegenkorrespondenz fehlt) nicht immer ganz einfach und ohne Kenntnisse der Ereignisse sowie der inhaltlichen Positionierungen der Briefschreiberinnen fast unmöglich. Hier wird mehr als deutlich, dass es sich bei den Briefen aus der Frauenbewegung um eine Kommunikation handelt, die aus einer intensiven (inhaltlichen) Arbeit heraus entstand. Häufig wird auf Positionen in der Frauenbewegungspresse oder in allgemeinen Zeitschriften hingewiesen, die aber nicht mit Titeln genannt werden, so dass eine aufwendige Recherche erfolgen muss, wenn die inhaltlichen Hinweise vollständig erschlossen werden sollen. So zum Beispiel in einem Brief von Paula Mueller, Vorsitzende des Deutschen Evangelischen Frauenbundes, die am 5. Juli 1907 an Anna Pappritz schrieb: Danke für die Broschüre. Ich darf sie wohl noch etwas behalten, da ich in den nächsten 8 Tagen noch nicht zu dem beabsichtigten Aufsatze kommen kann. Seiner Zeit werde ich Ihnen denselben natürlich mit Vergnügen schicken. Meinen Artikel in Evang. Frauenzt. werden Sie erhalten haben, bitte sagen Sie mir gelegentlich Ihre u. Fr. Schevens Ansicht darüber, Sie wissen, ich lege Wert auf Ihr Urteil. (Paula Mueller an Anna Pappritz, Brief vom 5.7.1907, in: Nachlass Anna Pappritz, Landesarchiv Berlin, Helene Lange Archiv, B-Rep 235–13, MF-3456)

Auf welche Broschüre sich Mueller bezog und wie der angesprochene Artikel in der Evangelischen Frauenzeitung heißt, bleibt im Dunkeln. Nur ganz gelegentlich werden Positionen schriftlich explizit benannt, so zum Beispiel von Helene Lange, die am 26.  Februar 1906 an Pappritz schrieb und ihr mitteilte, dass sie den Neo-Malthusianismus nicht unterstützen könne (vgl. Helene Lange an Anna Pappritz, in: Nachlass Anna Pappritz, Landesarchiv Berlin, Helene Lange Archiv, B-Rep 235–13, MF-3456), oder in einem Brief von Anna Pappritz an Magnus Hirschfeld, in dem sie erklärt, dass sie keinen Artikel über Josephine Butler in seiner Zeitschrift schreiben wird, da sie mit seiner Auffassung über eine ‚natürliche‘ Weiblichkeit nicht übereinstimme (vgl. Anna Pappritz an Magnus Hirschfeld am 29.2.1908, in: Nachlass Anna Pappritz, Landesarchiv Berlin, Helene Lange Archiv, B-Rep 235–13, MF-3448). Ob generell bei negativen Abgrenzungen der inhaltliche Grund der Ablehnung explizit angesprochen wird – wie diese beiden Beispiele nahelegen könnten –, müsste weiter untersucht werden.

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Die die Arbeit tragenden Gemeinsamkeiten werden in der vorliegenden Briefkorrespondenz vor allem atmosphärisch ausgedrückt, indem man sich der gegenseitigen Achtung und Freundschaft versichert. Die häufig recht einvernehmliche Korrespondenz sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es selbstverständlich in der Frauenbewegung auch harte und heftige Auseinandersetzungen gab, die ebenfalls mit Hilfe von Briefen ausgetragen wurden. Hier kann exemplarisch der Briefwechsel aus dem Jahr 1903 zwischen Helene Stöcker und Anna Pappritz herangezogen werden. Auch hier liegen leider nur die Briefe von Stöcker vor, die Gegenkorrespondenz ist mit dem Nachlass von Stöcker zerstört worden (vgl. Stöcker 2016). Das Einvernehmen, welches um 1900 noch zwischen den beiden Frauen geherrscht hatte, mündete 1903 in einen offenen Schlagabtausch. „Wünschen Sie durchaus Feindschaft“, schrieb Stöcker am 30. Oktober 1903, so nehme ich im Bewusstsein meines guten Gewissens eine offene, ehrliche Gegnerschaft lieber an, als eine nicht empfundene Freundschaft.  […] Einstweilen gebe ich mich der Hoffnung hin, daß Sie bei meiner Rückkehr im Dezember soweit über die Angelegenheit beruhigt sind, um die Ungerechtigkeit ihres gestrigen Angriffs zu erkennen, daß wir vielleicht durch eine persönliche Besprechung zu einer Verständigung kommen. (Stöcker an Pappritz, Nachlass Pappritz, Landesarchiv Berlin, Helene Lange Archiv, B-Rep 235–13, MF 3455)

Bei genauerer Betrachtung des Konflikts wird deutlich, dass sich der Streit an der inhaltlichen Frage, welchen Weg die bürgerliche Frauenbewegung zur Bekämpfung der Reglementierung der Prostitution einzuschlagen habe, entzündete. Setzte Anna Pappritz als Abolitionistin auf die Aufhebung der Reglementierung, sanitäre Maßnahmen und vor allem auf die herzustellende vollständige Gleichberechtigung der Frauen mit den Männern, wollte Stöcker die Prostitution durch eine neue Sexualmoral bekämpfen, in der eine ausgelebte Sexualität nicht mehr nur in einer Ehe stattfinden konnte. In der Korrespondenz zwischen Stöcker und Pappritz wird überdeutlich, dass es in den Briefen nicht nur um zwei Personen ging, sondern dass Positionen von Gruppen in der Bewegung verhandelt wurden. Durch das schriftliche Reden mit- und übereinander kam es zu Gruppenbildungen, die das Arbeiten in der Bewegung zwar einerseits erleichterten, andererseits aber auch erschwerten. Traten nämlich inhaltliche Konflikte auf – was unweigerlich passieren musste –, stand in grundlegenden Fällen auch gleich die Freundschaft mit auf dem Spiel bzw. die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Aus Freundinnen konnten dann recht schnell Gegnerinnen werden, die sich infolgedessen in der Frauenbewegung auf unterschiedlichen Seiten wiederfanden – so auch bei Pappritz und Stöcker. Nach dem Konflikt 1903, der nicht gelöst wurde, sprachen die beiden nicht mehr miteinander, sondern vertraten von da an getrennt ihre Positionen

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in der Prostitutionsarbeit. Aber nicht nur das. Der Konflikt war so wirkmächtig, dass sich bis heute an dieser Frage die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ablesen lässt. Der große Bund deutscher Frauenvereine unterstützte nämlich Anna Pappritz und den Abolitionismus, und der kleine Verband fortschrittlicher Frauenvereine protegierte Helene Stöcker und ihre Neue Ethik. Da die Arbeit in der Frauenbewegung auf einer Freundschaft zwischen den Protagonistinnen fußte, stand diese bei inhaltlichen Konflikten immer mit zur Disposition. Dies führte durchaus zu schmerzhaften und heftigen Abwehrbewegungen, die häufig mit einem vollständigen Abbruch der Kommunikation einhergingen. Abschließend kann festgehalten werden, dass die Briefkultur maßgeblich für den gelingenden Auf- und Ausbau der Frauenbewegung war. Erst dieser ermöglichte das Knüpfen des Frauenbewegungsnetzwerks, welches, als Freundinnenbund verstanden, die inhaltliche Arbeit trug. In diesem Netzwerk wurden immer wieder anstehende Veränderungen vorbereitet, Organisations- und Arbeitsabläufe miteinander durchgeführt, versicherte man sich gegenseitig der Solidarität und Mitarbeit oder kündigte sie einander auf. Trotz der als schwierig einzuschätzenden Quellensituation würde sich ein vertiefender Blick auf die Briefpraktiken der Frauenbewegung durchaus lohnen.

Zitierte Literatur Bosch, Mineke u. Annemarie Kloosterman (1990). Politics and Friendship. Letters from the International Woman Suffrage Alliance 1902–1942. Columbus (OH). Gerhard, Ute, Christina Klausmann u. Ulla Wischermann (1993). „Frauenfreundschaften – ihre Bedeutung für Politik und Kultur der alten Frauenbewegung“, in: Feministische Studien, 11.1: 21–37. Herres, Jürgen u. Manfred Neuhaus (2002). Politische Netzwerke durch Briefkommunikation. Briefkultur der politischen Oppositionsbewegungen und frühen Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Berlin. Kretzschmar, Bettina (2014). „Gleiche Moral und gleiches Recht für Mann und Frau“. Der deutsche Zweig der internationalen abolitionistischen Bewegung (1899–1933). Sulzbach/Ts. Kuhn, Bärbel (2000). Familienstand ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum (1850–1914). Köln. Stöcker, Helene (2016). Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin. Hg. v. Reinhold Lütgemeier-Davin u. Kerstin Wolff. Wien u.  a. 2015. Otto-Peters, Louise (1890). Das erste Vierteljahrhundert des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins. Leipzig. Rupp, Leila J. (1997). Worlds of Women. The Making of an International Women’s Movement. Princeton (NJ).

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Sauerteig, Lutz (1999). Krankheit, Sexualität, Gesellschaft. Geschlechtskrankheiten und Gesundheitspolitik in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Stuttgart. Schötz, Susanne u. Irina Hundt (2015). „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne. Der Allgemeine Deutsche Frauenverein von 1865“, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, 67/68: 8–17. Schraut, Sylvia (2013). Bürgerinnen im Kaiserreich. Biographie eines Lebensstils. Stuttgart. Weber, Marianne (1935). Die Frauen und die Liebe. Königstein/Ts.  u. Leipzig. Welskopp, Thomas (2002). „Vernetzte Vereinslandschaften. Zur Briefkommunikation in der frühen deutschen Sozialdemokratie“, in: Politische Netzwerke durch Briefkommunikation. Briefkultur der politischen Oppositionsbewegungen und frühen Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Hg. v. Jürgen Herres u. Manfred Neuhaus. Berlin: 101–115. Wischermann, Ulla (2003). „Bewegungs(gegen)öffentlichkeiten. Zur Geschichte der politischen Presse von Frauen für Frauen“, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, 44: 6–13. Wolff, Kerstin (2017). Anna Pappritz (1861–1939). Die Rittergutstochter und die Prostitution. Leben, Arbeiten und Streiten im Dienst der Frauenbewegung. Sulzbach/Ts.

Archivquellen Nachlass Anna Pappritz, Landesarchiv Berlin, Helene Lange Archiv, B-Rep 235–13, MF-3448, 3455 u. 3456. Nachlass Käthe Schirmacher, Universitätsbibliothek Rostock, Nr. 41, 4/004–007.

Jens Ebert

7.2 Feldpost Die Feldpost ist so alt, wie es Kriege sind. Entstanden ist sie als Kriegspost, als Übermittlung rein militärischer Informationen. Lange war sie nicht unbedingt an Schrift gebunden, sondern wurde als mündliche Überlieferung organisiert. Läufer, später Reiter, stellten zwischen Heer und Herrscher und zwischen einzelnen Truppenverbänden die Verbindung her. Das seit dem 13. Jahrhundert existierende Nachrichtensystem des Deutschen Ordens kann als eine der frühesten Formen der Feldpost in Deutschland angesehen werden. Im Dreißigjährigen Krieg wird erstmals ein Feldpostamt eingerichtet. Die übermittelten Schriftstücke sind ausschließlich offizielle Post oder Post der Oberschicht. Eine Feldpost für alle Armeeangehörigen entwickelte sich seit dem 18. Jahrhundert in Preußen infolge der zahlreichen militärischen Auseinandersetzungen. Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 bestand die Norddeutsche Feldpost bereits aus 77 Feldpostanstalten mit fast 800 Mitarbeitern. Sie beförderte mehr als 90 Millionen Briefe. Spätestens jetzt wird Feldpost hauptsächlich als private Post angesehen und kaum mehr als militärische Nachrichtenübermittlung.

1 Lebenszeichen Was wir heute unter Feldpost verstehen, ist geprägt durch das Zeitalter der Weltkriege. Nach Schätzungen wurden im Ersten Weltkrieg fast 29 Milliarden und im Zweiten über 40 Milliarden Postsendungen befördert. Dies sind einzigartige Quantitätssprünge. Nie zuvor oder danach wurden so viele Briefe und Postkarten geschrieben und befördert. Und nur selten war der Inhalt so voller Dramatik. Denn Briefe und Postkarten waren zuallererst eines: Lebenszeichen. Überlebenszeichen. So schreibt etwa Arthur Becher, Heizer auf dem Kreuzer „Nürnberg“, am 6. August 1914: Ich muß euch noch ein paar Zeilen schreiben vieleicht [sic] die letzten. Denn auch wir hier sind bereit zu jeder Stunde dreinzuschlagen. Da ist es möglich das [sic] wir unser Leben opfern müssen und wir uns niemals wiedersehen aber wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben. Sollte ich nicht mehr zurückkehren dann lebt alle Wohl. (Ebert 2014, 8–9)

https://doi.org/10.1515/9783110376531-112

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2 Organisation Die logistischen Herausforderungen für den Postverkehr waren in den Weltkriegen einzigartig. Nie zuvor mussten in kürzester Zeit so viele Sendungen unter bisher nicht gekannten Schwierigkeiten befördert und Millionenheere versorgt werden, deren Einheiten sich zum Teil in Bewegung befanden und in halb Europa sowie Teilen Asiens und Afrikas standen. Im Ersten Weltkrieg sorgten dafür ca. 8.000 Beamte und Trainsoldaten in 53 Feldpostämtern, mit mehr als 700 nachgeordneten Einrichtungen. Da der Feldpostverwaltung nicht annähernd die nötige Infrastruktur gegeben und ihr wichtige Informationen über Truppenverlegungen vorenthalten wurden, gab es am Anfang des Krieges erhebliche Probleme. Umfangreiche Proteste führten zu einer grundlegenden Verbesserung der Organisation. Um die Postverteilung zu effektivieren, wurden im Ersten Weltkrieg zuerst in Österreich-Ungarn und dann in Deutschland schrittweise Feldpostnummern eingeführt. Beide Länder stimmten ihre Systeme miteinander ab. Der Zweite Weltkrieg stellte der Post wiederum neue und ungeahnt schwierige Aufgaben. Die NS-Führung hatte das Problem der Postbeförderung im Kriege frühzeitig erkannt, ebenso deren erhebliche Bedeutung für die psychologische Stabilisierung der Frontsoldaten. Das Feldpostwesen war daher anders als 1914 nicht unvorbereitet in den Krieg gegangen. Schon 1933 gab es erste „Richtlinien für die Vorbereitung der Reichsverteidigungsmaßnahmen“. Die erstaunliche Zuverlässigkeit und Geschwindigkeit der Feldpost war Resultat jahrelanger Bemühungen. Bereits in Friedenszeiten wurde ihre Verteilung geprobt, erstmalig 1936 bei einer Übung in der Oberpfalz. Bei der Annexion des Sudetenlandes und Österreichs wurde dann die Effektivität des Systems unter realen Bedingungen kontrolliert. Bereits vor dem Überfall auf Polen war die Verteilung von Feldpostnummern an alle Einheiten der Wehrmacht abgeschlossen. Die Organisation bewährte sich so trainiert später auch unter schwierigsten Verhältnissen. Bei den ab 1944 zunehmend ungeordneter werdenden Rückzügen der Wehrmacht wurde sie zwar beeinträchtigt, funktionierte aber bis zum Kriegsende auch in den bombardierten Großstädten hinreichend gut. Anders als im Ersten Weltkrieg gab es kaum Klagen wegen unkorrekter und zu langsamer Beförderung. Dafür sorgten Mitarbeiter in ca. 400 Feldpostämtern, deren Anzahl von 7.000 rasch auf 12.000 aufgestockt wurde. Alle privaten Feldpostsendungen, wie Postkarten, Briefe und Luftfeldpost, wurden gebührenfrei befördert. Jeder Soldat erhielt auf Wunsch pro Woche zudem zwei Feldpostkarten kostenlos. Nachdem sich die Feldpostnummern als sehr effektiv für den Postverkehr erwiesen hatten, wurden in Deutschland ab 1944 auch schrittweise Postleitzahlen im zivilen Bereich eingeführt.

7.2 Feldpost 

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3 Vom Schreiben und Lesen In den Weltkriegen waren erstmals Bevölkerungskreise, die kaum oder nie zuvor einen Brief geschrieben hatten, gezwungen, postalisch miteinander zu verkehren. Das Schreiben von Briefen war für die meisten Soldaten nicht nur neu, sondern durchaus ein Problem. Im Jahr der Reichsgründung 1871 hatte in Preußen die Analphabetenrate immerhin noch ca. 13 Prozent betragen. Auch der mehrjährige Schulbesuch in den folgenden Jahrzehnten garantierte insbesondere bei der ländlichen Bevölkerung kaum ausreichende Kompetenzen im Lesen und Schreiben. Musketier Nikolaus Kohler an seinen Schwager am 3. April 1915: Teihle euch nun mit das es mir hier gut geht bin in den Karbaten geken die Rußen ist ein Schweine Volk schnee hat es noch viel u Träk da habt ihr keine Anung die Rußen schiezen gut. Da muß man sich bücken in schützen Kraben bin aber Imer gesund u munter wen es auch gut allen seiden Pfeift geht Jetzd in schützen Kraben über die Ostern zum 2 mal (Ebert 2014, 77).

Schlagartig wurden in Europa mit dem Kriegsausbruch 1914 Millionen Männer aus ihrem sozialen Umfeld gerissen. Väter, Söhne, Brüder, Arbeitskollegen wollten und mussten nun schriftlich mit ihren Ehefrauen, Müttern, Schwestern und Verwandten sowie mit Freundinnen, Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen Kontakt halten. Es war der Erste Weltkrieg, der Brief und Postkarte als Mittel der Massenkommunikation zum Durchbruch verhalf und damit ‚nebenbei‘ die Leseund Schreibkompetenz breiter Bevölkerungsschichten maßgeblich beförderte. Doch selbst im Zweiten Weltkrieg gab es bei einem Teil der Soldaten immer noch geringe Kompetenzen beim Schreiben, wie dieser Hilferuf vom 13. Januar 1943 aus dem Kessel von Stalingrad beweist: Libe Frau in anfank main schraiben teile ich dir mit das ich noch Gott sai dank gesunt und an leben […] Libe Frau wir sint noch imer aingekselt und es wird sich amende Gott erbarmen und unz helfen das wir wider raus komen den so sint wir ferloren. kain paket und kain brif bekomt ma nicht sone schene paket was du hast gemackt fir mich di sint ja ale jetzt ferloren bistemt […] Libe Frau denk nicht das ich dir so wenich schraib aber file denk denbkent tu ich an dich ich hab ja nichtz mer zu schraiben ich schraib nur so fil das du solst wisen das ich noch am leben bin […]. (Ebert 2003, 299)

Wegen der mangelnden Schreibfähigkeiten wurden im Ersten Weltkrieg sehr viele Postkarten verschickt. Diese machten den größten Teil der Postsendungen aus. Die schriftlichen Äußerungen waren oft dürftig. Aufgewertet wurde der Mitteilungswert durch die vielen verschiedenen, oft farbigen Motive auf der Vorderseite. Inwieweit die Illustrationen von den Soldaten thematisch bewusst ausgewählt wurden, ist nicht rekonstruierbar. Illustrierte Feldpostkarten gab es im Zweiten

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Weltkrieg kaum mehr, insbesondere keine farbigen. Feldpostkarten dienten hier nur noch kurzen, schnell zu verschickenden Informationen. Die in den Briefen transportierte Wahrheit ist subjektiv. Das entworfene Bild des Krieges hängt in außerordentlichem Maße vom Bildungsgrad des Schreibers, aber auch von anderen sozialen Faktoren wie Jahrgang, politische und/oder konfessionelle Bindung, regionale Prägung, aber natürlich auch vom Intellekt ab. Trotz gewisser Einflüsse von Zensur und Selbstzensur, die im Zweiten Weltkrieg stärker waren als im Ersten, kann man dem in den Briefen Vermittelten einen hohen subjektiven Wahrheitswert zugestehen. Wenn jemand systemkonform schrieb, kann man aus heutiger Sicht davon ausgehen, dass dies der Haltung des Schreibers entsprach, denn niemand konnte ihn dazu zwingen, entsprechende Offenbarungen in der privaten Kommunikation zu tätigen. Wenn sich jemand gegen das System äußerte, kann man diese Aussagen auch ernst nehmen, denn er übte Kritik angesichts der Gefahr erwischt zu werden.  […] Der Inhalt wie auch das, was nicht geschrieben wird, sind eher dominiert vom kommunikativen Bezug zum Adressaten. (Schwender 2009, 87)

Denn das, was man der eigenen Mutter, den Eltern, der Ehefrau oder Freundin schrieb, war oft etwas anderes als das, was man etwa Freunden, Kameraden oder Geschwistern anvertraute – und umgekehrt. Besonders aus ländlichen Gebieten kommende Soldaten schrieben die Briefe in dem Bewusstsein, dass sie von der Großfamilie oder gar vom ganzen Dorf gelesen wurden. Informationen, die man hier an eine Person schrieb, aber anderen vorenthielt, konnten fast nie geheim gehalten werden. Minna Falkenhain aus Naundorf an ihren Sohn am 30. November 1914: „Ich habe mich sehr geärgert, dass Du an Wittes Magd geschrieben hast. Die ist durchs ganze Dorf gerannt und hat erzählt, Du schreibst oft an sie. Den Spaß unterlass bitte künftig.“ (Schumann 2013, 19) Aber auch von aus städtischen Milieus stammenden Soldaten gab es Sammelbriefe an die Familie, da zu wenig Zeit blieb, alle Schreiben aus der Heimat zu beantworten. In der Regel wurde erwartet, oft auch verlangt, dass mehrere Mitglieder der Familie, Freunde und Bekannte ganz oder teilweise mit dem Inhalt vertraut gemacht wurden.

4 Zensur und Selbstzensur Die Art und Weise der Mitteilungen sowie das Fehlen und Glätten bestimmter Informationen wird oftmals mit Zensur und Selbstzensur erklärt, doch das

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greift zu kurz. Vieles wird bewusst, aber noch mehr unbewusst verdrängt. Vieles wollten sich die Soldaten selbst nicht klarmachen und scheuten sich deshalb, es aufzuschreiben. Vieles steht zwischen den Zeilen. Auch Formen der Selbstinszenierung spielen hinein. Das ist kein Spezifikum des Schreibens im Krieg, allerdings ist es hier ausgeprägter als in ‚normalen‘ Zeiten. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges gab es im Deutschen Reich keinerlei Bestimmungen zur Einschränkung des Postgeheimnisses. Nicht einmal das Gesetz zum Belagerungszustand, das weitgehende Eingriffe in verfassungsmäßige Rechte, wie z.  B. in das Versammlungsrecht, die Unverletzlichkeit der Wohnung und die Pressefreiheit, erlaubte, berührte das Postgeheimnis. Allerdings wurden im Verlauf des Krieges ungefähr 600 Postsperren verhängt, während derer keine Briefe oder nur offene Schreiben versandt werden durften. Diese Postsperren konnten auch von niederen Armeeebenen ausgehen. Systematisch geregelt und damit der Willkür entzogen wurde die Zensur durch eine Verfügung des Generalstabes erst im April 1916. Sie wurde durch Stempelaufdruck vermerkt, die beanstandeten Passagen geschwärzt. Deutlich anders war die Sachlage in der K.-u.-k.-Monarchie. Dort hob man bereits am 25. Juli 1914 das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte des Bürgers von 1867 auf. In Österreich-Ungarn war die Post dem Handelsministerium unterstellt. Gemeinsam mit dem Justizministerium war es ermächtigt, alle Postsendungen jeder Art zu kontrollieren. Die Tatsache einer allgemeinen Feldpostzensur war den Soldaten sehr wohl bewusst. Real allerdings beschränkte sich die Zensur angesichts der Masse der Postsendungen auf Stichproben. In den Briefen finden sich immer wieder und zu allen Zeiten grobe Verstöße gegen die Geheimhaltungsvorschriften und deutliche Berichte über Missstände. Über mögliche Bestrafungen wegen Verstößen gegen die Zensur ist kaum etwas bekannt. Das war sicher ein Grund dafür, dass die Angst vor der Feldpostzensur im Laufe des Krieges deutlich abnahm. Im Zweiten Weltkrieg war die Zensur der Feldpost einheitlich geregelt und wurde durch besondere Prüfstellen ausgeführt. Das Öffnen der Briefe wurde durch einen Stempel kenntlich gemacht. Die Zensur stellte im Krieg jedoch nichts wirklich Neues dar, denn bereits nach dem Reichstagsbrand 1933 war das Postgeheimnis in Deutschland offiziell aufgehoben worden. Die ersten Leser von Feldpost waren somit die Mitarbeiter der Zensurbehörden und Geheimdienste. Neben dem Ziel, die Verbreitung unliebsamer und gefährlicher Informationen zu verhindern, was in der Regel nicht gelang, wollten sie die Stimmungslage an der Front und in der Heimat erkunden, um gegebenenfalls politisch oder repressiv darauf reagieren zu können. Der Inhalt der Briefe wurde ernst genommen, auch wenn er ideologisch unliebsam war. Die Zensur wird in vielen Interpretationen von Feldpostbriefen überschätzt. Die Zensurbehörden wollten zwar unerwünschte Infor-

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mationen unterdrücken, doch durften sie nicht allzu deutlich in Erscheinung treten. Zum einen, da sie die Feldpost als Stimmungsbarometer nutzen wollten, zum anderen, da man die für die psychische Stabilität der Soldaten so wichtige Brücke zur Familie nicht beschädigen durfte und wollte. Im Regelfall trat die Feldpostzensur offen in Erscheinung und sollte bereits im Vorfeld durch Abschreckung wirken. Manchmal arbeitete sie aber auch eher subtil. Aus Berichten der Feldpostprüfstelle, die die Post aus dem Stalingrader Kessel bearbeitete, geht hervor, dass man sehr großzügig verfuhr. Im Laufe der Einkesselung, wie übrigens fast immer in gefährlichen militärischen Situationen, nahm die Angst vor der Feldpostzensur ab. Mit Verschlechterung der Lage wurden immer häufiger verbotene militärische Einzelheiten preisgegeben (vgl. Ebert 2003, 397).

5 Kriegswelten Das Leben im Krieg ist mit dem Vokabular des Friedens nur bedingt mitzuteilen. Erlebnisse werden zu Erfahrungen, wenn sie verschriftlicht bzw. kommuniziert werden. Dazu ist es notwendig, sie mit früheren Erlebnissen aus Friedenszeiten zu verbinden, sie gleichsam einrasten zu lassen in bestehende Lebensmuster. Der Krieg bzw. das Leben im Krieg wird meist nur da ausführlich beschrieben, wo es sich mit den aus Friedenszeiten bekannten Vorstellungen, Erfahrungen und Werten formulieren lässt. In den Briefen erscheint der Krieg oft als die Fortsetzung des Lebens im Frieden unter anderen – schwereren, unangenehmeren, gefährlicheren  – Bedingungen. Es scheint, dass der Krieg, sofern er sich mit Werten aus der Arbeitswelt in Friedenszeiten artikulieren lässt, z.  B. Fleiß, Ausdauer, Durchhalten, Pflicht, Gehorsam, Unterordnung, durchaus angenommen wird. Allgemein ist zu beobachten, dass die Kriegswirklichkeit nur fragmentarisch beschrieben wird. Es dominieren Themen wie Post, Kälte, Hunger und Läuse sowie persönliche Probleme aus dem Familien- und Freundeskreis. In vielen Briefen ist der Krieg überhaupt nicht präsent. Über militärische Kämpfe wird nur sehr selten und zurückhaltend berichtet. „Die Schweigegrenze der Soldaten liegt bei der Vermittlung von Leiden. Dies lässt sich etwa dann belegen, wenn […] Tagebuchaufzeichnungen mit den Briefen aus derselben Zeit verglichen werden können. Nach Hause sendet der Soldat Zuversicht, dem Tagebuch vertraut er die Beschwerlichkeiten und Gefahren an.“ (Schwender 2009, 87) Der Krieg erscheint in den Briefen mitunter als positive Gegenwelt, als Möglichkeit, dem ungeliebten Trott des Alltags, einer provinziellen Heimat oder einer sozialen Deklassiertheit zu entfliehen. Frontsoldaten beschreiben, wie sie ihren Bunker ‚gemütlich‘ einrichten. Teilweise schwingt Pfadfinder-Romantik mit,

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wenn über die zusammengesuchte Einrichtung der Behausungen weitab von der Heimat geschrieben wird. Das Kriegserlebnis wird als Leben jenseits bürgerlicher Normen durchaus angenommen. Während der Besatzungszeit in Westeuropa und beim Vormarsch in der Sowjetunion ist das Militärische in vielen Briefen weitgehend abwesend. Es gibt andere, neue Eindrücke zu berichten. Bei den großen, für die Wehrmacht verlustreichen Abwehrschlachten ab 1943 kehrt der Krieg jedoch mit voller Wucht in das Erzählte zurück. Ein Schlüsselereignis dafür ist die Schlacht um Stalingrad, aus der Briefe kommen, die bislang unbekannte Schrecken und Leiden vermitteln.

6 Fremde Menschen, Kulturen und Landschaften Viele Soldaten erlebten durch die Wehrmacht zum ersten Mal fremde Länder. Sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg werden von den Fronten Postkarten verschickt, die an Urlaubsgrüße erinnern – Ersatzreservist Wilhelm Schmitt am 10.  November 1915: „Die besten Grüße aus Serbien sendet Euch allen euer Wilhelm. Bin jetzt noch gesund und munter was ich von Euch allen auch hoffe. Auf Wiedersehen“ (Ebert 2014, 123). Der Funker Wilhelm Moldenhauer schreibt am Vorabend des Überfalls auf die Sowjetunion aus Polen: „Mir geht es ausgezeichnet. Gestern haben wir uns gesonnt und dabei Skat gespielt. Die Gegend hier ist ganz wunderbar. Wie im Harz! Otto G. meinte gestern ‚Unser Reisebüro hat uns doch prächtig beraten!‘“ (Ebert 2008, 119) Viele Soldaten beschreiben die neuen Eindrücke sehr detailliert gegenüber ihren Familien. Sie berichten über soziale, kulturelle, wirtschaftliche und religiöse Besonderheiten. Das Interesse in der Heimat an solchen ‚Abenteuerberichten‘ ist groß. Besonders die französische Kultur und Architektur beeindrucken Armeeangehörige in beiden Weltkriegen. Das freizügige Nachtleben und die Unterhaltungsmöglichkeiten in größeren Städten werden aber nur einem ausgewählten Kreis berichtet. Oder die Soldaten betonen stereotyp, sie hätten diese Informationen nur aus zweiter Hand von einem Kameraden. Neben Fotografien, besonders im Zweiten Weltkrieg, sind es Zeichnungen, die der Familie die fremden Welten nahebringen sollen. Die spannenden Erlebnisse in fremden Ländern und Kulturen tragen deutlich zur Akzeptanz der Feldzüge bei.

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7 Gegenwelten Um die vom Einzelnen nicht zu beeinflussende Kriegswelt nicht übermächtig werden zu lassen, flüchten sich Soldaten in ihren Briefen in Gegenwelten. Wichtigster Themenkomplex hierbei ist die Familie und das Leben in der Heimat. Briefe suggerieren das Fortbestehen des bisherigen Lebens und beschwören Kontinuität in einer zerbrechenden Welt. Die Soldaten sahen sich immer noch als Entscheidungsträger für familiäre Belange. Sie wollen weiterhin an der Klärung und Entscheidung juristischer, organisatorischer und vor allem finanzieller Fragen des Haushalts beteiligt werden, auch wenn die Frauen längst die Rolle des Familienoberhaupts übernommen haben: Wie soll es mit Berta werden? Ich bin einverstanden, wenn Du sie behalten willst. In Essen sollen Hunderte von Mädchen stellungslos sein u. es wurde in der Zeitung darauf hingewiesen, daß es patriotische Pflicht sei, die Mädchen möglichst zu behalten. Teile mir mit, ob Du ihr den Lohn für August senden willst, oder ob ich es tun soll, letzterenfalls mußt Du mir auch Bertas genaue Adresse angeben. 27 M, nicht mehr? Hattest Du eigentlich das letzte Geld am 1. August schon abgezogen? (Ebert 2014, 355)

Ernst Giucking am 2. Dezember 1939 an seine Frau: Und an Deinem Herrn Papa habe ich einen sechs Seiten langen Brief losgelassen. Der wird Augen machen. Aber nicht nach Hause, ich habe ihn ans Amt geschickt. Da bin ich gespannt. Ich habe ihm die Lage mit unserem Gehalt und zweitens etwas über unser Alter geschrieben. Ich habe klar und deutlich geschrieben, unter anderem, daß Du Dich schon lange danach sehnst, es nur nicht zum Ausdruck bringen konntest. […] Die Verantwortung für unser Vorhaben würde ich tragen. (Feldpostarchiv, 3.2002.0349)

Ein wichtiger Fluchtort ist die Natur. Sie scheint geradezu der friedliche Gegenentwurf zur menschengemachten Katastrophe zu sein. Wann immer er kann, geht Robert Pöhland im Wald oder auf Wiesen spazieren, wie am 9. April 1916: Alles Unterholz wurde u. wird noch abgeschlagen zum Schützengrabenbau. Aber trotzdem habe ich mich am erwachenden Frühling, den dieser ‚Wald‘ schon sehr deutlich zeigt, recht erquicken können. Hier blühen diese gelben Schlüsselblumen (oder Briemeln) so wild im Wald. Habe mir einen Strauß davon gepflückt, der wundervoll duftet. […] Daß ich da einige Zweige für meinen Strauß erkor, brauche ich wohl nicht erst zu erwähnen. (Ebert 2014, 143)

Der 1943 überraschend eingezogene Feuilletonchef der Krakauer Zeitung UbboEmmius Struckmann schreibt aus den Wäldern Weißrusslands an seine Frau:

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Überhaupt bietet die Natur hier herrliche Stimmungen, besonders morgens und abends. Zweimal habe ich jetzt schon ziehende Schwäne gesehen, einmal 5, prachtvoll gegen den rötlich zarten Abendhimmel […]. Das Land ist, selbst gemessen an den kleinen Ausschnitten, die wir kennen lernen offenbar sehr schön. Gar nicht überall ganz flach, sondern wellig, ja hügelig, und dadurch natürlich sehr mannigfaltig und reizvoll! (Ebert u. Struckmann 2015, 22)

Auch Kunst und Literatur sind Gegenwelten, in denen man zeitweilig Krieg und Leiden vergessen kann, wie Hans Albring am 13. September 1942 im Lazarett: Ich las im Don Quichote – natürlich habe ich aus dem weit über tausendseitigen Band nur einige und zwanzig Kapitel lesen können. Ein paar Worte will ich aber doch über Gösta Berling, von Selma Lagerlöf, verlieren. Du kennst ja dem Bilde nach diese liebe Großmama aus dem Norden, kennst dem Namen nach auch den Titel des Buches. Es nennt sich ein ‚Roman‘. Es ist aber kein Roman. Es ist ein Epos. Man spürt, daß es von einer Frau geschrieben […]. So bin ich vom Literaturgewäsch doch dahin gekommen, wo ich bin – wo ich noch bin. Wie lange noch? (Feldpostarchiv, 3.2002.0210)

Eine wichtige Ablenkung vom Krieg ist das Thema Essen. Berichte über die Zubereitung von Speisen, exakte Aufzählungen von Rationen und Klagen über schlechte oder mangelnde Versorgung nehmen einen großen Teil in den Brieftexten ein.

8 Feindbilder Trotz aller vaterländischen und nationalistischen Beeinflussung zeigten die Soldaten im Ersten Weltkrieg selten offenen Hass gegenüber dem Gegner. Wenn doch, so ist das Objekt weniger der einzelne Soldat im feindlichen Schützengraben, sondern der abstrakte ‚Russe‘ oder ‚Franzmann‘, also die nicht realen Produkte der Propaganda. Nationalistische Vorurteile, von der Presse beständig angeheizt, gingen den meisten zwar leicht von den Lippen, waren aber nicht stark verinnerlicht. Je häufiger und intensiver es Kontakte mit realen Personen gab und je länger diese dauerten, umso mehr begannen die Feindbilder zu bröckeln, und man sah im ‚Feind‘ den Menschen, gar den Bruder, so dass es zu Anfang des Krieges im Westen und dann 1917 an der Ostfront zu den bekannten Soldatenverbrüderungen kam (vgl. Ebert 2014, 364–369). Zwar gibt es hartnäckige stereotype Vorurteile, die auch gerne gepflegt wurden, z.  B. der Russe sei schmutzig und der Franzose schlüpfrig, doch diese sind kaum geeignet, eine dauernde Distanz zur Bevölkerung des Landes zu schaffen. Eher das Gegenteil ist der Fall – oder zumindest ist die Erfahrung ambivalent. Der ‚schmutzige Russe‘ stärkt im Deutschen das Selbstwertgefühl und lässt ihn Mitleid

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haben, und das ‚Schlüpfrige‘ an der französischen Lebensart regt die eigene Phantasie an, auch wenn man dies in den Briefen nach Hause abstreiten muss. Soldaten hielten sich nicht nur in Schützengräben auf, sondern auch in der Etappe und im Hinterland. In den Dörfern und Städten begegneten sie im Laufe der Zeit regelmäßig Einheimischen und pflegten vielfältige, von der Heeresführung argwöhnisch beobachtete Beziehungen: Zu viele Kontakte mit der Bevölkerung bargen die Gefahr, dass die Soldaten Solidarität entwickelten, Übereinstimmungen in den Lebensansichten bemerkten oder gar Mitleid verspürten. Dies war ab 1916 zunehmend an der Ostfront der Fall, wie in den Briefen berichtet wird: Die Russen sind immer noch friedlich, spazieren morgens aus Ihren Graben heraus und holen sich Ihr Frühstück nach hinten in Ihre Res. Stellung. […] Heut kamen 3 Mann bis ans Drahtverhau herüber und brachten Brot und erhielten Rum, denn sie trinken gern ein und erhalten kein. Geschossen wird garnicht die Russen wollen auch nicht mehr kämpfen sagen Sie denn es hat kein Zweck mehr mein Sie (Ebert 2014, 368).

Einige Vorurteile hielten sich jedoch hartnäckig: Das Bild vom ‚rachsüchtigen Belgier‘, dem man übelnahm, dass dieser, nachdem man unter Bruch des Völkerrechts sein Land überfallen hatte, nicht in geordneten Formationen gegen die Invasoren kämpfte, sondern ungeordnet und listig als Franktireur, als Freischärler. Die Empörung über diesen unberechenbaren Feind ist echt und dauerhaft. Ebenso die über die ‚Treulosigkeit‘ des ehemaligen Bündnispartners Italien. In den Zweiten Weltkrieg gingen die deutschen Soldaten nach jahrelanger nationalsozialistischer Indoktrination, die die alten Vorurteile mit neuen antikommunistischen, rassistischen und chauvinistischen Elementen verband. Manfred von Plotho wenige Tage nach dem Überfall auf die Sowjetunion: Wie gut passt der Jude zu diesem reinen Wirtsvolk. Ich habe in meinem Leben bisher nicht gewusst, was Hass heisst. Wenn man so viel in der Welt herumkommt, sieht man schon aus Selbsterhaltungstrieb mehr das Verbindende als das Trennende. Aber seit heute kenne ich dies Gefühl. Hier gibt es keinen Kompromiss mehr, hier werden wir die harten Soldaten Adolf Hitlers […]. (Feldpostarchiv, 3.2008.2195, 30.6.1941)

Solch eindeutig nationalsozialistische Äußerungen sind jedoch eher selten in den Briefen. Das mag mit der Überlieferungsgeschichte der Feldpost zusammenhängen und mit der Tatsache, dass es in Archiven kaum Zeugnisse von Angehörigen der Waffen-SS gibt. Alltagsrassismus gegen Polen, Russen, Balkanvölker, aber auch Belgier u.  a. ist hingegen häufig. Rassistische Vorurteile gegen Kolonialtruppen, die bereits im Ersten Weltkrieg bestanden, verstärken sich durch die NSIdeologie im Zweiten. Farbige Soldaten sind stets Angstfiguren. ‚Die Russen‘ waren mit Abstand die gefürchtetsten Gegner. Angst und Respekt vor ihnen schwingen nur unterschwellig in den Berichten mit. Vorder-

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gründig huldigt man dem Unbesiegbarkeitsmythos, mit dem sich die Wehrmacht umgeben hatte. Die Soldaten der Roten Armee tauchen in den Briefen nur selten auf und wenn, dann als schemenhafter, entfernter und unberechenbarer Feind. So wie im alltäglichen Kampfgeschehen will man den Gegner auch geistig nicht an sich heranlassen, ihn nicht übermächtig werden lassen. ‚Der Russe‘ ist, wenn er überhaupt beschrieben wird, eine Mischung aus nicht unfreundlich erlebter Bevölkerung, Feind und Propagandaprodukt. Viele durch die Propaganda geschürten Vorurteile schienen sich allerdings für den einfachen Soldaten, der nichts über die Geschichte Russlands wusste, nach dem Überfall auf die Sowjetunion zu bestätigen. Der Lebensstandard der Bevölkerung, insbesondere auf dem Lande, war äußerst gering, moderne Technik nur selten vorhanden, soziale Leistungen und Einrichtungen auf einem sehr niedrigen Niveau, die Infrastruktur unterentwickelt. Jenseits des ‚Herrenmenschentums‘ zeugen viele Briefe von einem Überlegenheitsgefühl. Der vor Stalingrad liegende Regimentsarzt Dr. Horst Rocholl notiert am 16. September 1942: Bei aller Kraft, die dieses System in den Krieg gesteckt hat, hat es völlig seine Menschen vergessen. Gestern lagen wir bei einer Fabrik, in der Traktorenteile gemacht wurden. Sie machte einen so armseligen Eindruck, so verschmutzt und in der Anlage unordentlich, dass man sie einmal Deutschen vorführen müsste. […] Wo ist das Sowjetparadies? (Ebert 2009, 238)

Phrasen der NS-Propaganda finden besonders in Bezug auf Juden Eingang in private Äußerungen. Die Soldaten haben oftmals Schwierigkeiten, eine eigene Sprache, andere, persönlichere Formulierungen zu finden und greifen so auf Stereotype zurück. Präsent ist gegenüber Juden stets ein Überlegenheitsgefühl. Da in Osteuropa die Bevölkerung sehr arm ist und unter entsprechend schlechten Bedingungen lebt, gilt dies den Wehrmachtsangehörigen als Indiz für die Minderwertigkeit. Stolz wird berichtet, dass man in den besetzten Gebieten streng mit den Juden umgeht und sie zu Arbeitseinsätzen heranzieht. Der Mord an den europäischen Juden jedoch wird in den Berichten meist ausgespart, auch wenn sich der Briefschreiber nachweislich an Orten mit Mordaktionen, z.  B. an der Ostfront, aufhielt, oder er wird euphemistisch umschrieben (vgl. Ebert 2008). Dass die Lebensbedingungen in den osteuropäischen Ghettos katastrophal sind, wird hingegen oft berichtet (vgl. Feldpostarchiv, 3.2002.7139).

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9 Vom Vater aller Dinge Feldpostbriefe sind im allgemeinen Bewusstsein Briefe von Soldaten. Weibliche Stimmen, wenn überhaupt, wurden nur von der ‚Heimatfront‘ wahrgenommen. Ignoriert wurde lange Zeit die Tatsache, dass im Ersten Weltkrieg Krankenschwestern und Helferinnen in Lazaretten und Soldatenheimen in den besetzten Gebieten, oft weit von der Heimat entfernt, eingesetzt wurden. Ihre Briefe fanden erst Jahrzehnte nach dem Krieg Interesse in Wissenschaft und Publizistik. Besonders bei der Krankenpflege erlebten die Schwestern Dramatisches und machten schreckliche Erfahrungen, die denen der Soldaten kaum nachstanden. Zwei Diakonissen schrieben am 14. September 1915 aus Russland: Im großen Saal lagen Russen auf Strohsäcken dicht nebeneinander, ohne Wäsche. Alles kroch auf dem Boden herum. Von jedem Bett, wo die Schwerkranken lagen liefen Bäche von Flüßigkeiten den Saal entlang, sie hatten noch ihre Uniformen an + wälzten sich auf der Erde. Ganz kann man den Zustand doch nicht beschreiben, es war schrecklich. Die einen brachen, die anderen hatten Krämpfe + schrien + stöhnten, andere waren sterbend, welche schrien nach Wasser. Die Deutschen hatten meist Betten, aber das Bild ist nicht besser. Die „Closettgeschichten“ waren schrecklich. Man rannte immer hin & her mit den Unterschiebern + wenn man dann ankommt, war es auch noch zu spät. (Ebert 2014, 113–114)

Auch im Zweiten Weltkrieg gab es zahlreiche Wehrmachts-, Marine- sowie Nachrichtenhelferinnen und vor allem Krankenschwestern in unmittelbarer Frontnähe. Bei den Rückzügen ab 1943 gerieten sie in gefährliche Situationen, von denen viele Briefe sehr offen sprechen. Erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts wird die Feldpost von Frauen in der Forschung ausreichend beachtet. Die Arbeit im Krieg ließ viele Frauen, ähnlich wie die Männer, unmerklich in die Wehrmachtsmaschinerie und die brutale Art der Kriegsführung hineinwachsen und dadurch härter werden (vgl. PankeKochinke und Schaidhammer-Placke 2002; Paulus und Röwekamp 2015). Ablesen kann man dies in den zum Teil äußerst hart formulierten Briefen der Krankenschwester Brigitte Penkert. Über ihre bei ihrem Ehemann und ihrer Mutter verbliebene Tochter schreibt sie am 8. August 1943 aus der Ukraine: Zärtliches Seelchen, in Euren Händen behütet, das noch nicht berührt ist von Not u. Elend. Wieviel wird der Krieg ihr nehmen? Noch weiß sie fast nichts von der Wirklichkeit dieser Welt, wie groß u. hart oder wie bestialisch gemein der Mensch sein kann. Macht sie mir nicht weich, Ihr Beiden, wenn sie mit ihren kindlichen Fragen nach dem Krieg, den Soldaten oder mal nach dem Dienst ihrer Mutti zu Euch kommt. Daß wir nicht leben um für uns allein glücklich zu sein, sondern verpflichtet sind uns als Glied in der Kette der Geschlechterfolge unseres Volkes zu sehen, daß die vornehmste Aufgabe der führenden Menschen des Reiches das Vorleben u. das Vorsterben ist […]. (Ebert und Penkert 2006, 159)

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Ähnliche Briefe wie bei Penkert finden sich in zahlreichen Feldpost-Editionen von Krankenschwestern.

10 Alltag und Dramatik an der ‚Heimatfront‘ Die Erfahrungswelten ‚Front‘ und ‚Heimatfront‘ wurden jahrzehntelang in der Publizistik deutlich geschieden. Doch diese Trennung entspricht so nicht der Realität. Der Erste Weltkrieg als industrielles und nicht territorial begrenztes Ereignis brachte eine Vermischung der Lebensräume ‚Front‘ und ‚Heimat‘ mit sich, die dann im Zweiten Weltkrieg total wurde. Drastisch erzählen Briefe im Ersten Weltkrieg vom kriegsbedingten Sterben in der Heimat. Die bisweilen katastrophale Versorgungslage forderte schätzungsweise 800.000 Hungertote in Deutschland und damit mehr Opfer als die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg. Hinzu kamen Kranke, für die keine ausreichende medizinische Versorgung möglich war, besonders nach dem Ausbruch der Spanischen Grippe 1918. Hedwig Lauth berichtet am 5. Februar 1917: „Man hört jetzt hier viel von Arbeiterunruhen wegen des gänzlichen Fehlens der Kartoffeln u. des großen Mangels an Brot. Frauen stehen den ganzen Tag vor den Bäckerläden u. warten auf Brot.“ (Ebert 2014, 358) Elise Kessler schreibt am 21. Oktober 1918: „Es ist unheimlich, was hier an dieser Grippe Leute sterben in den letzten Wochen. Heut wieder eine Frau mit ihrem 9jährigen Kind. Soldaten tägl. 5–30 sterben im Lazarett.“ (Ebert 2014, 295) Auch wenn es oftmals beschwerlich war, Nahrungsmittel zu bekommen, war die Versorgungslage in Deutschland im Zweiten Weltkrieg fast bis zum Ende deutlich besser, da die besetzten Gebiete extrem ausgebeutet wurden. Eine unbekannte Verfasserin schreibt am 15. April 1945: „Renate ist in den letzten Tagen fast nur einkaufen gewesen und hat stundenlang gestanden, jeder will sich vorsehen. Heute Morgen hat sie für uns beide 100g Bohnenkaffee erstanden, im wahrsten Sinne des Wortes. Nachmittags bei Zoerners 2 Büchsen Fleischkonserven.“ (Feldpostarchiv, 3.2002.1339) Besatzungssoldat Willi Winkler kann am 19. März 1945 aus Pilsen nur Positives berichten: „Heute war ich zur Abwechslung in einem deutschen Hotel essen. Sonst gehe ich lieber in die Tschechen Stampen. Dort gibt’s nämlich mehr für weniger Marken. Besseres Bier, besserer Kuchen und Zucker und Milch.“ (Feldpostarchiv, 3.2002.0914) Richtigen Hunger gibt es meist nur an der Front. Ein besonders extremes Beispiel dafür ist die eingekesselte 6. Armee in Stalingrad. Obwohl es bereits im Ersten Weltkrieg Bombenangriffe gab, war der Luftkrieg die größte Bedrohung der deutschen Bevölkerung und wird daher umfassend in

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den Briefen thematisiert. Am meisten bedrückt das Gefühl der Hilflosigkeit gegen diese Art von Kriegsführung.

11 Wissenschaft und Öffentlichkeit Eine völlig neue Dimension erhält der Feldpostbrief und die in ihm transportierte Wirklichkeit, wenn er die private Kommunikation verlässt und Objekt öffentlichen Interesses wird. Die Feldpost als historische Quelle ist erst Anfang des 20. Jahrhunderts in das Blickfeld von Forscher*innen geraten. Es waren in Deutschland nicht Historiker*innen, die sich als Erste um eine breite Sammlung und Archivierung von Feldpost bemühten, sondern Volkskundler*innen. Deren Ansatz, sich den Briefen des ‚einfachen Mannes‘ zuzuwenden, war damals modern, geprägt von den sozialen Veränderungen der Gesellschaft. Mit Kriegsbeginn wurden Feldpostbriefe in Zeitungen, Broschüren und Büchern veröffentlicht. In der Weimarer Republik gab es ein breites Interesse an diesen Texten, das durch Sammelbände bedient, aber auch teilweise erst geweckt wurde. Am bekanntesten ist wohl der Band Kriegsbriefe gefallener Studenten (vgl. Witkop 1928). Grund und Zielrichtung solcher Publikationen war vornehmlich die patriotische Erziehung oder Erbauung. Die Briefe wurden sorgsam ausgewählt, um politische Positionen in der Gegenwart zu besetzen und zu legitimieren. Mit der tragischen Erinnerung an die Opfer des Ersten Weltkrieges wurde nicht zuletzt der Boden für den Zweiten bereitet. Die Kriegsbriefe erreichten, offensichtlich bearbeitet, durch ihren gehobenen, emotionalen, oft pathetischen Stil und die geradezu literarischen Dimensionen breite Akzeptanz. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien in der Bundesrepublik 1952 ein Band Kriegsbriefe gefallener Studenten mit ähnlicher ideologischer Ausrichtung (vgl. Bähr u. Bähr 1952). Nach 1945 spielten bei der Deutung des Erlebten wiederum Feldpostbriefe eine bedeutende Rolle. Es ging um eine Selbstverständigung der Kriegsgeneration über das gemeinsam Erlebte und Erlittene, seltener um das Verübte. Zu Zeiten des Kalten Krieges wurden in Ost und West ausgewählte Texte in den politischen Diskurs eingebaut. Waren nicht die ‚richtigen‘ Texte zur Hand, wusste man Abhilfe: Es hat lange gedauert, bis sich bspw. die Erkenntnis durchsetzte, dass der in der Bundesrepublik äußerst populäre Band Letzte Briefe aus Stalingrad eine Fälschung war. Für die wissenschaftliche Forschung wurde die Feldpost als Quelle Anfang der 1980er Jahre des 20. Jahrhunderts quasi wiederentdeckt. Erstmals kamen nun einfache Soldaten unverstellt zu Wort, rückte deren Erlebniswelt und Lebenswirklichkeit ins Zentrum des Interesses. Dieser Neuansatz vollzog sich unabhängig,

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mit unterschiedlicher Intensität sowohl in West- als auch in Ost-Deutschland. Es entstanden in der Folge sachkundige Analysen, seriöse und ausgewogene Sammelbände von Feldpost, wie Das andere Gesicht des Krieges (1982), die Maßstäbe setzten, die meisten davon in der BRD.

Zitierte Literatur Bähr, Walter u. Hans Bähr (Hg.) (1952). Kriegsbriefe gefallener Studenten. Tübingen u. Stuttgart. Ebert, Jens (Hg.) (2003). Feldpostbriefe aus Stalingrad. Göttingen. Ebert, Jens u. Sibylle Penkert (Hg.) (2006). Brigitte Penkert. Briefe einer Rotkreuzschwester von der Ostfront. Göttingen. Ebert, Jens (Hg.) (2008). Im Funkwagen der Wehrmacht durch Europa. Feldpostbriefe des Gefreiten Wilhelm Moldenhauer 1940–1943. Berlin. Ebert, Jens (Hg.) (2009). Ein Arzt in Stalingrad. Feldpostbriefe und Gefangenenpost des Regiments­arztes Horst Rocholl 1942–1953. Göttingen. Ebert, Jens (Hg.) (2014). Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution. Briefe aus dem Weltkrieg 1914–1918. Göttingen. Ebert, Jens u. Johann Caspar Struckmann (Hg.) (2015). Ein Journalist als Soldat an der Ostfront. Die Feldpostbriefe des Ubbo-Emmius Struckmann. Norderstedt. Panke-Kochinke, Birgit u. Monika Schaidhammer-Placke (2002). Frontschwestern und Friedensengel. Kriegskrankenpflege im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Frankfurt a. M. Paulus, Julia u. Marion Röwekamp (Hg.) (2015). Eine Soldatenheimschwester an der Ostfront. Briefwechsel von Annette Schücking mit ihrer Familie (1941–1943). Paderborn. Schumann, Frank (Hg.) (2013). „Was tun wir hier?“ Soldatenpost und Heimatbriefe aus zwei Weltkriegen. Berlin. Schwender, Clemens (2009). „Formale und inhaltliche Erschließung von Ego-Dokumenten aus dem Zweiten Weltkrieg – Erfahrungen aus der Feldpostsammlung Berlin“, in: Alltagsleben biografisch erfassen. Zur Konzeption lebensgeschichtlich orientierter Forschung. Hg. v. Manfred Seifert u. Sönke Friedreich. Dresden: 79–92. Witkop, Phillip (Hg.) (1928). Kriegsbriefe gefallener Studenten. München.

Online-Quellen Feldpostarchiv 1939–1945: Sammlung der Museumsstiftung Post und Telekommunikation im Museum für Kommunikation Berlin; http://www.museumsstiftung.de/briefsammlung/ feldpost-zweiter-weltkrieg/feldpost.html (31.7.2019).

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Weiterführende Literatur Buchbender, Ortwin u. Reinhold Sterz (Hg.) (1982). Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939–1945. München. Didczuneit, Veit, Jens Ebert u. Thomas Jander (2011). Schreiben im Krieg. Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege. Essen. Golovchansky, Anatoly, Valentin Osipov, Anatoly Prokopenko, Ute Daniel u. Jürgen Reulecke (Hg.) (1991). „Ich will raus aus diesem Wahnsinn“. Deutsche Briefe von der Ostfront. 1941–1945. Aus sowjetischen Archiven. Mit einem Vorwort von Willy Brandt. Wuppertal.

Andreas Mayer

7.3 Briefnetzwerke der Psychoanalyse Für die Entstehung und Institutionalisierung der Psychoanalyse spielen die Korrespondenzen ihres Begründers Sigmund Freud (1856–1939) eine zentrale Rolle. Von den auf ca. 20.000 geschätzten, überwiegend handschriftlich verfassten Briefen, die Freud innerhalb seines Lebens geschrieben hat (vgl. Fichtner 1989, 810), sind mehr als die Hälfte erhalten und derzeit an die 7.000 in Editionen publiziert (ein Großteil der noch unveröffentlichten Briefe ist in den letzten Jahren digitalisiert und durch die Library of Congress zugänglich gemacht worden). Da Freud mindestens dreimal (1885, 1908 und 1938) viele seiner Papiere vernichtet hat, sind manche dieser Konvolute nur partiell erhalten. Zur Editionsgeschichte ist zu bemerken, dass ein zunächst biographisches oder literaturhistorisches Interesse an der Person Freuds, das die ersten, noch stark gekürzten Auswahlausgaben aus den 1950er und 1960er Jahren bestimmte (vgl. Freud 1960), zunehmend einer umfassenderen historischen Erforschung der Psychoanalyse als einer weltweiten Institution gewichen ist. Als Orientierungsmarke für diesen schrittweisen Wandel kann das Erscheinen der sicherlich bedeutendsten, komplett erhaltenen Korrespondenz zwischen Sigmund Freud und C. G. Jung (1974) gelten, die eine neuartige Einschätzung der theorie-, therapie- und institutionsgeschichtlichen Zusammenhänge ermöglichte. Die wichtigste Quelle für die Entstehungsphase von Freuds Theorien sind bis heute seine Briefe an den Berliner Arzt Wilhelm Fließ (vgl. Freud 1986), die nur wenige Jahre nach der Publikation der FreudJung-Korrespondenz vollständig veröffentlicht wurden (eine erste Auswahl wurde bereits 1950 durch Anna Freud publiziert). Insbesondere belegen sie die Bedeutung, die der Brief als Medium für die Ausbildung der Psychoanalyse als Theorie und als Deutungspraxis gespielt hat. Mit der zunehmenden Akzentverschiebung von einem biographisch-psychologischen und stilanalytischen Interesse an Freud als Briefschreiber hin zu einer historischen Betrachtungsweise wurden seit den 1990er Jahren nicht nur fast alle wichtigen Korrespondenzen Freuds mit seinen Schülern und Anhängern ungekürzt publiziert (Freud und Abraham 2009; Freud und Binswanger 1992; Freud und Bleuler 2012; Freud und Eitingon 2004; Freud und Ferenczi 1993–2005; Freud und Freud 2006; Freud und Groddeck 2008; Freud und Jones 1993; Freud und Pfister 2014), sondern auch eine Reihe von Konvoluten anderer Psychoanalytiker, die für die Institutionalisierung der Psychoanalyse eine wesentliche Rolle gespielt haben (Fenichel 1998; Ferenczi und Jones 2013; Ferenczi und Groddeck 1986; Wittenberger und Tögel 1999–2006).

https://doi.org/10.1515/9783110376531-113

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1 Briefwechsel im Entstehungskontext der Psychoanalyse Neben seinen Schriften gelten Freuds Briefe heute als wichtigste Quelle für die Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse und der psychoanalytischen Bewegung. Zum einen werden zahlreiche Elemente der psychoanalytischen Theorie und Therapie oder Überlegungen zu einzelnen Krankheitsbildern (Hysterie, Zwangsneurose, Dementia praecox) zunächst in der Korrespondenz entfaltet. Zum anderen sind die Briefe Dokumente der psychoanalytischen Praxisgeschichte, indem sie Einblicke in die Selbstanalyse Freuds und die Einführung der ersten Schülergeneration in die Analyse geben sowie die Rekonstruktion einer großen Zahl unveröffentlichter Krankengeschichten erlauben. Der Beginn von Freuds ‚Selbstanalyse‘ ist unterschiedlich datiert worden: Explizit findet sie sich erstmals in den Briefen an den befreundeten Wilhelm Fließ (1858–1928) im Jahr 1897 – also zehn Jahre nach Beginn der Korrespondenz, die insgesamt bis zum Jahr 1904 anhält – erwähnt (vgl. Freud 1986). Im August 1897 schreibt Freud an Fließ: „Der Hauptpatient, der mich beschäftigt, bin ich selbst.“ (14.8.1897, Freud 1986, 281) Die selbstanalytische Praxis ist hier jedoch nicht nur Thema der brieflichen Korrespondenz, wie in zahlreichen psychologischen Nachdeutungen der Freud-Literatur betont wurde (vgl. u.  a. Kris 1986 [1950]; Anzieu 1990). Sie ist vielmehr eine Methode, deren Herausbildung eng mit dem Medium Brief und dem Adressaten Fließ verbunden ist. So übernahm dieser etwa wiederholt die Rolle des ‚Zensors‘ in Bezug auf die Träume Freuds, die dieser in den endgültigen Text der Traumdeutung aufnehmen sollte (vgl. Forrester 2000). Freud setzte bei der Ausbildung seiner Verfahren zunächst auf Lese- und Schreibtechniken und arbeitete mit der Traumdeutung eine weitgehend dialogische Textform aus, durch die Leser*innen mittels ‚Übertragung‘ zu denselben Ergebnissen kommen sollten wie der Autor. Das Erlernen des psychoanalytischen Verfahrens war daher vorerst nicht exklusiv an den Raum des Behandlungszimmers mit dem berühmten Setting von Couch und Fauteuil gebunden, sondern eher an den Schreibtisch (vgl. Mayer 2002, 221  ff.). Wie zahlreiche der Korrespondenzen Freuds im Zeitraum des Ersterscheinens der Traumdeutung belegen, wurde die Selbstanalyse modellhaft als privater mündlicher oder schriftlicher Austausch zwischen dem Analysanden und einem ‚Anderen‘ begriffen (vgl. Marinelli und Mayer, 32012 [2002]). In der frühen psychoanalytischen Praxis bürgten vor allem die in Briefanalysen schriftlich aufgezeichneten Träume und Fehlleistungen, die Freud als normalpsychologische Äquivalente von hysterischen Symptomen betrachtete, für die Existenz des Unbewussten. Diese Praxis der Selbstanalyse sollte zugleich ein Instrument

7.3 Briefnetzwerke der Psychoanalyse 

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liefern, um in der psychologischen Selbstbeobachtung geschulte Mediziner zur Freud’schen Traumanalyse zu konvertieren. Ein prominentes Beispiel dafür bietet der Beginn von Freuds Briefwechsel mit dem Psychiater Eugen Bleuler (1857–1939) im Winter 1905/1906. Bleuler, der mit seinen Assistenzärzten an der Burghölzli-Klinik bereits die Traumdeutung studiert hatte, sandte Freud sowohl seine Traumnotizen als auch eine Reihe von Assoziationen, um sie diesem zur Deutung vorzulegen. Die Episode führte zwar nicht zur vollständigen Überzeugung Bleulers, der in der Haltung eines skeptischen, aber wohlwollenden Kritikers verblieb, doch markiert sie die Anfänge der internationalen institutionellen Vernetzung der Psychoanalyse (vgl. Marinelli und Mayer, 32012 [2002]; Freud und Bleuler 2012). Dabei ist relevant, dass eine Reihe von Ärzten, die später eine wichtige Rolle in der Institutionengeschichte spielen sollten (u. a. C. G. Jung, Karl Abraham und Max Eitingon), zuerst an der Burghölzli-Klinik in Zürich gearbeitet hatten.

2 Briefwechsel im Kontext der Institutionalisierung der psychoanalytischen Bewegung Der bedeutendste Briefwechsel der ersten Schülergeneration ist die vollständig erhaltene Korrespondenz zwischen Freud und C. G. Jung (1906–1914), der Einblicke in die Formen der Schulbildung, die Prozesse der frühen Instutionalisierung sowie in die schrittweise auftretenden theoretischen Divergenzen zwischen der Wiener und der Zürcher Schule gewährt (Freud/Jung 1974). Die Briefe umfassen die Zeit bis zu Jungs Austritt aus der Psychoanalytischen Vereinigung und sind anfangs ebenfalls von dem Modell der brieflichen Selbstanalyse geprägt. So legt Jung nicht nur Freud seine Traumanalysen vor, sondern deutet auch wie dieser Schreibfehler als Belege für unbewusst motivierte Vorgänge (Freud/Jung 1974, 286). Ferner diskutieren die Briefpartner kontroverse Patientenfälle, wobei bereits Differenzen in theoretischen und therapeutischen Fragen offenkundig werden. Wie für eine Reihe weiterer Schülerkorrespondenzen bezeichnend ist die Tendenz zu einem ‚wilden‘ oder polemischen Gebrauch der Psychoanalyse, um sowohl Kollegen aus dem inneren Kreis als auch außenstehende Kritiker mit Diagnosen zu belegen. In der Abgrenzung nach außen bedienen sich die Briefpartner oft eines bellizistischen Tons (Freud/Jung 1974, 95), der sich in der folgenden Zuspitzung der Konflikte innerhalb der psychoanalytischen Bewegung jedoch gegen Jung und seine Anhänger richten wird (24.4.1914, Freud/Ferenczi 1993–2005, I/2, 297).

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Die anderen bedeutenden Briefwechsel Freuds mit seinen Schülern Abraham, Eitingon, Ferenczi, Rank und Jones sind vielfach durch dieselben Themen charakterisiert, allerdings überwiegend nicht auf demselben editorischen Niveau publiziert (editorische Mängel wurden etwa bei den ersten Bänden des Freud-Ferenczi-Briefwechsels kritisiert, Unvollständigkeit und parteiische Kommentierung bei der Auswahl der Freud-Rank-Briefe durch Lieberman und Kramer (2014 [2012]). Sie erlauben detaillierte Einblicke in die personellen und institutionellen Verflechtungen innerhalb der ersten Analytikergeneration hinsichtlich der Leitung der Zeitschriften und der Publikationspolitik des Internationalen Psychoanalytischen Verlags. Sie liefern Hinweise auf die Übersetzung von Freuds Schriften in andere Sprachen, die Organisation von Kongressen, die Aufnahme von neuen Mitgliedern, die Einrichtung der ersten Lehrinstitute sowie die Behandlung und Überweisung von Patienten. Bemerkenswert ist, dass die Verschlüsselung von Namen dabei unterschiedlich gehandhabt wird, was unter den Herausgebern kontrovers diskutiert wurde (vgl. Schröter 1995a; Falzeder 1997). Einige Briefwechsel geben schließlich Aufschlüsse über bedeutende theoretische und methodische Austauschprozesse (für eine Übersicht vgl. die mittlerweile teils überholten Darstellungen bei Grotjahn 1976 und Schröter 2006). Zunehmend entsteht bei den Schülern und Briefpartnern ein Bewusstsein für die historische Bedeutung der Psychoanalyse. Dabei lässt sich die Verschränkung von institutionellen und persönlichen Aspekten der Korrespondenz z.  T. aus den psychoanalytischen Deutungspraktiken ableiten, die dazu führen, dass die Schüler-Briefe im Unterschied zu anderen Arzt-Korrespondenzen ein höheres Maß an Selbstbeobachtung sowie Selbst- und Fremdanalysen aufweisen, insbesondere die Analyse von Affektzuständen und ‚Widerständen‘ gegen vorgebrachte Deutungen. Vor der institutionellen Einrichtung der ‚Lehranalyse‘, die systematisch durch die ersten Ausbildungsinstitute in den 1920er Jahren reguliert wird, stehen die meisten der Briefpartner in einem Ausbildungsverhältnis zu Freud oder zu einem anderen Analytiker der ersten Schülergeneration (vgl. etwa den Briefwechsel zwischen Ferenczi und Jones 2013). Der Briefwechsel zwischen Freud und seiner Tochter Anna stellt in dieser Hinsicht ebenfalls ein bedeutendes Dokument dar, da er Aufschlüsse über die ‚Lehranalyse‘ eines Familienmitglieds bietet, das zur legitimen Nachfolgerin erkoren wurde (vgl. Freud und Freud 2006).

7.3 Briefnetzwerke der Psychoanalyse 

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3 Die Rundbriefe des „Geheimen Komitees“ Das sogenannte Geheime Komitee formierte sich in den Jahren 1912 und 1913 als Reaktion auf die Abspaltungen Alfred Adlers und C. G. Jungs. Freud zufolge entsprach es der „Idee eines geheimen Konzils, das sich aus den besten und zuverlässigsten unserer Leute zusammensetzen solle, deren Aufgabe es sei, für die Weiterentwicklung der Psychoanalyse zu sorgen und die Sache gegen Persönlichkeiten und Zwischenfälle zu verteidigen, wenn ich nicht mehr da bin“ (Brief an Jones, 1.8.1912, Freud und Jones 1993, 147). Dem Komitee gehörten zunächst nur Sandor Ferenczi, Otto Rank, Hanns Sachs, Karl Abraham und Ernest Jones an, 1919 wurde der für die Berliner Poliklinik und erste Lehrausbildung zuständige Max Eitingon in den Kreis aufgenommen. In den Jahren 1920 bis 1924 bildete die zentrale Kommunikationsform dieses Netzwerkes das Zirkular bzw. der ‚Rundbrief‘, der als Vorläufer des Newsletter gelten kann (vgl. Wittenberger und Tögel 1999–2006). Die Rundbriefe aus Wien sind in der Regel, selbst wenn sie nur von Otto Rank verfasst waren, immer von Freud und Rank unterschrieben, diejenigen aus Berlin von Abraham und gelegentlich auch von Eitingon und Sachs, die Zirkulare aus Budapest von Ferenczi und die auf Englisch verfassten aus London von Jones. Alle Briefe wurden in Kopie jeweils an die anderen Mitglieder des Komitees geschickt. Ab November 1920 gingen die deutschsprachigen Psychoanalytiker zum vertrauten ‚Du‘ über, „da wir alle Brüder sind“, wie Abraham bemerkte, mit Ausnahme Freuds, der stets als „der Professor“ tituliert wurde (vgl. Grotjahn 1976, 109). Die regulären, mit „Liebe Freunde“ überschriebenen Briefe wurden zunächst jeweils dreimal monatlich verfasst, ab 1922 nahm die Frequenz ab (Wittenberger und Tögel 1999–2006, Bd. III, 81). Wie viele Korrespondenzen von Gesellschaften sind diese Rundschreiben von einem Kommunikationsstil geprägt, der Einheit und Zugehörigkeit einzelner Mitglieder befördern und ein Gemeinschaftsgefühl herstellen sollte. Diese Kommunikationsform zielte darauf ab, einerseits eine kollektive Diskussion von wesentlichen organisatorischen Fragen zu ermöglichen (Vorbereitung von Kongressen, Geschäfte des Verlags, Zeitschriften und Referate, vgl. Marinelli 2009, 50–69), andererseits sich anbahnenden personellen und theoretischen Konflikten entgegenzuarbeiten. Trotz dieser Zielsetzung sind die Rundbriefe bereits 1923 von internen Spannungen dominiert, die Plagiatsstreitigkeiten (zwischen Ferenczi und Jones) und neue therapeutische Ansätze betreffen, wie etwa die Arbeiten von Ferenczi und Rank zur „aktiven Technik“ oder Ranks Studie Das Trauma der Geburt (1924). An der Kontroverse um dieses Buch, das Freud bereits im Manuskript gelesen hatte, zerbrach das Komitee. Trotz seiner Neugründung nach dem Ausscheiden Ranks wurde es 1927 gänzlich aufgelöst. Die Rundbriefe des Komitees sind bisher vor allem aus gruppendynamischer (vgl. Wittenberger 1995), soziologischer (vgl. Schröter

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1995b) und mediengeschichtlicher Perspektive (vgl. Marinelli 2009) betrachtet worden.

4 Psychoanalytische Briefnetzwerke in der Zeit des Nationalsozialismus Die zweitausend Seiten umfassenden Rundbriefe Otto Fenichels (1897–1946) stellen die bedeutendste Quelle für die Geschichte der Psychoanalyse in der Zeit des Nationalsozialismus dar (vgl. Fenichel 1998). Sie dienten einer informellen Gruppe marxistisch orientierter Psychoanalytikerr*innen zum Austausch, deren Mitglieder (Georg Gerö, Edith Jacobson, Edith Glïck, Käthe Misch, Wilhelm und Annie Reich) nach der Emigration aus Deutschland 1933 auf verschiedene Länder und Kontinente verstreut waren. Als ‚bewegungspolitisches‘ Instrument konzipiert, dokumentieren die Rundbriefe die zentralen theoretischen, therapeutischen und politischen Konflikte und Spaltungen der Psychoanalyse in dieser Zeit. Die erste und wesentliche Spaltung des geheim agierenden Netzwerkes um Fenichel betraf Wilhelm Reich, der im Gegensatz zur Gruppe mit seiner Schrift Massenpsychologie des Faschismus (1933) für ein öffentliches Bekenntnis gegen den Faschismus eingetreten war. Zwei weitere zentrale Konfliktfelder der Rundbriefe waren die Abgrenzung gegenüber den britischen Anhängern Melanie Kleins, und, insbesondere nach Fenichels Emigration 1938 nach Los Angeles, die Eingliederung der Psychoanalyse in eine allgemeine, ausschließlich von Ärzten und Psychiatern betriebene Psychotherapie: „Wir verlangen ‚Laienanalyse‘ nicht im Interesse einiger Kollegen, sondern im Interesse der psychoanalytischen Wissenschaft, die vor einem Aufgehen als ‚Unterabteilung der Psychotherapie‘ zu bewahren ist“ (Fenichel 1998, 881–882). Im Unterschied zu Freud, der sich mit dem Eintreten für die ‚Laienanalyse‘ und seinen Schüler Theodor Reik seit den 1920er Jahren gegen die amerikanische Vereinigung gerichtet hatte (vgl. Reik 1976), vertrat Fenichel jedoch das Projekt einer ‚psychoanalytisch orientierten Soziologie‘ bzw. einer ‚soziologischen Psychoanalyse‘, das ihn auch zu einem kurzzeitigen brieflichen Austausch mit dem Soziologen Norbert Elias führte (vgl. Schröter 2000). Obwohl Fenichel sich als Organisator eines Netzwerks verstand, zeichnete er die meisten Rundbriefe selbst, was zu der Einschätzung geführt hat, er habe „die Arbeit der Gruppe im wesentlichen alleine geleistet“ (Schröter 2000, 1145).

7.3 Briefnetzwerke der Psychoanalyse 

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Zitierte Literatur Anzieu, Didier (1990). Freuds Selbstanalyse und die Entdeckung der Psychoanalyse. 2 Bde. München. Bruder-Bezzel, Almuth (Hg.) (2010). „Briefe von Freud an Adler 1899–1911“, in: Zeitschrift für Individualpsychologie, 36.1: 6–62. Falzeder, Ernst (1997). „Whose Freud is it? Some Reflections on Editing Freud’s Correspondence“, in: Behind the Scenes: Freud in Correspondence. Hg. v. Patrick Mahony, Carlo Bonomi u. Jan Stensson. Stockholm: 335–356. Fenichel, Otto (1998). 119 Rundbriefe (1934–1945). Hg. v. Elke Mühlleitner u. Johannes Reichmayr. 2 Bde. Frankfurt a. M. Ferenczi, Sandor u. Georg Groddeck (1986). Briefwechsel 1921–1933. Frankfurt a. M. Ferenczi, Sandor u. Ernest Jones (2013). Letters 1911–1933. Hg. v. Ferenc Erös, Judit SzekacsWeisz u. Ken Robinson. London. Fichtner, Gerhard (1989). „Freuds Briefwechsel als historische Quelle“, in: Psyche, 43.9: 803–829. Forrester, John (2000). „Portrait eines Traumlesers“, in: Die Lesbarkeit der Träume. Zur Geschichte von Sigmund Freuds „Traumdeutung“. Hg. v. Lydia Marinelli u. Andreas Mayer. Frankfurt a. M.: 9–36. Freud, Sigmund (1960). Briefe 1873–1939. Hg. v. Ernst Freud u. Lucie Freud. Frankfurt a. M. Freud, Sigmund (1986). Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Hg. v. Jeffrey M. Masson. Frankfurt a. M. Freud, Sigmund u. Karl Abraham (2009). Briefwechsel 1907–1925. Vollständige Ausgabe. 2 Bde. Hg. v. Ernst Falzeder u. Ludger M. Hermanns. Wien u. Berlin. Freud, Sigmund u. Ludwig Binswanger (1992). Briefwechsel 1908–1938. Hg. v. Gerhard Fichtner. Frankfurt a. M. Freud, Sigmund u. Eugen Bleuler (2012). „Ich bin zuversichtlich, wir erobern bald die Psychiatrie.“ Briefwechsel 1904–1937. Hg. v. Michael Schröter. Basel. Freud, Sigmund u. Max Eitingon (2004). Briefwechsel 1906–1939. 2 Bde. Hg. v. Michael Schröter. Tübingen. Freud, Sigmund u. Sandor Ferenczi (1993–2005). Briefwechsel. 6 Bde. Hg. v. Ernst Falzeder, Eva Brabant u. Patrizia Giampieri-Deutsch. Wien u.  a. Freud, Sigmund u. Anna Freud (2006). Briefwechsel 1904–1938. Hg. v. Ingeborg MeyerPalmedo. Frankfurt a. M. Freud, Sigmund u. Georg Groddeck (2008). Briefwechsel. Frankfurt a. M. u. Basel. Freud, Sigmund u. Ernest Jones (1993). The Complete Correspondence of Sigmund Freud and Ernest Jones, 1908–1939. Hg. v. Andrew Paskauskas. Cambridge (MA) u. London. Freud, Sigmund u. C. G. Jung (1974). Briefwechsel. Hg. v. William McGuire u. Wolfgang Sauerländer. Frankfurt a. M. Freud, Sigmund u. Oskar Pfister (2014). Briefwechsel 1909–1939. Hg. v. Isabelle Noth. Zürich. Freud, Sigmund u. James Jackson Putnam (1971). James Jackson Putnam and Psychoanalysis. Letters between Putnam and Sigmund Freud. Hg. v. Nathan Hale. Cambridge (MA). Freud, Sigmund u. Edoardo Weiss (1973). Briefe zur psychoanalytischen Praxis. Frankfurt a. M.

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Grotjahn, Martin (1976). „Freuds Briefwechsel“, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Bd. II: Freud und die Folgen (1). Von der klassischen Psychoanalyse. Hg. v. Dieter Eicke. München: 35–146. Kris, Ernst (1986 [1950]). „Einleitung zur Erstausgabe“, in: Sigmund Freud (1986). Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Hg. v. Jeffrey M. Masson. Frankfurt a. M.: 519–561. Lieberman, James u. Robert Kramer (Hg.) (2014 [2012]). Sigmund Freud und Otto Rank: Ihre Beziehung im Spiegel des Briefwechsels 1906–1925. Gießen. Marinelli, Lydia (2009). Psyches Kanon. Zur Publikationsgeschichte rund um den Internationalen Psychoanalytischen Verlag. Wien u. Berlin. Marinelli, Lydia u. Andreas Mayer (Hg.) (2000). Die Lesbarkeit der Träume. Zur Geschichte von Sigmund Freuds „Traumdeutung“. Frankfurt a. M. Marinelli, Lydia u. Andreas Mayer (32012 [2002]). Träume nach Freud. Die „Traumdeutung“ und die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. Wien u. Berlin. Mayer, Andreas (2002). Mikroskopie der Psyche. Die Anfänge der Psychoanalyse im HypnoseLabor. Göttingen. Reik, Theodor (1976). Dreißig Jahre mit Sigmund Freud. Mit bisher unveröffentlichten Briefen von Sigmund Freud an Theodor Reik. München. Schröter, Michael (1995a). „Sollen Patientennamen in den Korrespondenzen Freuds verschlüsselt werden? Zehn Thesen zur Diskussion“, in: Psyche, 49.8: 805–809. Schröter, Michael (1995b). „Freuds Komitee 1912–1914. Ein Beitrag zum Verständnis psychoanalytischer Gruppenbildung“, in: Psyche, 49.6: 513–563. Schröter, Michael (2000). „Psychoanalyse emigriert. Zu den Rundbriefen von Otto Fenichel (mit einem Exkurs: Fenichel und Norbert Elias)“, in: Psyche, 54.11: 1141–1174. Schröter, Michael (2006). „Briefe“, in: Freud Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Hans-Martin Lohmann u. Joachim Pfeiffer. Stuttgart u. Weimar: 220–231. Wittenberger, Günter (1995). „Gruppendynamik und Spaltungsprozesse im ‚Geheimen Komitee‘. Versuch einer Analyse zur Rolle Otto Ranks“, in: Spaltungen in der Geschichte der Psychoanalyse. Hg. von Ludger M. Hermanns. Tübingen: 80–93. Wittenberger, Gerhard u. Christfried Tögel (Hg.) (1999–2006). Die Rundbriefe des „Geheimen Komittees“. 4 Bde. Tübingen.

Online-Quellen Sigmund Freud Papers (SFA) in der Library of Congress: https://www.loc.gov/collections/ sigmund-freud-papers/about-this-collection/ (5.10.2019).

Jörg Schuster

7.4 Briefe im Kontext der literarischen Moderne (1890–1930) 1 Brief und literaturgeschichtliche Epoche – gegen den Krisenbefund In der literaturwissenschaftlichen Forschung wurde bislang kaum danach gefragt, ob es so etwas wie eine Epochensignatur des Briefs im Kontext der literarischen Moderne (1890–1930) gibt. Wie die Briefgeschichte generell, so steht auch die Epistolarkultur der Moderne gewissermaßen im Schatten der als ‚Blütezeit‘ des Briefs geltenden Phase von der Empfindsamkeit bis zur Romantik (1750–1830). Für diese Zeitspanne lassen sich Brief- und Literaturgeschichte gewissermaßen auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner bringen: die Herstellung und Inszenierung von Subjektivität. Eine literaturhistorische Kartierung der Briefgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts blieb dagegen bislang weitgehend darauf beschränkt, das epistolare Œuvre, den Briefstil einzelner Autor*innen zu analysieren. Damit geht häufig die Einschätzung einher, die Kommunikationsform befinde sich seit der Zeit um 1800 im Niedergang; insbesondere für das 20. Jahrhundert wird aufgrund der Konkurrenz technischer Medien wie des Telefons eine Krise des Briefs attestiert. Zu diesem Krisenbefund kommt noch ein weiterer hinzu: Briefe werden im Kontext der Jahrhundertwende 1900 als „Ausdruck einer Krisenstimmung, die das bürgerliche Selbstbewußtsein  […] erfaßt und erschüttert hatte“ (Ebrecht 1990, 243), interpretiert. Damit werden jedoch schlicht Stereotype der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung reproduziert; die Funktion der Briefe wird darauf reduziert, bekannte Epochenprobleme zu belegen. Wichtiger erscheint im Hinblick auf die Briefkultur der literarischen Moderne die Frage, worin, analog zur Hervorbringung von Subjektivität um 1800, das epochenspezifische produktive Potential des Mediums zu sehen ist. Führt man sich die Qualität und Quantität der epistolaren Produktion um und nach 1900 vor Augen, so kann von der häufig attestierten Krise des Mediums keine Rede sein. Das belegen auf jeweils sehr unterschiedliche Weise die Briefe etwa von Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka, Else Lasker-Schüler, Thomas Mann, Franziska zu Reventlow, Rainer Maria Rilke und Robert Walser, die allesamt als Schriftsteller*innen der literarischen Moderne ebenso exponiert sind wie als Briefschreiber*innen. Am epistolaren Schreiben dieser Autor*innen lassen sich briefgeschichtlich entscheidende innovative Tendenzen belegen, und dies gerade https://doi.org/10.1515/9783110376531-114

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obwohl zwischen ihnen zumeist keine näheren persönlichen Beziehungen, keine Briefnetzwerke bestanden. Was den Zusammenhang zwischen literaturhistorischer Epoche und der epistolaren Produktion der entsprechenden Zeit betrifft, so folgt die Geschichte des Briefs, der keine ‚rein‘ literarische Gattung ist, sondern als Gebrauchstext zwischen Literarizität, Rhetorik und Pragmatik changiert, freilich anderen Regeln als die Literaturgeschichte. Dennoch ist aufgrund der enormen gesellschafts-, kultur-, medien- und literaturgeschichtlichen Veränderungen der Zeit um 1900 davon auszugehen, dass sich auch im Hinblick auf die Textsorte Brief entscheidende Transformationen vollziehen. Die Nähe zwischen literarischem und epistolarem Schreiben verdeutlichen allein schon die wenigen kanonisierten Brief-Texte der Epoche: Hugo von Hofmannsthals Prosatext „Ein Brief“ (1902) und Franz Kafkas „Brief an den Vater“ (entst. 1919). Ihre Kanonisierung – auch das ist symptomatisch für den literaturwissenschaftlichen Umgang mit dem Genre – hat damit zu tun, dass es sich in beiden Fällen um mehr oder weniger literarische Briefe handelt. Zweifellos sind diese Texte jedoch aussagekräftig im Hinblick auf die Bedeutung des Briefs in der literaturgeschichtlichen Situation ihrer Zeit und hinsichtlich der Frage, wie es um den Zusammenhang zwischen den viel beschworenen Krisen des Subjekts sowie der Sprache einerseits und den produktiven Potentialen des Briefs andererseits bestellt ist.

2 Produktive Potentiale – literarische Briefe: Hugo von Hofmannsthals „Ein Brief“, Franz Kafkas „Brief an den Vater“ und die Briefkultur der Moderne Hofmannsthals fingierter „Brief“ des Lord Chandos gilt als herausragendes Beispiel für die viel zitierte Sprachkrise der Moderne. Bekanntlich klagt der fiktive Briefschreiber über die ihm abhandengekommene Fähigkeit des zusammenhängenden Denkens, die abstrakten Worte, so die prägnante Formulierung, zerfallen ihm „im Munde wie modrige Pilze“ (Hofmannsthal 1979, 465). Allerdings zeichnet sich der Text durch einen eklatanten Widerspruch aus: Einerseits kündigt Chandos vor dem Hintergrund der Sprachproblematik an, seine Produktion von literarischen Werken und Briefen aufzugeben, und beklagt im Verlauf des Briefs seine Unfähigkeit, sich angemessen auszudrücken; andererseits jedoch zeichnet sich der Brief durch eine Eloquenz aus, die jeden Befund einer Sprachkrise Lügen straft. Das Beklagen der Krise geht im „Brief“ mit dem Beschwören epiphanischer,

7.4 Briefe im Kontext der literarischen Moderne (1890–1930) 

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die Sprache transzendierender Zustände einher und zielt letztlich nur darauf, innovative sprachlich-semiotische Potentiale zu erschließen, sich dem idealen „Denken in einem Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte“ (Hofmannsthal 1979, 471), in Worten anzunähern. Auch Kafkas „Brief an den Vater“, ein autobiographischer Text literarischen Charakters, fügt sich gewiss gut in den Krisendiskurs der Moderne ein, geht es in ihm doch um die problematische Situation des Sohns im Rahmen autoritärer familiärer Machtstrukturen. Noch dazu geschieht dies in einer Ausführlichkeit (die Druckausgabe umfasst mehr als 50 Seiten) und in einem Stil, die einer angemessenen Kommunikation mit dem Adressaten kaum dienlich sind – weshalb der Schreiber ihm den Brief auch gar nicht erst zukommen ließ. Die scheinbar unangebrachte Form ist aber, dem performativen Widerspruch des „Chandos-Briefs“ vergleichbar, gerade die Stärke des Texts. Das äußert sich besonders im Spiel mit der Perspektive und der Fiktionalität. Innerhalb des Briefs, der zunächst exzessiv die Sicht des Sohns schildert, lässt Kafka gegen Ende auch den Vater selbst zu Wort kommen; allerdings relativiert er die von diesem vorgebrachte Ansicht in einer mise en abyme, indem er darauf hinweist, sie stamme ja tatsächlich von ihm selbst, dem Briefverfasser. Ist der Zustand des Subjekts auch prekär, so erweist sich der Text durch seine literarisch-selbstreflexiven Strategien doch als souverän. Hofmannsthals fingierter „Brief“ und Kafkas autobiographisch-literarischer „Brief an den Vater“ sind von heuristischem Wert für das literarisch-epistolare Feld der Moderne um und nach 1900, insbesondere was die Profilierung gegenüber der Situation um 1800 betrifft. So ist es alles andere als ein Zufall, dass die Textsorte ‚Brief‘ auf jeweils völlig andere Weise zum Modell für im engeren Sinne literarische oder fiktionale Texte wird: Das Paradigma des 18. Jahrhunderts und der Zeit um 1800 ist in dieser Hinsicht der Briefroman (Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Hölderlin, Sophie von La Roche, Samuel Richardson, JeanJacques Rousseau, Ludwig Tieck, Christoph Martin Wieland), dasjenige der literarischen Moderne hingegen der Einzelbrief. Auch wenn bereits etwa die pathologisch empfindsamen Selbstinszenierungen und Selbstgespräche in Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) eine Problematisierung intersubjektiver Kommunikation bedeuten, so verweist doch das Paradigma des Einzelbriefs auf die radikale Tendenz der Moderne zur Fragmentarisierung, zur Isolation und Autonomisierung. Vor allem aber sind für die Briefkultur der literarischen Moderne völlig andere produktive Potentiale maßgeblich als für die Zeit um 1800. Hier geht es weniger um die Herstellung oder Inszenierung von Subjektivität; gerade im epistolaren Umgang mit den – vermeintlichen – Krisenerfahrungen der Moderne zeigt sich vielmehr die Bedeutung, die nunmehr der Sprache und ihrer Form zukommt: Bei aller Instabilität wird Souveränität durch Sprache, durch literarische Mittel

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hergestellt; Briefe stellen in diesem Sinne gewissermaßen sprachlich-schriftliche Frei- und Schutzräume dar – womit ihr zugleich literarischer und lebensweltlichpragmatischer Charakter zum Tragen kommt. Nicht zufällig zeichnen sich viele Briefe von Autor*innen der literarischen Moderne durch ein so außergewöhnliches Maß an Poetizität aus, dass man teilweise von einer Nähe zum Prosagedicht sprechen kann. Für Briefe gilt es somit, jenen Befund in Erwägung zu ziehen, den Manfred Schneider generell für autobiographische Texte der Moderne erhebt – werde im 18. Jahrhundert Subjektivität sprachlich hervorgebracht, so verschwinde das Subjekt nun gewissermaßen im autonom gewordenen Text: „Der autobiographische Text des 20. Jahrhunderts, der die große prunkvolle Erscheinung der Schrift in ihrer Materialität und Uninterpretierbarkeit vollzieht, er schenkt dem Leser […] keine Identitätszeichen mehr.“ (Schneider 1986, 46) Es gehe in der Autobiographie der Moderne gerade nicht mehr um Selbstoffenbarung, sondern vielmehr um die „Anstrengung der Selbstauslöschung in der Schrift, in der Produktion eines unerkennbaren poetischen Doppels der eigenen Person“ (Schneider 1986, 46). An die Stelle der Subjektivität tritt somit „ein symbolischer Körper poetischer Effekte“ (Schneider 1986, 46). Die Souveränität, aber auch die Brüchigkeit des epistolaren Schreibens, wie sie insbesondere bei Hofmannsthal, Kafka, Lasker-Schüler, Rilke und Walser zu beobachten sind, erklärt sich aus dem impliziten Wissen um die Autonomie der Sprache, der Form, die für die literarische Moderne konstitutiv sind. Sie brilliert in Texten, gerät aber immer wieder an ihre Grenzen, wenn es um die Hinwendung zu konkreten Fragen des täglichen Lebens geht. Briefe stellen auf diese Weise ebenso radikale wie labile kommunikativ-textuelle Formen des Sich-Arrangierens, des Sich-Einrichtens in der Lebenswelt der Moderne dar. Sie etablieren eine reine, selbstbezügliche Briefwelt, in der Briefe immer nur wieder neue Briefe hervorrufen. In diesem reinen Schriftraum sind die Schreiber*innen – scheinbar – vor unerwünschter Nähe und Zufällen des Lebens geschützt. Innerhalb der literarischen Moderne als Makroepoche lassen sich dabei gewisse grundlegende epistolare Strukturen unabhängig davon feststellen, welcher speziellen Strömung die Autor*innen zuzurechnen sind. Während Rilke als symbolistischer Dichter gilt, wird Kafka eher eine Affinität zur expressionistischen Dichtung attestiert, dennoch bestehen auffallende Gemeinsamkeiten zwischen ihnen als Briefschreiber. Allerdings lässt sich insbesondere sprachlichstilistisch eine Radikalisierung von Briefen symbolistischer Dichter*innen hin zu solchen von Schriftsteller*innen aus dem Umkreis des Expressionismus feststellen. Auffallend ist generell eine Tendenz zum manischen, ebenso obsessiven wie häufig exzentrischen Briefschreiben. Sie resultiert darin, große Teile der alltäglichen sozialen Lebenswelt in einen Schriftkosmos zu überführen, innerhalb dessen die Regeln der ihn souverän beherrschenden Autor*innen gelten.

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3 Strategien des Aufschiebens, Etablierung von Schutzräumen: Rainer Maria Rilke und Franz Kafka Von Rainer Maria Rilke sind sehr vorsichtigen Schätzungen zufolge über 10.000 Briefe überliefert (vgl. Storck 2004, 498; Schuster 2014), in produktiven Zeiten hat er täglich an die zehn meist umfangreiche Briefe verfasst. Eine maßgebliche epistolare Strategie besteht bei ihm wie bei Kafka darin, Begegnungen oder Formen des Zusammenlebens zu vermeiden, sie immer wieder aufzuschieben und durch den Schriftverkehr zu ersetzen. Rilke hat diesen Mechanismus in die Formel „jedes geschriebene Wort nimmt ja auch schon das Maaß der Entfernung“ (Rilke 1977, Bd. 1, 183) gefasst. Das eklatanteste Beispiel ist seine Korrespondenz mit der Pianistin Magda von Hattingberg (1883–1959). Ohne dass sich beide persönlich kennen würden, werden zu Beginn des Jahres 1914 innerhalb von nur fünf Wochen insgesamt 38 Briefe gewechselt. Manchmal werden an einem Tag gleich zwei Briefe abgeschickt, manchmal verfasst Rilke über mehrere Tage hinweg umfangreiche Brief-Essays, die sich in der Handschrift über bis zu 42 Seiten erstrecken und häufig den Charakter einer persönlichen Konfession besitzen. Er ist sehr daran interessiert, diese kommunikative Situation, gewissermaßen eine sich im Briefverkehr erschöpfende Liebesbeziehung, beizubehalten. Ein in den Briefen immer wieder thematisiertes Treffen verschiebt er deshalb ständig. Mit höchstem poetischem Aufwand, in einem extrem hyperbolisch-pathetischen Stil stellt Rilke emotionale Nähe her, nur um gleich darauf wieder Gründe anzuführen, die gegen eine persönliche Begegnung sprechen. Dabei benennt er seine epistolare Strategie selbstkritisch explizit als Versteckspiel (vgl. Rilke 2000, 38). Indizierend ist ebenso, dass er sein Briefschreiben mit Schreien aus dem Inneren eines Bergs vergleicht (vgl. Rilke 2000, 36), wobei der gleichzeitige Wunsch nach Schutz im und Rettung aus dem Berg als Double-Bind-Situation zu interpretieren ist. Generell fällt auf, dass Rilkes Brief-Schreibszene immer wieder – und bereits in seinen Briefen etwa an die Malerin Paula Modersohn-Becker aus dem Jahr 1900 (vgl. Modersohn-Becker und Rilke 2003)  – dezidiert in einem meist detailliert geschilderten, mit bedeutsamen Gegenständen gefüllten Interieur situiert ist. Offensichtlich besteht ein enger Zusammenhang zwischen epistolarem Schreiben und geschütztem, dem Subjekt völlig angemessenen Innenraum. Man kann von einem epistolaren Interieur sprechen, in dem sich der Schreiber wie in einem Kokon verpuppt, durch das er gleichzeitig mit der Außenwelt verbunden und vor ihr geschützt ist (vgl. Schuster 2014, 324–383). Leben und Schreiben, pragmatische Funktion und poetische Qualität bilden so eine Einheit.

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Dass es sich um einen exklusiven Sonderbereich handelt, wird dabei schon durch gewissermaßen als Markenkennzeichen fungierende materiale Eigenschaften wie die blauen Briefbögen und -umschläge, die kalligraphische Schrift und die preziös-archaische Rechtschreibung deutlich. Völlig als poetischer Freiraum kann der Briefwechsel gerade dann genutzt werden, wenn gewissermaßen die Gefahr einer persönlichen Begegnung nicht besteht. Das ist in Rilkes spätem Briefwechsel mit der ihm als Dichterin ebenbürtigen Marina Zwetajewa der Fall, die er aufgrund der geographischen Entfernung und seiner tödlichen Krankheit nie persönlich kennenlernt. Mit seinem dichten motivischen Geflecht und in seiner Poetizität stellt er eine ganz besondere kommunikative Form dar: Der Briefwechsel erscheint als kollaborativ hergestelltes, literarisch kohärentes Kunstwerk. Wie für Rilke gilt für Franz Kafka der Befund, dass Leben und Schreiben – in äußerst spannungs- und konfliktreicher Weise – eng aufeinander bezogen sind (vgl. Deleuze und Guattari 1976, 41–49; Kaufmann 1994, 17–27 u. 167–172; Schärf 2008; Haring 2010; Schiffermüller 2015). In epistolarer Hinsicht ist das insbesondere in der Beziehung zu seiner Verlobten Felice Bauer zu beobachten, die zu Recht als seine „Schrift-Geliebte“ (Alt 22008, 262) bezeichnet wurde. Die Beziehung vollzieht sich nicht nur weitgehend im Briefwechsel, vielmehr kreist dieser auch ständig selbstreflexiv um Schreib- und Leseszenen von Briefen und um für sie aufgestellte Regeln. Das Ausbleiben von Briefen wird von Kafka höchst nervös registriert und beklagt; Felices Briefe besitzen für ihn „erotische[n] Fetischcharakter“ (Schärf 2008, 75). Er ist ein nicht weniger obsessiver Briefschreiber als Rilke; allein am Beginn der Korrespondenz, zwischen Ende September und Ende Dezember 1913, schickt er der Freundin an die neunzig Briefe. Die Spannung zwischen Leben und Schrift/Kunst ist insofern extrem zugespitzt, als es nicht nur um das Aufschieben einer Begegnung, sondern um das zweimalige Eingehen und Auflösen einer Verlobung geht. Kafka wirbt ständig auf dem Weg der Schrift um Felice, nur um im nächsten Moment klarzumachen, dass eine gelebte Beziehung nicht erstrebenswert sein könne, da er krank und lebensunfähig sei und sein Leben eben völlig dem Schreiben gewidmet habe. Es lassen sich ähnliche DoubleBind-Situation feststellen wie bei Rilke: „Felice ist für Kafka zugleich das Objekt eines obsessiven Vollzugs und das Subjekt einer therapeutischen Maßnahme.“ (Schärf 2008, 79) Wie bei Rilke sind auch bei Kafka die Raum-Metaphern, mittels derer er seine Briefwechsel reflektiert, indizierend, wobei ihre Andersartigkeit zugleich den fundamentalen Unterschied zwischen beiden Autoren illustriert. Bereits in seinem dritten Brief an Felice Bauer imaginiert Kafka nicht ein Zusammensein mit ihr, sondern sich selbst als Briefträger des eigenen Briefs, dessen Funktion außerhalb der Wohnung endet; dabei bereitet  – unter dem Vorzeichen körperlicher Abwesenheit – das „endlos lange“ Drücken auf die Türglocke einen deutlich ero-

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tisch konnotierten, „alle Spannung auflösenden Genuß“ (Kafka 1976, 47). Einige Dutzend Briefe später kommt sich Kafka Anfang März 1913 vor, als stünde er „vor einer abgesperrten Tür, hinter der Du wohnst und die sich niemals öffnen wird. Nur durch Klopfen gibt es eine Verständigung, und nun ist es hinter der Tür auch noch still geworden.“ (Kafka 1976, 324) Gerade die Präsenz implizierende akustische Sinneswahrnehmung verdeutlicht hier, dass die Briefpartner auf Distanz bleiben. Ist damit der Aspekt der Absenz betont, so suggerieren andere fiktive Briefempfangsszenen, dass es nicht einmal mehr unbedingt Menschen sind, die schreiben. Kafka, der sich, was für Rilke undenkbar wäre, zum Briefschreiben mitunter der Schreibmaschine bedient und gegenüber der ehemaligen Stenotypistin Felice Bauer die Anonymität der Schreibmaschine hervorhebt (vgl. Kafka 1976, 196; Kittler 1985, 368–372; Kittler 1990; Campe 2005), entwickelt die Phantasmagorie einer Brief-Maschine, eines epistolaren perpetuum mobile. Das Medium ‚Brief‘ hat bei Kafka die letzten Reste empfindsamer Subjektivität abgestreift, es bleiben nur das maschinelle ‚Rauschen‘ (vgl. Kafka 1976, 101) des Mediums oder die gespenstische Ruhe hinter der Tür. Die Transformation der Beziehung und des Gegenübers in reine Schrift, an der er so obsessiv arbeitet, beklagt Kafka zugleich. Im März 1922 schreibt er an Milena Jesenská: Alles Unglück meines Lebens […] kommt, wenn man will, von Briefen oder von der Möglichkeit des Briefeschreibens her. Menschen haben mich kaum jemals betrogen, aber Briefe immer undzwar auch hier nicht fremde, sondern meine eigenen. […] Es ist ja ein Verkehr mit Gespenstern undzwar nicht nur mit dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst, das sich einem unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt (Kafka 1986, 301–302).

Bei Kafka kommt es zu einer völligen Umkehrung, oder genauer: zu einer radikalen Dekuvrierung jener empfindsamen Illusion, durch schriftliche Kommunikation könne persönliche Nähe herbeigeführt werden. Wird Nähe bereits in der Briefkultur des 18. Jahrhunderts auf sprachlichem Wege hergestellt, also zumindest teilweise fingiert, so benennt Kafka schonungslos den Täuschungscharakter dieser epistolaren Strategie: In Briefen werden seiner Argumentation zufolge lediglich Fiktionen, Selbstbilder, die die Briefpartner von sich selbst und dem Adressaten erfinden, ‚ausgetauscht‘. Aus der Eigendynamik des Briefwechsels wird so ein Teufelskreis der (Selbst-)Täuschung.

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4 Erfundene Identitäten, souveräne Spiele: Else Lasker-Schüler und Robert Walser Die von Kafka benannte kommunikative Aporie des Mediums wenden andere Autor*innen der literarischen Moderne wiederum bewusst und offensiv ins Produktive. Den aus der körperlichen Absenz der Kommunikationspartner*innen resultierenden Charakter des Fiktional-Imaginären nutzen sie, um ein virtuoses Spiel mit Briefidentitäten und -rollen zu inszenieren. Mit ästhetischer Radikalität unternimmt die expressionistische Schriftstellerin Else Lasker-Schüler in einzelnen ihrer Briefwechsel exzessive und mitunter provokative Rollenspiele. Sie stattet sowohl sich selbst als auch die Briefpartner*innen mit von ihr gesetzten „fiktiven Identitäten“ (Overlack 1993, 157; vgl. Ueding 2016) aus und etabliert so eine autonome epistolare Phantasiewelt. Sie selbst tritt häufig als mythischer ‚Prinz Jussuf‘ oder ‚Prinz von Theben‘ auf. Diese Rollen übernimmt sie auch außerhalb der Briefwelt, indem sie sich etwa entsprechend kostümiert  – die Grenze zwischen ‚Leben‘ und ‚Kunst‘ ist bei ihr somit noch schwerer zu ziehen als bei Rilke und Kafka. Ferner nennt sie beispielsweise den Adressaten Alfred Loos „Gorilla“, einen weiteren Briefpartner – vermutlich der Maler Gert Wollheim  – spricht sie in ihren Briefen als „Feuerspeiender Berg“, „Kupferindianer“, „Indianer aus Paraguay“, „Dearest Sioux“ und „Lieber Inkas“ an, sie selbst tritt als „Jussuf“ und „Pampeia“ auf (Edition in Overlack 1993, 130–162). Die Phantasiewelt bildet dabei einen gegenüber der Alltagswelt abgeschlossenen eigenen Kosmos, in den ‚Indianerbriefen‘ kündigt die Briefschreiberin an, dass sie „einen Urwald aufbauen möchte und eine neue Prairie legen möchte und wilde Pferde bändigen möchte“ (Overlack 1993, 132). Die Bildwelt der Briefe wird dabei intermedial neben der Sprache durch eine Vielzahl an Zeichnungen – Jussufs Kennzeichen Mondsichel, Sterne, Herz bzw. Indianer­bilder – hergestellt, Briefbeigaben wie eine (Indianer-)Feder verlängern die Phantasiewelt bis in den Bereich realer, im epistolaren Kontext umcodierter Dinge. Wichtig ist dabei, dass Lasker-Schüler die Regeln bestimmt, nach denen das Spiel abzulaufen hat  – sagbar ist in den Briefen nur das innerhalb des von ihr gesteckten Rahmens Mögliche. Ihr Credo lautet, dass die Briefpartner auf den Schein angewiesen sind und die Realität eine Bedrohung darstellt, sie ist deshalb sorgsam darauf bedacht, die Alltagswelt völlig aus solchen Briefwechseln fernzuhalten. Genau wie im Fall von Rilkes Briefwechsel mit Magda von Hattingberg kommt es auch bei ihr in Fällen, in denen sie den Briefpartner nicht oder kaum kannte, zum Abbruch der Beziehung, nachdem eine persönliche Begegnung stattgefunden hat – so etwa im Fall Paul Goldscheiders, eines jungen Lesers ihrer Werke, der mit ihr in Briefkon-

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takt getreten war. Der Bruch verweist darauf, dass die Beziehungen nur in Form schriftlicher Imaginationsräume funktionieren. Auch im Fall Lasker-Schülers wäre es jedoch falsch, aufgrund ihres poetischen Charakters von einem völligen Wegfall einer pragmatischen Funktion der Briefe auszugehen. Denn im Modus des Poetischen und Phantastischen dienen die Briefe durchaus zur Verständigung und zur Selbstvergewisserung, die sich allerdings als äußerst labil erweisen, da sie in keiner Weise mit dem Alltagsleben vereinbar sind. Wie im Fall von Rilkes Briefwechsel mit Marina Zwetajewa könnte man viele Korrespondenzen Lasker-Schülers daher als Formen der ästhetischen Kollaboration ansehen, deren Zweck der epistolare Austausch als Kunstwerk ist. Am deutlichsten ist das im Fall des Briefwechsels mit dem expressionistischen Maler Franz Marc, in dem sich die Bildwelten des Bildenden Künstlers und der Dichterin einander annähern. Nicht zufällig kam es neben privaten Briefen zum Projekt eines literarisch-künstlerischen Briefwechsels, der 1913–1915 in den zeitgenössischen, dem Expressionismus verbundenen Zeitschriften Die Aktion und Der Brenner veröffentlicht wurde (vgl. Lasker-Schüler und Marc 2012; Natterer 2013; Conterno 2015). Ähnlich radikal sind Robert Walsers Briefe; sie besitzen keinen selbstzerstörerischen Charakter wie diejenigen Kafkas und sind nicht phantastisch wie diejenigen Lasker-Schülers, vielmehr handelt es sich häufig um Nonsens-Texte, die eine „‚humoristische[…]‘ Unterwanderung“ (Kammer 2001, 230) konventionellalltäglicher Kommunikation darstellen. Walser nimmt nicht wie Lasker-Schüler mythische Rollen ein, auch bei ihm ist jedoch „der dramatische Vorgang einer probeweisen Selbstsetzung“ zu beobachten, „die dem Partner zur Besiegelung vorgelegt wird, wobei dieser Partner in einem gleicherweise dynamischen Vorgang, vom selben Text je neu entworfen und gesetzt wird“ (von Matt 1987, 98). Die Briefe stellen gewissermaßen Spiel- und Versuchsanordnungen dar, mit denen Walser die Adressat*innen konfrontiert und irritiert. Dabei geht er oft bis an die Schmerzgrenze des Absurden. Bereits bei den Anrede- und Grußformeln kommt es zu „unablässigen Verzerrungen“ (Kammer 2001, 230), indem Walser, sich ironisch am Kanzleistil orientierend, etwa Höflichkeitsfloskeln durch maßlose Übertreibung parodiert. Umgekehrt schreckt er nicht vor beleidigenden Formulierungen zurück. Die Grenze zum Literarischen ist in dem Sinne aufgelöst, dass faktuales und fiktionales Erzählen, für die Briefempfänger*innen nicht erkennbar, ineinander übergehen; so handelt es sich beispielsweise um eine reine Erfindung, als er Therese Breitbach gegenüber im Dezember 1925 behauptet, er habe an Hermann Hesses Heirat mit einer Berner Saaltochter teilgenommen (vgl. Kammer 2001, 236–238). Insbesondere besteht eine Nähe zwischen Walsers epistolarem und feuilletonistischem Schreiben. Der verstörende, die Grenzen des Kommunikativen austestende Charakter ist dabei darin zu sehen, dass „Walsers Dauerplau-

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derei […] immer deutlicher auch das Schweigen durchscheinen“ (Utz 2015, 198) lässt. Auch im Falle Walsers wäre es aber wiederum verkehrt, den Briefen aufgrund ihres partiell literarischen und höchst irritierenden Charakters die pragmatische Funktion abzusprechen; tatsächlich besteht diese darin, lustvoll Grenzen zu überschreiten und durch das Schreiben Freiräume herzustellen. Dabei sind die Briefe jedoch nicht als Versteckspiele eines Subjekts zu verstehen, das sich hinter seinen Rollen verbergen würde, vielmehr geht das Subjekt – ähnlich wie in den Briefen Rilkes, Kafkas und Lasker-Schülers – bis zu seinem völligen Verschwinden in der Textwelt der Briefe auf.

Zitierte Literatur Alt, Peter-André (22008). Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie. München. Campe, Rüdiger (2005). „Schreiben im Process. Kafkas ausgesetzte Schreib-Szene“, in: „Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen“. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. Hg. v. Davide Giuriato, Martin Stingelin u. Sandro Zanetti. München: 115–132. Conterno, Chiara (2015). „Korrespondenz der Künste. Zum Briefwechsel von Else Lasker-Schüler und Franz Marc“, in: Briefkultur. Transformationen epistolaren Schreibens in der deutschen Literatur. Hg. v. Isolde Schiffermüller u. Chiara Conterno. Würzburg: 125–142. Deleuze, Gilles u. Félix Guattari (1976). Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt a. M.: 41–49. Ebrecht, Angelika (1990). „Brieftheoretische Perspektiven von 1850 bis ins 20. Jahrhundert“, in: Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays. Hg. v. ders. Stuttgart: 239–256. Haring, Ekkehard W. (2010). „Das Briefwerk“, in: Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Manfred Engel u. Bernd Auerochs. Stuttgart u. Weimar: 390–401. Hofmannsthal, Hugo von (1979). „Ein Brief“, in: Ders. Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. Bernd Schoeller. Bd. 7. Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Frankfurt a. M.: 461–472. Kafka, Franz (1976). Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hg. v. Erich Heller u. Jürgen Born. Frankfurt a. M. Kafka. Franz (1986). Briefe an Milena. Hg. v. Jürgen Born u. Michael Müller. Frankfurt a. M. Kafka, Franz (1994). „Brief an den Vater“, in: Ders. Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Hg. v. Hans-Gerd Koch. Bd. 7. Frankfurt a. M.: 10–66. Kammer, Stephan (2001). „Gestörte Kommunikation. Robert Walsers Briefschreibspiele“, in: „Ich an Dich“. Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen. Hg. v. Werner M. Bauer u. Wolfgang Wiesmüller. Innsbruck: 229–245. Kaufmann, Vincent (1994). Post Scripts. The Writer’s Workshop. Cambridge (MA) u. London. Kittler, Friedrich A. (1985). Aufschreibesysteme 1800/1900. München. Kittler, Wolf (1990). „Schreibmaschinen, Sprechmaschinen. Effekte technischer Medien im Werk Franz Kafkas“, in: Franz Kafka: Schriftverkehr. Hg. v. Wolf Kittler u. Gerhard Neumann. Freiburg i. Br.: 75–163.

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Lasker-Schüler, Else u. Franz Marc (2012). Eine Freundschaft in Briefen und Bildern. Mit sämtlichen privaten und literarischen Briefen. Hg. v. Ricarda Dick. München u.  a. Matt, Peter von (1987). „Wer hat Walsers Briefe geschrieben?“, in: „Immer dicht vor dem Sturze …“. Zum Werk Robert Walsers. Hg. v. Paolo Chiarini u. Hans Dieter Zimmermann. Frankfurt a. M.: 98–105. Modersohn-Becker, Paula u. Rainer Maria Rilke (2003). Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke. Hg. v. Rainer Stamm. Frankfurt a. M. u. Leipzig. Natterer, Claudia (2013). „‚Alles Leben wird Tapete‘ – Else Lasker-Schülers letzter Brief an Franz Marc“, in: Briefkultur. Texte und Interpretationen von Martin Luther bis Thomas Bernhard. Hg. v. Jörg Schuster u. Jochen Strobel. Berlin u. Boston: 247–256. Overlack, Anne (1993). Was geschieht im Brief? Strukturen der Briefkommunikation bei Else Lasker-Schüler und Hugo von Hofmannsthal. Tübingen. Rilke, Rainer Maria (1977). Briefe an Nanny Wunderly-Volkart. Hg. v. Rätus Luck. Frankfurt a. M. Rilke, Rainer Maria u. Magda von Hattingberg (2000). Briefwechsel mit Magda von Hattingberg („Benvenuta“). Hg. v. Ingeborg Schnack u. Renate Scharffenberg. Frankfurt a. M. u. Leipzig. Rilke, Rainer Maria u. Marina Zwetajewa (1992). Ein Gespräch in Briefen. Hg. v. Konstantin Asadowski. Frankfurt a. M. Schärf, Christian (2008). „Kafka als Briefschreiber: Briefe an Felice und Briefe an Milena“, in: Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Bettina von Jagow u. Oliver Jahraus. Göttingen: 72–84. Schiffermüller, Isolde (2015). „‚Die Geister werden nicht verhungern, aber wir werden zugrundegehn‘. Zum Medium Brief bei Franz Kafka“, in: Briefkultur. Transformationen epistolaren Schreibens in der deutschen Literatur. Hg. v. Isolde Schiffermüller u. Chiara Conterno. Würzburg: 161–180. Schneider, Manfred. (1986). Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München u. Wien. Schuster, Jörg (2014). „Kunstleben“. Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes. Paderborn. Storck, Joachim W. (2004). „Das Briefwerk“, in: Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Manfred Engel. Stuttgart u. Weimar: 498–506. Ueding, Gert (2016). „Wechselrede. Rhetorische Anmerkungen zur europäischen Brieftheorie“, in: Cahiers d’Études Germaniques [Online], 70.1: 21–34; http://journals.openedition.org/ ceg/826; DOI: 10.4000/ceg.826 (13.9.2019). Utz, Peter (2015). „Ausgeplauderte Geheimnisse. Die Verwandtschaft von Brief und Feuilleton am Beispiel Robert Walsers“, in: Briefkultur. Transformationen epistolaren Schreibens in der deutschen Literatur. Hg. v. Isolde Schiffermüller u. Chiara Conterno. Würzburg: 181–200. Walser, Robert (2018). Werke. Berner Ausgabe. Bd. 1–3: Briefe. Hg. v. Peter Stocker u. Bernhard Echte. Berlin.

Ute Oelmann

7.5 Briefnetzwerke des George-Kreises Stefan George (1868–1933) war einer der bedeutendsten Lyriker der Jahrhundertwende und Vermittler des europäischen Symbolismus. Er war der Begründer und verdeckte Herausgeber der Zeitschrift Blätter für die Kunst (1892–1919), die nicht nur der Vermittlung einer neuen Kunst und Dichtung, sondern auch der Bildung einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten diente, deren Zentrum der Binger Dichter war. Aus dieser europäischen Künstlergemeinschaft der 1890er Jahre wurde ab 1900 ein Kreis von meist jüngeren, akademisch geschulten Freunden und Jüngern, der sich spätestens ab 1910 als geistige Elite Deutschlands verstand. Allein die Tatsache, dass diesem historischen Gruppenphänomen ein eigenes Kapitel gewidmet ist, lässt die Relevanz des Themas vermuten. Das Übrige tut ein Blick auf die publizierten Briefwechsel Stefan Georges, die im Folgenden aufgelistet sind: Stefan George – Hugo von Hofmannsthal, Georg Bondi, 1938; Stefan George – Friedrich Gundolf, Helmut Küpper, 1962; Stefan George – Albert Verwey, Polak & Van Gennep, 1965; Stefan George – Paul Gérardy, Marche romane, 1980; Stefan George – Ida Coblenz, Klett-Cotta, 1983; Stefan George – Melchior Lechter, Hauswedell, 1991; Stefan George – Wacław Rolicz-Lieder, Klett-Cotta, 1996; Stefan George – Friedrich Wolters, Castrum Peregrini Presse, 1998; Stefan George – Stéphane Mallarmé, Wallstein, 2013; Stefan George – Karl Wolfskehl und Hanna Wolfskehl, C.H. Beck 2015; Stefan George – Ernst Morwitz, De Gruyter, 2020. Auffällig sind dabei der frühe Beginn der Publikationsanstrengungen, fünf Jahre nach Georges Tod, sowie die Vielzahl der Verlage, vor allem aber, dass es sich immer um dialogische Briefverhältnisse handelt, was den gängigen Vorstellungen eines Kreisgefüges, einer Vielstimmigkeit, eines Netzwerks nicht entspricht. So gilt es erst einmal festzuhalten, dass in diesem George-Kreis genau diese Einszu-Eins-Beziehungen zentral waren. Die Kreismitte bildete George. Wie die Strahlen einer Sonne, die Speichen eines Rades, gingen von ihm die Beziehungen zu Einzelnen aus. Diese Freunde, Jünger (1900–1933) oder ‚Staatsstützen‘, wie die Jüngeren in den zwanziger Jahren bezeichnet wurden, scharten wiederum um sich einen Kreis von Schülern, Anhängern, Adepten, dessen Mitte in späteren Jahren auch Freundespaare bilden konnten. So sammelte Friedrich Gundolf einen https://doi.org/10.1515/9783110376531-115

7.5 Briefnetzwerke des George-Kreises 

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Heidelberger Kreis von Studierenden, Männern und Frauen, um sich; Karl Wolfskehl Künstler, Schreibende und Menschen mannigfacher Art; Berthold Vallentin in Berlin, Friedrich Wolters später in Marburg und Kiel, Wilhelm Stein in Bern, um nur einige zu nennen. Manche dieser Trabanten kamen niemals in direkten oder auch nur brieflichen Kontakt zu George selbst, dienten dem Dichter mittelbar. Andere traten für einige Zeit in eine enge Meister-Schüler- und KorrespondenzBeziehung mit George ein. Erstaunlicherweise hat George den Kontakt, auch den brieflichen, zwischen den primären Bezugspersonen stark kontrolliert, manchmal auch als unerwünscht zu unterbinden versucht; teilweise haben auch Eifersucht und Eigenansprüche direkte oder engere briefliche Kommunikation unter den George direkt Nahestehenden nicht aufkommen lassen. Hinzu kommt eine starke Differenzierung der Personen und ihrer Beziehungen im Verlauf der Jahre 1890–1933. Auch wenn wir belegen können, dass George schon vor Beginn seines eigentlichen Werks, d.  h. vor den unter dem Namen Stefan George veröffentlichten Hymnen von 1890, einem Kreisgedanken anhing, einen Zirkel schon in der Schulzeit um sich formierte, so lässt sich die Briefkommunikation mit den mehr oder weniger befreundeten französischen, belgischen und polnischen Dichtern, vor allem jene mit Stéphane Mallarmé, nicht unter einen Begriff wie Kreiskommunikation Georges subsummieren. Die Korrespondenz der ehemaligen Binger Schulfreunde Stefan George, Karl Rouge und Arthur Stahl (1888–ca. 1893) mag noch der späteren ähneln, jene mit den europäischen Dichtern, Malern, Komponisten – wie auch diejenige mit Hugo von Hofmannsthal – haben eine andere Prägung, andere Funktionen und wurden  – ganz erstaunlich  – in mehreren fremden Sprachen (einschließlich Dänisch) geführt. Hat man die Unterschiede betont, so darf wieder darauf hingewiesen werden, dass es zumindest im Kreis um die Blätter für die Kunst bis zum Ausscheiden Hofmannsthals (1906) auch sekundäre Korrespondenzen (von George aus gesehen) gab: Karl Wolfskehl und Hugo von Hofmannsthal, Carl August Klein und Hugo von Hofmannsthal, Karl Wolfskehl und Friedrich Gundolf etc. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch eine schon von George angelegte Sammlung von sogenannter Blätter-Korrespondenz, eine Vielzahl verschiedenster Absender (Autoren, Buchhändler, Drucker etc.) an den mitverantwortlichen, als Herausgeber zeichnenden Carl August Klein, ab 1896 auch an Dr. Karl Wolfskehl oder ab ca. 1900 an Friedrich Gundolf, zwei der wichtigsten Mitarbeiter Georges in Blätter-Sachen. Auch hatten die zuvor Genannten Aufgaben brieflich zu erledigen, sie schrieben ihrerseits an Beiträger, Drucker, Verleger und Buchhändler. Kehren wir zur Struktur des George-Kreises zurück und damit zu den Korrespondenten und Korrespondenzen der Jahre 1900 bis 1933, jenen Briefwechseln, die sich bei aller notwendigen Ausdifferenzierung sinnvoll zusammen betrachten lassen, so ist zu ergänzen, dass es einzelne wichtige Korrespondenzen zwischen

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George-Freunden gab, auch solche, die in den letzten Jahrzehnten veröffentlicht wurden: Hugo von Hofmannsthal – Leopold von Andrian, S. Fischer, 1968; Karl und Hanna Wolfskehl – Albert und Kitty Verwey, Schneider, 1968; Ernst Glöckner – Ernst Bertram, Stiehm, 1972; Friedrich Gundolf  – Karl und Hanna Wolfskehl, Castrum Peregrini Presse, 1976/77; Ernst Gundolf – Hanna Wolfskehl, Castrum Peregrini Presse, 2006; Friedrich Gundolf – Friedrich Wolters, Böhlau, 2009; Friedrich Gundolf – Erich von Kahler, Wallstein, 2012; Friedrich Gundolf – Elisabeth Salomon, De Gruyter, 2015; Walter Wenghöfer – Hanna Wolfskehl, Castrum Peregrini Presse, 2002. Auffällig und von großem Interesse ist dabei der Wechsel der Töne: Der Briefschreiber Friedrich Gundolf ist ein gänzlich anderer, je nachdem, ob er an George oder an Wolfskehl schreibt; hier schreibt der Adressat in hohem Maße die Briefe mit. Das trifft natürlich erst recht auf Gundolfs Briefe an Elli Salomon und andere geliebte Frauen zu, die ebenfalls in Beziehung zu George standen. Ernst Glöckners untertänig schmachtende Briefe an George sind kaum mit jenen an Ernst Bertram in Einklang zu bringen, der zudem immer ein Randständiger blieb, und auch Friedrich Wolters beherrscht unterschiedliche Töne. Eine ganz andere Qualität haben später Georges Briefwechsel mit Kindern, Halbwüchsigen oder Jungstudenten, ob nun ermahnende Briefe Georges, dankende der Jüngsten oder die sich über Jahre hinziehende Briefkommunikation zwischen George und dem jugendlichen Studenten Max Kommerell, dem zum Adlatus und Sekretär beförderten älteren und dem zuletzt trennungswilligen. Es ist sehr bedauerlich, dass in diesem Fall, von wenigen Ausnahmen abgesehen, allein Max Kommerells Briefe erhalten sind. Doch werden sie von einer parallel laufenden, im Trennungsjahr 1930 intensivierten, intimen Freundschaftskorrespondenz zwischen Kommerell und Johann Anton ergänzt und gespiegelt. Dieses Paar hatte letztlich George zusammengefügt, und in diesem Fall existierte dann auch ganz selbstverständlich eine primäre Beziehung zwischen George und Johann Anton. All dies legt nahe, dass Stefan George ein Vielschreiber war; dass der Brief für ihn und die einzelnen Freunde wie auch für das Kreisgefüge und dessen Zusammenhalt höchst wichtiger Kommunikationsträger war, legt die ergänzende Frage nah, ob er ein begeisterter und begeisternder Briefschreiber, einer der großen deutschsprachigen Briefautor*innen war? Dies kann auf der Grundlage der Kenntnis aller bislang publizierten Briefe, aber auch aller bislang im Stefan George Archiv (StGA) erhaltenen und erschlossenen über 2.200 Briefe verneint

7.5 Briefnetzwerke des George-Kreises 

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werden. Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen, also Briefe, die dann doch in eine Sammlung der wichtigsten und schönsten Briefe der Jahre 1890 bis 1933 aufgenommen werden sollten. Ganz anderes gilt für Freunde wie Friedrich Gundolf, Karl Wolfskehl und Max Kommerell sowie – bislang nicht erwähnt – für den Historiker Ernst Kantorowicz, der ein famoser, häufig ironischer, stilsicherer Briefschreiber war. Häufigkeit, Funktion, Inhalt und gebotene Kürze sowie Lesbarkeit wurden immer wieder und recht unterschiedlich von George in Briefen an Freunde, aber auch von diesen selbst thematisiert. So schrieb der George eng verbundene, während des Ersten Weltkriegs in Flandern als Sanitäter eingesetzte Jurist Ernst Morwitz, auf einen Brief Georges antwortend, Ende Januar 1918: Hab Dank für den München-Brief. Ich teile Deine Bedenken über das Zuvielschreiben  – aber versetze Dich auch in die phantastische äussere Lage der S.  S. von heute. Entweder sie sind draussen und da bedeutet eine Nachricht die reinste Stärkung und Anstachelung zum Weiterleben die möglich – oder aber sie sind im Inland und spüren jetzt den völligen Zusammenbruch aller Stützpunkte […]. (George und Morwitz 2020, 309)

„Zuvielschreiben“ war eine Sünde mancher jungen Freunde, hier „S.  S.“ und damit Staatsstützen oder Süße genannt. In psychischen Ausnahmesituationen nicht schreiben zu können, bekannte auch George Ende Mai 1916: „Reden kann ich Dir fast von gar nichts – jedes geschriebene wort ist mir viel“ (George und Morwitz 2020, 285), der um die tröstende und stützende Funktion seiner Briefe in Notzeiten wusste: „liebster Ernst: ich war ziemlich erfreut dass Dein brief nicht allzu schwermütig klang ⋅ was ist zu tun als zu harren? Ich denke dass jedes neue wort Dir einen neuen anstoss giebt  – was auch wünschenswerter ist als wenn du meine alten worte zu lang in der tasche trägst.“ (Dezember 1916, George und Morwitz 2020, 289) Grundsätzlich waren Briefe von ihm und solche an ihn für George Gesprächsersatz. Wichtiger als jeder Brief war das Einzelgespräch, der Dialog, und nur zu Zeiten und eher selten das Gespräch in und mit einer kleinen Gruppe. Und solcher Ersatz konnte eben dringend werden, wie er wiederum an Morwitz am 19. März 1919 schrieb: Dein brief wo Du von Deiner niedergeschlagenheit berichtest enthält einige hinterhälte die ich nicht ganz durchschaue auch dächt mir ein verbergen nicht immer der rechte weg zur heilung und hebung und ein halbgesagtes wirkt dann auf den beteiligten freund um so schlimmer. Wer weiss ob durch die neu geschaffne lage der reise-schwierigkeiten auch wir nicht wieder zum lang verpönten brief=erguss kommen müssen. (George und Morwitz 2020, 338)

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Der „brief=erguss“ war George in den meisten Fällen zuwider, die Ausbreitung von Seelenzuständen, von psychischen Lagen sowie erst recht Reflexionen darüber konnte er unter Umständen mit hartem Tadel abweisen. So kritisierte er einen Brief des jungen Soldaten Percy Gothein, der der Darstellung der Veränderungen seiner Selbsterkenntnis dienen sollte (25.11.1916, Handschrift StGA), als epistolare „Zergliederungen“ (2.12.1916, Handschrift StGA). Sicher erfüllten Briefe auch im Kreis um George sowie für diesen selbst weitere und ganz unterschiedliche Funktionen. Sie dienten zuerst und vor allem wichtigen Mitteilungen, Vereinbarungen von Treffen und kurzer Nachrichtenübermittlung. Das bedingt auch die Kürze eines Großteils der Briefe Georges. Karl Wolfskehl war da in seinem Mitteilungseifer, dem Überschwang der Formulierungen und ihrer Farbigkeit, sein genaues Gegenteil. Wolfskehl erzählte, teilte Gemüts- und Gesundheitsschwankungen mit, George war der Brief – mit wichtigen Ausnahmen – kein Mittel für Gefühlsausdruck oder gar Bekenntnis, selten nur für ästhetische oder poetologische Ausführungen, Urteile oder Ratschläge. Briefe hielten den Kontakt mit Freunden und zwischen Freunden, verstärkt durch die Beilage von Gedichten oder durch solche ersetzt und  – noch seltener  – durch beigelegte Fotografien. Die postalische Übermittlung eines neuen George-Porträts war ein Ereignis, ein Festtag, wie schon der Empfang eines Briefes, einer Karte von Georges eigener Hand. Denn George ließ ab ca. 1900, dem Eintritt des noch jungen Friedrich Gundolf in den sich langsam, aber stetig vergrößernden Kreis, schreiben; es mehren sich die diktierten Briefe, die Briefe von fremder Hand mit und ohne Georges Unterschrift, und – eine späte Entwicklung – die Briefe „im Auftrag des Meisters“ unterschrieben oder mit „der Meister lässt sagen“ beginnend. In den späten 1920er und den 1930er Jahren sind solche Briefe in der Mehrzahl, eigenhändige Georges eine Rarität. Gar mancher Empfänger von George-Briefen bittet flehend darum, einmal wieder Eigenhändiges zu erhalten. Schließlich war so etwas so rar, dass schon ein eigenhändig adressierter Umschlag ein begehrtes Sammlerstück und eine Auszeichnung war. Diese Begehrlichkeiten der Freunde setzte George in seiner Korrespondenz ein, ein ernstes Spiel von Gnade und Entzug oder gar Strafe. Häufig aber war die fremde Hand auch – so z.  B. im Jahr 1918, in den frühen zwanziger Jahren sowie am Lebensende, seinen schweren Krankheitsschüben und Klinikaufenthalten geschuldet. Wiederum erstaunlich ist seine äußerst kundige und zuzeiten streitbare Korrespondenz mit seinem Verleger Dr. Georg Bondi, deren Publikation geplant ist. Auch hier spielen Auftragsbriefe eine wichtige Rolle, ebenso die Hilfestellung leistenden Briefe seiner juristischen Freunde und Berater (Robert Boehringer mitsamt Rechtsberaterin, Ernst Morwitz, Berthold Graf von Stauffenberg). Ergänzt wird der im Zentrum stehende Briefdialog zwischen Dichter und Verleger außer-

7.5 Briefnetzwerke des George-Kreises 

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dem durch das umgebende Korrespondentennetz all jener gelehrten Freunde, deren Werke George im Verlag Georg Bondi unter von Ersterem vorgegebenen Bedingungen in der Reihe „Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“ erscheinen ließ, darunter so berühmte Werke wie Friedrich Gundolfs Goethe (1916) und George (1920), Max Kommerells Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (1928) und nicht zuletzt Ernst Kantorowicz’ Kaiser Friedrich der Zweite (1927). Sind heute um die 9.000  Briefe der George-Korrespondenz in einer Datenbank des Stefan George Archivs in Stuttgart erfasst, so befinden sich darunter ca. 2.500 Briefe von Stefan George und hunderte von George nicht gezeichnete Auftragsbriefe. Nur in dieser Datenbank wird das große Netzwerk sichtbar, da die vielen Korrespondenten in allen Verzweigungen des Geflechts hier nicht zu nennen sind. Auf den Unterschied der Töne und Stile wurde schon hingewiesen, er ist ebenso wenig erstaunlich wie der Unterschied der schreibenden Persönlichkeiten, die sich in den Kreisen um George zu verschiedenen Zeiten befanden: Männer, Frauen, Deutsche sowie europäische Ausländer, Künstler und Wissenschaftler. Auch Georges Briefe kennen recht unterschiedliche Töne, knapp und dicht, wie sie meist formuliert sind, mit der Neigung zu Kürze und Andeutung, wenn es um mehr als Mitteilung von Sachverhalten und Daten geht, aber in manchen Ausnahmefällen, in seelischen Gefahrenlagen oder Hochstimmungen, triumphiert eine Sprache des Gefühls, auch der Sehnsucht. Gegen allerlei Vermutungen ist festzuhalten, dass Georges eigenhändige Briefe strikt an und für den jeweiligen Empfänger geschrieben, nicht für eine Lesergruppe von Freunden adressiert waren, keine Gruppenansprachen, nicht in Heidelberg oder Marburg, Basel oder Berlin. George formuliert es als Gesetz und zieht die Konsequenz daraus, wenn er schreibt: „Ein brief ist jedes menschen geheimnis: drum kann ich ihn selbst Dir nicht zeigen“ (Mai 1916, George an Morwitz 2020, 284). Ausnahmen bildeten natürlich Ansichtskarten von kleinen Freundesgruppen an George oder solche an einen einzelnen Freund, die George als der Gruppe zugehörig mit unterschrieben hatte. Morwitz mochte zwar einen Brief an George schreiben, der auch Zeilen von einem seiner jungen Eleven an den Meister enthielt, zog aber vor, diese als Beilage zu versenden. Für George wiederum war es von größter Wichtigkeit, dass diesen Jüngsten zuzutrauen war, dass sie das Briefgeheimnis wahren konnten und nicht voll Stolz anderen von ihnen empfangene Briefe zeigten. Dass seine Briefe nicht in die Außenwelt von Familie, erweiterten Freundeskreisen oder gar in die Gesellschaft, d.  h. in die breite Öffentlichkeit, geraten sollten, das war Befehl und Gesetz. Was dennoch im Privaten geschah, konnte er nicht kontrollieren. Fälle von Vertrauensbruch wurden so gewissenhaft geahndet wie das nicht von ihm selbst eingeleitete reale

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Zusammentreffen von Freunden aus verschiedenen Kleinkreisen oder Generationen. Des Dichters und „Meisters“ Briefe waren Schätze, sie wurden  – auch eifersüchtig – gehütet oder auf seine Anweisung hin verbrannt. Ihre Publikation wäre ihm als Entblößung und Zerstörung von Privatem ein Frevel gewesen. Es gab seine Gedichte, sein Werk und darunter viele Gedichte an Freunde. Diese übergab er selbst der Öffentlichkeit, meist als von den Personen losgelöste oder hinter Initialen oder Decknamen versteckte.

Zitierte Literatur George, Stefan u. Ernst Morwitz (2020). Briefwechsel 1905–1933. Kommentierte Edition. Hg. v. Ute Oelmann u. Carola Groppe. Berlin/Boston.

Archivquellen Handschriften Stefan George Archiv (StGA): https://www.wlb-stuttgart.de/sammlungen/stefangeorge-archiv/ (29.11.2019).

Weiterführende Literatur Boehringer, Robert (21967). Mein Bild von Stefan George. München. Braungart, Wolfgang, Jan Andres, Christian Oestersandfort u. Franziska Walter (2008). „Platonisierende Eroskonzeption und Homoerotik in Briefen und Gedichten des George-Kreises (Maximilian Kronberger, Friedrich Gundolf, Max Kommerell, Ernst Glöckner)“, in: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Renate Stauf, Annette Simonis u. Jörg Paulus. Berlin u. New York: 223–269. George, Stefan u. Hugo von Hofmannsthal (in Vorbereitung). Briefwechsel. Kritische u. erweiterte Edition. Hg. v. Elisabeth Höpker-Herberg u. Maik Bozza. George, Stefan u. Georg Bondi (in Vorbereitung). Briefwechsel 1898–1933. Kommentierte Edition. Hg. v. Christine Haug. Jacob, Joachim (2018). „Freundschaft nebst Briefen und Bildern – Carl August Klein, ‚Die Sendung Stefan Georges‘, und Sabine Lepsius‚ Stefan George. Geschichte einer Freundschaft‘ (1935)“, in: George-Jahrbuch, 12: 41–63. Lerner, Robert E. (2016). „Briefe von Ernst Kantorowicz und Woldemar Uxkull-Gyllenband an Josef Liegle“, in: George-Jahrbuch, 11: 323–355. Oelmann, Ute (2010). „Briefe der Brüder Stauffenberg“, in: George-Jahrbuch, 8: 143–156. Schuster, Jörg (2015). „Imagination und Proklamation – letzte Briefe um 1900. Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt und Marina Zwetajewa“, in: Letzte Briefe.

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Neue Perspektiven auf das Ende von Kommunikation. Hg. v. Arnd Beise u. Jochen Strobel. St. Ingbert: 165–179. Stauf, Renate (2018). „‚Ich gehe immer an den äussersten rändern‘. Stefan Georges Briefkommunikation“, in: George-Jahrbuch, 12: 1–28.

Claudia Olk

7.6 Briefnetzwerke im Kontext der englischen und amerikanischen literarischen Moderne – Virginia Woolf „The best letters of our time are precisely those that can never be published.“ (Woolf 1950, 459) Mit diesem Satz beschließt Virginia Woolf ihren Essay „Modern Letters“ (1930), in dem sie zuvor den auf John Cann Bailey zurückgehenden Gemeinplatz widerlegt, dass die Kunst des Briefschreibens im Aussterben begriffen sei und durch andere Medien wie das Telefon verdrängt würde (vgl. Woolf 1976, 12). „Modern Letters“ beschreibt den Wandel, den die Gattung Brief von einer im 18. und 19.  Jahrhundert standardisierten und für die Öffentlichkeit bestimmten Kommunikationsform hin zu einer privaten und individuellen durchlief. So schreibt die junge Virginia Woolf bereits im Jahr 1912 an Lytton Strachey: „Of course my objection to letters is that they were all written in the 18th Century, an age I find unlovable.“ (Woolf 1976, 12) Laut Woolf wurden Briefe zuvor als kunstvoll komponierte Schriftzeugnisse verhinderter Romanciers und frustrierter Essayisten verstanden, deren Verlesen im Familien- oder Freundeskreis ein gleichsam kollektives Ereignis darstellte und deren intendierte Rezeption auch die Nachwelt miteinschloss: „The arrival of the post was an occasion. The sheets were not for the waste-paper basket in five minutes, but for handing round, and reading aloud and then for deposit in some family casket as a record.“ (Woolf 1950, 135) ‚Moderne‘, zeitgenössische Briefe hingegen seien nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, aber gerade dieser neue, vertrauliche, gar unbedachte Charakter sei es, der die Gattung so attraktiv mache: „Modern letter writers are highly indiscreet. […] Very careful editing is needed before a letter can be read aloud to friends. […] But then, on the other hand, the privacy, the intimacy of these letters make them far more immediately interesting and exciting than the old letters.“ (Woolf 1950, 137) Für die so rastlose wie leidenschaftliche Briefschreiberin Woolf war der Brief als autobiographische Gattung neben dem Tagebuch und in größerem Maße noch als der Essay ein Ort der spielerischen Entfaltung von Intimität und der Entwicklung einer diskursiven Identität im geistreichen Dialog. Zugleich bot er Raum für schonungslose Kritik, Indiskretion und ironische Invektiven. Woolfs Briefe sind nicht nur biographische Zeugnisse und Zeitdokumente einer scharfsinnig brillanten Korrespondenz mit illustren Adressat*innen, sondern nahezu mustergültige Beispiele für die Kunst des Briefschreibens selbst. Woolfs eigene Briefe, so lässt sich zweifellos behaupten, zählen zu den besten ihrer Zeit. https://doi.org/10.1515/9783110376531-116

7.6 Briefnetzwerke – Woolf 

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Über viertausend Briefe hat Virginia Woolf hinterlassen. Die meisten davon sind in den sechs Bänden unter der Herausgeberschaft von Nigel Nicolson und Joanne Trautmann Banks in den Jahren 1975 bis 1980 erschienen. Danach wurden über hundert weitere in ihren Nachlässen gefunden, von denen viele in der Sammlung Congenial Spirits. The Selected Letters of Virginia Woolf (1989), ebenfalls von Joanne Trautmann Banks herausgegeben, ediert sind. Die meisten der Originalhandschriften Woolfs befinden sich in der British Library, der Berg Collection der New York Public Library, den Monks House Papers der University of Sussex Library sowie dem Harry Ransom Humanities Research Center in Austin, Texas. In der deutschen Übersetzung von Brigitte Walitzek erschienen ausgewählte Briefe Woolfs im Jahr 2006 in zwei von Klaus Reichert herausgegebenen Bänden. Woolfs umfassende Korrespondenz lässt sich im Kontext einer Tradition des Briefschreibens situieren, die in England seit dem 18. Jahrhundert Teil des gelehrten und literarischen Lebens war. Die literarischen wie ökonomischen und politischen Netzwerke der Moderne beruhten auf einer vielschichtigen Briefkultur. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts verfügte England über das weltweit größte Postwesen (vgl. Joyce 2013, 67). Patrick Joyce beschreibt die soziale und ökonomische Funktion des Postwesens und bezeichnet den Zustand des britischen Staates aufgrund seiner planvollen Vernetzungen als „organised freedom“ (Joyce 2013, 3). Die am meisten genutzte Form der Kommunikation war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach wie vor der Brief. Der Gebrauch des Telegramms blieb im privaten wie politischen Kommunikationsraum demgegenüber eingeschränkt, und auch das Telefon hatte sich aufgrund der fehlenden Infrastruktur noch nicht als ein Hauptkommunikationsmedium etabliert. So verfügte das britische Innenministerium im Jahr 1902 insgesamt nur über zwei Telefone (vgl. Joyce 2013, 56). Schaltstelle der Informationsverbreitung und Wissensvermittlung blieb seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Post: „In Britain, lacking a great army, the post was by far the largest institution of the state for more than a century after 1850, as well as the largest single employer of labour. By 1920 the British Post Office had a total staff of 240,000 and it peaked in size at almost half a million by 1970“ (Joyce 2013, 55). Die Hauptstadt London war das Zentrum des Postwesens, der Sitz des Hauptpostamts befand sich seit 1678 in der Lombard Street, in dem der lokale Londoner Briefverkehr, die nationale wie auch die internationale Post bearbeitet wurden. Im Zuge des Ausbaus des Eisenbahnnetzes und der dadurch erzielten Mobilitätsgewinne entwickelte sich das Postwesen auf der britischen Insel weiter und verband aufstrebende Industriestädte wie Manchester und Liverpool mit London. In den 1870er Jahren entsprach die Anzahl der Briefe, die allein in London versandt wurden, der Hälfte der gesamten Postsendungen innerhalb der USA (vgl. Joyce 2013, 66). Gleichzeitig war ein rapider Anstieg des Versands von Briefen und Postpaketen aller Art zu verzeichnen, der im Jahr 1920 nahezu vier Millionen

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Postpakete umfasste (vgl. Joyce 2013, 65). Die häufige tägliche Abholung und Auslieferung von Briefen ermöglichte eine hohe Verbindungsdichte schriftlicher Kommunikation mit zum Teil mehrfach täglichen Brief-Wechseln. So wurden im Jahr 1908 in London im Durchschnitt zwölf Mal am Tag Briefe ausgeliefert, von 7:15 Uhr am Morgen bis um 20 Uhr am Abend (vgl. Joyce 2013, 66). Die unermüdliche Briefschreiberin Woolf profitierte von dieser Infrastruktur. Ihre Briefe gehen häufig auf jüngst erhaltene Post ein: „I had your 2 letters this morning, which was very nice“ (Woolf 1976, 42), auf die sie zumeist umgehend antwortet. Auch an ihren zahlreichen weiteren Wohnsitzen in Sussex sowie auf Reisen war Woolf nie von der brieflichen Kommunikation abgeschnitten und verweist z.  B. auf noch rasch abzusendende Briefe, die sie während ihrer Aufenthalte in Rodmell eigenhändig zur Post brachte: „I dont know whether this will reach you – in any case its only a line, to catch the post.“ (Woolf 1976, 45) In ihrem als Brief konzipierten Essay „Letter to a Young Poet“ beschreibt sie, wie die kostengünstigere Versandform der ‚penny post‘ dem Briefschreiben zu neuer Proliferation verhalf und es der Briefgattung generell ermöglichte, kurzlebige, für den Moment konzipierte Beobachtungen zu entfalten: The art of letter-writing has only just come into existence. It is the child of the penny post. Naturally when a letter cost half a crown to send, it had to prove itself a document of some importance  […]. But your letter, on the contrary, will have to be burnt. It only cost three-halfpence to send. Therefore you could afford to be intimate, irreticent, indiscreet in the extreme. (Woolf 2009, 307)

Viele der Briefe Virginia Woolfs bestehen aus solchen Momentaufnahmen, die sie gerade so wertvoll machen. Gegenüber ihrem Schwager Clive Bell erwähnt sie, dass ein idealer und authentischer Brief einem Wachsabdruck des Gedankens gleichkommen sollte: „My dear Clive, […] A true letter, so my theory runs, should be as a film of wax pressed close to the graving in the mind; but if I followed my own prescription this sheet would be scored with some very tortuous and angular incisions.“ (Woolf 1989, 39) Ob es um die Anstellung einer neuen Köchin oder Haushaltshilfe ging, um die Beschreibung gärtnerischer Erfolge oder die Eskapaden ihrer zahlreichen Haustiere, die Ablehnung oder Annahme eines Manuskripts für die Hogarth Press oder auch das Arrangement amouröser Begegnungen, die Korrespondenz Woolfs ist stets durch ihre stilistische Mühelosigkeit, ihre brillante Spontaneität und Schlagfertigkeit gekennzeichnet. Ungeachtet ihrer Aufwertung der momenthaften Kurzlebigkeit von Briefen bewahrte Woolf große Teile ihrer Korrespondenz auf und betrachtete sie als Speicher der Erinnerung: „Letters seem more than anything to keep the past – out it comes, when one opens the box. And so much I’d forgotten.“ (Woolf 1980b, 90) Woolf hebt die belebende Funktion der Briefkunst hervor, die es gestattet, Emotio-

7.6 Briefnetzwerke – Woolf 

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nen hervorzurufen und die Vergangenheit zu vergegenwärtigen – „the art of letter writing consists in exciting the emotions, in bringing back the past, in reviving a day, a moment, nay a very second, of past time“ (Woolf 1950, 138). Woolf war eine ingeniöse Briefschreiberin, die durch insistentes Fragen oder Aufforderungen wie „write at once“ in einen Dialog mit ihren Adressat*innen eintrat. Ihre Vorliebe galt dem handschriftlichen Brief, den sie vorzugsweise in violetter Tinte schrieb. Ihren Neffen, Quentin Bell, an dessen persönlicher und künstlerischer Entwicklung sie fördernd Anteil nahm, ermahnt sie entsprechend: „You have a very elementary notion of the principles which should guide epistolary correspondence; though letter-writing on a typewriter is a mongrel, a mule; a sterile thing, compared with the handwritten letter.“ (Woolf 1989, 248) Humorvoll und erfindungsreich gewährte sie ihren Korrespondent*innen eine Form der intellektuellen Aufmerksamkeit, die der Kommunikation einen privaten Schutzraum eröffnete und aufrichtiges Interesse am Dialog signalisierte. „Without someone warm and breathing on the other side of the page, letters are worthless“ (Woolf 1938 [1966], 3), schreibt Woolf in „Three Guineas“, ihrem als Briefreplik konzipierten Essay, in dem sie fundamentale Kritik an Patriarchat und Militarismus übt. Dieses Interesse an der Persönlichkeit und den charakterlichen Facetten ihres Gegenübers motivierte ihre Briefwechsel – „the way to get life into letters [is] to be interested in other people“ (Woolf 1989, 54) –, in deren Zentrum die Korrespondenz mit Freundinnen und Freunden stand. Woolf pflegte langjährige Freundschaften und betrachtet diese in einem Brief an Vita Sackville-West als Konversationen, in denen bestimmte Themen mit Personen assoziiert werden: „[O]ne’s friendships are long conversations, perpetually broken off, but always about the same thing with the same person“ (Woolf 1989, 216). Briefe werden darin zu einer schriftlichen Form des fortlaufenden Gesprächs sowie zu einem Medium des Austausches von Standpunkten über Kunst, Literatur und Politik. Sind die räumliche Entfernung zwischen den Schreibenden und Adressat*innen sowie der zeitliche Abstand zwischen dem Erhalt eines Briefes und der Replik auf diesen konstitutiv für die Briefgattung (vgl. Schuster 2014, 16), so schafft der Brief eine Ebene der Distanz, die gerade durch die im raumzeitlichen Abstand gegebene Möglichkeit zur Reflexion über das Geschriebene wiederum Nähe und Intimität herstellt. Neben den persönlichen Begegnungen stellte dieses distanzierte, schriftliche Gegenübertreten einer Person im Brief eine für Woolf bedeutende Dimension in der Entwicklung von Freundschaften dar. In einem Brief an ihren Freund Gerald Brenan definiert sie eine Funktion des Briefschreibens als wechselseitige Spiegelung  – „to give back a reflection of the other person“ (Woolf 1989, 256). Erhielten ihre Freundschaften durch die Briefform eine über das direkte Gespräch hinausgehende reflexive Qualität, so wurden sie in konkreten Alltagskontexten auch durch sehr pragmatische Erwägungen und Hilfsbereitschaft geleitet. Woolf

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versuchte etwa die nach Lytton Stracheys Tod verzweifelte Dora Carrington zu trösten: „Oh but Carrington we have to live and be ourselves  – and I feel it is more for you to live than for any one; because he loved you so“ (Woolf 1989, 305). Sie verwendet sich bei Maynard Keynes für T. S. Eliot, der seine Anstellung bei der Lloyds Bank aufgegeben hatte, und bittet ihn, Eliot bei der Suche nach einer literaturnahen, journalistischen Tätigkeit behilflich zu sein: „Is there any chance that the Nation could give him employment as literary editor, or in any capacity which would bring him in an assured income?“ (Woolf 1989, 157) Später äußert sie sich gegenüber ihrer Schwester Vanessa diskreditierend über Eliots Entscheidung, der Anglikanischen Kirche beizutreten: „I have had a most shameful and distressing interview with poor dear Tom Eliot, who may be called dead to us all from this day forward. He has become an Anglo-Catholic, believes in God and immortality, and goes to church. I was really shocked.“ (Woolf 1989, 233) Woolfs Briefe an Vanessa, ihren Mann Leonard und ihre Freundinnen, darunter vor allem Vita Sackville-West zeugen von intimer Vertrautheit, die bei aller spielerischen Leichtigkeit zugleich die Unbedingtheit ihrer Zuneigung, aber auch Verletzungen, Eifersucht und Irritation offenbaren. Kennzeichen dieser Vertrautheit waren die Spitznamen, mit denen Woolf ihre engsten Briefpartner*innen belegte. Schon als junges Mädchen bezeichnete sie ihre Cousine Emma Vaughan als „my dearest toad“ (Woolf 1989, 6). Vanessa wird vielfach als „Dolphin“ adressiert, Vita als „Donkey“, Mary Hutchinson so kokett wie maliziös als „Weasel“, und Leonard als „Mongoose“. Woolf selbst unterzeichnet z.  B. in Briefen an Familienmitglieder und Jugendfreund*innen mit „Yr always, Goatus“, „Your loving Goat“, mit „Wallaby“ oder gegenüber Leonard mit „Mandrill“. Leonard und Virginia Woolf führten eine unkonventionelle Ehe, und Virginias Briefe an Leonard enthalten neben aufrichtiger Dankbarkeit für sein Verständnis und seine mitunter aufopfernde Fürsorge auch Vorstellungen über die Qualität ihrer Verbindung: „We both of us want a marriage that is a tremendous living thing, always alive, always hot, not dead and easy in parts as most marriages are. We ask a great deal of life, don’t we?“ (Woolf 1989, 71) Anlässlich einer Abendeinladung von Clive Bell wurden Virginia Woolf und Vita Sackville-West einander im Dezember 1922 vorgestellt. Beide verband fortan eine innige Freundschaft und leidenschaftliche Liebe, die sich bis an Virginia Woolfs Lebensende erhalten sollte und in einer Vielzahl von Briefen dokumentiert ist. Vita Sackville-West hatte Woolfs ersten experimentellen Roman Jacob’s Room (1922) gelesen und war von dessen Autorin fasziniert. Am 19. Dezember 1922 schreibt sie an ihren Ehemann Harold Nicolson: I simply adore Virginia Woolf, and so would you.  […] She is both detached and human, silent till she wants to say something, and then says it supremely well. […] I’ve rarely taken

7.6 Briefnetzwerke – Woolf 

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such a fancy to anyone, and I think she likes me. At least she’s asked me to Richmond where she lives. Darling, I have quite lost my heart. (Sackville-West 1985, 23)

Woolf widmete Vita ihren Roman Orlando (1928), dessen Titelheld*in sie explizit nach dem Vorbild ihrer Freundin modellierte. Nach Erhalt der Erstausgabe zeigt sich Vita entzückt und spielerisch überwältigt: „[Y]ou have invented a new form of Narcissism, – I confess, – I am in love with Orlando – this is a complication I had not foreseen.“ (Sackville-West 1985, 289) Die Annahme von Rollen, die Inszenierung von Selbst und Gegenüber sowie das Spiel mit einem Spektrum von Identitäten sind charakteristisch für Woolfs Briefwechsel. An den befreundeten Maler Jacques Raverat schreibt sie: „[One] has to put on a kind of unreal personality; which, when I write to you for example, whom I’ve not seen these 11 years, becomes inevitably jocular.“ (Woolf 1989, 188–189) Zeitweise korrespondiert sie mit Lytton Strachey unter dem Pseudonym Eleanor Hadyng, und beide unternehmen den Versuch, einen Briefroman zu entwickeln, in dem auch Clive und Vanessa Bell als James und Clarissa Philips vorkommen (vgl. Woolf 1989, 49). Briefe dienen ihr als Experimentierfeld für Schreibkonventionen. So fügt sie innerhalb ihrer Briefe z.  B. fiktive Dialogelemente ein und wechselt die Stilebenen, um darin wiederum Kritik an Briefkonventionen zu üben: „My dear Mrs Nicholson, I cant tell you how I enjoyed myself on Sunday. It was so good of you and your husband to let me come. And what a lovely garden! […] There, you ramshackle old Corkscrew, is that the kind of thing you like? I suppose so.“ (Woolf 1989, 229) Ihre Briefe wie auch ihre Tagebucheinträge ermöglichen Virginia Woolf neben der Selbstinszenierung durch die probeweise Annahme von Rollen auch in kritische Distanz zu sich selbst und zu ihrem Werk zu treten. Über ihren ersten Roman The Voyage Out (1915) schreibt sie nach dessen Erscheinen an Molly MacCarthy: „Yes that damnable book is coming out. To my great relief, I find that though long and dull, still one sentence more or less follows another, and I had become convinced that it was pure gibberish.“ (Woolf 1989, 83) Mit Katherine Mansfield diskutiert sie über ihre Arbeit an Jacob’s Room: „I think what I’m at is to change the consciousness, and so to break up the awful stodge. […] I feel as if I didn’t want just all realism any more – only thoughts and feelings – no cups and tables.“ (Woolf 1989, 128) Produktionsästhetische Aussagen wie diese prägen auch ihre Briefe an Mitglieder der Bloomsbury Group und machen sie zu wichtigen Quellen für die Betrachtung ihrer literaturtheoretischen Positionen: „My dear Roger, […] I meant nothing by The Lighthouse. One has to have a central line down the middle of the book to hold the design together. […] Whether it is right or wrong I don’t know, but directly I’m told what a thing means, it becomes hateful to me.“ (Woolf 1989, 228) Roger Fry, dessen Biographie Woolf in den 1930er Jahren schrieb, wurde durch

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seine persönliche Nähe zur Bloomsbury Group, aber auch durch seine kunsttheoretischen Positionen und seine Ausrichtung der ersten Post-Impressionisten-Ausstellung in London im Jahr 1910 zu einem ihrer zentralen Gesprächspartner. Mit ihm, mit Duncan Grant sowie Clive und Vanessa Bell teilen die Woolfs überdies die Liebe zu Italien und Südfrankreich. Auf ihren Reisen dorthin sowie auf zahlreichen weiteren Reisen innerhalb Europas führte Woolf ihre Korrespondenz fort und macht darin aufschlussreiche Beobachtungen, die nicht immer frei von Zynismus und Stereotypisierungen sind. Schon als junge Frau reiste sie mit ihrem Bruder Adrian nach Bayreuth zu den Wagner-Festspielen, die sie im Jahr 1909 allerdings nicht zu beeindrucken vermochten. Nahezu täglich erstattet sie ihrer in London gebliebenen Schwester Vanessa ohne Umschweife Bericht: „The audience is very dowdy, and the look of the house is drab; one has hardly any room for ones knees, […] I think earnest people only go – Germans for the most part, in sacks, with symbolical braid. […] The grossness of the race is astonishing – but they seem very clean and kind.“ (Woolf 1989, 52) Weniger generalisierend, aber gleichwohl snobistisch äußert sie sich 1913 über Venedig: „Beloved I’m glad to find that you dislike Venice because I thought it detestable when we were there, both times – once it might be due to insanity but not twice, so I thought it must be my fault.“ (Woolf 1976, 24) Auch England, insbesondere Oxford, wird zur Zielscheibe ihrer Missbilligung: „The atmosphere of Oxford is quite the chilliest and least human known to me; you see brains floating like so many sea anemonies, nor have they shape or colour.“ (Woolf 1989, 44) Woolf dienten Briefe stets als produktives Medium der Kritik. Wie Leonard war sie nicht nur eine passionierte Schreiberin von Leserbriefen an Zeitschriften wie The Nation oder The New Statesman, in denen sie auch selbst Artikel veröffentlichte, sondern überdies eine aufgrund ihres Scharfsinns, ihres unbestechlichen Blicks für Qualität und ihrer Kompromisslosigkeit gefragte Rezensentin. Ihrer Cousine Madge Vaughan vertraut sie schon früh ihre Leidenschaft für das Rezensieren an: „My real delight in reviewing is to say nasty things; and hitherto I have had to [be] respectful. The worst of it is, I find, that very few people have the brains to write a really bad novel; whereas anyone can turn out a respectable dull one.“ (Woolf 1989, 21) Woolf scheute in ihren schonungslosen Bemerkungen über einige ihrer Zeitgenoss*innen weder Sarkasmus noch verhehlte sie in ihren Briefen ihre Kritik an deren Werken: „How is she to live with a clever man all the days of her life? She is pretty and flaxen and brainless […] must have a man to hold her handkerchief – but her heart is excellent –“ (Woolf 1989, 29) Als Verlegerin der Hogarth Press, die sie im Jahr 1917 gemeinsam mit Leonard gegründet hatte, korrespondierte sie nicht nur mit den von ihnen betreuten Autor*innen, sondern berichtete auch ihren Freund*innen über eingereichte

7.6 Briefnetzwerke – Woolf 

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Manuskripte. An Roger Fry schreibt sie 1925: „We are lying crushed under an immense manuscript of Gertrude Stein’s.“ (Woolf 1989, 197) Im April 1918 erreichte das Manuskript von Joyces Ulysses, vermittelt durch T. S. Eliot, die Hogarth Press. Woolf beschreibt ihre kritische Reaktion in einem Brief an Nicholas Bagenal und zeigt sich von Joyces Sprach- und Themenwahl schockiert: „[A] compatriot of yours, called James Joyce, wants us to print his new novel. I should hesitate to put it into the hand of Barbara, even though she is a married woman. The directness of the language, and the choice of incidents […] have raised a blush even upon such a cheek as mine. Is this an Irish quality?“ (Woolf 1976, 231) Am 17. Mai 1918 lehnt Woolf das Manuskript in einem Schreiben an Harriet Weaver ab und begründet diese Entscheidung mit den fehlenden Kapazitäten ihres kleinen Verlags, ein so umfangreiches Manuskript in Buchform zu produzieren – „the length is an insuperable difficulty to us at present“ (Woolf 1976, 242). Den Woolfs war zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits bekannt, dass die Veröffentlichung des Ulysses, der in den USA bis 1936 sogar verboten wurde, vermutlich rechtliche Folgen für ihren Verlag haben würde. Als ihr das in Paris gedruckte Exemplar im Jahr 1922 schließlich vorlag, konnte sie sich noch nicht gänzlich von ihren Vorurteilen befreien: „Now Mr Joyce … yes, […] I have him on the table. His pages are cut. Leonard is already 30 pages deep. I look, and sip, and shudder.“ (Woolf 1989, 141) Nicht nur Joyce, sondern auch weitere Zeitgenoss*innen wurden zum Gegenstand von Woolfs Kritik, der sie z.  B. in einem Brief an Ottoline Morrell freien Lauf ließ: My dear Ottoline, […]. Poor Rebecca West’s novel bursts like an over stuffed sausage. […] I am now reading Joyce, and my impression, after 200 out of 700 pages, is that the poor young man has only got the dregs of a mind compared even with George Meredith. I mean if you could weigh the meaning on Joyce’s page it would be about 10 times as light as on Henry Jamesʼ. (Woolf 1989, 143–144)

Das für die Briefgattung in der englischen Moderne konstitutive Thema von Privatheit versus Öffentlichkeit gewann in den 1930er Jahren weitere Virulenz, als sich Woolf mit Ansinnen konfrontiert sah, dass einige ihrer Briefe zu Lebzeiten veröffentlicht werden sollten. In den 1930er Jahren erweiterte sich Woolfs Kreis an regelmäßigen Korrespondent*innen u.  a. um Victoria Ocampo, Stephen Spender, Sibyl Colefax und William Plomer. Besonders prägend für die letzte Dekade in Woolfs Leben war die Korrespondenz mit Ethel Smyth. Im Jahr 1930 begegnete Woolf der Komponistin und aktiven Feministin Smyth, die A Room of One’s Own voller Bewunderung gelesen hatte. Zwischen den beiden entstand eine intensive Freundschaft, die sich in häufigen Begegnungen, gemeinsamen öffentlichen Auftritten sowie in einem umfassenden

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Briefwechsel entwickelte: „I get, generally, two letters daily“ (Woolf 1980a, 306), schreibt Woolf im Juni 1930 in ihr Tagebuch. Woolf zeigte sich überwältigt von der energischen Freundin und bittet Saxon Sydney-Turner um seine Einschätzung: „My dear Saxon, […]. What is your opinion of Ethel Smyth? – her music, I mean? She has descended upon me like a wolf on the fold in purple and gold, terrifically strident and enthusiastic“ (Woolf 1989, 263). Woolf beriet Smyth in Fragen des literarischen Stils und kritisierte den zu engen, zu stark durch persönliche Erfahrungen geprägten Horizont in Smyths feministischen Essays: „Leave your own case out of it; theirs will be far far stronger.“ (Woolf 1989, 328) Smyth, die auch als Modell für die Figur der Mrs LaTrobe in Woolfs letztem Roman Between the Acts (1941) gilt, hatte sich vorgenommen, einige von Woolfs Briefen zu publizieren. Woolf, die ihre Briefe nicht auf deren Veröffentlichung hin geschrieben hatte und deren privaten und persönlichen Charakter stets hervorhob, sah sich nun mit der Situation konfrontiert, dass ihre eigenen Briefe Gegenstand eines öffentlichen Interesses werden sollten, und riet Smyth von diesem Plan ab: „When you say for example that you’re going to write something about me and publish parts of my letters – I am flabbergasted. I swear I couldn’t do such a thing where you’re concerned to save my life.“ (Woolf 1982, 86) Da Smyth sich durch dieses Argument nicht an ihrem Vorhaben hindern ließ, verwies Woolf auf eine bereits geschehene Verletzung der Privatsphäre ihrer Briefe: „Talk of my obstinacy and folly in not liking my letters to be quoted! I wrote one, casually, to an unknown but accredited American the other day, hinting at a mild literary scandal. She replies that she gave it to a friend of hers who is publishing it in The Atlantic Monthly! So that’s why I write Private or should, in future.“ (Woolf 1982, 305) Wiederholt betont sie, dass sie im Unterschied zu der flamboyanten Öffentlichkeit, die Smyth für sich reklamierte, die Zurückgezogenheit liebte: „I daresay yours is the right method – full of free publicity – but Iʼm the very opposite – Lord how opposite!“ (Woolf 1982, 236) und insistiert schließlich: „Lets leave the letters till weʼre both dead. Thatʼs my plan. I donʼt keep or destroy but collect miscellaneous bundles of odds and ends, and let posterity, if there is one, burn or not.“ (Woolf 1980b, 272) Die letzten Zeugnisse des so bedeutend in ihren Briefen dokumentierten Lebens sind Virginia Woolfs Abschiedsbriefe. Sie hinterließ im März 1941 drei so kurze wie berührende Abschiedsbriefe an Vanessa und Leonard, die in der British Library erhalten sind. In der letzten der beiden an Leonard gerichteten Notizen fordert sie ihn in einem Postskriptum auf: „Will you destroy all my papers“ (Woolf 1989, 443). Leonard leistete dieser Aufforderung nicht konsequent Folge und hinterließ der Nachwelt u.  a. ihre Briefwechsel, für die zutrifft, was bereits Johann Wolfgang von Goethe am 10.  Februar 1832, kurz vor seinem Tod, an Marianne

7.6 Briefnetzwerke – Woolf 

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Willemer über Briefe geschrieben hat: „Dergleichen Blätter geben uns das frohe Gefühl, daß wir gelebt haben; dies sind die schönsten Dokumente auf denen man ruhen darf.“ (Goethe 2013, 471)

Zitierte Literatur Goethe, Johann Wolfgang von (2013). Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Bd. 4: 1821–1832. Hg. v. Karl R. Mandelkow. München. Joyce, Patrick (2013). The State of Freedom: A Social History of the British State since 1800. Cambridge. Sackville-West, Vita (1985). The Letters of Vita Sackville-West to Virginia Woolf. Hg. v. Louise DeSalvo u. Mitchell A. Leaska. New York. Schuster, Jörg (2014). „Kunstleben“. Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes. Paderborn. Woolf, Virginia (1938 [1966]). Three Guineas. New York. Woolf, Virginia (1950). The Captain’s Death Bed and Other Essays. New York. Woolf, Virginia (1976). The Letters of Virginia Woolf. Bd. II. Hg. v. Nigel Nicholson u. Joanne Trautmann. New York u. London. Woolf, Virginia (1980a). The Diary of Virginia Woolf. Bd. III. Hg. v. Anne Olivier Bell. New York. Woolf, Virginia (1980b). The Letters of Virginia Woolf. Bd. VI. Hg. v. Nigel Nicholson u. Joanne Trautmann. New York. Woolf, Virginia (1982). The Letters of Virginia Woolf. Bd. V. Hg. v. Nigel Nicholson u. Joanne Trautmann. London. Woolf, Virginia (1989). Congenial Spirits. The Selected Letters of Virginia Woolf. Hg. v. Joanne Trautmann Banks. New York. Woolf, Virginia (2009). The Essays of Virginia Woolf. Bd. V. Hg. v. Stuart N. Clarke. London.

Jochen Strobel

7.7 Thomas Mann, Heinrich Mann und die Korrespondenz der Familie Mann 1 Familie als Korrespondenz Briefe wurden immer auch zwischen Mitgliedern einer Familie gewechselt, wenngleich diese Praxis erst seit dem bürgerlichen 18.  Jahrhundert die Konnotation des ‚Privaten‘ trägt. Es war und ist nicht ungewöhnlich, mithilfe von Briefen als Quellen in Editionen und Biographien die Geschichte einer Familie zu schreiben. Da Erben an der Konstitution von Nachlässen naturgemäß beteiligt sind, entscheiden, was archiviert und was vernichtet wird, darf ein besonderes Interesse an der Überlieferung von Familienbriefen erwartet werden, auch und gerade wenn sie sich im Nachlass einer öffentlichen, ja prominenten Person finden. Dem tragen die Editionspraxis wie auch die Briefforschung mitunter Rechnung (vgl. z.  B. Bamberg 2016; Fontane 2002). Denkbar ist im Fall räumlicher Trennung, dass das Familienleben ins Schriftliche ausgelagert wird, dass intime Mitteilungen, Worte der Anerkennung oder Appelle unter diesen Umständen zwangsläufig schriftlich erfolgen. Eine Fülle von Einzel- und Kollektivbiographien wie eben auch Briefeditionen zu den Mitgliedern der Familie Mann kennzeichnet die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts. Infolge deutlich gewachsener Popularität Thomas Manns um seinen 125. Geburtstag im Jahr 2000 herum und insbesondere als Reaktion auf Heinrich Breloers Dokufiction Die Manns. Ein Jahrhundertroman von 2001 wuchs das öffentliche Interesse an den Verflechtungen zwischen den Einzelviten und dem Familiengefüge einerseits, dem Zeitgeschehen andererseits. Dass zumindest die Elterngeneration Mann und Pringsheim, Thomas Mann und seine Geschwister sowie die nachfolgende Generation geradezu die Geschicke eines besseren Deutschland durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch repräsentierten, hatte Breloer als Erster massentauglich zur Geltung gebracht (vgl. Strobel 2009). Prämisse des Mann-Booms scheint die Annahme zu sein, sämtliche Familienmitglieder hätten sich (auch im Streit) lebenslang nicht voneinander lösen können; sie alle blieben im Leben und im (Brief-)Schreiben, im Lieben und im Hassen eine lübische Patrizierfamilie mit dem Hang zu Höherem – Ausnahmen bestätigen die Regel. Nur folgerichtig ist die doppelte Hybridisierung der Einzelbiographien in einer anthologieartigen Briefedition und einer ganz auf chronikalisch-additive Materialanlagerung ausgerichteten Familiengeschichte (vgl. Lahme 2015). Die die Jahre 1919 bis 1981 umfassende Quellensammlung Die Briefe der Manns. Ein Familienporträt (vgl. Lahme et al. 2016) gibt sich im Untertitel als https://doi.org/10.1515/9783110376531-117

7.7 Thomas Mann, Heinrich Mann und die Korrespondenz der Familie Mann 

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Abbild der Kollektivphysiognomie, die schon Breloer als gemeinschaftliche Mitte jenseits der doch auffallend vertretenen Extreme retten wollte. Das Umschlagfoto zeigt denn auch Vater, Mutter, Kinder in vermeintlich trauter Runde am Kaffeetisch. Mit der Porträtmetapher scheint die fliehende Zeit aufgehoben; Momentaufnahme und Denkmal werden eins. Die Briefsammlung als Textkorpus – Vater Thomas darf mit einem Schreiben an die älteste Tochter Erika präludieren  – scheint die Dialoge zwischen den Protagonist*innen mehrerer Generationen zu synchronisieren, wobei es erkennbar schwerfiel, aus der Frühzeit noch Ungedrucktes aufzufinden. Seit 1933 waren die Manns in alle Winde zerstreut, erst jetzt konnte der Brief zur wichtigsten Kommunikationsform werden: Angesichts guter Überlieferung ist nun zu beobachten, wie die Emigration Trennung und epistolare Vereinigung auslöste, wie die Suche nach den Gemeinsamkeiten in der Diversität schriftlich intensiviert wurde. Verbunden sind diese Briefschreiber*innen immer vor allem durch einen hochironisch eingesetzten Familiencode, den Diminutive und auch sonstige Versatzstücke einer stilisierten kindlichen Mündlichkeit kennzeichnen. Um den Patriarchen Thomas kreisen die Briefe bis zum Schluss, doch dessen Frau Katia agiert als kommunikative Schaltstelle. Die Familie wird zum Ort der wechselseitigen sozialen Kontrolle und damit zum Ort eines verdoppelten Panoptismus (denn unter öffentlicher Beobachtung stehen der Nobelpreisträger und die Seinen sowieso). Als bürgerliche Familie ist sie aber auch Agens des Social Networkings, der Sorge umeinander und der Konflikte miteinander. Die Familie als Erbe Thomas Manns hat sich materialiter und idealiter anfänglich in Gestalt von Tochter Erika nicht nur der Ordnung des Nachlasses angenommen, sondern auch einer briefeditorischen Monumentalisierung, hat doch Erika Mann die erste dreibändige Auswahledition der Briefe ihres Vaters besorgt und dabei in Stichworten kommentierend eine Vaterbiographie en miniature beigesteuert (vgl. Mann 1961, 1963, 1965).

2 Thomas Manns Korrespondenzen. ­Überlieferung, Editionslage, Schwerpunkte Mit enormem Abstand hat Thomas Mann das größte Interesse der Editor*innen hervorgerufen: Vor allem seine Kommentare zu eigenen Texten sowie seine Beziehungen zu Autor*innen, Verlegern, Verehrer*innen, Freunden und Kritikern wurden rekonstruiert. Thomas Mann war ein gewissenhafter Korrespondent, für den Briefkontakte Teil seiner kommunikativen Infrastruktur waren und das Briefeschreiben ein eigener Schaffensbereich, dem im Tagesablauf auch besonderer Rang zukam, wie

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er Anfang 1905 aus Anlass einer zeitraubenden Korrespondenz in seinem Notizbuch bemerkte: „Solche Briefe sind eine Kunstübung wie eine andere, und da ich nachmittags an das eigentliche, repräsentirende [sic], symbolisirende ‚Werk‘ fast niemals Hand zu legen wage, so sehe ich nicht, wie die Stunden besser zu benützen wären.“ (Mann 1992, 112–113) Im Wechselspiel von Nähe und Distanz eröffnen Briefe dem zum Rückzug geneigten Autor enorme Möglichkeiten, ein künstliches Ich zu konstituieren, das ins Geschehen eingreift und sich zugleich unangreifbar macht. Hat die in den 1970er und 1980er Jahren erschienene Regestausgabe 14.000  Briefe Manns erfasst (vgl. Mann 1976–1987), so kennt man mittlerweile 25.000, wovon 21.000 (meist in Kopie) im Thomas-Mann-Archiv Zürich liegen. Eine abweichende Zahl nannte auf Anfrage das Archiv Ende 2017, nämlich 15.806 Von-Briefe und 8.087 An-Briefe (vgl. Sprecher 2015, 231; Strobel 2018, 22). Bis in die 1920er Jahre hinein muss man von einem Verlust von bis zu 75 Prozent der Briefe ausgehen; hingegen schrieb Mann drei Viertel der überlieferten Briefe im Exil (vgl. Strobel 2018, 24). Eine vollständige Edition aller Briefe, geschweige denn einschließlich der AnBriefe, ist nicht ernsthaft erwogen worden. Eine weitere Auswahlausgabe nimmt bereits Erschienenes und noch Ungedrucktes auf, zielt wiederum auf ein breites Publikum ab, kommentiert dabei aber sorgfältiger als viele frühere Editionen. Sie versteht sich als „Zwischenstation auf dem Weg zu einer Gesamtausgabe“ (Sprecher 2013, 9) und sollte bis 2016 in insgesamt acht Bänden abgeschlossen sein, ist aber ins Stocken geraten. Zwischen 2002 und 2011 sind drei Bände erschienen (vgl. Mann 2002, 2004, 2011). Im brieflichen Zwiegespräch mit Kritiker*innen und Literaturwissenschaftler*innen – teils schon vor dem Ersten Weltkrieg und dann verstärkt in der Zwischenkriegszeit – wie Arthur Eloesser, Félix Bertaux, Philipp Witkop, aber auch und gerade mit dem George-Adepten und Nietzsche-Spezialisten Ernst Bertram geht es Mann um eine Herstellung und Bewahrung von Konsens durch Spiegelung und Analogiebildung sowie durch Syntheseformeln. Nicht nur zwischen Schreiber und Adressat*innen werden Analogien benannt und strapaziert (vor allem, was das Publizieren angeht), sondern ebenso zwischen dem Briefschreiber Mann und seinen Romanwelten. Deren Kommentierung und Selbstdeutung durch den Autor mündet in passgenaue Übertragungen auf die Texte und die Schreibernöte der Adressat*innen, die sich von dem scheinbar empathischen Schriftsteller geschmeichelt fühlen dürfen. Es darf vermutet werden und ist mitunter auch nachweisbar, dass mindestens ein Nebeneffekt von Korrespondenzen mit Kritikern und Germanisten darin bestand, sich von diesen gute Publicity zu erhoffen (vgl. Strobel 2018; Marx 2018). Zum Austausch mit Familienangehörigen, Freunden, Kritikern und Verlegern kommen in den 1920er Jahren mehr und mehr

7.7 Thomas Mann, Heinrich Mann und die Korrespondenz der Familie Mann 

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Fanpost, Vortrags- und Lesungsanfragen, Bitten um politische Stellungnahmen – Geschäftspost gleichsam, die teils Ehefrau Katia, teils Sekretär*innen in die Hand nahmen. Dies bedeutet aber, dass der Briefausstoß der ‚Firma Thomas Mann‘ noch größer als hier beziffert war, da offenbar viele Briefe nicht von ihm selbst unterzeichnet wurden. Teil des ‚Werkes‘ sind Thomas Manns Briefe als mehr oder weniger individuell adressierte Sprechakte neben anderen, also etwa Vortragstexten. Mit sekundären Briefleser*innen, ja: mit dem eigenen Nachruhm rechnete Mann schon früh. ‚Modern‘ sind diese Briefe nicht, indem sie Schreibweisen der Moderne in den Brief überführen, sondern indem sie als Gesamtkorpus vom lebenslangen Schreibprojekt einer Totalisierung und Homogenisierung von ‚Leben‘ und ‚Werk‘ zeugen. Die Briefe sind nicht „eigene Kunstwerke“ (so Lang 2013, 119), sondern sie setzen zitativ Schreibgesten und Figurenperspektiven aus den literarischen Texten fort oder spiegeln sie. Zugleich markieren die Briefe eine Distanz zu diesen Texten, indem sie eben auch konkrete Gabe an die Adressat*innen sind, mit denen oft von den fiktionalen Texten gehandelt wird. Thomas Mann erprobte das schon auf das 21. Jahrhundert vorausweisende Verhalten, Intimität vielleicht nicht live, aber durchaus für eine künftig den Beobachterplatz einnehmende Öffentlichkeit virtuell auszuagieren. Erschaffen wird eine von Adressat*in zu Adressat*in, von Zweck zu Zweck wandelbare, mit jedermann brieflich kommunizierende persona, die geschmeidiger ‚auftritt‘ als der öffentliche oder der private Schöpfer. Für den immer wieder narzissmustheoretisch argumentierenden Thomas-Mann-Archivar Hans Wysling war die Briefpraxis „ein lebenslänglich fortgesetzter Versuch, aus der Einsamkeit auszubrechen“ (Wysling 1976, XII). Wer das ‚Erkältende‘ von Manns Persönlichkeit kennengelernt hatte, den verwunderte dann auch nicht „der distanzierend-repräsentative Ton“ vieler seiner Briefe (Eder ²1995, 744). Dennoch sind diese so vielfältig, wie es Briefe seit spätestens dem 18. Jahrhundert nun einmal zu sein pflegen: Selbstzitat und stilistische Erprobung, Rollendiversifizierung und Kontaktpflege, natürlich auch ein metatextuelles ‚Schreiben über das Schreiben‘ laufen von Fall zu Fall ab (vgl. Lang 2013, 122–154). Hat Thomas Mann bekanntlich die Nähe zu zeitgenössischen Autor*innen von Rang kaum gesucht, so liegen doch zahlreiche Briefwechsel mit Schriftsteller*innen vor, aus denen der mit Hermann Hesse in seiner Mittelmäßigkeit herausragt: Zwei Vielgelesene bezeugen sich wechselseitig die gehörige Wertschätzung, parlieren ein wenig feuilletonesk und berichten einander über gemeinsame Bekannte (vgl. Mann und Hesse 1978). Spektakulärer ist Manns jahrzehntelange Auseinandersetzung mit seiner größten amerikanischen Verehrerin, Mäzenin und Vermittlerin, der Journalistin und politischen Aktivistin Agnes E. Meyer, die Manns auch finanziell überlebenswichtigen Erfolg auf dem großen amerikanischen Markt seit 1938 wesentlich förderte (vgl. Mann und Meyer 1992).

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Dass Mann seine Korrespondent*innen zugunsten seines Ruhms zu instrumentalisieren versuchte, lässt sich schon an seinen frühen Briefen an den Jugendfreund Otto Grautoff ablesen (vgl. Mann 1975). Mehr und mehr, spätestens im Exil, wirken Manns Briefe distanziert (auch da, wo sich der Schreiber ‚privat‘ gibt), fast offiziös. Mit der Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger entsteht ein zwar unregelmäßig verfolgter, aber doch über mehr als zwei Jahrzehnte währender Briefwechsel, der von Begegnungen gekrönt war – aber für Mann scheint die Bekanntschaft mehr Geschäft als Bedürfnis gewesen zu sein (vgl. Mann und Hamburger 1999). Briefpartner*innen dienten dem Großschriftsteller nicht selten auch als Materiallieferanten. Wer Doktor Faustus kennt, weiß, dass Arnold Schönberg nolens volens dieser Art von Dienstleistung für würdig erachtet wurde. Die Edition der Korrespondenz erbringt als Spurensuche indessen wenige Ergebnisse – die beigegebenen Archivalien dokumentieren Manns Vorgehensweise besser als die meist knappen Briefe (vgl. Schönberg und Mann 2009). Paradigmatisch für die schriftlichen Dialoge zwischen Thomas Mann und ‚Spezialist*innen‘, die mit ihrem Fachwissen zur Werkgenese beitragen durften, ist der schon 1945 publizierte Briefwechsel mit dem Mythologen Karl Kerényi. Die Publikation der im Umkreis des Joseph-Romans geführten Auseinandersetzung im letzten Kriegsjahr legt Zeugnis ab von der Lebendigkeit eines geistigen Austauschs zwischen Philologe und Literat auch in einer für den europäischen Geist finstren Epoche (vgl. Kerényi 1945). Öffentlich wurden Manns Briefe bereits zu Lebzeiten häufiger gemacht – als Offener Brief angelegt war die berühmte Entgegnung Manns auf die ebenfalls brieflich ergangene Aufforderung des in NS-Deutschland verbliebenen Autors Walter von Molo, nach Deutschland zurückzukehren. Manns Invektive gegen die selbsternannte ‚Innere Emigration‘ und seine fast wütend vorgetragene Verweigerung der erbetenen Rückkehr zog weite Kreise; sie stieß zuvörderst eine Debatte um die Legitimität des Exils an (und in zweiter Linie um eine mögliche Rechtfertigung der von vielen getroffenen Entscheidung zugunsten eines Verbleibs in NS-Deutschland). Der Doppelcharakter des Offenen Briefs vermochte private Betroffenheit und öffentliche Anklage in zugespitzter Form zu verbinden. Die von deutsch-jüdischen Emigrant*innen begründete, in New York erscheinende Wochenzeitung Aufbau publizierte am 28. September 1945 als erstes Organ den Brief – zuerst sollten also die Emigrant*innen selbst Thomas Manns Standpunkt kennenlernen, nicht etwa die deutsche Nachkriegsöffentlichkeit, die in toto Manns Schuldspruch traf – wenngleich das Brief-Ich in einer dialektischen Volte auch eigene Schuld einbekennt (vgl. Strobel 2013).

7.7 Thomas Mann, Heinrich Mann und die Korrespondenz der Familie Mann 

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3 Der Briefwechsel zwischen Thomas Mann und Heinrich Mann Die fragmentarisch erhaltene Korrespondenz zwischen Thomas und Heinrich Mann nimmt alle angesprochenen Motive in besonderer Zuspitzung auf: vertrauten Bericht, Sorge und zugleich Konkurrenz in der Familie, mehr noch den Konkurrenzkampf auf dem literarischen Feld. Bis zum Zerwürfnis der Weltkriegsjahre sind fast ausschließlich die Briefe des jüngeren Bruders erhalten – zu vermuten ist, dass dieser die Briefe des verhassten Älteren vernichtet hat –, der sein lebenslang gepflegtes Selbstbild des strebsamen Leistungsethikers u.  a. hier entwirft. Weidet er sich einerseits an seinen Leiden, die er brüderlich auserzählt, so beliebt er andererseits, Details seines wachsenden Ruhmes brühwarm zu kolportieren. Der in einer Kaufmannsfamilie zweifellos überkommene ökonomische Impuls, konvertiert in ästhetische Leistung und künstlerischen Erfolg, begegnet dem Ruf nach Fürsorge und Verständnis, wenn Selbstekel oder gar Suizidneigung beim Jüngeren, bald Erfolgreicheren überhandnehmen. Der Konflikt trägt gewiss Züge eines Schattengefechts, das über mehrere Textgattungen geführt wird: Brief, Tagebuch, Roman und diverse Essays wie vor allem Heinrich Manns Zola und Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen. Ein Schattengefecht war es, wie Peter Stein bemerkt hat, da jeder von beiden am anderen das anprangert, was er selbst zu sein fürchtet (nämlich gesund, oberflächlich, ein Nicht-Künstler; vgl. Stein 2002, 81). Vor allem ist es doch der Narzisst Thomas, der sich seines Gegenübers bedient, um „um Deinet- und unseres Verhältnisses willen  […] Gedankenqual“ auszustehen und sich abzugrenzen (Heinrich an Thomas am 8.1.1904, Mann und Mann 1995, 91). Der kleine Bruder wirbt um Anerkennung als Autor und um Zuneigung als ein hochsensibler Nächster – und schreckt vor ästhetisch-psychologischen Tiefschlägen oder auch gönnerhafter Herablassung nicht zurück. Nach dem Aufstieg zum Großschriftsteller kann er dem verarmten brüderlichen Gegner großherzig Darlehen offerieren. Noch dann und bis zum Schluss reklamiert Thomas Mann die Familie als Schicksalsgemeinschaft, der man sich nicht entziehen dürfe und der man zumindest mit Haltung zu begegnen habe. Auf dem Tiefpunkt des Streits wirft ihm Heinrich in einem nicht abgeschickten Brief indessen das vor, was heutige Leser*innen Thomas Mann’scher Briefe manchmal sogar in Familienbriefen noch wahrnehmen können: ein hinter Förmlichkeit verborgenes Nichterreichen des Gegenübers, vielleicht ein Desinteresse dessen, der nur an sich selbst interessiert ist, „die Unfähigkeit, den wirklichen Ernst eines fremden Lebens je zu erfassen. Um dich her sind belanglose Statisten“ (Heinrich an Thomas am 5.1.1918, Mann und Mann 1995, 178). Der Briefentwurf endet: „Die Stunde kommt, ich will es hoffen, in der Du Menschen erblickst, nicht

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Schatten, u. dann auch mich.“ (Mann und Mann 1995, 179) Nach erfolgter Versöhnung wechselt man teils belanglose Ansichtskartenprosa, beginnt einander aber in politischer Hinsicht zu unterstützen, oft einhergehend mit Bekundungen des Familiensinns. Die Exilkorrespondenz erfordert die Vermittlung neuer Kontakte und Publikationschancen, man tauscht sich über Rückkehroptionen und Utopien aus; Heinrich wird nun ökonomisch wie menschlich von Thomas immer abhängiger. Das Weltmännische des wohlhabenden Wirtschaftsbürgers schlägt bei beiden unisono durch. Da Heinrichs Briefe der frühen Jahre verschollen sind, musste editorisch ein sehr einseitiger Dialog entstehen; Heinrich als bloßer Stichwortgeber und Fernstehender kommt erst spät und fragmentarisch zu Wort. Zudem wiegt schwer, dass mit Hans Wysling der Thomas-Mann-Spezialist seiner Generation sich der Edition annahm, wir Leser*innen also wie selbstverständlich die Perspektive des jüngeren Bruders einnehmen.

4 Heinrich Mann und ‚der Rest der Familie‘ Begreift man die Summe der überlieferten Briefe als Familienkorrespondenz, dann ist Heinrich als Briefschreiber, selbst verglichen mit seinen Neffen und Nichten, kaum zur Kenntnis genommen worden. Heinrich Manns Briefe sind auf viele Standorte verteilt; insgesamt an die 3.000  Briefe befinden sich allein im Heinrich-Mann-Archiv der Berliner Akademie der Künste sowie im Prager Literaturarchiv. Vielleicht am charakteristischsten für den frankophonen Heinrich Mann ist der umfangreiche, bereits seit 1922 gepflegte Briefwechsel mit dem französischen Autor, Kritiker und Literaturwissenschaftler Félix Bertaux, ein Dokument deutsch-französischer Aussöhnungsbemühungen bald nach Ende des Ersten Weltkrieges (vgl. Mann und Bertaux 2002). Bertaux war Heinrichs (und auch Thomas’!) Multiplikator in Frankreich. Ediert ist zudem u.  a. die Korrespondenz mit dem in New York ansässigen Literaturagenten Barthold Fles, der die ökonomische Misere des gealterten Heinrich Mann im ungeliebten amerikanischen Exil zutage fördert (vgl. Mann und Fles 1992). Ist es lebens- und werkgeschichtlich das Exil, das die Familie Mann gleichermaßen trennte wie zusammenhielt, so sind es Kritiker*innen und Literaturwissenschaftler*innen, die das Nachleben der Manns vorbereiteten und den Boom der vergangenen 20 Jahre erst ermöglichten. Es ist daher bezeichnend, dass sämtliche gewechselten Briefe zwischen dem Bibliographen Klaus W. Jonas und zahlreichen Familienmitgliedern aus drei Generationen mittlerweile ebenfalls publiziert wurden – beginnend mit einer fußfälligen Annäherung des jungen Universitätsassistenten an den Nobelpreisträger im Jahr 1949, mit freundlich-geschmeichelter

7.7 Thomas Mann, Heinrich Mann und die Korrespondenz der Familie Mann 

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Antwort und Autogrammfoto (vgl. Jonas 2014): Ruhm wird verwaltet, exegetische Bemühungen werden vorbereitet. Thomas Manns Kinder sind in Auswahleditionen präsent: Golo Mann pflegte schon als Student Kontakt zu hochrangigen Intellektuellen (Karl Jaspers, Erich von Kahler), im Alter tauchen noch prominentere Namen bis hin zu Konrad Adenauer und Willy Brandt auf und deuten auf Golos Emanzipation vom übermächtigen Vater hin (vgl. Mann 2006). Dies gilt gerade nicht für Erika und Klaus Mann, deren Biographien als Trabanten ihrer Eltern und Geschwister auch in den Briefeditionen repräsentiert sind. Klaus Manns letzter Brief, einen Tag vor seinem Suizid geschrieben, ging an Mutter und Schwester. Viele Briefe aus Erika Manns ‚Nachleben‘ nach dem Tod des Vaters drehen sich um diesen und um ihren Bruder Klaus, deren beider Nachlässe sie durchgearbeitet hat (vgl. Mann 1984/85, 1987). Nun weben die Editor*innen das Briefnetz um Thomas Mann immer dichter, ob es sich um die zwischen Klatsch und Lebenshilfe changierenden, seit 1933 auch ins Politische wechselnden Briefe Hedwig Pringsheims an ihre Tochter Katia handelt oder deren Briefe an ihren Mann Thomas (vgl. Pringsheim 2013; Mann 2008).

5 Desiderate Die bisherige Konzentration auf herausragende Briefwechsel sowie auf Auswahleditionen, die als Lese- oder Studienausgaben zu bezeichnen wären, beruht auf dem Engagement Einzelner und dürfte teils auch der Meinung geschuldet sein, dass Texte des populären Autors Thomas Mann in ‚verkäuflichen‘ Editionen zu präsentieren seien. Es wäre aber längst an der Zeit, ein umfassendes elektronisches Briefportal zu Thomas Mann zu erarbeiten, ausgehend von den Metadaten der Regestausgabe wie auch von den heute zur Verfügung stehenden Datenbanken, wobei die Erschließungstiefe von Brief zu Brief flexibel gehandhabt werden könnte. Die Korrespondenz Thomas Manns – auch die in seinem Auftrag geführte Geschäftskorrespondenz – sollte allgemein zugänglich gemacht und mit Werk und Tagebüchern verknüpft werden, ähnlich wie es derzeit für Goethe im Propyläen-Projekt geschieht (vgl. Digitale Akademie). Die zahlreichen bestehenden Briefwechseleditionen könnten so elektronisch zusammengeführt, ergänzt und mit Normdaten angereichert werden. Anhand seiner epistolaren Aktivitäten wäre näherhin zu klären, wie Thomas Mann Leserlenkung betreibt, wie er sein Bild in der Öffentlichkeit selbst prägt und manipuliert. Ganz anders ist der Forschungsstand zu Heinrich Mann, dessen lebenslang gepflegte internationale Korrespondenznetzwerke erst einmal archivarisch rekon-

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struiert werden müssten, ehe an eine repräsentative Auswahledition zu denken wäre. Derartige Leseausgaben liegen für andere Familienmitglieder längst vor, für den bedeutenden Autor Heinrich Mann bedauerlicherweise nicht. Da seit längerem in Berlin und Prag wichtige Quellen gut zugänglich sind, ist es höchste Zeit, ein für die Geschichte des deutschsprachigen Literaturbetriebs der Moderne und seine internationale Vernetzung zentrales Briefœuvre kennenzulernen. Die Korrespondenzen der Familienmitglieder sind seit 1933 selbstverständlicher Teil der Kommunikationsströme der Emigration aus dem Deutschen Reich. Künftige Projekte mittlerer Größenordnung sollten die von dem verdienstvollen Forschungsprojekt Exilbriefnetzwerk (vgl. Exilnetz) angestoßene Debatte um die Fungibilität des Briefs fortführen, wenn es um die Zirkulation sozialer Energien zwischen weit voneinander entfernten Zentren ging. Die überlieferten Schreiben der Familie Mann wären als Nukleus aufgrund des insgesamt schon guten Forschungsstandes besonders tauglich.

Zitierte Literatur Bamberg, Claudia (2016). „Briefsteller ohne Briefe. August Wilhelm Schlegel und das Briefnetzwerk seiner Familie“, in: August Wilhelm Schlegel im Dialog. Epistolarität und Interkulturalität. Hg. v. Jochen Strobel. Paderborn: 139–154. Eder, Jürgen (²1995). „Thomas Mann: Briefwechsel mit Schriftstellern“, in: Thomas-MannHandbuch. Hg. v. Helmut Koopmann. Stuttgart: 842–772. Fontane, Theodor (2002). Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Familienbriefnetz. Hg. v. Regina Dieterle. Berlin u. New York. Jonas, Klaus W. (2014). Drei Generationen Familie Thomas Mann. Aus dem Briefwechsel eines Bibliografen. Hg. u. komm. v. Dirk Heißerer. Würzburg. Kerényi, Karl (1945). Romandichtung und Mythologie. Ein Briefwechsel mit Thomas Mann. Zürich. Lahme, Tilmann (2015). Die Manns. Geschichte einer Familie. Frankfurt a. M. Lahme, Tilmann, Holger Pils u. Kerstin Klein (2016) (Hg.). Die Briefe der Manns. Ein Familienporträt. Frankfurt a. M. Lang, Daniel (2013). „Thomas Mann – der Briefschreiber“, in: Thomas Mann u. Emil Liefmann. Briefwechsel. Hg. v. Daniel Lang. Frankfurt a. M.: 117–161. Mann, Erika (1984/85). Briefe und Antworten. Bd. I: 1922–1950. Bd. II: 1951–1969. Hg. v. Anna Zanco Prestel. München. Mann, Golo (2006). Briefe 1932–1992. Hg. v. Tilmann Lahme. Göttingen. Mann, Heinrich u. Barthold Fles (1992). Briefwechsel mit Barthold Fles 1942–1949. Hg. v. Madeleine Rietra. Berlin u. Weimar. Mann, Heinrich u. Félix Bertaux (2002). Briefwechsel 1922–1948. Hg. v. Peter-Paul Schneider. Frankfurt a. M. Mann, Katia (2008). „Liebes Rehherz“. Briefe an Thomas Mann 1920–1950. Hg. u. komm. v. Inge Jens. München.

7.7 Thomas Mann, Heinrich Mann und die Korrespondenz der Familie Mann 

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Mann, Klaus (1987). Briefe und Antworten 1922–1949. Hg. u. mit einem Vorwort v. Martin Gregor-Dellin. München. Mann, Thomas (1961). Briefe 1889–1936. Bd. 1. Hg. v. Erika Mann. Frankfurt a. M. Mann, Thomas (1963). Briefe 1937–1947. Bd. 2. Hg. v. Erika Mann. Frankfurt a. M. Mann, Thomas. (1965). Briefe 1947–1955 und Nachlese. Bd. 3. Hg. v. Erika Mann. Frankfurt a. M. Mann, Thomas (1975). Briefe an Otto Grautoff (1894–1901) und Ida Boy-Ed (1903–1928). Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. Mann, Thomas (1976–1987). Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. 5 Bde. Bearb. u. hg. v. Hans Bürgin u. Hans-Otto Mayer. Mit einem Vorwort v. Hans Wysling. Frankfurt a. M. Mann, Thomas (1992). Notizbücher 7–14. Hg. v. Hans Wysling u. Yvonne Schmidlin. Frankfurt a. M. Mann, Thomas (2002). Briefe I. 1889–1913. Text und Kommentar (= Thomas Mann: Werke – Briefe – Tagebücher. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe [= GKFA], Bd. 21). Hg. v. Thomas Sprecher, Hans R. Vaget u. Cornelia Bernini. Frankfurt a. M. Mann, Thomas (2004). Briefe II. 1914–1923. Text und Kommentar (= GKFA Bd. 22). Hg. v. Thomas Sprecher, Hans R. Vaget u. Cornelia Bernini. Frankfurt a. M. Mann, Thomas (2011). Briefe III. 1924–1932. Text und Kommentar. (= GKFA Bd. 23.1 u. 23.2). Hg. v. Thomas Sprecher, Hans R. Vaget u. Cornelia Bernini. Frankfurt a. M. Mann, Thomas u. Käte Hamburger (1999). Briefwechsel 1932–1955. Hg. v. Hubert Brunträger. Frankfurt a. M. Mann, Thomas u. Hermann Hesse (1978). Briefwechsel. Hg. v. Anni Carlsson. Frankfurt a. M. Mann, Thomas u. Heinrich Mann (1995). Briefwechsel 1900–1945. Hg. v. Hans Wysling. Frankfurt a. M. Mann, Thomas u. Agnes E. Meyer (1992). Briefwechsel 1937–1955. Hg. v. Hans Rudolf Vaget. Frankfurt a. M. Marx, Friedhelm (2018). „Betrachtungen eines Politischen. Thomas Manns Offene Briefe zur Zeit der Weimarer Republik“, in: Deutschsprachige Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen. Texte – Kontexte – Netzwerke. Hg. v. Sabina Becker u. Sonja Goldblum. München: 38–48. Pringsheim, Hedwig (2013). Mein Nachrichtendienst. Briefe an Katia Mann. Hg. u. komm. v. Dirk Heißerer. 2 Bde. Göttingen. Schönberg, Arnold u. Thomas Mann (2009). Apropos Doktor Faustus. Briefwechsel Arnold Schönberg – Thomas Mann, Tagebücher und Aufsätze 1930–1951. Hg. v. E. Randol Schoenberg. Wien. Sprecher, Thomas (2013). Kleine Anmerkungen zur Thomas-Mann-Briefausgabe. Bonn. Sprecher, Thomas (2015). [Art.] „Briefe“, in: Thomas-Mann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Andreas Blödorn u. Friedhelm Marx. Stuttgart: 230–236. Stein, Peter (2002). Heinrich Mann. Stuttgart u. Weimar. Strobel, Jochen (2009). „Der Großschriftsteller als Fernsehstar. Heinrich Breloers Fernsehproduktion Die Manns“, in: Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Hg. v. Markus Joch, York-Gothart Mix u. Norbert Christian Wolf. Tübingen: 269–287. Strobel, Jochen (2013). „Ein ‚J’accuse‘ – an alle! Thomas Manns Offener Brief an Walter von Molo“, in: Briefkultur von Martin Luther bis Thomas Bernhard. Texte und Interpretationen. Hg. v. Jörg Schuster u. dems. Berlin u. Boston: 317–332. Strobel, Jochen (2018). „Nach-Erleben, Spiegeln, Deuten. Thomas Manns Korrespondenzen mit Kritik und Literaturwissenschaft vor 1933“, in: Deutschsprachige Briefdiskurse zwischen

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 7 20./21. Jahrhundert

den Weltkriegen. Texte – Kontexte – Netzwerke. Hg. v. Sabina Becker u. Sonja Goldblum. München: 17–37. Wysling, Hans (1976). „Zu Thomas Manns Briefwerk“, in: Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. 5 Bde. Bearb. u. hg. v. Hans Bürgin u. Hans-Otto Mayer. Frankfurt a. M.: V–XII.

Online-Quellen Propyläen: http://www.digitale-akademie.de/projekte/propylaeen-forschungsplattform-zugoethes-biographica/ (23.3.2019). Exilnetz: http://exilnetz33.de/de/ (23.3.2019).

Stephan Kraft

7.8 Gottfried Benn Nachdem sein Briefpartner Friedrich Wilhelm Oelze Gottfried Benn mitgeteilt hatte, dass seine Briefe an ihn das Kriegsende 1945 unversehrt überstanden haben, antwortete dieser am 27. Februar 1946: „Nun schreiben Sie auch noch von unseren Briefen, – meinen, diesen Stümpereien, klobigen Betastungen mir doch unzugänglich gebliebener Grade, Stigmata mangelbehafteter Erfassungsmöglichkeiten, plumper Versuche, eigentlich nur Abhustungsbewegungen verstopfter Atmungsorgane.“ (Benn und Oelze 2016, Bd. 2, 123) Rhetorisch nahm Benn hier deutlich Abstand von einem Genre, das in der Tat in seiner lebensweltlichen Bedingtheit die größtmögliche Differenz zu dem von ihm selbst propagierten Ideal der „hinterlassungsfähigen Gebilde“ (Benn 1989, 251) markiert, dem vollendeten Gedicht, das allein von einem Lyriker erhalten bleibe. Und gegenüber seinem Verleger Max Niedermayer bemerkte er: „Von mir werden einmal keine Briefe auftauchen wie von Rilke – ich bin kein Briefschreiber“ (Niedermayer 1966, 158). Dagegen, solche Bemerkungen allzu wörtlich zu nehmen, spricht allerdings seine am 15. Dezember 1951 gegenüber Oelze ausdrücklich gegebene Erlaubnis, seine Briefe an ihn nach seinem Tod zu veröffentlichen, und dagegen spricht auch, dass einige nicht unwichtige Publikationen Benns eigentlich Abdrucke von um Begrüßungen und Schlussformeln gekürzten Briefen darstellen. Am prominentesten ist hierbei sicherlich der „Berliner Brief, Juli 1948“, der zugleich das erste Schreiben von Benn an Hans Paeschke, den Herausgeber des Merkur, vom 18. Juli 1948 darstellt (vgl. Benn 2004, 9–15). Ein weiteres Beispiel ist der Rezensionsessay zu Julius Schmidhausers Das Reich der Söhne (vgl. Benn 1989, 162–165), der auf einem Schreiben Benns an Wolf Meinhard von Staa vom Verlag Walter de Gruyter vom 1. Februar 1940 basiert. Benn war also sehr wohl ein Briefschreiber, wie er auch selbst wusste, ohne es allerdings offen eingestehen zu wollen. Und folgerichtig erschien schon im Jahr 1957, nur ein Jahr nach seinem Tod, eine später vielzitierte Edition Ausgewählte[r] Briefe (vgl. Benn 1957), die ein großes Echo auslöste. In verschiedenen Sammelpublikationen und auch separat folgten dann noch weitere Auszüge aus diversen Briefwechseln, bis in den Jahren 1977 bis 1980 mit der ersten, dreibändigen Ausgabe der Briefe an Oelze (ersetzt durch Benn und Oelze 2016) die Zeit der geschlossenen Editionen größerer Bestände anbrach. In den Fällen der Geliebten waren in der Regel nur die Schreiben von Benn selbst erhalten, bei Verlegern und Kollegen konnten hingegen öfter Ausgaben von Briefwechseln präsentiert werden. Insgesamt weiß man von rund 5.500 Schreiben Benns (inklusive Widmungen und Telegrammen), von denen etwa 4.000 überliefert und bislang 3.170 https://doi.org/10.1515/9783110376531-118

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publiziert sind. Auch viele der bislang noch nicht veröffentlichten Briefe werden über kurz oder lang im Druck greifbar sein. Von den Briefen an Benn sind dagegen deutlich weniger erhalten, vor allem aus der Zeit vor 1945. Benn pflegte, wo immer ihm dies möglich schien, einen sehr spontan und direkt wirkenden Briefduktus, aus dem zahlreiche pointierte Reflexionen und Einzelbemerkungen herausstechen. Einen Knotenpunkt seiner epistolaren Tätigkeit bildete dabei der Briefwechsel mit dem Bremer Kaufmann und BennBewunderer Friedrich Wilhelm Oelze, der in nicht weniger als 1.349 Schreiben aus den Jahren 1932 bis 1956 überliefert ist, von denen 748 von Benn stammen. Vor allem in der Zeit des ‚Dritten Reichs‘ und der direkten Nachkriegszeit ist dieser Briefwechsel aufs Engste mit der literarischen Produktion Benns verbunden  – zum einen dadurch, dass ihm zahlreiche in ihrer Entstehungszeit nicht publizierbare Gedichte Benns beilagen, zum anderen aber auch dadurch, dass viele der Schreiben enge Verbindungen zu Benns parallel entstandenen Prosatexten unterhalten. Dabei stehen tatsächlich spontan hingeworfene Notizen neben ausgearbeiteten, selbst bereits essayartigen Schreiben an den Korrespondenzpartner. Auch wenn insgesamt nur wenige Briefentwürfe erhalten sind, zeigt sich an diesen Fällen exemplarisch, dass – wie etwa auch beim „Berliner Brief“ an Paeschke  – besonders ausgearbeitete Schreiben durchaus mehrere Überarbeitungsstufen hinter sich gehabt haben konnten. Pointierte Formulierungen finden sich aber auch außerhalb der im engeren Sinne literarischen Briefe, wobei diese parallel dazu häufig auch in Benns Kalendern und Notizbüchern oder in Briefen an andere Empfänger*innen auftauchen. Oft ist nicht sicher rückführbar, wo der jeweilige sprachliche Einfall seinen Ursprung hatte und seinen ersten Niederschlag gefunden hat, bevor die Wendungen und Passagen dann in andere Formate und schließlich in die literarischen Texte hinüberwanderten. Intensivere Briefkontakte mit anderen bekannten Autor*innen oder Philosoph*innen hat Benn nicht gepflegt. Hier blieben die Schreiben fast durchgehend sporadisch und zudem recht förmlich, wie sich beispielhaft am publizierten Briefwechsel mit Ernst Jünger zeigt. Seine briefliche Hochform erreichte Benn dagegen im vertrauten Rahmen gegenüber Geliebten, Freunden und Bewunderern, deren Wohlwollen er sich sicher sein konnte. Höchst bemerkenswert, wenn auch bislang noch wenig beachtet, ist Benn als Verfasser von Liebesbriefen (u.  a. an Tilly Wedekind, vgl. Benn 1986; Elinor Büller, vgl. Benn 1992; und Ursula Ziebarth, vgl. Benn 2001). Diese Schreiben wirken oft in hohem Maße spontan und sind doch zugleich von hoher literarischer Qualität: Vielfach sehr kurz, schnell geschrieben, in hoher Frequenz verschickt sowie stark an den jeweiligen Kommunikationskontext gebunden, erscheinen sie strukturell heutiger elektronischer Kommunikation gar nicht so unähnlich.

7.8 Gottfried Benn 

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Ebenfalls interessant ist schließlich die materielle Seite der Briefkommunikation Benns, bei der neben seiner notorisch schwer lesbaren, flüchtigen Handschrift vor allem die große Bandbreite an Beschreibstoffen hervorsticht. Dabei markieren die speziell für den Briefpartner Oelze angeschafften personalisierten blauen Briefbögen das eine Extrem, das Notieren auf gerade zufällig herumliegenden Zetteln und Rezeptformularen das andere. Weiterhin sind die meisten Briefwechsel Benns von einem regen Austausch von zahlreichen Beilagen begleitet – Manuskripten, Widmungsexemplaren, sonstigen Büchern, Zeitungsartikeln u.v.m. Die Forschung nutzte die Briefe Benns bislang fast ausschließlich zur Erhellung von biographischen Umständen sowie zu Fragen der Genese seiner literarischen Texte im engeren Sinne. Vor allem der Oelze-Briefwechsel wird zudem als ein Forum für poetologische Reflexionen geschätzt. Bei Erscheinen lösten die Briefbände zumeist lebhafte Reaktionen in den Feuilletons aus, doch außer zu den Briefen an Oelze gibt es bislang praktisch keine Studien, die sich mit den einzelnen Briefwechseln selbst und ihrer unbestreitbar vorhandenen Literarizität auseinandersetzen. Auch zu Benn als Briefschreiber insgesamt liegt noch keine separate Untersuchung vor. Einen ersten Gesamtüberblick verschafft hier das Benn-Handbuch aus dem Jahr 2016 mit einer Einführung in das Thema und einer ganzen Reihe von Artikeln zu einzelnen Konvoluten (vgl. Hanna und Reents, 255–284), die in ihrer Mehrzahl von Holger Hof stammen, der zugleich Editor der meisten neueren Briefausgaben ist.

Zitierte Literatur Benn, Gottfried (1957). Ausgewählte Briefe. Mit einem Nachwort von Max Rychner. Wiesbaden. Benn, Gottfried (1986). Briefe an Tilly Wedekind. 1930–1955. Hg. v. Marguerite Valerie Schlüter. Stuttgart. Benn, Gottfried (1989). Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. Bd. IV: Prosa 2 (1933–1945). Hg. v. Gerhard Schuster. Stuttgart. Benn, Gottfried (1992). Briefe an Elinor Büller. 1930–1937. Hg. v. Marguerite Valerie Schlüter. Stuttgart. Benn, Gottfried (2004). Briefwechsel mit dem ‚Merkur‘. 1948–1956. Hg. v. Holger Hof. Stuttgart. Benn, Gottfried u. Friedrich Wilhelm Oelze (2016). Briefwechsel 1932–1956. 4 Bde. Hg. v. Harald Steinhagen, Stephan Kraft u. Holger Hof. Göttingen u. Stuttgart. Benn, Gottfried u. Ursula Ziebarth (2001). Hernach. Benns Briefe an Ursula Ziebarth. Mit Nachschriften zu diesen Briefen von Ursula Ziebarth und einem Kommentar von Jochen Meyer. Göttingen.

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Hanna, Christian M. u. Friederike Reents (2016). Benn-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart. Niedermayer, Max (1966). „Gottfried Benns Briefe aus Hannover an Ellinor BüllerKlinkowström“, in: Gottfried Benn. Den Traum alleine tragen. Neue Texte, Briefe, Dokumente. Hg. v. Paul Raabe u. dems. Wiesbaden: 156–201.

Weiterführende Literatur Kraft, Stephan (2014/2015). „Benn, Oelze und das Dritte Reich. Zum Oelzebriefwechsel im Nationalsozialismus“, in: Benn Forum. Beiträge zur literarischen Moderne, 4: 11–32. Kocher, Ursula (2007). „‚Dank für Brief.‘ Friedrich Wilhelm Oelzes Briefwechsel mit Gottfried Benn“, in: Gottfried Benn (1886–1956). Studien zum Werk. Hg. v. Walter Delabar. Bielefeld: 201–210. Rang, Andreas (2002). „‚Das, was lebt, ist etwas anderes als das, was denkt.‘ Gottfried Benns Briefe an F. W. Oelze – Schreiben als primäre Gebärde“, in: Schreiben: Szenen einer Sinngeschichte. Hg. v. Christian Schärf. Tübingen: 107–129. Schröder, Jürgen (2013). „‚Ja, Goethe über alles und immer!‘: Benn‘s ‚Double Life‘ in His Letters to F. W. Oelze (1932–1956)“, in: Goethe’s Ghosts: Reading and the Persistence of Literature. Hg. v. Simon Richter und Richard Block. Rochester: 290–302.

Heinrich Kaulen

7.9 Walter Benjamin: Briefschreiber, Sammler und Theoretiker des Briefs Walter Benjamin (1892–1940) ist für die Geschichte, Theorie und Praxis der Epistolographie in dreifacher Hinsicht relevant: (1) als Korrespondent, der dem Brief eine eigene Form und Bedeutung zuerkannt hat; (2) als Experte der Briefkultur sowie als Sammler und Herausgeber von Anthologien, insbesondere der berühmten Exilsammlung Deutsche Menschen (1936); (3) als Theoretiker der Geschichte und des Funktionswandels der Briefkommunikation. Von Benjamin sind insgesamt ca. 1.400  Briefe überliefert. Sie wurden in Auswahl erstmals 1966 publiziert. Die Selektion und Kommentierung dieser ersten Briefausgabe, die auf eine Initiative von Adorno und Scholem zurückging, riefen seinerzeit heftige Kontroversen hervor. Die Edition übte damit eine große Wirkung auf die Benjamin-Rezeption im Umkreis der Studentenbewegung aus und provozierte etliche kleinere, oft philologisch unzulängliche Teilpublikationen. Inzwischen liegt Benjamins Korrespondenz geschlossen in der sechsbändigen Ausgabe seiner Gesammelten Briefe (1995–2000) vor. Das ebenfalls sehr umfangreiche Korpus der Briefe an Benjamin ist, sofern dessen Nachlass berührt ist, im Wesentlichen erst ab 1933 erhalten geblieben und harrt, abgesehen von einzelnen Auszügen, in weiten Teilen immer noch der Publikation. Die an ihn adressierten Briefe aus seiner letzten Pariser Wohnung werden im Walter Benjamin Archiv (Akademie der Künste Berlin) aufbewahrt und sind für die Forschung zugänglich (zu den Briefen von Frauen vgl. Kambas 1999, 786–800). Hinzu kommen Einzelpublikationen der Briefe an Brecht (51978) sowie der Briefwechsel mit zentralen Korrespondenzpartner*innen wie Gershom Scholem (1980), Siegfried Kracauer (1987), Theodor W. Adorno (1994) und Gretel Adorno (2005), in denen beide Briefpartner*innen dialogisch zu Wort kommen und die intellektuelle Interaktion zwischen den Beteiligten spürbar wird. Benjamin selbst hat sich zu Lebzeiten stets gegen alle Teileditionen von Briefen verwahrt und dezidiert für die Publikation von Briefwechseln plädiert: „Briefe ‚großer Männer‘ ohne die ihrer Korrespondenten herauszugeben, ist eine Barbarei.“ (WuN 13.1, 92; vgl. GB II, 47–48) Die Forschung hat das Briefwerk von Benjamin bislang nahezu ausschließlich als bloßes Quellenmaterial behandelt. Dabei haben Theodor W. Adorno (1970, 81–90) und Gershom Scholem (1983, 167–173), aber auch Karl Pestalozzi (1963, 360–367) schon früh auf den intellektuellen Rang und die spezifische Physiognomie des Briefschreibers Benjamin aufmerksam gemacht. Dies gilt auch für Gert Mattenklott, der in mehreren Essays die Grundzüge von Benjamins geistigem Habitus an dessen Korrespondenz abgelesen und dabei die Affinitäten zur epistohttps://doi.org/10.1515/9783110376531-119

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larischen Tradition des deutschen Judentums herausgestellt hat (vgl. Mattenklott 1999, 575–582; 2006, 680–687). Die einzige Monographie zum Thema hat Klaus Garber 2005 vorgelegt. In seinem „Porträt Walter Benjamins aus seinen Briefen“ (11–143) gilt das Interesse primär der geistigen Physiognomie des Briefschreibers, seinen Adressat*innen, seinen spezifischen Schreibstrategien und Stilmitteln sowie der Wertschätzung des Autors für die von ihm verwendeten Schreibutensilien. Mattenklott wie Garber liefern damit der insgesamt spärlichen Forschung zu diesem Teil von Benjamins Œuvre wichtige Impulse. Als vergleichsweise gut erforscht kann nur die Briefanthologie Deutsche Menschen gelten (vgl. Brodersen 2006, 437–450; Hahn und Wizisla 2008).

1 Walter Benjamin als Briefschreiber und Korrespondent Benjamin besaß eine „natürliche und ungemeine Begabung zum Briefschreiben“ (Scholem 1983, 167). Er war nicht nur ein passionierter Briefleser, der mit der Briefkultur des 18. und 19. Jahrhunderts gründlich vertraut war, sondern ein nicht minder ingeniöser Briefschreiber, dem die Verständigung mittels Briefen ein wesentlicher Bestandteil seiner geistigen Lebensform ‒ und also auch ein konstitutives Element seines Wirkens als Intellektueller, Publizist und Literat ‒ geworden ist. Seine Korrespondenz erstreckt sich über dreißig Jahre, von seinen Anfängen bis zu seinem Tod. Sie ist meist mit Papier und Federhalter abgefasst, ohne Diktat oder die Arbeit mit Typoskripten. Auch das Telefon spielt als Konkurrenz nur eine marginale Rolle. Benjamins Habitus ist der eines traditionsbewussten, geradezu traditionalistischen Briefschreibers, der weitgehend unbeirrt von den neuen technischen Möglichkeiten eine alte, zunehmend anachronistisch gewordene Kommunikationspraxis bewusst aufgreift und weiterführt. Das unterscheidet ihn markant von Bertolt Brecht, der im Zeichen einer kollektiven Kunstproduktion eine sehr viel radikalere Reduktion, Transformation und ‚Umfunktionierung‘ des alten Mediums Brief praktiziert, wie sich auch an der insgesamt spärlichen Briefkommunikation zwischen den beiden ablesen lässt (vgl. Benjamin 51978, 121–140). Das Spektrum von Benjamins Korrespondenzen „umfaßt nahezu das komplette Register der Epistolographik vom Zweizeiler einer Verabredung bis zum Zehnseitenbrief der Gelehrtenkorrespondenz. Es schließt Behörden- und Geschäftsbriefe ebenso ein wie Liebes- und einige Familienbriefe“ (Mattenklott 2006, 680). Neben der alltäglichen Geschäfts- und Verlagskorrespondenz finden sich auch das Genre des Bitt- und Bettelbriefs, zumal in den wirtschaftlichen Nöten der Exilzeit, der Reisebrief oder das Spiel mit scherzhaft-ironischen Epis-

7.9 Walter Benjamin: Briefschreiber, Sammler und Theoretiker des Briefs 

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teln. Bei der inhaltlich gewichtigen Korrespondenz dominiert aber über weite Strecken der Freundschaftsbrief, der eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten weniger dokumentiert als im Medium des Briefs zuallererst als intellektuelle Gemeinschaft konstituiert, sowie die ‒ allerdings nicht institutionell verankerte, sondern zeitlebens dezidiert institutionskritische ‒ Gelehrtenkorrespondenz. Freundschaftsbrief und Gelehrtenbrief sind dabei in den meisten Fällen kaum klar zu trennen, sondern gehen unmerklich ineinander über. Gemeinsam ist beiden die Aufgabe, als Medium einer unablässigen Selbstreflexion über drängende theoretische Fragen sowie als Form einer dialogischen Selbstverständigung zu dienen. In den frühen Auseinandersetzungen über die Aufgaben der Jugendkultur und deren Stellung zum Judentum werden die Briefe an die Freunde aus der Jugendbewegung zu einem genuinen Bestandteil des Benjamin’schen Frühwerks. Ähnliches gilt für die im Briefwechsel mit Scholem (1980) enthaltenen Debatten zum Kafka-Aufsatz und die in der Korrespondenz mit Adorno (1994) dokumentierten Kontroversen über den „Kunstwerk“-Aufsatz, das Passagen-Projekt oder die Baudelaire-Studien, die von den genannten Werken nicht abzulösen sind und in deren Wirkungsgeschichte unauflöslich eingegangen sind (vgl. Schiffermüller 2018). Benjamins Briefe bilden in dieser Hinsicht keine bloßen Paratexte zum ‚eigentlichen‘ Hauptwerk, sondern definieren ein Kristallisationszentrum seiner intellektuellen Existenz, insofern die Überlegungen des Philosophen, Publizisten und Kritikers nicht selten erst im brieflichen Austausch Konturen gewinnen oder weiterentwickelt werden.

1.1 Profil und Funktionen der Korrespondenz So vielfältig wie die Briefgenres selbst sind die Funktionen, die ihnen im Leben und Werk Walter Benjamins zugedacht sind. In vielen Fällen erfüllen die Briefe primär die oben genannten pragmatischen Funktionen. Sie dienen darüber hinaus aber auch der planvollen Positionierung und Vernetzung des Autors im literarischen Feld. Entgegen einem in der Forschung lange gepflegten Klischee agiert Benjamin über weite Strecken seines Lebens keineswegs als ein isolierter und weltfremder Melancholiker, sondern ist auf vielfältige Weise mit wichtigen intellektuellen Szenen aus dem Verlags- und Literaturbetrieb vernetzt (vgl. Kaulen 2011, 972– 1012). Dies betrifft sowohl die ‚Grundlinien‘ seiner intellektuellen Existenz, den Kontakt mit Scholem, Adorno, Horkheimer u.  a., bei denen der Austausch von Briefen nicht selten als Kompensation für die schmerzlich vermisste persönliche Nähe dienen muss, als auch die kommunikative Vernetzung in seinem täglichen Arbeits-und Lebensumfeld. Briefe dienen in all diesen Fällen der Herstellung oder Stabilisierung von sozialen Netzwerken, der Gruppenbildung und der Stiftung

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einer intellektuellen Gemeinschaft. Solche Netzwerke hat Benjamin in seinen Anfängen in Kreisen einer elitären Jugendkulturbewegung gesucht, später exklusiv mit wenigen ausgewählten Geistesverwandten wie Hugo von Hofmannsthal, Florens Christian Rang oder Franz Rosenzweig praktiziert und in der Exilzeit vor allem mit den Theoretikern aus dem Institut für Sozialforschung und dem völlig anders gelagerten Svendborger Kreis um Bertolt Brecht, aber auch mit Hannah Arendt und etlichen befreundeten Publizisten aufgebaut. Die Briefe fungieren aber nicht nur als Mittel der Vernetzung, sondern auch als Instrumente der Distinktion sowie, im Fall scheiternder Verständigung, als demonstratives Zeugnis eines mitunter unerbittlich vollzogenen Kommunikationsabbruchs. Die strategischen Fähigkeiten des Briefschreibers Benjamin sollte man nicht unterschätzen. Vermöge einer hoch entwickelten Briefkunst vermag er es, die sehr gegensätzlichen Positionen seiner Briefpartner*innen im Spannungsfeld von jüdischer Theologie und Marxismus, literarischer Tradition und aktueller politischer Praxis nicht auszubalancieren, aber so in ein Kraftfeld inhaltlich konträrer Ansätze zu integrieren, dass aus der auf solche Weise erzeugten Spannung für ihn produktive intellektuelle Energien erwachsen können. Zuweilen nutzt er das Briefschreiben auch nur, um mit einer Mischung aus diplomatischer Zurückhaltung und zielgerichteter Raffinesse einen sanften Druck auf seine Briefpartner*innen aufzubauen und so, trotz seiner scheinbar schlechten Ausgangslage, im Hintergrund doch die Fäden in der Hand zu behalten. In diesem Sinne werden auch das dilatorische Behandeln von Briefpost, das Ausweichen vor der geforderten Antwort oder die Drohung mit Kommunikationsabbruch als durchaus effektive Kommunikationsstrategien eines akademischen Außenseiters eingesetzt. Aus dem Gesagten erhellt, dass die Briefe bei Benjamin nicht wie bei Thomas Mann, Hermann Hesse u.  a., im Anschluss an das von Gellert begründete Konzept des Briefs als Medium zur Artikulation persönlicher Gedanken und Gefühle, primär als Mittel der Selbstexpression oder gar der psychologischen Introspektion fungieren. Benjamins epistolarische Praxis steht ganz und gar unter dem Primat des Geistes und erlaubt Unmittelbares, wenn überhaupt, nur aus bewusster Distanz: „Der Brief war ihm darum so gemäß, weil er vorweg zur vermittelten, objektivierten Unmittelbarkeit ermutigt. Briefe schreiben fingiert Lebendiges im Medium des erstarrten Worts. Im Brief vermag man die Abgeschiedenheit zu verleugnen und gleichwohl der Ferne, Abgeschiedene zu bleiben.“ (Adorno 1970, 83) Über Privates erfährt man in diesen Briefen daher kaum etwas. Benjamin übt sich in Diskretion und wahrt Abstand zu sich und den Anderen. Heftige Affekte und Leidenschaften finden nur gelegentlich Eingang in die Korrespondenz, und wenn, dann nur dosiert, gedämpft und sprachlich durch die Macht des Begriffs kontrolliert. Intimitäten finden sich gar nicht. Benjamin umgibt sich vielmehr bewusst mit einem „Sperrbezirk von Schweigsamkeit“, den er mit „einer bis ins

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Exzentrische gehenden Geheimniskrämerei“ abzusichern pflegte (Scholem 1975, 34). Alles zielt auf den Gewinn einer Haltung, die der Verfasser sich gleichsam erschreibt und die als Gestus einer sprachlichen Selbstermächtigung gedeutet werden kann. Intendiert ist „die Stabilität eines brieflich gewonnenen Selbst, dem der reale Schreiber sich rückhaltlos anvertrauen kann, weil auf die metamorphotische Kraft des Mediums Verlaß ist“ (Mattenklott 2006, 684). Der Habitus dieses Selbst ist geprägt von Lakonismus und Gelassenheit, Nüchternheit und Würde ‒ Haltungen, die der Autor später nicht zufällig an den von ihm aufgerufenen Deutsche[n] Menschen rühmen wird ‒ und zugleich von einem unerschütterlichen Bewusstsein des eigenen intellektuellen Rangs, das bei aller Nähe und unprätentiösen Freundlichkeit eine unaufhebbare Distanz zu den Anderen setzt. Ähnlich wie das im engeren Sinne Private bleibt auch das Politische aus der Korrespondenz weitgehend ausgeschlossen. Es finden sich, ähnlich wie bei Kafka, nur selten explizite Kommentare zu politischen Vorgängen. Die epistolarische Zeugenschaft ist bei ihm, im Gegensatz zu den Konventionen des Exilbriefs seit den Jakobinern und den Vormärz-Exilanten, nicht in erster Linie als eine historische, soziale und politische Zeugenschaft intendiert. Auch hier bewahrt der Briefschreiber den Brief davor, bloß als Dokument der Zeitgeschichte rezipiert zu werden und somit nicht als literarische Form sui generis, sondern lediglich als Mittel für etwas Anderes, Äußerliches und Heteronomes wahrgenommen zu werden. Fast alle Briefpartner*innen Benjamins rühmen seine Begabung, sich auf den konkreten Anlass und seine sehr heterogenen Korrespondenzpartner*innen einzulassen. Dies betrifft Diktion und Stil, Tonfall und Duktus des Schreibens, bis hin zur partiellen Angleichung an sein Gegenüber. Der Briefschreiber verfügt über ein breites Themenrepertoire und ein nicht minder großes Register sprachlicher Ausdrucksformen. „Vielfach hat er, ohne daß sein Eigentümliches darüber gemindert worden wäre, den Korrespondenten sich angepaßt; Formgefühl und Distanz, Konstituentien des Benjaminschen Briefes überhaupt, treten dann in den Dienst einer gewissen Diplomatie.“ (Adorno 1970, 89) Es gelingt ihm an einem Tag, und stets mit derselben „chinesischen Höflichkeit“ (Benjamin 1968, 31), mit Scholem über esoterische Fragen der jüdischen Mystik zu spekulieren und gleichzeitig mit Brecht und anderen Briefpartner*innen Probleme der marxistischen Theorie zu erörtern. Durch diesen Gestaltwechsel eines sich unermüdlich neu erfindenden und nach vielen Seiten offenen Intellektuellen, dem Orthodoxie und Fundamentalismus fremd sind, entstehen die Vielfalt, Mehrstimmigkeit und widerspruchsvolle Multiperspektivität von Benjamins Korrespondenz (vgl. Kaulen 1982, 34–59).

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1.2 Die Materialität des Schreibens von Briefen Wie sehr Benjamin sich in seinen Anreden, Schlusswendungen und Postscripta auf sein Gegenüber einstellt, indem er die dafür vorgesehenen Formeln variiert, hat die Forschung zu den Briefen bis ins Detail gezeigt: Der Korrespondent ließ sich „keine der Möglichkeiten entgehen, die die Gattung Brief barg. Gerade wo die Konvention genrebedingt vorwaltete, mußte die kalkulierte oder spontane Abweichung für den Einfallsreichen von Reiz sein“ (Garber 2005, 31). Benjamin bedenkt aber auch die spezifische Materialität der handschriftlich abgefassten Briefe. Das beginnt mit der „Wahl des Papiers, das für ihn eine ungemeine Rolle spielte“ (Adorno 1970, 82). Überlegungen zur Qualität und zu den richtigen Formaten des Briefpapiers bzw. des Kuverts begegnen in seinen Briefen an zahlreichen Stellen und bilden so etwas wie den kontinuierlichen Grundakkord seiner Korrespondenz. Eine ähnliche Aufmerksamkeit hat Benjamin seinen diversen Schreibutensilien – Stift, Füllfederhalter u.  a. ‒ zugewandt (vgl. Garber 2005, 36–38). Er knüpft daran zum Teil ganz pragmatische Überlegungen, wie man sie aus den Briefstellern des 18. Jahrhunderts kennt. Die Handschrift findet ohnehin bei dem erfahrenen Graphologen ein Höchstmaß an Beachtung. Selbst ein unscheinbares Phänomen wie die Briefmarke gerät, wie die kleine Skizze „Briefmarken-Handlung“ aus der Einbahnstraße demonstriert (vgl. WuN 8, 62–65 u. 182–190), unter seinem mikrologischen Blick zum Exempel, an dem größere Zusammenhänge des Wandels der Briefkommunikation oder der Postverhältnisse abgelesen werden können. Auch in seinen Reflexionen zu den materiellen Aspekten des Briefschreibens zeigt sich Benjamin als Repräsentant einer von ihm bewusst gepflegten, hochgradig kultivierten Briefkultur, deren Fragilität und bevorstehende (oder bereits eingetretene) Transformation ihm keineswegs entgangen sind. Gerade im Blick auf diese Entwicklungen galt ihm der Brief als adäquates Medium, um ein „intelligibles Leben sui generis“ zu führen, „dem keine andere Wirklichkeit beschieden war als diese“ (Mattenklott 2006, 682).

2 Benjamin als Sammler und Herausgeber von Briefen Benjamin war nicht nur ein passionierter und versierter Briefschreiber, er kannte sich auch in der Tradition der Epistolographie bestens aus und hat Briefe in seinen theoretischen Arbeiten, wie z.  B. im Passagen-Werk, immer wieder als heuristische Instrumente herangezogen, um historische Kontextualisierungen vorzunehmen oder Zusammenhänge aufzuhellen, die von den Autor*innen selbst verdeckt

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gehalten worden sind. In einigen Fällen hat er auch Briefsammlungen ‒ von der Frühen Neuzeit über das 18. und 19. Jahrhundert (Frühromantiker, Keller, Gotthelf) bis in seine eigene Gegenwart (Dauthendey, Hofmannsthal u.  a.) ‒ rezensiert (vgl. WuN 13.1 u. 13.2). Nahezu beiläufig, in geschliffenen Aperçus und knappen Randbemerkungen, enthalten diese Rezensionen fast immer auch grundlegende Beobachtungen zum Brief als Genre sowie zur historischen Briefkultur. Gelegentlich bedient sich Benjamin, publizistische Traditionen der Aufklärung aufgreifend, des Briefs auch im Sinne einer öffentlichen Berichts- und Mitteilungsform. Bekannt ist sein Projekt aus der Exilzeit, in Form von „Literaturbriefen“ über die Entwicklungen in verschiedenen Nationalliteraturen zu informieren. Realisiert werden davon nur die beiden „Pariser Briefe“ (WuN 13.1, 470–485 u. 555–569), die auf eine Initiative Brechts zurückgehen, dem „an der klassischen, literarischen Bericht-Form des ‚Briefes‘ besonders gelegen“ gewesen ist (GB V, 374). Die Briefe berichten über André Gide und seine Stellung in Frankreich bzw. über die Debatten zum Realismus und über die Beziehung zwischen Malerei und Fotografie und erfüllen damit im Wesentlichen die Funktion einer zeitpolitischen Dokumentation. In frühen Jahren experimentiert Benjamin auch gelegentlich, etwa bei den Auseinandersetzungen mit Gustav Wyneken oder Martin Buber, mit der Form des Offenen Briefs.

2.1 Benjamin als Sammler von Briefen Das Interesse an Briefen reicht bei Benjamin aber weiter, bis in seine Jugendjahre zurück. Bereits zu Zeiten der Jugendbewegung verfolgte er den Plan, „Schülerbriefe zu sammeln“ (GB I, 65), und legte eine kleine Sammlung davon an (vgl. GB I, 134). Verstärkt wurde dieses Interesse wenig später auch durch Lehrveranstaltungen des Berliner Historikers Kurt Breysig, in denen vergessene Briefe aus dem 17. bis 19.  Jahrhundert analysiert wurden (vgl. WuN 10, 478–479). Der Fokus lag hier auf dem nicht-kanonisierten Wissen, das sich in solchen Briefen sedimentiert, und auf der darin enthaltenen Machtkritik.

2.2 Briefanthologien Berühmt geworden ist Benjamin aber nicht nur als Sammler und Kritiker von Briefzeugnissen, sondern vor allem als Herausgeber von Briefanthologien. Dazu zählt die Dokumentation Vom Weltbürger zum Großbürger (vgl. GS IV.2, 815–862), die Benjamin zusammen mit Willy Haas 1932 herausgegeben hat und die nicht nur, aber doch zu einem wesentlichen Teil Briefdokumente versammelt, um an

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ihnen ein Kulturbild des deutschen Bürgertums zwischen Aufstieg und Niedergang zu entwickeln. In der Anthologie Allemands de quatre-vingt-neuf (vgl. GS IV.2, 683–880) stellt der Autor im Jahr 1939 aus Anlass des 150.  Jahrestags der Französischen Revolution „ganz in der Art meines Briefbuches“ für eine französische Monatszeitschrift briefliche Zeugnisse über die Wirkung der Ereignisse von 1789 auf deutsche Schriftsteller vor und nach 1800 zusammen: „Dabei bin ich wieder auf einige jener Tatbestände geraten, die von der deutschen Literaturgeschichte durch hundert Jahre planmäßig verschleiert wurden.“ (GB VI, 294)

2.3 Die Briefsammlung Deutsche Menschen Das wichtigste Zeugnis des Briefanthologisten stellt fraglos die Anthologie Deutsche Menschen (vgl. WuN 10, 7–104) dar, die 1931/1932 zunächst als Serie in der Frankfurter Zeitung publiziert wurde und dann 1936 unter Pseudonym geschlossen in der Schweiz veröffentlicht werden konnte. Diese Sammlung präsentiert in chronologischer Folge 26 Briefe deutscher Autor*innen, die zwischen 1783 und 1883 geschrieben worden sind und somit ein Jahrhundert bürgerlicher Briefkultur zwischen Aufklärung und Gründerzeit dokumentieren. Auch hier steht die Absicht im Zentrum, anhand der epistolarischen Zeugnisse die Geschichte des deutschen Bürgertums zwischen seinen vielversprechenden Anfängen und jener Epoche nachzuzeichnen, „da das Bürgertum nur noch die Positionen, nicht mehr den Geist bewahrte, in welchem es diese Positionen erobert hatte“ (WuN 10, 10). Zugleich ist die Sammlung vor dem Horizont des heraufziehenden Faschismus zu sehen. Ähnlich wie spätere Sammlungen, etwa das von Oskar Loerke herausgegebene Lesebuch Deutscher Geist (1940), versucht sie im Blick auf die große Tradition eines geheimen geistigen Deutschlands den Verhältnissen in der NS-Zeit ein kritisches Spiegelbild entgegenzuhalten. Um die Verbreitung in Deutschland zu sichern, wählt der Verfasser das Pseudonym Detlef Holz. Zudem wird der Einbandtitel in alter deutscher Frakturschrift gesetzt, um eine fragwürdige Tradition des deutschen Geistes zu zitieren ‒ und gleich darauf mit dem darunter stehenden Motto zu kontern (zur Buchgestaltung vgl. Diers 2008, 23–44). Denn die abgedruckten Briefe zeugen „Von Ehre ohne Ruhm / Von Größe ohne Glanz / Von Würde ohne Sold“ (WuN 10, 9). Die Briefcollage zielt auf die Initiierung einer zum bürgerlichen Bildungskanon kritischen Gegentradition, der „Ruhm“, „Glanz“ und „Sold“ bis dato illegitimerweise vorenthalten worden ist. Sie begründet ein epistolarisches Gedächtnis, das die propagandistische Geschichtspolitik der NS-Machthaber kritisch konterkariert und subversiv unterläuft. Benjamin selbst bezeichnet das Büchlein in den Widmungen an seine Freunde auch als eine „nach jüdischem Vorbild erbaute Arche“, die er „gebaut habe, als die faschistische Sint-

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flut zu steigen begann“ (WuN 10, 173–175). Man kann die Sammlung als Beitrag zur Exilliteratur im Sinne einer Tarnschrift gegen das NS-Regime lesen, zumal sie von nicht wenigen Zeitgenossen explizit als solche verstanden worden ist. Und auch die Machthaber in Deutschland haben die oppositionelle Stoßrichtung des Buches wohl begriffen, als sie es schon 1938 auf die Liste des verbotenen ‚undeutschen‘ Schrifttums setzten.

2.4 Lesarten und Forschungsansätze Benjamins Briefbuch ist bei näherem Hinsehen jedoch komplexer und vieldeutiger, als eine einsinnige ideologiekritische und politische Lesart insinuiert (vgl. Brodersen 2006, 437–450, und die Beiträge bei Hahn und Wizisla 2008). Aus der Perspektive der Gedächtnistheorie und kulturwissenschaftlichen Hermeneutik liefert es ein Beispiel für die von Benjamin geforderte antitraditionalistische und dekanonisierende Lektüre einer ‚gegen den Strich gebürsteten‘ Tradition. Benjamin entfaltet darin grundlegende Motive seines Denkens, etwa in Hinblick auf den konstitutiven Zusammenhang von Erinnerung, Eingedenken und Rettung. Das Buch bietet aber auch ein Experimentierfeld typischer Benjamin’scher Schreibverfahren wie Kommentar (der hier wiederum im Wesentlichen aus Briefzitaten besteht), Collage und Textmontage. Für die Wirkungsgeschichte wichtige Grundlinien hat Theodor W. Adorno in dem Brief, mit dem er den Empfang der Anthologie bestätigt (1994, 208–209), sowie in seinem Nachwort zur Neuausgabe von 1962 vorgezeichnet. Adorno sieht in den von Benjamin ausgewählten Briefschreiber*innen vornehmlich „Sozialcharaktere“: „Sie verbindet eine Sprache, die so unvereinbar ist mit der zurichtenden des Befehls wie mit der hochtrabenden Phrase.“ (Adorno 1970, 61) Das Briefbuch deutet er als „ein philosophisches Werk, kein geistesgeschichtliches oder literarisches“ (Adorno 1970, 62), das in der Diagnose der untergehenden Briefkultur dem Bürgertum ein vernichtendes Urteil spricht. „Man könnte auch sagen: der Verfall des Bürgertums ist am Verfall des Briefschreibens dargestellt“ (Adorno 1994, 209). Diese skeptische Diagnose deckt sich nur partiell mit Benjamins Perspektive, in dessen theoretischen Äußerungen zur Geschichte des Briefes der Akzent weniger auf dem Niedergang als auf der Transformation und dem historischen Funktionswandel des Genres liegt. Albrecht Schöne zieht in einem anregenden frühen Essay von 1986, unter Rekurs auf Benjamins Charakterisierung als ‚jüdische Arche‘, eine Verbindungslinie vom Briefbuch zur jüdischen Tradition. Die Kommentare des Herausgebers erinnern ihn an die Bibelkommentare des jüdischen Midrasch (Schöne 1986, 350–365). Die Heterogenität aktueller Forschungsansätze zeigt der Sammelband

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von Hahn und Wizisla (2008), der aus einer Berliner Tagung im Jahr 2005 hervorgegangen ist.

3 Walter Benjamin als Theoretiker des Briefs Benjamin hat keine systematische und konsistente Theorie des Briefs hinterlassen. Was er dazu sagt, ist aus verstreuten, nur flüchtig skizzierten Notizen erst zu extrapolieren. Dazu zählen die schon 1916 in Abgrenzung von Friedrich Gundolf entstandenen Überlegungen zum Verhältnis von Gespräch, Werk und Brief (vgl. GS I.3, 826–827), die zu einem eigenständigen Fragment ausgearbeitete Reflexion aus einem Brief an Ernst Schoen aus dem Jahr 1919 (GB II, 47–48; vgl. GS VI, 95) und der anlässlich des Briefbuchs 1932 entstandene Rundfunkvortrag „Auf der Spur alter Briefe“ (vgl. WuN 9.1, 505–508) sowie einige weitere kurze Bemerkungen in Briefen, Briefkommentaren und Briefrezensionen.

3.1 Briefe und Autorschaft Die erste begriffliche Unterscheidung, die der Theoretiker vornimmt, ist die zwischen dem Brief und seinem subjektiven Urheber. Briefwechsel würden schon deshalb verkannt, „weil sie auf den Begriff des Werkes und der Autorschaft völlig schief bezogen werden“. Stattdessen gehörten sie „dem Bezirk des ‚Zeugnisses‘“ an, „dessen Beziehung auf ein Subjekt so bedeutungslos ist, wie die Beziehung irgend eines pragmatisch-historischen Zeugnisses (Inschrift) auf die Person seines Urhebers“ (GS VI, 95). Damit ist jeder positivistisch-biographistische Zugriff im Sinne Sainte-Beuves abgewehrt, der Briefe lediglich als „Belege, Fundgrube, Quellen“ (WuN 9.1, 506) für den Lebensweg und die Persönlichkeit des Autors bzw. der Autorin auswertet und in ihnen nichts anderes als sekundäre Paratexte sehen möchte. Im schlimmsten Fall ist dieser reduktionistische Zugriff nur von der fragwürdigen „Sucht“ geleitet, „den Autoren hinter die Gardine zu sehen“ (WuN 9.1, 506). Briefe sind stattdessen als ein Genre sui generis zu betrachten und besitzen einen eigenen Rang und einen inkommensurablen Erkenntniswert. Große Briefe atmen für Benjamin „die Süßigkeit von großer Epik“ (WuN 13.1, 57) und stehen an sprachlicher Qualität und sachlicher Bedeutung nicht per se hinter Texten anderer Art zurück. Insofern hat Benjamins Wertschätzung des Briefs an der Legitimierung und Aufwertung dieser Mitteilungsform seit der Aufklärung und Empfindsamkeit teil, obwohl er die argumentativen Legitimationsfiguren aus jener Zeit ausdrücklich nicht teilt.

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In Briefen äußert sich, sofern man nicht an einer „undialektische[n] Konstruktion von Individualität“ (WuN 13.1, 58) und der damit verbundenen Dichotomie von Privatheit und Öffentlichkeit festhält, „in der engsten Bindung an Persönliches“ immer auch ein „Sachliches“ (WuN 10, 115). Das objektive Erkenntnispotential von Briefen sieht Benjamin nicht in der Möglichkeit psychologischer Introspektion und in einer problematischen Einfühlung in den Schreibenden, sondern zunächst in ihrer dokumentarischen Funktion im Blick auf überindividuelle kulturgeschichtliche und soziale Kontexte. Korrespondenzen sind nicht nur „ein literarhistorisches Dokument ersten Ranges“ (WuN 10, 48), in ihnen bekundet sich als „geschichtliches Zeugnis“ (WuN 13.1, 507) der soziale Habitus einer Person sowie das Leben und die historische Signatur einer Epoche. Zudem gestatten sie dem poetologisch Interessierten einen „Blick ins Innere“ der „Werkstatt“ eines Künstlers (WuN 10, 38), also in die Logik seines Schaffensprozesses. Aber auch in solchen Bezügen erschöpft sich die spezifische Leistung der Briefform nicht. Ihr Rang beruht vielmehr in erster Linie auf der in ihr zur Artikulation gelangenden „geistigen Erscheinung“ (WuN 13.1, 57) einer Person, die mit dem „Fortleben“ des Briefschreibers im Gedächtnis der Nachwelt zusammenfällt. Diese intellektuelle Physiognomie lässt sich aus Briefen schon darum vorzüglich erschließen, weil diese in der Regel vom Literaturbetrieb noch nicht kanonisiert worden sind und daher weder einem fragwürdigen „Heroenkult“ noch dem „unersättlichen Schlund der Bildung“ anheimgefallen sind (WuN 9.1, 506–507). Briefe erlauben mithin auch einen antikanonischen Blick auf das, was im ‚Werk‘ selbst nicht explizit zur Sprache gekommen und in der offiziellen Überlieferungsgeschichte verdrängt, vergessen und verschollen geblieben ist (vgl. Di Rosa 2013, 123–146).

3.2 Schriftliche Briefform, mündliches Gespräch und literarisches Werk Schon seit seinem Frühwerk, in dem Benjamin gegen die in Gundolfs GoetheMonographie proklamierte Aufteilung „der drei konzentrischen Lebenskreise eines schaffenden Menschen“ (GS I.3, 826) in Gespräche, Briefe und Werke polemisiert, wendet sich der Kritiker gegen die damit verbundene hierarchische Trias, nach der die Gespräche von Autor*innen allenfalls die Basis ihres Œuvres darstellen und das brieflich Überlieferte nur „die breite Mittelschicht“ bildet, das seine wahre und endgültige Gestalt und seinen „Gipfel“ teleologisch erst im „eigentlich schöpferische[n] Werk“ finden kann (WuN 10, 505). Was Benjamin daran stört, ist einerseits die Fetischisierung des vollendeten und kanonischen Werks in seiner „erlogenen Ausschließlichkeit und Monumentalität“ (GS I.3, 826), andererseits die Missachtung aller anderen, scheinbar nur inferioren Zeugnisse für das Wesen,

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die Haltung und den Rang eines Autors bzw. einer Autorin. Zwischen den verschiedenen Arten von Quellen besteht für ihn wohl eine Bedeutungsdifferenz, nicht aber ein prinzipieller Wertunterschied. Gerade von den Briefen aus lasse sich in vielen Fällen ein frischer, unbefangener Blick auf ein in orthodoxen Deutungen erstarrtes Werk des Überlieferungskanons gewinnen. Wenn Benjamin auch der dogmatischen Fokussierung Gundolfs auf das ‚Werk‘ im Sinn einer geschlossenen, ganzheitlichen ‚Gestalt‘ nicht folgen kann, bleibt die „Trennung zwischen mündlicher und schriftlicher Tradition“ (GS I.3, 827) auf andere Weise jedoch auch für sein eigenes Konzept des Briefes leitend (vgl. aber Adorno 1970, 83). Der Brief ist nicht etwa ein Substitut des Gesprächs, sondern etwas konstitutiv Anderes. Immer wieder finden sich in seiner Korrespondenz Hinweise auf die grundlegende Differenz zwischen dem gesprochenen und geschriebenen Wort und auf die „Grenze brieflicher Mitteilung“ (GB VI, 217). Zwar sei der Briefwechsel kraft seiner spezifischen Prämissen, die auch Äußerungen von Pathos und Leiden zulassen, für vieles „die einzig mögliche Form der Äußerung“ (GB I, 355). Doch fällt auch – zumal im Hinblick auf die eigenen Briefe – ein klarer Blick auf die Kontingenzen und Defizite der Briefform. „Die Frage ist zu komplex, um sie brieflich zu klären“ (GB V, 531), heißt es beispielsweise. Oder: „Um aber diese Dinge in Briefform mitteilen zu können ‒ und noch anderes der gleichen Art, was mir dort gesprächsweise entwickelt wurde  […] ‒ habe ich es noch nicht genügend begrifflich durchdrungen.“ (GB I, 358) Briefe setzen aus Benjamins Sicht voraus, dass das Gesagte zwar noch nicht abschließend, aber doch zumindest hinreichend reflexiv durchdrungen ist und begrifflich präzise gefasst werden kann. Aufgrund dieser begrifflichen Fixierung eignet Briefen eo ipso etwas Definitives und Abschließendes. Komplexe Probleme „brieflich adäquat formulieren, hieße fast, sie gelöst haben“ (GB V, 490). Ein Fehlgriff bei der schriftlichen Formulierung wiegt hier schwerer „als der eines gesprochenen Wortes“ (GB II, 17). Für die Darstellung prozesshafter, vorläufiger oder improvisierter Gedanken, die sich sprachlich-begrifflicher Fixierung vorerst entziehen, bietet der Brief aus dieser Sicht daher kein geeignetes Medium. Diese Prozesshaftigkeit und fehlende Abgeschlossenheit ist jedoch charakteristisch für den oft spontanen und improvisatorischen Denkgestus des Philosophen und Theoretikers Walter Benjamin. Solche noch nicht begrifflich fixierbaren Überlegungen behält Benjamin, sofern er es nicht vorzieht, ganz zu schweigen (vgl. GB I, 386), daher grundsätzlich lieber der mündlichen Unterredung vor. Nur in einem solchen ergebnisoffenen, streitbaren Dialog sieht er sich in der Lage, „den ganzen widerspruchsvollen Fundus“ seiner Gedankenwelt „zum Ausdruck zu bringen“ (GB IV, 408). Briefe, die sich an ferne, abwesende Gesprächspartner richten, sind insofern nur ein „geringer Ersatz für das Miteinandersein“ (GB I, 402). Sie können den direkten persönlichen Austausch via Gespräch und mündlicher Diskussion nur unzureichend ersetzen.

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3.3 Funktionswandel und Transformation der Briefkultur Benjamin wirft einen illusionslosen Blick auf den sich bereits zu seinen Lebzeiten abzeichnenden Funktionswandel und die historische Transformation der Buchkultur: „Briefschreiben“, heißt es 1929 in einer Sammelrezension, „ist uns in unserem persönlichen Umgang eine zweideutige und lästige Sache geworden. Wir geben, ohne zu empfangen, denn von der Briefform empfangen wir in der Tat nichts mehr.“ (WuN 13.1, 193) Der skizzierte Wandel resultiert aus dem Verlust bildungsbürgerlicher Standards und Schreibkonventionen wie aus dem sich wandelnden sozialen Medienumfeld (Telegramm, Telefon, Rundfunk). Selbst die „Briefmarke“ werde in absehbarer Zeit „kein sehr langes Leben mehr“ führen (WuN 9.1, 287; vgl. 611 u. 613). Ihre Bildersprache, die dem Kind wie dem Sammler über Jahrzehnte eng vertraut gewesen ist, werde schon in den 1920er Jahren von den meisten nicht mehr verstanden. Ihren prägnantesten Ausdruck hat die Diagnose eines tiefgreifenden Wandels der Briefkultur ausgerechnet im „Vorwort“ zu der Sammlung Deutsche Menschen gefunden. Benjamin lässt darin Goethe mit einem Altersbrief an Carl Friedrich Zelter (1825) zu Wort kommen. „Reichthum und Schnelligkeit“ bestimmten das Tempo in den Zeiten fortschreitender Globalisierung und Technisierung: „[A]lle mögliche Facilitäten der Communication sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbilden und dadurch in der Mittelmässigkeit zu verharren.“ Die Briefpartner „werden, mit vielleicht noch Wenigen, die Letzten seyn einer Epoche, die so bald nicht wiederkehrt“ (WuN 10, 10; vgl. GS II.2, 737–738). Dieser Diagnose ist zweihundert Jahre nach Goethes Brief und beinahe hundert Jahre nach der Erstveröffentlichung der Briefsammlung nicht viel hinzuzufügen. Benjamin wird mit seinem Hinweis auf die Beschleunigung, Erleichterung und Ungezwungenheit der mit neuen technischen Medien geführten Kommunikation zum hellsichtigen Diagnostiker eines Medienumbruchs, der in seinen ganzen Ausmaßen erst in unserer Gegenwart sichtbar geworden ist.

3.4 Briefe als Form des intelligiblen Lebens Der nüchterne Blick auf die ambivalente Zukunft der Briefkultur hat den medientheoretisch versierten und ganz und gar nicht kulturpessimistischen Verfasser des „Kunstwerk“-Aufsatzes nicht davon abgehalten, immer wieder auf die zentrale kulturelle und intellektuelle Funktion dieser alten Mitteilungsform zurückzukommen. Im Brief zeigt sich der Mensch im sprachlich vermittelten, hochgradig reflektierten und vielseitig ausgreifenden Austausch mit anderen und bezeugt vermöge eines ständigen Gestaltwandels anthropologisch „die Unendlichkeit der

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menschlichen Existenz“ (Garber 2005, 20). Benjamins Briefkonzeption verfolgt einen hohen, ambitionierten, ja exklusiven Anspruch. Das Briefschreiben gilt ihm als eine Lebensform sui generis, in der sich ‒ abgesehen von anderen dokumentarischen und sozialen Funktionen ‒ zuvorderst das „intelligible Leben“ des Schreibenden, der Habitus und die Haltung eines geistigen Menschen, bekundet (Mattenklott 2006, 682). Die „Zeugenschaft“ des Briefes betrifft in der höchsten und strengsten Weise dabei nicht die äußeren Lebensumstände oder das innere seelische Erleben, sondern das geistige Dasein. In weiten Teilen realisiert sich dieses, statt im realen Leben, einzig auf dieser intellektuellen Ebene und entfaltet sich zur Gänze erst in seiner Nachgeschichte, d.  h. im Bewusstsein der Nachgeborenen. Der Brief hat „eine chimärische Form, die am Leben teilhat, ohne den Geist aufzugeben; die Reflexion zu Wort kommen lässt, aber in den Grenzen, die durch einen Lebenszusammenhang bestimmt werden“ (Mattenklott 2006, 683). Briefe bilden für das ‚Nachleben‘ ihrer Verfasser*innen ein wichtiges und unersetzliches Medium. Benjamins eigene Korrespondenz (1), die von ihm betreuten Briefsammlungen (2) sowie seine disparaten Reflexionen zur Theorie dieser Mitteilungsform (3) erbringen dafür einen unwiderleglichen Beweis.

Zitierte Literatur Adorno, Gretel u. Walter Benjamin (2005). Briefwechsel 1930–1940. Hg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz. Frankfurt a. M. Adorno, Theodor W. (1970). Über Walter Benjamin. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. Adorno, Theodor W. u. Walter Benjamin (1994). Briefwechsel 1928–1940. Hg. v. Henri Lonitz. Frankfurt a. M. Benjamin, Walter (1966). Briefe. Hg. u. mit Anmerkungen vers.  v. Gershom Scholem u. Theodor W. Adorno. 2 Bde. Frankfurt a. M. Benjamin, Walter (1968). Über Walter Benjamin. Mit Beiträgen v. Theodor W. Adorno [u.  a.]. Frankfurt a. M. Benjamin, Walter (1972–1989). Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. 7 Bde. Frankfurt a. M. [GS I–VII] Benjamin, Walter (51978). „Briefe an Brecht“, in: Ders. Versuche über Brecht. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: 121–140. Benjamin, Walter u. Gershom Scholem (1980). Briefwechsel 1933–1940. Hg. v. Gershom Scholem. Frankfurt a. M. Benjamin, Walter (1987). Briefe an Siegfried Kracauer. Mit vier Briefen von Siegfried Kracauer an Walter Benjamin. Hg. v. Theodor W. Adorno Archiv. Marbach am Neckar. Benjamin, Walter (1995–2000). Gesammelte Briefe. Bde. I–VI. Hg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt a. M. [GB I–VI] Benjamin, Walter (2008–2019). Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz. Frankfurt a. M. [WuN]. (Noch nicht abgeschlossen.)

7.9 Walter Benjamin: Briefschreiber, Sammler und Theoretiker des Briefs 

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Brodersen, Momme (2006). „Anthologien des Bürgertums“, in: Benjamin-Handbuch. Leben ‒ Werk ‒ Wirkung. Hg. v. Burkhardt Lindner. Stuttgart u. Weimar: 437–450. Diers, Michael (2008). „Einbandlektüre, fortgesetzt. Zur politischen Physiognomie der Briefanthologie“, in: Walter Benjamins „Deutsche Menschen“. Hg. v. Barbara Hahn u. Erdmut Wizisla. Göttingen: 23–44. Di Rosa, Valentina (2013). „Konjunkturen des Deutschtums. Walter Benjamins Re-Lektüre der klassisch-romantischen Tradition“, in: Università degli Studi di Napoli l’orientale. Annali. Sezione germanica, 23:2: 123–146. Garber, Klaus (2005). Walter Benjamin als Briefschreiber und Kritiker. München. Hahn, Barbara u. Erdmut Wizisla (2008). Walter Benjamins „Deutsche Menschen“. Göttingen. Kambas, Chryssoula (1999). „Walter Benjamin ‒ Adressat literarischer Frauen. Zur Überlieferung von Briefen an Walter Benjamin“, in: global benjamin. Internationaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992. Hg. v. Klaus Garber u. Ludger Rehm. Bd. 2. München: 786–800. Kaulen, Heinrich (1982). „Leben im Labyrinth. Walter Benjamins letzte Lebensjahre“, in: Neue Rundschau, 93.1: 34–59. Kaulen, Heinrich (2011). „Walter Benjamin als Literaturkritiker und Rezensent“, in: Walter Benjamin. Kritiken und Rezensionen. Werke und Nachlaß. Bd. 13.2. Hg. v. Heinrich Kaulen. Berlin: 972–1012. Mattenklott, Gert (1999). „Benjamin als Korrespondent, als Herausgeber von Deutsche Menschen und als Theoretiker des Briefes“, in: global benjamin. Internationaler WalterBenjamin-Kongreß 1992. Hg. v. Klaus Garber u. Ludger Rehm. Bd. 1. München: 575–582. Mattenklott, Gert (2006). „Briefe und Briefwechsel“, in: Benjamin-Handbuch. Leben ‒ Werk ‒ Wirkung. Hg. v. Burkhardt Lindner. Stuttgart u. Weimar: 680–687. Pestalozzi, Karl (1963). „Alte Briefe“, in: Neue Sammlung, 3: 360–367. Schiffermüller, Isolde (2018). „Franz Kafka in der Korrespondenz Walter Benjamins. Zum Brief als Laboratorium des Denkens“, in: Deutschsprachige Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen. Texte – Kontexte – Netzwerke. Hg. v. Sabina Becker u. Sonia Goldblum. München: 126–139. Schöne, Albrecht (1986). „‚Diese nach jüdischem Vorbild erbaute Arche‘. Walter Benjamins Deutsche Menschen“, in: Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion. Hg. v. Stéphane Mosès u. Albrecht Schöne. Frankfurt a. M.: 350–365. Scholem, Gershom (1975). Walter Benjamin ‒ die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt a. M. Scholem, Gershom (1983). Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.

Helmut Peitsch

7.10 Briefe aus dem Widerstand (und deren Rezeption) Briefe aus dem Widerstand gegen das, was die Mehrheit der in ihm Aktiven als Faschismus bezeichnete, heute aber vorwiegend mit dessen Eigennamen ‚Nationalsozialismus‘ genannt wird, wurden in der Nachkriegszeit vor allem als ‚Letzte Briefe‘ publiziert. Sammlungen von Briefen, die wegen ihres als Hoch- und Landesverrat geltenden Widerstands zum Tode Verurteilte vor ihrer Hinrichtung als Abschiedsbriefe an Familienangehörige und Freunde schreiben durften, erschienen seit 1948, einzelne Briefe hingerichteter Widerstandskämpfer*innen waren aber auch schon vor 1945 im Exil veröffentlicht worden.

1 Begriffsumfang und -abgrenzung Von den späten 1940er bis in die 1970er Jahre wurde der ‚Letzte Brief‘ in zeitgenössische Bibliographien als eine eigene Gruppe von Texten aufgenommen, z.  B. 1962 von Günther Weisenborn in der Bundesrepublik in der Taschenbuch-Neuausgabe von Der lautlose Aufstand ebenso wie von den Mitarbeiter*innen der Bibliothek der FDGB-Hochschule, die Eine Literaturauswahl Faschismus und Widerstand zusammenstellten und annotierten: „Es sind d[eu]t[sche] Antifaschisten, junge und alte, Männer und Frauen, Christen u[nd] Atheisten, deren Abschiedsbriefe an ihre Angehörigen und Freunde erschütternde Zeugnisse ihres Kampfes, aber auch Aufruf u[nd] Mahnung an die Lebenden sind.“ (Kroh 1963, 5) Weisenborn grenzte den ‚Letzten Brief‘ als „Gattung“ doppelt ab, einerseits von der „[k]ünstlerische[n] Darstellung“, andererseits vom „Dokument“ bzw. dem Sachbericht, der „Darstellung […] auf Grund von Dokumenten“ (Weisenborn 1962, 313). In Rudi Goguels bis 1973 geführter Bibliographie Antifaschistischer Widerstand und Klassenkampf finden sich die Anthologien Letzter Briefe unter dem Lemma „Blutzeugen“, untergliedert nach „Arbeiterbewegung, allgemein“, „Ausländische Kämpfer“, „Bürgerliche Opposition“, „Christliche Kämpfer“, „Frauen“, „Juden“, „Jugend“, „KPD“, „Militäropposition“, „Kämpfer verschiedener Richtungen“ – und die meisten Titel enthält diese letzte Rubrik (Goguel 1976, 502–503). Die Bibliographien folgten den Paratexten von Veröffentlichungen, die sich jeweils im Übergang von den 1940er in die 1950er und von den 1950er in die 1960er Jahre häuften. Der Letzte Brief erschien in Titeln oder Untertiteln von Büchern sowohl in der SBZ/DDR als auch in der BRD. https://doi.org/10.1515/9783110376531-120

7.10 Briefe aus dem Widerstand (und deren Rezeption)  

 1431

2 Zeitliche und räumliche Verbreitung der Anthologien 1949 druckte der Verlag Volk und Wissen in 200.000 Exemplaren Der letzte Brief. Deutsche Opfer des politischen Kampfes 1933–1945 vor ihrer Hinrichtung, eine Auswahl aus der 1948 im Verlag der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) erschienenen Anthologie „…  besonders jetzt tu Deine Pflicht!“ Briefe von Antifaschisten geschrieben vor ihrer Hinrichtung. Ebenfalls in hoher Auflage brachte 1959 der Leipziger Reclam Verlag An die Lebenden. Letzte Briefe deutscher Widerstandskämpfer heraus, die auf der im Jahr zuvor vom SED-Verlag Dietz publizierten Sammlung Erkämpft das Menschenrecht. Lebensberichte und letzte Briefe antifaschistischer Widerstandskämpfer beruhten. Mit dieser Sammlung setzte sich die zuerst in der Zeitschrift Die Tat der Ost-Berliner VVN praktizierte Verbindung von Zitat des Letzten Briefs, Foto und Kurzbiographie ([St.] 1950) durch, so in den zwei Bänden des Instituts für Marxismus-Leninismus (IML) beim ZK der SED Deutsche Widerstandskämpfer. Biographien und Briefe von 1970; ihr standen auf der westlichen Seite des Kalten Kriegs gleichfalls Foto-Text-Bände gegenüber, Annedore Lebers Das Gewissen steht auf von 1954 und Das Gewissen entscheidet von 1957, beide in Zusammenarbeit mit Willy Brandt und dem Historiker Karl Dietrich Bracher entstanden. Für die Festigkeit der Genrebezeichnung spricht, dass der Titelbegriff Letzte Briefe beibehalten wurde, wenn einige der ostdeutschen Publikationen zeitverschoben auch im Westen erschienen, z.  B. 1961 An die Lebenden (in einem Kleinverlag) und 1962 bei dtv Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand. In der DDR war dieses Buch bereits 1956 als Schweizer Lizenz unter dem Obertitel Und die Flamme soll Euch nicht verbrennen gedruckt worden. Piero Malvezzis und Giovanni Pirellis Anthologie Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand belegt die europäische Verbreitung des Begriffs Letzter Brief, denn als sie mit ihr begannen, konnten sie sich nicht nur für Italien auf eine eigene Publikation stützen, sondern für neun der fünfzehn weiteren Länder auf nationale Anthologien zurückgreifen, die – bezeichnenderweise – zwischen 1945 und 1948 erschienen waren, davon die meisten 1947: die belgische Anthologie des Abbé M. Voncken Nos Fusillés nous parlent erschien schon 1945, die bulgarische Ihr letztes Wort im Verlag der Arbeiterpartei 1947, die dänische Die letzten Stunden – Abschiedsbriefe hingerichteter dänischer Patrioten 1946, die der deutschen VVN 1948, die französische Lettres de Fusillés 1946, die griechische Unter der Besatzung Hingerichtete 1947, die österreichische Unsterbliche Opfer – Gefallen im Kampf der Kommunistischen Partei für Österreichs Freiheit 1946, die polnische Wie ein Pole stirbt 1947 und die tschechoslowakische Letzte Briefe 1946 (vgl. dazu Malvezzi und Pirelli 1956, 28, 67, 99, 137, 194, 266, 478, 525, 571).

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Die besondere Stellung des Letzten Briefs hingerichteter Widerstandskämpfer*innen in den Nachkriegsöffentlichkeiten Europas wurde in Westdeutschland auf doppelte Weise aufgehoben, zum einen durch die Anwendung des Begriffs auf Soldatenbriefe, zum anderen durch die Zusammenstellung von Letzten Briefen mit anderen Briefen innerhalb einer Anthologie. Auch wenn Soldatenbriefe sowohl in Editionen der Briefe einzelner als auch in Anthologien der Briefe mehrerer im Zweiten Weltkrieg als Soldaten gestorbener Verfasser unter dem seit Philipp Witkop (1918) festen Titel ‚Kriegsbriefe‘ von ‚Gefallenen‘ (vgl. Peitsch 2011, 362) seit 1947 in den Westzonen herauskamen, ist der 1950 erschienene Band Letzte Briefe aus Stalingrad bedeutsam, schon wegen seines Titels. Denn diese Anthologie war bereits 1943 von einem PK-Berichterstatter im Auftrag des OKW zusammengestellt worden, und die Feldpostzensur hatte für Briefe aus dem Kessel den Begriff ‚Abschiedsbriefe‘ (vgl. Peitsch 2011, 359) verwendet. 1948 ordnete Lilli Vetter für einen Westberliner Verlag Letzte Briefe in die Anthologie Briefe aus jener Zeit ein, die neben den Abschiedsbriefen von Widerstandskämpfer*innen auch Soldaten- und andere Briefe druckte, eingeteilt in Künstler-, Haft-, Mütter-, Soldaten- und Kinderbriefe, die für alle Geschlechter, gesellschaftlichen Schichten, Lebensalter und Berufe stehen sollten. Der Schluss vom Privaten aufs Nationale wurde nahegelegt: „Der Schreiber dieser Briefe ist sozusagen ‚das andere Deutschland‘ selbst.“ (Vetter 1948, Klappe) Obwohl eingeräumt wurde, dass nicht für alle Briefschreiber*innen galt: „Manche  […] haben ihre Überzeugungstreue mit dem Galgen bezahlen müssen“, wurde deren ‚Anders‘-Sein über den privaten Charakter der Briefe auf alle Schreiber*innen verallgemeinert: „Alle diese Briefe sind für ein bestimmtes Du geschrieben, keiner ihrer Schreiber hat an eine Veröffentlichung gedacht, keiner hat ein Publikum vor Augen gehabt. Das gibt ihnen ihren besonderen Reiz.“ (Vetter 1948, Klappe) Die Privatheit der Briefe wurde mit Widerstand gleichgesetzt; jeder abgedruckte Brief zwischen Menschen, die „versuchten, ein geistiges Leben zu führen“, sei „ein Zeugnis des Lebens und der Wahrheitsliebe inmitten der tödlichen Umgarnung durch die Herrschaft der Lüge“  – „ihr Leben war täglicher Widerstand“ (Vetter 1948, 7), denn es „blieb nur der enge menschliche Zusammenschluß, der kleine private Kreis, innerhalb dessen Worte des Geistes […] ausgetauscht wurden. Dies geschah […] im Brief.“ (Vetter 1948, 8)

7.10 Briefe aus dem Widerstand (und deren Rezeption)  

 1433

3 Elemente des Letzten Briefs der Widerstandskämpfer*innen Vier Elemente besitzen in den Letzten Briefen eine auffällige Festigkeit: Erstens wird in der privaten Adressierung die Differenz von Schreiben und Lesen des Briefs als eine von Leben und Tod thematisiert; zweitens erfolgt die Mitteilung über die bevorstehende Hinrichtung als Bekundung der eigenen Haltung des/der Briefschreiber*in; drittens wird diese zum Appell an den weiterlebenden Adressaten bzw. die weiterlebende Adressatin, die Haltung des/der toten Schreiber*in zu übernehmen; viertens wird diese Bekräftigung der Vorgeschichte der Hinrichtung zum Ausblick auf eine Zukunft. Textlinguistisch hat Britt-Marie Schuster diese vier Elemente als „[s]pezifische Merkmale“ der „Textsortenvariante“ Abschiedsbrief bestimmt als „Anrede“ der Adressat*innen, „Mitteilung des endgültigen Kommunikationsabbruchs“, „Mitteilung des eigenen Befindens“ der Briefschreiber*innen, „Steuern des zukünftigen Verhaltens“ der Adressat*innen (alle Schuster 2015, 207–212). Das Vorwort der Anthologie Deutsche Widerstandskämpfer geht an einer Stelle auf das Genre des Letzten Briefs in einer Weise ein, die auf das Problem der Umadres­sierung verweist, das sich bei der Veröffentlichung von privaten Briefen stellt: Die meisten Opfer der faschistischen Blutjustiz schrieben ihre Briefe in der Hoffnung, daß der letzte Gruß an ihre Lieben die Gestapozensur passieren möge. Sie kleideten deshalb ihre Gewißheit vom kommenden Sieg über die faschistische Barbarei in harmlos klingende persönliche Worte, die die Angehörigen sehr wohl zu deuten wußten.  […] Manche Briefe aber reden eine offene Sprache. Es sind jene, die auf heimlichen Wegen in die Hände der Angehörigen gelangten. (IML 1970, 13–14)

Diese Unterscheidung von ‚eingekleidet‘ und ‚offen‘ entspricht, was die Ent­ ste­hungs­bedingungen der Texte angeht, der zwischen „[o]ffizielle[n] und inoffizielle[n] Abschiedsbriefe[n]“ durch Britt-Marie Schuster (2015, 213). In den Paratexten der Sammlungen von Letzten Briefen, den Vor-, Geleit- und Nachworten, wird aber vor allem die Bedeutung der Veröffentlichungsbedingungen erkennbar, denn als Text, dessen Verfasser*in zum Zeitpunkt der Veröffentlichung tot ist, bedarf ein Letzter Brief nicht nur eines Herausgebers oder einer Herausgeberin, sondern auch eines Paratextes, der die Veränderung der Adressierung begründet, die in der Veröffentlichung eines privaten Briefs liegt, nämlich begründet, weshalb wer auf welche Weise den ursprünglich an andere gerichteten privaten Brief lesen soll.

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4 Umadressierung durch Herausgeber*innen Die Paratexte der Anthologien zeigen nicht nur, wie sich das Bild der Leser*innen, das die umadressierenden Herausgeber*innen entwarfen, in gleichzeitigen Veröffentlichungen unterschied, sondern auch, wie sich die entworfenen Adressat*innen im Verlauf der Nachkriegszeit veränderten. Zeitgenössische Besprechungen belegen, wie sich die beabsichtigte Wirkung zu Rezeptionsweisen der Kritik verhielt, die die Strukturelemente der Letzten Briefe durchaus unterschiedlich aktualisierte. Weisenborn, der seit 1945 an der Sammlung Letzter Briefe durch die Vereinigung Opfer des Faschismus (OdF), die Vorläuferorganisation der VVN, beteiligt war, verfasste 1946 ein Vorwort für eine nicht realisierte Anthologie, in dem er ihr eine doppelte Adressierung zuschrieb: „Möge dieses Buch […] jeder Mensch in Deutschland, der trotzig glaubt, er sei nicht schuld, in heiliger Ergriffenheit lesen und möge es ihn verändern […], die Tore des Trotzes, der Engherzigkeit, der Verhärtung in ihm öffnen“. Während in dieser Adressatenbeziehung die deutschen Leser*innen als Mitschuldige angeklagt und aufgefordert werden, zu erkennen, wofür die Widerstandskämpfer gestorben seien, wird ihr Vaterland in der anderen, auf ein internationales Publikum gerichteten Adressatenbeziehung verteidigt. Der Märtyrer, der in den Letzten Briefen weiterlebe, wird präsentiert als „einziger Botschafter in die Welt“: „Das Ansehen unseres Vaterlandes in der Welt wird sich danach richten, was die Welt über den Kampf der Deutschen gegen die Nazidiktatur erfährt.“ (Weisenborn 1946, 49) Das titellose, aber von der Organisation VVN unterzeichnete Vorwort beschreibt die Adressat*innen der Anthologie „… besonders jetzt tu Deine Pflicht!“ auf den vier Seiten vor einer Abbildung des Berliner Plakats von der Hinrichtung Heinz Kapelles am 1. Juli 1941 als Menschen, die gedankenlos an der öffentlichen Bekanntmachung von Hinrichtungen vorbeigegangen seien; sie sollen jetzt die privaten Letzten Briefe als „Dokumente“ lesen: Die Faschisten versuchten, unserem Volke einzureden, daß ihre Gegner Untermenschen waren, die vertilgt werden müßten. Aber aus den Briefen der Hingerichteten spricht die Sprache der selbstlosen und liebeerfüllten Menschen, die nie ihr eigenes Glück als den Mittelpunkt ihres Daseins betrachteten, sondern an das Glück und den Frieden des ganzen Volkes dachten und danach handelten. […] Sie waren keine Ausnahmemenschen. Sie waren, wie jeder andere Mensch, erfüllt von der Freude am Leben[.] Wie jeder andere Mensch liebten sie ihre Familie, ihre Kinder. Aber sie unterschieden sich von anderen durch ihre handelnde, tatkräftige Liebe zu ihrem Volk, dem sie Krieg und Vernichtung und die fürchterlichen Folgen, die unvermeidlich jeden Krieg begleiten, durch ihren Kampf ersparen wollten. (VVN 1948, 6 u. 8)

7.10 Briefe aus dem Widerstand (und deren Rezeption)  

 1435

Ein bemerkenswerter Unterschied zwischen dem Klappentext des Verlags und dem Vorwort der Herausgeberin zeigt sich in der Anthologie Briefe aus jener Zeit. Trotz der oben zitierten indirekten Selbstdarstellung Lilli Vetters als Innere Emigrantin weicht ihre Leseanleitung ab von der des Klappentexts, „inne [zu] werden, mit welch unzulänglichen Maßstäben wir alle, die Schreiber der Briefe und wir, ihre Leser, jenes Geschehen gemessen haben“ (Vetter 1948, hintere Klappe). Während das inklusive Wir des Klappentexts ausdrücklich „alle  […] gesellschaftlichen Schichten“ (vordere Klappe) umfasst, schreibt die Herausgeberin den Schreiber*innen Letzter Briefe ausgerechnet in der Begründung der Kürzung der anderen Briefe um Privates eine besondere Autorität zu: „Die Haltung und Entwicklung der Unglücklichen, die durch die Faust Hitlers sterben mußten, gibt ihren Worten angesichts des Todes eine Klarheit der Erkenntnis, die von uns fordert, in äußerster Wachsamkeit dieses Erbe zu hüten; unser Tun und Denken sei ihres Opfertodes wert!“ (Vetter 1948, 8) Was Weisenborn 1953 für seinen Bericht beansprucht, lässt sich auch auf seine Auswahl von Letzten Briefen im Anhang von Der lautlose Aufstand beziehen, nämlich auch die Leser [zu] bewegen, die – irgendeiner Parteiung angehörend, sei es einer national, christlich oder sozialistisch betonten – den Bericht über den Opfermut einer anderen weltanschaulichen Gruppe studieren. Jeder lasse – diesen Bericht lesend – seine Vorbehalte zu Hause, seine engen Bedenken […], seine besorgten Vorurteile und bedenke, daß hier der Bericht von Männern ist, die der Stolz jedes anderen Vaterlandes wären. Jeder prüfe nicht die Partei; er prüfe den Mann, die Frau. Er öffne sein Inneres und sei bereit, jeden, auch den Feind, gerecht zu betrachten und unparteiisch. (Weisenborn 41974 [1953], 19)

Thomas Manns „Vorwort“ zur europäischen Anthologie von Malvezzi und Pirelli stellt auf das Humane als das Gemeinsame der atheistischen und der christlichen Schreiber von Letzten Briefen ab, indem er durch den detaillierten Vergleich von ihm ausgewählter Letzter Briefe aus sieben Ländern mit Leo Tolstois Erzählung Göttliches und Menschliches den Grund für die in den Letzten Briefen bezeugte Kraft der Hingerichteten im Glauben an die Zukunft findet, an ein Fortleben, den er im Fall der Atheisten „poesievoller“ (Malvezzi und Pirelli 1956, 11) nennt; ihr Märtyrertum deutet er mit Tolstois Figur Swetlogub: „‚Sieg oder Märtyrertum, und wenn Märtyrertum, so ist auch das ein Sieg – Sieg in der Zukunft.‘“ (Tolstoi 1990, 236) Helmut Gollwitzers, Käthe Kuhns und Reinhold Schneiders Leseanleitung für Du hast mich heimgesucht bei Nacht richtete sich ausdrücklich, gegen ein historisches Interesse an politischer Kritik des Nationalsozialismus, auf die Annahme eines  – von den Herausgeber*innen als „Treuhändern“ (Gollwitzer et al. 51957 [1954], 12) der Schreiber*innen der Letzten Briefe vermittelten – moralischen und religiösen Erbes:

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Vergebens wird man in diesen Blättern nach politischen Programmen, kritischen Auseinandersetzungen mit dem totalitären Staatssystem oder nach Aussagen über Motive, Ziele und Methoden des Widerstandes suchen. […] Aber in diesem Verschweigen des Politischen wird der Sinn des Widerstandes nicht verhüllt, sondern in Reinheit ausgesprochen. (Gollwitzer et al. 13–14)

Das Vorwort des Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, zu Heinz Schumanns und Gerda Werners Anthologie Erkämpft das Menschenrecht erklärte die Schreiber*innen Letzter Briefe zum „leuchtende[n] Vorbild“, das „in der SED und in den Herzen von Millionen werktätiger Menschen“ lebe: „Aus ihrem Beispiel schöpfen wir Kraft“ (Schumann und Werner 1958, 6). Während Pieck die von den Leser*innen aus den Letzten Briefen der Widerstandskämpfer*innen zu schöpfende „Kraft“ des „Beispiels“ auf „den Sieg des Sozialismus in ganz Deutschland“ über den „kriegslüsternen Militarismus“ und das „Terrorregime“ des westdeutschen Monopolkapitals bezog (Schumann und Werner 1958, 6), schrieb im titellosen Vorwort zur westdeutschen Lizenzausgabe der DDR-Reclam-Auswahl aus Erkämpft das Menschenrecht, die auch An die Lebenden hieß, 1961 die Mutter von Arvid Harnack: „Ihr jungen Menschen […] denkt daran, daß Deutschlands Schicksal einmal in Eurer Hand liegen wird! Vielleicht findet dieser oder jener Abschiedsbrief Zugang zu Eurem Herzen! Über Jahrzehnte hinweg spricht ein Chor von Stimmen zu Euch, die zur Wahrheit und Liebe mahnen!“ ([anonym] 1961, 5) Im selben Jahr nahm Hans Walter Bähr, der 1952 die Tradition der Kriegsbriefe gefallener Studenten fortgeführt hatte, in seine Anthologie Die Stimme des Menschen. Briefe und Aufzeichnungen aus der ganzen Welt auch Letzte Briefe von Widerstandskämpfer*innen auf, auch von kommunistischen, wenngleich keinen deutschen. Durch die Aufhebung der sozialen, generationellen und vor allem nationalen Begrenzung wurde aus der nationalen „communio passionis“ (Bähr 1952, 465), in der studentische Jugend den zu tradierenden Geist der Nation repräsentieren sollte, 1961 eine „‚Passio humana‘, die auch angesichts neuer Bedrohungen tröstliche Bilder der Kraft und Stärke des Menschen und seiner weltweiten Bruderschaft zu geben vermag“ (Bähr 1961, hintere Klappe), wenn sie „rückhaltlos aus persönlichen Dokumenten wissen“ lasse, „was Krieg bedeutet“ (Bähr 1961, 585). Entsprechend veränderte sich die angestrebte Wirkungsweise der Briefpublikation in einer Zeit, die „vor der Entscheidung“ stehe, „in […] atomaren Explosionen unsere Geschichte zu enden oder  […] ihre Spannungen in einem immer neu zu erringenden Ausgleich zu bewältigen“ (Bähr 1961, 587): „Die persönlichen Niederschriften der Toten des Krieges und der Opfer extremer Inhumanität rufen in dieser Stunde unser Gewissen und unsere Vernunft zur Überprüfung unseres eigenen Willens in der Gegenwart.“ (Bähr 1961, 587)

7.10 Briefe aus dem Widerstand (und deren Rezeption)  

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5 Rezeptionsweisen der Literaturkritik Die Veränderungen im Bild der Adressat*innen der von den Herausgeber*innen umadressierten Letzten Briefe haben ein Gegenstück in der jeweils gleichzeitigen Differenz von Rezeptionsweisen. Exemplarisch zeigen sie die Möglichkeit, Elemente der Struktur des Letzten Briefs unterschiedlich auszuwählen und anzuordnen. Im Organ der für alle vier Besatzungszonen 1947 gegründeten VVN aktualisierte der noch nicht nach Leipzig übergesiedelte Frankfurter Literaturkritiker Hans Mayer das erste Element, indem er in einer Besprechung den Adressanten Letzter Briefe mit einer eigenen Anrede antwortete und im Gegensatz zu dem Ostberliner Herausgeber der Zeitschrift Ost und West, Alfred Kantorowicz, deren Tod nicht den Sinn eines Vermächtnisses zuschreibt, das in der Gegenwart Erfüllung finde: „Schauen wir heute in Deutschland umher, so müssen wir leise dem Andenken unserer Toten gestehen: Euer Leid war vergeblich. Es hat nichts zu ändern vermocht. Wir sind nicht sicher vor neuem Krieg…“ (Mayer 1947, 6) Dagegen wies Alfred Kantorowicz’ Besprechung der VVN-Anthologie in seiner Zeitschrift zwar schon in der Überschrift „Die echten Märtyrer“ auf den umstrittenen Charakter des ‚Blutzeugnisses‘ hin, das die Schreiber*innen Letzter Briefe zu „ehrwürdigen Vorbildern“ werden ließ, „die uns in ihren letzten Worten die Verpflichtung vermachten, in ihrem Sinne zu handeln“ (Kantorowicz 1949, 86), aber bezogen auf die „Märtyrer  […] des deutschen Freiheitskampfes unserer Tage“ (Kantorowicz 1949, 84) versicherte er: „Durch ihr Opfer sind sie zu Wegbereitern der Zukunft geworden, des besseren und friedlichen Lebens von morgen, dessen Vorkämpfer sie einst waren, dessen Erfüllung, ihrem großen Beispiel folgend, die deutsche Jugend sein wird“ (Kantorowicz 1949, 86). In einer Besprechung von Harald Poelchaus Erinnerungen eines Gefängnispfarrers (1949), die viele Letzte Briefe von Angehörigen der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe enthalten, aktualisierte Annie Voigtländer im Aufbau das zweite mit dem dritten Element, indem sie der appellativen Bekundung der eigenen Haltung der Briefschreiber*innen mit Achtung vor den mit dem Tod bewiesenen Gewissensentscheidungen anderer begegnet: Es gelte „auch für die Verschwörer des 20. Juli“, dass „das Verpflichtende“ darin liege, dass sie „in bewunderungswürdiger Haltung in den Tod [gingen], in der unbeugsamen Sicherheit, recht getan zu haben und für das Rechte ihr Leben hinzugeben“ (Voigtländer 1949, 1049). Im Gegensatz dazu vermittelten dem Rezensenten der gleichfalls vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands der SBZ herausgegebenen Wochenzeitung Sonntag die von Poelchau abgedruckten Letzten Briefe nur ein „verzerrte[s] und unrichtige[s]“ „Bild von der sozialen Herkunft und den ideologischen Motiven der Antifaschisten“ ([anonym] 1949)  – wie auf ganz andere

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Weise sieben Jahre später auch der westdeutschen Publizistin Margret Boveri, für die Harro Schulze-Boysens „leidenschaftlich erbittert[er]“„Abschiedsbrief an seine Eltern  […] sich so grundlegend von den letzten Briefen seiner Altersgenossen unter den Kreisauern“ darin unterscheidet, dass diesen „in den letzten Stunden […] die Auseinandersetzung der eigenen Person mit dem eigenen Tod und mit Gott doch ihr oberstes Anliegen“ gewesen sei (Boveri 1956, 59). Weisenborns Angebot, den Appell, das dritte Element, der Letzten Briefe im Anhang seiner Darstellung der deutschen Widerstandsbewegung als Der lautlose Aufstand großer Teile des Volks, den er einer deutschen Kollektivschuld entgegensetzt, in deren gemeinsamem Motiv der Beendigung des Kriegs als aktuell anzunehmen, wird von der westdeutschen Kritikerin Hilde Walter im Monat und dem ostdeutschen Kritiker Henryk Keisch in der Neuen Deutschen Literatur mit unterschiedlicher Begründung zurückgewiesen: Walter bestreitet, dass es eine die Kommunisten einschließende Gemeinsamkeit gegeben habe, Keisch behauptet, dass die Kommunisten eine führende Rolle gespielt hätten. Wenn Walter Weisenborn vorwirft, er „erweckt“ „den völlig falschen, sonst nur von Kommunisten und ihren Mitläufern propagierten“„Eindruck“ einer ‚Volksfront‘: „Wollte man Weisenborns Beschwörungen folgen, so müßte man dem Gedächtnis der Gefallenen des Widerstandes gegen Hitler zu Ehren auf jeden ernstlichen Widerstand gegen sowjetischen Terror verzichten. Ich glaube nicht, daß diese Haltung dem Geist und Willen derer, die wir ehren wollen, entspricht“ (Walter 1953, 550), so wendet Keisch gegen Weisenborn ein, dass sein „Appell“, alle Widerstandskämpfer als deutsche und mutige Kämpfer für die Beendigung des Kriegs anzuerkennen, „eine Verschiebung der Proportionen“ leiste, „die im Ergebnis die historische Wahrheit in einer bestimmten Hinsicht entstellt“, nämlich nicht die Kommunisten als diejenigen „Kräfte“ anzuerkennen, „welche […] mit dem Anspruch auftreten dürfen, schon immer […] das Richtige gewollt und […] getan zu haben“, und deren damit „verbundene[r] moralische[r] Kredit […] eine der Grundlagen ihrer Autorität in der Gegenwart“ sei (Keisch 1954, 156). Als Malvezzis und Pirellis europäische Anthologie als dtv-Taschenbuch erschien, im deutschen Teil um die meisten Briefe hingerichteter deutscher Kommunist*innen gekürzt, forderte Weisenborns ehemaliger Mitarbeiter Walter Hammer in einer Rundfunkbesprechung mit einer negativen Aktualisierung des vierten, zukunftsbezogenen Elements Letzter Briefe, es „sollte […] eingestampft werden“, denn es sei „eine Verunglimpfung des Andenkens all jener, die nicht Kommunisten waren“ (Hammer 1962, 1). Im Gegensatz dazu erhob der Literaturkritiker Georg Lukács die Letzten Briefe der italienischen Anthologie zum kritischen Maßstab der ästhetischen Bewertung der Nachkriegsliteratur. Zum Erscheinen von Peter Weiss’ Die Ermittlung und von Rolf Hochhuths Der Stellvertreter bemerkte Georg Lukács 1965, dass mit ihnen „die heutige deutsche Literatur zum

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erstenmal das Niveau des wirklichen Lebens, der letzten Briefe der zum Tode verurteilten Antifaschisten erreichte und wirklich europäisch – im Sinne von [Jorge] Semprúns [Die g]roße Reise – wurde“ (Lukács 1966, 7).

Zitierte Literatur [anonym] (1949). „Die letzten Stunden“, in: Sonntag, 4.41: 9. [anonym] (1959). Letzte Briefe aus Stalingrad. Frankfurt a. M. u. Heidelberg. [anonym] (1961). An die Lebenden. Lebensbilder und letzte Briefe deutscher Widerstandskämpfer. Ludwigsburg. Bähr, Walter u. Hans W. Bähr (Hg.) (1952). Kriegsbriefe gefallener Studenten 1939–1945. Tübingen u. Stuttgart. Bähr, Hans W. (Hg.) (1961). Die Stimme des Menschen. Briefe und Aufzeichnungen aus der ganzen Welt. München. Boveri, Margret (1956). Der Verrat im 20. Jahrhundert. Bd. 2: Für und gegen die Nation. Das unsichtbare Geschehen. Reinbek bei Hamburg. Goguel, Rudi (1976). Antifaschistischer Widerstand und Klassenkampf. Die faschistische Diktatur 1933 bis 1945 und ihre Gegner. Bibliographie deutschsprachiger Literatur aus den Jahren 1945 bis 1973. Berlin. Gollwitzer, Helmut, Käthe Kuhn u. Reinhold Schneider (Hg.) (51957 [1954]). Du hast mich heimgesucht bei Nacht. Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933–1945. München. Hammer, Walter (1962). Kritische Randbemerkungen zu einem Taschenbuch. NWDR, 1. August 1962, Typoskript. Akademie der Künste, Berlin, Bestand Weisenborn, 1410/2. Institut für Marxismus-Leninismus (IML) (1970). Deutsche Widerstandskämpfer 1933–1945. Biographien und Briefe. 2 Bde. Berlin. Kantorowicz, Alfred (1949). „Die echten Märtyrer“, in: Ost und West, 3.9: 84–86. Keisch, Henryk (1954). „Literatur und historische Wahrheit. Zu einem westdeutschen ­Dokumentenwerk über den Widerstand gegen Hitler“, in: Neue Deutsche Literatur, 2.3: 155–160. Kroh, Albert (Bearb.) (1963). Faschismus und Widerstand. Eine Literaturauswahl. Belletristik und Sachliteratur über die Zeit des Faschismus und des Widerstandskampfes in Deutschland und den okkupierten Ländern. Bernau. Leber, Annedore, in Zusammenarbeit mit Willy Brandt u. Karl Dietrich Bracher (Hg.) (61956 [1954]). Das Gewissen steht auf. 64 Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand 1933–1945. Berlin u. Frankfurt a. M. Leber, Annedore, in Zusammenarbeit mit Willy Brandt u. Karl Dietrich Bracher (Hg.) (1957). Das Gewissen entscheidet. Bereiche des deutschen Widerstandes von 1933–1945 in Lebensbildern. Berlin u. Frankfurt a. M. Lukács, Georg (1966). „Vorwort: Über die Bewältigung der deutschen Vergangenheit“, in: Ders. Von Nietzsche bis Hitler oder Der Irrationalismus und die deutsche Politik. Frankfurt a. M.: 7–26. Malvezzi, Piero u. Giovanni Pirelli (Hg.) (1955). Und die Flamme soll Euch nicht versengen. Letzte Briefe europäischer Widerstandskämpfer. Mit einem Vorw. v. Thomas Mann. Zürich.

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Malvezzi, Piero u. Giovanni Pirelli (Hg.) (1956). Und die Flamme soll Euch nicht verbrennen. Letzte Briefe europäischer Widerstandskämpfer. Mit einem Vorw. v. Thomas Mann. Berlin. Malvezzi, Piero u. Giovanni Pirelli (Hg.) (1962). Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand. Mit einem Vorw. v. Thomas Mann. München. M[a]yer, Hans (1947). „Und wir lassen es wieder geschehen?“, in: Unser Appell, 1.6: 6. Peitsch, Helmut (2011). „Letzte Briefe in den Nachkriegsöffentlichkeiten“, in: Schreiben im Krieg – Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege. Hg. v. Veit Didczuneit, Jens Ebert u. Thomas Jander. Essen: 351–367. Poelchau, Harald (1949). Die letzten Stunden. Erinnerungen eines Gefängnispfarrers aufgezeichnet von Graf Alexander Stenbock-Fermor. Berlin. Schumann, Heinz u. Gerda Werner (Hg.) (1958). Erkämpft das Menschenrecht. Lebensberichte und letzte Briefe antifaschistischer Widerstandskämpfer. Mit einem Vorw. v. Wilhelm Pieck. Berlin. Schumann, Heinz, u. Gerda Werner (Hg.) (1959). An die Lebenden. Letzte Briefe deutscher Widerstandskämpfer. Leipzig. Schuster, Britt-Marie (2015). „‚Dies ist mein letzter Brief auf dieser schönen Erde‘. Abschiedsbriefe aus dem deutschen Widerstand als Textsortenvariante“, in: Letzte Briefe. Neue Perspektiven auf das Ende von Kommunikation. Hg. v. Arnd Beise u. Jochen Strobel. St. Ingbert: 199–216. [St.] (1950). „Siegbert Rotholz Hingerichtet am 4. März 1943“, in: Die Tat, 11. März. Berlin: 6. Tolstoi, Leo (1990). „Göttliches und Menschliches“, in: Ders. Wieviel Erde braucht der Mensch. Erzählungen. Frankfurt a. M.: 230–270. Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) (Hg.) (1948). „… besonders jetzt tu Deine Pflicht!“ Briefe von Antifaschisten geschrieben vor ihrer Hinrichtung. Berlin u. Potsdam. Vetter, Lilli (1948). Briefe aus jener Zeit. Berlin. Voigtländer, Annie (1949). „Die letzten Stunden“, in: Aufbau, 5.11: 1949–1950. Walter, Hilde (1953). „Mißbrauchte Märtyrer“, in: Der Monat, 5.59: 549–551. Weisenborn, Günther (o.D.). „Seid leise, Freunde“. Typoskript, Akademie der Künste, Berlin, Bestand Weisenborn, 366 I. Weisenborn, Günther (Hg.) (1962 [1953]). Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933–1945. Reinbek bei Hamburg. Weisenborn, Günther (41974 [1953]). Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933–1945. Frankfurt a. M.

Benjamin Grilj

7.11 Briefe aus den Lagern der NS-Herrschaft (1933–1945) Unmittelbar nach der Machtübernahme der NSDAP endete jegliches Prinzip von Rechtsstaatlichkeit in Deutschland, da dieses durch das Paradoxon juristischer Willkür ersetzt wurde. Bereits am 22. Februar 1933, also nicht einmal einen Monat nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, wurden SS-, SA- und StahlhelmAngehörige zu Hilfspolizisten ernannt, was einer Legalisierung des ausgeübten Terrors gleichkam. Auf die Folterkeller und improvisierte Lager folgte bereits am 3. März im thüringischen Nohra das erste nationalsozialistische Konzentrationslager. Es entstand ein Netzwerk aus Zwangslagern, das sich mit der territorialen Ausbreitung des Deutschen Reiches bis 1945 von den Pyrenäen bis ans Schwarze Meer erstreckte. Die Beschreibung von Funktion, ‚Qualität‘ und Quantität dieser Lager, Gefängnisse, Ghettos, Vernichtungs- und Mordstätten ist bis heute nicht eindeutig möglich, da Übergänge fließend sind und die Aktenlage bescheiden ist. Grundsätzlich kann man vier zeitliche Phasen unterscheiden: erstens die Inhaftierung politischer Gegner, zweitens die Inhaftierung ideologischer Gegner, drittens die Inhaftierung Kriegsgefangener mit einsetzender Massenvernichtung und viertens die Inhaftierung und Vernichtung der europäischen Juden. Jede dieser Phasen stellte die vorhergehende in den Schatten, was Lager-, Häftlingsund Mordzahlen betrifft. Am Ende werden es nach aktuellen Schätzungen 42.400 Lager (vgl. Megargee 2012) gewesen sein, in denen an die sechs Millionen Menschen ermordet wurden. Obwohl diese Orte im Regelfall jenseits einer Öffentlichkeit errichtet wurden, waren sie Teil unterschiedlicher Kommunikationsnetzwerke, die hier exemplarisch vor allem am Ghetto von Lodz/Litzmannstadt – hier ist die Quellendichte am höchsten und die unterschiedlichen Formen brieflicher Kommunikation zeigen deutlich differente Ebenen – thematisiert werden sollen. Eindeutig muss zwischen Geschäfts- und Privatbriefen unterschieden werden, wenngleich weitere strikte Kategorisierungen des Begriffs ‚Brief‘ in diesem konkreten Fall nicht gegeben sind, weil sich Zwang, Unfreiheit und das schier unermessliche Leid nicht an definitorische und stilistische Einteilungen hält. Allen Briefen gemein ist die räumliche und zeitliche Eingrenzung. Die wohl am besten zugänglichen Briefe sind die Geschäftsbriefe der Verwaltung an die anderen Behörden, Lager und die angeschlossene Industrie. Als Teil der Verwaltungsakten gingen sie an die Archive und stellen heute einen wesentlichen Bestandteil der Textkorpora für die NS-Forschung dar. Dennoch zeigt sich am Umgang mit ihnen ein Wandel in der Geschichtswissenschaft deutlich: https://doi.org/10.1515/9783110376531-121

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Wurden sie anfangs primär quellenpositivistisch (vgl. Eckert 2004, 175) analysiert, so folgten mit linguistic und cultural turn zusätzliche Interpretationsebenen – vor allem die Frage nach den Personen. Diese Kommunikation unterscheidet sich  – trotz des unmenschlichen Inhalts – nicht von anderen Behördenbriefen. Stilistisch gesehen handelt es sich um strikt formalisierte Geschäftsbriefe, die zeit- und ortsunabhängig im gesamten nationalsozialistischen Herrschaftsgebiet von allen Behörden eingesetzt worden sind. Der Totalitarismus determiniert über die Form den Inhalt und reduziert das menschliche Moment auf ein Minimum  – sowohl was die Verfasser*innen als auch was den Inhalt betrifft. Die derart geschaffene Distanz evoziert die Handlungsmöglichkeit (vgl. u.  a. Browning 1992; Welzer 2011) und die spätere Ablehnung jedweder Verantwortung (evident z.  B. im Eichmann-Prozess, vgl. Arendt 1964). Ebenfalls als Geschäftsbrief muss die Kommunikation mittels Plakat gesehen werden, die im Kontext des Lagers die Funktion eines Rundbriefs mit klar umrissener Leserschaft hat. Hierbei ist zwischen zwei Typen zu unterscheiden: erstens Plakaten der NS-Verwaltung und zweitens der jüdischen ‚Selbstverwaltung‘, des sogenannten Juden- oder Ältestenrates (als besondere Perfidie haben die Nationalsozialisten ihren Opfern ebenfalls ein Führerprinzip aufgezwungen). Die in grellen Farben gestalteten Plakate der NS-Verwaltung sind mit den ReichsInsignien versehen und im Regelfall Bekanntmachungen von vollstreckten Todesurteilen (z.  B. wegen Schwarzschlachtungen – vgl. DHM Berlin P 64/144). Es sind Warnungen und Drohungen an die anderen, die vielfach zweisprachig – meist deutsch und polnisch – gehalten sind. Im Gegensatz dazu überließen es die Nationalsozialisten dem ‚Ältestenrat‘, Alltägliches (wie z.  B. die ‚Pflicht zum Grüßen‘, das Fotografie-Verbot, Ausgangssperren etc. bis hin zur Auflösung des Ghettos) über das Medium Plakat zu kommunizieren. Diese Plakate sind kleiner, auf weißem bis orange-braunem Papier und ebenfalls zweisprachig, wobei die Zweitsprache Jiddisch ist. Auch wenn aus den Plakaten des ‚Judenrates‘ klar hervorgeht, dass dieser nur Mittler war („auf Anordnung der Behörden mache ich […] darauf aufmerksam, dass […]“, Bekanntmachung 410, StA Lodz, APL 278/170, 11), wurde er häufig mit der NS-Verwaltung gleichgesetzt, was zu Konflikten unter den Inhaftierten führte. Auffällig sind die unterschiedlichen Typographien: nicht nur, dass sich die Plakate der Verwaltung unterscheiden, sondern auch die der ‚Selbstverwaltung‘, was darauf hindeutet, dass von allen verwendeten Schriften mehrere Bleisätze zur Verfügung standen (so verwendet z.  B. die Bekanntmachung 410 eine serifenlose Schrift, wohingegen die Bekanntmachung 414 eine wesentlich enger gesetzte Serifenschrift hat; vgl. Bekanntmachung 410, StA Lodz, APL 278/170, 11. und Bekanntmachung 414, StA Lodz, APL 278/170, 118).

7.11 Briefe aus den Lagern der NS-Herrschaft (1933–1945) 

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Für einige Lager finden sich noch Zwischenformen zwischen Geschäfts- und Privatbriefen: Es handelt sich dabei z.  B. um vorgedruckte Karten mit Bitten um Geldsendungen, auf denen nur Namen (und im Falle des Ghettos die Adresse) eingetragen wurden (vgl. DHM Berlin Do2 93/1560). Unklar ist, ob diese tatsächlich von den angegebenen Personen ausgefüllt wurden, weil sie ansonsten keine Personalisierung (Anrede, Verabschiedung, Unterschrift) enthalten. Die Bitte um Geld ist infam, weil die Reichsmark im Ghetto nicht galt und gegen eigenes Geld (vgl. DHM Berlin N 90/4130) getauscht werden musste (vgl. Loose 2007, 160  ff.). Eine andere Zwischenform sind die Abmeldungen aus den Lagern (vgl. StA Lodz, MF L21113cz4 – 5872); sie entsprechen den klassischen Wohnort-Abmeldungen und sind auch analog dazu angelegt. Wenn das Feld ‚neue Adresse‘ jedoch nicht ausgefüllt ist, sind sie nicht als Akt zu interpretieren, sondern als Verständigung an die Angehörigen: Diese Menschen wurden in die Vernichtungslager deportiert und ermordet – im oben zitierten Beispiel in einem Gaswagen in Chelmno – und waren damit von jeglicher schriftlichen Kommunikation exkludiert. Die überlieferten Privatbriefe sind gänzlich anders zu beurteilen, da sowohl ihre Entstehung als auch Transport und Verwahrung nicht mit den Geschäftsbriefen zu vergleichen sind. Es gilt, wesentlich mehr Ebenen zu bedenken, etwa: Zu welcher Gruppe (Opfer, Täter*innen, Bystanders bzw. Ermöglicher*innen) gehören Sender*innen und Empfänger*innen? Unterliegen die Briefe der Zensur, oder nicht? Auf welchem Wege werden sie transportiert? Werden die Briefe aus den Lagern geschickt oder in diese? Sind es Briefe oder Postkarten? Wie ist der materiale Charakter, wie sind die Briefe erhalten geblieben, und wie wurden sie der Forschung zugänglich gemacht? Welche stilistische Form wurde verwendet? Die Frage der Zugehörigkeit zu einer Personengruppe ist evident, da es entsprechende Restriktionen gab. Die NS-Führung hatte eine strikte Hierarchie der Opfergruppen, die situations- und ortsabhängig schlagend wurde: Für die Vernichtungslager (Auschwitz-Birkenau, Belzec, Sobibor, Treblinka und Chelmno) galt eine generelle Nachrichtensperre. In den Konzentrationslagern waren Juden, sowjetische Häftlinge sowie Roma und Sinti (‚Zigeuner‘) ausgeschlossen, wohingegen beispielsweise Zeugen Jehovas (‚Bibelforscher‘) oder polnische Inhaftierte – mit Einschränkungen – schreiben durften. Aus Internierungs- (wie Gurs), Sammel- und Durchgangslagern (wie Westerbork oder Drancy) und den großen Ghettos (Warschau, Lodz und Theresienstadt) war eine Kommunikation möglich, wenngleich diese inhaltlich, formal, von Umfang und Häufigkeit klar begrenzt und reglementiert war, was vielerorts auch direkt auf dem zu verwendenden Briefkuvert festgehalten wurde – so auch in Ravensbrück: „Jede Schutzhaftgefangene darf im Monat einen Brief oder eine Karte absenden oder empfangen. Die Zeilen müssen mit Tinte übersichtlich und gut lesbar geschrieben sein. Briefe dürfen vier

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normale Seiten mit je 15 Zeilen und Karten 10 Zeilen nicht überschreiten.“ (DHM Berlin Do2 95/369) Die Briefe von Täter*innen sowie Bystandern und Ermöglicher*innen unterlagen keinen Beschränkungen. Die wenigen erhaltenen authentischen Privatbriefe von Täter*innen (z.  B. die Briefe des Oberbürgermeisters von Lodz (vgl. Ventzki 2011, 54) oder die Liebesbriefe des SS-Wächters Wurm aus Mauthausen an seine spätere Frau (vgl. Dürr 2016)) sind primär von einer völligen Abschottung gegenüber dem ‚Alltag Shoah‘ geprägt, wobei sich die Forschung uneinig ist, ob das als Substitionshandlung oder als eine Mischung aus Zensur und Selbstzensur zu verstehen ist. Diese Briefe enthalten primär Banalitäten; Beschreibungen vom Leben im Lager oder gar einer eigenen Beteiligung an Verbrechen finden sich nicht. Noch weniger Briefe sind aus der direkten Nachbarschaft überliefert, doch wenn, dann zeichnen sie ein anderes Bild als die der Täter*innen. In ihnen wird das Gesehene nicht ausgeblendet, sondern mehr oder minder direkt geschildert – beispielsweise durch genaue Angaben der Orte (vgl. Audioguide-Manuskript der Gedenkstätte Sachsenhausen, 11) oder der Geschehnisse (für das KZ Mauthausen vgl. Cehovsky 2014, 4). Die gerne geäußerte Aussage des Nicht-Wissens ist damit obsolet. An diesem Faktum zeigt sich deutlich das Wirken der staatlichen Zensur: Während Privatbriefe von Bystandern und Ermöglicher*innen – ebenso wie die der Soldaten – nur einer stichprobenartigen Überprüfung unterlagen, wurde die Post von Opfern einer systematischen Kontrolle unterzogen. Der größte Teil der Briefe der Opfer schildert eine Situation, die wenig mit dem tatsächlichen Geschehen zu tun hat. Einerseits um nicht der Zensur zum Opfer zu fallen, aber andererseits, um die Empfänger zu schützen – emotional wie physisch, denn das Wissen stellte im nationalsozialistischen Denunziantenstaat eine erhebliche Gefahr dar. Am Beispiel Lodz zeigt sich eine neuerliche besondere Perfidie: Der staatlichen Zensur war eine ghettointerne vorangestellt worden, die vor allem darauf achtete, dass die Briefe in gutem Deutsch geschrieben waren (vgl. StA Lodz APL 2317/649). Ansonsten wurden sie von der NS-Zensur nicht durchgelassen, wofür der ‚Ältestenrat‘ haftete. Briefe, die nicht durch die Zensur kamen, wurden vernichtet. Umgehungsstrategien, wie die Verwendung hebräischer Begriffe (siehe das bekannte Beispiel, in dem von „Onkel Row [hebr. für Hunger]“ Grüße bestellt wurden aus Gurs, vgl. Mittag 1996, 50), waren damit nicht mehr möglich. Alternativ folgte deswegen vielfach ein Wechsel in Familien- oder Geheim- bzw. Lagersprachen (so verwendete die Familie Langnas den Namen der nach Theresienstadt verschleppten Bekannten „Lina“ als Synonym für Deportationen – vgl. Langnas 2010, Stw. „Lina“, eBook; „Achtzehn“ als Warnung vor Polizei/SS/Gestapo, abgeleitet vom militärischen „Achtung“-Ruf, vgl. Weinmann 2010, X). Die einzige Möglichkeit, die Zensur zu umgehen, war die Verwendung von Kurieren, was jedoch für alle Beteiligten ein lebensgefährliches Unterfangen dar-

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stellte. Je größer und organisierter das Lager, um so seltener findet sich dieses Phänomen, obgleich es trotzdem existierte – selbst im Stammlager von Auschwitz (vgl. Langbein 1972, 414). Das Schicksal dieser Kurierinnen und Kuriere ist bis heute unerforscht. Die so übermittelten Briefe zeichnen – obwohl einer starken Selbstzensur unterworfen – ein Bild der grausamen Situation vor Ort, das sich vor allem im Vergleich zu den offiziell verschickten Briefen ergibt (vgl. als eines von wenigen Kompendien Grilj 2014). Es sind größtenteils Hilferufe und/oder Warnungen, sie werden in beide Richtungen verschickt, wenngleich die Antwortschreiben fast durchgängig fehlen, so dass nur aus den Schreiben aus den Lagern auf diese geschlossen werden kann. Häufig finden sich Informationen zum gesamten sozialen Netzwerk, zur Flucht und Kriegslage; manchenorts sogar noch mehr und sehr detailliert: So warnt der (noch) nicht inhaftierte Rabbi von Grabów bei Lodz das Ghetto vor „der Hölle“ Chelmno (Löw 2006, 285). Neben der inhaltlichen Komponente untergraben die mit Kurieren geschmuggelten Briefe auch die Zwangssituation, weil so Schreibverbote und Postentzug  – die gleich schlimm empfunden wurden wie Strafarbeit oder Prügel (vgl. Buchheim et al. 1999, 366) – umgangen werden konnten. Im Gegensatz zu den über die Zensur verschickten Briefen ist bei den geschmuggelten auch die Frage der Materialität zentral: Gewöhnliches Briefpapier oder Postkarten waren kaum erhältlich, so dass erstens ein Schwarzmarkt entstand und zweitens buchstäblich jeder Fetzen Papier Verwendung fand. Für die verwendeten Stifte gilt das Gleiche. Zusätzlich ermöglichte das Wegfallen der Zensur auch ein anderes Schreiben: So war es nicht notwendig, besonders deutlich oder korrekt zu schreiben, konnte in der jeweiligen Muttersprache (und damit auch in allen lokalen und dialektalen Formen, mit jargon-, milieu- und gruppenspezifischen Termini, Mischsprachen etc.) kommuniziert werden, was aus der heutigen Position heraus eine Interpretation und Analyse erschwert und z.  T. sogar verhindert. Gleichzeitig war es aber eine Demokratisierung der Kommunikation, weil so auch Menschen mit geringerem Bildungsstand und fehlenden Deutschkenntnissen schreiben konnten. Die Zensur hingegen akzeptierte ausschließlich Postkarten oder Briefe, die im Regelfall auf normiertem Papier (in den kleineren, teilweise nur temporären Lagern gilt dies jedoch nicht konsequent, vgl. u.  a. Halbrainer 2000) verfasst werden mussten. Auch für dieses entstand ein Schwarzmarkt, der vor allem den Wachmannschaften zugutekam, die das Angebot bewusst reduzierten (vgl. Boberach 1984, Sp. 5233). Somit war es eine Geldfrage, ob ein wesentlich teurerer, möglicherweise sogar mehrseitiger Brief oder eine Postkarte verschickt werden konnte. Neben dem Umfang liegt der Unterschied auch im Geheimnis, denn die Postkarte konnte jeder lesen. Geldsendungen und Pakete (mit Lebensmitteln, Medikamenten, Kleidung, z.  T. sogar Hausrat) wurden nur in Ausnahmefällen erlaubt, wobei meist nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Empfänger diese tatsäch-

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lich erhielten, weil die Lager-SS und Kapos den größten Teil unterschlugen (vgl. Wachsmann 2016; Schütze 2013, 57). Aus Auschwitz gibt es Zeitzeugenberichte, denen zufolge die Häftlinge unmittelbar vor ihrer Ermordung aufgefordert worden sind, Briefe an Angehörige im Ausland zu schreiben und Pakete zu verlangen (vgl. Rosenberg und Wetzler 1945, 16). Für den Empfang von Paketen war man also ebenfalls auf Kuriere angewiesen, wobei auch hier nicht alles ankam: sei es, weil ein unsicherer Kurier gewählt worden war oder weil die Wachmannschaften bestochen werden mussten. Für alle offiziellen Postsendungen musste Porto bezahlt werden, wobei die Briefmarken dafür im Regelfall als Teil der Antwortschreiben an die Schreibenden im Lager geschickt wurden. Doch bis diese eintrafen (viele Briefe wurden nicht zugestellt, wobei heute nicht mehr beurteilt werden kann, ob sie von der Zensur nicht akzeptiert wurden, auf dem Postweg verloren gingen oder nicht zugestellt werden konnten, weil die Empfänger schon deportiert oder geflüchtet waren; vgl. Löw 2006, 420), musste wieder auf den Schwarzmarkt zurückgriffen werden. Die lagerinterne schriftliche Kommunikation der Opfer ist in der Forschung bis heute  – wenn überhaupt  – eine Fußnote, obwohl sich hier teilweise sogar feste Strukturen ausbildeten. In den Ghettos von Lodz und Theresienstadt etablierte sich ein Postsystem, das nicht nur für die einkommende und ausgehende Post (inklusive innerjüdischer Zensur, s.  o.) verantwortlich war, sondern auch ein lagerinternes System errichtet hatte: mit Briefkästen, Briefträgern, eigenen Briefmarken und Filialen. Da es Restriktionen (wie z.  B. vorübergehenden Schreibverboten; vgl. Tošnerová 2001) unterworfen war, entstand ein paralleles KurierSystem; Analoges geschah in Lagern, in denen eine schriftliche Kommunikation generell untersagt war. So wurden in Auschwitz-Birkenau Briefe zwischen einzelnen Baracken oder zwischen Männer- und Frauenlager von Kurieren zugestellt (vgl. Langbein 2016, Stw. Illegale Briefe und Zettel). Aber auch dort, wo durch strikte Zensur und fehlende Kuriere keine Kommunikation möglich zu sein schien, schrieben die Opfer; sie wechselten dafür manchmal zu anderen stilistischen Formen – wie Lyrik (vgl. u.  a. Čapek 2016) – oder Mischungen, wie beispielsweise aus Tagebuch und Briefen (vgl. u.  a. Bolle 2006). Funktional handelt es sich aber um Briefe, weil so codierte Information durch den Raum weitergegeben werden sollte (vgl. Klein 1999, 128). Vor allem bei der Lyrik stellt sich – sowohl lokal als auch temporal – die Frage nach dem Raum, oder konkreter nach der Privatheit und damit auch Persönlichkeit. An Orten mit Schreibverboten musste man sich den Augen der Wachen und Kapos entziehen. Aber auch wenn das Schreiben erlaubt war, brauchte man Zeit und einen Ort. Während das gesamte NS-Zwangssystem darauf ausgerichtet war, den Inhaftierten jegliche Form der Persönlichkeit zu nehmen (Herausreißen aus der Familie und Gemeinde, Nummern statt Namen, glatt rasierte Schädel, Häftlingskleidung,

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kollektive Zwangsarbeit, Zukunftslosigkeit etc.), stellte ein Brief an eine geliebte Person das alte Gefüge wieder her, weil man wieder Persönlichkeit, Teil seiner Familie mit einer eigenen Geschichte und Zukunft war. Somit erfüllen die Briefe aus den Lagern, obwohl sie selten die Realität abbilden können und wollen, eine enorme psychosoziale Funktion für die Häftlinge, die nicht unterschätzt werden darf. Die Privatheit auf Seiten der Empfänger*innen stellt für die Forschung ein großes Hindernis dar, da die Briefe als Quelle, als Bestand kaum zur Verfügung stehen. Leider ist davon auszugehen, dass die meisten von Angehörigen im Zuge von Wohnungsräumungen entsorgt werden  – häufig fehlt bei diesen auch das Wissen um die Lager-Vergangenheit, weil Verdrängung nicht nur ein Phänomen der Täter*innen ist. Selten gelangen Briefe innerhalb einer Familie an einen Interessierten bzw. eine Interessierte, der bzw. die sich um deren Aufarbeitung kümmert (wie z.  B. Freudmann 2015). Diese Arbeiten sind von unschätzbarem Wert, wenn es um die Verfügbarmachung und Transkription geht. Die Zäsur Nationalsozialismus zeigt sich hier vielfach als deutlicher semantischer Bruch: Bräuche, Traditionen und Sprache (sowohl die religiöse als auch die Alltagssprache) werden nicht mehr verstanden. Darüber hinaus entsprechen diese Kompendien nur in Ausnahmefällen dem aktuellen Stand der Forschung, was historische Verortung, Analyse und Interpretation betrifft. Gelegentlich gelangen Briefe aus den NS-Lagern als gesammelte Nachlässe in Bibliotheken, Stiftungen oder spezielle Forschungseinrichtungen, die sich um eine wissenschaftliche Aufarbeitung bemühen (vgl. u.  a. Migdal 2008); diese ist nicht zwangsläufig historisch, sondern häufig eher literaturwissenschaftlich. Im Gegensatz zu den familieninternen Herausgeberschaften sind sie von der klaren Distanz der Wissenschaft geprägt und scheitern gerade an der Privatheit der Briefe; versteckte Inhalte können sie nicht oder nur sehr unklar hermeneutisch aufzeigen. Als absolute Ausnahme müssen die in Archiven abgelegten Privatbriefe verstanden werden. Im Regelfall sind sie Beweismaterialien in den Prozessen gegen Kuriere und müssen als Phänomen der mit Nazi-Deutschland verbündeten Länder verstanden werden, die minimale Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit vorzutäuschen suchten. Meist handelt es sich dabei allerdings nur um vereinzelte Briefe (wie beispielsweise für Kroatien vgl. Konforti 1972, für Italien vgl. Gliera 2014 etc.) und in einem Ausnahmefall um ein Konvolut von Briefen von unterschiedlichsten Schreibern (vgl. Grilj 2014). Die große Unbekannte stellen die sowjetischen und russischen Archive dar, die sich nur langsam (besonders für ausländische Forscher) öffnen. Es ist davon auszugehen, dass bei der Befreiung der Lager in Mittel- und Osteuropa ein Großteil der nicht von den Wachmannschaften vernichteten Schriftstücke – sowohl Akten als auch Privatbriefe – nach Russland abtransportiert worden sind. In der

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sowjetischen und russischen Geschichtswissenschaft spielte und spielt der Kampf und Sieg gegen Nazi-Deutschland eine zentrale Rolle im staatlichen Selbstverständnis. Einzel- und auch Gruppenschicksale (Ersteres analog zur damaligen Forschung in den ‚westlichen‘ Staaten, Zweiteres nicht) standen dabei nicht im Fokus der Betrachtung. Der Wechsel hin zu einer moderneren, personenzentrierten Geschichtswissenschaft ist bis heute nur in Ansätzen zu erkennen. Anzumerken ist noch, dass es eine große Menge an erhaltenen Schriftstücken gibt, die heute in einschlägigen Verkaufsplattformen im Netz zum Verkauf angeboten werden. Briefe von Holocaust-Opfern werden dort in mehr oder minder wilden Kollektionen gemeinsam mit NS-Devotionalien angeboten, was nur als Respektlosigkeit gegenüber den Opfern und Leichenfledderei verstanden werden kann.

Zitierte Literatur Arendt, Hannah (1964). Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München. Boberach, Heinz (1984). Meldungen aus dem Reich 1938–1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes d. SS. Herrsching. Bolle, Mirjam (2006). „Ich weiß, dieser Brief wird Dich nie erreichen“: Tagebuchbriefe aus Amsterdam, Westerbork und Bergen-Belsen. Frankfurt a. M. Browning, Christopher R. (1992). Ordinary Men: Reserve Police Battalion 11 and the Final Solution in Poland. New York. Buchheim, Hans et al. (1999). Anatomie des SS-Staates. München. Čapek, Josef (2016). Gedichte aus dem KZ. Wien. Cehovsky, Petra (2014). Das Gerede vom großen Schweigen. Unveröffentl. Dipl.-Arbeit. Wien. Dürr, Christian (2016). „‚Mein liebstes Weibi!‘ Die Briefe des SS-Unterscharführers Karl Wurm an seine Frau“, in: Die zweite Reihe: Täterbiografien aus dem Konzentrationslager Mauthausen. Hg. v. Gregor Holzinger. Wien. Eckert, Astrid. M. (2004). Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg. Stuttgart. Freudmann, Gustav (Hg.) (2015). Was mit uns sein wird, wissen wir nicht: Briefe aus dem Ghetto. Wien. Gliera, Sonia (2014). Carteggio sul Campo di transito di Bolzano. Bozen. Grilj, Benjamin (Hg.) (2014). Schwarze Milch. Zurückgehaltene Briefe aus den Todeslagern Transnistriens. Innsbruck. Halbrainer, Heimo (Hg.) (2000). „In der Gewissheit, dass Ihr den Kampf weiterführen werdet“: Briefe steirischer WiderstandskämpferInnen aus Todeszelle und KZ. Graz. Klein, Gerda W. (1999). Nichts als das nackte Leben. Gerlingen. Konforti, Jakov (Hg.) (1972). Secanja Jevreja na logor Jasenovac [Erinnerungen von Juden an das Lager Jasenovac]. Belgrad. Langbein, Hermann (1972). Menschen in Auschwitz. Wien.

7.11 Briefe aus den Lagern der NS-Herrschaft (1933–1945) 

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Langbein, Hermann (2016). Menschen in Auschwitz. Erweiterte Online-Ausgabe. Frankfurt a. M. Langnas, Mignon (2010). Tagebücher und Briefe 1938–1949. Wien. Loose, Ingo (2007). Kredite für NS-Verbrechen: Die deutschen Kreditinstitute in Polen und die Ausraubung der polnischen und jüdischen Bevölkerung 1939–1945. München. Löw, Andrea (2006). Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten. Göttingen. Megargee, Geoffrey P. (Hg.) (2012). Encyclopedia of Camps and Ghettos 1933–1945. Bd. II. Bloomington (IN). Migdal, Ulrike (Hg.) (2008). Wann wohl das Leid ein Ende hat. Briefe und Gedichte aus Theresienstadt. München. Mittag, Gabriele (1996). „Es gibt Verdammte nur in Gurs“. Literatur, Kultur und Alltag in einem südfranzösischen Internierungslager 1940–1942. Tübingen. Rosenberg, Walter u. Alfred Wetzler (1945). „Vrba-Wetzler-Bericht“, in: Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern, 7. Berlin. http://germanhistorydocs.ghi-dc.org (4.4.2019). Schütze, Marlene (2013). Löffel, Zigarettenetui, Erkennungsmarke – Möglichkeiten und Grenzen der Analyse von Dingen aus dem Konzentrationslager Mauthausen. Unveröffentl. Dipl.-Arbeit. Wien. Tošnerová, Marie (2001). „Měšt’anské paměti raného novověku – pramen poznávání každodennosti“, in: Paměti – způsob zobrazení skutečnosti. Problematika historických a vzácných kniţních fondů Čech, Moravy a Slezska: 83–91. Ventzki, Jens-Jürgen (2011). Seine Schatten, meine Bilder: eine Spurensuche. Innsbruck. Wachsmann, Nikolaus (2016). KL: Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrations­ lager. München. Weinmann, Martin (2010). Konzentrationslager Dokument F321 für den internationalen Militärgerichtshof Nürnberg. Berlin. Welzer, Harald (Hg.) (2011). „Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll“: Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht deutscher und italienischer Soldaten. Frankfurt a.M.

Online- und Archiv-Quellen Deutsches Historisches Museum [DHM] Berlin, Gesamtdatenbank: – P 64/144: Bekanntmachung eines Todesurteils wegen Schwarzschlachtungen (Litzmannstadt, 19.03.1943). – Do2 93/1560: Postkarte aus dem Ghetto Litzmannstadt mit der Bitte um eine Geldsendung. – N 90/4130: Geldschein des Gettos Litzmannstadt über 10 Mark. Staatsarchiv Lodz [StA] – APL 278/170, 11 (Bekanntmachung 410). APL 278/170, 118 (Bekanntmachung 414). MF L21113cz4 – 5872. APL 2317/649. Audioguide-Manuskript der Gedenkstätte Sachsenhausen: https://www.sachsenhausen-sbg.de (Download nicht mehr verfügbar).

Jens Ebert

7.12 Ost-West-Briefwechsel 1945–1989 Der private Briefwechsel zwischen Deutschland Ost und West ist auch 30 Jahre nach der staatlichen Einheit wissenschaftlich kaum untersucht, sieht man einmal vom Teilaspekt Postzensur ab. Es gibt nur eine Institution, die solche Dokumente seit 2005 systematisch und mit einem nennenswerten Bestand sammelt: das Museum für Kommunikation Berlin (vgl. die Sammlung Post von drüben). Vereinzelt gibt es Herausgaben einzelner Korrespondenzen, zumeist von eher prominenten Zeitzeug*innen, Künstler*innen oder Schriftsteller*innen. Zu Jahrestagen und anderen Anlässen haben sich verschiedene Printmedien um eine Annäherung an das Thema bemüht und ausgewählte Briefe veröffentlicht. Damit ist zugleich ein Grundproblem benannt. Bei den überlieferten und publizierten Briefen handelt es sich um ausgewählte, aus dem einen oder anderen Grund als wichtig erachtete Texte. Der Briefwechsel in seiner Gesamtheit ist so nur bedingt zu erfassen. Die zahllosen Banalitäten des Alltags bleiben bei der Überlieferung unberücksichtigt. Was sich die ‚einfachen‘ Menschen in den Jahren der Teilung schrieben, welche Themen, Fragen und Probleme sie bewegten und welche nicht, wie groß der Einfluss der Politik in den Zeiten des Kalten Kriegs auf ihr Privatleben war – von alledem ist bislang wenig bekannt. Bei der bestehenden Quellen- und Forschungslage sind nur erste Annäherungen an das Thema möglich. Der deutsch-deutsche Briefwechsel teilt historisch gesehen das Schicksal der Feldpost. Auch bei dieser wurde der Fokus lange Zeit ausschließlich auf bekannte und berühmte Verfasser und ‚relevante‘ Themen gelegt.

1 Umfang Es kann nicht einmal präzise benannt werden, wie viele Briefe zwischen 1945 und 1989 überhaupt die Zonen- bzw. Staatsgrenzen überquerten. Die Statistischen Jahrbücher beider deutscher Staaten enthalten keine Angaben über den OstWest-Postverkehr. Für den Zeitraum von 1945 bis 1949 sind nicht einmal Schätzungen möglich. Im Jahrzehnt ab 1950 kann man aufgrund spärlicher Quellen von geschätzten 2,81 Mrd. Briefen und Karten aus der DDR und 2,63 Mrd. aus der BRD ausgehen (vgl. Roth 1981). Dies entspricht pro DDR-Bürger*in 158 und pro Bundesbürger*in 50 Briefen in den anderen Teil Deutschlands (Bevölkerungszahlen lt. Statistischen Jahrbüchern). Im folgenden Jahrzehnt schreiben DDR-Bürger*innen im Durchschnitt 120 Briefe und Karten, Bundesbürger*innen 50. Die bekannten Zahlen für die 1970er und 1980er Jahre aus dem Innerdeutschen Ministerium der https://doi.org/10.1515/9783110376531-122

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BRD scheinen weniger belastbar als die der vorangegangenen Jahre (vgl. Roth 2014). Folgt man ihnen, so nimmt ab 1970 die Anzahl der Briefe deutlich ab, insbesondere aus der Bundesrepublik. Das mag mit den verbesserten Telefonverbindungen zusammenhängen. Ist das Pro-Kopf-Verhältnis BRD-DDR in den 1950er Jahren noch ungefähr 1:3, so ist es in den 1970er und 1980er Jahren ca. 1:5. Die DDR-Bürger*innen sind also offenbar an der Aufrechterhaltung von Kontakten viel stärker interessiert gewesen als die Bevölkerung im Westen.

2 Organisation Nach dem 8. Mai 1945 begann die langwierige und mühsame Rückkehr zu zivilen und zivilisierten Verhältnissen. Die Kommunikation zwischen den einzelnen Besatzungszonen war schwierig und wurde von den einzelnen Besatzungsmächten argwöhnisch überwacht. Erst zum Jahreswechsel 1945/46 gab es wieder einen über einzelne Zonen hinausgehenden Postverkehr. Die Verwaltung durch alliierte Militärbehörden ließ kaum das Gefühl eines freien Postverkehrs bei der Bevölkerung aufkommen. In der Alliierten Kontrollratsproklamation Nr. 2 vom 20. September 1945 heißt es dazu: Die deutschen Behörden haben alle von den Alliierten Vertretern erteilten Vorschriften zu befolgen, in Hinsicht auf die Aufstellung seitens der Alliierten Vertreter einer Zensur und Kontrolle von Post- und Fernverbindungen […]. (Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland Nr. 1, 29.10.1945, 10)

Eingriffe in das Post- und Fernmeldegeheimnis behielten sich alle Siegermächte, vor allem jedoch die USA und die UdSSR, vor, auch nach den Staatsgründungen 1949 zumindest bis zur offiziellen Souveränität der deutschen Staaten 1955. Es wird Euch interessieren. Der vorgestrige Brief war wohl einer der ersten, der von der britischen Zensur geöffnet und wieder geschlossen war. Der Umschlag war an der Seite aufgeschnitten, mit einem braunen Klebestreifen geschlossen, mit einer Nummer und der britischen Krone gestempelt. Ich glaube, es ist erstmalig gewesen. (Post von drüben, 3.2011.492, 30.11.1949)

Auch nach 1955 setzten ausländische Geheimdienste, besonders amerikanische, eigene Interessen bei der Postüberwachung in der BRD durch, stets unterstützt von deutschen Dienststellen und Mitarbeiter*innen. In der DDR hatten zumindest ab 1955 keine ausländischen Dienste direkten Zugriff auf den Briefverkehr. Die Postüberwachung lag allein in nationalstaatlicher Souveränität beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS).

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Beide deutschen Staaten hatten das Post- und Fernmeldegeheimnis in ihren Verfassungen verankert. Während jedoch die Gesetzgebungsorgane der BRD aus demokratischen Wahlen hervorgegangenen waren und daher einen hohen Grad an Akzeptanz und Legitimität bei der Bevölkerung erreichten, war dies in der DDR aufgrund mangelnder demokratischer Verhältnisse nur in geringerem Maße der Fall. Die Mehrzahl der westdeutschen Briefeschreiber*innen war subjektiv vom freien Postverkehr überzeugt. In der DDR blieb ein weitverbreitetes Misstrauen – berechtigt, wie durch Erkenntnisse nach 1990 bestätigt wurde. „Nach dem Besuch der Saarbrückener können wir sagen, daß wir uns alle persönlich kennen. […] Das persönliche Gespräch bleibt unter uns, während ein Brief heutzutage immer mehr Mitleser bekommt oder sogar wegkommt!“ (Post von drüben, 3.2011.506, 4.6.1978) Die Postkontrolle in der DDR war, so wie sie gehandhabt wurde, verfassungswidrig. Durchgeführt wurde sie von der Abteilung M des MfS in Zusammenarbeit mit der Deutschen Post der DDR. In den Briefverteilämtern gab es dafür konspirative Arbeitsräume. Briefe, die eingehender untersucht werden sollten, kamen in die Dienststellen des MfS, wo sie geöffnet, kopiert, ausgewertet, wieder verschlossen und weitergeleitet wurden. Besonders brisante Briefe wurden konfisziert. Ab den 1970er Jahren wurde die Kontrolle in der DDR immer exzessiver. Auch Post von DDR-Bürger*innen aus anderen sozialistischen Ländern in die Bundesrepublik wurde mit Hilfe ‚befreundeter‘ Dienste kontrolliert. Um der vermuteten Postkontrolle die Arbeit zu erschweren, wurden Briefe in der DDR zusätzlich mit Klebstoff oder Klebeband verschlossen. Als völlig ausgeschlossen galt allgemein, dass es auch in der Bundesrepublik eine geheime, verfassungswidrige Postkontrolle gab. Erst 2009 offengelegte Quellen belegen jedoch: Zumindest bis 1968 hat auch die Bundesrepublik die Post ihrer Bürger illegal geöffnet, kontrolliert und zensiert. Deutsche Beamte, meist vom Zoll, arbeiteten auf Weisung US-amerikanischer Dienste, auch nach 1955. Konfiszierte Sendungen wurden in der BRD häufig vernichtet, weil man anders als das MfS die Briefe nicht fachgerecht und ohne Spuren öffnete. Die Vernichtung erfolgte aus Geheimhaltungsgründen zentral im Gefängnis von Hannover durch Strafgefangene. Im Jahr 1969 wurde diese Praxis durch die Gesetzgebung zum einen eingeschränkt, zum anderen rechtsstaatlich fundiert, aber nicht beendet. 2009 erklärte die Bundesregierung, dass die Interzonenüberwachungsverordnung bis zum 31.  Dezember 1991 gültig war und davon auszugehen sei, dass Postsendungen aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland bis zur Wiedervereinigung am 3.  Oktober 1990 kontrolliert wurden. Untersuchungen gehen von 90.000 durch das MfS geöffneten Briefen täglich aus. Legt man pro Jahr 250 Arbeitstage zugrunde, kommt man für den Zeitraum von 1949 bis 1968 auf mehr als 400  Millionen. Die für die BRD im gleichen Zeitraum vermuteten mehr als 300  Millionen (vgl. Foschepoth 2012) stellen also keinen signifikanten quan-

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titativen Unterschied dar. Das gilt auch für die vorgeschobenen Gründe für die Postzensur. Der in der BRD verwendete schwammige Begriff ‚staatsgefährdende Schriften‘ bot weiten Raum für Willkürentscheidungen, genauso wie die ‚staatsfeindliche Hetze‘ in der DDR. Ab den 1970er Jahren wurde die Postüberwachung in der Bundesrepublik eingeschränkt.

3 Kommunikation im Alltag des Kalten Kriegs Seit der Aufhebung des Postgeheimnisses 1933 nach dem Reichstagsbrand war eine ganze Generation aufgewachsen, für die die Kontrolle von Post einen Normalzustand darstellte. So können weder der 8.  Mai 1945 noch die Staatsgründungen 1949 als grundsätzliche Zäsur für Inhalt, Stil und Form des postalischen Verkehrs angesehen werden. Die unter den Bedingungen der Feldpostzensur im Krieg entwickelten Kommunikationsformen und Schutzmechanismen wurden beim Briefeschreiben oft beibehalten. Ohnehin lassen sich über Jahre eingeübte Verhaltensmuster, zumal sie oft dem Überleben dienten, nur schwer wieder verändern und haben eine gewisse Beharrungstendenz. Die bislang gewohnten Verständigungsmethoden wurden nicht umgehend verändert, sondern allmählich vom heißen in den Kalten Krieg übernommen. Die gegenseitige Abgrenzung der beiden deutschen Staaten hatte mithin ihre Auswirkungen nicht nur auf die Organisation des deutsch-deutschen Postverkehrs, sondern auch auf das in den Briefen Übermittelte. Bei sensiblen Themen bemühte man sich um Umschreibungen, Andeutungen oder Verschlüsselungen. War in der ersten Zeit unmittelbar nach Kriegsende einfach nur die Kontaktaufnahme als (Über-)Lebenszeichen wichtig, versuchte man in der Zeit danach, sich gegenseitig über die sich oftmals rasch und grundlegend verändernden Lebenssituationen zu informieren. Schnell beeinflussten die politischen Verhältnisse wieder die ausgetauschten Informationen. Doch den größten Teil der deutsch-deutschen Kommunikation nahmen – wie zu allen Zeiten – Fragen des Alltags, der privaten Lebensumstände, der Familie und der Freizeitgestaltung ein. Die Tatsache, dass wechselseitige Besuche in der Nachkriegszeit oft nicht möglich und wenn doch, oft nicht planbar und mit vielen Schwierigkeiten verbunden waren, gab dem Briefkontakt ein besonderes Gewicht. Dieses wuchs noch, als der deutsch-deutsche Besucherverkehr nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 seitens der DDR immer mehr erschwert wurde. Erstaunlich ist, wie lange bei Männern die gemeinsame Kriegserfahrung in der Wehrmacht die Verbindungen stabilisierte oder sie, wenn der Kontakt einmal abgebrochen war, nach vielen Jahren wiederherstellte. Briefliche Kommunikation

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von ‚Kriegskameraden‘ gab es häufig bis zum Ende der deutschen Teilung (vgl. Post von drüben, 3.2011.474, gesamtes Konvolut).

4 Auswirkungen auf den Schreibprozess Briefe werden nicht nur zwischen einzelnen Personen ausgetauscht, sondern zwischen Familien und Freundesgruppen. Ina Dietzsch stellte in ihren Untersuchungen fest: Schon bei einer ersten Durchsicht des Materials erstaunte mich […], dass es immer mehrere Personen waren, die an einer einzigen Korrespondenz beteiligt waren. Ich betrachte die Briefwechsel daher als Gemeinschaftsbriefwechsel und gehe davon aus, dass auch dies strukturierend auf die Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern wirkt (Dietzsch 2004, 23).

In den Briefen aus der Bundesrepublik wurde in der Regel sehr frei über politische u.  ä. Fragen debattiert. Rücksichten nahm man höchstens auf die Empfänger*innen der Briefe. Anders in der DDR. Hier hatte man Befürchtungen, die Post würde kontrolliert. Die Auswirkungen auf den Schreibprozess sind aber trotzdem nicht gravierend. Es scheint, dass im weitesten Sinne politische Fragen sogar eher von den ostdeutschen Briefschreiber*innen thematisiert wurden. In einzelnen Briefen ließen sich aufschlussreiche Erklärungen zu gesellschaftspolitischen Fragen in Bezug auf die DDR bis hin zu offener Systemkritik finden. Selbst eher vorsichtige DDR-Bürger*innen schrieben oftmals und zu allen Zeiten erstaunlich unbekümmert auch über brisante Themen: Auch Michael  […] geht seinen Weg sehr trötzerlich und überlegt. Er hatte einen guten Freund an der Uni Berlin, der so unglücklich hier war, daß er sich mit den Gedanken trug, zum Westen zu fliehen Micha riet ihm sehr ab, denn er wusste, wie selten das gelingt […] Nun sitzt er im Gefängnis und man muß sehen, was dabei heraus kommt, so etwas, Republikflucht wird sehr streng bestraft. In wie weit man auf Micha zurück greifen wird, wissen wir noch nicht, man geht in solchen Fällen allem nach, womit der Angeklagte in Berührung gekommen ist. (Post von drüben, 3.2008.1667.0, 17.9.1971)

Über ihre Flucht nach Westberlin schreibt Erika D. an eine Freundin nach Ostberlin: Ich bin ja froh, daß wir nun endlich hier sind und wir noch vor dem 13.8. mit blauen Augen davongekommen sind. […] Als dann die beiden Bonzen kamen, war ich wieder ganz ruhig und gefaßt und tischte mit Unschuldsblick meine Geschichte auf. Was dann kam, glich einem Kreuzverhör im Dampfbad, ich war aber äußerlich eiskalt und behauptete mein Recht. Nun, man wollte uns nicht glauben, wir sollten aussteigen und wieder zurückfah-

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ren. Ich tat mächtig empört und erzählte, daß ich mit dem Kinde doch keine unnötigen Strapazen auf mich nehmen würde […] Nach vielen Hin und Her gab er uns doch die Passe zurück […] Wir machten, daß wir davonkamen mit Sack + Pack. Gegen 13.00 waren wir am Ostbf., von dort bis Friedrichstr. → U-Bahn bis Wedding, dort wieder S-Bahn bis Friedenau. (Post von drüben, 3.2011.548, 24.8.1961)

5 Gemeinsamkeiten und Unterschiede Im Zweiten Weltkrieg gab es immer wieder Schwierigkeiten, die Lebenswirklichkeiten zwischen Front und Heimat in den Briefen zu vermitteln. Ähnlich war es in der Nachkriegszeit. Zwar gab es keine Front mehr, dafür aber auf einmal verschiedene Orte für Heimat, die voneinander getrennt waren. Die anfängliche Vierteilung reduzierte sich durch Bildung der Bi- und später der Trizone rasch auf eine Teilung in Ost und West. Diese beiden Welten hatten zwar viel Gemeinsames, doch das Trennende und Unterschiedliche nahm im Laufe der Zeit zu. Das Reservoir an Gemeinsamkeit reduzierte sich. Die politische Teilung Deutschlands entfremdete auch die Bürger*innen zunehmend. Bereits 1949 muss Alfred S. aus Pirna seinem Bruder Rudolf in Mühlheim/Ruhr bestimmte Fakten und Entwicklungen erläutern, die sich aus den sozialen und politischen Veränderungen ergeben. Dies ist eine allgemeine Erscheinung. Doch selten dürften die Mitteilungen so umfangreich und präzise gewesen sein wie bei Alfred S.: Wir bauen Neubauernstellen in Falkenhain und Maxen (Müglitztal). Dort sind größere Güter enteignet und in den Ländereien aufgeteilt. Flächen von etwa 10 ha sind an landwirtschaftliche Arbeiter und Bewerber verteilt. Nun können sie sich mit staatlich finanzieller Hilfe eine Unterkunft bauen, müssen aber selbst tüchtig mit zugreifen.  […] Vordringlich wird für die Neubauern und in der Industrie in den VEB-Betrieben – volkseigene Betriebe – gearbeitet. Es gibt fast nur noch volkseigene Betriebe. Nur wenige kleinere und mittlere Privatunternehmen bestehen noch, es ist aber ein kurzatmiges Dasein. (Post von drüben, 3.2011.492, 18.6.1949)

Da sich in der BRD keine grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen vollzogen, war eine Erläuterung der politischen Verhältnisse weniger wichtig, da es zumindest bis Ende der 1950er Jahre noch einen gemeinsamen Referenzrahmen gab. Doch auch vielen Bundesbürger*innen war ihr Wirtschaftssystem wenig vertraut. Bodo S. aus Hamburg schreibt: Ich jedenfalls weiß grundsätzlich nicht, was in der Wirtschaftspolitik eigentlich gespielt wird, will sagen, was sich hinter den Erscheinungsformen als Kantsches „Ding an sich“ genau verbirgt. Genau weiß es freilich kaum einer von uns sogenannten Laien, aber freilich liegt es ja in meiner Berufsrichtung, gerade diese Seite, die wichtigste, des öffentlichen

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Lebens von Grund auf kennenzulernen. Das beste Mittel, sich solche Kenntnisse anzueignen, ist zweifellos, man wird Bank-Clerk einer der hiesigen großen Banken; diese Brüder haben ihre Nase überall drin und wissen in der Kapitallage aller namhaften deutschen Firmen genauestens Bescheid. (Post von drüben, 3.2011.496, 2.11.1951)

Briefpartner*innen, die nicht aus den gleichen Regionen stammten und über keinerlei familiäre Bindungen verfügten, sondern sich erst nach 1949 kennenlernten, mussten sich oft gegenseitig über die historisch entstandenen kulturellen Differenzen zwischen den verschiedenen Teilen Deutschlands informieren. Von beiden Heimatbezirken wurde wechselseitig berichtet. Bei aller Betonung nationaler Gemeinsamkeiten wird ab Ende der 1960er Jahre Zweistaatlichkeit zumindest von DDR-Bürger*innen zunehmend als Normalität empfunden. Die Entspannungspolitik und der Grundlagenvertrag bestätigen dies: Wir sind nun gespannt, inwieweit sich der Grundvertrag positiv auf die Beziehung beider Staaten auswirkt. Es wäre schön, wenn es eines Tages möglich wäre, Sie besuchen zu können.  […] Wir finden es gut, daß nun endlich ein geregeltes Nebeneinander zustande kommt. Ehrlich gefreut haben wir uns, daß die Bayern beim Bundesverfassungsgericht nicht durchgekommen sind. (Post von drüben, 3.2011.475, 25.7.1973)

Rasch wurden nach dem Krieg zunächst der Rundfunk und Mitte der 1950er Jahre das Fernsehen aufgebaut. Viele DDR-Bürger*innen und deutlich weniger BRDBürger*innen konnten Informationen über die Mediensysteme beider Staaten erhalten. Sie vermittelten synchrone oder doch wenigstens gleichartige Erlebnisse. „Über unseren ‚Wunderkasten‘ sind wir oft mit Euch verbunden  […]!!!“ (Becker 2004, 52) Die DDR-Bürger*innen waren erheblich besser über die Verhältnisse in der BRD informiert als umgekehrt. Da die Medien zunehmend international vernetzt waren und weltpolitische Auseinandersetzungen in den Hochzeiten des Kalten Kriegs eine wichtige Rolle spielten, konnte man auf die gleichen Ereignisse Bezug nehmen, wenngleich sie unterschiedlich präsentiert wurden. Internationale Filmproduktionen fanden in die Kinosäle beider Staaten, wobei die Aufnahme osteuropäischer Filmkunst im Westen weitaus geringer war. Das in den Medien Vermittelte bildete für viele deutsch-deutsche Korrespondenzen Bezugsrahmen und Hintergrund. Seit Ende des 19.  Jahrhunderts ist die Bildpostkarte fester Bestandteil der Briefkultur, so auch in der deutsch-deutschen Kommunikation. Die Urlaubskarten dokumentieren aber auch die gravierenden Unterschiede in den Reise- und Konsummöglichkeiten. Bis in die 1970er Jahre war es an ostdeutschen Reisezielen, etwa in der Sowjetunion, oftmals schwierig, farbige Postkarten zu erwerben.

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6 Alltag Trotz aller Dramatik der politischen Verhältnisse, die zumindest bis Anfang der 1970er Jahre immer wieder von krisenhaften Zuspitzungen geprägt waren, überwogen in den Briefen, wie zu allen Zeiten, Themen des Alltags und des privaten Raumes. Allen Problemen trotzend konnten auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit Liebespaare ihre Fernbeziehung per Post aufrechterhalten, wie Ida F., die als Flüchtling in Mecklenburg lebte und 1947 den Westberliner Werner M. kennengelernt hatte: Deine so lieben und herzlichen Worte, mein lieber Werner, haben mir direkt wohlgetan. Man sehnt sich einfach danach. Ich fühle mich mit Dir schon viel, viel mehr verbunden als es tatsächlich der Fall ist. Es war eben Schicksal, daß wir uns seinerzeit am Bhf. Zoo treffen mußten. (Post von drüben, 3.2011.533, 23.7.1947)

Werner M. am 1. November 1948: Wenn ich daran denke heute vor 14 Tagen da waren wir beide zusammen gewesen, mein Süsses du, wie glücklich war ich da, und heute, es ist doch ein großer Unterschied, aber wir müssen uns vorläufig noch gedulden, es dauert ebend alles noch seine Zeit, man muss ebend Geduld haben, auch für uns beiden kommt die Zeit, ich hoffe das es schneller geht als man denkt, nur man darf den Mut nicht verlieren. (Post von drüben, 3.2011.533, 1.11.1948)

Eines der wichtigsten Probleme der Nachkriegszeit verband die Deutschen in Ost und West: die Lebensmittelknappheit. Richard H. aus Waiblingen schrieb am 18. Januar 1948 an seinen Freund Alfred W. in Leipzig: Seid Ihr nun wenigstens zu Einkellerungskartoffeln gekommen? Nach Deinen Rationssätzen steht Ihr Euch nicht schlechter als wir. Auch bei uns gibt es nicht belieferte Marken in Menge. Unsere Marken gelten für 4 Wochen = 28 Tage sollen aber auch an Euer Dekadensystem angepaßt werden. Der Normalverbr. wurde je Periode bis jetzt beliefert mit: 10 000 gr. Brot, 150 gr. Margarine oder 120 gr. Schmalz, 400 gr. Fleisch, 500 gr. Zucker oder Marmelade 62,5 gr. Käse (nicht zu vergessen!) 1000 gr. Nährmittel, 300 gr. Fisch u. 1 l Magermilch. (Post von drüben, 3.2011.535, 18.1.1948)

Wohnungsnot, schlechte Verkehrsverbindungen, rationierte Lebensmittel, ungenügende Qualität des Tabaks und der Schwarzmarkt sind weitere immer wieder angesprochene Themen. Dies ändert sich in den Jahrzehnten danach. Versorgungsprobleme sind nur noch ein Thema in Briefen aus der DDR. Die Briefkultur bestätigt in der Nachkriegszeit zunächst weitgehend die überkommenen sozialen Strukturen. Auch in der Korrespondenz gibt es familiäre und gesellschaftliche Hierarchien, eine klassische Aufgabenteilung der Geschlechter und Generationen (vgl. Dietzsch 2004, 61–116). Veränderungen schlagen sich aber

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auch in der Korrespondenz nieder. Deutlich früher als in der BRD ändert sich in der DDR die Rolle der Frauen. Im Sozialismus sind sie selbstverständlich in die Arbeitswelt eingebunden und stärker an gesellschaftlichen Prozessen beteiligt. Bei den Verständigungen über die Zukunft der Kinder wird in Briefen aus der DDR viel selbstverständlicher von einer möglichen akademischen Bildung ausgegangen.

7 Politik und Krisen Auch wenn das Leben der Menschen von politischen Krisen und dem sich verändernden Charakter der deutsch-deutschen Beziehungen beeinflusst wurde, blieb der Postverkehr zwischen Ost und West davon weitgehend unberührt. Die größten Ungewissheiten und Besorgnisse gab es in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Ida F. schreibt am 1. Dezember 1948 an ihren Verlobten in Westberlin: Ja, mein lieber Werner, doch nun zu unserer Verlobung am 8. d. Mts. Ich habe alles besorgt. Auch die Bescheinigungen zum Transport der Lebensmittel und die Reisegenehmigung u.s.w. Aber nun mein lieber Werner, wie wird es mit den Wahlen? Wie werden sie ausfallen und sich auswirken? Man macht mir ja hier so bange! (Post von drüben, 3.2011.533, 1.12.1948)

Der 17.  Juni und der Bau der Berliner Mauer 1961 werden in den Briefen kommentiert und nach den Auswirkungen auf die weitere Entwicklung befragt. Doch auch in solchen Krisensituationen überwiegen die alltäglichen und privaten Themen in der Korrespondenz. Ähnlich ist es beim Prager Frühling 1968. AnneKathrin Becker stellt in ihrer Untersuchung gar fest: „Einschneidende Zäsuren wie z.  B. der Bau der Berliner Mauer 1961 oder der Machtwechsel von Ulbricht auf Honecker 1971 werden explizit nicht thematisiert.“ (Becker 2004, 35) Ideologische Grundsätze beider Staaten sind für ihre Bürger nur bedingt von Relevanz und werden häufig ironisiert. Zunächst einmal komme ich am 16.10. wieder nach Berlin. Dann findet ein Seminar statt von der Uni Giessen, an dem ich teilnehme. Weißt du  – Berlin u. Mauer, Themen über Deutschland. Das ganze kostet mich, dank der politischen Ergüsse, die ich über mich ergehen lassen muß 45,- DM inclusive Fahrt, Verpflegung und Pension 1 Woche lang. (Post von drüben, 3.2011.444, 2.9.1966)

Die Veränderungen in der Sowjetunion und die sich stärker artikulierende DDROpposition finden ab Mitte der 1980er Jahre deutlichen Niederschlag in den Briefen aus der DDR. „Immer mehr Unwahrheiten treten hier bei uns zutage und das ist gut so, daß endlich die Bevölkerung ihre Kritik laut werden läßt wenn

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auch noch zaghaft denn es bleibt nach wie vor gefährlich.“ (Post von drüben, 3.2011.501, 26.9.1989) In den Briefen aus der BRD ist deutliche Sympathie für Reformentwicklungen in Osteuropa erkennbar. Und so wie es aussieht geht ja die DDR ihren eigenen fast isolierten Weg. Sie kapselt sich von den anderen Ostblock-Staaten ab, die Perestrojka akzeptieren und in ihrem Land weiterführen wollen. Mir ist nur nicht ganz klar, wie weit die SED-Oberen in der Lage sind das Volk der DDR ‚ruhig‘ zu stellen, da ich mir vorstellen kann, daß Reformen, die in anderen Staaten durchgeführt werden nicht an der DDR-Grenze hängenbleiben. (Post von drüben, 3.2011.380, 6.7.1988)

8 Selbstbilder Die erzwungene Entfernung und mangelnde Möglichkeiten für Treffen sind konstituierende Elemente des deutsch-deutschen Briefverkehrs. Sie ließen beim Briefschreiben Gestaltungsräume für das Erzählte bis hin zum Fiktionalen und Möglichkeiten individueller Interpretation bei den Empfänger*innen zu. In den Briefen wird eine neue Wirklichkeit konstruiert, denn die individuelle Interpretation der erlebten Wirklichkeit wird den Empfänger*innen nicht als Interpretation, sondern als Realität vermittelt. Die Schreibenden entwickeln ein Bild von sich selbst, das zwar in seiner verschriftlichten, sprachlichen Äußerung der Interpretation der Lesenden eine bestimmte Richtung vorgibt, aber durch die geringe Überprüfbarkeit […] auch genug Spielraum für eigene Projektionen auf die jeweils anderen bietet. (Dietzsch 2004, 20)

Nicht immer zeichneten die Briefe – ob nun bewusst oder unbewusst – ein realistisches Bild von den eigenen Verhältnissen. Nach der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands 1990 brechen viele deutsch-deutsche Korrespondenzen ab. Sie haben, so scheint es, ihren historischen Zweck erfüllt, eine Klammer zu bilden in den Jahren der Trennung. Man kann sich nun ungehindert besuchen oder zumindest per Telefon verständigen. Das Wiedersehen oder Kennenlernen nach 1990 bot aber auch Konfliktstoff, da das jeweils vom Anderen in den Briefen entworfene Bild den Realitäten manchmal nicht standhielt: Die westdeutsche Konsumgesellschaft hatte ihre Schattenseiten, und der ostdeutsche Alltag war doch nicht so grau, wie oftmals angenommen. Außerdem fielen mancherlei Gründe für Rücksichtnahmen in den Jahren der Teilung weg. Der deutsch-deutsche Briefverkehr war nun von seinen Ersatzfunktionen befreit und für viele nicht mehr die einzige Möglichkeit, etwas über die vielfältige Kultur in den verschiedenen Regionen Deutschlands zu erfahren.

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Zitierte Literatur Alliierten Sekretariat Berlin (Hg.). Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland. Nr. 1. 29.10. 1945; online unter: https://ia800301.us.archive.org/4/items/Nr.1AmtsblattDesKontrollratsInDe utschland/Nr.1AmtsblattDesKontrollratsInDeutschland.pdf (6.8.2019). Becker, Anne-Katrin (2004). „Briefe über die Mauer. Private Korrespondenz zwischen zwei Frauen aus Hamburg und Leipzig“, in: VOKUS, 14.1–2; https://www.fbkultur.uni-hamburg. de/vk/forschung/publikationen/vokus/vokus2004/media/vokus2004-1u2-27-55.pdf (31.7.2019). Dietzsch, Ina (2004). Grenzen überschreiben? Deutsch-deutsche Briefwechsel 1948–1989. Köln u.  a. Foschepoth, Josef (2012). Überwachtes Deutschland: Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Göttingen. Post von drüben: Sammlung der Museumsstiftung Post und Telekommunikation im Museum für Kommunikation Berlin; https://sammlungen.museumsstiftung.de/post-von-drueben/ (17.5.2020). Roth, Margit (1981). Zwei Staaten in Deutschland. Die sozialliberale Deutschlandpolitik und ihre Auswirkungen 1969–1978. Opladen. Roth, Margit (2014). Innerdeutsche Bestandsaufnahme der Bundesrepublik 1969–1989. Wiesbaden.

Weiterführende Literatur Kallinich, Joachim u. Sylvia de Pasquale (Hg.) (2002). Ein offenes Geheimnis. Post- und Telefonkontrolle in der DDR. Publikation anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Museum für Kommunikation Berlin. Heidelberg.

Anja Mihr

7.13 Briefe im Kontext von Menschenrechtsorganisationen 1 Briefe in der Menschenrechtsarbeit Briefe im Kontext von Menschrechtsarbeit und -organisationen richten sich an Regierungen, Präsident*innen, Parlamentarier*innen, Gefängnisdirektor*innen, Richter*innen, Generalsekretär*innen von internationalen Organisationen oder Polizeidirektor*innen. Hauptadressat*innen sind all jene, die für eine Verbesserung der Menschenrechtssituation einer einzelnen Person oder einer Gruppe von Personen verantwortlich sind oder sein können. Strategisch sind Briefaktionen und -kampagnen von Menschenrechtsorganisationen in dieser Hinsicht jedoch zweigeteilt: Die Unterstützer*innen und Mitglieder der Organisationen richten ihre Schreiben als Appelle und Forderungen zum einen an verantwortliche Stellen, wie etwa Regierungen, aber ebenso an die Opfer von Menschenrechtsverletzungen und deren Angehörige, um ihnen ihre moralische Unterstützung zuteilwerden zu lassen. Somit liegt das Ziel von Briefen darin, einerseits Druck auf Verantwortliche auszuüben, indem man die von Menschenrechtsverletzungen betroffenen Personen sichtbar macht in der Hoffnung, dass das Unrecht aufhört, das ihnen angetan wird, und andererseits, um den Betroffenen Mut zu machen. Diese Briefe haben daher immer eine öffentlichkeitswirksame und eine individuelle Ausrichtung. In ihren schriftlichen Appellen fordern die Briefeschreiber*innen u.  a. die Freilassung von politischen Häftlingen, aber auch deren angemessene Gesundheitsversorgung, die Umwandlung von Todesurteilen in lebenslange Haftstrafen, die Abschaffung von Folter, faire Gerichtsverhandlungen oder die Aufklärung über das Verschwinden von Personen. Briefe können auch generelle Anliegen an Regierungen beinhalten, wie z.  B. die Sorge um die Aushebelung von Rechtsstaatlichkeit oder bei massenhaften Inhaftierungen von Journalist*innen, Intellektuellen, Akademiker*innen, Blogger*innen, Anwält*innen und anderen Personen, wie dies beispielsweise in vielen modernen Autokratien wie der Türkei, Russland, Ägypten, Venezuela oder China vorkommt. Zwar haben Briefe von Mitgliedern und Unterstützer*innen von Menschenrechtsorganisationen primär den Schutz von Opfern oder Verschwundenen zum Ziel, sie adressieren aber auch jene, die insgesamt für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und die Einhaltung der Menschenrechte verantwortlich sind, die sogenannten Menschenrechtsverteidiger*innen. Die Opfer selbst erfahren von diesen https://doi.org/10.1515/9783110376531-123

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Briefen und Kampagnen häufig erst nach ihrer Freilassung und Rückkehr oder durch ihre Familienangehörigen, sofern diese ebenfalls Briefe von Mitgliedern und Unterstützer*innen der Organisationen erhalten haben. Briefe an Regierungsstellen sind stets in höflicher und diplomatischer Form verfasst, z.  B. mit der Bitte um Aufklärung eines Tatbestands bezüglich eines*r willkürlich Inhaftierten, der/die ohne Anklage in Haft sitzt, oder mit der Forderung nach Beendigung von Folter oder Zwangsevakuierung einer Personengruppe. In der Regel werden die Briefschreiber*innen gebeten, die Schreiben freundlich, sachlich und zielorientiert zu formulieren. Einige Beispiele für Formulierungsempfehlungen seien hier kurz aufgeführt: Sofern keine Rechtsgrundlage für eine Inhaftierung der Person besteht, sollte diese umgehend freigelassen werden; die adressierte Regierung soll darum gebeten werden, dass die Inhaftierten oder unter Anklage stehenden Personen Zugang zu Rechtsbeiständen ihrer Wahl erhalten und ihnen Familienbesuche erlaubt werden; die Schreiber*innen sollen eine gründliche, zielführende und unparteiische Untersuchung des Verschwindens oder der Inhaftierung einfordern; es gilt sicherzustellen, dass unverzüglich eine effektive und unparteiische Untersuchung zu den erhobenen Vorwürfen über Folter, Vergewaltigung, Verschwindenlassen, Gewalt oder Misshandlungen erfolgt und dass die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden; Regierungen sollen höflich aufgefordert werden, die Menschenrechte z.  B. im Hinblick auf körperliche Unversehrtheit und auf Meinungs- oder Versammlungsfreiheit einzuhalten.

2 Menschenrechtlicher Maßstab Als inhaltlicher Maßstab für die schriftlich formulierten Forderungen gelten die universellen Menschenrechte, die in den Briefen z.  B. durch Artikel des jeweils zutreffenden Menschenrechtsvertrags zitiert werden. Denn diesen universellen Menschenrechtsstandards haben sich spätestens seit der Wiener UN-Menschenrechtskonferenz 1993 alle UN-Staaten in ihrem Abschlussdokument und dem ‚Aktionsplan für Menschenrechte‘ verpflichtet. Heute berufen sich die Menschenrechtsorganisationen auf dieses Abschlussdokument, egal, welche Regierung sie mit ihren Briefen adressieren (vgl. Risse et al. 2000). Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und die großen Menschenrechtspakte und -verträge, die seither international verabschiedet worden sind, fassen diese Universalität u.  a. im sogenannten Völkergewohnheitsrecht zusammen. Darin werden u.  a. das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit und damit auch das Ende der Folter, das Recht auf faire und offene Gerichtsver-

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handlung, die Gleichstellung der Geschlechter oder der Schutz vor Verschwinden und Inhaftierung ohne Anklage als Menschenrechte deklariert. Die sogenannten Menschenrechtspakte von 1966 über bürgerliche und politische sowie für soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte, die inzwischen ebenfalls zum Völkergewohnheitsrecht und damit zur Grundlage der Forderungen von Menschenrechtsorganisationen geworden sind, spielen in all diesen Schreiben eine wesentliche Rolle. Faire Gerichtsverfahren, Presse- und Meinungsfreiheit oder gerechte Entlohnung, das Recht auf Bildung und Gesundheit und angemessene Lebens- und Arbeitsbedingungen sind nur einige der darin ausformulierten Grund- und Freiheitsrechte, auf die sich die Menschenrechtsorganisationen berufen. In den 1970er und 1980er Jahren kamen weitere konkrete völkerrechtliche Verträge, wie die Konvention zur Abschaffung der Folter und die zum Schutz der Frauen und Kinder, hinzu. Nach dem Ende des Kalten Krieges sind die Rechte von Wanderarbeiter*innen oder die Konvention zum Schutz von Verschwundenen sowie die Rechte von Menschen mit Behinderung als neue Menschenrechtsstandards hinzugekommen. Die inzwischen lange Liste regionalspezifischer, z.  B. im Rahmen des Europarats oder der Europäischen Union, und universeller völkerrechtlicher Verträge bilden inzwischen die Grundlage jedes Briefes. Somit endet auch fast jeder Brief mit dem Satz und der Bitte an verantwortliche Regierungsstellen, ‚die von Ihrer Regierung ratifizierten Menschenrechtsnormen und -verträge gegenüber Ihrer Bevölkerung einzuhalten und umzusetzen‘. Menschenrechtsorganisationen machen vom Verweis auf das Völkergewohnheitsrecht und dessen universelle Anerkennung in ihren schriftlichen Forderungen an Regierungen regen Gebrauch (vgl. Simmons 2009). Jedoch sind diese Forderungen stets als Fürbitten, Nachfragen oder Erinnerungen formuliert. Schriftliche Drohungen, Ultimaten oder gar Sanktionen gegenüber Regierungen kann keine zivilgesellschaftliche Organisation ernsthaft durchsetzen. Sie würde ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Denn Nicht-Regierungsorganisationen sind privat bzw. gemeinnützig, z.  B. in Vereinen, organisiert und in der Regel unabhängig von Regierungen oder Konzernen (vgl. Frantz und Mertens 2006, 62  ff.). Die Kraft ihrer Schreiben liegt allein darin, die Einhaltung der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in dem betreffenden Land durch ihr Wort einzufordern. In besonders schweren Fällen von Menschenrechtsverletzung, wie systematischer Folter und willkürlicher Massenhinrichtung, bleibt oft nur der Appell an die Moral der jeweiligen Verantwortlichen.

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3 Der Anfang von Briefkampagnen Bereits in der Antike gab es schriftliche und private Fürbitten für die Freilassung von Angehörigen oder Freund*innen (vgl. Walter et al. 1998). Es handelte sich dabei stets um direkte Appelle an die Barmherzigkeit derjenigen, die maßgeblich für die Haft oder Folter einer Person verantwortlich waren. Heute gibt es im Internet unter den Sucheingaben create your own letter-writing campaign oder tools for activists für jede Initiative und Organisation praktische Anleitungen, wie eine Briefkampagne durchzuführen ist. Das Grundprinzip der Fürbitte ist jedoch seit der Antike gleichgeblieben. Der systematische und strategische Gebrauch von Briefen in Form von Kampagnen und Aktionen kommt erst mit den internationalen Menschenrechtsverträgen und der Entstehung von Nicht-Regierungsorganisationen in den 1950er und 1960er Jahren auf. Sie entwickelten die Strategie, Hunderttausende von Privatpersonen über Zeitungsannoncen oder später über Soziale Medien und Internetwerbung zu motivieren, für von Menschenrechtsverletzungen bedrohte Personen oder Gruppen in Form von Briefen, Aktionen und heute oft Online-Petitionen Einspruch zu erheben (vgl. Davis 2013, 14  ff.). Dabei ist hervorzuheben, dass eine Antwort auf diese Briefe grundsätzlich nicht erwartet wird bzw. zu erwarten ist. Denn eine Antwort von Regierungsverantwortlichen gegenüber Privatpersonen aus einem anderen Land als dem eigenen wäre ein unerhörtes Eingeständnis, konkret internationales Menschenrecht verletzt zu haben – kein*e Präsident*in oder Gefängnisdirektor*in würde das riskieren. Somit hat sich von Anfang an die Wirkung von Briefkampagnen allein anhand der Verbesserung der individuellen Situation des Opfers von Willkür und Gewalt bemessen, z.  B. indem im Zuge von Briefkampagnen plötzlich eine faire Gerichtsverhandlung eröffnet wurde, es zur Haftverbesserung oder sogar zur Freilassung einer Person kam. Einen direkten Zusammenhang zwischen Briefaktionen und Freilassung würde indes keine Regierung der Welt öffentlich zugeben. Aufrufe zu Briefaktionen, Briefmarathons oder Brieftagen wurden von Amnesty International seit ihrer Gründung 1961 initiiert und werden heute von den unterschiedlichsten Menschenrechtsorganisationen kopiert oder mitorganisiert. Nicht selten schließen sich für bestimmte Fälle von Menschenrechtsverletzungen mehrere Dutzend Organisationen zusammen, um zu protestieren und gemeinsam an Regierungsverantwortliche zu appellieren (vgl. Frantz et al. 2006, 73–75). Sie erhoffen sich eine größere öffentliche Wirkung durch die Massensendungen, über die z.  B. in unabhängigen Medien berichtet wird. Briefmarathons sind Massenproteste, die selten ignoriert werden. Dafür stellen die Organisationen Hintergrundmaterial zu bestimmten Gefangenen oder Verbrechen zur Verfügung und benennen die jeweiligen Adressat*innen, an die die Briefe geschrieben werden

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sollen. Es wird dem/der Schreiber*in überlassen, welche Informationen sie oder er aufnimmt und in welcher Form oder welchem Ton der Brief verfasst wird. Jedoch wird wiederholt darum gebeten, die Briefe höflich zu formulieren, da sie sonst ihre Wirkung verlieren, egal, an wen sie adressiert sind. Durch diese Aktionen kommt es auch zu dem weit verbreiteten naming and shaming von Regierungen oder Präsident*innen, die in den Briefkampagnen öffentlich benannt werden. Die Kraft des Briefs liegt trotz Briefgeheimnisses im Öffentlichmachen – z.  B. auf der Webseite der Organisation, in den lokalen und/ oder Sozialen Medien – und in der Transparenz des Falls von Menschenrechtsverletzung, der dadurch bekannt wird. In einem Fall ist es die Staatsanwaltschaft eines Landes, in einem anderen Fall der oder die Präsident*in oder die Staatssicherheitsorgane und Geheimdienste und im nächsten Fall die Gefängnisdirektion oder das Militär; jeder Brief wird individuell angepasst. Damit beinhalten diese Briefe, ganz gleich, um welche konkrete Menschenrechtsverletzung es sich handelt, auch immer eine Regimeund Systemkritik, mit der stillschweigenden Hoffnung, dass sich das in der Regel autoritäre politische System langfristig in ein demokratischeres wandelt. Den Anfang nahm diese Methode des Briefeschreibens mit einem Aufruf für zwei portugiesische politische Gefangene unter dem Salazar-Regime Anfang der 1960er Jahre. Am 28. Mai 1961 erschien in der britischen Zeitung The Observer ein Artikel unter der Überschrift „The Forgotten Prisoners“. Der britische Anwalt und Gründer von Appeal for Amnesty, später Amnesty International, Peter Benenson, hatte den Artikel geschrieben. Er reagierte damit auf die Verhaftung zweier portugiesischer Studenten. Die beiden jungen Männer hatten im damals diktatorisch regierten Portugal einen Toast auf die Freiheit gesprochen und waren dafür zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Benenson rief die Leser*innen des Observers dazu auf, Briefe für die Freilassung der beiden Studenten und zahlreicher anderer politischer Gefangener in der Welt zu schreiben. Dabei unterstrich der Anwalt, dass es in allen Regimen, ob Ost oder West, Nord oder Süd, Gefangene gebe, die aufgrund ihrer politischen oder religiösen Ansichten inhaftiert seien. Für seine Idee, mit Hilfe von Briefen an die betreffenden Regierungen auf das jeweilige Schicksal der Inhaftierten aufmerksam zu machen, suchte er Mitstreiter. Es gelang ihm, Gleichgesinnte zu finden (vgl. Mihr 2002). Hunderte, später Tausende von Privatpersonen in der ganzen Welt schrieben für Freilassung und faire Gerichtsverfahren  – und damit für die Einhaltung der Menschenrechte. Ermutigt durch die positive Resonanz startete Benenson kurz nach Erscheinen des Zeitungsartikels gemeinsam mit Freund*innen eine einjährige Kampagne mit dem Titel Appeal for Amnesty, die zunächst in westeuropäischen Ländern schnell Anhänger*innen fand (vgl. Claudius und Stephan 1978, 26).

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Doch Amnesty stieß bald darauf auf ernstzunehmende Probleme, nämlich dass oft Monate nach den Briefaktionen entweder keine Rückmeldung aus den betreffenden Ländern und Regimen kam oder dass immer noch Briefe zugunsten einer Freilassung geschrieben wurden, obwohl die Person schon lange frei war – was die ehrenamtlichen Briefeschreiber*innen entmutigte und der Glaubwürdigkeit der Organisation schadete (vgl. Frantz und Mertens 2006, 130  ff.). Die Organisation musste sich also professionalisieren und ihre Unterstützer*innen entsprechend vorbereiten. Sie wies offensiv darauf hin, dass politische Verantwortliche selten oder nie auf Briefe antworten würden, diese aber dennoch ihre Wirkung nicht verfehlten, da Inhaftierte oft stillschweigend freigelassen würden. Mit der Verbreitung virtueller Medien, des Internets und der Smartphones seit den 1990er Jahren werden heute zeitnah, fast live, Freilassungen, Gerichtsverhandlungen oder Verbesserungen der Haft oder der generellen Menschenrechtssituation öffentlich gemacht. Geheime Gerichtsverhandlungen, Inhaftierungen ohne Haftbefehl, häusliche Gewalt, unbemerkte Massenexekutionen, Kinderarbeit, gewaltsame Vertreibung oder Gewalt gegenüber Minderheiten sind heute weitaus schwerer zu verheimlichen, also dies noch vor 40 Jahren möglich war.

4 Der Fall DDR: Politische Inhaftierungen und Briefkampagnen Wie Amnesty International im Fall der ehemaligen DDR vorgegangen ist, soll hier kurz skizziert werden. Während der SED-Diktatur von 1949 bis 1989 setzte sich Amnesty für weit über 2.000 politische Gefangene und deren Freilassung in der DDR ein. Hunderttausende Briefe trafen zwischen 1961 und 1989 aus der ganzen Welt in Ost-Berlin und anderen Orten ein (vgl. Mihr 2002). Die Staatssicherheit des Regimes blockte alle Schreiben ab, beantwortete keines. Aber intern, in den Haftanstalten, im Politbüro und bei der Staatssicherheit, wurden alle Briefe sorgfältig gelesen und archiviert. So wurden beispielsweise 1981 hunderte Briefe zugunsten von politischen Gefangenen in der Haftanstalt Gera geschrieben. Ebenso viele gingen an die Familienangehörigen von Gefangenen. Darunter auch ein inhaftiertes Ehepaar, das in den Westen ausreisen wollte und dafür wegen ‚Republikflucht‘ zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurde. Nur zehn Schreiben wurden der Bezirksverwaltung von den Empfänger*innen freiwillig ausgehändigt. Die Staatsicherheit in Gera vermutete daher eine weit höhere Anzahl von AmnestyBriefen, die ihre Adressat*innen möglicherweise erreicht und dadurch eine breite Öffentlichkeitswirkung erzielt hatten. Die Stasi empfahl der Zentrale in Ost-Berlin, von einer vorzeitigen Haftentlassung und Übersiedlung des Gefangenenpaa-

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res in den Westen abzusehen. Das Ehepaar hatte bereits im April 1981 auf den möglichen Entlassungslisten gestanden. Die Geraer Verwaltung befürchtete aber, dass bei einer vorzeitigen Entlassung der Gefangenen den Verfasser*innen der Briefe die Bestätigung gegeben würde, dass ihre Aktion erfolgreich gewesen sei. Gleichzeitig gaben die Stasi-Mitarbeiter*innen gegenüber ihren Vorgesetzten zu bedenken, dass durch die Schreiben die breite Öffentlichkeit in der DDR die Organisation Amnesty International als Menschenrechtsorganisation wahrnehme, die den Staat zur Freilassung ihrer politischen Gefangenen zwinge. Würde man den Briefe­schreiber*innen ‚nachgeben‘ und das Ehepaar freilassen, so die Vermutung, wären in Zukunft weitere Aktivitäten Amnestys zugunsten anderer inhaftierter DDR-Bürger*innen die Regel. Die Stasi sah daraufhin von einer vorzeitigen Haftentlassung des Ehepaars ab. Um sie zu demotivieren, sollte den Inhaftierten darüber hinaus mitgeteilt werden, dass die Amnesty-Aktion für die Ablehnung des Übersiedlungsgesuchs aus der Haft verantwortlich gewesen sei. Letztlich waren damit die Briefe einer Menschenrechtsorganisation auch Grund für eine Verschiebung der Freilassung. Das Ehepaar wurde jedoch mit einigen Monaten Verzögerung 1982 stillschweigend aus der Haft in den Westen entlassen (vgl. Mihr 2002). Höflichkeit und Neutralität gegenüber dem jeweiligen politischen Regime war aber nicht immer einfach, denn es ging darum, die Gefangenen und deren Angehörige nicht in zusätzliche Gefahr zu bringen. Von Drohungen, Beleidigungen oder Besserwisserei wurde abgeraten. Mit der Zeit kristallisierte sich eine eigene Amnesty-policy heraus, die von anderen Menschenrechtsorganisationen wie dem Helsinki-Komitee oder Human Rights Watch später übernommen wurde (vgl. Thomas 2000, 205  ff.). Das Briefeschreiben forderte ein besonders vorsichtiges Vorgehen gegenüber offiziellen Stellen, denn man wollte mit minimalen Mitteln – wie einem Blatt Papier und Tinte, später E-Mails – einen maximalen Erfolg erreichen, nämlich dass der Staat die Mindeststandards des Völkerrechts einhält (vgl. Amnesty International 1980, 1).

5 Aufwand und Wirkung Für Menschenrechtsorganisationen ist stets die Relation zwischen Aufwand und Wirkung ausschlaggebend. Briefeschreiben kostet den Einzelnen nicht viel Zeit und Geld, zumal die meisten Briefe und Petitionen heute online bzw. per E-Mail versandt werden  – in der Masse jedoch können sie Regierungen zum Wanken bringen. Gleichwohl verfügt keine unabhängige Menschenrechtsorganisation über wirtschaftlichen Einfluss oder Sanktionsmöglichkeiten, die einen Regierungswechsel erzwingen könnten. Briefe können gelesen oder ignoriert werden,

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dessen waren bzw. sind sich alle Menschenrechtsorganisationen bewusst. Für Organisationen wie Amnesty ist es daher bis heute ausschlaggebend, dass durch diese Briefe Öffentlichkeit und Transparenz erzeugt werden, ein Mittel, dem sich gerade im digitalen Zeitalter kein politisches Regime mehr widersetzen kann. Daher wird auch im Zeitalter von E-Mail, Sozialen Medien, Twitter, Apps oder Facebook weiter auf Höflichkeit und Transparenz gesetzt. Waren es in den 1960er Jahren nur einige Tausende Briefeschreiber*innen weltweit, so gehen heute Online-Petitionen und Briefe fast täglich in die Millionen – was auch schnell inflationär und beliebig erscheint, wenn die Schreiben nicht mehr individuell, sondern nur noch als Kopie übernommen und verschickt werden. Gleichwohl ist die Papierform nach wie vor aktuell. So nehmen beispielsweise am jährlich von Amnesty organisierten 14-tägigen Briefmarathon im Rahmen des Internationalen Tags der Menschenrechte am 10. Dezember mehrere Millionen Menschen weltweit teil. Allein in Deutschland werden in diesem Zeitraum über 250.000 Briefe für ausgewählte Opfer von Menschenrechtsverletzungen weltweit verschickt. Zwar erwarten die Absender*innen in aller Regel keine Antworten auf ihre Schreiben und können daher keine direkte Wirkung nachweisen. Stattdessen aber folgen nicht selten von Regierungsvertreter*innen generelle Anschuldigungen an Organisationen und Einzelpersonen aus Ländern, aus denen die Briefe verschickt werden. Diese seien ‚ausländische Agenten‘, die im Auftrag feindlicher Staaten die Sicherheit im jeweiligen Adressatenland unterminieren wollten. Gemeint sind häufig die Brief- und Appellkampagnen von Menschenrechtsorganisationen, die nicht selten in Westeuropa oder Nordamerika ihren Hauptsitz haben, wie etwa Amnesty International in Großbritannien, Civicus in Kanada oder Human Rights Watch in den USA. Sie werden von Regierungsvertreter*innen oft als ‚feindliche Agenten‘ oder verlängerter Arm des jeweiligen Staatsapparates gesehen. Die Tatsache, dass es sich hier meistens um ehrenamtliche Schreiber*innen handelt, die ihr Handeln oft rein humanitär begründen, passt nicht in das Konzept autoritärer Regimevertreter*innen. Seit der Gründung internationaler Organisationen nach dem Zweiten Weltkrieg, wie den Vereinten Nationen (UNO) oder dem Europarat, und später seit dem Ende des Kalten Krieges in den 1990er Jahren mit dem Erstarken der Europäischen und Afrikanischen Union, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie der Inter-Amerikanischen Organisation mit festem Organisationssitz, Menschenrechtskommissionen oder Beauftragten, sind auch diese Einrichtungen zunehmend zu Adressaten von Briefen geworden. Ziel ist es, mithilfe dieser Organisationen und ihrer Menschenrechtskommissar*innen Druck auf bestimmte Staaten auszuüben. So richten sich etwa die ‚letters of concern‘ des Human Rights House-Networks, des Action- oder Civicus-Networks vornehmlich

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an die Generalsekretäre der UNO oder der OSZE mit der Bitte, bestimmte Menschenrechtssituationen in einzelnen Mitgliedsstaaten anzusprechen. Seit seiner Einrichtung 1994 und der Reform des Menschenrechtsrates der UNO 2006 spielt das Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf eine immer wichtigere Rolle bei jeder Briefkampagne. Denn vor diesen internationalen Gremien müssen sich Staatenvertreter*innen unmittelbar verantworten, ihre Menschenrechtsberichte werden von Nicht-Regierungsorganisationen kritisch beäugt und begleitet – und dazu gehören auch Briefkampagnen. Gleichwohl sind Briefkampagnen am wirkungsvollsten, sofern sie unbürokratisch und schnell direkt an Verantwortliche für die Inhaftierungen, Massenhinrichtungen, das Verschwindenlassen, für Bombardierungen, Flucht, Vertreibung oder Massenevakuierungen adressiert sind, da in diesen Fällen oft ein schnelles Handeln gefordert ist, das weder auf lange bürokratische noch diplomatische Umwege warten kann. Zivilgesellschaftliches Engagement mittels Briefen und Petitionen ist schneller, flexibler und zielgerichteter als parlamentarische Debatten, Einbestellung von Botschafter*innen oder Einberufungen von Untersuchungskommissionen. In ihrer kurzen und schnellen Reaktion entfalten Briefe, auch urgent actions genannt, von Menschenrechtsorganisationen ihre größte Wirkung. Sie veranlassen Verantwortliche zur unmittelbaren Reaktion und Stellungnahme zu den Anschuldigungen vor der Presse und Öffentlichkeit.

6 Ausblick Briefkampagnen finden heute zu über 80 Prozent online statt. Somit erreichen Briefmarathons oder konzentrierte Kampagnen leicht Millionen von freiwilligen Schreiber*innen und infolgedessen auch schnell ihre Adressat*innen. Ob online oder auf dem Papier, Briefe sind indes nicht nur leicht und schnell zu schreiben und zu erhalten, sondern auch leicht für politische oder persönliche Zwecke zu manipulieren. Das ist im Zeitalter der Sozialen Medien noch leichter geworden. Gute Recherche steht hier gegen manipulierte Informationen. Briefe, E-Mails, Tweets oder likes werden täglich millionenfach verwendet, sie enthalten nicht selten konkrete Absichten, die nicht allein im Interesse der Opfer stehen, sondern einseitig politisch oder kommerziell motiviert sein können. Öffentlichkeit und starke Medienpräsenz kann sich hier auch kontraproduktiv auswirken. Nicht selten werden Briefkampagnen für eigene Interessen instrumentalisiert, wenn sich beispielsweise kaum Belege für die Urheberschaft oder für eine Organisation mit gemeinnützigem Charakter dahinter finden. Mit dem massiven Aufkommen von Millionen von Nicht-Regierungsorganisationen auf lokaler, nationaler und

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internationaler Ebene ist auch das Mittel des Briefeschreibens ein Massenphänomen geworden. Umso mehr muss heute zwischen ernsthaften, glaubwürdigen und weniger seriösen Briefen unterschieden werden. Daher sind die großen Organisationen noch stärker um Glaubwürdigkeit und Faktensicherheit bemüht als zuvor. Der Kern der Botschaft und das Prinzip des Briefeschreibens hat sich hingegen nicht geändert; da kommt es noch immer auf die Wortwahl, auf Transparenz, Richtigkeit und Überprüfbarkeit der Fakten und Forderungen an.

Zitierte Literatur Amnesty International (1980). Manual for Groups with Prisoners in the German Democratic Republic (GDR), January. Claudius, Thomas u. Franz Stephan (1978). Amnesty International. Portrait einer Organisation. München u. Wien. Davis, Thomas (2013). NGOs. A New History of Transnational Civil Society. London. Frantz, Christiane u. Kerstin Mertens (2006). Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Elemente der Politik. Wiesbaden. Mihr, Anja (2002). Amnesty International in der DDR. Menschenrechte im Visier der Stasi. Berlin. Miller, Richard (2008). „Moral Closeness and World Community“, in: Global Justice. Seminal Essays: Global Responsibilities. Hg. v. Thomas Pogge u. Darrell Moellendorf. St. Paul. Bd. 1: 507–564. Risse, Thomas, Stephen C. Ropp u. Kathryn Sikkink (Hg.) (2000). The Power of Human Rights, International Norms and Domestic Change. Cambridge. Thomas, Daniel (2000). „The Helsinki Accords and Political Changes in Eastern Europe“, in: The Power of Human Rights, International Norms and Domestic Change. Hg. v. Thomas Risse, Stephen C. Ropp u. Kathryn Sikkink. Cambridge. Simmons, Beth A. (2009). Mobilizing for Human Rights. International Law in Domestic Politics. Cambrige. Walter, Nikolaus, Eckart Reinmuth u. Peter Lampe, Peter (1998). Das Neue Testament. Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon. Bd. 8/2. Göttingen.

Jörg Schuster

7.14 Der Briefwechsel zwischen Günther Anders und dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly Die Korrespondenz zwischen dem österreichischen Philosophen und Schriftsteller Günther Anders und dem ehemaligen US-Militärpiloten Claude Eatherly, der im August 1945 am Atombombenabwurf auf Hiroshima beteiligt war, ist einer der spektakulärsten und öffentlichkeitswirksamsten Briefwechsel des 20. Jahrhunderts. Der seit Juni 1959 auf Englisch geführte briefliche Austausch wurde 1961 in einer von Anders übersetzten und edierten Fassung unter dem Titel Off limits für das Gewissen. Der Briefwechsel zwischen dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders im Rowohlt Verlag publiziert. Es finden sich dort 28 Briefe sowie ein Telegramm Anders’ an Eatherly, 26  Schreiben Eatherlys an Anders sowie 17 weitere Briefe von einem oder an einen der beiden von anderen oder an andere, darunter ein Offener Brief Anders’ an John F. Kennedy vom 13. Januar 1961, in dem er den ‚Fall Eatherly‘ als „Dreyfus-Affaire des 20.  Jahrhunderts“ bezeichnet (Anders 1982, 323), sich für eine psychiatrische Untersuchung des ExPiloten durch eine unabhängige internationale Expertenkommission einsetzt und ein Gespräch des Präsidenten mit Eatherly anregt. Der britische Philosoph Bertrand Russell steuerte das Vorwort zu Off limits für das Gewissen bei, der Publizist und Zukunftsforscher Robert Jungk fungierte als Herausgeber und verfasste die Einleitung. Die Erstauflage betrug 12.000 Exemplare, bis 1964 wurden vier weitere Auflagen mit insgesamt 30.000 Exemplaren gedruckt; durch Ausgaben in zwanzig anderen Sprachen (vgl. Biladt 2007, 7) – u.  a. Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Niederländisch und Russisch – fand das Buch rasch große internationale Beachtung. 1982 wurde die Briefedition in den Anders-Sammelband Hiroshima ist überall aufgenommen. Die Publikation ist im Kontext der seit den frühen 1960er Jahren zu beobachtenden verstärkten juristischen, ethisch-philosophischen und literarischen Auseinandersetzung mit der Frage individueller Verantwortung in politischadministrativen Machtapparaten wie auch im Rahmen der militärischen Nutzung der Atomphysik zu sehen, die aufgrund der Erfahrung von NS-Diktatur, Zweitem Weltkrieg und darauffolgendem Kalten Krieg virulent geworden war. Beispiele im Hinblick auf den öffentlichen Diskurs über die NS-Verbrechen sind der 1961 in Jerusalem geführte Eichmann-Prozess, über den die  – bis 1937 mit Günther Anders verheiratete  – Philosophin Hannah Arendt Zeitungsberichte verfasste (1963 in Buchform unter dem Titel Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die https://doi.org/10.1515/9783110376531-124

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Banalität des Bösen) sowie die 1963 in Westdeutschland beginnenden Auschwitz-Prozesse. Literaturhistorisch geht damit eine Hinwendung zu Formen des Dokumentarischen einher, die jenseits poetisch-kunsthafter Elemente auf die Aussage- und Wirkungskraft des historischen Materials vertrauen. Neben den der NS-Thematik gewidmeten Stücken etwa Rolf Hochhuths (Der Stellvertreter, 1963) und Peter Weiss’ (Die Ermittlung, 1965) ist hier Heinar Kipphardts Dokumentardrama In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964) zu nennen; es befasst sich mit dem US-amerikanischen Physiker Oppenheimer, der führend an der Entwicklung der Atombombe beteiligt war und sich nach den Abwürfen über Hiroshima und Nagasaki 1945 zum Atomwaffen-Kritiker entwickelt hatte. Gegenüber diesen späteren literarischen Beispielen verwendet Anders in Off limits für das Gewissen nicht anderweitig vorgefundenes Material, vielmehr produziert er es zum Zweck des Kampfs gegen den ‚Atomtod‘ selbst durch den von ihm initiierten Briefwechsel. Anders war auf den ‚Fall Eatherly‘ durch die Lektüre eines Artikels in der amerikanischen Zeitschrift Newsweek im Mai 1959 aufmerksam geworden, in dem über die aktuelle Lebenssituation Eatherlys berichtet wurde (vgl. Anders 1982, XVII, 323; Biladt 2007, 57). Der ehemalige Pilot, der nach dem Hiroshima-Einsatz 1946 auch an den Atomtests auf dem Bikini-Atoll beteiligt gewesen war, hatte nach seiner Entlassung aus dem Dienst 1947 verschiedene Jobs angenommen; seit 1949 litt er unter Depressionen und Alpträumen und beging wiederholt Selbstmordversuche sowie Straftaten, die zunehmend absurden Charakter besaßen, indem er etwa Geschäfte überfiel, ohne das erbeutete Geld an sich zu nehmen. Bis 1962 war er immer wieder für längere Zeit in einer psychiatrischen Klinik der US-Armee, dem Veterans Administration Hospital in Waco, Texas, interniert (vgl. Anders 1982, 200–201; Biladt 2007, 32–55). Dort erreicht ihn der erste, auf den 3. Juni 1959 datierte Brief Anders’, der die Kontaktaufnahme mit seinem politisch-moralphilosophisch motivierten Interesse an dessen Schicksal begründet.

1 Internierung Die Internierung Eatherlys bildet eine entscheidende Rahmenbedingung für den Briefwechsel. Der Ex-Pilot informiert den Philosophen immer wieder über seine scheiternden Versuche, seine Entlassung aus dem Hospital zu erwirken; dieser unterstützt ihn darin, auch indem er sich an Verwandte, Ärzte, Journalisten, Juristen und Politiker sowie an die American Civil Liberties Union wendet. Wiederholt weist Eatherly darauf hin, dass er streng kontrolliert werde und seine Briefe zensiert würden: „Alle meine Briefe werden vom Doktor gelesen und nur dann

7.14 Der Briefwechsel zwischen G. Anders und dem Hiroshima-Piloten C. Eatherly 

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weiterbefördert, wenn er es für richtig hält.“ (Anders 1982, 260–261) Ebenso sind ankommende Briefe geöffnet und zensiert (vgl. Anders 1982, 306). Er bemüht sich daher, Briefe an Anders auf Umwegen aus der Klinik herauszuschmuggeln (vgl. Anders 1982, 261, 305 u. 322). Im Brief vom 3. August 1960 macht er darauf aufmerksam, dass ihm das Schreiben aufgrund ihm verabreichter Beruhigungsmittel schwerfalle. Anders wiederum wendet konspirative Methoden der Tarnung an, insbesondere als er dem Freund nach dessen Flucht aus der Klinik im November 1960 schreibt; er schickt einen irreführenden Brief an die Klinikadresse und gibt Eatherly in einem parallelen Schreiben an eine Geheimadresse Hinweise, wie er sich im Versteck zu verhalten und den Briefwechsel einzurichten habe (vgl. Anders 1982, 317). Für den in der Psychiatrie internierten Eatherly bietet der Briefwechsel mit Anders die Option eines Kontakts mit der Außenwelt, zumal sein Fall durch das rasch einsetzende publizistische Interesse an der Korrespondenz verstärkt öffentliche Aufmerksamkeit erlangt. Genau dies könnte allerdings umgekehrt wiederum – so vermuten jedenfalls die Briefpartner – ein politisch motivierter Grund für die verweigerte Freilassung des Ex-Piloten sein. Jedenfalls aber wird die Publizität, der Sensations- und Skandalcharakter von Off limits für das Gewissen dadurch gesteigert, dass es sich um den Briefwechsel mit einem – nach Anders’ Ansicht zu Unrecht  – Internierten handelt. Pathetisch bemerkt der Philosoph, als Eatherly nach seinem Fluchtversuch in Sicherheitsverwahrung gelangt und so, kurz vor der Publikation des Briefwechsels, von der Außenwelt abgeschnitten ist: „Dein Verstummen dröhnt in meinen Ohren noch lauter, als es Deine Stimme getan hätte.“ (Anders 1982, 344) Darüber hinaus verwendet Anders die Briefe immer wieder als Beweis dafür, dass Eatherly nicht psychisch krank sei, sondern nur ein besonders waches Gewissen habe und deshalb aus der Psychiatrie entlassen werden sollte (vgl. Anders 1982, 237, 324, 333) – so auch im Offenen Brief an John F. Kennedy, dem er zu diesem Zweck Exzerpte aus Eatherlys Briefen beilegt. Immer wieder kommt es dabei zur argumentativ luziden Inversion von Normalität und Abnormität: Als abnormal könne man den Kriegsveteranen nur in dem Sinne bezeichnen, dass die bei ihm zu beobachtende „Unerbittlichkeit und die pausenlose Wachsamkeit des Gewissens“ (Anders 1982, 324) nicht der Norm, dem gesellschaftlichen Durchschnitt entspreche. Angesichts der militärischen Katastrophe von Hiroshima mit mehreren zehntausend Toten und Verletzten sei nur eine „abnorme“ Reaktion eine angemessene Reaktion (Anders 1982, 324).

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2 Öffentlichkeit Das für den Briefwechsel zentrale Moment der Öffentlichkeit kommt nicht erst durch die Buchpublikation 1961 zum Tragen. Vielmehr wurden die ersten beiden Briefe Anders’ und Eatherlys vom Juni 1959 schon einen Monat später publiziert, u.  a. in den Zeitschriften Das Argument und Die Sammlung sowie in den Frankfurter Heften, aber auch international, etwa, im Blick auf die Hiroshima-Opfer bedeutsam, in zwei großen japanischen Zeitungen (vgl. Anders 1982, 255). Die Herstellung von Öffentlichkeit ist im Briefwechsel selbst angelegt und bestimmt – in spannungsvollem Kontrast zu den erwähnten partiellen Bemühungen um Geheimhaltung – seinen Charakter. Bereits der erste Brief an Eatherly ist zwar persönlich an diesen gerichtet, Ton und Inhalt erinnern jedoch an einen Offenen Brief, weshalb von vornherein von einer doppelten Adressierung an den Briefempfänger und an ein breiteres Publikum auszugehen ist. Das essayartige Schreiben umfasst in der Buchausgabe sechseinhalb Druckseiten und zeichnet sich durch rhetorische Virtuosität und konzise philosophische Argumentation aus; durch die Berufung etwa auf die „Schreie der Verletzten“ und die „Schatten der Toten“ (Anders 1982, 209) von Hiroshima erlangt der Text partiell poetische Qualität. Als Schreibmotivation nennt Anders das öffentliche Interesse, das an der Person des Adressaten bestehe: „Sie […] sind uns […] bekannt. Wie Sie mit Ihrem Unglück fertig oder nicht fertig werden, das verfolgen wir, gleich ob wir in New York sitzen, in Wien oder in Tokio, klopfenden Herzens.“ (Anders 1982, 207) Eatherly müsse sich deshalb publizistisches Interesse, ja Einmischung gefallen lassen: „Ihr Leben ist auch unser business geworden.“ (Anders 1982, 208) Bereits im exordium des ersten Briefs legt Anders dabei zugleich offen, dass sein Interesse politisch-moralphilosophisch begründet sei. Als virulentes weltgeschichtliches Problem im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen benennt er das Problem der Verantwortung des Einzelnen in technisch-administrativen Machtapparaten, „die Tatsache, daß wir ahnungslos und indirekt, gewissermaßen als Maschinenschrauben, in Handlungen eingefügt werden können, deren Effekt wir nicht übersehen und die wir, wenn wir die Effekte übersähen, nicht bejahen könnten […]. Die Technik hat es mit sich gebracht, daß wir […] schuldlos schuldig werden können“ (Anders 1982, 207). Diese These von der Diskrepanz zwischen dem individuellen menschlichen Vorstellungsvermögen und den technischen Möglichkeiten hatte Anders unmittelbar zuvor in seinem Hauptwerk Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution (1956) entwickelt. Von vornherein wird der Briefempfänger so zum öffentlichen Repräsentanten, zur Symbolfigur eines zeitgeschichtlichen Problems stilisiert: Der „Privatmann Claude Eatherly [sei] in ein Symbol der Zukunft […] verwandel[t]“ (Anders 1982,

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208). Gerade indem er sich weder als Kriegsheld betrachte noch sein Handeln verdränge, sondern darunter bis zur psychischen Erkrankung leide, gerade indem er also mit seiner Situation nicht fertig werde, stelle er ein Vorbild dar, da es für einen Menschen unmöglich sei, die Tat der Massenvernichtung psychisch zu bewältigen. Die sinnlosen Straftaten, durch die der Briefempfänger auf sich aufmerksam gemacht habe, erklärt Anders psychologisch als „Verzweiflungsschritte“, um auf Umwegen zu einer erwünschten Strafe zu gelangen, und somit als einen Beweis für die „Lebendigkeit Ihres Gewissens“ (Anders 1982, 211). In letzter Konsequenz deutet der Philosoph den Täter zum „Hiroshima-Opfer“ (Anders 1982, 213) um, ja er schreckt nicht davor zurück, ihn als „Märtyrer“ (Anders 1982, 248 u. 259) zu idealisieren, dessen Verhalten von der breiten Öffentlichkeit nicht verstanden werde. Umgekehrt stilisiert Robert Jungk in seiner Einleitung zu Off limits für das Gewissen Anders zum Retter und Therapeuten Eatherlys (vgl. Anders 1982, 203). In Anders’ Interpretation wird der Hiroshima-Pilot, der, obwohl selbst nur ein kleines Rädchen im Getriebe, die Schuld für seine Tat auf sich nehme, zum Antipoden Eichmanns, der individuelle Schuld von sich weise, indem er sich als bloßen Befehlsempfänger ausgebe (vgl. Anders 1982, 327 u. 346). Die beiden bereits aus dem ersten Schreiben abzulesenden zentralen Funktionen von Anders’ Briefen sind somit die Solidarisierung mit und das Bekunden von Respekt gegenüber Eatherly aufgrund einer zeitgeschichtlich relevanten Erfahrung, die er der Menschheit voraushabe und die der Briefschreiber als philosophischer Autor bereits adäquat analysiert habe. Auch wenn es darüber hinaus kaum persönliche Berührungspunkte gibt, wird so bereits durch den ersten Brief eine Kommunikation auf Augenhöhe suggeriert. Was die angestrebte doppelte Wirkung – auf den einzelnen Adressaten und auf die Öffentlichkeit  – betrifft, war der kommunikative Impuls von Anders’ erstem Brief außergewöhnlich erfolgreich. Auch wenn Eatherlys Antwort vom 12. Juni 1959 bezeichnenderweise nur weniger als ein Fünftel des Umfangs von Anders’ erstem Brief aufweist, wurden Anders’ Erwartungen übertroffen. War er, wie er selbst nachträglich bemerkt, zunächst davon ausgegangen, „ins Leere zu schreiben“ (Anders 1982, XVII), so erwidert der Kriegsveteran seinen Brief nicht nur freundlich, sondern äußert die Erwartung, die Korrespondenz langfristig fortzuführen; der Ton ist entsprechend einschmeichelnd: „Ich habe das Gefühl, daß Sie mich so verstehen wie niemand sonst, außer vielleicht mein Arzt und Freund.“ (Anders 1982, 214) Sehr bald wird im weiteren Verlauf des Briefwechsels in der Anrede und in der Grußformel der Begriff ‚Freund‘ verwendet, und bald sind auch typische epistolare Praktiken wie das Übersenden von Porträts (vgl. Anders 1982, 237) und epistolare Topoi wie derjenige der Überwindung von Ferne zu beobachten: „Nein, ich finde es nicht sonderbar, daß wir einander nahe sind trotz der weiten Entfernung, die uns zu trennen scheint. Wenn Armeen trotz der Tausen-

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den von Meilen, die zwischen ihnen liegen, einander erreichen können, dann haben Freunde zu zeigen, daß sie von räumlichen Entfernungen genau so wenig abhängen wie Feinde“, schreibt Anders am 30. August 1959 emphatisch (Anders 1982, 240). Mit Eatherlys Antwortbrief vom 12. Juni 1959 ist somit erstens, was die ‚Innenseite‘ des Briefwechsels betrifft, die Perspektive der dauerhaften Fortsetzung, also der epistolaren Serialität eröffnet. Zweitens erfolgt sehr schnell der Schritt in die Öffentlichkeit, denn schon in seinem nächsten Brief erteilt Eatherly die Erlaubnis, sein erstes Schreiben für eine Veröffentlichung zu verwenden. Drittens ist der Briefwechsel in der Folge in ein epistolares Netzwerk eingebettet, denn der „Weg des persönlichen Briefwechsels“ erscheint Eatherly zum Zweck der gemeinsamen Bekämpfung von Nuklearwaffen als „das beste Mittel […], durch das die Menschen in allen Ländern der Welt sich miteinander verständigen können“ (Anders 1982, 247). So wenden sich etwa die „Girls of Hiroshima“ an den Piloten und versichern ihm, analog zu Anders’ Rollenkonstruktion, dass er „ebenso ein Kriegsopfer [sei] wie wir“ (Anders 1982, 232). Seine – vom Philosophen mitproduzierte – Prominenz wird also in den Dienst der Anti-Atomkriegs-Kampagne gestellt; bereits eineinhalb Monate nach Beginn des Briefwechsels stellt Anders fest: „Sie sind in der glücklichen Lage, unserer Front eine Breite zu verleihen, die diese ohne Sie niemals annehmen könnte“ (Anders 1982, 229). Beide Briefpartner profitieren – zum publizistischen Zweck der Warnung vor dem Atomkrieg – letztlich von der relativen Popularität des anderen.

3 Medienreflexion und epistolare Konstruktion der Eatherly-Imago Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass in und mit dem Briefwechsel immer wieder ein hohes Maß an Medienbewusstsein unter Beweis gestellt wird. Auf medialer Ebene wiederholt sich so in gewisser Weise die Abwehrhaltung gegenüber einem Apparat, über den der Einzelne keine Kontrolle mehr hat. Anders weist den Freund im März 1960 auf eine reißerische Artikelserie im Magazin Stern hin und versucht mit seinem Einverständnis, sie zu stoppen (Anders 1982, 266; vgl. Geiger 1991, 164). Kontinuierlich warnt er ihn, er solle sich auf keine Angebote einlassen, sein Leben durch Hollywood-Regisseure verfilmen zu lassen, da dies zu einer unangemessenen Glorifizierung und Heroisierung führen könne. Eather­ lys Versicherung, dieser Versuchung zu widerstehen (vgl. Anders 1982, 238), führt wiederum zu einer Stabilisierung der (Brief-)Beziehung: „Nun bin ich so fest von Deiner Unverführbarkeit überzeugt, daß nichts mehr diesen meinen Glauben erschüttern kann“, schreibt Anders am 8. September 1959 (Anders 1982, 246). Um

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die individuelle Deutungshoheit zu sichern, empfiehlt Anders nachdrücklich das Medium Schrift, sei es in Form des ja auch von Eatherly als Kommunikationsform geschätzten Briefs, sei es in Buchform. So mahnt der Philosoph wiederholt eindringlich, der Briefpartner solle seinen Lebensbericht zunächst selbst als Buch veröffentlichen, ehe er in die „Produktionsmühle“ des Films gerate (Anders 1982, 236). Hierzu bietet er ihm zum einen seine persönliche Hilfe im Sinne einer kollaborativen Autorschaft an, was jedoch aufgrund der räumlichen Entfernung scheitert. Zum anderen hebt er die sprachlichen Fähigkeiten hervor, die er an den Briefen des Gegenübers wahrgenommen haben will; sie seien „viel lebendiger, Deine Formulierungen prägnanter, Deine Worte gehen mehr zu Herzen und sie sind humoristischer, kurz: sie sind in jeder Hinsicht Deinen ‚Artikeln‘ überlegen. Du wirst als Mensch erkennbarer, wenn Du zu jemandem sprichst, als wenn Du ohne einen bestimmten Adressaten schreibst.“ (Anders 1982, 313) Er hofft auf eine katalysatorische Wirkung der Briefe für das Autobiographie-Projekt: „Bitte schieb Deine Versuche, Deine Geschichte niederzuschreiben, nicht weiter auf. Wenn Deine Hemmungen zu groß sein sollten  […], dann versuche es doch einmal in Form von Briefen, die Du, statt sie in den Briefkasten zu werfen, in Deiner Schublade ansammelst.“ (Anders 1982, 270, vgl. 314) Weiterhin beeinflusst er das von ihm empfohlene autobiographische Schreibprojekt, indem er dem Freund schriftstellerische Ratschläge erteilt und ihm ausgewählte Lektüre wie zum Beispiel Augustinus’ Confessiones zukommen lässt (vgl. Anders 1982, 242–243 u. 249). Es handelt sich hier um eine Art epistolar-ästhetischer Hilfestellung oder Erziehung, wie sie Schriftsteller*innen spätestens seit dem 18.  Jahrhundert immer wieder praktizierten (vgl. Schuster 2014, 202): Eine literarische Autorität ermutigt jeweils das Gegenüber, sich individuell sprachlich auszudrücken, kontrolliert diesen Prozess jedoch weitgehend. Sowohl durch diese epistolar-ästhetische Erziehung als auch durch das Bild des Gegenübers, das er im Briefwechsel etabliert, also durch seine Deutung des Briefpartners als zeitgeschichtliches Symbol, als Opfer und Märtyrer, konstruiert Anders eine Eatherly-Imago, die seinen eigenen politisch-moralischen Vorstellungen entspricht (vgl. Geiger 1991, 141–143). Der Freund dient gewissermaßen als Beleg für die eigenen philosophischen Thesen; genau deshalb wird sein Bild sorgsam überwacht. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass Eatherly auf Anders’ präzise Deutung mit eher diffusen und abstrakten Bemerkungen reagiert: „Während meines ganzen erwachsenen Lebens bin ich immer aufs lebhafteste an dem Problem, wie man handeln und sich verhalten soll […], interessiert gewesen.“ (Anders 1982, 213) Wie sehr Anders bemüht war, sein Eatherly-Bild durchzusetzen, zeigt sich schließlich in einem Film-Projekt, an dem er maßgeblich beteiligt war und das zur einzigen Begegnung zwischen ihm und Eatherly 1962 in Mexiko-

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Stadt führte (vgl. Geiger 1991, 154–161; Biladt 2007, 67). Der Hiroshima-Pilot äußert sich im Film nicht selbst, sondern spricht Texte Anders’. Wie die geplante Autobiographie, so scheiterte auch das gemeinsame Filmprojekt, indem der Regisseur Erwin Leiser die Produktion ohne Anders und Eatherly fortsetzte. Off limits für das Gewissen blieb somit die einzige kollaborative Publikation Anders’ und Eatherlys. In der epistolaren Konstruktion Eatherlys nimmt Anders dabei eine doppelte Rolle ein, denn zu seiner Funktion als Briefschreiber kommt noch die des Editors hinzu. So kommentiert er in Fußnoten das sprachliche Ausdrucksvermögen des Freunds  – in merkwürdigem Kontrast zum in den Briefen an ihn strategisch gezollten Lob – kritisch als „primitiv“ (Anders 1982, 214). Nicht nur seine Übersetzungs-, sondern auch seine Editionspraxis zeichnet sich ferner durch sprachliche Überarbeitung und Glättung aus. Auch in der englischsprachigen Ausgabe nimmt er „minute syntactical and grammatical polishing“ (Eatherly 1962, 7) vor; der Inhalt der Briefe werde dadurch nicht berührt, das Ziel bestehe darin „to make the meaning of the text more transparent“ (Eatherly 1962, 8). Allerdings gesteht er selbst ein, dass dadurch „das Portrait Eatherlys als eines Briefschreibers etwas modifiziert“ (Anders 1982, 216; vgl. Eatherly 1962, 8) wird. Vor diesem Hintergrund ist eine historisch-kritische Ausgabe, die Anders’ eigene Edition mit den im Österreichischen Literaturarchiv aufbewahrten Originalen bzw. Durchschlägen vergleichen und ferner den nach 1961 fortgeführten, nach dem Treffen 1962 aber abebbenden Briefwechsel miteinbeziehen würde, als dringendes Desiderat anzusehen. Davon unabhängig ist Off limits für das Gewissen als eine verdienstvolle, weil öffentlichkeitswirksame epistolare Konstruktion zum Zweck des Protests gegen den Atomkrieg zu charakterisieren.

Zitierte Literatur Anders, Günther (1982 [1961]). „Off limits für das Gewissen. Der Briefwechsel zwischen dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders“, in: Ders. Hiroshima ist überall. München: 191–360. Biladt, Claudia (2007). Der „Antipode Eichmanns“. Briefwechsel Günther Anders & Claude Eatherly. Wien. Eatherly, Claude (1962). Burning Conscience. The Case of the Hiroshima Pilot Claude Eatherly, Told in his Letters to Gunther Anders. With a Postscript for American Readers by Anders. Pref. by Bertrand Russell. Foreword by Robert Jungk. New York. Geiger, Georg (1991). Der Täter und der Philosoph – der Philosoph als Täter. Die Begegnung zwischen dem Hiroshima-Piloten Claude R. Eatherly und dem Antiatomkriegphilosophen Günther Anders oder: Schuld und Verantwortung im Atomaren Zeitalter. Bern u.  a. Schuster, Jörg (2014). „Kunstleben“. Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes. Paderborn.

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Weiterführende Literatur Nachlass Günter Anders im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek: https:// search.onb.ac.at/primo-explore/fulldisplay?docid=ONB_alma21296227560003338& context=L&vid=ONB&lang=de_DE&search_scope=ONB_hanna&adaptor=Local%20 Search%20Engine&tab=default_tab&query=any,contains,claude%20 eatherly&sortby=rank&offset=0; (24.3.2019). Scheffelmeier, Heinz. „Bibliographie Günther Anders“, in: Forum. Internationale Zeitschrift für kulturelle Freiheit, politische Gleichheit und solidarische Arbeit, Oktober 2015. http:// forvm.contextxxi.org/bibliographie-gunther-anders.html (24.3.2019).

Sibylle Schönborn

7.15 Der Briefwechsel Ingeborg Bachmann – Paul Celan – Max Frisch – Gisèle Celan-Lestrange 1 Korpus und Überlieferung Der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan wurde 2008 von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann in einer kritischen, kommentierten Ausgabe, ergänzt um Briefe zwischen Celan und Max Frisch sowie Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange, herausgegeben (vgl. Bachmann und Celan 2008). Das Konvolut umfasst alle in den Nachlässen der Österreichischen Nationalbibliothek, des Deutschen Literaturarchivs in Marbach und des Max-Frisch-Archivs der ETH Zürich sowie in Privatnachlässen aufgefundenen Briefe und Briefentwürfe: Das sind insgesamt 196 Briefe von Bachmann und Celan, neun Briefe von Celan an Frisch, fünf Briefe Frischs an Celan sowie 16 Briefe von Celan-Lestrange an Bachmann und elf Bachmanns an Celans Frau. Die Ausgabe enthält neben dem ausgezeichneten Kommentar zwei einführende Nachworte der Herausgeber*innen und eine Zeittafel mit biographischen und werkgeschichtlichen Daten beider Korrespondenten. 2016 wurden zwei weitere Briefe Celans an Bachmann, versteckt unter anderen Papieren, aufgefunden, gemäß dem Credo, „etwas zu hinterlassen“ und zugleich das „Briefgeheimnis zu wahren“ aus dem Roman Malina (Bachmann 1995, 682): „Ich suche nach einem besonderen Platz in der Wohnung, nach einem Geheimfach, denn ich gehe mit einem kleinen Bündel in den Händen auf und ab. Es müßte ein Fach im Sekretär geben, das nachher nie mehr aufspringt, sich von niemand öffnen läßt. Oder ich könnte ein Stück Parkett mit einem Stemmeisen aus dem Boden lösen, die Briefe dort verstecken“ (Bachmann 1995, 689). Von diesen Briefen sagt das Roman-Ich: „Es sind dies die einzigen Briefe… […] die mich erreicht haben… Meine einzigen Briefe!“ (Bachmann 1995, 690) Wie Iris Radisch (2016) in der Zeit berichtet, stammen die aufgefundenen Briefe Celans aus der Zeit der wieder aufgenommenen Beziehung 1957/58 und bezeugen Celans Trennungsabsichten von seiner Frau. Briefeditionen lassen sich grundsätzlich in zwei verschiedene Typen einteilen: Zu dem ersten Typus gehören die Editionen von Einzelkorrespondenzen, zum anderen die Editionen der möglichst vollständigen Korrespondenz einer Autorin oder eines Autors zumeist im Rahmen einer Werkausgabe. Im Falle der Edition des Bachmann-Celan-Briefwechsels haben wir es mit einer Mischform zu tun, die beide Typen der Edition kombiniert, indem sie zwar eine Einzelkorrespondenz ins https://doi.org/10.1515/9783110376531-125

7.15 Der Briefwechsel I. Bachmann – P. Celan – M. Frisch – G. Celan-Lestrange 

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Zentrum stellt, diese aber zugleich um eine kontextbezogene Auswahl von Briefen anderer Korrespondentinnen und Korrespondenten erweitert. Die hier gewählte Mischform ist insofern nicht ganz unproblematisch, als sie den singulären Charakter der Korrespondenz zwischen Bachmann und Celan um den Preis herausstellt, dass sie diese aus ihrem weiteren, durchaus auch für die Kommunikation zwischen den beiden bedeutsamen epistolaren Kontext isoliert und damit ein Zentrum und eine Peripherie erzeugt, indem sie die vielfältige Korrespondenz auf einzelne Protagonist*innen fokussiert und hierarchisiert, anstatt sie als Teil eines ausgedehnten Briefnetzwerks zu begreifen. Diese Entscheidung für die separate Edition von Einzelkorrespondenzen im Falle von Celans Briefwechseln, von denen bisher diejenigen mit Gisèle Celan-Lestrange, Rudolf Hirsch, Hanne und Hermann Lenz, Nelly Sachs, Klaus und Nani Demus, Peter Szondi, Gisela Dischner, Heinrich Böll, Paul Schallück, Rolf Schroers, Gustav Chomed und Ilana  Shmueli erschienen sind, wäre für die noch ausstehende Edition der vollständigen Korrespondenz Bachmanns zu überdenken, die während des Briefwechsels mit Celan u.  a. zugleich auch eine rege Korrespondenz mit Hans Weigel geführt haben soll (Höller und Stoll 2008, 228). Mit dem Briefwechsel Bachmann/Celan wurde zunächst  – potenziert durch das titelgebende Zitat Herzzeit aus dem im Briefwechsel eine bedeutende Position einnehmenden Gedicht „Köln, Am Hof“ und die photographischen Abbildungen der beiden Korrespondenten in jungen Jahren auf dem Umschlag – der Mythos um die vor den Augen der Öffentlichkeit verborgene Liebesbeziehung zwischen den beiden Exponenten der deutschsprachigen Nachkriegslyrik und damit eine biographische Lesart der Briefe befördert, die von der ersten Rezeption im Feuilleton bis zu Böttigers Doppelbiographie (2017), die diese bereits im Untertitel als „Liebesgeschichte“ annonciert, und der filmischen Adaption des Briefwechsels von Ruth Beckermann und Ina Hartwig im Jahr 2016 reicht. Statt dieser verengenden Lektüre muss die Einzelkorrespondenz zwischen Bachmann und Celan über den intimen Charakter der Kommunikation hinaus (vgl. Liska 2009) zunächst vor allem auch als Teil eines historischen epistolaren Netzwerks gelesen werden, zu dem neben den jeweiligen Lebenspartnern, Max Frisch und Gisèle Celan-Lestrange, auch Klaus und Nani Demus zu rechnen sind.

2 Celan – Bachmann 1948–1967 Ingeborg Bachmann und Paul Celan führen von 1948 bis 1961 mit zwei Unterbrechungen in den Jahren 1954 und 1956 eine regelmäßige Korrespondenz. Wiedemann und Badiou teilen die Korrespondenz in insgesamt sechs „Zeitabschnitte“ ein (Bachmann und Celan 2008, 216). Die letzten beiden Briefe von Paul Celan

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stammen aus den Jahren 1963 und 1967. Die Intensität des Briefverkehrs konzentriert sich nach der Anfangsphase bis zu Celans Heirat im Jahr 1952 auf den Zeitraum der Wiederaufnahme der Beziehung während des Treffens in Wuppertal und Köln 1957 und dem Jahresende 1961, als Bachmann nach einem nicht abgesandten Abschiedsbrief (vgl. Wiedemann 2014) ein letztes Mal Weihnachts- und Neujahrsgrüße schickt. Celans letzte Versuche der Wiederaufnahme der Korrespondenz bleiben unbeantwortet. Über Beschaffenheit, Entwicklung und Ende der Liebesbeziehung zwischen den Briefpartnern im zeitgeschichtlichen Kontext von Täter- und Opfergeschichten nach der Shoah und daraus folgenden Traumatisierungen und Krankheitsbildern ist in der Forschungsliteratur an verschiedenen Stellen (vgl. Bormuth 2015; Cohen 2012; Höller 2011; Liska 2009; Witte 2012) diskutiert worden. Der Briefwechsel, der zunächst die Entwicklung der Liebesbeziehung zwischen Celan und Bachmann im Kontext der Zeitgeschichte dokumentiert, ist zugleich auch Medium eines Dialogs über Kunst, Literatur und Politik in der Nachkriegszeit. Darüber hinaus ist er integraler Bestandteil des literarischen Schaffens nicht nur, wo er aus adressierter und expedierter Lyrik besteht, sondern auch dort, wo er zeitgenössische Theorien zur Literatur und Kunst verhandelt oder eigene und fremde Texte kommentiert, wo er das Schreiben selbst (vgl. Bormuth 2012; Maeding 2014; Schönborn 2013), die Gattung oder die Materialität des Briefs reflektiert und an seiner Poetik arbeitet; insbesondere im Falle Bachmanns, bei der der Briefwechsel auf vielfältige Weise untrennbar mit dem Werk verbunden ist (vgl. Höller 2011; Schönborn 2015). Die literarische Produktion und das Briefschreiben bilden so von Anfang an eine organische Einheit, bei der der Brief zum Entstehungsort von Gedichten und zum Gespräch über Gedichte sowie zur Auseinandersetzung um die Bedeutung der Shoah für die Gegenwart im epistolaren Dialog und im Diskurs über Lyrik wird. Damit wird in Anspielungen auf Gedichte, Lyrikzitate und -kommentare ein indirekter, vermittelter Dialog zu dem zentralen, auch die Beziehung prägenden Diskurs über den Ort und die Bedeutung der Shoah in der Gegenwart als kontinuierlich mitlaufender Subtext sichtbar. So markiert das Gedicht „In Ägypten“ programmatisch den Anfang des Briefwechsels, mit dem Celan die Beziehung im Kontext der Nachgeschichte der Shoah positioniert; während „Köln, Am Hof“ die Wiederaufnahme der Beziehung 1957 definiert, auf das Bachmann mit dem Hinweis auf ihre „Lieder auf der Flucht“ antwortet (vgl. Bachmann und Celan 2008, 59–60 u. 63; Bormuth 2015; Reimer 2014; Schönborn 2013, 360). Zur Poetizität des Briefwechsels gehört insbesondere auch bei Bachmann die genauestens inszenierte Anordnung und performative Ausgestaltung der Schreibszene, zu der nicht nur die Schreibsituation, sondern auch die Wahl des Briefpapiers und des Schreibwerkzeugs, Füllfeder oder Schreibmaschine, zählt, so dass bei diesem Briefwechsel dem Material der Briefe, das

7.15 Der Briefwechsel I. Bachmann – P. Celan – M. Frisch – G. Celan-Lestrange 

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in keiner Weise zufällig ist, eine eigene Bedeutung zukommt. Dabei stehen den handschriftlichen Briefen als physischer Spiegel der emotiven Beteiligung an der Textproduktion vor allem bei Bachmann maschinenschriftlich auf ihrer Facit verfasste Briefe gegenüber (vgl. Wiedemann 2010; Schönborn 2015). Während der Blöcker-Affäre tauschen oder entwerfen die Briefpartner überwiegend maschinenschriftliche Briefe, die gegenüber der häufig flüchtigen Handschrift Distanz statt Nähe, Differenz statt Einverständnis, Endgültigkeit statt Vorläufigkeit, Öffentlichkeit statt Intimität dem Adressaten signalisieren sollen, worauf Celan gegenüber Demus deutlich hinweist: „Ich habe Ingeborg nach jenem maschinengeschriebenen Brief [gemeint ist Brief 145] einen zweiten, weiß Gott herzlichen geschrieben“ (Celan et al. 2009, 288). Der artifiziell überhöhten Schreibszene der handgeschriebenen, intimen, dem Partner bzw. der Partnerin zugewandten Briefe stehen so die Distanz herstellenden oder unüberbrückbare Differenzen formulierenden, semi-offiziellen, die exemplarische und repräsentative Sprecherposition im zeitgeschichtlichen Kontext betonenden maschinenschriftlichen Schreiben gegenüber (vgl. Schönborn 2013; Stoll 2014).

3 Celan – Bachmann – Frisch – Celan-Lestrange – Demus: Die Blöcker-Affäre 1959 Celan nutzt den Briefwechsel darüber hinaus als semi-öffentliches Medium zur Konstitution einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten und Unterstützern seiner Interessen in der Auseinandersetzung mit den Repräsentanten des bundesdeutschen Literaturbetriebs anlässlich der Blöcker-Rezension der Sprachgitter und des erneuten Plagiatsvorwurfs von Claire Goll im Jahr 1960. Mit seinen Briefen versucht er, einen kritischen Diskurs gegen den konsensfähigen verborgenen Antisemitismus im Literaturbetrieb und den Medien der BRD zu initiieren. Dazu bindet er neben Bachmann und Max Frisch auch Nani und Klaus Demus in ein epistolares Netzwerk ein. Dieser Briefwechsel zwischen Celan und seinen Korrespondenzpartner*innen in der Blöcker- wie der Goll-Affäre dokumentiert auf jeweils ganz unterschiedliche Weise die Grenzen und das Scheitern der Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Geschichte und der Shoah im Nachkriegsdiskurs. So ist es kein Zufall, dass zu Celans Hilferuf in der Blöcker-Affäre sowohl von Bachmann als auch von Frisch eine Vielzahl von Briefentwürfen überliefert sind, die zwar nicht expediert, aber auch nicht vernichtet wurden, so dass Cohen schon von einer Textsorte des „nicht abgeschickte[n] Briefs“ (Cohen 2012, 91) spricht. Beide, Bachmann und Frisch, thematisieren diese Schreibblockade, die sich bei Bachmann sogar zur Schreibkrise auswächst, aus einer Situation

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der Überforderung im Umgang mit der Wahrnehmung des deutschen Literaturbetriebs aus Celans Opferperspektive, obwohl Celans Appell zur Parteinahme so einfach wie unmissverständlich ausgefallen war: „Hitlerei, Hitlerei, Hitlerei. Die Schirmmützen. Sehen Sie, bitte, was Herr Blöcker, erster deutscher NachwuchsKritiker von Herrn Rychners Gnaden, Autor, ach, von Kafka- und BachmannAufsätzen, schreibt.“ (Bachmann und Celan 2008, 165) Blöcker hatte Celans Sprachgitter als „graphische Gebilde“ ohne „sinngebende Funktion“, als „kontrapunktische Exerzitien auf dem Notenpapier“ abqualifiziert und dies mit Celans Herkunft und seinem daraus resultierenden Verhältnis zur deutschen Sprache als einer Fremdsprache begründet. Dieses elementare Unverständnis der Lyrik Celans, das diese an vorherrschenden Tendenzen der deutschen Nachkriegslyrik maß, verliert sich spätestens mit seiner ethnifizierenden Begründung für Celans als fremdartig empfundene Sprache im antisemitischen Ressentiment, mit der der Autor aus dem Zentrum der deutsch-jüdischen Kultur in Galizien im „Leeren agiere“ (Bachmann und Celan 2008, 124–125). Frisch braucht vier Anläufe, um Celan auf diesen kurzen Hilferuf zu antworten. In dieser Antwort übertrifft er Blöckers Kritik durch die Äußerung des in Form einer (rhetorischen) Frage vorgetragenen ungeheuerlichen Verdachts, dass Celan Auschwitz und die Opfer für seine eigenen Zwecke, die Verteidigung seiner Lyrik, instrumentalisiere. Frischs fundamentale Verunsicherung im Umgang mit Celan als einem Vertreter der Opfer thematisiert er nicht nur in diesem, sondern bereits in seinem ersten nicht überlieferten und abgesandten Brief, in dem er von einem Streit mit Bachmann vermutlich wegen einer Anspielung auf die Verstrickung der deutschen Autoindustrie in den Faschismus angesichts Bachmanns VW Käfer berichtet, mit dem Celan vom Bahnhof abgeholt werden sollte (vgl. Bachmann und Celan 2008, 164). Mit seinem völlig unzulässigen und unberechtigten Vorwurf in der BlöckerAffäre hatte Frisch nicht nur Celan verraten, sondern auch Bachmann in Erklärungsnot gegenüber Celan gebracht, die sich daraufhin vor diesem zum einen zu rechtfertigen versucht, weil sie den verhängnisvollen Brief Frischs nicht zurückgehalten hatte, und zum anderen über Frischs potentiellen bzw. latenten Antisemitismus reflektiert (Bachmann und Celan 2008, 126), aber ebenfalls ihrerseits keine Position für Celan bezieht. Bormuth spricht in diesem Zusammenhang von Bachmanns „Ambivalenz […] gegenüber der Opferperspektive“ (Bormuth 2015, 185). Celan bricht daraufhin den Briefverkehr ab. Bei Bachmann, die im Zusammenhang der Blöcker-Affäre auch mit Klaus Demus persönlich und Celans Frau brieflich kommuniziert, laufen nicht nur die Fäden dieses Netzwerks zusammen, sondern überkreuzen sich in fataler Weise politische und persönliche Interessen, die Bachmann in einen ausweglosen Loyalitätskonflikt gegenüber Celan und Frisch zwingen. So muss sie bei Demus den Versuch unternommen haben, diesen zum Vermittler und Fürsprecher für Frischs Position zu gewinnen. Bach-

7.15 Der Briefwechsel I. Bachmann – P. Celan – M. Frisch – G. Celan-Lestrange 

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manns Anspruch gegenüber Demus bringt daraufhin diesen seinerseits in Konflikt mit Celan, der dem „einzigen Freund“ in verschiedenen Briefen seine Sicht auf die Ungeheuerlichkeit der Anschuldigung Frischs und Bachmanns Strategie des Abschließens mit der Geschichte mitteilt, die sie mit ihrer mehrfach geäußerten Empfehlung an Celan zu vergessen äußert, und gleichzeitig den Vorwurf gegenüber Bachmann erhebt, nicht nur Teil, sondern auch Akteurin des Literaturbetriebs zu sein, der Celan mit antisemitischen Ressentiments neuerlich zum Paria macht: Wie konnte sie Dir, da sie Dir meinen Brief zeigte, den Brief von Frisch an mich vorenthalten! (Dieser Brief, Klaus, ist eine einzige Beleidigung und Unverschämtheit.) / Es ist nicht wahr, Klaus, daß mein Notschrei  …kein Notschrei gewesen sei; wahr ist, daß er es deutlich war  – in meinen Zeilen an Frisch sogar überdeutlich; wahr ist ferner, daß Ingeborg nicht zum erstenmal zu solchen Dingen schweigt  […]. Und noch schamloser ist es, über meinen einzigen Freund mit halben Schilderungen herzufallen und ihn dazu zu bringen, mir diesen – Deinen – Brief zu schreiben… (Celan et al. 2009, 286–287)

Schließlich wendet sich Bachmann in einem nicht abgesandten Brief während der letzten entscheidenden, durch die Blöcker-Affäre ausgelösten persönlichen Krise zwischen Celan und ihr an Celans Frau, der gegenüber sie als einziger das gesamte Ausmaß ihres Konflikts, in dem sie sich seit der Blöcker-Affäre in ihrer Beziehung zu Frisch und Celan befindet, offen ansprechen kann: „Ich weiß nicht, wie ich in einem solchen Zustand leben soll, zurückgestoßen, denn ich wußte nicht mehr, wie ich mich verhalten soll, ohne Max zu verraten und ohne Pauls Vertrauen zu verlieren“ (Bachmann und Celan 2008, 186–187). In einem später abgeschickten Brief bittet Bachmann Celan-Lestrange um Vermittlung bei Celan: „– aber ich habe, nach wie vor, mehr Vertrauen in Ihre Kraft und Ihre Gegenwart als in alle Worte, als in alle Briefe.“ [„–mais j’ai, après comme avant, plus ­confiance en Votre force et en Votre présence qu’en tous les mots, en toutes les lettres.“] (Bachmann und Celan 2008, 187–188) In diesem Zusammenhang formuliert die Autorin auch ihre Skepsis gegenüber dem geschriebenen Wort und insbesondere gegenüber der epistolaren Kommunikation, deren Problematik in ihrer Substitution eines mündlichen Gesprächs liegt, mit der sie das flüchtige gesprochene Wort in das Medium der dauerhaft gespeicherten und überlieferten, unverrückbaren Schrift überführt: „Ich fürchte Briefe mehr und mehr, weil sie uns unbeugsam ansehen, wenn man nur das lebendige Wort sucht – und sogar den lebendigen Widerspruch.“ [„Je crains de plus en plus les lettres parce qu’elles nous regardent inflexiblement, quand on ne cherche que la parole vivante – et même la contradiction vivante.“] (Bachmann und Celan 2008, 187–188) In der Krisensituation, in die die Beziehung zwischen Celan und ihr durch die BlöckerAffäre geraten war, setzt sie auf das gesprochene Wort, den mündlichen Dialog,

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wenn sie Celan ihre Telefonnummer mit der Hoffnung schickt: „LASS UNS DIE WORTE FINDEN“ (Bachmann und Celan 2008, 129). Diese Reflexion über Möglichkeiten und Grenzen mündlicher und schriftlicher Kommunikation, die sie hier aus der konkreten Konfliktsituation heraus entwickelt, wenn sie dem schriftlichen Dialog eine inhärente Tendenz zum Missverstehen und zu einer nicht mehr korrigierbaren Endgültigkeit bescheinigt, sollte sie später an verschiedenen Stellen zu einer allgemeinen theoretischen Schriftkritik ausarbeiten wie in ihrem Roman Malina (vgl. Weigel 1999; Schönborn 2015). Der Briefwechsel zeugt in Bezug auf die Blöcker-Rezension ebenso wie auf die sich anschließende Diskussion um die Goll-Affäre als zeitgeschichtliches Dokument von den fundamentalen Wahrnehmungsdifferenzen und Kommunikationsproblemen im Umgang mit der Shoah und deren Nachwirken in der Gegenwart. An dieser Problematik sollte nicht nur die Beziehung zwischen Bachmann und Celan, sondern auch ihr Briefverkehr und zuletzt Bachmanns Schreiben selbst scheitern nach ihrem Versuch, einen letzten, ihre Position unmissverständlich ohne Rücksichtnahme formulierenden Brief (vgl. Wiedemann 2014) zu schreiben. Dieser entscheidende, nicht abgesandte Brief, in dem Bachmanns innerer Widerspruch zwischen der Opfer- und Täterperspektive zum Ausdruck kommt und der das Ende der Beziehung bedeutet hätte, wird zum Auslöser ihrer fundamentalen über den privaten Briefwechsel hinausgehenden Schreibblockade, von der sie Celan berichtet: „– aber es ist seit langem schon wie eine Krankheit, ich kann nicht schreiben, bin schon versehrt, wenn ich das Datum hinsetze oder das Blatt in die Maschine ziehe.“ (Bachmann und Celan 2008, 157) Wie im Briefverkehr häufen sich in ihrem Werk fortan zahllose frühzeitig abgebrochene Neuansätze und deren autopoietische Reflexion (vgl. Schönborn 2015).

4 Bachmann – Celan-Lestrange 1957–1973 Während der kurze Briefwechsel zwischen Celan und Frisch sich auf Celans Hilfegesuch bezüglich der antisemitischen Blöcker-Kritik von Sprachgitter sowie den späteren Plagiatsvorwurf von Claire Goll beschränkt, führen Bachmann und Gisèle Lestrange zwischen 1957 und 1973 eine persönliche Korrespondenz, noch über Celans Tod hinaus. Gisèle Celan-Lestrange tritt 1957 in den Briefwechsel zu dem Zeitpunkt ein, als Bachmann und Celan ihre Beziehung nach einer längeren Unterbrechung bei einem Treffen in Wuppertal und Köln wieder aufgenommen hatten. Die Französin hat an dem in französischer Sprache geführten Briefwechsel den größeren Anteil. Bachmann schickt der neuen Briefpartnerin zunächst Rosen und ihre Gedichtbände mit Widmung, die in dem Briefwechsel an die

7.15 Der Briefwechsel I. Bachmann – P. Celan – M. Frisch – G. Celan-Lestrange 

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Stelle ihrer Person treten sollen. Celan-Lestrange fügt daher ihr Bild Bachmanns eher auf dem Hintergrund ihrer biographischen Lektüre der Gedichte als aus den wenigen brieflichen Mitteilungen Bachmanns oder den gemeinsamen Begegnungen zusammen. Grundsätzlich prägt den Briefwechsel bis zu seinem Ende das gemeinsame Interesse an Celan und die Sorge um seine Person. So entschuldigt Celan-Lestrange sich zu Beginn des Briefwechsels für ihre ablehnende Reaktion auf den Einbruch Bachmanns in ihre Ehe, bietet der Briefpartnerin ihre Freundschaft an, solidarisiert sich aufgrund des beiden gemeinsamen Leidens an der Entfernung und dem Verlust des Geliebten mit Bachmann und gesteht ihr sogar den bedeutenderen Part in der Beziehung zu. Später schreibt sich Gisèle Lestrange in ein Treffen zwischen Bachmann und Celan ein, indem sie die physische Begegnung zwischen den beiden im imaginären Raum der Schrift um eine dritte – ihre eigene – Person erweitert und so eine gemeinsame Gegenwart erzeugt, wenn sie gegen die Abwesenheit durch die räumliche Trennung die gemeinsame Zeit, die Gleichzeitigkeit des erlebten Augenblicks, setzt: „[M]ein größter Wunsch heute abend, in diesem Augenblick, in dem Sie mit Paul zusammen sind, ist, daß er Sie verstehen kann und daß Sie ihn verstehen können. Ich wünsche es Ihnen von ganzem Herzen.“ [„[M]on plus grand désir, ce soir, en ce moment où vous êtes avec Paul, est qu’il puisse vous comprendre et que vous puissiez le comprendre. Je vous le souhaite de tout mon cœur.“] (Bachmann und Celan 2008, 189–190) Die Briefschreiberin erweitert diese Dreiergemeinschaft am Ende um eine weitere Person, den Sohn Eric, und schließt mit der Bitte, als Freundin von Bachmann akzeptiert zu werden. 1960 bittet Celan-Lestrange Bachmann schließlich eindringlich um Unterstützung gegen die Plagiatsvorwürfe Claire Golls und informiert Bachmann am 10. Mai 1970 über Celans Tod in der Seine mit den Worten: „Er hat den namenlosesten und einsamsten Tod gewählt.“ [„Il a choisi la mort la plus anonyme et la plus solitaire.“] (Bachmann und Celan 2008, 197) Nach Celans Tod bleibt der Dichter weiterhin der Bezugspunkt und Gegenstand der Briefe seiner Witwe an Bachmann, die allerdings keine Antwort mehr finden. In ihrem letzten Brief berichtet sie Bachmann noch von dem Beginn der wissenschaftlichen CelanRezeption durch Beda Allemann im Jahr 1971.

5 Rezeption Für den Briefwechsel gibt es drei große Rezeptionsstränge: Der erste und dominante besteht aus seiner Lektüre als biographisches Zeugnis für die Liebesbeziehung zwischen Bachmann und Celan, die einmal als amour fou oder große

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romantische Liebe und Leidenschaft, ein anderes Mal als ménage à trois oder zeitweise auch quatre gedeutet wird (vgl. Witte 2012; Böttiger 2017). Diese enge biographische Deutung wird mit dem Versuch überschritten, diese auf das Werk hin auszuweiten, indem die Aufhebung der Trennung zwischen Briefwechsel und Werk, Person und literarischer Inszenierung, Autobiographie und Autofiktion, kurz zwischen Leben und Werk bei Bachmann in den Fokus der Betrachtung rückt (vgl. Höller 2011). Die zweite Lesart folgt dem Interesse an dem literarischen Dialog zwischen Bachmann und Celan und untersucht ihn auf den gemeinsamen Entstehungszusammenhang einzelner Texte beider Autoren und auf die intertextuellen Beziehungen im Werk vorwiegend Bachmanns zu Celan (vgl. Weigel 1999) oder den poetologischen Diskurs zwischen den beiden (vgl. Bormuth 2015) hin. Die dritte Lesart wertet den Briefwechsel als Dokument für die diametral entgegengesetzten Positionen der Briefpartner in Bezug auf die Nachgeschichte der Shoah und den Umgang mit den Nachkommen der Opfer wie der eigenen Schuld am Beispiel der Blöcker- und der Goll-Affäre aus, wie es Wiedemann mit ihrer großen Dokumentation zur Plagiatsaffäre unternommen hat (vgl. Wiedemann 2000). Alle diese Rezeptionsansätze reduzieren die Briefe allerdings mehr oder weniger auf ihre Funktion als biographische, werk- und zeitgeschichtliche Quelle. Als eigenständigen Beitrag zur Gattungsgeschichte und -poetik des Briefs oder gar als integraler Bestandteil des literarischen Werks, der auch Fragen zur Literarizität, Medialität und Materialität stellt, wird der Briefwechsel darüber hinaus unter jeweils verschiedenen Perspektivierungen und Fokussierungen gelesen, die exemplarisch in dem von Gernot Wimmer (2014) herausgegebenen Band versammelt sind (Maeding, Reimer, Stoll, Wiedemann u.v.  a.). Zuletzt hat der Briefwechsel Ruth Beckermann und Ina Hartwig zu einer filmischen Bearbeitung des Stoffs unter dem Titel Die Geträumten (2016) angeregt, die die Liebesbeziehung erneut ins Zentrum rückt, allerdings zugleich auch Distanz zu den historischen Personen herzustellen versucht, indem sie das Projekt auf einer Metaebene als „Kammerspiel“ (Die Geträumten, Booklet, 49) inszeniert und reflektiert: Der Film beobachtet zwei junge Schauspieler bei ihrer Arbeit, den Briefwechsel einzulesen, die von Reflexionen über Bachmann und Celan zwischen Distanzierung und Identifikation begleitet wird.

Zitierte Literatur Bachmann, Ingeborg (1995). „Todesarten“-Projekt. Kritische Ausgabe. Bd. 3.1 u. 3.2: Malina. Hg. v. Dirk Göttsche u. Monika Albrecht. München u. Zürich. Bachmann, Ingeborg u. Paul Celan (2008). Herzzeit. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle

7.15 Der Briefwechsel I. Bachmann – P. Celan – M. Frisch – G. Celan-Lestrange 

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Celan-Lestrange. Hg. u. komm. v. Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll u. Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. Celan, Paul u. Klaus und Nani Demus (2009). Briefwechsel. Mit einer Auswahl aus dem Briefwechsel zwischen Gisèle Celan-Lestrange und Klaus und Nani Demus. Hg. v. Joachim Seng. Frankfurt a. M. Cohen, Robert (2012). „Über Empfindlichkeiten: Der Briefwechsel zwischen Paul Celan und Max Frisch und ein Text von Elfriede Jelinek“, in: Max Frisch. Hg. v. Régine Battiston u. Margit Unser. Würzburg: 91–110. Die Geträumten. Reg. Ruth Beckermann (2016). 89 Min. (Spielfilm). Höller, Hans (2011). „Sigrid Weigels anti-biographische Biographie“, in: Eine kritische Lektüre. Mythos Bachmann. Zwischen Inszenierung und Selbstinszenierung. Hg. v. Wilhelm Hemecker u. Manfred Mittermayer. Wien: 37–53. Höller, Hans u. Andrea Stoll (2008). „Das Briefgeheimnis der Gedichte. Poetologisches Nachwort“, in: Ingeborg Bachmann u. Paul Celan. Herzzeit. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hg. u. komm. v. Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll u. Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M.: 224–243. Maeding, Linda (2014). „Gespräch und Schweigen. Zum Ort der Dichtung im Briefwechsel“, in: Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Historisch-poetische Korrelationen. Hg. v. Gernot Wimmer. Berlin u. Boston: 93–109. Radisch, Iris (2016). „‚Der letzte Kuß, vorgestern nacht‘. Sie hat sie gut versteckt, jetzt wurden sie zufällig gefunden: Zwei intime Briefe des Dichters Paul Celan an seine Geliebte Ingeborg Bachmann“, in: Die Zeit, 28.4.2016; http://www.zeit.de/2016/19/gruppe-47paul-celan-ingeborg-bachmann-briefe/seite-2 (7.4.2019). Reimer, Madlen (2014). „‚Laß uns die Worte finden‘. Die Korrespondenz als literarischer Text“, in: Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Historisch-poetische Korrelationen. Hg. v. Gernot Wimmer. Berlin u. Boston: 110–122. Stoll, Mareike (2014). „‚… und eine Schreibmaschine‘. Handgeschriebenes und MaschineGeschriebenes bei Ingeborg Bachmann und Paul Celan“, in: Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Historisch-poetische Korrelationen. Hg. v. Gernot Wimmer. Berlin u. Boston: 123–137. Weigel, Sigrid (1999). Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien. Wiedemann, Barbara (Hg.) (2000). Paul Celan – Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ‚Infamie‘. Frankfurt a. M. Wiedemann, Barbara u. Bertrand Badiou (2008). „‚Laß uns die Worte finden‘. Zum Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan“, in: Ingeborg Bachmann u. Paul Celan. Herzzeit. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hg. u. komm. v. dens., Hans Höller u. Andrea Stoll. Frankfurt a. M.: 215–223. Wiedemann, Barbara (2014). „‚du willst das Opfer sein‘. Bachmanns Blick auf Celan in ihrem nicht abgesandten Brief vom Herbst 1961“, in: Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Historisch-poetische Korrelationen. Hg. v. Gernot Wimmer. Berlin u. Boston: 42–70. Witte, Bernd (2012). „‚Ich liebe Dich und ich will Dich nicht lieben‘ – Ingeborg Bachmann und Paul Celan im Briefwechsel“, in: „Die Waffen nieder! Lay down your weapons!“ Ingeborg Bachmanns Schreiben gegen den Krieg. Hg. v. Karl Ivan Solibakke u. Karina von Tippelskirch. Würzburg: 85–95.

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Weiterführende Literatur Böttiger, Helmut (2017). Wir sagen uns Dunkles. Die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan. München. Bormuth, Matthias (2015). „‚… mit einer Handvoll Sand‘. Ingeborg Bachmann und Paul Celan“, in: „Um Abschied geht es ja nun.“ Exil und kein Ende. Hg. v. Hermann Haarmann u. Matthias Bormuth. Dresden: 165–192. Liska, Vivian (2009). „Zweierlei Fremde. Der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan“, in: Dies. Fremde Gemeinschaft. Deutsch-jüdische Literatur der Moderne. Göttingen: 223–231. Schönborn, Sibylle (2013). „‚Nous deux encore?‘ – Zu zwei Briefen von Ingeborg Bachmann und Paul Celan aus dem Herbst 1957“, in: Briefkultur. Texte und Interpretationen – Von Martin Luther bis Thomas Bernhard. Hg. v. Jörg Schuster u. Jochen Strobel. Berlin u. Boston: 351–362. Schönborn, Sibylle (2015). „Von der Unmöglichkeit, einen letzten Brief zu schreiben. Bachmanns Poetik des Aufschubs im Briefwechsel mit Paul Celan“, in: Letzte Briefe. Neue Perspektiven auf das Ende der Kommunikation. Hg. v. Arnd Beise u. Jochen Strobel. St. Ingbert: 235–249. Wiedemann, Barbara (2010). „,auch ich schreibe jetzt mit Durchschlag…‘ Reflektierte Materialität im Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan“, in: Der Brief – Ereignis & Objekt. Hg. v. Waltraud Wiethölter u. Anne Bohnenkamp. Frankfurt a. M.: 196–215. Wimmer, Gernot (Hg.) (2014). Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Historisch-poetische Korrelationen. Berlin u. Boston.

Raimund Fellinger

7.16 Siegfried Unseld und ‚seine‘ Autoren Im Nachwort zu einem Privatdruck von Briefen Peter Suhrkamps aus den Jahren 1945 bis 1959 an Autorinnen und Autoren betonte der Herausgeber Siegfried Unseld 1961, ihr Absender habe die Veröffentlichung weder bei der Niederschrift noch zu einem späteren Zeitpunkt beabsichtigt, rechtfertigte aber die Publikation damit, auf diese Weise werde „das Bild großen, verantwortlichen Verlegertums, das sich in ihnen bekundet, und das Stück deutscher Geschichte, das sich in ihnen spiegelt, der Öffentlichkeit zugänglich“ (Suhrkamp 1963 [1961], 168). Den Anlass der Edition bildete der 70. Geburtstag des 1959 verstorbenen Johann Heinrich („Peter“) Suhrkamp. Zum Adressatenkreis gehörten u.  a. Samuel Beckett, Bertolt Brecht, Max Frisch, T. S. Eliot, Hermann Hesse, Martin Walser und Peter Weiss. Suhrkamp hatte sie davon überzeugen können, in seinem 1950 begründeten Unternehmen zu publizieren, sich an einem Neuanfang zu beteiligen: 1933 von der S. Fischer Verlag AG als Herausgeber der Neuen Rundschau installiert, übernahm er 1937 als persönlich haftender Gesellschafter die Verlagsleitung einer Kommanditgesellschaft, die 1942 in „Suhrkamp Verlag vormals S. Fischer“ umbenannt werden musste, ein halbes Jahr später hatte der Zusatz zu entfallen. Suhrkamp erhielt 1945 eine Verlegerlizenz, konnte sich jedoch mit dem aus der Emigration zurückgekehrten Gottfried Bermann Fischer nicht auf ein Zusammenspannen einigen (vgl. Fischer und Wittmann 2015, 344; ­Nawrocka 2000, 34  ff.). Der darauf erfolgte Neustart der in Frankfurt residierenden (durch finanzielle Unterstützung von Hermann Hesse vermittelter Schweizer Gesellschafter), mit knappen Mitteln operierenden Suhrkamp & Co. KG machte nur ein schmales Programm mit dünner Personaldecke möglich: Sechs Mitarbeiter waren beschäftigt, der siebte sollte, im Januar 1952, Siegfried Unseld werden (er war ein Jahr zuvor über Hermann Hesse in Tübingen promoviert worden). Für ihn stand nach seiner Bestallung zum alleingeschäftsführenden Gesellschafter 1959 außer Frage: Eine Programmarbeit war im Konkurrenzkampf mit anderen Häusern auf dieser Basis nicht möglich. Er setzte also zu Beginn der 1960er Jahre eine Ausweitung der Aktivitäten in Gang – 1963 Erwerb des Insel Verlags, und damit die Hinwendung zu klassischer Literatur, die Akquisition fremd- wie deutschsprachiger Autorinnen und Autoren der Gegenwartsliteratur, die Gründung mehrerer Taschenbuchreihen, der edition suhrkamp, suhrkamp taschenbücher etc., die Suche nach dem vielzitierten ‚jungen Autor‘, dessen ganzes Werk man (im Prinzip) publizieren konnte, die Intensivierung der Übersetzungstätigkeit sowie die Ankurbelung der (geistes-)wissenschaftlichen Produktion. 2000, zwei Jahre vor seinem Tod, ergab die Bilanz: ca. 10.000 publizierte Titel, davon lieferbar: 6.500; Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: 136. https://doi.org/10.1515/9783110376531-126

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Die Leitung eines mittelständischen Unternehmens erforderte die Kooperation mit (literarischen wie geisteswissenschaftlichen) Ratgebern, die über ein belastungsfähiges Beziehungsnetz verfügten: Um 1960 installierte Unseld einen ‚erweiterten Lektoratsflügel‘ in belletristischen Angelegenheiten: Max Frisch, Uwe Johnson, Martin Walser, Peter Weiss (sowie mit wechselndem Status: Hans Magnus Enzensberger). Mitte der 1960er Jahre schweißte er ein heterogenes Philosophengremium zusammen: Hans Blumenberg, Jürgen Habermas, Dieter Henrich, Jacob Taubes, später Niklas Luhmann. (Der Briefwechsel mit den wissenschaftlichen Autoren expliziert ein Unterlegenheitsgefühl aufseiten des Verlegers: Beanspruchte er für sich eine Kompetenz bei literarischen Urteilen, verließ er sich im wissenschaftlichen Programmbereich auf die Berater und Lektoren. Vollständige Editionen der Korrespondenz zwischen ihm und einem seiner wissenschaftlichen Autoren fehlen bislang; einige seiner Briefe, personenbezogen oder themenspezifisch druckt, im Anmerkungsapparat, Blumenberg 2013). Die auf diese Weise herausgehobenen Autoren waren die hauptsächlichen Adressaten von Verlagspost seitens Siegfried Unselds. Deren unterschiedliche Temperamente, Schreibstile und politisch-sozialen Haltungen verstärkten die aus seiner ersten Briefedition von 1961 datierende Einsicht: Die gesamte Korrespondenz ist stets einer mehrstufigen, zeitlich-räumlich ausgedehnten Rezeption ausgesetzt. Am Beginn unterliegt sie dem Kontrollblick ihres Verfassers. Den immensen Anstieg der Briefverpflichtungen versuchte Unseld  – neben dem mündlichen Diktat in den Stenographieblock der Sekretärin  – durch den Rückgriff auf das Diktiergerät zu bewältigen, die Grundig Stenorette, zu deren Grundausstattung über die Jahrzehnte gehörten: kleinformatige Kassetten mit einer gewissen Laufzeit, ein Handmikrofon mit Start-Stop-Schalter sowie ein eingebauter Abhörlautsprecher. Briefentwürfe sind auch dann nicht überliefert, wenn die handschriftlichen Eingriffe in die erste Fassung eine neue Abschrift erforderten. (Probleme bei der Textkonstitution entstehen bei Editionen damit nicht.) Korrekturen beruhten zum Teil auf dem kontrollierenden Lesen des Verfassers, zum Teil auf Ratschlägen der Verlagsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter (Lektoren, kaufmännischen Direktoren, Justiziaren, Assistentinnen), die Konzepte entwarfen, welche, in toto oder auf einzelne Formulierungen begrenzt, Aufnahme fanden. Die seltenen handschriftlichen Briefe verliehen dem Anlass eine Aura – etwa dem Brief an Theodor W. Adorno vom 8. April 1959 (vgl. Adorno 2003, 312), in dem er erklärt, er habe über dessen Rede zum Tod Suhrkamps wegen der Verantwortung, die er nun zu übernehmen habe, geweint. Bei Post- wie Ansichtskarten war die Handschrift unumgänglich. Beim Autor trifft die Korrespondenz auf den Blick des erfahrenen Briefschreibers. Einige Autoren betreiben ein literarisches Antwortspiel; Unseld stimmt

7.16 Siegfried Unseld und ‚seine‘ Autoren 

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sie dann zum direkten, unmittelbare Verständlichkeit einfordernden Ton herab (vgl. Johnson 1999, 97). Andere glauben, in den Briefen Unselds dominiere die Strategie der Demonstration ‚verantwortlichen Verlegertums‘: Aus einer Antwort (vom 20. Januar 1994) auf einen (nicht überlieferten) Brief Peter Handkes ist zu schließen, dass der Autor ihm dies vorhielt: „Ich verstehe nicht, warum meine Briefe an eine Nachwelt oder an ein Archiv gerichtet sein sollen. Bei der Vielzahl von Briefen, die ich tagtäglich diktiere, versuche ich mich konsequent, als Schreibhilfe, in den einzelnen Empfänger hineinzudenken, daß mir dies bei Dir mißlungen ist, bedauere ich natürlich sehr.“ (Handke 2012, 621) Unselds Briefe zeichnen sich durch einen auf das Kernanliegen reduzierten Stil aus, Geschäftskorrespondenz, die nach einem relativ stabilen Muster abläuft: die Annahme eines Manuskripts (bei einem Erstling die Begrüßung als neuen Autor des Verlags, vgl. Handke 2012, 9), verbunden mit Umarbeitungsvorschlägen oder dessen Ablehnung – Drängen auf die Einhaltung der vereinbarten Abgabetermine für das neue Projekt (vgl. Frisch und Johnson 1999, 24: „Ich arbeite jeden Tag von 7 oder 8 Uhr bis 13 (oder länger) in spite of Mister Unseld, der in jedem Brief schreibt: Arbeitet Max denn auch?“)  – Verständigung auf einen Erscheinungstermin des Buches – Fixierung der Vertragskonditionen – Vorstellung von Umschlag und Umschlagtexten – Zusendung des ersten gedruckten Exemplars (samt Angabe zur Erstauflage und zum Ladenpreis). Von Unselds Briefwechseln mit Autoren wurden komplett veröffentlicht die mit Adorno (2003), Bernhard (2009), Handke (2012) sowie Hildesheimer (2017), Johnson (1999), Koeppen (2006), Weiss (2007). Auf die Verleger-Korrespondenz (in Auswahl) beschränkt: Briefe an die Autoren (vgl. Unseld 2004). Zum professionellen Teil des Geschäfts von Verlegerinnen und Verlegern gehört es, keinen Brief eines Autoren bzw. einer Autorin unbeantwortet zu lassen, beim Ausbleiben von Reaktionen der Gegenpartei nachzuhaken und die nicht seltenen Vorwürfe, die sich an jedem Aspekt und beim geringsten Anlass entzünden können, auszuhalten sowie brieflich zu ihnen Stellung zu nehmen. Bei diesen Hagelgewittervorwürfen überwiegt bei Unseld die passiv-defensive Haltung – wie sich bei Handkes vorübergehender Aufkündigung der Zusammenarbeit 1981 zeigt: Ich muss – das ist meine Pflicht vor meiner Freude, das dauernde Schöne zu schaffen, und gegen das säuische, verkrebste Zeitalter, in dem ich das vorhabe – endlich auftreten, als der, der ich bin, als der Schriftsteller in jedem Sinn, auch was die Fürsorge für das schon Geschriebene, das Weitergeben, das Verbreiten betrifft. Unsere Wege trennen sich hiermit, unwiderruflich. […] meine künftigen Arbeiten, sofern es solche noch geben wird, werden nicht mehr im Suhrkamp Verlag erscheinen. (Handke 2012, 432)

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Unseld versucht erst gar nicht in seiner prompten Antwort (2. März 1981) auf den vom 25. Februar datierenden Brief, Handke umzustimmen: Ich kann mir Deine Haltung erklärbar machen, aber verstehe auch die meine, wenn ich das, was Du schreibst, aus meiner Sicht für einen grausamen Irrtum halte. Aus zwei Gründen möchte ich Dir doch einen Vorschlag unterbreiten. […] Wie Du mir sagtest, ergibt sich bei Deinen eigenen Arbeiten nun eine Pause. Sollten wir sie nicht als Denkpause nutzen und danach miteinander reden, ob wir noch zusammenbleiben oder ob wir uns doch trennen müssen […]. (Handke 2012, 433–434)

Bernhard schreitet zur unverblümten finanziellen Erpressung: Was die ‚Korrektur‘ [den Roman] betrifft, so treffe ich jetzt keine Entscheidung. Es ist richtig, dass ich sozusagen bestimmt habe, dass das Buch also jetzt erscheint, aber ich empfinde es jetzt nicht richtig, dass es erscheint. Zuerst will ich die Überweisung aus der Schweiz abwarten und dann vierzehn Tage das Inland mit dem Ausland wechseln und in der Zwischenzeit wird es sich zeigen, was geschieht. (Bernhard 2009, 431)

In Finanzdingen ist Unseld zunächst nicht ganz so entgegenkommend. Ich möchte Sie auch noch einmal an unsere finanziellen Vereinbarungen erinnern. Diese Vereinbarungen sehen vor, daß dem Verlag zur Endabrechnung die Erlöse aus der ‚Korrektur‘ zur Verfügung stehen müssen. Wenn ‚Korrektur‘ 1974 nicht erscheint, hängt unsere ganze finanzielle Vereinbarung in der Luft. Und wir kommen nicht zu jenem Schlußstrich, den wir uns doch beide wirklich vorgenommen haben. (Bernhard 2009, 433)

Am Ende der Verhandlungen in Gelddingen gibt Unseld auf, er weiß, der Autor bzw. die Autorin sitzt am längeren Hebel (wie viele Autoren in seinem Beziehungsgeflecht), verzichtet resigniert auf jeden Widerstand: „[…] auch ein Verleger ist ein Mensch. Auch er braucht seine Streicheleinheiten. Wenn er nur geprügelt, wie ein Hund geprügelt wird, dann kann er ja nur noch hündisch werden. Ich schickte Ihnen ein Telegramm mit zwei Daten für ein Treffen. Ich hoffe, eines paßt Ihnen. Zu diesem Treffen brächte ich dann das dritte Darlehens-Viertel mit.“ (Bernhard 2009, 477) Anhand der dreibändigen Edition des Briefwechsels zwischen Johann Friedrich von Cotta und Johann Wolfgang Goethe erläutert Unseld die Gründe der bei ihm dominierenden asymmetrischen Kommunikationsverhältnisse: „Aber auch der versierteste Verleger kann die Wünsche eines Autors auf Dauer zu beider Nutzen nur erfüllen, wenn er […] ihre vielleicht anstößigen Innovationen, Idiosynkrasien, Empfindlichkeiten, Urteile und Vorurteile wenn nicht billigt, so doch verstehen und verantworten kann.“ (Unseld 1991, 381) Dafür erwartet er auf der Seite der Autoren Loyalität: gegenüber dem Verlag(sprogramm), dem Verleger, anderen Verlagsautorinnen und -autoren.

7.16 Siegfried Unseld und ‚seine‘ Autoren 

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Unseld spricht Briefen die Fähigkeit zu, die für die Verlegerbeziehung entscheidenden Angelegenheiten zu regeln: Gegenüber Bernhard, für den sich in der Korrespondenz „seit Jahrtausenden die Missverständnisse“ kreuzen, besteht er auf der Gültigkeit des Geschriebenen, selbst wenn die „Wortfixierung manchmal Schwierigkeiten“ bereite (Bernhard 2009, 112 u. 114). Um Zerwürfnisse zu verhindern, verfolgt Unseld eine Strategie der Befreundung: Das zeigt der Gebrauch des ‚Du‘ an, der auf eine langandauernde Beziehung verweisen soll, die durch partielle Konflikte nicht in Gefahr geraten darf – ein brieflicher Umgangsmodus, den Unseld bei allen ihm wichtigen Verlagsautorinnen und -autoren erfolgreich angewendet hat, nur bei Thomas Bernhard scheiterte er damit. Trotz freundschaftlicher Beziehungen entfallen – im Wissen der beteiligten Parteien um die späteren Mitleserinnen und -leser und in Übereinstimmung mit der zu Unselds Lebzeiten geltenden strikten Trennung von Privatem und (Halb-)Öffentlichem – Angaben zum verborgenen Teil des Innenlebens. Das belegt auch die Tatsache, wonach keiner der Partner (zumindest was die veröffentlichten Gesamtkorrespondenzen anlangt) den anderen aufgefordert hat, einige oder alle Briefe zu vernichten. Das ändert nichts an ihrem Charakter als Geschäftsbriefen; dies belegt auch eine Untersuchung der Korrespondenz von Carl Zuckmayer und Gottfried Bermann Fischer (Buchinger 2006). Eine weitere Überdeterminierung erlangten die Briefe an ‚seine‘ Autoren, über das spezielle Thema hinaus, im Kontext des Kampfes um die (zeitgenössische und historische) Deutung des Geschehens: Nachdem Unseld während des Lektorenaufstands im Jahr 1968 eingesehen hatte, dass die Dokumentation des Geschehenen in seiner Perspektive unumgänglich war, führte er seit 1970 eine Verlags-„Chronik“, in der er auf eigene Briefe verweist (vgl. Unseld 2010, 2014) sowie auf Reiseberichte, in denen er, seit den 1950er Jahren, die Verlagsöffentlichkeit mit aus seiner Sicht relevanten Ereignissen und Resultaten aushäusiger Besprechungen (zwischen Tokyo und Berlin) versorgte. Die mögliche Interpretation des Geschehens durch spätere Generationen soll durch ihre Formulierung nicht nur vorweggenommen, sondern in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Darauf meint Unseld explizit Bernhard hinweisen zu sollen: „[Ich] stelle mir vor, was künftige Adepten des Studiums von Literatur- und Verlagsgeschichte bei der Lektüre unseres Briefwechsels sagen werden“ (Bernhard 2009, 83). Eine Brieflektüre in verlagshistorischer Perspektive verlangt, das intendierte Verständnis zu eruieren und dessen Stimmigkeit in diesem verlagsinternen Zusammenhang zu bestimmen. Editionen und Studien der Briefwechsel werden dadurch erleichtert, dass Unseld im Gefolge der beabsichtigten Meinungslenkung eine penible Aktenablage verlangte, in der Durchschläge der eigenen Briefe und Original oder Kopie des Antwortbriefs zusammen abgeheftet wurden. Die Bestände befinden sich im Siegfried Unseld Archiv des Deutschen Literaturarchivs

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Marbach, eine fundierte Schätzung der Anzahl ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Unter dem Gesichtspunkt der Briefwechseln im Allgemeinen unterstellten Dialogizität, dem häufig bemühten Briefgespräch, exemplifizieren die Unseld’schen Briefe eine zu den Diagnosen des Untergangs der Briefkultur diametral entgegengesetzte Tendenz. Der herrschende Kulturpessimismus beklagt im 20. Jahrhundert den unaufhaltsamen Untergang dieser Kulturtechnik, auch als Resultat des Auftauchens neuer technischer Möglichkeiten. „Briefeditionen von Autoren werden dürftiger, je länger das 20.  Jahrhundert währt. Das Telegramm verschließt das Herz in der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen […]. Das Telephon schließlich macht die ganze Welt zu einem großen Dorf, dessen Einwohner sich immer nahe genug sind, um mündlich miteinander zu reden.“ (Schlaffer 1996, 45) Unselds briefstellerische Aktivitäten setzten bei ihren Gegenübern eine ebenso umfangreiche Betriebsamkeit in Gang. Und dass sich die Lage im Zeitalter von Skype und E-Mail, wenn die Produktionsbedingungen – die Kommunikation über literarische Texte – gegeben sind, fundamental ändern wird, ist zu bezweifeln.

Zitierte Literatur Adorno, Theodor W. (2003). „So müßte ich ein Engel und kein Autor sein“. Adorno und seine Frankfurter Verleger. Der Briefwechsel mit Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld. Hg. v. Wolfgang Schopf. Frankfurt a. M. Bernhard, Thomas u. Siegfried Unseld (2009). Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger, Martin Huber u. Julia Ketterer. Frankfurt a. M. Blumenberg, Hans u. Jacob Taubes (2013). Briefwechsel 1961–1981. Hg. v. Herbert KoppOberstebrink u. Martin Treml. Berlin. Buchinger, Susanne (2006). „‚Diese merkwürdige Verbindung von Freund und Geschäftsmann …‘. Anmerkungen zu Carl Zuckmayers Briefwechsel mit seinem Verleger Gottfried Bermann Fischer 1935–1977“, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 60, 275–281. Cotta, Johann Friedrich (1979–1983). Goethe und Cotta. Briefwechsel 1797–1832. 3 Bde. Hg. v. Dorothea Kuhn. Stuttgart. Frisch, Max u. Uwe Johnson (1999). Der Briefwechsel 1964–1983. Hg. v. Eberhard Fahlke. Frankfurt a. M. Fischer, Ernst u. Reinhard Wittmann (Hg.) (2015). Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 3: Drittes Reich. Teil 1. Berlin. Handke, Peter u. Siegfried Unseld (2012). Der Briefwechsel. Hg. v. Raimund Fellinger u. Katharina Pektor. Berlin. Hildesheimer, Wolfgang (2017). „Siegfried Unseld, Karlheinz Braun“, in: „Alles andere steht in meinem Roman“ – Zwölf Briefwechsel. Hg. v. Stephan Braese gemeinsam mit Olga Blank u. Thomas Wild. Berlin: 221–327. Johnson, Uwe u. Siegfried Unseld (1999). Der Briefwechsel. Hg. v. Eberhard Fahlke u. Raimund Fellinger. Frankfurt a. M.

7.16 Siegfried Unseld und ‚seine‘ Autoren 

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Koeppen, Wolfgang u. Siegfried Unseld (2006). „Ich bitte um ein Wort“. Der Briefwechsel. Hg. v. Alfred Estermann u. Wolfgang Schopf. Frankfurt a. M. Nawrocka, Irene (2000). Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam. Der BermannFischer-Verlag im Exil (1933–1950). Ein Abschnitt aus der Geschichte des S. Fischer Verlages. Frankfurt a. M. Schlaffer, Hannelore (1996). „Glück und Ende des privaten Briefes“, in: Der Brief. Eine Kultur­ geschichte der schriftlichen Kommunikation. Hg. v. Klaus Beyrer u. Hans-Christian Täubrich. Frankfurt a. M.: 34–45. Suhrkamp, Peter (1963 [1961]). Briefe an die Autoren. Hg. v. Siegfried Unseld. Frankfurt a. M. Unseld, Siegfried (1991). Goethe und seine Verleger. Frankfurt a. M. u. Leipzig. Unseld, Siegfried (2004). Briefe an die Autoren. Hg. v. Rainer Weiss. Frankfurt a. M. Unseld, Siegfried (2010). Chronik 1970. Mit den Chroniken Buchmesse 1967, Buchmesse 1968 und der Chronik eines Konflikts 1968. Hg. v. Ulrike Anders u.  a. Berlin. Unseld, Siegfried (2014). Chronik 1971. Hg. v. Ulrike Anders, Raimund Fellinger u. Katharina Karduck. Berlin. Weiss, Peter u. Siegfried Unseld (2007). Der Briefwechsel. Hg. v. Rainer Gerlach. Frankfurt a. M.

Weiterführende Literatur Amslinger, Tobias et al. (2015). „Mythos und Magazin. Das Siegfried Unseld Archiv als literaturwissenschaftlicher Forschungsgegenstand“, in: Literatur – Verlag – Archiv. Hg. v. Irmgard M. Wirtz, Ulrich Weber u. Magnus Wieland. Göttingen: 183–213. Fellinger, Raimund u. Matthias Reiner (Hg.) (2014). Siegfried Unseld. Sein Leben in Bildern und Texten. Berlin. Fischer, Ernst (2006). „‚… diese merkwürdige Verbindung als Freund und Geschäftsmann‘: Zur Mikrosoziologie und Mikroökonomie der Autor-Verleger-Beziehung im Spiegel der Briefwechsel“, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 15, 245–286. Schmitt, Kerstin (2013). Peter Weiss und sein Verleger Siegfried Unseld: Eine Untersuchung der Autor- und Verleger-Beziehung anhand ihrer brieflichen Korrespondenz. München. Sorg, Bernhard (42016). „Der Berechnende und der Geduldige. Ein Schriftsteller und sein Verleger“, in: text+kritik, 43: 41–51. Rittler, Jasmin (2016). Das Briefwerk Uwe Johnsons. Frankfurt a. M. Unseld, Siegfried (2003). „Ins Gelingen verliebt sein und in die Mittel des Gelingens“. Siegfried Unseld zum Gedenken. Frankfurt a. M. Unseld, Siegfried (2020). Reiseberichte. Hg. v. Raimund Fellinger. Berlin.

Rosa von der Schulenburg

7.17 Mail Art

Dieser Beitrag nimmt das Phänomen Mail Art von den 1960er Jahren bis heute in den Blick. Im Kontext von Fluxus und Concept Art in den USA und in Westeuropa entstanden, erfuhr dieses ästhetische, potentiell subversiv kritische Mittel grenzüberschreitender Kommunikation seine stärkste internationale Ausweitung und Intensivierung in den 1980er Jahren, und zwar vor allem in den repressiven Ländern des damaligen Ostblocks und in den von Militärdiktaturen beherrschten Staaten Südamerikas. Beispielhaft werden im Folgenden die Mail-Art-Szene der DDR und einiger lateinamerikanischer Länder mit ihren wichtigsten Protagonist*innen vorgestellt. Auch wenn die Hochzeit der Mail Art in den heutigen vom Internet geprägten Zeiten längst vorbei ist, sind viele Mail-Artist*innen der ersten Generation noch weiterhin analog kommunizierend aktiv. Darüber hinaus ist die Mail-Art-Szene durchweg digital vernetzt und erregt mit ihren einschlägigen DokuWebsites und den dort sowie in sozialen Netzwerken annoncierten Mail-Art-Aktionen auch das Interesse einer jungen an Kunst und Kommunikation interessierten Generation (vgl. Mail Artists Index; zu den Anfängen der Mail Art vgl. Welch 1995).

1 Netzwerk und Aktion Im Unterschied zu den Bilderbriefen und Künstlerpostkarten, welche normalerweise an eine einzige Adresse gerichtet sind, ist Mail Art eine besondere Form der ästhetischen Mitteilung über den Postweg. Mail Art richtet sich an ein (variables) Kollektiv von Teilnehmenden und gehorcht – in ihrer ‚klassischen‘ Form – den verbindlichen Regeln einer analog verbundenen Netzgemeinschaft (vgl. Röder 2008). Das Netzwerk, das durch initiierende Kunstsendungen einzelner an viele Adressat*innen entsteht und via Interaktionen seiner Teilnehmer*innen sich verzweigt, ist eines der wesentlichen Merkmale, das das Phänomen Mail Art von den üblichen Künstlerpostsendungen für einen Empfänger bzw. eine Empfängerin oder dem wechselseitigen postalischen Austausch visueller Botschaften zwischen zwei Künstler*innen unterscheidet. Mail Art basiert weder auf dem dialogischen Prinzip noch versammelt sie die Partizipierenden zu einer Diskussionsrunde. Die ausgetauschten Wort-Bild-Botschaften sind das Bindemittel, das die Korrespondent*innen zu einer Projekt-, Aktions- und Solidargemeinschaft zusammenfügt. Die Vernetzung per Kunst-Post ist nicht zuletzt ein Statement des Gemeinschaftlichen, ohne Hierarchien und Gruppenzwang. Das Medium ist dabei wesentlicher Teil der Botschaft. Jede*r kann am Austausch teilnehmen und teilhaben, als https://doi.org/10.1515/9783110376531-127

7.17 Mail Art 

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Urheber*in, Vermittler*in und Empfänger*in von Mail Art. „No jury – no fee – no return“ lauten die schlichten Grundregeln der Mail-Art-Szene für die für sie typischen Mail-Art-Aktionen. Ein*e oder mehrere Initiator*innen fordern zu einer Aktion auf oder machen eine thematische Vorgabe für ein Projekt, auf die die per Post Angesprochenen mit entsprechenden Rücksendungen oder Weiterleitungen reagieren (vgl. z.  B. das Mail-Art-Projekt „Akademie/Academy“). Durch Mail-Art-Projekte und -Aktionen treten Künstler*innen und solche Menschen in Kontakt, die sich nicht als Künstler*innen verstehen, aber gern zeichnen, collagieren oder anderweitig in dem medialen Rahmen der Postsendung Kreativität entwickeln und die Mail-Art-Gaben anderer wertschätzen – ob als Kunst oder als ein Geschenk und Zeichen von Freundschaft. Mail Art erfüllt auf der einen Seite das Bedürfnis nach freundschaftlichen Kontakten und nach Bildung von selbstgewählten Solidargemeinschaften mit künstlerisch und politisch Gleichgesinnten und ist auf der anderen Seite Ausdruck des Verlangens nach mentaler und sinnlich-ästhetischer Horizonterweiterung, nach einem Aufbruch zu anderen Ufern, einem Knüpfen von Verbindungen über Grenzen hinweg. Ähnlich wie das textbasierte Bildphänomen Graffiti, das im öffentlichen Raum Grenzen überschreitet und zugleich einem internen Kodex verpflichtet ist, bewahrt Mail Art seit Jahrzehnten ein anscheinend orts- und zeitunabhängig verbindliches, nur innerhalb seiner Struktur variables Gepräge und hat als spezielles Text-Bild-Genre der Postmoderne eine eigene Tradition herausgebildet. Im weniger strengen Sinne kann Mail Art auch die Äußerung Einzelner sein, die an eine Person oder einen kleinen Kreis von Adressat*innen gerichtet ist, ohne Aufforderung zu einem Feedback. Dies ist jedoch eher die Ausnahme (vgl. Schulenburg 2013, 36; Kuolt und Stratmann 2000).

2 Gestalt, Ausdrucksformen und Mittel der Mail Art – und deren Grenzen Mail Art artikuliert sich graphisch, malerisch, schriftlich oder mittels Stempelaufdruck, Collage und Materialmontage auf Postkarten, Briefumschlägen, Plakatrollen, Päckchen und Paketen oder verborgen in konventioneller Brief- und Paketpost. Zu den außen sichtbar oder geschützt im Inneren einer Postsendung sich sprachlich und visuell artikulierenden künstlerischen Ausdrucksformen und poetisch-ästhetischen Strategien der Mail Art zählen gestempelte Slogans und Piktogramme, ironische Wort- und Bildzitate, Metaphern auf Wort- und Bildebene, Anagramme und Aphorismen, visuelle respektive konkrete Poeme, gegen-

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ständliche oder abstrakte visuelle Gestaltungen (von der einfachen Skizze bis zur opulenten Malerei), traditionelle und experimentelle Fotoarbeiten. Hinzu kommen selbst entworfene (Brief-)Marken, außen aufgeklebt oder in ganzen Markenbögen per Brief versandt, und nicht zuletzt Ready-mades und Collagen bzw. Assemblagen aus Alltagsgegenständen und einfachen Materialien, für den Versand verpackt (oder auch nicht). Es gibt beispielsweise Reiseschreibmaschinen mit entsprechender Frankierung und Adressaufkleber oder Kronkorken und Streichholzbriefchen mit Adresse auf der einen und Briefmarke auf der anderen Seite, die die Post anstandslos beförderte, jedoch auch einfach gestaltete, (bild-) rhetorisch aber anspruchsvoll formulierte Kunstbotschaften auf Karten und Briefen, die als verdächtig dem Postverkehr entzogen wurden und nicht nur ihr Ziel nicht erreichten, sondern ihren Adressat*innen zum Nachteil gereichten.

Abb. 1: Kunst ist, wenn sie trotzdem entsteht, 1990. Mail-Art-Karte, sign. u.r.: R. Rehfeldt, Zink-Offset, Stempel-Collage, Format: A6. Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv. Nr.: KS-Deisler 1751 © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Um expediert zu werden, müssen ungewöhnlich aussehende Sendungen, die zumeist nicht maschinell les- und entwertbar sind, zumindest ausreichend frankiert sein und dürfen zudem nicht eklatant gegen die Sicherheitsvorschriften (Verletzungsgefahr) der Post verstoßen. Scheint der Toleranzspielraum der Post

7.17 Mail Art 

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in demokratischen Ländern, auch bei unkonventioneller Gestaltung und Form, von den Post-Sortierenden und -Befördernden durchweg recht großzügig bemessen zu sein, so riskieren Versender*innen in anderen Ländern, mit origineller Gestaltung und sichtbaren nonkonformen Texten die Aufmerksamkeit der dortigen Staatssicherheit zu erregen. Bei Verdacht von Subversion können die Formen der Reaktion von stillschweigender Nichtbeförderung, inoffizieller Registrierung (Kopieren der Sendung, Aktenvermerk) bis zu Verhaftungen der Absender*innen reichen (vgl. Schulenburg 2013, 52–56 u. 62–68). Um unbehelligt zu bleiben, wurde (und wird) Mail Art deswegen auch in unauffälligen, konventionellen Umschlägen, Päckchen und Paketen versandt. Quasi undercover verschickt werden graphische Arbeiten in den gebräuchlichen Techniken (Holz- und Linolschnitt, Radierung, Lithographie, Siebdruck, Offsetdruck usw.), Fotografien aus der eigenen Dunkelkammer, Fotomontagen, Fotokopien sowie Material-Collagen und -Assemblagen. Hinzu kommen als Beilagen Aktionsdokumente, Ausstellungsplakate, Einladungskarten, Adresslisten und Magazine. Eine besondere, nur für die Mail Art typische Ausdrucksform ist das sogenannte Assembling. Assemblings sind Künstler-Editionen, die durch die Teilnahme-Aufforderung eines Initiators oder einer Initiatorin an eine größere Zahl von Adressat*innen entstehen. Der Anzahl der Angeschriebenen entsprechend werden diese um Rücksendung von Beiträgen zu einem bestimmten Thema in genau dieser Stückzahl gebeten. Dies können vervielfältigte Texte und Bilder sein oder Originale, die das Thema variieren, sowie multimediale Mixturen. Im Gegenzug erhalten alle Teilnehmenden vom Initiator jeweils eine gebundene oder zu einer Mappe zusammengestellte Edition mit je einem Blatt oder Objekt von jedem per Post zurück. Die Rücksendung, meist mit beigelegter Adressliste der Beteiligten, ist Ausdruck des Danks und dokumentiert zugleich die Teilnahme. Eine andere Variante ist, dass um Zusendung von originalen Einzelbeiträgen für eine Ausstellung gebeten wird. Neben der Einladung zur Gruppenausstellung erhalten die Teilnehmenden dann ein hektographiertes Katalogheft mit Reproduktionen aller Einsendungen, das entweder vor Ort ausgehändigt oder zugeschickt wird. Zu den Grundregeln „no jury – no fee – no return“ gesellt sich im Falle einer Assembling-Aktion eine vierte Regel: „documentation to all participants“.

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3 Die Anfänge der Mail Art im Kontext ­künstlerischer Postmoderne Den Begriff Mail Art prägte 1971 der französische Kunstwissenschaftler Jean-Marc Poinsot. Als Kurator einer gleichnamigen Sektion der VII. Biennale de Paris rief er Künstlerinnen und Künstler auf, ihm Beiträge per Post hierfür frei zur Verfügung zu stellen (vgl. Poinsot 1971; zur Wortgeschichte vgl. Dittert 2010, 86–89). Als Vater des Phänomens gilt freilich der Künstler Ray Johnson, der bereits in den späten 1950er Jahren dazu aufforderte, seine jeweilige postalische Zusendung zu ergänzen und weiterzuschicken. Unter dem orthographisch bewusst inkorrekten Label New York Correspondance School schuf er 1962 mit seinen Kettenbrief-Initiativen (vgl. die Website des Ray Johnson Estate; Ahrens und Clauß 2012, 66–91) ein künstlerisches Aktionsnetzwerk per Post, das mit der Fluxus-Bewegung sowie mit Neodada und Concept Art Schnittmengen hatte oder zumindest Parallelen im künstlerischen Wollen und Agieren aufwies. Ihnen gemeinsam sind die Wertschätzung kollektiver Kreativität sowie die Abkehr von der Vorstellung des Originalgenies und des traditionellen Werkbegriffs. Damit einher geht eine kritische bis ablehnende Haltung gegenüber den Kunst-Institutionen und -Mechanismen (Museum, Galerie, Kunstmarkt) sowie darüber hinaus gegen konventionelle Beschränkung und hierarchische Systeme. Von besonderer ästhetischer Bedeutung sind u.  a. die Verbindung von Text, Schriftlichkeit sowie rhetorischen Mitteln mit dem Bildlichen sowie die Verwendung sogenannter armer bzw. ephemerer Materialien respektive von Alltagsobjekten. In der sich in den 1960er Jahren im Westen Europas und in Nordamerika formierenden Fluxus-Bewegung avancierten Postsendungen zu einem wesentlichen künstlerischen Vehikel und inhärenten Teil des Konzepts Fluxus. Zu den maßgeblichen Protagonisten, die ihre Ideen per flux-post austauschten oder zu gemeinsamen Veranstaltungen einluden, zählten, neben Ray Johnson, etwa Dick Higgins, Robert Filliou, Ben Vautier und Joseph Beuys.

4 Mail Art in der DDR Eine noch weitreichendere Bedeutung als im US-amerikanischen und westeuropäischen Kunstkontext erlangte die Mail Art in der zweiten Hälfte der 1970er und in den 1980er Jahren in der DDR und in den osteuropäischen Staaten. Sie bewährte sich als ein trotz staatlicher Überwachung, Schikane und Verfolgung probates Vehikel grenzüberschreitender, freier Kunst- und Meinungsäußerung. Zentrale Themen der engagierten, durchweg politisch links stehenden, aber

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nicht auf Parteilinie festgelegten Akteur*innen waren in jenen Zeiten des Kalten Krieges die Kriegsgefahr und Aufrüstung sowie gesellschaftspolitische Probleme im Innern wie Umweltverschmutzung und Stadtentwicklung, staatliche Unterdrückung und Zensur. Als Vater der Mail Art in der DDR gilt der Berliner Künstler Robert Rehfeldt (vgl. Wohlrab 2009). Rehfeldt war als gelernter Graphiker in vielen Drucktechniken versiert und mit den Restriktionen des politischen Systems vertraut. Er verstand es, seine phantasievollen und pointensicheren kritischen Wort- und Bildkommentare international zu verbreiten und andere zu inspirieren, ebenfalls die engen Staatsgrenzen geistreich und gewitzt per Post zu überwinden. Weitere Protagonisten der DDR-Mail-Art-Szenen waren, neben Ruth Wolf-Rehfeldt (die ihre konkrete Poesie, durch ihren Mann motiviert, auch per Post versandte), u.  a. Joseph W. Huber und Karla Sachse, Friedrich Winnes, Oskar Manigk und Lutz Wohlrab, die chilenischen Emigranten Guillermo Deisler und Česar Olhagaray. Etliche von ihnen wurden wegen ihrer gesellschaftskritischen, mit der offiziellen Doktrin oft nicht konformen Kommentare per Mail Art (etwa Sympathiebekundungen für die Solidarność-Bewegung) als mögliche Staatsfeinde observiert und schikaniert (vgl. Kallinich und Pasquale 2002), wie Martina und Steffen Giersch, Birger Jesch, Joachim Stange und Rolf Staeck (vor seiner Übersiedlung in den Westen zu seinem Bruder Klaus Staeck) oder sie wurden wie Jürgen Gottschalk und Rainer Luck gar verhaftet und zu Freiheitsstrafen verurteilt (vgl. Winnes und Wohlrab 1994, 98–102 u. 106–114; Dittert 2010, 645–646, 653 u. 661).

5 Mail Art in Südamerika In den 1970er und 1980er Jahren wurden in den lateinamerikanischen Militärdiktaturen (Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Paraguay, Uruguay u.  a.) Hunderttausende aus politischen Gründen inhaftiert, gewaltsam entführt und umgebracht. Einer, der nach dem Staatsstreich Pinochets 1973 in Chile verhaftet wurde, aber emigrieren konnte, war der Bühnenbildner, Graphiker, visuelle Poet und (spätere) Mail Artist Guillermo Deisler. Er unterhielt – zuerst als Kontingentflüchtling von seinem nicht freiwillig gewählten Exil in Bulgarien, ab 1986 von der DDR aus – Mail-Art-Kontakte zu südamerikanischen Aktivist*innen, die sich in ihren Ländern gegen die Repressionen der Militärregime engagierten, wie Clemente Padín und Jorge Caraballo aus Uruguay und Edgardo Antonio Vigo und Graciela Gutiérrez Marx aus Argentinien (vgl. Gutiérrez Marx 2010). Mail-Art-Projekte wie etwa Federn der ganzen Welt für meinen Flug von Deisler (vgl. Dittert 2010, 637), waren für die Vertriebenen ein Mittel, um die Erfahrung des Exils zu verarbeiten, und für die in den von Juntas regierten Ländern Verbliebenen eine Möglichkeit,

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um über die Grenzen hinweg den Staatsterror in ihrer Heimat anzuprangern und auf die dubiose Rolle der USA aufmerksam zu machen, die die rechtsgerichteten Militärregime unterstützten, um eine ‚kommunistische Unterwanderung‘ Lateinamerikas zu verhindern. Clemente Padín wurde 1977 gefoltert, sodann ohne Prozess zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wegen Mail-Art-Graphiken, mit denen er das Militärregime Uruguays (1973–1985) satirisch kritisiert hatte. Padín gehört zu den rund 40.000 politischen Opfern seines Landes. In seinem Falle hatten internationale Mail-ArtSolidaraktionen Erfolg; er wurde Ende 1979 vorzeitig entlassen. 1984 mobilisierte Clemente Padín das internationale Mail-Art-Netzwerk, um mit einer PostkartenKampagne die Freilassung von Andrés Díaz Poblete, dem Sohn des chilenischen Mail Artisten Eduardo Díaz Espinoza zu bewirken, was im Februar 1985 tatsächlich gelang. Nach einer erneuten Festnahme von Andrés Díaz Poblete im Frühjahr desselben Jahres bewirkte eine weitere Mail-Art-Aktion wiederum die Freilassung. Der argentinische Mail Artist Edgardo Antonio Vigo war ebenfalls von den Repressalien der von 1976 bis 1983 herrschenden Militärdiktatur seines Landes persönlich schwer betroffen, als sein 17-jähriger Sohn vom Militär aus seinem Haus entführt wurde. Graciela Gutiérrez Marx, die 1969 durch Vigo die konkrete Poesie und Mail Art für sich entdeckte, engagierte sich über Jahre mit ihm unter dem gemeinsamen Label G. E. Marx Vigo mittels Mail-Art-Appellen für eine Freilassung von Vigos Sohn Palomo. Mit ihren Mail-Art-Aktionen unterliefen sie wohl die Zensur und fanden internationalen Widerhall, waren aber nicht erfolgreich. Bis heute zählt Vigos Sohn zu den vielen Tausenden von Verschwundenen (Desaparecidos). Vigo aus Argentinien, Deisler aus Chile und Padín aus Uruguay sowie zahlreiche andere Künstlerinnen und Künstler aus ihrem Umkreis wie etwa Liliana Porter fanden in den späten 1960er Jahren als Verfasser*innen und Gestalter*innen von visueller Poesie sowie als Herausgeber*innen von entsprechenden Editionen und Magazinen zueinander. Sie waren nicht die einzigen Poet*innen und Bildkünstler*innen in Lateinamerika, die sich seit den späten 1960er Jahren mit Mail Art über die Grenzen ihrer Länder engagierten und mit ihren Aktionen, Publikationen und Ausstellungen Mail-Art-Geschichte schrieben. Der Brasilianer Pedro Lyra verfasste das erste ‚Manifiesto de Arte Postal‘ 1970. 1971 versammelten sich im Centro de Arte y Comunicación in Buenos Aires die – wie der US-amerikanische Mail Artist John Held (2014) schreibt – „key players in the Latin American Mail Art community in an early display of solidarity“. Die erste Mail-Art-Ausstellung auf dem südamerikanischen Kontinent veranstaltete Padín 1974, unter dem Titel Festival de la Postal Creativa, in Montevideo. Im Jahr darauf organisierte Ismael Assumpção in São Paulo in Brasilien eine Mail-Art-Schau, wenig später gefolgt von der sogenannten Letzten Internationalen Mail-Art-Ausstellung (Última Expo-

7.17 Mail Art 

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sición Internacional de Arte Postal), die Vigo und Horacio Zabala in Buenos Aires zeigten und an der (so der US-amerikanische Mail Artist und Chronist John Held, 2014) 199 Künstler aus 24 Ländern teilnahmen. Fast zeitgleich versuchten Paulo Bruscky und Ypiranga Filho die 1. Internationale Mail-Art-Ausstellung (I Exposición Internacional de Arte Postal) in Brasilien zu zeigen, die aber, genauso wie der Versuch einer zweiten Mail-Art-Präsentation von Bruscky und Daniel Santiago (II Exposición Internacional de Arte Postal) in der brasilianischen Stadt Recife, sogleich verboten wurde (vgl. hierzu und zur weiteren Geschichte der Mail Art, nicht nur in Argentinien, Delgado und Romero 2005).

6 Was von der Mail Art bleibt Im Zeitalter des World Wide Web mit seinen enormen Möglichkeiten des sozialen und künstlerischen Austausches in Wort, Bild und Ton scheint gleichwohl das traditionelle postalische Senden von Kunstbotschaften als spezielle Geste ästhetisch-sozialen Handelns noch immer besondere Wertschätzung zu erfahren. Was das Internet nicht zu bieten hat, ist die Realitätserfahrung von zeitlicher Entfernung zwischen Senden und Empfangen. Neben dem Effekt entschleunigten kommunikativen Handelns spricht für sie der Wert des ‚Handwerklichen‘, des Materiell-Fasslichen und auch des zeitlichen Einsatzes, sprich: der Nachhaltigkeit, die auf besagtem Aufwand basiert. Mail Art besticht durch eine spezielle Optik und Haptik ihres Erscheinungsbildes, trotz oder gerade wegen der Momente des Ephemeren und Improvisierten, des Schlichten oder Zufälligen. Den besonderen sinnlichen Reiz verdankt sie der Vielfalt von Techniken und verwendeten Materialien, die sie innerhalb eines durch die Vorschriften der Post begrenzten Rahmens entfaltet. Oder wie wäre es sonst zu erklären, dass Mail Art weiterhin mit den Händen geschaffen, in Empfang genommen, gesammelt, archiviert und das Resultat zumindest sporadisch in Ausstellungen und Publikationen sowie kontinuierlich im Internet öffentlich gezeigt wird? Gleichwohl ist Mail Art – wie das handschriftliche Verfassen und postalische Übermitteln von Botschaften überhaupt – mittlerweile eher ein ästhetisches Randphänomen, das von Zeit zu Zeit als ein besonderes kommunikatives Vergnügen ‚wiederentdeckt‘ wird, sich in Wellen ausbreitet und wieder verebbt. Mail Art hat heute eine weitaus geringere Bedeutung als zu ihren Hochzeiten, den 1970er und vor allem den 1980er Jahren, weil sich der gesellschaftliche und kulturelle Kontext, die politischen Verhältnisse, sozialen Bedürfnisse und die Kommunikationsformen geändert haben. Mail Art zählt nicht zum klassischen Kanon der Kunstgeschichte, ist auf dem Kunstmarkt nicht und nur in wenigen graphischen Kabinetten und Kunstsamm-

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lungen als Sondersammelgebiet präsent  – in Deutschland etwa in der Kunstsammlung der Akademie der Künste, Berlin, und im Kupferstichkabinett des Staatlichen Museums Schwerin. Sie wird jedoch von den Mail-Artist*innen selbst fleißig gesammelt und geordnet, inzwischen auch digital erfasst, auf häuslichen Computern, Servern und in Clouds gespeichert und auf Websites präsentiert.

Zitierte Literatur Ahrens, Carsten u. Ingo Clauß (Hg.) (2012). Ray Johnson – I like funny stories. Sammlung Maria Schnepel u. Walter Schnepel. Ausstellungskatalog Weserburg, Museum für Moderne Kunst Bremen. Köln. Dittert, Franziska (2010). Mail Art in der DDR. Eine intermediale Subkultur im Kontext der Avantgarde. Berlin. Delgado, Fernando u. Juan Carlos Romero (2005). El Arte Correo en Argentina; http:// comounzumbidodemoscas.blogspot.de/2015/07/todo-lo-que-ud-queria-saber-sobre-arte. html. Buenos Aires (19.6.2019). Gutiérrez Marx, Graciela (2010). ARTECORREO – artistas invisibles en la red postal (1975–1995). Buenos Aires. Held, John Jr. (2014). „Fifty Years of Latin American Mail Art“, in: SFAQ, International Arts and Culture; http://sfaq.us/2014/12/fifty-years-of-latin-american-mail-art/ (19.6.2019). Kallinich Joachim u. Sylvia de Pasquale (Hg.) (2002). Ein offenes Geheimnis. Post- und Telefonkontrolle in der DDR. Publikation anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Museum für Kommunikation Berlin. Heidelberg. Kuolt, Joachim u. Rüdiger Stratmann (Hg.) (2000). Reinhard Döhl und Freunde – Mail Art. 1959 – 1999. Katalog anläßlich der gleichnamigen Ausstellung vom 31.3.–5.5.2000 in der Stadtbücherei Bad Wildbad. Stuttgart. Poinsot, Jean-Marc (1971). Mail art, communication à distance, concept. Mit einem Vorwort v. Jean Clair. Paris. Röder, Kornelia (2008). Topologie und Funktionsweise des Netzwerks der Mail Art. Seine spezifische Bedeutung für Osteuropa von 1960 bis 1989. Köln. Schulenburg, Rosa von der (Hg.) (2013). Arte Postale. Bilderbriefe, Künstlerpostkarten, Mail Art aus der Akademie der Künste und der Sammlung Staeck. Berlin. Welch, Chuck (1995). Eternal Network. A Mail Art Anthology. Calgary. Winnes, Friedrich u. Lutz Wohlrab (Hg.) (1994). Mail-Art-Szene DDR. 1975–1990. Berlin. Wohlrab, Lutz (Hg.) (2009). Robert Rehfeldt – Kunst im Kontakt. Berlin.

Online-Quellen [Art.] „Beziehungen zwischen Lateinamerika und den Vereinigten Staaten“: https:// de.wikipedia.org/wiki/US-lateinamerikanische_Beziehungen#1970er_Jahre:_die_. C3.84ra_der_Juntas (17.6.2019).

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Mail Artists Index: http://mailartists.wordpress.com (17.6.2019). Mail-Art-Projekt „Akademie/Academy“: http://mailartacademy.wordpress.com (17.6.2019). Ray Johnson Estate: http://www.rayjohnsonestate.com (17.6.2019).

Weiterführende Literatur Berswordt-Wallrabe, Kornelia von (Hg.) (1996). Mail Art – Osteuropa im internationalen Netzwerk. Katalog zur Ausstellung im Staatlichen Museum Schwerin. Schwerin.

Caroline König und Rosina Ziegenhain

7.18 Neuere Kommunikationsmedien im Vergleich zum Brief – E-Mail, SMS, WhatsApp, Facebook 1 Die Entwicklung des Briefs „Der traditionelle Brief hat ausgedient.“ Dieser Meinung sind heute viele Leute. Neuere Kommunikationsmedien, die gegenüber dem Brief anscheinend viele Vorteile bieten, würden dem Brief den Rang ablaufen. Doch diese Argumentation ist zu kurz gegriffen. Schon seit Beginn der Briefkommunikation gab es viele verschiedene Briefsorten, die von der jeweiligen Kommunikationssituation geprägt waren. So unterscheidet man bereits in der Antike zwischen sogenannten öffentlichen und privaten Briefen, die einen an die jeweilige Situation angepassten Stil aufweisen. Im 18. und 19. Jahrhundert fand in Deutschland ein Umbruch in der Briefkommunikation statt. Seitdem wird einerseits hauptsächlich in deutscher Sprache (anstatt beispielsweise auf Lateinisch oder Französisch) geschrieben. Andererseits beeinflusste auch der zunehmend mündliche Stil die Briefe maßgeblich. Durch die Ausweitung der privaten Briefkommunikation änderten sich die äußeren Faktoren. Neben der Verringerung der Kosten stand auch die Beschleunigung des Brieftransports im Vordergrund. Diese beiden Aspekte haben heute noch entscheidende Auswirkungen auf die Wahl der entsprechenden Kommunikationsmedien, von denen neben dem Brief beispielsweise E-Mail, SMS und WhatsApp zur Verfügung stehen (vgl. Höflich und Gebhardt 2003, 39). Laut Wyss und Schmitz (2002) ist der Brief im Laufe des 20.  Jahrhunderts durch technische sowie soziale Entwicklungen zu einem Medium geworden, das ein breites Spektrum an privater und öffentlicher Kommunikation abdeckt. Dadurch entstand eine „Auffächerung in eine Vielzahl von Briefsorten“ (Wyss und Schmitz 2002, 5), die jeweils an die entsprechende Situation angepasst sind und sich dadurch sowohl formal als auch sprachlich unterscheiden.

https://doi.org/10.1515/9783110376531-128

7.18 Neuere Kommunikationsmedien im Vergleich zum Brief 

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2 Das Verhältnis von Brief und neueren elektronischen Kommunikationsformen 2014 werden in Deutschland von der Post ca. 59 Millionen Briefe pro Tag transportiert (vgl. Deutsche Post). Dem stehen 1,38 Millionen versendete E-Mails (Statista 2018a), 39,8 Millionen versendete SMS (Statista 2018b) und 667 Millionen versendete WhatsApp-Nachrichten pro Tag gegenüber. Dabei sinkt die Anzahl der pro Tag versendeten SMS seit 2013, die der versendeten WhatsApp-Nachrichten steigt (vgl. König und Bahlo 2014, 9). Die Anzahl der versendeten Briefe pro Tag hat sich insgesamt in den letzten Jahren kaum verändert. Allerdings ist dabei der Anteil der geschäftlichen Briefe gewachsen, der der privaten dagegen gesunken (vgl. Nickisch 2003, 70). So betrug der Anteil der privaten Briefe an der Gesamtzahl der versendeten Briefe bereits 2010 nur noch rund 6 Prozent. Durch die zunehmende Ergänzung des traditionellen Briefs durch elektronisch gestützte Kommunikationsmedien wie E-Mail, SMS, WhatsApp oder soziale Netzwerke wie Facebook entsteht ein prinzipieller Wandel auf dem Gebiet der schriftlichen Kommunikation. Die einzelnen Medien beeinflussen sich gegenseitig, verdrängen teilweise die älteren und erhalten unterschiedliche Funktionsbereiche. Im Hinblick auf die sprachliche Gestaltung sind Eigenheiten der einzelnen Kommunikationsmedien erkennbar. Auch hier sind Wechselwirkungen nicht ausgeschlossen.

3 Besonderheiten der unterschiedlichen Kommunikationsformen Wenn man an Briefe denkt, verbindet man damit oftmals die Vorstellung einer möglichst fehlerfreien Schriftsprache. Außerdem typisch sind Elemente des ‚Textmusters‘ Brief, wie beispielsweise die Anrede und die Grußformel. Auf diese gingen bereits Hoffmannová und Müllerová in ihrem Beitrag von 1998 ein. Bei einem Vergleich von E-Mail und Brief kamen sie zu dem Schluss, dass die E-Mail eher eine Plauderei sei. Daran sieht man, dass die Fragen, ob und inwiefern Kommunikationsformen der neueren elektronischen Medien Briefe sind und was die sprachlichen Unterschiede ausmacht, seit langer Zeit diskutiert werden. Ein älterer Beitrag von Elspaß (2002) macht deutlich, dass es einige, seiner Meinung nach sogar alle, Merkmale, die typischerweise der Kommunikation in den neueren elektronischen Medien zugeschrieben werden, bereits in persönli-

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chen Briefen an der Wende zum 20. Jahrhundert gab. Als Beispiele nennt er unter anderem lautliche Merkmale wie Tilgungen (z.  B. nicht – nich), Reduktionen (z.  B. gehen – gehn) und Assimilationen (z.  B. geht es – geht’s). Sogar die für die elektronische Kommunikation typischen Emoticons vergleicht er mit Bildchen (z.  B. Herzen) in alten Briefen (vgl. Elspaß 2002, 15). Ob der Vergleich passend ist oder nicht, soll an dieser Stelle nicht im Vordergrund stehen, vielmehr verweist Elspaß’ Schlussfolgerung auf eine wichtige Tatsache  – Einfluss auf die sprachlichen Merkmale von schriftlichen Nachrichten hat vor allem eine Voraussetzung: die Situation, in der kommuniziert wird. Besonders wichtig sind die Beziehung zum Kommunikationspartner bzw. zur -partnerin (z.  B. Freundschaft, Geschäftsbeziehung, Familie usw.) und der Zweck, zu dem kommuniziert wird. Elspaß (2002) untersuchte, wie gesagt, persönliche Briefe. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Sprache informeller ist als beispielsweise in einem Geschäftsbrief – der Zweck des Briefs hat demnach einen großen Einfluss auf die verwendeten sprachlichen Mittel. Die zweite wichtige Voraussetzung sind die technischen Gegebenheiten. Um bei dem oben genannten Beispiel der Emoticons zu bleiben, ist die typische Verwendung von Smileys stark von den technischen Faktoren abhängig. Vor einigen Jahren war die Darstellung auf dem Handy mithilfe von Satzzeichen (:-() – wie sie auch in handschriftlichen Briefen verwendet werden können – noch typisch, heutzutage stehen auf den meisten Handys ganze Kataloge von Smileys zur Verfügung (vgl. hierzu auch Schnitzer 2012, 119). Sieht man sich sprachwissenschaftliche Arbeiten zu den unterschiedlichen Kommunikationsformen oder -plattformen an, stehen immer wieder die gleichen Merkmale im Vordergrund. Besonders wenn Publikationen auf einen Vergleich abzielen, ist dies naheliegend (vgl. Elspaß 2002). Dabei lassen sich Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede feststellen. Einige Autor*innen stufen die E-Mail „in gewisser Hinsicht als Fortführung der Gattung ‚Brief‘ in einem neuen Medium“ (Kern und Quasthoff 2001, 16) ein. Ein großer Unterschied ist jedoch der zeitliche Ablauf. E-Mails sind sehr viel schneller bei den Empfänger*innen als ein Brief (vgl. Kern und Quasthoff 2001, 16). In E-Mails ist es außerdem oftmals so, dass der Text mit der Antwort-Funktion (Quoting) direkt in eine empfangene E-Mail eingefügt wird (vgl. Schmitz 2004, 99). Dies hat natürlich Auswirkungen auf die Sprache, da Verfasser*innen davon ausgehen können, dass Empfänger*innen alle Informationen aus den letzten E-Mails noch parat haben. Ähnlich ist es bei SMS oder Nachrichten in sozialen Netzwerken. Trotz ihrer medialen Schriftlichkeit können E-Mails eine gewisse Nähe zur mündlichen Kommunikation aufweisen (vgl. Schnitzer 2012, 314; Höflich und Gebhardt 2003, 55). Einige Autor*innen gehen darauf ein, dass sich die Funktion von Briefen durch die neueren elektronischen Medien verändert hat. „Vor allem im privaten Bereich gilt ein herkömmlicher Brief als ein Zeichen der Verbundenheit“ (Dürscheid und Frick 2005, 86). Demnach

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bezeichnen in einer Studie von Höflich und Gebhardt (2003) auch 60  Prozent der Befragten den Brief als ein sehr wichtiges oder wichtiges Kommunikationsmedium (vgl. Höflich und Gebhardt 2003, 44–45). Dabei wird von den Befragten vor allem die Bedeutung des handschriftlichen Briefs hervorgehoben. Trotzdem ist der Brief nicht mehr das einzige schriftliche Kommunikationsmittel, um Kontakte zu pflegen, Verabredungen zu treffen, Probleme zu diskutieren usw. Inzwischen gibt es sehr viele Alternativen, und es kann davon ausgegangen werden, dass sich jede Kommunikationsform und -plattform ihren Platz sucht. Das heißt, es setzen sich immer diejenigen Wege der Kommunikation durch, die am praktischsten für eine bestimmte Situation sind. Krabbenhöft (2014) untersucht beispielsweise die Ausprägungen von Klatsch und Plauderei in SMS. Gerade die gesunkenen Kosten führen dazu, dass diese Form der Kommunikation in SMS und WhatsApp zunimmt (vgl. Krabbenhöft 2014, 37). Diese Anpassungsfähigkeit gilt aber nicht nur für die Kommunikationsform an sich, sondern auch für die Sprache. Die Schreiber*innen passen diese je nach Situation und technischen Voraussetzungen an.

3.1 Brief – E-Mail Bei einer Gegenüberstellung der Kommunikationsformen kann man von verschiedenen Ebenen ausgehen, die sich aus der zeitlichen Entwicklung ergeben. Als erste Ebene kann dabei der Vergleich zwischen Brief und E-Mail angesehen werden. Ein wichtiges Einordnungsschema ist dabei die konzeptionelle Mündlichkeit. Dieser Begriff wurde von Koch und Oesterreicher geprägt (vgl. Koch und Oesterreicher 1994, 587  ff.) und bedeutet, dass schriftlich realisierte Texte Merkmale von Mündlichkeit enthalten. Es ist nicht die Form, in der kommuniziert wird (schriftlich oder mündlich), sondern die Intention der Kommunizierenden sowie ihr Verhältnis zueinander entscheidend. Dittmann (2006) nennt unter anderem die ‚Privatheit‘ als Voraussetzung für die Entstehung konzeptioneller Mündlichkeit (vgl. Dittmann 2006, 80) und rückt damit einen der wichtigsten Punkte in den Vordergrund: die Situation, in der kommuniziert wird. Sowohl ein Brief als auch eine E-Mail können unterschiedliche Grade konzeptioneller Mündlichkeit aufweisen. Bei E-Mails und Briefen ist die Bandbreite an Ausprägungen sehr groß, man denke nur an die Gegenüberstellung von Liebes- und Geschäftsbriefen oder den E-Mail-Kontakt zu Freund*innen und Familienmitgliedern, die gerade im Ausland sind, im Gegensatz zu geschäftlichen E-Mails. Die Situation ist hier ausschlaggebend für die sprachlichen Merkmale. Außerdem verbreiten sich neue Kommunikationsformen immer in solchen Situationen besonders schnell, in denen sie sich als besonders praktisch erweisen. In Situationen, in denen eine

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schnelle Rückmeldung besonders wichtig ist oder ein Brief höhere Kosten verursachen würde, ist es nur natürlich, dass die E-Mail den herkömmlichen Brief schnell ablöst.

3.2 E-Mail – Facebook – SMS Als nächste Ebene der Betrachtung bietet sich die Gegenüberstellung von E-Mail, sozialen Netzwerken und SMS an. Schon im Jahr 2002 hat Dürscheid einen Vergleich der beiden Kommunikationsformen SMS und E-Mail durchgeführt. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass einige Unterschiede, gerade was die technischen Voraussetzungen angeht, heutzutage nicht mehr relevant sind. So ist das Versenden von Web-Links sowie Text-, Ton- und Videodateien (vgl. Dürscheid 2002, 98) auf Smartphones auch in SMS kein Problem mehr. Bei der Untersuchung von SMS stehen ebenfalls die typischen Merkmale wie Kurzformen (z.  B. Hab dich lieb – HDL), wortfinale (habe – hab) und wortinitiale Tilgungen (eine – ne), Reduktionen (z.  B. gerade – grad), Emoticons, Iterationen (z.  B. Bitteeeeee), Anrede (z.  B. Hey) und Grußformeln (z.  B. LG) sowie Abweichungen in Grammatik, Orthographie und Interpunktion im Vordergrund. Dies war bereits in ersten Untersuchungen zu SMS der Fall (vgl. Schlobinski et al. 2001; Androutsopolous und Schmidt 2002) und ist auch in aktuelleren Publikationen noch von Belang (vgl. König und Bahlo 2014; Bernicot et al. 2012; Schnitzer 2012). Merkmale, die in aktuelleren Korpora nicht mehr auftreten, wie z.  B. Binnenmajuskeln (etwa HalloJuliaWieGehtEsDir, vgl. Schlobinski et al. 2001, 9–10), haben sich zumeist aufgrund von technischen Änderungen verflüchtigt. Im vorliegenden Fall ist durch die Aufhebung der Beschränkung von 160 Zeichen pro SMS die Notwendigkeit der Verwendung von Binnenmajuskeln nicht mehr gegeben. Die oben genannten Beispiele treten alle sowohl in E-Mail- als auch in SMS-Korpora auf, allerdings gibt es bei einigen Unterschiede in der Ausprägung (vgl. hierzu auch Schnitzer 2012). In der Untersuchung von Schnitzer (2012) ist eine detaillierte Analyse der sprachlichen Merkmale enthalten, die einige Unterschiede, aber auch viele Gemeinsamkeiten in den typischen Merkmalen aufdeckt (vgl. Schnitzer 2012, 329  ff.). Dabei werden Facebook-Nachrichten miteinbezogen. Besonders die Merkmale Anrede und Grußformel sowie Iterationen führen zurück zu den wichtigen Einflussfaktoren auf die sprachlichen Merkmale. So enthalten SMS sehr viel weniger Anrede- und Grußformeln als E-Mails. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da es häufig zu SMS-Dialogen kommt, in denen schnell hin- und hergeschrieben wird und eine Anrede und ein Gruß somit hinfällig werden (vgl. Günthner 2011, 2014). Das bedeutet, die Situation, die sich einem mündlichen Face-to-Face-Dis-

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kurs annähert, ist hier ausschlaggebend für das Auftreten des sprachlichen Merkmals. Dies lässt sich auch auf Facebook-Nachrichten übertragen, die im Korpus von Schnitzer (2012, 330) ebenfalls häufig dialogisch sind und deshalb weniger Gruß- und Anredeformeln enthalten. Diese Tatsache bestätigt auch Graffe (2014, 54), in dessen SMS- und Facebook-Korpora sich die Einstiegssequenzen nicht voneinander unterscheiden. Das ist nur ein mögliches Beispiel, um nachzuweisen, dass die Schreibsituation eine große Rolle spielt. Am Merkmal Iterationen kann der zweite wichtige Faktor verdeutlicht werden: die technischen Voraussetzungen. So enthalten die E-Mails und Facebook-Nachrichten im Korpus von Schnitzer (2012) deutlich mehr Iterationen als die SMS. Der Grund dafür liegt in der Produktion der Nachrichten am Computer (vgl. Schnitzer 2012, 330). Hier sind Iterationen noch immer leichter zu erzeugen als am Handy. Für den Einfluss der Technik auf Iterationen spricht auch die Tatsache, dass sich dieses Merkmal in der SMS-Kommunikation über die Zeit verändert hat. In jüngeren SMS-Korpora finden sich mehr Iterationen als in älteren, was darauf zurückzuführen ist, dass die Erzeugung auf den Tastaturen von Smartphones leichter ist als auf älteren Handys (vgl. Schnitzer 2012, 135).

3.3 SMS – WhatsApp Wenn man den zeitlichen Verlauf weiterverfolgt, kommt man unweigerlich zu Messenger-Diensten wie WhatsApp und Viber. Dass sich diese in den letzten Jahren stark ausgebreitet haben, kann durch Zahlen belegt werden (vgl. Arens 2014, 82). Arens widmet sich vor allem dem Vergleich mit SMS und kommt zu dem Schluss, dass „das unkomplizierte Integrieren multimedialer Inhalten [sic] in eine Unterhaltung“ (Arens 2014, 100) eine große Rolle bei der Popularität spielt. Dies ist sicher richtig. Obwohl bei Smartphones auch in den herkömmlichen SMS viele derartige Möglichkeiten zur Verfügung stehen, war es wohl doch WhatsApp, das diese Formen der Kommunikation verbreitet hat. Darüber hinaus ist bei WhatsApp erkennbar, ob der Kommunikationspartner die Nachricht aufgrund einer bestehenden Internetverbindung erhalten und, je nach Einstellung, ob er sie geöffnet hat. Außerdem wird angezeigt, ob der bzw. die Gesprächspartner*in online ist und damit für eine zeitnahe Kommunikation zur Verfügung steht. Der bzw. die einzelne User*in kann durch persönliche Einstellungen zwar einschränken, ob potentielle Kommunikationspartner*innen seinen bzw. ihren Status (z.  B. ‚zuletzt online‘) sehen, viele nutzen diese Funktion jedoch nicht. Zudem ändert dies nichts daran, dass WhatsApp-Dialoge zum Teil durch sehr schnell aufeinanderfolgende Nachrichten geprägt sind, weil beide (oder mehrere) Kommunika­ tionspartner*innen online sind.

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Bei der Betrachtung der sprachlichen Merkmale ist es unserer Meinung nach weniger von Belang, ob es sich um SMS oder WhatsApp handelt. Die Unterschiede, die Dürscheid und Frick (2014) hervorheben, ergeben sich durch die beiden Voraussetzungen, die wir nun schon einige Male genannt haben – die Situation und die technischen Gegebenheiten. Dürscheid und Frick schreiben sogar selbst, dass sie mit Absicht einen Vergleich der alten, auf Handys produzierten SMS mit den WhatsApp-Nachrichten, über die nur mit Smartphones kommuniziert werden kann, durchgeführt haben und dies die Ursache für die großen Unterschiede sei (vgl. Dürscheid und Frick 2014, 177). Ein derartiger Vergleich ist zwar durchaus legitim und auch die Ergebnisse sind sicher stichhaltig, allerdings stellt sich die Frage, wie realitätsnah eine solche Betrachtung ist. Aus einem solchen Vergleich auf sprachliche Unterschiede in SMS und WhatsApp zu schließen, ist unseres Erachtens zwar richtig, solange man die unterschiedlichen Produktionsvoraussetzungen betrachtet, aber wenig zielführend. Vielmehr spricht dies wieder einmal dafür, dass die Technik einen ganz enormen Einfluss auf die Gestaltung des Textes hat. Das zeigt sich auch innerhalb der zeitlichen Betrachtung von SMS. Bei modernen Smartphones stehen hier nahezu die gleichen Möglichkeiten zur Verfügung wie bei WhatsApp. Die ursprünglichen Voraussetzungen sterben mit der Zeit immer mehr aus. Sicher gibt es heute noch alte Handys, die nicht internetfähig sind, über keine Listen von Emoticons verfügen usw., allerdings werden sie zwangsläufig weniger werden und mit der Zeit ganz von der Bildfläche verschwinden.

4 Fazit Zusammenfassend kann man also feststellen, dass der Brief, die E-Mail, Nachrichten in sozialen Netzwerken und auch SMS und WhatsApp-Nachrichten eine wichtige Gemeinsamkeit haben: die mediale Schriftlichkeit. Das heißt, all diese Kommunikationsformen dienen dazu, schriftlich mehr oder weniger wichtige Informationen mitzuteilen oder auszutauschen (das Versenden vom Sprachnachrichten z.  B. über WhatsApp wird hier vernachlässigt). Dabei haben die technischen Voraussetzungen und die gegebene Situation den größten Einfluss – sowohl auf die Wahl der Kommunikationsform, als auch auf die Wahl der Sprache. Dadurch, dass sich Computer und Handy (Smartphone) immer mehr in ihren technischen Möglichkeiten einander annähern, verschwimmen zum Teil auch die Merkmale. So werden Facebook-Nachrichten häufig auch vom Smartphone versendet und können sich damit in der Länge bzw. Kürze den SMS annähern (vgl. Schnitzer 2012, 352). Außerdem kann es zu Übernahmeeffekten kommen, durch die sich bei-

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spielsweise Akronyme wie ‚HDL‘ in allen Formen bis hin zum handgeschriebenen Brief oder der Postkarte ausbreiten. Fest steht, dass sich die schriftlichen Kommunikationsmedien in einem ständigen Wandel befinden. Jedes Mal, wenn eine neue Kommunikationsform auftritt, bestehen drei Möglichkeiten: (1) Sie sucht sich ihren Platz in dem Spektrum an Kommunikationsbedürfnissen, die es gibt, und wandelt damit unter Umständen auch die Funktion einer anderen Kommunikationsform ab oder verdrängt sie ganz. (2) Es gelingt ihr, sich eine neue Funktion zu schaffen. (3) Sie verschwindet wieder von der Bildfläche. Zumeist ist es so, dass die ‚alten‘ Kommunikationsformen neben den neueren erhalten bleiben, manchmal auch in geringerem Umfang als zuvor. Selten verschwinden Kommunikationsformen ganz, wie z.  B. Telegramme. Dies ist eine normale Entwicklung, die unter anderem mit dem Streben des Menschen nach Effizienz zu tun hat. Deshalb fahren wir heute überwiegend mit dem Auto oder nutzen den Flugverkehr und lassen uns nicht mehr in Pferdegespannen kutschieren. Zu besonderen Anlässen wird die Kutsche jedoch wieder benutzt (z.  B. Hochzeit), sie hat also eine ganz spezielle Funktion erhalten. Genauso ist es mit den Kommunikationsformen. Wir schreiben im privaten Bereich kaum noch Briefe. Wollen wir allerdings beispielsweise nach einem Trauerfall unser Beileid bekunden, kommt vielen Menschen ein handgeschriebener Brief deutlich passender vor als eine kurze WhatsApp-Nachricht (vgl. Schönberger 2003, 132). Stand des Beitrags: 2014.

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Marie-Luis Merten

7.19 Leserbriefe digital – OnlineNachrichtenartikel kommentieren 1 Einführung: Prädigitale Formate im Online-Kontext? Das Online-Gehen von Offline-Praktiken ist im digitalen Zeitalter vielfach zu beobachten. Im Web 2.0 lassen sich Ratschläge geben und einholen, gesellschaftlich relevante Themen diskutieren, privat wie auch beruflich neue Kontakte knüpfen bzw. aufrechterhalten und vieles mehr. Hervorzuheben ist allerdings: Mit Blick auf die Vielfalt und auf wesentliche Charakteristika von Online-Angeboten – vor allem deren Dynamizität, Fluidität, Hypertextualität, technologische Affordanzen usw. – müssen Internet-User*innen mitunter (zunächst) ausloten, mit welcher Art von digitalem Kommunikationsraum und computervermittelter Interaktion sie es zu tun haben. Es eröffnen sich Räume des Miteinanders, und bestimmte Handlungen werden nahegelegt, nichtsdestotrotz stellen sich Fragen wie: Welche Konventionen des (sprachlichen) Sich-Verhaltens gelten? Welche (multimodalen) Gestaltungsmöglichkeiten stehen grundsätzlich offen? Was führt zu Grenzüberschreitungen und mit welchen Sanktionen durch Mit-Interagierende (bspw. Moderator*innen von Internet-Foren) ist in solchen Fällen zu rechnen? Bezugspunkt ist hier häufig – und naheliegenderweise – für Offline-Kontexte Geltendes. Bekannte Formate (Interaktionsformen, Routinen des Ausdrückens von Meinung, des Signalisierens von Dissens etc.) werden auf das mehr oder weniger unbekannte, neue Terrain übertragen. Barton und Lee (2013, 9) halten ganz ähnlich fest: „When first using a site, often people bring old practices with them, that is, they do old things in new ways.“ In zahlreichen Online-Kontexten fungiert z.  B. für gedruckte Medien Tradiertes als ein solcher Ausgangspunkt. Dass dabei auch Rückkopplungseffekte zu beobachten sind, stellen Baechler et al. (2016, 11) heraus. Entscheidend und Anlass wissenschaftlicher Auseinandersetzung ist nun, ob es sich dabei wirklich um die gleichen Praktiken – lediglich in digitaler ‚Realisierung‘ – handelt. Wie u.  a. eine Vielzahl an linguistischen Arbeiten (vgl. Barton und Lee 2013; Marx und Weidacher 2014; Locher 2014) zeigt, ist dem nicht so: Denn keineswegs zu marginalisieren ist die Einflussnahme von Affordanzen und Constraints verschiedener Web 2.0-Angebote (vgl. Marx und Weidacher 2014; Weidacher 2017) wie Twitter, Internet-Foren, Online-Nachrichtenseiten mit Kommentarbereich etc., auf das, was wir – zugespitzt formuliert – im Internet (sprachlich) tun. Anstatt eines bloßen Transfers bzw. Importierens beobachten https://doi.org/10.1515/9783110376531-129

7.19 Leserbriefe digital – Online-Nachrichtenartikel kommentieren  

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wir vielmehr das Emergieren neuer kommunikativer Praktiken, die zwar vom prädigital Bekannten und auch Bewährten aus gebootet werden, jedoch maßgeblich von den jeweiligen Online-Umgebungen in ihrer strukturellen Formung und pragmatischen Ausgestaltung geprägt sind. Mit Blick auf brieftheoretische und -kulturelle Fragestellungen ist es u.  a. das Wegfallen der spezifischen Materialität bzw. der Haptik als materielle Erfahrbarkeit, das digitale Briefe im weiteren Sinne (E-Mails, Messenger-Nachrichten usw.) im Gegensatz zu ihrem analogen Pendant kennzeichnet. Auch die typischen kommunikativen Konstellationen internetbasierter Kommunikation (vgl. Jucker und Dürscheid 2012) und die divergierenden Möglichkeiten der (unter Umständen weniger individualisierbaren) Layoutgestaltung als spatio-visuelle Constraints, die an dieser Stelle wirken, zeichnen sich ab. Für die Analyse und Diskussion einzelner Brieftypen/-sorten im digitalen Kontext – etwa ‚Leserbriefe‘, verfasst von Leserinnen und Lesern und gerichtet an Autor*innen, Redaktionen, Herausgeber*innen und andere Leser*innen, wie sie nachfolgend im Fokus des Beitrags stehen werden – sind zudem die Verdauerung und die teilweise internetöffentliche Sichtbarkeit von Online-Kommunikaten (bspw. von Leserkommentaren auf Online-Nachrichtenplattformen) entscheidende Aspekte. Wie angekündigt, soll es nachfolgend um (mehr oder weniger typische) Briefe bzw. briefartige Beiträge, die an einen großen Adressatenkreis gerichtet und letztlich für die gesamte Internetöffentlichkeit zugänglich sind, gehen: um User*innen-Kommentare zu online veröffentlichten Nachrichtenartikeln, die als digitale Leserbriefe interpretiert und diskutiert werden. Im Mittelpunkt stehen dementsprechend reaktive Online-Kommunikate, die zwar ein Offline-Pendant (Leserbriefe u.  a. im Sinne von Fix 2007, 2014) haben, deren Zuschnitt auf die stärker interaktional geprägte Web 2.0-Umgebung allerdings deutlich zutage tritt (Ähnliches bespricht Hammer (2016) für Rezensionen im Offline/Online-Kontrast). Im Folgenden wird zunächst der Leserbrief (offline) mit Blick auf zentrale Charakteristika vorgestellt und diskutiert, inwiefern jene Merkmale auch für Online-Beiträge Geltung beanspruchen können. Vorab: Es ist vor allem das Ausdrücken von Meinungen bzw. das sprachliche Konstruieren von sozial relevanten Positionen, das in übergreifender Hinsicht – sowohl in Offline- als auch OnlineZusammenhängen (vgl. Weizman 2008)  – zentral ist. Daran schließt sich ein Überblick über ein derzeit laufendes Forschungsprojekt zu Leserkommentaren im Web 2.0 an. Anhand ausgewählter Beispiele wird das linguistische Interesse an Kommentaren zu Online-Nachrichten aufgezeigt.

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2 Leserbriefe offline & online: Teilnehmen an öffentlicher Kommunikation Leserbriefe (vgl. u.  a. Fix 2007, 2012, 2015; Bos 2013; Hennig 2005) als eine reaktive Kommunikationsform zeichnen sich durch ihre Intertextualität aus (vgl. Fix 2014): Sie nehmen Bezug auf Zeitungsartikel, auf andere Leserbriefe und weitere Medientexte, die das Schreiben eines eigenen Meinungsbeitrags motivieren, also Anlass zur Selbst-, aber auch Fremdpositionierung bieten. Darüber hinaus stellen sie vielfach außertextuelle Bezüge her. In diesen Fällen referieren die Briefschreiber*innen beispielsweise auf eigene Erfahrungen. Sie ziehen Erlebtes und biographische Narrative heran, um gewisse Aussagen zu legitimieren bzw. zu ratifizieren und ihre Argumentation zu stützen. Mit Blick auf seinen textstrukturellen Aufbau folgt dieser Brieftyp häufig einer Dreigliederung (vgl. Fix 2014, 310): Auf ein initiales Vorstellen der schreibenden Person, das damit auch oft der Verortung im Diskurs zu einem übergeordneten Thema dient, folgt das sprachliche Konstruieren von (vermeintlichen) Tatsachen und Problemen als der informative Teil (vgl. Fix 2014). Ein wertender Abschnitt, in dem Forderungen, Appellen und evaluierenden Fragen Ausdruck verliehen wird, schließt Fix zufolge den typischen Leserbrief. Leserbriefe haben sich speziell für die „Teilnahme an der öffentlichen Kommunikation herausgebildet“ (Fix 2015, 329). Sie ermöglichen das öffentliche Partizipieren an Mediendiskussionen, in denen (auch) Privatpersonen  – folglich die „kleinen Leute“ (Fix 2012, 140) – als Emittenten auftreten. Grundlegend für diese Textsorte ist das Konstruieren von Positionen zu und Perspektiven auf gesellschaftlich relevante/n Themen, die beispielsweise als Beitrag zum öffentlichen Meinungsbild in den Printmedien abgedruckt werden. Trotz des vermeintlich individuellen Meinungsausdrucks zeichnen sich diskursiv etablierte und zu einem gewissen Grad verfestigte, allerdings aushandelbare sowie potentiell dynamische Einstellungen und Positionierungsmöglichkeiten  – ganz im Sinne diskursiv-psychologischer Überlegungen (vgl. Edwards und Potter 1992) – ab. In dieser Form gerät die für Leserbriefe hochgradig relevante soziale Dimension in den Blick, die sich wiederum in einem räsonierenden Sprachspiel (vgl. Fix 2012, 141) niederschlagen kann: Schreiber*innen legen Widerspruch ein und decken ihn auf, sie argumentieren, spekulieren und kritisieren. Die produzierten Texte stehen dabei im Dienste der „Selbstbestätigung und -vergewisserung, Suche nach Zustimmung, emotionale[n] Entlastung und Herstellung eines Integrationsgefühls“ (Fix 2015, 329). In Anlehnung an Du Bois (2007) lässt sich diese Form des sozialen Positionierens durch Leserbriefe – also das Konstruieren von Meinungen bzw. das Verorten des meinenden Selbst in übergeordneten sozialen Strukturen –

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als Stancetaking begreifen (vgl. Englebretson 2007; Jaffe 2009). Dieser „act of evaluation owned by a social actor“ (Du Bois 2007, 173) vereint drei ganz wesentliche „key aspects of social life: act, responsibility, and value“ (Du Bois 2007, 173). Ein/e Schreiber*in evaluiert X, positioniert sich dabei (in affektiver, epistemischer etc. Hinsicht) und drückt zeitgleich – mehr oder weniger explizit – den Grad an Übereinstimmung mit Y (= weitere Akteur*innen) aus. Dass Zeitungsredaktionen zu publizierende Leserbriefe stets auswählen und häufig kürzen sowie redigieren (vgl. Hennig 2005), legt allerdings die strikten Rahmenbedingungen und den Eingriff in (individuelle) Meinungskundgabe im Bereich der Offline-Printmedien offen. Beziehen sich die bisherigen Überlegungen vor allem auf Offline-Leserbriefe, soll nun die Perspektive erweitert und die Online-Praxis stärker fokussiert werden. Aktuelle Nachrichtenartikel lassen sich nicht nur in den Printausgaben verschiedener Zeitungen lesen, sondern sind ebenso auf zahlreichen OnlineNewsseiten (u.  a. Spiegel.de, Zeit.de, Focus.de) leicht zugänglich – und darüber hinaus: ohne großen Aufwand für die Leser*innen kommentierbar. So finden sich auf den jeweiligen Online-Nachrichtenseiten neben journalistischen Hauptbeiträgen häufig auch darauf Bezug nehmende Leser-Postings (Kommentare), für die im Großteil der Fälle ein spezieller (moderierter) Kommentarbereich eingerichtet ist. Diese integrierte Möglichkeit, Meinungsbeiträge zu hinterlassen und die behandelten Themen, deren redaktionelle Darstellung als Form der Berichterstattung und bereits gepostete Kommentare zu diskutieren, fügt sich in das Bild einer für die sozialen Medien charakteristischen, ausgeprägten Kommentarkultur ein. Online-Newsseiten – wie auch zahlreiche weitere Web 2.0-Umgebungen – sind „stance-rich environments“ (Barton und Lee 2013, 87). Sie bieten in dieser Hinsicht nicht nur Raum für den Meinungsausdruck Einzelner, sondern ebenso für das damit einhergehende Konstruieren von Identität im weitgehend anonymen Internet und das Herstellen sozialer Beziehungen. Disziplinenübergreifend lässt sich ein stetig wachsendes wissenschaftliches Interesse an unterschiedlichen Formen der Online-Kommentarkultur feststellen. Insbesondere die gesellschaftliche Relevanz von Kommentaren wird hervorgehoben: Sie nehmen großen Einfluss auf Meinungsbildungen und Offline-Entscheidungsfindungsprozesse (vgl. Witteman et al. 2016). Aus brieftheoretischer Perspektive stellt sich die Frage, inwiefern Leserkommentare zu Online-Nachrichtenartikeln als digitale Leserbriefe – gewissermaßen Leserbriefe 2.0 – eingestuft werden können. Teilen sie grundlegende Eigenschaften mit ihrem (vermeintlichen) Offline-Pendant? Online-Kommentare bieten eine neue und niederschwellige Möglichkeit, „der eigenen Stimme massenmedial Gehör zu verschaffen“ (Luginbühl 2016, 158) und insbesondere „die Verlässlichkeit der etablierten Medienorgane kritisch zu hinterfragen“ (Luginbühl 2016,

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164). Zweifelsohne ist auch hier das Konstruieren von Leser-Meinung bzw. das sprachliche Positionieren als Akteur*in in interaktional ausgehandelten WissenWerte-Geflechten zentral. Zudem lassen sich in Leserkommentaren vielfach intertextuelle Bezüge ausmachen: Es wird auf den journalistischen Referenzbeitrag, auf Vorgängerkommentare und weitere Texte/mediale Erzeugnisse, etwa Wikipedia-Einträge, Berichte konkurrierender Online-Zeitungen, im Internet veröffentlichte Studien etc. Bezug genommen. Häufig kommt es zu ergänzenden oder korrigierenden Leser-Postings und damit zum Konstruieren, aber auch Aushandeln von Wissensbeständen. Mitunter wird für das Bezugnehmen auf bereits gepostete Leserkommentare eine Zitierfunktion angeboten. Aus linguistischer Sicht ist an dieser Stelle interessant, ob intertextuelle Bezüge im Offline- und Online-Kontext auf der Basis gleicher, ähnlicher oder grundsätzlich voneinander abweichender Formulierungsmuster und Rekontextualisierungsstrategien hergestellt werden. Im Gegensatz zu traditionellen Leserbriefen in den Printmedien weisen User*innen-Kommentare potentiell eine größere Reichweite auf. Dem spielt auch ihre Verdauerung im Internet zu: Auf sie kann über Raum und Zeit hinweg zugegriffen werden. Ein weiterer nicht zu übergehender Unterschied liegt in der stärker interaktivdialogischen Ausrichtung von Online-Kommentaren (vgl. Weidacher 2017, 159). Zwar handelt es sich auch bei Intertextualität – dem Bezugnehmen auf andere Texte  – immer schon um ein Phänomen dialogischer Natur, aber die OnlineUmgebung ermöglicht ein deutlich schnelleres und weniger Aufwand erforderndes Reagieren aufeinander. Entgegen Jannis Androutsopoulos (2010, 429), der argumentiert, dass „[a]nders als auf Foren bzw. Chats […] das Verhältnis zwischen den einzelnen Kommentaren weniger als Interaktion und mehr als Dialog mit dem Referenztext“ zu modellieren sei, reagieren die Kommentierenden auf OnlineNachrichtenseiten keineswegs nur auf den redaktionellen Ausgangsbeitrag (vgl. Luginbühl 2016, 165). Teilweise werden Leser-Argumente in interaktiven Sequenzen multiperspektivisch entwickelt und es wird gemeinsam und in signalisierter Übereinstimmung infrage gestellt, kritisiert, spekuliert usw. Mitunter gerät der Ausgangsbeitrag gar aus dem Blick und hitzige User*innen-Diskussionen abseits vom eigentlichen Beitragsthema – auf Zeit.de frequent zu beobachten – werden entfacht. Nutzer*innen wiederum, die nicht an der ursprünglichen Interaktion mitgewirkt haben, lesen diesen „Dialog als Gesamttext, dessen interaktiv-dialogische Struktur textintern erhalten bleibt“ (Weidacher 2017, 159). Einzelne Leser-Postings kennzeichnet die scharfe und radikal formulierte Kritik, die in ihnen laut wird, beleidigende Beiträge jedoch werden von der Redaktion gelöscht. Diese Kritik wird häufig von Nicht-Expert*innen geäußert, also von Laien, die politische, rechtliche oder etwa medizinische Themen (Behandlungsmöglichkeiten, Medikamente, Umgang mit resistenten Keimen etc.) verhandeln

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(zu Laienkritik vgl. Antos 1996). Hier ermöglicht es die Anonymität bzw. Pseudonymität des Internets, kühne Behauptungen aufzustellen und Grenzen des Sagbaren auszuloten, ohne einen Offline-Gesichtsverlust fürchten zu müssen. Dass allerdings auch in Zeitungen ein anonymes Publizieren traditioneller Leserbriefe möglich ist, führt Ulla Fix (2012, 141) an.

3 Forschungsprojekt: User*innen kommentieren Online-Gesundheitsnews Das aktuelle Forschungsprojekt ‚Stancetaking 2.0: Kommentieren im Internet‘ nimmt Leserkommentare zu Online-Gesundheitsnews genauer in den Blick. Das vordergründig für soziokognitiv-linguistische Untersuchungszwecke zusammengestellte Korpus besteht aus 10.459 Kommentaren zu insgesamt 92 Online-Artikeln, die auf Spiegel.de und Zeit.de zwischen 2013 und 2018 erschienen sind. Es hat eine Gesamtgröße von 1.02 Mio. Tokens (exklusive Ausgangsartikel). Die journalistischen Ausgangsartikel verbindet der weit gefasste thematische Rahmen Medizin/ Gesundheit/Biologie (Aufgreifkriterium), wobei die redaktionelle Zuordnung des jeweiligen Artikels zu diesem Themenkomplex ausschlaggebend war. Die OnlineBeiträge beschäftigen sich u.  a. mit resistenten Keimen bzw. Klinikkeimen, mit Erkrankungen wie Diabetes oder Krebs, mit innovativen Medikamenten und Behandlungsmöglichkeiten, mit Themen wie dem Rauchen, Impfen oder Übergewicht oder auch mit Aspekten der Pflege bzw. des Pflegealltags. Das linguistische Forschungsinteresse konzentriert sich im Wesentlichen auf das construal von Meinung(en), d.  h. darauf, welche Formulierungstechniken eingesetzt werden, um sich und Interaktanden sprachlich zu positionieren. Im Vordergrund stehen sogenannte Stance-Konstruktionen, korpusanalytisch herauszuarbeitende Form-Funktions-Kopplungen, mit denen User*innen typischerweise Standpunkte konstruieren, den Grad an Sicherheit/Unsicherheit angeben, Übereinstimmung mit anderen versprachlichen usw. Bei diesen Routinen des Stancetaking handelt es sich um bis zu einem gewissen Grad lexikalisch verfestigte Spracheinheiten. Mitunter ist an diese Konstruktionen bzw. construal-Techniken auch ein „social capital“ (Jaffe 2009, 7) gekoppelt, das mit bestimmten Positionen einhergeht. Hier gewinnt das Inszenieren der eigenen Person (vgl. Goffman 1959) auf der Internet-Bühne an Relevanz. Insgesamt gesehen ist das construal (als die Gestaltung) der User-Kommentare u.  a. geprägt von der Partizipation an Leser-Interaktion, von der Anonymität im Internet und der dadurch entstehenden Möglichkeit, in verschiedene Rollen zu schlüpfen, sich als jemand mit Expertise, mit Erfahrung etc. zu profilieren, von dem Bestreben, Mitlesende zu überzeugen,

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aufzuklären, zu korrigieren, aber auch Diskussionen zu entfachen oder sich emotional zu entladen. Die folgenden Korpusbeispiele veranschaulichen das in den vorangehenden Abschnitten Diskutierte: Grundlegend für Leserbriefe  – sowohl in der von Fix beschriebenen Offline-Realisierung als auch in Form von Online-Kommentaren – sind (1) deren intertextuelle Gestalt, also das Referieren auf weitere Texte, insbesondere auf einen Ausgangsbeitrag, der das Schreiben veranlasst, sowie (2) das den eigenen Meinungsbeitrag kennzeichnende Selbst- und Fremdpositionieren. Im sich anschließenden Beispiel [a], das die Redaktion direkt adressiert, wird der Bedarf, bezüglich einiger Aspekte aufzuklären, artikuliert. Direkt zu Beginn erfolgt das Verorten der schreibenden Person, deren Ausführungen auf der beruflichen Beschäftigung mit dem Thema gründen. Intertextuell verwiesen wird hier – damit stellt das Posting keine Ausnahme dar – u.  a. auf einen Gesetzestext: [a] Hallo, darf ich zu einigen Punkten aufklären? Ich beschäftige mich beruflich mit dem Thema. Liebe Redaktion: Screening: Krankenhäuser hierzulande können sich NICHT aussuchen, ob sie ein Screening durchführen oder nicht. Siehe Infektionsschutzgesetz, Paragraf 23 und Hygieneverordnungen der Bundesländer. Zahlen: Die gängigste Zahl zu den Folgen nosokomialer Infektionen sind 40 000 Tote. Nosokomial=im Gesundheitswesen erworben. […]. (dodgeall 2015)

Selbstverständlich bezieht sich der Großteil der intertextuellen Verweise, die sich in den Kommentaren ausmachen lassen, auf den jeweiligen journalistischen Hauptbeitrag. Diese Bezugnahme auf den Ausgangsartikel kann in eine generalisierende und damit pauschalisierende Perspektive auf Journalismus überführt werden: Im Beispiel [b] wird auf die Gesamtheit „all solcher Artikel“, die eine „Kernerkenntnis“ teilen und letztlich nichts Neues berichten, referiert. Mit dem Personalpronomen „wir“ wird nicht nur die gesamte Leserschaft inkludiert, sondern auf die sterbliche Menschheit Bezug genommen: [b] Obwohl es im Artikel um die Wahrscheinlichkeit geht, im Leben an Krebs zu erkranken, geht es im Kern doch um mögliche Todesursachen. Ein Artikel, der uns sagt, wir würden im Laufe unseres Lebens im Schnitt 20 mal an Grippe erkranken, würde es wohl nicht in die Medien schaffen. Die Kernerkenntnis all solcher Artikel besteht nun einmal darin: wir Menschen haben nur ein endliches Leben und einen Tod müssen wir alle sterben. (kayakclc 2017)

Nutzer*innen ergänzen vielfach ihres Erachtens fehlende Informationen. Über eine reine Stellungnahme wird damit deutlich hinausgegangen (vgl. zu ähnlichen Fällen Luginbühl 2016, 164), wie es Beispiel [c] zeigt:

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[c] Im Artikel fehlt die wichtige Information, dass Chia-Samen eine blutverdünnende Wirkung haben. Das mag für Leute mit Bluthochdruck positiv sein. Für viele Sportler ist es aber negativ. (Syrus 2015)

Der Beobachtung, dass Unterschiede mit Blick auf Leserbeiträge offline und online bestehen (Abschnitt  2), kann unter Hinzunahme eines solchen Korpus und dementsprechend auf einer breiteren empirischen Basis nachgegangen werden. Naheliegenderweise nehmen die Internet-Umgebung und uns bekannte Sprachgebrauchsmuster für verwandte Web 2.0-Anlässe Einfluss auf sprachliche Strukturen, die sich für das Kommentieren von Online-News etablieren und verfestigen. Die Korpusuntersuchung soll – wie bereits dargelegt – sich an der Sprachoberfläche abzeichnende Muster aufdecken (vgl. Bubenhofer und Spieß 2012), also typische Formulierungen bzw. sprachliche Routinen im Kommentieren von Online-Nachrichten. Hier ist nicht nur die Nähe zu Offline-Leserbriefen und usuellen kommunikativen Einheiten des Leserbrief-Schreibens zu berücksichtigen, sondern generell spielen Sprachgebrauchsmuster bzw. Konstruktionen, die dem Positionieren – etwa auch in (informellen) Face-to-Face-Szenarien – dienen, eine relevante Rolle. Sie fungieren als Ressourcen, die auch in digitalen Interaktionen  – ggf. in modifizierter Form  – zum Einsatz kommen. Ein Beispiel ist die „Adjektiv/Adkopula + dass-Satz“-Konstruktion (vgl. Günthner 2009). Mit dem Adjektiv bzw. der Adkopula wird ein bis dahin noch nicht angeführter Sachverhalt evaluiert und ein Projektionsrahmen eröffnet, „der erst mit der Nennung des evaluierten Bezugsaspekts – eingebettet in einen durch die Subjunktion dass eingeleiteten Subjektsatz – abgeschlossen ist“ (Günthner 2009, 152). In den LeserPostings tritt vielfach das Lexem schade in der Adjektiv/Adkopula-Leerstelle dieses Gebrauchsmusters auf: [d] Schade, dass die Darstellung so vereinfachend ist. (matzhamburg 2012) [e] Schade, daß dieses in dem Artikel nicht erwähnt wird. (ray 8 2016) [f] Schade, dass mein ironischer Kommentar bei Ihnen gleich zu Beleidungungen wie „Arroganz“ geführt hat. (Markus Salzhaufen 2016) [g] Schade, dass mit so wenig Informationen eine so furchteinflößende Meldung generiert wird, obwohl und gerade weil das Thema so wichtig ist! (K. Laus 2017) [h] Schade, dass Sie nur den letzten Satz meines Kommentars gelesen haben. Ihre pauschale Gesellschaftskritik ist mir leider etwas zu platt. (Wechselwähler2017 2017) [i] Schade, dass der Text der Print-Ausgabe hier nicht verfügbar ist. (schillipaeppa 2014)

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Im Mantel eines Ausdrucks des Bedauerns (schade, dass X) wird hier genaugenommen Kritik geübt. Kritisiert werden beispielsweise das unvollständige und damit nachlässige Lesen von Interaktanden, das Überlesen von Ironie oder die verkürzende Berichterstattung. Häufig wird auf journalistische Darstellungsweisen (und deren Schwachstellen) Bezug genommen. Auch die vermeintlich positiv evaluierenden Adjektive schön und gut finden hier vielfach Verwendung, allerdings nicht selten in einer intendierten ironischen Lesart (Beispiel [j] bis [m]). So wird etwa in Beispiel [m] die Laiendiskussion von Gesundheitsthemen – obwohl eigentlich medizinische Expertise vonnöten wäre – kritisiert. Dass eine ironische Interpretation beabsichtigt ist, erschließt sich mitunter erst im größeren Kontext. Größtenteils zeigen allerdings schon die zu evaluierenden Inhalte (Verbreiten von Vorurteilen, fahrlässiger Umgang mit Medikamenten etc.), dass eine positive Bewertung äußerst unwahrscheinlich ist. In Fällen, in denen schön und gut in ihrem positiven Bedeutungspotential eingesetzt werden (Beispiel [n] bis [p]), handelt es sich bei den Bewertungssachverhalten um (nach unserem kulturellgesellschaftlichen Verständnis) allgemein anerkannte Handlungen/Umstände (Thematisieren wichtiger anzusprechender Inhalte, Meinungsvielfalt, Bewusstsein-Schaffen für X etc.): [j] Schön dass man mal sein Vorurteil verbreiten kann. (qoderrat 2018) [k] Aber wie soll ich das einem pseudowissenschaftlichen Duzer klarmachen, der erst kürzlich hier im Forum davon ausging, auf dem Mond könnten Ballons fliegen bzw. fahren. Also Du: schön, dass wir mal drüber geredet haben ! (permissiveactionlink 2017) [l] Gut, dass man sich hier die leicht zu beschaffene hochdosierte Ibu für alles reinwerfen kann. (Abdul Alhazred 2018) [m] Gut, dass so viele Leser bescheid wissen und den dummen Redaktions- und Laborarbeitern zeigen können, wo der Hammer hängt. (opitz2010 2018) [n] Schön, dass die Zeit eine ganze Themenwoche über MRSA startet. Ein Thema, was unbedingt angesprochen werden soll – auch im Detail. (Trollol 2014) [o] Doch gut, dass es auch Andersmeinende gibt, finden Sie nicht? (Wechselwähler2017 2017) [p] Gut, daß man das jetzt endlich allgemein zu erkennen beginnt! (Alphabeta 2014)

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4 Leser-Stancetaking Das Kontrastieren von prädigitalen Formaten und Online-Kommunikationsformen liefert interessante Erkenntnisse und weiterführende Impulse für eine Medienlinguistik 3.0 (vgl. Baechler et al. 2016). Das Gegenüberstellen von Leserbriefen offline und online – also traditionellen Leserbriefen in Printmedien und Leserkommentaren auf Online-Newsseiten  – untermauert die „Verdichtung, Beschleunigung und Vernetzung unseres kommunikativen Austausches“ (Meier 2012, 59) durch die neuen Medien und die sich weiterentwickelnden technischen Möglichkeiten. Im fokussierten Bereich zeigt sich diese Intensivierung der Kommunikation beispielsweise daran, dass im Online-Kontext deutlich zügiger und niederschwelliger ein insgesamt breiteres Meinungsbild entstehen kann. Internet-User*innen als Online-News lesende Partizipant*innen können schneller in Kontakt treten, sich u.  a. in Kommentarform austauschen und Themen intensiv diskutieren. Grundsätzlich teilen sich der Offline-Leserbrief und der Online-Leserkommentar das für sie zentrale Konstruieren von Meinungen bzw. Standpunkten. Es geht um Positionen/Stances, die sprachlich eingenommen, aber auch zugeschrieben und ausgehandelt werden. Dieses sozial-interaktive Aushandeln im Miteinander tritt allerdings insbesondere im Online-Kontext in den Vordergrund; stärker in den Hintergrund rückt hier ein ggf. mit (traditionellen) Briefen assoziiertes monologisches Schreiben. Befördert werden die Sichtbarkeit von Meinungsvielfalt und die Möglichkeit, Nachrichten publizierende Institutionen und deren Darstellung von Sachverhalten zu hinterfragen – also das, was Leserbriefe in funktionaler Hinsicht ausmacht. Zudem findet diese Form der Interaktion in einem potentiell dauerhaft einseh- bzw. aufrufbaren Kommunikationsraum statt. Durch Online-Kommentare, die häufig gesamtgesellschaftlich relevante Themen verhandeln und sich über entscheidende Inhalte austauschen, wird insgesamt gesehen die „deliberative demokratische öffentliche Sphäre“ (Luginbühl 2016, 165) bedeutend vergrößert. Die potentielle Leserschaft umfasst die gesamte Internetöffentlichkeit bzw. zumindest diejenigen User*innen, die die entsprechenden Seiten frequentieren. Dass diese Reichweite unter Umständen auch zu manipulativen Zwecken bzw. zur Verbreitung von Unwahrheiten missbraucht wird, ist dabei nicht auszuschließen. Zwar werden die Kommentarbereiche größtenteils moderiert, aber das (sprachliche) Eingreifen fällt deutlich geringer aus als für das Offline-Pendant. Die angeführten Korpusauszüge (samt der Tippfehler und Orthografieverstöße) zeigen, dass hier keine Überarbeitung bzw. kein redaktionelles Redigieren stattgefunden haben kann. Stand des Beitrags: 2018.

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 7 20./21. Jahrhundert

K. Laus (2017). [Kommentar zum Artikel:] „Altenpflege: Pflegeexperten berichten von eklatanten Mängeln“ von ZEIT online, KNA, kg, in: ZEIT online, 14.6.2017; https://www.zeit.de/ gesellschaft/zeitgeschehen/2017-06/altenpflege-zqp-umfrage-gewalt-vernachlaessigung (31.7.2019). Markus Salzhaufen (2016). [Kommentar zum Artikel:] „Superfood. Ich ess nur noch super“ von Sanaz Saleh-Ebrahimi, in: ZEIT online, 20.4.2016; https://www.zeit.de/ wissen/gesundheit/2016-03/superfood-gesundheit-ernaehrung-acai-goji-beerekritik?page=2#comments (31.7.2019). matzhamburg (2012). „Schade: vereinfachend und tendenziös“, [Kommentar zum Artikel:] „Online-Therapie bei Depressionen. ‚Man merkt wieder, dass man etwas schafft‘“ von Eva Schläfer, in: SPIEGEL online, 19.12.2017; https://www.spiegel.de/ gesundheit/psychologie/digitale-therapie-wie-online-programme-depressiven-helfenkoennen-a-1182274.html#js-article-comments-box-pager (31.7.2019). opitz2010 (2018). „Endlich mal wieder“, [Kommentar zum Artikel:] „Herz-KreislaufErkrankungen: So viel Schaden richtet eine Zigarette pro Tag an“ von Nina Weber, in: SPIEGEL online, 25.1.2018; https://www.spiegel.de/forum/gesundheit/herz-kreislauferkrankungen-so-viel-schaden-richtet-eine-zigarette-pro-tag-a-thread-705160-4.html (6.8.2019). permissiveactionlink (2017). „#54, lordmenial“, [Kommentar zum Artikel:] „Umstrittener Versuch. Forscher befreien menschliche Embryonen von Erbkrankheit“ von Julia Merlot, in: SPIEGEL online, 2.8.2017; https://www.spiegel.de/forum/wissenschaft/umstrittenerversuch-forscher-befreien-menschliche-embryonen-von-erbkrankheit-thread-634712-7. html (6.8.2019). qoderrat (2018). [Kommentar zum Artikel:] „Höchstwerte für Nahrungsergänzungsmittel: Warum viel nicht immer viel bringt“ von Nina Weber, in: SPIEGEL online, 10.1.2018; https:// www.spiegel.de/forum/gesundheit/hoechstwerte-fuer-nahrungsergaenzungsmittelwarum-viel-nicht-immer-viel-bringt-thread-699231-2.html (5.8.2019). ray8 (2016). „Wiesenhof“, [Kommentar zum Artikel:] „Europa: Klinik-Keime verursachen 2,6 Millionen Infektionen“ von Nina Weber, in: SPIEGEL online, 18.10.2016; https:// www.spiegel.de/forum/gesundheit/europa-klinik-keime-verursachen-26-millioneninfektion-thread-525281-2.html (22.7.2019). schillipaeppa (2014). [Kommentar zum Artikel:] „Multiresistente Keime: Diese Keime töten“ von Kai Biermann et al., in: ZEIT online, 20.11.2014; https://www.zeit.de/wissen/ gesundheit/2014-11/multiresistente-keime-mrsa-antibiotika-massentierhaltungkeimkarte?page=16#comments (31.7.2019). Syrus (2015). „Blutverdünnende Wirkung!“, [Kommentar zum Artikel:] „Chia-Samen. Superfood – super gut?“ von Bettina Levecke, in: SPIEGEL online, 17.10.2015; http:// www.spiegel.de/forum/gesundheit/chia-samen-superfood-super-gut-thread-368985-4. html#postbit_36145803 (22.7.2019). Trollol (2014). [Kommentar zum Artikel:] „Multiresistente Keime. Diese Keime töten“ von Kai Biermann et al., in: ZEIT online, 20.11.2014; https://www.zeit.de/wissen/ gesundheit/2014-11/multiresistente-keime-mrsa-antibiotika-massentierhaltungkeimkarte (6.8.2019). Wechselwähler2017 (2017). [Kommentar zum Artikel:] „Altenpflege: ‚Gute Heimbewohner dösen klaglos vor sich hin‘“ von Christian Heinrich, in: ZEIT online, 9.11.2017; https://www.zeit.de/arbeit/2017-10/altenpflege-altenheime-arbeitsbedingungenkuendigung?page=8#comments (31.7.2019).

7.19 Leserbriefe digital – Online-Nachrichtenartikel kommentieren  

 1531

Weiterführende Literatur Baechler, Coline, Eva Martha Eckkrammer, Johannes Müller-Lancé u. Verena Thaler (2016). Medienlinguistik 3.0 – Formen und Wirkung von Textsorten im Zeitalter des Social Web. Berlin. Barton, David u. Carmen Lee (2013). Language online. Investigating Digital Texts and Practices. London u. New York. Fix, Ulla (2012). „Leserbriefe – die mediale Konstruktion von Diskursgemeinschaften“, in: Pressetextsorten jenseits der ‚News‘. Medienlinguistische Perspektiven auf journalistische Kreativität. Hg. v. Christian Grösslinger, Gudrun Held u. Hartmut Stöckl. Frankfurt a. M.: 139–156. Jaffe, Alexandra (2009). Stance. Sociolinguistic Perspectives. Oxford u. New York.

Personenregister Abaelard, Peter 146  ff., 154, 508 Abbadie, Jacques 768 Abel, Konradin Ludwig 928 Abraham, Karl 1365  ff. Abrosimov, Kirill 464 Addison, Joseph 1023 Adenauer, Konrad 427, 1407 Adler, Alfred 1367 Adorno, Gretel 1415 Adorno, Theodor W. 112, 209, 1415, 1417, 1423, 1492  f. Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 709 Ahearn, Laura 135 Ahnert, Ruth 607 Albericus Casinensis 52 Albericus de Settefrati 281 Alberti, Leon Battista 271 Albrecht, Preußen, Herzog 728, 735 Albrecht, Sachsen-Eisenach, Herzog 731 Albrecht II., Mainz, Erzbischof, Kurfürst, Kardinal 676  ff., 680, 697 Albrecht V., Bayern, Herzog 716 Albrecht Achilles III., Brandenburg, Kurfürst 377 Albring, Hans 1355 Alcuinus, Flaccus 453 Alembert, Jean Le Rond d’ 768 Alexander III., Makedonien, König 339, 694 Alioth, Max 1222  f., 1229 Allemann, Beda 1487 Allroggen, Gerhard 1156 Alpers, Svetlana 348 Altenberg, Peter 432 Altman, Janet Gurkin 344 Amboise, Michel d’ 454 Ambrosch, Joseph Karl 989 Ambrosius Mediolanensis 44 Amenda, Carl Ferdinand 1013 Amsdorff, Nicolaus von 676 Anakreon 829 Anderegg, Johannes 215 Andersch, Alfred 325 Andersch, Hedwig 325 Andersen, Hans Christian 81 https://doi.org/10.1515/9783110376531-202

Andersen, Paul Irving 1239 Anders, Günther 1471  ff. Anderson, Emily 1017 Anderson, Howard 997 Andreae, Johann Gerhard Reinhard 621 Androutsopoulos, Jannis K. 1522 Angrand, Charles 1326 Anna, England, Königin 765 Anna, Sachsen, Kurfürstin 729 Anna, Sachsen-Coburg, Herzogin 731, 734, 736 Anna Amalia, Sachsen-Weimar-Eisenach, Herzogin 732 Anna Dorothea, Sachsen-Weimar, Herzogin 732  f. Anna Maria, Sachsen-Weimar-Altenburg, Herzogin 730 Anneke, Mathilde Franziska 28, 34 Antes, Carolin 280, 284 Anton, Annette C. 14, 822 Anton, Johann 1384 Anton Ulrich, Braunschweig-Lüneburg, Herzog 783, 786  f. Apolant, Jenny 1340 Apollonius Tyanensis 43 Arago, François 1091  ff. Archenholz, Johann Wilhelm von 620, 623 Arend, Angelika 1173 Arendt, Hannah 75  f., 510, 1418, 1471 Arens, Katja 1513 Aretino, Pietro 150 Argens, Jean-Baptiste de Boyer d’ 981 Aristainetus 507 Aristoteles 42  ff., 49, 145, 475, 583, 1089 Arnaut de Mareuil 453 Arnim, Achim von 154, 343, 1060, 1112, 1120  ff., 1149 Arnim, Bettina von 28, 71, 306, 510, 830, 1013, 1071, 1102, 1130  ff., 1136  ff., 1143, 1148  ff. Arnsperger, Ludwig 1225 Arnulfus Lexoviensis 587 Arp, Hans 450 Artaria, Domenico 246 Artemon 44, 97, 666

Personenregister 

Artmann, Peter 596 Arto-Haumacher, Rafael 56, 284 Arzeliers, Gaspard de Perrinet Marquis d’  765 Aspasius 45 Assing, Ludmilla 247  f., 1143 Assmann, Jan 584 Assumpção, Ismael 1504 Atticus, Titus Pomponius 53, 693 Aubert, Jean-Louis 467 Aubignac, François-Hédelin d’ 817 Auden, Wystan H. 460, 627 Augenio, Orazio 705 August, Sachsen, Kurfürst 729, 734 August, Sachsen-Weißenfels, Herzog 774 Augusta, Deutsches Reich, Kaiserin 1143 Augustinus, Aurelius 44, 586, 1477 Augustus, Römisches Reich, Kaiser 233 Auhuber, Friedhelm 1002 Aurier, Gabriel-Albert 1332  f. Aurifaber, Johann 680  f. Austen, Jane 343 Aust, Hugo 1241 Austin-Jones, Frances 284 Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt 602 Avogadro, Amedeo 1208 Baader, Johannes 450 Baasner, Rainer 19, 33, 1185  f. Bach, Carl Philipp Emanuel 1006 Bach, Johann Sebastian 1006, 1154 Bachhuber, Liz 373 Bachmann, Ingeborg 142, 510, 1480  ff. Bächtold, Jakob 1249 Bacon, Francis 714 Badiou, Bertrand 1480  f. Badius Ascensius, Jodocus 53 Baechler, Coline 1518 Baeck, Leo 509 Baermann, Heinrich Joseph 1154  f. Baernstein, P. Renée 150 Bagenal, Nicholas 1397 Bähr, Hans Walter 1436 Bailey, John Cann 1390 Baillie, Joanna 1167 Bakunin, Michail Alexandrowitsch 603, 1262, 1264

 1533

Balderich von Bourgeueil 453 Balzac, Honoré de 343, 1296  f. Balzac, Jean-Louis Guez de 812, 815, 821 Bamberger, Ludwig 1269 Bandini, Angelo Maria 618 Banér, Johan 776  f. Banks, Joanne Trautmann 1391 Barante, Amable-Guillaume-Prosper Brugière de 1071 Barbauld, Anna Laetitia 458 Barner, Wilfried 58 Barthes, Roland 305 Bartholin, Thomas 705 Bartholomaeus de Montagnana 571 Bartlitz, Eveline 1156 Barton, David 104, 1518 Basnage de Beauval, Henri 768 Bassermann, Otto Friedrich 1212 Bataille, Georges 257 Batoni, Pompeo Girolamo 369, 1024 Baudelaire, Charles 343, 1299, 1315  ff., 1321  f., 1417 Bauer, Bruno 1264 Bauer, Edgar 1264 Bauer, Felice 254, 263  f., 308, 317  f., 516, 1376  f. Bauer, Wilhelm A. 1011 Bauernfeld, Eduard von 247 Bauhin, Jean 712 Baumeister, Willi 372 Bäumer, Gertrud 1340 Baumgartner, Sibylle 588 Bauschinger, Sigrid 646 Baute, Christian 1269 Baxa, Jakob 1109 Bayle, Pierre 766  ff., 978  f. Beaumarchais, Pierre Augustin Caron de  401 Beausobre, Isaac de 768 Bebel, August 1274  ff., 1283, 1285  ff. Bebel, Heinrich 53 Bebler, Emil 1310 Becher, Arthur 1347 Beck, Friedrich 1260 Beck, Jacob Sigismund 968 Becker, Anne-Kathrin 1458 Becker, Gudrun 1157

1534 

 Personenregister

Becker, Heinz 1157 Becker, Hermann Heinrich 1269 Becker, Johann Philipp 1289 Beckermann, Ruth 1481, 1488 Beckett, Samuel 1491 Beckmann, Emmy 1340 Beddoes, Thomas 999 Beebee, Thomas O. 344, 352 Beer, Bettina 130 Beer, Jacob Herz 1153 Beer, Michael 1152 Beethoven, Johann van 1014 Beethoven, Karl van 1013 Beethoven, Kaspar Anton Karl van 1013  f. Beethoven, Ludwig van 1006  ff., 1012  ff. Beetz, Manfred 822 Behaim, Lukas Friedrich 235  f. Beheim, Michael 697 Behn, Aphra 339 Behringer, Wolfgang 164, 182 Behrisch, Ernst Wolfgang 316  f. Beißwenger, Michael 392 Bekenn, Georg Ludwig 982 Bell, Clive 1392, 1394  ff. Bell, Quentin 1393 Bell, Vanessa 1394  ff., 1398 Bellini, Giovanni 701 Benecke, Georg Friedrich 1121  f., 1124 Benedict, Ruth 128 Benenson, Peter 1465 Benjamin, Walter 13, 1173, 1415  ff. Benn, Gottfried 334, 1411  ff. Bense, Max 440 Bentinck-von Aldenburg, Charlotte Sophie  72 Benz, Wolfgang 654 Béraud, Jean 371 Berend, Eduard 994, 1000 Berendsohn, Walter A. 648 Berghaus, Heinrich Karl Wilhelm 1092 Berlepsch, Emilie von 997, 999 Bermann Fischer, Gottfried 1491 Bernard, Émile 1326, 1330 Bernard, Esther 999 Bernegger, Matthias 237 Berner, Elisabeth 25, 28, 34, 1241 Bernhard, Thomas 1493  ff.

Bernhardi, August Ferdinand 1033 Bernhardi, Sophie 1033, 1039, 1073 Bernhardine Christiane Sophie, SchwarzburgRudolstadt, Fürstin 732 Bernoulli, Christoph 447 Bernstein, Eduard 1274  ff. Berolzheimer, Theresia 509 Bertaux, Daniel 639 Bertaux, Félix 1402, 1406 Bertram, Ernst 1384, 1402 Bertuch, Friedrich Johann Justin 1076  f., 1080 Berzelius, Jöns Jakob 1208 Beschort, Friedrich Jonas 989 Besnier, Niko 135 Besold, Christoph 471 Bessel, Gottfried 795 Betcke, Bruno 538 Bethmann, Friederike 989, 1002 Bethmann, Heinrich Eduard 989 Bettelheim, Anton 1310 Betulius, Christian 783 Beuys, Joseph 451, 1502 Beyer, Uta 1241 Bhabha, Homi K. 150 Bickmann, Jutta 584, 591 Bierbaum, Gemma 444 Bierbaum, Otto Julius 444 Biermann, Wolf 24, 602 Bindseil, Heinrich Ernst 689 Bircher, Martin 787 Birken, Margareta Magdalena von 782, 784 Birken, Sigmund von 780  ff. Bischof, Norbert 207 Bismarck, Johanna von 516  f., 519  f., 1184, 1188  f. Bismarck, Otto von 301, 510, 516  f., 519  f., 556, 1183  f., 1188  f., 1235, 1268, 1307  f. Björnståhl, Jacob Jonas 236 Blackburne, Francis 996 Blake, William J. 1166 Blarer, Ambrosius 706 Blarer, Thomas 706 Blasberg, Cornelia 1173 Blessington, Marguerite 1162

Personenregister 

Bleuler, Eugen 1365 Bloch, Grete 317 Blöcker, Günter 1483  ff., 1488 Blücher, Heinrich 510 Bluhm, Agnes 1340, 1342 Blum, Hans 1307 Blum, Michael 374 Blumenberg, Hans 1492 Bluntschli, Johann Caspar 1260 Boas, Franz 127  f. Boch, Eugène 1326 Böck, Dorothea 1251 Böckh, August 1093 Bock, Hieronymus 708 Bode, Johann Joachim Christoph 995 Bode, Wilhelm von 1227  ff. Bodmer, Johann Jakob 240, 456, 980 Boehlich, Walter 1100 Boehringer, Robert 1317, 1386 Boesen, Emil 1095, 1097 Boethius, Anicius Manlius Severinus 587, 606 Böhme, Minna 434 Bohrer, Karl Heinz 13, 509, 1036  f., 1043, 1139  f., 1184 Bohse, August 41, 276, 278, 283, 588, 669, 812  ff., 821  ff. Boie, Heinrich Christian 621 Boileau Despréaux, Nicolas 455 Boilly, Louis 365 Boisserée, Sulpiz 1043, 1045 Bollert, Werner 1156 Bolley, Pompejus Alexander 1209 Böll, Heinrich 344, 1481 Bonafous, Suzanne 769 Bondi, Georg 1386 Bonhoeffer, Dietrich 510, 516, 519 Bonhorst, Leonhard von 1287  f. Bonnard, Pierre 371 Bönninghausen, Clemens Maria Franz von 1174 Bonstetten, Albrecht von 794 Bonstetten, Karl Viktor von 1071, 1074 Bora, Katharina von 26, 676 Borch, Gerard ter 348, 355, 357  f., 360 Borgia, Stefano 1082

 1535

Bormuth, Matthias 1484 Börne, Ludwig 556, 611, 622, 983, 1102, 1105, 1262 Bornstedt, Louise von 1174 Bošković, Ruđer Josip 794 Bost, Hubert 769 Boswell, James 996 Bottari, Giovanni Gaetano 1022 Böttiger, Helmut 1481 Böttiger, Karl August 1040, 1076  ff. Boucher, François 363  f. Bouilhet, Louis 1298 Bouilly, Jean Nicolas 830 Bourdieu, Pierre 233, 498 Boursault, Edmé 339  f., 817 Boussingault, Jean-Baptiste 1090 Bouvet, Joachim 809 Boveri, Margret 325, 1438 Bowles, William Lisle 1163 Boye, Gustav von 1103 Bracher, Karl Dietrich 1431 Bracke, Wilhelm 1287  f. Brahm, Otto 1307, 1309 Brandt, Willy 1407, 1431 Brant, Clare 611 Braubach, Wilhelm 1065 Braun, Johannes 675 Brawne, Fanny 1167 Bray, Bernard A. 505  f. Brecht, Bertolt 334, 458, 460, 605, 1415  f., 1418  f., 1421, 1491 Brede, Auguste 1102, 1104 Brehme, Christian 777  f. Breig, Werner 81 Breith, Astrid 147 Breitinger, Johann Jakob 980 Breitkopf, Bernhard Christoph 1006 Breloer, Heinrich 1400  f. Bremer, Julius 1287 Brenan, Gerald 1393 Brentano, Clemens 13, 154, 343, 445, 459, 1032, 1037, 1102, 1112, 1120  ff., 1130  ff., 1186 Brenz, Johannes 687 Bretschneider, Karl Gottlieb 689 Breuning, Eleonore von 1016 Breysig, Kurt 1421

1536 

 Personenregister

Brinckmann, Carl Gustav von 404, 1103, 1108  f. Brinker, Klaus 530, 562  f., 594, 596  f. Brinkmann, Maleen 333  f. Brinkmann, Richard 1234 Brinkmann, Rolf Dieter 323, 332  ff., 627 Brion, Friederike 1055 Brockhaus, Friedrich Arnold 1072, 1092 Brod, Max 300 Brodwolf, Jürgen 372 Broughton, John Cam Hobhouse 1164 Brown, Ford Madox 369 Brüggemann, Diethelm 283  f. Brühl, Karl Moritz von 987 Bruhn, Manfred 546 Brune, Therese 1379 Bruneau, Jean Paul 1294 Bruner, Jerome S. 639 Brunfels, Otto 708 Bruni, Antonio 455 Brunswik, Josephine von 1016 Bruscky, Paulo 1505 Brutus, Marcus Iunius 53 Bubandt, Nils 136 Buber, Martin 1421 Bucelin, Gabriel 794 Bucer, Martin 687 Buchner, August 774, 777  f. Büchner, Georg 520, 1055  f., 1060, 1062  ff. Büchner, Ludwig 1063 Büchner, Luise 1340 Bucholtz, Franz Bernhard von 1116  f. Budde, Elsbeth 74 Budde, Ernst 74 Buddeus, Johann Franz 681 Buff, Charlotte 457 Bühler, Karl 440  f., 451 Buhl, Ludwig Hermann Franz 1263  f. Buhlmann, Rosemarie 531 Büller, Elinor 1412 Bullinger, Heinrich 687, 706 Bullinger, Joseph 1010 Bülow, Eduard von 1248, 1250 Bunsen, Robert Wilhelm 1207  f., 1210, 1212, 1215  f. Bunyan, John 605 Burckhardt, Jacob 826, 1219  ff.

Burckhardt, Max 1220 Burdach, Konrad 1126 Bürgel, Peter 302, 549 Bürger, Gottfried August 456, 1125, 1247, 1250 Burkhardt, Karl August Hugo 735, 786 Burns, Mary 1276 Burns, Robert 456, 458 Burton, Robert 236 Busch, Albert 596 Busch-Schücking, Katharina 1178 Butler, Josephine Elizabeth 1343 Bütow, Adolf 283 Büttner, Hermann 1262 Byars, James Lee 451 Byron, Anne Isabella Milbanke 1167 Byron, George Gordon, Baron 458  ff., 510, 517, 627, 1160  ff., 1167  f., 1188 Caesar, Gaius Iulius 271 Calle, Sophie 374 Callot, Jacques 1065 Calmet, Augustin 794 Calvin, Jean 352, 687, 762, 764, 768 Camerarius, Joachim 234  f., 686, 688  f., 707, 709 Camerarius, Ludwig 234  ff. Campbell, Thomas 612, 1163 Campe, Johann Heinrich 613, 622, 627 Campe, Wilhelm 280 Campendonk, Heinrich 450 Candaux, Jean-Daniel 1069 Canitz, Friedrich von 455 Caraballo, Jorge 1503 Cardauns, Hermann 1172 Carll, Conrad 479 Carlyle, Thomas 993 Carmichael, James 577 Carolath-Beuthen, Adelheid von 831, 1149 Caroline, Sachsen-Hildburghausen, Herzogin 732 Carové, Friedrich Wilhelm 1263 Carpenter, William Benjamin 1277 Carriere, Moriz 1261, 1263 Carrington, Dora de Houghton 1394 Carstens, Asmus Jakob 1025 Carus, Friedrich August 971 Casalena, Maria Pia 1074

Personenregister 

Cassatt, Mary 371 Cassiodorus, Flavius Magnus Aurelius 51, 277 Cassirer, Paul 332 Castelli, Benedetto 794 Catel, Franz Ludwig 369 Cats, Jacob 455 Cattaneo, Gaetano 1083 Celan, Eric 1487 Celan, Paul 510, 1480  ff. Celan-Lestrange, Gisèle 1480  f., 1483, 1485  ff. Celtis, Konrad 53, 587, 693, 695 Cervantes Saavedra, Miguel de 993 Chamisso, Adelbert von 393, 1003, 1102, 1248, 1250 Champfleury 1295 Chapa, Juan 590  f. Chardin, Jean Baptiste Siméon 363 Chartier, Roger 1186 Chateaubriand, François-René de 343, 1071, 1296 Cherubini, Luigi 1153 Chézy, Helmina von 830 Choderlos de Laclos, Pierre Ambroise François 154, 342, 509 Chodowiecki, Daniel 365 Chomed, Gustav 1481 Christian III., Dänemark, König 684 Christie, Bruce 100 Christine de Pisan 454 Chrysostomos, Dio 43 Cicero, Marcus Tullius 42  f., 46  f., 51, 53  f., 57, 149  f., 209, 282, 350, 473, 584, 586, 666, 693, 790 Cicero, Quintus Tullius 53 Cioran, Emile M. 650 Ciurletta, Giovanni 724 Clarke, Charles Cowden 1163 Clarke, John 1163 Clarke, Samuel 800 Claudius, Georg Carl 589 Claudius, Matthias 954, 1007 Clemenceau, Georges 553 Clemen, Otto 681, 689 Codde, Pieter Jacobsz. 355, 357 Cohen, Erik 134, 137

 1537

Cohen, Robert 1483 Colardeau, Charles-Pierre 456 Colbert, Jean-Baptiste de 744 Colefax, Sibyl 1397 Coleridge, Samuel Taylor 999, 1160, 1162, 1165  f. Colet, Louise 1293  ff., 1298, 1300  f. Collinson, Peter 981 Collyer, Mary 458 Colombo, Cristoforo 1178 Colonna, Costanza 149 Colonna, Vittoria 149 Commeter, Johann Matthias 1224 Conard, Louis 1293, 1296 Condé, Louis de Bourbon 745 Conring, Hermann 705, 707, 976 Constant, Benjamin 1071, 1074 Cooke, Thomas 282 Cooper, Douglas 1328 Coppenrath, Alfred 1174 Corday, Charlotte 370 Cordes, Johann Friedrich 622 Cordus, Euricius 708 Corinth, Lovis 450 Cornelius, Peter 1201 Cornwall, Barry 1164 Corot, Jean-Baptiste-Camille 370 Coste, Pierre 768 Cotta, Johann Friedrich von 1038, 1045  f., 1060, 1072, 1078, 1092, 1174, 1179, 1494 Court, Antoine 769  f. Courtney, Cecil 1074 Coypel, Charles-Antoine 363 Craig, Gordon Alexander 740 Cranach, Lucas d. Ä. 695 Crasso, Lorenzo 455 Crato, Johannes 234, 705, 707, 709 Crébillon, Claude Prosper Jolyot de 1001 Creuzer, Friedrich 1136 Croker, John Wilson 1163 Croll, Oswald 705 Cross, Wilbur L. 996 Crowle, Charles Joseph 369 Cruciger, Caspar 680 Cruse, Victor Eduard 1214 Crusius, Gottlieb Leberecht 365 Cullen, William 571  f., 577

1538 

 Personenregister

Culler, Jonathan D. 304 Curtis, L. Perry 997 Custine, Astolphe de 1102 Cuvier, Georges 1165 Cyprianus, Thascius Caecilius 586 Dach, Simon 455 Dahl, Per 81 Dahn, Felix 1306 Dallmeier, Martin 181 Damm, Sigrid 1056 Dante Alighieri 1071, 1167, 1316 Danton, Georges Jacques 1064 Darboven, Hanne 451 Därmann, Iris 255 Darwin, Charles 714 Darwin, Erasmus 1165 Daudet, Alphonse 1332 Daumer, Georg Friedrich 1263 Dauphin, Cécile 285 Dauthendey, Max 1421 David, Jacques Louis 370 Davis, Natalie Zemon 502 De Angelis, Enrico 1321 De Groot, Jerome 607 Defoe, Daniel 340, 618  f., 624, 626  f. Degas, Edgar 371 Dehmel, Ida 512, 1382 Deisler, Guillermo 1503  f. Delacroix, Eugène 1326, 1330 Delbouille, Paul 1074 Delilkhan, Rohith-Gerald 537 Demetrius Phalereus 44, 46, 258, 350 Demus, Klaus 1481, 1483  ff. Demus, Nani 1481, 1483 Denecke, Ludwig 1126 Dern, Christa 596 Derrida, Jacques 257, 266, 427, 647, 1250 Descargues, Madeleine 997 Descartes, René 794, 804, 1064  f. Des Maizeaux, Pierre 768 Des Ursins, Marie-Anne de LaTrémoille 745 Dettinger, Christian Friedrich 517 Deutsch, Otto Erich 1011 Devrient, Ludwig 441 Díaz Espinoza, Eduardo 1504 Díaz Poblete, Andrés 1504 Diderot, Denis 340, 368, 406, 467  f., 768

Dieball, Werner 130 Dietrich, Veit 588, 680 Dietrichstein, Moritz von 247 Dietzsch, Ina 1454 Dillherr, Johann Michael 785 Dilthey, Wilhelm 108, 110 Dingelstedt, Franz von 987, 1263 Dischner, Gisela 1481 Dittmann, Jürgen 1511 Dix, Otto 450 Docen, Bernhard Joseph 1121 Doerffer, Wilhelmine 1002 Doetzer-Berweger, Oliver 654 Dohm, Hedwig 1340 Domeier, Esther Lucie 1102 Domin, Hilde 652 Donne, John 455 Dorat, Claude Joseph 456 Döring, Heinrich 1247 Dorothea Maria, Sachsen-Weimar, Herzogin 730  f., 733, 736 Dorothea, Sachsen-Eisenach, Herzogin 731 Dorothea Susanna, Sachsen-Weimar, Herzogin 729  ff., 733, 735 Dorow, Wilhelm 1083 Dörrien, Catharina Helena 829  f. Douglas, Alfred Bruce 155, 604, 1320 Dransfeld, Justus von 243 Draper, Elizabeth 995, 997 Drayton, Michael 454 Drescher, Hans 450 Dreyfus, Alfred 553, 1071, 1471 Droescher, Georg 988 Droste-Hülshoff, Annette von 84  f., 460, 510, 1170  ff., 1248 Droste-Hülshoff, Clemens August von 1181 Droste-Hülshoff, Elisabeth von 1172 Droste-Hülshoff, Therese Luise von 1174, 1177 Droysen, Johann Gustav 1158 Dryden, John 455 Du Barry, Jeanne Bécu 365 Du Bois, John W. 1520 Dubrav, Roderich 53 Du Camp, Maxime 1294, 1297  ff. Duchêne, Roger 148, 828 Duck, Stephen 458 Dudith, Andreas 706

Personenregister 

Duncker, Maximilian Wolfgang 1262 Duno, Taddeo 705 Düntzer, Heinrich 519, 1045 Dupaty, Charles-Marguerite-Jean-Baptiste Mercier 621 Dürer, Albrecht 350, 692  ff. Dürscheid, Christa 1512, 1514 Dutens, Louis 800 Duvau, Auguste 1078  f. Duyster, Willem Cornelisz 355 Eatherly, Claude 1471  ff. Eber, Paul 685 Ebers, Georg 1306 Ebert, Friedrich 175 Ebner-Eschenbach, Marie von 420, 1307 Ebner, Margareta 675 Echtermeyer, Theodor 1255, 1257 Eckard, Rolf 530 Eckermann, Johann Peter 1046 Edleston, John 1168 Eggers, Friedrich 1235 Ehlers, Klaas-Hinrich 22, 27 Ehlich, Konrad 20 Eibl, Joseph Heinz 1011 Eich, Günter 460 Eichendorff, Joseph von 1013 Eichmann, Adolf 419, 1471, 1475 Eichrodt, Hellmut 412 Eichstaedt, Heinrich Carl Abraham 1038 Eiermann, Walter 284 Einhardus 234 Einstein, Albert 605 Eitingon, Max 1365  ff. Ekhof, Conrad 985 Elbogen, Ismar 519 Eleonore Dorothea, Sachsen-Weimar, Herzogin 731 Elias, Norbert 112, 822, 1368 Eliot, T. S. 1394, 1397, 1491 Elisabeth I., England, Königin 603, 765 Elisabeth, Pfalz, Pfalzgräfin 730  f., 735 Elisabeth, Sachsen, Herzogin 728  ff. Elisabeth Sophia, Sachsen-Gotha-Altenburg, Herzogin 731 Ellenbog, Nikolaus 794 Eloesser, Arthur 1402 Elspaß, Stephan 30, 285, 1509  f.

 1539

Elvers, Rudolf 1158 Enders, Ludwig 681 Engel, Erich Otto 444 Engelbertus Admontensis 792 Engelhard, Julius Ussy 411 Engels, Friedrich 70, 1263, 1269, 1274  ff., 1289  f. Ennodius, Magnus Felix 587 Enzensberger, Hans Magnus 1492 Epikur 507 Epinay, Louise Florence Pétronille Tardieu D’Esclavelles d’ 467 Erasmus, Desiderius 43, 46, 54  f., 57, 63, 234, 282, 350  f., 506  f., 587, 667, 675, 684, 693  f., 697, 703, 706, 1073 Erastus, Thomas 705, 707 Erdman, Ken 545 Erdmann-Macke, Elisabeth 447 Erdmannsdorff, Friedrich Wilhelm von 1024 Erdödy, Anna Maria 1013 Erickson, Charlotte 634 Erinna 459 Erler, Gotthard 1233, 1239 Ermert, Karl 21  f. Ernst I., Sachsen-Gotha-Altenburg, Herzog 731 Ernst, Katharina 576 Erwentraut, Kirsten 283, 822 Eschenburg, Theodor 310 Eschenmayer, Carl A. 972 Escher, Alfred 89, 393 Estermann, Monika 471 Euchel, Isaac Abraham 624 Euler, Johann Albrecht 769 Euler, Leonhard 981 Eunicke, Therese 989 Euripides 460 Fabricius Hildanus, Wilhelm 705, 712 Fabricius, Katharina 329 Falkenhain, Minna 1350 Faneuil, Peter 770 Faure, Félix 553 Fawcett, Henry 369 Fearns, Anneliese 531 Fechenbach, Felix 608 Fechner, Hanns 1238 Feldkeller, Paul 544

1540 

 Personenregister

Fendi, Peter 366 Fenichel, Otto 1368 Fens-de Zeeuw, Lyda 284 Fenwick, John 1077 Ferdinand I., Heiliges Römisches Reich, Kaiser 379, 700 Ferdinand III., Heiliges Römisches Reich, Kaiser 353 Ferenczi, Sándor 1366  f. Fernow, Carl Ludwig 1025 Fetting, Hugo 988 Feuchtwanger, Lion 605, 647 Feuerbach, Ludwig 1257, 1262  ff. Fibiger, Mathilde 1097 Fichte, Johann Gottlieb 516, 959  ff., 966  ff., 1032, 1038, 1043, 1105 Fielitz, Wilhelm 516, 519 Filho, Ypiranga 1505 Filippi, Marco 454 Filliou, Robert 1502 Finckenstein, Karl von 1106 Fischer, Hans 129  f. Fischer-Lichte, Erika 210 Fix, Ulla 1520, 1523  f. Flacius, Matthias 680 Flatt, Johann Friedrich 982 Flaubert, Caroline 1294 Flaubert, Désirée-Caroline 1293  f. Flaubert, Gustave 343, 1292  ff. Fleck, Johann Friedrich Ferdinand 989 Fleischer, Moritz 1262 Fleming, Paul 455 Fles, Barthold 1406 Fließ, Wilhelm 1363  f. Florack, Ruth 822  f. Fludernik, Monika 302 Flusser, Vilém 650 Fontane, Emilie 28, 71, 1233, 1237, 1240 Fontane, Martha 1237 Fontane, Theodor 28, 71, 305, 407, 420, 1233  ff., 1296, 1308 Fontenelle, Bernard Le Bovier de 339  f., 812, 815  f. Forkel, Johann Nikolaus 1007 Formey, Jean Henri Samuel 247, 767  ff. Förster, David 385 Forster, Georg 621, 626

Förster, Johann David 385 Forster, Therese 831 Förster-Habrich, B. Susann 1233 Foschepoth, Joseph 182 Foscolo, Ugo 343 Foucault, Michel 204, 216, 322, 326, 649, 1185 Foujita, Tsuguharu 371 Fouqué, Caroline de La Motte- 1032  f., 1102 Fouqué, Friedrich de La Motte- 1002  f., 1032  f., 1060, 1102 Fourmantel, Catherine 996 Fragonard, Jean Honoré 364  f. Francisci, Erasmus 507 Franciscus Niger 53 Franck, Philipp 450 François, Louise von 1307, 1309  f. Franco, Veronica 150  f. Frank, Anne 323  ff. Franklin, Benjamin 981 Franz I., Frankreich, König 684 Franz Xaver, Hl. 485 Franzos, Karl Emil 1307 Freeman, Thomas S. 607 Freiligrath, Ferdinand 1249 Fresenius, Remigius 1207 Freud, Anna 1363, 1366 Freud, Martha 517, 519 Freud, Sigmund 427, 510, 517, 519, 1363  ff. Frey, Adolf 1304, 1310  f. Frey, Felix 697 Freye, Karl 1056 Freyend, Henning John von 333 Frick, Karina 1514 Fried, Erich 459 Friederike Auguste Sophie, Anhalt-Zerbst, Fürstin 999 Friedlaender, Georg 1235, 1237 Friedländer, Emil Gottlieb 247 Friedrich II., Preußen, König 169, 370, 465  ff., 624, 829 Friedrich III., Heiliges Römisches Reich, Kaiser 692 Friedrich III., Pfalz, Kurfürst 729, 734, 736 Friedrich III., Sachsen, Kurfürst 697, 702 Friedrich Christian II., Schleswig-HolsteinSonderburg-Augustenburg, Herzog 1046

Personenregister 

Friedrich Wilhelm I., Preußen, König 618 Friedrich Wilhelm I., Sachsen-WeimarAltenburg, Herzog 730 Friedrich Wilhelm II., Preußen, König 990 Friedrich Wilhelm III., Preußen, König 990, 1060, 1062, 1154 Friedrich Wilhelm IV., Preußen, König 987, 1091  f., 1154 Frings, Theodor 27 Frisch, Max 1480  f., 1483  ff., 1491  ff. Frizzoni, Gustavo 1230 Fröbel, Friedrich 28 Fröbel, Julius 1265 Frohberg, Regina 1102 Frölich, Heinrich 1038 Frommann, Carl Friedrich Ernst 972, 1038 Frommann, Johanna 972 Fronto, Marcus Cornelius 44, 1191 Fry, Roger Eliot 1395, 1397 Fuchs, Leonhart 708, 713 Fugger, Elisabeth 719 Fugger, Jakob 167, 720 Fugger, Johann 716  ff. Fugger, Markus 719 Fugger, Octavian II. 720 Fugger, Philipp Eduard 720 Fugger, Ulrich 720 Fulwood, William 282 Fumaroli, Marc 463 Furger, Carmen 284  f., 822 Gadamer, Hans-Georg 110 Gaignières, Roger de 238 Gainsborough, Thomas 365 Gajdusek, Daniel Carleton 129 Galenus 571 Galilei, Galileo 475, 794 Galilei, Maria Celeste 143 Gall, Louise von 1179 Galway, Henry de Massue of 765 Gans, Eduard 1102, 1105, 1255 Garber, Klaus 1416 Garfield, Simon 995 Garrett Fawcett, Millicent 369 Garrick, David 996 Garve, Christian 968 Gauguin, Paul 372, 1325  ff. Gauß, Carl Friedrich 1092

 1541

Gautier, Théophile 343 Gay-Lussac, Joseph Louis 1208 Geiger, Carl Ignaz 626 Geiler von Kaysersberg, Johannes 587 Gellert, Christian Fürchtegott 56  ff., 64, 72, 81, 97, 103  f., 142, 208, 279  f., 283  f., 329, 403, 457, 507, 509, 526, 588  f., 616  f., 670, 773, 812  f., 821  f., 829, 975, 1009, 1061, 1066, 1124, 1171, 1180, 1245, 1247, 1418 Genand, Stéphanie 1069 Genette, Gérard 7 Gentilis de Fulgineo 571 Gentz, Friedrich von 404, 641, 1102, 1105, 1108  ff. George, Stefan 401, 512, 1314  ff., 1382  ff., 1402 Georg, Sachsen, Herzog 270 Georg III., Anhalt, Fürst 676 Gérard-Gailly, Émile 828 Gérardy, Paul 1382 Gerber, David 637  f. Gerber, Georg 801 Gerö, Georg 1368 Gerold-Tucholsky, Mary 28 Gerson, Jean 587 Gessner, Conrad 705, 707, 709, 711, 713, 1027 Gessner, Heinrich 1027 Geßner, Salomon 621, 1024, 1027 Geymüller, Heinrich von 1228  ff. Ghiberti, Lorenzo 694 Ghistele, Cornelis van 454 Gide, André 1292, 1321, 1421 Giersch, Martina 1503 Giersch, Steffen 1503 Gifford, William 1160 Gilsa, Georg Ernst von und zu 511 Gilsa, Henriette von und zu 511 Girodet-Trioson, Anne Louis 1025 Gisze, Georg 351  f. Giucking, Ernst 1354 Glattauer, Daniel 344 Gleichen-Russwurm, Emilie von 519 Gleichenstein, Ignaz von 1013 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 15, 81, 155, 238  ff., 244, 310, 457, 671, 829, 999 Gleixner, Ulrike 517

1542 

 Personenregister

Glïck, Edith 1368 Glöckle, Ferdinand 1122 Glöckner, Ernst 1384 Gödden, Walter 1173 Gode, Götz 447 Goeckingk, Leopold Friedrich Günther von 457 Goedeke, Karl 1121 Goes, Albrecht 651 Goethe, August von 240 Goethe, Cornelia 329 Goethe, Johann Wolfgang von 6, 12, 65, 81  ff., 87, 89, 171  f., 198, 225, 227, 238, 240  f., 244  f., 259, 306, 308, 310  f., 315  ff., 323, 326  f., 329  f., 333  ff., 339  f., 342, 344, 405, 449, 457, 509, 517, 591, 611, 615, 619, 621, 625, 672, 958, 969, 971  ff., 985  f., 999, 1007, 1013, 1022, 1025, 1028, 1038  ff., 1043  ff., 1055  ff., 1060, 1064, 1085, 1088, 1092, 1097, 1104, 1121, 1131, 1143, 1148  f., 1160, 1187, 1191  f., 1204, 1247, 1250, 1373, 1387, 1398, 1407, 1425, 1427, 1494 Goethe, Ottilie von 1102 Goethe, Walther Wolfgang von 241 Goetz, Rainald 335 Goeze, Johann Melchior 556 Gogh-Bonger, Johanna Gesina van 1328 Gogh, Theo van 370, 1326, 1328  ff., 1332 Gogh, Vincent van 88, 370, 372, 393  f., 1325  ff. Goguel, Rudi 1430 Goldscheider, Paul 1378 Goldsmith, Oliver 341, 624, 1001 Goll, Claire 1483, 1486  ff. Gollwitzer, Helmut 1435 Golz, Jochen 302 Goncourt, Edmond de 1292, 1294, 1299 Goncourt, Jules de 1292, 1294 Gontard, Susette 971 Gontscharow, Iwan Alexandrowitsch 510 Goody, Jack 133 Görres, Joseph von 1121  f., 1125 Göschen, Georg Joachim 1038, 1060 Göschl, Anna 1191 Gothein, Percy 1386 Gotthelf, Jeremias 1421

Göttling, Karl Wilhelm 1046 Gottschalk, Jürgen 1503 Gottsched, Johann Christoph 72, 238  f., 457  f., 978, 980 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 15, 72 Gottschling, Stefan 548  f. Götz, Johann Nikolaus 457 Götze, Karl Heinz 518  f. Goya y Lucientes, Francisco José de 368  f. Graffe, Julian 1513 Gräffer, Franz 246 Gram, Friedrich von 769 Gramatté, Walter 450 Grant, Duncan 1396 Grapheus, Cornelius 697 Grautoff, Otto 1404 Gravelot, Hubert François 365 Greenblatt, Stephen 217 Gregorius Nazianzenus 45 Gregorovius, Ferdinand 1187 Greiffenberg, Catharina Regina von 784 Greuze, Jean-Baptiste 365 Grice, Herbert Paul 313 Griep, Wolfgang 613 Griesbach, Wilhelm 32 Grieshaber, HAP 444, 450 Grignan, Françoise Marguerite de Sévigné de 153, 826 Grillparzer, Franz 459  f., 1013 Grimberg, Martin 647 Grimm, Friedrich Melchior von 463  f., 466  ff., 1024 Grimm, Herman 1125  f. Grimm, Jacob 87, 1119  ff., 1175 Grimm, Johann Friedrich Karl 620, 626 Grimm, Wilhelm 87, 1119  ff., 1175 Gris, Juan 371 Groethuysen, Uli 447 Grohmann, Johann Christian August 246 Gross, Rainer 447 Grosse, Siegfried 647 Große, Sybille 284 Grosz, George 444, 450 Grözinger, Albrecht 584 Grumbach, Wilhelm von 728 Grünewald, Matthias 695 Grüninger, Robert 1223, 1231

Personenregister 

Guarinus, Veronensis 53 Gudlaugsson, Sturla J. 348 Guhl, Ernst Karl 703, 1022 Guiccioli, Alessandro 1167 Guiccioli, Teresa 1167 Guilleragues, Gabriel Joseph de Lavergne de 152  f., 339, 817 Gulbransson, Olaf 450 Günderode, Karoline von 13, 510, 1130  f., 1133  ff. Gundolf, Elisabeth 1384 Gundolf, Ernst 1384 Gundolf, Friedrich 1382  ff., 1424  ff. Günther, Johann Christian 455 Günther, Johann Georg Wilhelm 385 Gutiérrez Marx, Graciela 1503  f. Gutzkow, Karl 427, 556, 622, 983, 1063, 1065, 1146, 1262 Gwalther, Rudolf 709 Gyllembourg, Thomasine 1097 Haarländer, Stephanie 148 Haas, Willy 1421 Habermas, Jürgen 977, 1492 Habermas, Rebekka 1187 Habert, François 454 Hackert, Jakob Philipp 1024 Haeckel, Ernst 510, 1183  ff., 1191  f. Haessel, Hermann Adolf 1305  ff. Häfner, Thomas 653 Hagen, Friedrich Heinrich von der 1121  f. Hagen, Joachim Heinrich 785 Hagenauer, Johann Lorenz 1009 Hahn, Alois 1144 Hahn, Barbara 1424 Hahnemann, Samuel 573 Hahn-Hahn, Ida, Gräfin 983, 1148 Halem, Gerhard Anton von 622 Hall, Stuart 646 Haller, Albrecht von 479, 621, 769 Hals, Dirck 355, 357, 360 Hamann, Johann Georg 955, 968, 1006, 1098 Hamburger, Käte 1404 Hamilton, Gavin 1023 Hamilton, William 456 Hammacher, Friedrich 28 Hammer, Walter 1438

 1543

Hammerstein, Hans von 1123 Hammer-Tugendhat, Daniela 349 Handke, Peter 1493  f. Hansen, Sandra 596 Happe, Volkmar 732 Harden, Maximilian 1238 Hardenberg, Karl August von 1060 Harnack, Arvid 1436 Harnett, William M. 370 Harsdörffer, Georg Philipp 278, 285, 668  f., 774, 778, 780  f., 784 Hart, Heinrich 556 Hart, Julius 556 Härtel, Gottfried Christoph 1006 Hartmann, Florian 284 Hartmann, Moritz 1269 Hartwig, Ina 1481, 1488 Hasenclever, Walter 648 Haslinger, Tobias 1016 Hassenpflug, Amalie 1174, 1179 Hatt, Dora 1002 Hattingberg, Magda von 1375, 1378 Haupt, Moriz 1121 Hauptmann, Gerhart 1192 Häusler, Otto 1285  f. Hausmann, Nikolaus 676 Hausmann, Raoul 450 Haussonville, Othenin d’ 1069, 1074 Haustein, Jens 1057 Haxthausen, August von 1177 Haxthausen, Ludowine von 1174, 1177 Haxthausen, Moritz von 1177 Haxthausen, Sophie von 1174, 1177 Haxthausen, Werner von 1177 Haydn, Joseph 1006  ff. Hayman, Francis 365 Hazlitt, William 1160, 1164 Hebbel, Friedrich 1248 Heckel, Erich 450 Hecker, Ewald 575 Heem, Jan Davidsz. de 354 Heeren, Arnold H. L. 1083 Heerma van Voss, Lex 499 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 509, 520, 963, 966  f., 970, 972  f., 1105, 1147, 1162, 1199, 1255, 1257  f., 1262  f., 1277 Heiberg, Johan L. 1096  f.

1544 

 Personenregister

Heiberg, Johanne Luise 1097 Heidegger, Martin 110 Heine, Heinrich 88, 90, 332, 393, 509, 556  f., 611, 614, 626  f., 652, 655, 983, 1102, 1105, 1143, 1148, 1255, 1258 Heinrich III., Frankreich, König 271 Heinrich VIII., England, König 684, 697 Heinrich von Nördlingen 675 Heinse, Wilhelm 508, 1028 Heinzmann, Johann Georg 518 Heister, Lorenz 572, 575 Helbig, Joachim 386 Held, John 1504  f. Helfferich, Adolph 621 Helgason, Jon 773 Heliodorus, Emesenus 619 Hell, Maximilian 794 Heller, Erich 317 Heller, Jakob 696  f., 701  f. Helmholtz, Hermann von 1207, 1210 Héloïse 146  ff., 154, 508 Hemsterhuis, François 957 Hendel-Schütz, Henriette 989 Henrich, Dieter 1492 Henrici, Karl Ernst 1131 Henricus Francigena 281 Hensel, Fanny 1152, 1157  f. Henze, Hans Werner 510 Henze-Döhring, Sabine 1157 Herbert, Maria von 967 Herbst, Alban Nikolai 335 Herdegen, Johann 783, 787 Herder, Caroline von 518, 1000, 1045 Herder, Ferdinand Gottfried von 519 Herder, Johann Gottfried von 518  f., 960, 967, 978  f., 1000, 1006, 1043, 1045, 1057  f., 1247 Herle, William 603 Herman, David 303 Hermann, Helmut G. 646 Herodes Atticus 43 Herrmann, Emanuel 413  f. Herterich, Günter 1109 Hertz, Hans Adolf 1235 Hertz, Wilhelm Ludwig 1235 Hervey, James 980 Herwegh, Georg 459

Herz, Henriette 1040 Herz, Markus 967 Hesekiel, George 309 Hess, Moses 1262, 1264 Hesse, Hermann 557, 573, 1371, 1379, 1403, 1418, 1491 Hessel, Stéphane 559 Hessus, Helius Eobanus 454, 684 Hétreau, Rémy 372 Heuschele, Otto 11 Heuss, Theodor 76 Heydenreich, Karl Heinrich 982 Heymann, Aron Hirsch 518 Heyne, Christian Gottlob 508, 1076, 1079  ff. Heynitz, Friedrich Anton von 1025 Heyse, Paul 1222, 1235, 1306, 1308  f., 1311 Hieronymus, Sophronius Eusebius 44, 586 Higgins, Dick 1502 Highmore, Joseph 365 Hildegard von Bingen, Heilige 587 Hildesheimer, Wolfgang 1493 Hiles, Barbara 1397 Hindenburg, Paul von 74 Hippel, Theodor Gottlieb von 968, 994, 1001 Hirsch, Emanuel 1100 Hirsch, Rudolf 1481 Hirschberg, Leopold 1156 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz 621 Hirschfeld, Magnus 1343 Hirt, Aloys Ludwig 1025 Hitler, Adolf 27, 177  f., 1356, 1435, 1438, 1441, 1484 Hitzig, Julius Eduard 1002, 1060, 1248 Höch, Hannah 372, 444, 450 Hochet, Claude-Jean-Baptiste 1071 Hochhuth, Rolf 1438, 1472 Hoehme, Gerhard 373 Hoelz, Max 605 Hof, Holger 1413 Hoffmann, Adolf Julius Friedrich Karl 417, 420, 423 Hoffmann, E. T. A. 305, 441, 987, 993  f., 1001  ff., 1065, 1248 Hoffmann, Heinrich 411, 447 Hoffmann, Ludwig von 450 Hoffmann, Maria Thekla Michaelina 1002 Hoffmannová, Jana 1509

Personenregister 

Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 1121 Höflich, Joachim R. 1511 Hofmannsthal, Hugo von 6, 16, 84, 247, 306, 401, 1371  ff., 1382  ff., 1418, 1421 Hofmann von Hofmannswaldau, Christian 455, 508, 812  f., 816 Hogg, James 1163 Hohenhausen, Elise von 1172, 1174, 1177  f., 1180 Holbein, Franz Ignaz von 987 Holbein, Hans 350  ff. Hölderlin, Friedrich 12, 85, 340, 343, 966  f., 970  ff., 1055, 1127, 1248, 1322, 1373 Höller, Hans 1480 Hölscher, Thomas 647 Holtei, Karl von 248, 1250 Holzer, Christian 431 Holzheid, Anett 29 Homann, Johann Baptist 476 Homer 586, 619 Honecker, Erich 76, 1458 Honigmann, Barbara 331 Honnefelder, Gottfried 305, 1241 Hooch, Pieter de 355, 357 Hooft, Pieter C. 352, 357 Hoogstraten, Samuel van 353  f. Hopper, Edward 371 Horatius Flaccus, Quintus 47, 62, 452, 454  f., 457, 459, 1160, 1163, 1322 Horkheimer, Max 1417 Hormayr, Joseph von 1083 Hornfeck, Susanne 284 Hornung, Johann 705 Horst, Gregor 705 Horst, Jakob 705 Hotman, Jean 479 Houghton, Richard Monckton Milnes 1161 Howell, James 607 Huber, Joseph W. 1503 Huber, Therese 83  f., 831 Hübner, Karoline 1102 Huch, Ricarda 344, 510, 1186 Huch, Richard 510 Huet, Jean-Baptiste 365 Hufeland, Christoph Wilhelm von 971 Hufeland, Gottlieb 1038

 1545

Hüffer, Hermann 1172, 1248 Hughes, Ted 460 Hugo Bononiensis 281 Hugo, Victor 458  ff. Hugo von Montfort 453 Humboldt, Alexander von 63, 827, 1045, 1088  ff., 1102, 1126, 1143, 1148, 1154 Humboldt, Caroline von 67, 71, 510, 516  f., 1026 Humboldt, Theodor von 67 Humboldt, Wilhelm von 67, 71, 516  f., 972, 1026, 1043, 1045, 1102 Hume, David 964, 1161 Hundt, Martin 1260 Hünecke, Rainer 33 Hunold, Christian Friedrich 278  f., 283, 812  ff., 816  ff., 821 Hunt, Leigh 1164 Hutcheson, Francis 340 Hutchinson, Mary 1394 Hutchinson, Sara 1160 Hutten, Ulrich von 454, 555 Huygens, Christiaan 768, 804 Huygens, Constantijn 352, 357 Iffland, August Wilhelm 830, 985  ff., 1060, 1078 Ignatius von Loyola 487 Immermann, Karl Leberecht 343 Isabella, Mantua, Markgräfin 152 Isokrates 43, 555 Iulius Victor, Gaius 43, 46, 48, 54 Jachmann, Magdalena Eleonore 455 Jackson, George 603 Jacobi, Friedrich Heinrich 100, 342, 954  ff., 969  f., 982, 1000, 1043, 1098, 1116 Jacobi, Johann Georg 240, 955 Jacobs, Emil 466 Jacobson, Edith 1368 Jacquin, Gottfried von 1010 Jaeglé, Wilhelmine 520, 1055, 1063  f. Jagemann, Christian Joseph 621 Jäger-von Schlumb, August 625 Jahnn, Hans Henny 334 Jakobson, Roman 258, 651 James, Henry 344, 1397 James, William 211 Janssen, Horst 372, 450

1546 

 Personenregister

Janz, Oliver 591 Jasinski, Béatrice W. 1069 Jaspers, Karl 75  f., 1407 Jean Paul 16, 509, 517, 960  f., 993  f., 997  ff., 1102, 1187  ff., 1191, 1251 Jenkins, Thomas 1023 Jensen, Katharine Ann 152 Jesch, Birger 1503 Jesenská, Milena 254, 262, 300, 1377 Jesus Christus 486, 586, 588, 678, 1111 Joachim, Anhalt-Dessau, Fürst 676 Joachimsohn, Paul 283 Johann, Sachsen-Weimar, Herzog 730 Johann IV., Anhalt, Fürst 676 Johann Friedrich I., Sachsen, Kurfürst 728  f., 732, 734  f. Johann Friedrich II., Sachsen, Herzog 728  f. Johann Kasimir, Pfalz, Pfalzgraf 736 Johann Wilhelm, Sachsen-Weimar, Herzog 729  f. Johanna Charlotte, Sachsen-Weimar, Herzogin 732 Johannes von Dambach 587 Johannes von Neumarkt 277 Johnson, Ray 439, 1502 Johnson, Uwe 1492  f. Jolles, Charlotte 1240  f. Jonas, Hans 590 Jonas, Justus 676, 679 Jonas, Klaus W. 1406 Jones, Constance 155 Jones, Ernest 1366  f. Jongh, Eddy de 348 Jonson, Ben 455 Jordan, Camille 1071 Joseph I., Heiliges Römisches Reich, Kaiser 271 Jovellanos, Gaspar de 368 Joyce, James 427, 1397 Joyce, Patrick 1391 Jung, Alexander 1261, 1263 Jung, C. G. 1363, 1365, 1367 Jung, Werner 284 Jünger, Ernst 1412 Jungk, Robert 1471, 1475 Junkmann, Wilhelm 1174, 1176 Jurgensen, Manfred 1236

Jurieu, Pierre 768 Just, Anna 26 Kachmanowitsch, Franz 411 Kaempfer, Engelbert 705 Kafka, Franz 85, 254, 262  ff., 300  f., 308, 317  ff., 372, 516, 518  f., 1371  ff., 1417, 1419, 1484 Kahler, Erich von 1384, 1407 Kaiser, Claudia 284 Kalb, Charlotte von 999  f. Kant, Immanuel 954, 959, 961, 964, 966  ff., 982, 1006, 1060, 1070, 1147, 1455 Kantorowicz, Alfred 1437 Kantorowicz, Ernst 1385, 1387 Kanzog, Klaus 1248 Kapelle, Heinz 1434 Kapp, Gabriele 1065 Karamsin, Nikolai Michailowitsch 625, 997 Karl IV., Heiliges Römisches Reich, Kaiser 277 Karl V., Heiliges Römisches Reich, Kaiser 271, 485  f., 678, 684, 698, 728 Karl VII., Frankreich, König 238 Karl August, Sachsen-Weimar-Eisenach, Großherzog 82, 1045 Karl Theodor, Pfalz, Kurfürst 236 Karlstadt, Andreas 699 Karnehm, Christl 717 Karoline Luise, Baden, Markgräfin 467  f. Karsch, Anna Luise 15, 457  f., 671 Kästner, Erich 459  f. Katharina II., Russland, Zarin 243 Kaufmann, Vincent 16 Kaus, Max 450 Kawara, On 451 Kawerau, Gustav 681 Keats, George 1166 Keats, Georgiana 1166 Keats, John 510, 1160  ff. Keats, Tom 1166 Keine, C. F. 455 Keisch, Henryk 1438 Kekulé, August 1207 Keller, Franz 618 Keller, Georg 709 Keller, Gottfried 1249, 1307  f., 1310, 1421 Keller, Wilhelm 1211, 1215 Kemble, John Mitchell 1121

Personenregister 

Kempe, Martin von 786 Kennedy, John F. 1471, 1473 Kepler, Johannes 706 Kerényi, Karl 1404 Kerner, Georg 613, 622 Kerr, Alfred 558 Kersting, Georg Friedrich 366 Kessler, Elise 1359 Kesten, Hermann 650, 653 Kestner, August 1084 Keynes, John Maynard 1394 Khider, Abbas 628 Kierkegaard, Hans Peter 1098 Kierkegaard, Henriette 1098 Kierkegaard, P. Chr. 1095, 1098 Kierkegaard, Søren 1095  ff. Kiesewetter, Ludwig 280 Kinkel, Gottfried 33, 1223, 1305, 1308, 1310 Kinkel, Johanna 33 Kipphardt, Heinar 1472 Kircher, Athanasius 794 Kirchhoff, Gustav Robert 1210 Kirchner, Ernst Ludwig 372, 445, 450 Kirms, Franz 986 Kirsch, Sarah 450 Kisch, Egon Erwin 605 Kittelmann, Jana 613  f. Klages, Ludwig 258 Klaiber, Theodor 13 Klapdor, Heike 647 Klee, Paul 450 Klein, Carl August 1315, 1320, 1383 Klein, Christian 1251 Klein, Josef 566 Klein, Julius L. 1263 Klein, Melanie 1368 Kleist, Ewald Christian von 457 Kleist, Heinrich von 13, 15, 85, 87, 515  f., 614, 672  f., 1055  f., 1059  ff., 1066, 1102, 1127, 1139, 1248, 1250 Kleist, Leopold von 1059 Kleist, Marie von 1059  f. Kleist, Ulrike von 1059, 1062  f. Klemensiewicz, Rudolf 426 Klenk, Marion 284  f. Klingemann, Karl 1158 Klöber, Karl Ludwig 625

 1547

Klopstock, Friedrich Gottlieb 84, 240, 518, 829, 1007, 1247 Klopstock, Margareta 518, 829  f. Knebel, Karl Ludwig von 1043, 1045 Knies, Karl 413 Knigge, Adolph, Freiherr 626 Knop, Wolfgang 447 Kobitzsch, Moritz 1287 Koch, Joseph Anton 1025 Koch, Peter 1511 Koenigsberger, Moritz 509 Koeppen, Wolfgang 1493 Kohler, Nikolaus 1349 Kohli, Martin 639 Köhn, Lothar 1173 Kohner, Paul 647 Kokoschka, Oskar 332 Kolderup-Rosenvinge, Janus L. A. 1097  ff. Kölliker, Albert von 1277 Kölving, Ulla 468 Kommerell, Max 1384  f., 1387 König, Eva 520, 812  f., 818  f. Königsmarck, Maria Aurora von 812  f., 816 Koning, Arnold Hendrik 1326 Kopernikus, Nikolaus 475 Kopp, Hermann 1212, 1216 Köppen, Friedrich 962  f. Kording, Inka 210 Körner, Christian Gottfried 1043, 1045  f. Körner, Josef 1074 Körte, Wilhelm 239  f., 244 Koschorke, Albrecht 13  ff., 203  f., 206  f. Köselitz, Heinrich 426 Koskenniemi, Heikki 43, 49  f. Koskensalo, Annikki 530  f. Kotzebue, August von 990, 1013, 1038, 1078 Krabbenhöft, Eike 1511 Kracauer, Siegfried 1415 Kraepelin, Emil 576 Kraft, Stephan 813 Kramer, Robert 1366 Kratzer, Nikolaus 697  f. Kraus, Karl 332, 557  f. Kräuter, Friedrich Theodor 240 Kreiten, Wilhelm 1172 Kreutzfeld, Johann Gottlieb 1006 Krohn, Claus-Dieter 654

1548 

 Personenregister

Kröll, Joachim 783 Kronenbitter, Günther 1109 Krüdener, Barbara Juliane von 999 Krug, Wilhelm Traugott 1059 Kua, John 134 Kubin, Alfred 444 Kucher, Primus-Heinz 648 Kügelgen, Gerhard von 366 Kügelgen, Wilhelm von 61 Kugelmann, Louis 1289 Kugler, Franz 1219, 1222  f. Kuh, Emil 1248 Kühlmann, Richard von 1131 Kuhn, Käthe 1435 Kühn, Sebastian 807 Kulke, Eduard 1248 Kunz, Carl Friedrich 1002  f. Kyros II., Iran, König 163 La Beaumelle, Hubert Angliviel de 769 La Beaumelle, Laurent Angliviel de 767, 769 Labille-Guiard, Adélaïde 369 Lacan, Jacques 143, 148 Lachmann, Karl 81, 1121, 1124 Lafargue, Laura 1279 La Fontaine, Jean de 455 Lagerlöf, Selma 1355 Lahn, Silke 302 Lamartine, Alphonse de 459 Lamb, Caroline 1167 Lamb, Charles W. 1164 Lambert, Johann Heinrich 967, 981 Landi, Ortensio 151  f. Lang, Johannes 676 Lange, Helene 74, 1340, 1343 Lange, Johannes 705, 709 Lange, Samuel Gotthold 81 Langmesser, August 1310 Languet, Hubert 234  f. Lanser, Susan 144 Lanson, Gustave 463  f. Lappenberg, Johann Martin 1122 Lara, Juan Manrique de 721 La Reynie de la Bruyère, Jean-Baptiste-MarieLouis 153 La Roche, Sophie von 228, 309, 323, 327  f., 330  ff., 341, 621, 671, 829  f., 1057, 1132, 1373

Larsen, Karl 633 Las Casas, Bartolomé de 485  f. La Serre, Jean-Puget de 56, 278, 777 Lasker-Schüler, Else 323, 331  f., 372, 450, 646, 1371, 1374, 1378  ff. Lassalle, Ferdinand 1275, 1277  f., 1283 Laßberg, Jenny von 1174, 1177 Latini, Brunetto 281 Laube, Heinrich 983, 1143 Laukhard, Friedrich Christian 406 Laurent, Sophie 1002 Lauriol, Claude 769 Lauth, Hedwig 1359 Lavater, Johann Caspar 245  f., 322, 969, 1007, 1024, 1056  ff. Lavergne, Marianne 363 Lavoisier, Antoine Laurent 1208 Leapor, Mary 458 Leber, Annedore 1431 Lechter, Melchior 1323, 1382 Leclerc, Yvan 1294 Ledanff, Susanne 516  ff., 520, 1186 Lee, Carmen 1518 Leemans, Anthony 354 Legipont, Oliver 794 Le Gobien, Charles 488 Lehms, Georg Christian 455 Leibl, Wilhelm 372 Leibniz, Gottfried Wilhelm 243, 258, 475, 479, 768, 794, 799  ff., 993 Leigh, Augusta 1164, 1167 Leinhos, Carl 1287 Leiser, Erwin 1478 Leitzmann, Albert 1126 Lejeune, Philippe 303, 322, 324 Lemke, Arno 1156 Lenau, Nikolaus 458, 1247 Lenfant, Jacques 768 Lenné, Peter Joseph 1143 Lenz, Carl Heinrich 1058 Lenz, Dorothea Charlotte 1058 Lenz, Friedrich David 1058 Lenz, Hanne 1481 Lenz, Hermann 1481 Lenz, Jakob Michael Reinhold 342, 1055  ff., 1060, 1062  f., 1065  f. Lenz, Johann Christian 1058

Personenregister 

Leo, Friedrich 1247 Leo, Heinrich 1258 Leonardo da Vinci 694, 701 Le Pays, René 812, 815  ff., 821 Lepel, Bernhard von 1235, 1238 Lesbonax 507 Lessing, Gotthold Ephraim 81, 240, 310, 509, 517  f., 520, 556, 670, 812, 819, 829, 956  ff., 963, 975, 977, 982  f., 1098, 1115  f. Lessing, Karl Gotthelf 310, 518 Lévi-Strauss, Claude 257 Lévy, Émile 370 Lewald, Fanny 613  f., 621, 1143 Leymarie, Jean 348 Libanius 43, 46 Libavius, Andreas 705, 709 Lichtenberg, Georg Christoph 310, 404, 443, 449, 621 Licinius Mucianus, Gaius 233 Licoppe, Christian 103 Lieberman, E. James 1366 Liebig, Justus von 983, 1207  f., 1211, 1215 Liebknecht, Wilhelm 1275, 1278, 1283, 1288  f. Ligne, Charles Joseph de 1071  f. Lilien, Caspar von 785 Liliencron, Detlev von 460 Liman, Friederike 1104  f. Linck, Hugo 75 Lingg, Hermann 1306, 1309, 1311 Link, Wenzeslaus 676 Linke, Angelika 34 Liotard, Jean-Étienne 363 Lipsius, Justus 44, 57  f., 667 Liselotte, Pfalz (Orléans, Elisabeth Charlotte d’) 12, 16, 71, 668, 826 Liszt, Franz 343, 1153 Livens, Horace Mann 1326 Locke, John 768, 804, 993 Lockhart, John G. 1163 Lodge, Paul 808 Lodron, Hieronymus von 721 Loerke, Oskar 1422 Lohenstein, Daniel Casper von 455 Longhi, Pietro 365 Loo, Louis Michel van 368 Loos, Alfred 1378

 1549

Loos, Helmut 1159 Lord, Perceval Barton 1277 Loreck, Sabine 565 Lorrain, Claude 1147 Lotter, Johann Jakob 1008 Lotz, Wolfgang 182 Löwig, Carl 1210, 1216 Lübke, Wilhelm 1219, 1223 Lucianus Samosatensis 150, 993 Lucilius Iunior 44 Luck, Rainer 1503 Luckmann, Thomas 639 Ludwig, Anhalt-Köthen, Fürst 734, 774  ff. Ludwig II., Bayern, König 1195  ff. Ludwig XI., Frankreich, König 269  f. Ludwig XIV., Frankreich, König 71, 152, 238, 270, 668, 741, 763, 765  f., 826  f., 830 Ludwig XV., Frankreich, König 271 Luhmann, Niklas 188, 190  f., 216, 506, 1188, 1492 Luise Dorothea, Sachsen-Gotha-Altenburg, Herzogin 732 Lukács, Georg 1438 Lund, Hannah Lotte 403 Lund, Henriette 1098 Lund, Henrik Ferdinand 1097 Lund, Johan Christian 1097 Lund, Peter Wilhelm 1096 Luther, Hans 680 Luther, Johannes 676, 679 Luther, Magdalena 676 Luther, Margarethe 680 Luther, Martin 11  f., 26, 62, 234, 243, 270  f., 350, 555, 587  f., 591, 675  ff., 683, 686  ff., 693, 697, 706, 784 Luzac, Elie 768 Lyon, Otto 13 Lyra, Pedro 1504 Lysias 44 Lystra, Karen 516, 518, 1186  f. Lyttelton, George, Lord 624 Mabillon, Jean 796 MacCarthy, Mary 1395 Macke, August 447, 450 Mackenzie, Henry 1160 MacNeice, Louis 627 Magliabechi, Antonio 475, 477

1550 

 Personenregister

Maier, Mathilde 1201 Maillet du Clairon, Antoine 467 Maintenon, Madame de 745, 769 Majus, Johann Heinrich 237 Makart, Hans 1308 Malinowski, Bronisƚaw 127  ff., 256, 258 Mallarmé, Stéphane 1314  ff., 1382  f. Malvezzi, Piero 1431, 1435, 1438 Manardi, Giovanni 705 Manet, Edouard 370 Manfore, Lucrezia 151  f. Manigk, Oskar 1503 Manlius, Arnold 712 Manlius, Johannes Jacobus 688 Mann, Erika 1401, 1407 Mann, Golo 1407 Mann, Heinrich 307, 605, 647  f., 650, 1400, 1405  ff. Mann, Katia 1401, 1403, 1407 Mann, Klaus 652, 1407 Mann, Thomas 31, 84, 307, 557, 605, 647  f., 650, 1371, 1400  ff., 1418, 1435 Mansfield, Katherine 1395 Mantegna, Andrea 694 Marana, Giovanni Paolo 624 Marat, Jean-Paul 370 Marbach, Gotthard Oswald 983 Marc, Franz 445, 450, 1379 Marc, Julia 1002 Marchand, Leslie A. 1161, 1164 Marchand, Prosper 768 Maria Magdalena, Heilige 349 Maria, Sachsen-Weimar, Herzogin 731, 733 Maria, Schottland, Königin 603 Mark Aurel, Römisches Reich, Kaiser 43, 1191 Marlborough, John Churchill of 745 Marot, Clément 454 Marperger, Paul Jacob 526 Martialis, Marcus Valerius 1079 Martínez, Matías 302 Martínez y Pérez, Sebastián 368 Martus, Steffen 1322 Marwitz, Alexander von der 1105 Marx, Karl 70, 135, 1262  ff., 1269, 1274  ff., 1289  f., 1418  f. Marxveldt, Cissy van 324

Maschke, Walter 182 Massa, Niccolò 705 Mather, William 282 Mathesius, Johannes 685 Matisse, Henri 372 Mattenklott, Gert 9, 13, 517, 649, 1415  f. Matthews-Schlinzig, Marie Isabel 15 Matthias, Heiliges Römisches Reich, Kaiser 165 Matthies, Frank-Wolf 648 Mattioli, Pietro Andrea 705 Mauclerc, Paul Émile de 768 Maupassant, Guy de 1293 Mauss, Marcel 254, 256  ff., 266 Mauvillon, Jakob 829 Max, Josef 1083 Maximilian I., Heiliges Römisches Reich, Kaiser 164, 270, 377, 380, 698, 720 May, Johann Carl 526 Maybin, Janet 101 Mayer, Hans 1437 Mayröcker, Friederike 344 McKeown, Eamonn 134 McLuhan, Marshall 164 Mead, Margaret 127  ff. Medalle, Lydia 996 Meggitt, Mervyn 133  f. Mehring, Walter 443, 450, 460 Meiner, Christoph 621 Meißner, Alfred von 1306 Meister, Jakob Heinrich 467  f. Meister, Jan-Christoph 302 Meisterlin, Sigismundus 794 Melanchthon, Philipp 16, 234, 236, 588, 675  f., 680, 683  ff., 694  f., 703, 706, 729 Melbourne, Elizabeth Milbanke Lamb 1164, 1167 Melbourne, William Lamb 1167 Mendelsohn, Erich 654 Mendelsohn, Luise 654 Mendelssohn Bartholdy, Albrecht 1158 Mendelssohn Bartholdy, Carl 1158 Mendelssohn Bartholdy, Felix 1007, 1152  ff. Mendelssohn Bartholdy, Hugo von 1158 Mendelssohn Bartholdy, Paul 1158 Mendelssohn, Henriette 1102

Personenregister 

Mendelssohn, Moses 310, 517, 519, 556, 955  ff., 967, 975, 980, 982 Mennecke, Ute 587, 591 Menzel, Adolph von 369, 372 Mercier, Louis Sébastien 456 Merckel, Henriette Wilhelmine von 1235 Merckel, Wilhelm von 1235 Mereau, Sophie 154, 343, 456, 1032, 1132, 1136 Meredith, George 1397 Merkel, Garlieb Helwig 1038 Mersenne, Marin 794 Mertens-Schaaffhausen, Sibylle 1174  f., 1179 Metsu, Gabriel 357, 360 Metternich, Klemens Wenzel Nepomuk Lothar von 271, 1105, 1108, 1112 Meusebach, Karl Hartwig Gregor von 1124 Meyen, Eduard 1261, 1263  f. Meyer, Agnes E. 1403 Meyer, Betsy 1304  f., 1307  f. Meyer, Camilla 1307 Meyer, Conrad Ferdinand 83, 85, 87, 1304  ff. Meyer, Fritz 1307 Meyer, Johann Heinrich 1043, 1046 Meyer, Karl 618 Meyer, Raphael 1100 Meyerbeer, Giacomo 1152  ff. Meyern, Wilhelm Friedrich von 624 Michelangelo Buonarroti 694, 701 Micrander, Wilhelm von 777 Mieris, Frans van 348, 355, 357 Millais, John Everett 371 Miller, Johann Martin 341 Miller, Norbert 344 Millet, Jean-François 1330 Millin, Aubin-Louis 243, 1080  f. Millingen, James V. 1083 Mills, Charles Wright 113 Milton, John 1162, 1166 Miremont, Armand de Bourbon, Marquis de 765 Mirmand, Henri de 765 Misch, Georg 108, 110 Misch, Käthe 1368 Mitscherlich, Eilhard Alfred 1211, 1215 Mittenzwei, Ingrid 1241 Mitterer, Erika 458

 1551

Mockel, Albert 1321 Modersohn-Becker, Paula 372, 419, 1375 Moldenhauer, Wilhelm 1353 Molo, Walter von 1404 Moltke, Freya von 28 Moltke, Helmuth Karl Bernhard von 519 Mondella, Luigi 705 Mone, Franz Joseph 1121 Monet, Claude 1326 Montaigne, Michel Eyquem de 626, 1073 Montesquieu, Charles Louis de Secondat de 126, 340, 612, 624, 626  f., 979, 981, 983 Monticelli, Adolphe 1330, 1332  f. Moore, Thomas 1161, 1164 Morand, Pierre de 467 Moravetz-Kuhlmann, Monika 344 Morelli, Giovanni 1228, 1230 Mörike, Eduard 459, 510, 517, 519  f., 1248 Morisot, Berthe 370 Moritz, Hessen-Kassel, Landgraf 711 Moritz, Karl Philipp 223, 226, 239, 280, 283, 507, 589, 621, 623, 627, 672, 1025, 1027, 1066 Morrell, Ottoline Violet Anne CavendishBentinck 1397 Morris, Charles W. 440 Morwitz, Ernst 1385  ff. Moscheles, Charlotte 1158 Moscheles, Felix 1158 Moscheles, Ignaz 1154  f., 1158 Mosmann, Johann Georg 1211, 1214 Motolinía, Toribio 486 Motteler, Julius 1285, 1287 Mozart, Anna Maria 1009 Mozart, Constanze 1010, 1247 Mozart, Leopold 1006, 1008  f. Mozart, Maria Anna Thekla 1009 Mozart, Maria Anna Walburga Ignatia 1009 Mozart, Wolfgang Amadeus 994, 1006  ff., 1247 Mozer, Albert 412 Mueller-Otfried, Paula 1343 Mueller, Otto 450 Mühsam, Erich 605 Müller, Adam Heinrich 1108  ff. Müller, Friedrich 1024

1552 

 Personenregister

Müller, Friedrich von 241 Müller, Harald 790, 793 Müller, Johannes von 1108, 1113, 1115 Müller, Karl Otfried 1083 Müller, Peter 505 Müller-Seidel, Walter 1240 Müllerová, Olga 1509 Munby, Alan N. L. 232 Mundt, Theodor 983 Munier, Émile 371 Munson, Ronald 344 Muralt, Béat Louis de 620, 980  f. Muralto, Giovanni 712 Murr, Christoph Gottlieb von 243  f., 246 Murray, John 1161, 1163  f. Muschler, Reinhold Conrad 1172 Musset, Alfred de 343, 459, 1295 Muston, Alexis 1063 Näf, Werner 1265 Napoleon I., Frankreich, Kaiser 464, 973, 1069  ff., 1110  f., 1115, 1123, 1270 Naumann, Barbara 1241 Naumann, Otto 348 Nauwerck, Karl 1264  f. Navratil, Leo 576 Necker, Jacques 1069  f. Neuffer, Christian Ludwig 970 Neukirch, Benjamin 279, 283, 455, 457, 812  f., 815, 818  ff. Neumark, Georg 782, 786 Newton, Isaac 475, 714, 804, 809, 1165 Nickisch, Reinhard M. G. 10  f., 57, 62, 65, 98  f., 215, 277  f., 280, 283, 285, 611, 822, 977, 995, 1216 Nicolai, Friedrich 310, 556, 623, 975, 980  f., 1038 Nicolson, Harold 1394 Nicolson, Nigel 1391 Niedermayer, Max 1411 Niedermeyer, Gerhard 1100 Nielsen, Rasmus 1097 Nies, Fritz 828 Niethammer, Friedrich Immanuel 971  f. Niethammer, Ortrun 1173 Niethe, Johann Friedrich Ludwig 990 Nietzsche, Friedrich 334, 1322, 1402 Niger, Franciscus 55

Nikobulus 45 Nikolaj II., Russland, Zar 69 Nissen, Georg Nikolaus von 1247  f. Noack, Friedrich 1028 Nolde, Emil 445 Nordau, Max 1187 Notter, Friedrich 1248 Novalis 308, 1032  f., 1035  f., 1043 Nürnberger, Helmuth 1241 Nyerup, Rasmus 1123 Ocampo, Victoria 1397 Oelsner, Konrad Engelbert 623 Oelze, Friedrich Wilhelm 1411  ff. Oeri, Johann Jakob 1219 Oeser, Friederike 457 Oesterle, Günter 1034, 1039 Oesterreicher, Wulf 1511 Ogburn, William Fielding 128 Ogisa, E. R. M. 128 Ohms, Hans Herbert 12 Ohnesorge, Wilhelm 177 Olearius, Adam 455 Olfers, Ignaz von 1092  f. Olhagaray, Česar 1503 Omacini, Lucia 1074 Omeis, Magnus Daniel 782, 785 Oncken, Hermann 1279 Opitz, Martin 285, 454  ff., 774, 776 Oppenheimer, J. Robert 1472 Opsopoeus, Vincentius 680 Orléans, Philippe d’, Herzog von 71 Orlich, Leopold von 618 Ortner-Buchberger, Claudia 150 Osmund, Emanuel 998, 1000 Otte, Enrique 753 Otto, Christian 1000 Otto, Friedrich Julius 1212 Otto-Peters, Louise 1340 Overbeck, Franz 426 Overlack, Anne 16 Ovidius Naso, Publius 62, 151, 305, 452  ff., 508, 651 Paasche, Hans 126 Padín, Clemente 1503  f. Paeschke, Hans 1411  f. Paganini, Niccolò 1153 Panten, Carl 1215

Personenregister 

Paoli, Betty 1309 Papin, Denis 258, 807 Pappritz, Anna 1340  ff. Paquet, Alfons 627 Paracelsus 708 Pasolini, Pier Desiderio, Conte 1226 Pasteur, Louis 1207 Paul, Hermann 567 Paulbaer, Johannes 53 Paulinus, Pontius Meropius 44 Paulus, Apostel, Heiliger 146, 591, 677  f. Paulus, Jörg 518 Peacock, Thomas Love 1163 Pechstein, Max 450 Pedro de Alcántara Téllez-Girón y Pacheco 368  f. Peege, August 1238 Peirce, Charles S. 440 Pellegrini, Carlo 1074 Penkert, Brigitte 1358  f. Pénot, Sabine 348 Penzoldt, Ernst 372, 447, 450 Perottus, Nicolaus 53 Perrin, Dennis 826 Perthes, Andreas 1072 Pertz, Georg Heinrich 247 Pestalozzi, Karl 1415 Peto, John Frederick 370 Petrarca, Francesco 53, 149, 243, 454, 693  f., 1167, 1331 Petronius, Arbiter 508 Petrus de Vinea 281, 587 Petrus Venerabilis 571 Pettenkofer, Max von 1214 Peucer, Kaspar 688 Pez, Bernhard 794  f. Pez, Hieronymus 794  f. Pezzl, Johann 624 Pfistermeister, Franz 1195 Pfuël, Ernst von 1060  ff. Philipp I., Hessen, Landgraf 765 Philipp II., Makedonien, König 555 Philipp II., Spanien, König 720 Philipp Ludwig, Pfalz-Neuburg, Pfalzgraf 716, 730 Philips, Clarissa 1395 Philips, James 1395

 1553

Philostratus, Flavius 43, 45 Picard, Hans Rudolf 344 Picasso, Pablo 371 Pico della Mirandola, Giovanni 703 Pieck, Wilhelm 1436 Pilat, Joseph Anton von 1108 Pinochet Ugarte, Augusto 1503 Pinthus, Kurt 1172 Piper, Helmut 333 Pirckheimer, Charitas 697 Pirckheimer, Willibald 693  f., 696, 699  ff., 703 Pirelli, Giovanni 1431, 1435, 1438 Pitschmann, Siegfried 510 Pius II., Papst 53, 234 Pius V., Papst 485 Piwitt, Hermann Peter 333  f. Plachta, Bodo 1173 Platen, August, Graf von 456, 460 Platon 43, 62, 507  f., 586, 993, 1165 Platter, Felix 709 Platter, Thomas 709 Plessner, Helmuth 211 Plett, Heinrich F. 585 Plinius Caecilius Secundus, Gaius 40, 43  f., 47, 53  f., 211, 301, 304, 586, 666 Plinius Secundus, Gaius 301, 694 Ploetz, Alfred 1340 Plomer, William 1397 Plotho, Manfred von 1356 Plummer, Kenneth 113 Plunkett, Ed 439 Plutarch 586 Plütschau, Heinrich 618 Poe, Edgar Allan 993, 1167, 1322 Poelchau, Harald 1437 Pöhland, Robert 1354 Poinsot, Jean-Marc 1502 Polak, Emil J. 52 Polenz, Peter von 525 Polgar, Alfred 647 Poliziano, Angelo 666 Pöllnitz, Karl Ludwig von 620 Polo, Marco 163, 269 Pompadour, Jean