Autorschaft - Genie - Geschlecht: Musikalische Schaffensprozesse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart 9783412211325, 9783412209025


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Autorschaft - Genie - Geschlecht: Musikalische Schaffensprozesse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart
 9783412211325, 9783412209025

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A u to r s c h a f t – G e n i e – G e s c h l e c h t

MUSIK – KULTUR – GENDER Herausgegeben von Annette Kreutziger-Herr, Dorle Dracklé, Dagmar von Hoff und Susanne Rode-Breymann

Band 11

Kultur ist Kommunikation: Wörter, die gelesen werden, ein literarisches oder filmisches Werk, das interpretiert wird, hörbare und unhörbare Musik, sichtbare oder unsichtbare Bilder, Zeichensysteme, die man deuten kann. Die Reihe Musik – Kultur – Gender ist ein Forum für interdisziplinäre, kritische Wortmeldungen zu Themen aus den Kulturwissen­ schaften, wobei ein besonderes Augenmerk auf Musik, Literatur und Medien im kultu­ rellen Kontext liegt. In jedem Band ist der Blick auf die kulturelle Konstruktion von Geschlecht eine Selbstverständlichkeit.

A u to r s c h a f t – G e n i e – Geschlecht Musikalische Schaffensprozesse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart

Herausgegeben von Kordula Knaus und Susanne Kogler

2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Landes Steiermark, der Karl-Franzens-Universität Graz und der Kunstuniversität Graz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Grafik von Joachim Schauer

© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: General Druck, Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Hungary ISBN 978-3-412-20902-5

Inhalt

Vorwort..................................................................................................... 7 Susanne Kogler Autorschaft, Genie, Geschlecht Einleitende Überlegungen zum Thema ............................................... 9 Melanie Unseld Genie und Geschlecht Strategien der Musikgeschichtsschreibung und der Selbstinszenierung............................................................................... 23 Sigrid Nieberle Wen küsst die Muse? Zur Autorschaft der Sängerin ............................................................. 47 Kordula Knaus Italian Courts and their Musicians in the Early Modern Period Authority, Authorship, and Gender ..................................................... 67 Katharina Hottmann »Ein solcher Ehrgeiz hat mein Gemüth nicht bezaubert« Inszenierungen von männlicher und weiblicher Autorschaft in Lieddrucken des 18. Jahrhunderts ....................................................... 85 Michael Walter »Norma di Pasta«................................................................................. 115 Mary Ann Smart Voiceless Songs: Maria Malibran as Composer ................................... 137 Rebecca Grotjahn »Mein bessres Ich« Schumanns Myrthen als Selbstbildnis des Künstlers ........................... 159 Laura Tunbridge Listening to Gerhardt through the Ages ............................................. 179

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Inhalt

Christa Brüstle Frauen in der experimentellen Musik: Kreativität in Nischen? Fragwürdigkeiten in der Darstellung von Musikgeschichte der Gegenwart ..................................................................................... 195 Sally Macarthur Difference, Becoming and Event in Women’s Music: Anne Boyd’s Ganba .................................................................................................. 209 Renate Bozic Klang – Raum – Zeit: Die musiktheatralische Welt Adriana Hölszkys jenseits von Genderstereotypen ........................................... 227 Leon Stefanija Authorship in an Era without Geniuses .............................................. 241 Ruth Neubauer-Petzoldt Traumwesen oder durchgeknallte Isländerin: Selbstinszenierungen und mythische Ikonologie der Künstlerin Björk.................................. 253 Autorinnen und Autoren .......................................................................... 281

Vorwort

Der vorliegende Publikationsband ist aus dem Symposium »Autorschaft – Genie – Geschlecht. Musikalische Schaffensprozesse von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart« hervorgegangen, das von 8. bis 10. April 2011 vom Institut für Musikwissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz und dem Zentrum für Genderforschung der Kunstuniversität Graz veranstaltet wurde. Das gesamte Projekt, das neben dem Symposium auch ein Konzert, eine Podiumsdiskussion sowie Posterpräsentationen von Studierenden umfasste, konnte nur durch die Mithilfe vieler Personen und Institutionen realisiert werden, denen an dieser Stelle nochmals herzlich gedankt sei: dem Leiter des Instituts für Musikwissenschaft Michael Walter sowie dem Leiter des Zentrums für Genderforschung Andreas Dorschel, die von Beginn an die Idee und Umsetzung des Vorhabens unterstützten; den studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Christina Lessiak, Sarah Kathrein, Andreas Pirchner und Tjasa Fabjancic für die kompetente Vor-, Haupt-, und Nachbetreuung der Veranstaltung; der Mariann Steegmann Foundation, dem Land Steiermark, der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, der Stadt Graz, der Universität und der Kunstuniversität Graz für die finanzielle Förderung. Die Drucklegung des Publikationsbandes wurde durch die großzügige Unterstützung der Wissenschaftsabteilung des Landes Steiermark ermöglicht. Wir bedanken uns außerdem bei den Herausgeberinnen für die Aufnahme des Bandes in die Reihe »Musik – Kultur – Gender«, bei Verena Paul und Stephan Haring für die redaktionelle Einrichtung der Texte, bei Constance Stöhs für die Korrektur englischsprachiger Beiträge, bei Joachim Schauer für den Entwurf der Titelgrafik und bei Elena Mohr für die Betreuung seitens des Verlags. Nicht zuletzt danken wir allen Referentinnen und Referenten des Symposiums sowie den Künstlerinnen und Künstlern, die durch ihre Vorträge, ihre künstlerische Mitwirkung und zahlreiche Diskussionsbeiträge die Veranstaltung getragen haben. Die drei Begriffe Autorschaft, Genie und Geschlecht bilden einen Rahmen, mit dem zentrale Denkkonzepte über Musik angesprochen sind, die seit mehreren Jahrhunderten den Musikdiskurs dominieren. Sie bis in die Gegenwart weiterzuverfolgen, hat sich dieser Band zur besonderen Aufgabe gemacht. Nach einleitenden Gedanken zum Thema von Susanne Kogler werden von Melanie Unseld und Sigrid Nieberle mit dem Komponisten und der Sängerin zwei Gestalten theoretisch und historisch verortet, um die viele

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Vorwort

Auseinandersetzungen mit Schaffensprozessen, Musikproduktion und -reproduktion kreisen. Die daran anschließenden chronologisch angeordneten Beiträge thematisieren diverse Aspekte von Autorschaft in unterschiedlichen historischen und ästhetischen Kontexten. Kordula Knaus und Susanne Kogler

Susanne Kogler

Autorschaft, Genie, Geschlecht Einleitende Überlegungen zum Thema

Wohl kaum eine andere ästhetische Kategorie war in den letzten Jahrzehnten so stark von Paradigmenwechseln betroffen wie die der Autorschaft, wobei der Wandel von strukturalistischen zu dekonstruktivistischen und postmodernen Perspektiven Kunst und Wissenschaft gleichermaßen betraf. Positionen wie die vom »Tod des Autors« oder – als Reaktion darauf – dessen Reetablierung prägten und prägen künstlerische Vorstellungen ebenso wie analytische Herangehensweisen an musikalische Werke. Für die Genderforschung ist diese Thematik deshalb von grundlegendem Interesse, weil in Geschichte und Gegenwart zu beobachtende Asymmetrien hinsichtlich der Geschlechter nicht nur mit gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen und tradierten Stereotypen korrespondieren, sondern auch mit Auffassungen von Kreativität und Autorschaft in Wechselbeziehung stehen. Autorschaft – Genie – Geschlecht: Jeder der drei Schlüsselbegriffe, mit deren Hilfe dieses Spannungsfeld umrissen werden soll, ist in seiner Komplexität umstritten. Dem Terminus »Genie« haftet jedoch am meisten die Aura des Obsoleten an. Bereits Friedrich Nietzsche wandte sich 1878 kritisch gegen den Genie-Kult seiner Zeit.1 Walter Benjamin schrieb 1936 im Vorwort zur dritten Fassung seines berühmten KunstwerkAufsatzes, dass Begriffe wie »Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis« zur »Verarbeitung des Tatsachenmaterials in faschistischem Sinn« beitragen und daher aus der Ästhetik zu eliminieren seien.2 1 Vgl. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1967–77 (Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe 2), S. 155: »Für große Geister […] ist es […] nützlicher, wenn sie über ihre Kraft und deren Herkunft zur Einsicht kommen, wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen Eigenschaften in ihnen zusammengeflossen sind, welche Glücksumstände hinzutraten: also einmal anhaltende Energie, entschlossene Hinwendung zu einzelnen Zielen, großer persönlicher Muth, sodann das Glück einer Erziehung, welche die besten Lehrer, Vorbilder, Methoden frühzeitig darbot.« 2 Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (3. Fassung), in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften Bd. 1/2, hg. von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1974, S. 473.

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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts traten zunehmend auch Kunstschaffende, wie etwa der Schweizer Komponist Klaus Huber, explizit gegen die Tendenz ein, den Künstler zum genialen Schöpfer zu stilisieren.3 Luigi Nono setzte dem traditionellen Prometheus-Bild, das seit der Renaissance exemplarisch dem des Genies entsprach,4 mit seinem Prometeo eine kritische Revision entgegen, indem er das Hören als neue schöpferische Grundhaltung präsentiert, und stellt damit ein weiteres prominentes Beispiel dafür dar, dass heute Künstlerinnen und Künstler revidierte Auffassungen vom Schaffensprozess vertreten. Sind diese in der »Ära ohne Genies« in der Regel auch nicht mehr vom Gestus des dominanten, das Material beherrschenden Schöpfers geprägt, bleiben dennoch Ambivalenzen, die es zu durchleuchten gilt. In der Literatur genießt der Genie-Begriff allen Veränderungen ästhetischen Denkens zum Trotz nach wie vor große Popularität, was nicht nur die besonders im englischen Sprachraum florierende Biografik über berühmte Wissenschaftler, Musiker, Geschäftsleute oder Erfinder zeigt. Auch wissenschaftliche Abhandlungen zum Thema Kreativität und aktuelle Kunsttheorien operieren nach wie vor mehr oder weniger kritisch mit dem Genie-Topos.5 Christoph Müller-Oberhäuser hat die Situation dahingehend charakterisiert, dass »während der Genie-Begriff für die einen ein unverzichtbarer Bestandteil unseres europäisches Kunstverständnisses« ist, ihn andere als »eine Waffe zur Distinktion und Ausgrenzung im Kampf um Legitimation auf dem künstlerischen Feld« betrachten.6 Aus dem Blickwinkel der Genderforschung zählt »Genie« zweifellos zu den problematischesten Vorstellungen, lassen doch be3 Vgl. Klaus Huber, »Ganzheitserfahrung der Seele«, in: ders., Umgepflügte Zeit. Schriften und Gespräche, hg. von Max Nyfeller, Köln 1999 (Edition Musik Texte 6), S. 26–34, hier: S. 27: »Ohne Zweifel – und mit dem Recht der Notwendigkeit! – hat sich das Denken des Kunstschaffenden über Sinn und Auftrag seiner Tätigkeit entschieden abgewendet von einem Ideal der Glorifizierung der Künstlerpersönlichkeit, wie es sich – mindestens seit der Renaissance – im andächtigen Betrachten mittelgroßer und großer schöpferischer Persönlichkeiten nicht genug bespiegeln konnte, abgewendet auch von einem Ideal der Vergötterung, Vergötzung, das zweifellos in der Spätromantik bis hin zum Jugendstil einige seiner krassesten Blüten trieb.« 4 Siehe dazu auch Paul. A. Bertagnolli, Prometheus in Music. Representations of the Myth in the Romantic Era, Aldershot u. a. 2007. 5 Beispiele hierfür stellen die 1995 in Cambridge erschienene Studie Hans Jürgen Eysencks zum Thema Genius. The Nature and History of Creativity sowie Peter Kivy, The Possessor and the Possessed. Handel, Mozart, Beethoven and Idea of Musical Genius, New Haven/ Conn. 2001, dar. 6 Christoph Müller-Oberhäuser, Art. »Genie«, in: Lexikon Musik und Gender, hg. von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld, Kassel und Stuttgart 2010, S. 352–353, hier: S. 352.

Einleitende Überlegungen zum Thema

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reits die beiden dem Terminus zugrunde liegenden lateinischen Wörter, »genius« und »ingenium«, das Spannungsfeld erkennen, in dem er sich bewegt: Zurückgehend auf das griechische Verb »gignomai« mit dem Bedeutungsfeld »werden, erzeugen, gebären«, impliziert »ingenium« die Vorstellung einer angeborenen Naturanlage, »genius« die einer Personifikation der edlen Wesensart zur persönlichen Geburtsgottheit.7 Beide Aspekte sind in ihrer Verbindung von weitreichender Bedeutung für die nachhaltige Autorität des Begriffs. Sich auf die Natur und zugleich auf eine göttliche Instanz zu berufen, legitimiert die bestehende Position und enthebt der Notwendigkeit jeglicher weiterer Reflexion und Begründung des eigenen Standpunktes. Bereits von Platon wurde der Dichter quasi als Sprachrohr der Gottheit angesehen, die von den Musen inspirierte Manie galt als die Quelle unsterblicher Werke. »Die […] Wahnsinnigkeit von den Musen ergreift eine zarte und heilig geschonte Seele aufregend und befeuernd, und in festlichen Gesängen und anderen Werken der Dichtkunst tausend Taten der Urväter ausschmückend bildet sie die Nachkommen«, ist in Phaidros zu lesen.8 Zu unterstreichen ist hier, dass die Berufung auf die innere und zugleich göttliche Natur die künstlerische Kreation nicht nur der gesellschaftlichen Kontextualisierung entrückt, sondern die Kunst zugleich in den Dienst nimmt, indem sie ihr eine Funktion im Sinne der etablierten Gesellschaft zuweist: die »Taten der Urväter« zu verherrlichen. Die hier bereits deutlich erkennbaren genderrelevanten Polarisierungen und Paradoxa üben bis heute eine nachhaltige Wirkung auf unsere von antiken Vorstellungen geprägte abendländische Kunstauffassung aus. Ein besonders wirkungsmächtiger mit der Idee des Genie verbundener Topos ist der Gegensatz von Natur und Kunst. Bestand bereits in der Antike die Auffassung, dass man zum Dichter geboren sein müsse,9 wurden von der Querelle des anciens et des modernes bis hin zu Romantik und Moderne Naturanlage und Kunstfertigkeit einander immer wieder gegenübergestellt. Für Diderot bestand die Autonomie des Genies darin, dass es sich keinen Normen außer den von ihm selbst gesetzten unterwirft10 – ein Gedanke, der auch die moderne Ausprägung 7 Vgl. Eberhard Ortland, »Genie«, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bänden, Bd. 2, hg. von Karlheinz Barck u. a., Stuttgart und Weimar 2001, S. 661–708, hier: S. 664. 8 Platon, Phaidros, 245 a. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher und Dietrich Kurz, hg. von Gunther Eigler, Darmstadt 2001 (Platon Werke Band 5), S. 65–67. 9 Siehe zu dieser Problematik auch Horaz, De arte poetica, in: ders., Sämtliche Gedichte, hg. von Bernhard Kytzler, Stuttgart 1992, S. 649. 10 Als ein prototypisches Beispiel einer genialen Persönlichkeit kann Rameaus Neffe angesehen werden. Vgl. dazu den satirischen Text: Diderot, Le neveu de Rameau, hg. von Pierre Chartier, Paris 2001.

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des Genies als cool beobachtender Dandy prägt.11 Schelling zufolge zeichnete das Genie die Fähigkeit aus, beide Pole – Natur und Gesetz – vereinigen zu können. Fichte konzipierte das Prinzip der idealistischen Philosophie analog zum Genie-Modell, indem er die voraussetzungslose Selbstsetzung des Ich zum universalen Standpunkt erklärte.12 Dieser Gedanke der Universalität ist ein weiterer bis heute wirkungsmächtiger Topos. Bereits Kant verband den Anspruch des Geschmacksurteils auf Allgemeingültigkeit mit dem GenieBegriff. Während Friedrich Schlegel formulierte, man solle »von jedermann Genie fordern, aber ohne es zu erwarten,«13 leitete Marx aus der Universalität des Genie-Begriffs den Gedanken ab, die dem Genie zugestandene Selbstverwirklichung müsste prinzipiell für alle möglich sein. Auf der Basis des Autonomie-Konzepts bildete sich allerdings auch die Vorstellung einer typisch künstlerischen Existenz heraus, die von der Spannung zwischen innerer Berufung und mangelnder gesellschaftlicher Anerkennung geprägt ist. Das Genie ist von der breiten Masse der Philister doppelt abhängig: Einerseits auf die Bewunderung seiner Verehrergemeinde angewiesen, braucht es diese andererseits als Kontrastfolie. Angewiesen-Sein auf Entdeckung und Verkannt-Sein sind genuine Attribute des Genies, die mit seiner Vorreiterrolle in Hinblick auf die Zukunft korrespondieren. Thomas Bernhard hat diese Auffassung mit seinen Portraits scheiternder Genies literarisch ad absurdum geführt. Zu den mit dem Genie-Begriff verbundenen Paradoxa zählt neben dem Ausschluss von Frauen aus der als geistig verstandenen Allgemeingültigkeit die Verdrängung des weiblichen Anteils an Kreativität aus dem Gesichtsfeld kultureller Produktion. Vielsagend ist in dieser Hinsicht die Funktion, die der rational konzipierten Naturwissenschaft von Francis Bacon zugesprochen wurde: Sie diene dazu, die Natur zu zähmen.14 Dass Natur traditionell weiblich konnotiert ist, Rationalität jedoch männlich,15 trug und trägt zu einer Frauen 11 Mit dieser Ausprägungsform des Genie-Begriffs bei Baudelaire und deren Aktualität beschäftigte sich beispielsweise Jean-François Lyotard, indem er die Figur des Dandys zur Malerei Jacques Monorys in Beziehung setzte. Vgl. Jean-François Lyotard, L’assassinat de l’expérience par la peinture, Monory, Paris 1984, S. 124f. 12 Siehe dazu auch Ortland, »Genie« (Anm. 7), S. 696. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. Marcia Citron, Gender and the Musical Canon, Cambridge u. a., 1993, S. 49. Zur Bedeutung Bacons für die Ästhetik siehe auch Lydia Goehr, Elective Affinities. Musical Essays on the History of Aesthetic Theory, New York und Chichester/West Sussex 2010, S. 108–110. 15 Siehe dazu auch Martin Loeser, Art. »Natur«, in: Lexikon Musik und Gender, hg. von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld, Kassel und Stuttgart 2010, S. 402–404, hier: S. 403: »Das Männliche wurde als erzeugend und befruchtend und damit als ge-

Einleitende Überlegungen zum Thema

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benachteiligenden Hierarchiebildung im Bereich des kompositorischen Schaffens bei. Auf die nachhaltige Wirkung dieser Auffassung von künstlerischer Kreation verweist die starke Betonung rationaler Strukturen und technologischer Neuerungen in der musikalischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Die mit der Technisierung korrespondierende Rationalisierung des Schaffensprozesses ist nicht nur deshalb ambivalent, weil Frauen ideologisch ausgeschlossen werden, sondern auch aufgrund der Funktion, die weibliche Konnotation von Kunst allgemein zu entkräften. Christine Battersby sah darin sogar eine explizite Abwehr kreativer Ambitionen von Frauen.16 Adriana Hölszky kann als Beispiel dafür stehen, wie weit sich auch Komponistinnen mit dieser Ästhetik identifizieren. Die Spannung zwischen der Verbindlichkeit allgemeingültiger Regeln und der Imagination, der Autonomie des Einzelnen auf der Suche nach Innovation, wurde immer wieder neu diskutiert. Die Auffassung, die bereits der englische Kritiker Samuel Johnson 1751 vertrat, dass die Fähigkeit des Genies zur Innovation den Umsturz bisher gültiger Regeln nach sich ziehe, gelangte in der romantischen Autonomieästhetik zur vollen Geltung und behielt ihre Gültigkeit bis ins 21. Jahrhundert.17 Ihr entspricht die Opposition von Natur und Kultur. Die Gegenüberstellung von Zufall auf der einen und Reihentechnik auf der anderen Seite in der Musikästhetik des 20. Jahrhunderts ist ein Indiz der nachhaltigen Wirkung dieser Polarität.18 Die Diskussion um die Gültigkeit allgemeiner Regeln fand auch ihren Niederschlag in der Konzeption der Kategorien des Schönen und des Erhabenen.19 Wie beispielsweise der Eintrag zum Stichwort »Genie« in der Enzykloniehaft angesehen; das Weibliche hingegen als gebärend und empfangend und somit untergeordnet. Mit Blick auf die Musik bedeutet dies eine ›naturgemäße‹ Zuweisung klar differenzierter Rollen und Handlungsspielräume von Männern und Frauen.« 16 Vgl. Citron, Gender and the Musical Canon (Anm. 14), S. 50. 17 »Every new Genius produces some innovation, which when invented and approved, subverts the rules, which the practice of foregoing authors had established«. Konträr zu dieser Auffassung Johnsons steht die sich im Zuge der Aufklärung verbreitende materialistische Auffassung, wie sie paradigmatisch Claude Adrien Helvétius 1758 vertrat, dass geniale Erneuerungen eher Produkt von Kombinationsfähigkeit und Zufall seien, als dass sie sich einer Himmels- oder Naturgabe verdankten. Vgl. Ortland, »Genie« (Anm. 7), S. 684f. und S. 686. 18 Ein besonders wirkungsmächtiges Beispiel für diese Perspektive ist die »Philosophie der neuen Musik« von Theodor W. Adorno. Zu Adornos Bedeutung für die Genderforschung siehe Maggie O’Neill (Hg.), Adorno, Culture and Feminism, London u. a. 1999. 19 Jean-François de Saint-Lambert schrieb in der Encyclopédie zum Stichwort »Genie«: »Pour qu’une chose soit belle selon les règles du goût, il faut qu’elle soit élégante, finie, travaillée sans le paroitre: pour être de génie il faut quelquefois qu’elle soit négligée,

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pädie zeigt, wurde die traditionelle Konnotation von Natur als weiblich durch die Unterscheidung von »schön« und »erhaben« überformt. Der weibliche Part, Schönheit, wurde seit Kant dem geistigen, der Domäne des männlichen Genies, untergeordnet.20 Dass beispielsweise noch Jean-François Lyotard bei seiner Gegenüberstellung von Schönheit und Erhabenheit auf den Gegensatz männlich/weiblich zurückgriff,21 zeigt einmal mehr die Wirkungsmacht solch stereotyper Zuschreibungen. Eine Konsequenz dieser bipolaren Auffassung ist, dass »Autorschaft« im Sinne geistiger Urheberschaft tendenziell männlich konnotiert wird. Die damit einhergehende Hierarchie entspricht der patriarchalen Gesellschaftsordnung und dem seit dem 19. Jahrhundert prägenden Künstlerbild, das auch das musiktheatralische Oeuvre des 19. und 20. Jahrhunderts wie das Liedrepertoire charakterisiert.22 Während Männer unvergängliche kanonbildende Werke und damit kulturelle Höchstleistungen kreieren, bringen Frauen lediglich vergängliche Lebewesen hervor und inspirieren die in sie verliebten Genies. Entscheidend für die Ausprägung solch gender-relevanter Strukturen war nicht nur, dass das Wort, Logos, mit mental-schöpferischer Schaffenskraft assoziiert wurde, sondern auch, dass alles schriftlich Fixierte höheres Ansehen genoss als mündlich Tradiertes. Bis heute prägt dieses Wertungsmuster die Musikwissenschaften ebenso wie die musikalische Praxis: Aufführungen eigener Werke, Sprechen und Schreiben über eigene und fremde Musik sowohl in Form von Musikkritik als auch als wissenschaftliche Beschäftigung sind nach wie vor mehrheitlich in männlicher Hand. Aufgabe und Erkennungsmerkmal des Genies ist die Hervorbringung autonomer Werke. Mit dieser Auffassung korrespondiert, dass Frauen als Interpretinnen eigener Werke und im Bereich der experimentellen Musik, wo der Werkbegriff qu’elle ait l’air irrégulier, escarpe, sauvage. Le sublime & le génie brillent dans Shakespeare comme des éclairs dans une longue nuit, & Racine est toujours beau: Homer est plein de génie, & Virgile d’élégance.« Vgl. Ortland, »Genie« (Anm. 7), S. 687. 20 Vgl. Nina Noeske, Art. »Schönheit/Hässlichkeit«, in: Lexikon Musik und Gender, hg. von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld, Kassel und Stuttgart 2010, S. 459–460, hier: S. 459: »Für die Gender Studies relevant ist inbesondere die gängige Bezeichnung der Frauen als das ›schöne‹ Geschlecht: So wird der Bereich der Schönheit häufig einseitig dem ›Weiblichen‹ zugeordnet. Eine ›hässliche Frau‹ stellt demzufolge seit jeher eine maximal defizitäre Erscheinung dar, da – im Gegensatz zum ›hässlichen Mann‹ – die Möglichkeit der Kompensation durch den ›Geist‹ wegfalle.« 21 Vgl. Jean-François Lyotard, Leçons sur l’Analytique du sublime, Paris, 1991, S. 160–162. Zur Relevanz Lyotards für die Genderforschung siehe auch Rada Ivekovic, »Jean-François Lyotard, le penseur du postmoderne«, in: A partir de Jean-François Lyotard, hg. von Claude Amey und Jean-Paul Olive, Paris 2000, S. 175–193. 22 Aus einer Vielzahl an Beispielen seien stellvertretend Alban Bergs Lulu, Jacques Offenbachs Hoffmanns Erzählungen und Robert Schumanns Dichterliebe genannt.

Einleitende Überlegungen zum Thema

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keine essentielle Rolle spielt, deutlich zahlreicher vertreten sind als als Schöpferinnen. Welch hoher Stellenwert an der Genese eines Werkes auch den Interpretinnen und Interpreten zukommt und welchen Einfluss sie auf die konkrete Werkgestalt nehmen können, hat in jüngerer Zeit die PerformanceForschung hervorgehoben.23 Ein aus dieser männlich konnotierten Konzeption von Autorschaft resultierender Faktor ist, dass, während sich Männer selbstverständlich in der Rolle des Schöpfers sehen, Frauen ihrem eigenen kreativen Schaffen oft ambivalent gegenüberstehen. Marcia Citron sprach in diesem Zusammenhang von »Anxiety of Authorship«24. Ein im Vergleich zu männlichen Kollegen frappanter Mangel an Selbstvertrauen charakterisierte bekanntlich selbst so erfolgreiche Musikerinnen wie Fanny Hensel und Clara Schumann.25 Asymmetrien hinsichtlich der Geschlechter prägen auch die Selbstdarstellung von Künstlern und Künstlerinnen, wobei die Vielfalt der Selbstinszenierungsformen in allen Genres und Epochen von Bescheidenheitstopoi bis zur Demonstration auktorialen Selbstbewusstseins reicht. Auch Konkurrenz spielt bei der Wahl der jeweiligen Selbstinszenierungsstrategie eine wichtige Rolle. Dass sich kreativ ambitionierte Frauen als Ausnahmeerscheinungen und daher Außenseiterinnen fühlten, ist auch eine Folge der traditionsbildenden Funktion, die seit der Antike der Dichtkunst zugesprochen wird. Eine weibliche Tradition, in der Mentorinnen, Mäzeninnen und insbesondere familiäre Vorbilder ihren Platz finden könnten, wäre dagegen in der Musikgeschichtsschreibung erst zu konstituieren.26 Dass solche Bestrebungen in der Forschung auch heute noch eher Randerscheinungen darstellen,27 erklärt sich wohl nicht zuletzt daraus, dass sie komplexe Wertungsfragen aufwerfen und weitreichende etablierte Denkmuster wie etwa die Unterscheidung von privat und öffentlich oder das Rollenverständnis des Autors als alleiniger rechtlich geschützter Urheber in Frage stellen. Es ist wiederum die experimentelle Kunst, 23 Siehe dazu im Besonderen die für die Genderforschung relevanten Bände Performativität und Performance. Geschlecht in Musik, Theater und MedienKunst, hg. von Martina Oster, Münster 2008 (Focus Gender 8), und Andrea Ellmeier u. a. (Hgg.), Gender Performances. Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film, Wien u. a. 2011 (Mdw Gender Wissen 2). 24 Vgl. Citron, Gender and the Musical Canon (Anm. 14), S. 54–56. 25 Siehe dazu u. a. Monica Steegmann und Eva Rieger (Hgg.), Frauen mit Flügel. Lebensberichte berühmter Pianistinnen; von Clara Schumann bis Clara Haskil, Frankfurt a.  M. 1996, und Ute Büchter-Römer, Fanny Mendelssohn-Hensel, Reinbek bei Hamburg 2001. 26 Siehe dazu auch Katharina Pewny, Ihre Welt bedeuten. Feminismus, Theater, Repräsentation, Königstein 2002. 27 Vgl. Citron, Gender and the Musical Canon (Anm. 14), S. 63.

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wo solche Kategorien kreativ und praktisch aufgebrochen werden. Dass diese von der Musikwissenschaft nach wie vor eher am Rande wahrgenommen wird, signalisiert ein Forschungsdesiderat. Besonders umstritten ist auch die Frage, inwieweit eine weibliche Ästhetik zu etablieren sinnvoll sein könnte. In einem 1994 erstmalig publizierten Text mit dem Titel »Frauen lesen anders« stellte die Germanistin Ruth Klüger fest, dass Bücher auf Frauen und Männer anders wirken. Sowohl Frauenrechtlerinnen als auch deren Gegner reagierten ambivalent auf diese Feststellung. Dass sie auch für die Rezeption von Musik gültig ist, liegt allerdings nahe. In der Folge ist ebenso zu vermuten, dass der weibliche Blickwinkel zu vom männlichen Mainstream differierenden Werken führen dürfte. Marcia Citron hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Fehlen einer weiblichen Tradition zu unterschiedlichen Strategien bei Männern und Frauen führt, sich zur Vergangenheit in Beziehung zu setzen. Mussten Männer Distanz zu den Vätern suchen, um ihre Originalität und Innovationskraft zu beweisen, hatten sich Frauen entweder als genuin anders oder als ebenso gut wie die Männer zu positionieren.28 Eine in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzende weibliche Strategie, die eigene schöpferische Kreativität in Kunst und Wissenschaft zu verwirklichen, ist der Rückzug aus der Öffentlichkeit und aus etablierten männlich dominierten hierarchisch organisierten Institutionen. Sind Frauen als Rezipientinnen oft in der Situation, den männlichen Blickwinkel, z. B. den des Regisseurs, übernehmen zu müssen, ist die Dekonstruktion von Mythen und den mit ihnen verbundenen geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen, wie beispielsweise die der Muse, aber auch praxisimmanenten, wie die der »idealen Interpretin«, ein damit zusammenhängendes Anliegen aus weiblicher Sicht. Das Aufbrechen bipolarer Denkmuster und das Aufzeigen der Wirkungsmacht von Topoi stellen sich als Hauptdesiderate aktueller Forschung dar. Die Musikgeschichtsschreibung ist bis heute von der Stilisierung von Komponisten wie Beethoven, Mozart oder Chopin zu Genies geprägt, wobei unterschiedliche Topoi von Bedeutung sind: bei Beethoven der des Heroischen, bei Mozart, der entsprechend den Genie-Vorstellungen seiner Zeit vom Vater mit Kalkül in der Gesellschaft eingeführt, später von den Zeitgenossen kaum beachtet wurde, der des Wunderkinds sowie der des verkannten Genies.29 Bei Chopin fungiert neben den bereits genannten im Besonderen das 28 Vgl. Citron, Gender and the Musical Canon (Anm. 14), S. 68. 29 Siehe dazu u.  a. Ruth Neubauer-Petzoldt, »Modellfall – ›Genie‹ – Mythos. Norbert Elias und sein Blick auf den bürgerlichen Künstler Mozart«, in: Mozart – Eine Herausforderung für Literatur und Denken, hg. von Rüdiger Görner, Bern 2007 ( Jahrbuch für

Einleitende Überlegungen zum Thema

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Leiden an der Welt als Topos.30 Aus feministischer Perspektive ist der mit dem Genie-Begriff verbundene Qualitätsmaßstab problematisch,31 der als Auslesekriterium dient. Eberhart Ortland verwies kritisch auf die mit dem Begriff verbundene Funktion, »Ungleichheit in einer für alle Beteiligten akzeptablen Weise zu legitimieren«32, und darauf, dass es wohl der Gedanke einer »Apotheose der individuellen Eigenart«33 ist, die der Begriff im Kern enthält, der seine Resistenz und seine nachhaltige Anziehungskraft in unserer postmodernen Moderne begründet. Mehr und mehr lösen heute systemtheoretische Perspektiven den Kult des herausragenden Individuums ab.34 Allerdings gilt auch die Abschaffung des Genies in poststrukturalistischem Kontext als nicht unproblematisch. Christine Battersby plädierte beispielsweise für die Aneignung des Geniebegriffs, wie sie auch Julia Kristeva in ihrer dreiteiligen Abhandlung mit dem Titel »Le génie féminin« praktizierte. Unverzichtbar erscheint vielen auch das Ideal der Innovation.35 Die parallel zur Kunst auch in der Philosophie zu beobachtende Veränderung der Haltung zum Genie-Begriff korrespondiert mit einer veränderten Auffassung von Autorschaft, für die Roland Barthes’ besonders im Spätwerk deutlich werdende Maxime, »écrire le corps«, den Körper schreiben, exemplarisch stehen kann. Allerdings zeigt sich auch hier, dass tradierte Vorstellungen nach wie vor fortwirken. Barthes intendiert, ausgehend von der Rezeption von Internationale Germanistik A/89), S.  311–336, sowie Lewis Lockwood, »Beethoven, Florestan and the Varieties of Heroism«, in: Beethoven and His World, hg. von Scott Brunham und Michael P. Steinberg, Priceton/N.J. 2000, S. 27–47. 30 »Das musikalische Genie« lautet beispielsweise ein Kapitel aus der 2010 in deutscher Übersetzung erschienenen Chopin-Biographie Adam Zamoyskis. Wie der Klappentext werbewirksam betont, wurde das auch in einer englischen Ausgabe vorliegende Buch von der Zeitung Eastern Province Herald als »Das umfassende Portrait des größten Genies der Musikgeschichte« klassifiziert. Vgl. Adam Zamoyski, Chopin. Der Poet am Piano, München 2010. 31 Nach Kant ist Genie die »musterhafte Originalität der Naturgabe eines Subjets im freien Gebrauche seiner Erkenntnisvermögen«, aus der die als vorbildhaft anerkannte Qualität des Werkes resultiert. Natur meint in diesem Zusammenhang das »übersinnliche Substrat« aller Vermögen des Subjekts. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hg. von Wilhelm Weischedel, 13. Aufl., Frankfurt a. M. 1994 (Werke Bd. 10), S. 255 und S. 286. 32 Ortland, »Genie« (Anm. 7), S. 662. 33 Ebd., S 667. 34 Vgl. ebd., S. 706. 35 Ortland beruft sich in diesem Zusammenhang auf die Ästhetische Theorie Adornos. Vgl. Ortland, »Genie« (Anm.  7), hier: S.  708: »der Augenblick, da die Methexis des Kunstwerks an der Sprache die Konvention als zufällig unter sich lässt«, wie es Adorno formulierte.

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Schumanns Kreisleriana, die Überwindung der bipolaren Trennung von Körper und Geist. Wie Gabriele Röttger-Denker dargelegt hat,36 ist der Körper als Ort des Begehrens allerdings immer auf ein unerreichbares Objekt hin ausgerichtet. Im Falle des romantischen Liedes ist dieses abwesende Liebesobjekt Barthes zufolge die Mutter. Texte der Lust zu produzieren, erotische Texte, ist sein ausdrücklicher Wunsch: »Il faudrait presque parler du donjuanisme du texte«, schreibt er beispielsweise in »Le grain de la voix«.37 Wie für Nietzsche das Genie im Instinkt sitzt, produziert der Künstler, der auf das Verlangen des Körpers hört, Barthes zufolge das von der Kultur Ausgesparte, das Triebhafte. Goethes Werther und Platons Symposion nennt Barthes unter anderem als Beispiele für eine fragmentarische Sprache der Liebe, wie sie ihm vorschwebt. Sokrates, der bezeichnenderweise wiedergibt, was ihm Diotima eingegeben hat, definiert Liebe als Sublimierung: Auf dem Weg zur Unsterblichkeit wird der geistigen Kreation, dem dichterischen Schaffen, der Vorrang vor der Zeugung von Kindern zugesprochen. Ist es auch Barthes Auffassung nach unerlässlich, das Illusionäre eines solchen kompensatorischen dichterischen Liebesaktes von Anfang an mitzudenken,38 drängt sich dennoch der Verdacht auf, dass auch hier die körperliche Sprache des Begehrens ein Bild der Frau weiterschreibt, das diese – als Muse – zum Schweigen verurteilt. Anhand von Werthers erster Begegnung mit Lotte analysiert er, dass sich in der schwärmerischen Liebe das Ich des Liebenden gleichsam verzehre: »Das Objekt hat sich an die Stelle des Ich-Ideals gesetzt.«39 In der absoluten Verehrung der Geliebten verliert das Ich seine Männlichkeit, regrediert zum Kind, während die Geliebte zur unerreichbaren Mutterfigur, zur unberührbaren Heiligen anwächst, sodass jegliche körperliche Annäherung unmöglich wird. Schreiben wird nach dem Vorbild der Musik zum unabschließbaren fragmentarischen Prozess der Selbstvergewisserung.40 Auch Nono hat in seinem berühmten Streichquartett Fragmente – Stille an Diotima den Topos der inspirierenden, verstummten Geliebten weitergeschrieben. Luce Irigaray kritisierte die Einsamkeit und Selbstzentriertheit der männlichen Sprache der Liebe als ein Sprechen »durch unsere Körper hindurch, über unsere Köpfe hinweg«41. 36 Vgl. Gabriele Röttger-Denker, Roland Barthes zur Einführung, 2. überarbeitete Aufl., Hamburg 1997. 37 Vgl. ebd., S. 62. 38 »Wissen, dass man nicht für den anderen schreibt, wissen, dass diese Dinge, die ich schreibe, mir nie die Liebe dessen eintragen werden, den ich liebe […] – das ist der Anfang des Schreibens.« Röttger-Denker, Roland Barthes (Anm. 36), S. 79. 39 Ebd., S. 80. 40 Vgl. ebd., S. 123. 41 Ebd., S. 83.

Einleitende Überlegungen zum Thema

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Selbstkritischer erscheint dagegen die Sichtweise Thomas Manns, der in Lotte in Weimar die von Werther Angebetete selbst zu Wort kommen ließ. Wie Doktor Faustus kann auch dieser Roman als Auseinandersetzung mit dem von Goethe geprägten Genie-Begriff angesehen werden.42 Als Anwältin der sinnlichen Welt gegen die geistige wendet sich Manns Lotte gegen eine als »eine Art von Spiel« erkannte Leidenschaft, auf die »gar kein menschlich Bauen war«, sondern die als »etwas wie ein Herzensmittel zu außerwirklichen – wir durften es kaum denken: zu außermenschlichen Zwecken«43 fungierte. Sie sagt: »Die Welt, so hoffe ich, wird es verstehen, dass ein Mädchen sich freut und es genießt, wenn nicht Einer nur ihre bräutliche Blüte sieht, nicht nur der, dem sie gilt, […] sondern wenn auch Andere, Dritte dafür Augen haben, denn das bestätigt ja unseren Wert – […] wie es mich denn freute, meinen guten Lebensverbündeten sich treulich freuen zu sehen an meinen Erfolgen bei anderen, und besonders bei dem besonderen, genialischen Freunde, den er bewunderte und dem er vertraute wie mir – oder besser gesagt, etwas anders als mir, auf etwas weniger ehrenvolle Weise […]. Kestner vertraute mir, weil er mich ernst nahm, jenem aber vertraute er, weil er ihn nicht ernst nahm, obgleich er ihn ja doch so sehr bewunderte ob seines Glanzes und seines Genius und Mitleid hatte mit den Leiden, die seine ziellose Poetenliebe ihm bereitete.«44

Auch Autorinnen haben immer wieder die einseitig besetzten Topoi aufgegriffen, um sie sich auf ihre Weise anzueignen und zu transformieren – allerdings nicht ohne Widerstände. So wurde Olga Neuwirths Don Giovanni-Projekt nach einem gesellschaftspolitisch brisanten Libretto Elfriede Jelineks für die Salzburger Festspiele im Mozart-Jahr 2006 nie realisiert. Jelinek äußerte sich 42 Zu Goethes Einfluss auf die Vorstellung vom Genie siehe auch Bertagnolli, Prometheus in Music (Anm. 4), S. 1–25. 43 Thomas Mann, »Lotte in Weimar«, Gesammelte Werke in Einzelbänden Bd. 2, Frankfurt a. M. 1990, S. 467. 44 Mann, »Lotte in Weimar« (Anm. 43), S. 462f. In der Folge findet sie noch weit deutlichere Worte: »Ein wackerer Jüngling sollte das Mädchen, dem er seine Liebe weiht, und dem er seine Huldigung darbringt – Huldigungen, die doch auch Werbungen sind und selbstverständlich das Mädchen beeindrucken – desto mehr, versteht sich, je besonderer und glänzender der fragliche Jüngling sich darstellt und je belebender seine Gesellschaft ist, und die manches natürliche Entgegenkommen in ihrem Busen aufrufen: – der Jüngling, meine ich, sollte das Mädchen seiner Wahl auch wirklich auf eigene Hand erwählen, es selber entdecken auf seiner Lebensfahrt, selbständig ihren Wert erkennen und sie hervorziehen aus dem Dunkel des Unerkanntseins, um sie zu lieben.« Mann, »Lotte in Weimar« (Anm. 43), S. 464f.

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zu ihrem Libretto, das den Fall des wegen Kinderschändung und Mord verurteilten Kärntner Kinderpsychiaters Franz Wurst thematisiert: »Wir haben Sehnsucht nach Lust, aber wir bekommen sie nicht so oft, nie so oft, wie wir sie brauchen könnten, denn die Verhältnisse, die widersetzen sich und wollen kaum jemals so wie wir wollen. Und die Differenz ist Sprechen oder Schweigen. Ich habe mich im Libretto Der Fall des Hans W. für das Sprechen über das Schweigen entschieden. Und die Musik sollte […] sprechen (wenigstens sprechen lassen hätte man sie sollen!).«45

Als Olga Neuwirth bei den Wiener Festwochen als Performerin auftrat, um zum Der Don Giovanni-Komplex betitelten Theaterstück von Erwin Riess Live-Musik beizusteuern, entschied sie sich für eine »Parallel-Klang-Aktion«, bei der sie die Ouvertüre von Mozarts Don Giovanni unter Klangverstärkung abschrieb. »Ich nehme dem Klang den Don-Juanismus, die Sinnlichkeit, die Verführung weg. […] der Akt des Schreibens steht im Vordergrund«, kommentierte die Komponistin diese Aktion, mit der sie sich auch gegen »ewige Rückbesinnungen und Reproduktionen des Vergangenen«, die neue Impulse vernichten, wandte.46 Gerade solch aktuelle Beispiele vereitelter künstlerischer Manifestationen zeigen, in welch hohem Maße Genie immer auch ein Produkt der Rezeption ist – in der Gegenwart wie in der Geschichte. Die Auslese hinsichtlich Sichtbarkeit von Künstlerinnen und Künstlern, Autorinnen und Autoren beginnt in der jeweiligen Gegenwart in unterschiedlichen historischen Kontexten und steht im Spannungsfeld realer Machtstrukturen von der höfischen Repräsentation bis zur Verbindung von Politik, Macht und künstlerischem Erfolg in der NS-Zeit. Die Bedeutung von Rezeption zu reflektieren und in das Verständnis der eigenen Arbeit zu integrieren, ist auch Aufgabe der Wissenschaft. In ihrer Darstellung des Denkens von Hannah Arendt, im ersten Band der Trilogie »Das weibliche Genie«, hat Julia Kristeva darauf hingewiesen, dass für Arendt vor allem die Betrachtenden und Denkenden, vielleicht mehr als die Akteure selbst, die Polis zu einem politischen Ort der Erinnerung und der Geschichte machten. In der Moderne bestehe die Gefahr, dass Erinnerung verloren gehe.47 Um 45 Elfriede Jelinek, »Requiem auf eine Oper«, in: Olga Neuwirth. Zwischen den Stühlen, hg. von Stefan Drees, Salzburg, 2008, S. 319–325, hier: S. 319. 46 Vgl. Daniel Ender, »Olga Neuwirth über das Festwochen-Projekt ›Der Don-GiovanniKomplex‹«, in: Der Standard, 3./4. Juni 2006. 47 Vgl. Julia Kristeva, Le génie féminin. La vie, la folie, les mots, Bd. 1: Hannah Arendt, Paris 1999, S. 125.

Einleitende Überlegungen zum Thema

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dieser Gefahr zu begegnen entwirft Arendt ausgehend von Aristoteles’ Dramentheorie ein Konzept von Narration als politische Handlung, die sich gegen die Flüchtigkeit des individuellen Lebens richtet.48 Damit eine Narration nicht erstarre, gelte es, weniger deren Autor bzw. Autorin ins Zentrum zu stellen als die mit der Erzählung verbundene Entdeckung der Einzigartigkeit des erzählten Lebens. Mit der Betonung des Beginns, der mit jeder Aktion verbunden sei, und des Wortes, das im Nachhinein eine Biografie entstehen lässt, modifiziert Arendt sowohl das Konzept von Autorschaft als auch den überlieferten Genie-Begriff,49 dessen Herausbildung in der Renaissance für Arendt Folge des Transzendenzverlusts war, der durch Transfer des Göttlichen auf herausragende Menschen kompensiert werden sollte.50 Ihrer Ansicht nach kennzeichnet das Genie eine spezifische Einstellung zur Zeit: der Sinn für die revolutionäre Zeit des Umbruchs, der auch Sinn für Unterbrechungen einschließt. Die Kritikund Urteilsfähigkeit des Genies stehe immer in Bezug zur menschlichen Gemeinschaft.51 Das spezifisch Menschliche und zugleich Individuelle, das was die Griechen als Daimon bezeichneten, enthülle sich erst dem Blick des anderen, auf dessen Frage »Wer bist du?«. Die Singularität jedes einzelnen, die das emphatisch menschliche über das rein biologische Leben hinauswachsen lässt, aktualisiert sich für Arendt in der Pluralität der Gemeinschaft. Mit dieser Konzeption des individuellen Wesens des Menschen überwindet sie die Polarität von Einzelnem und Gesellschaft, von Natur und Kultur.52 Da die Menschen alle gleich, jedoch nicht identisch sind, ist Pluralität ihrer Ansicht nach Grundbedingung jeglichen politischen Handelns, wodurch auch, wie Kristeva hervorhebt, die Geschlechterdifferenz einen zentralen Stellenwert erhält. Sind diese Überlegungen Hanna Arendts einerseits für das Verständnis künstlerischer Autorschaft und damit für Fragen der Rezeption von Interesse, bieten sie andererseits Anregungen zum Überdenken der Konzeption von Autorschaft in der Wissenschaft, im Besonderen auf dem Gebiete der Biografik.53 48 Vgl. ebd., S. 129. 49 Vgl. ebd., S. 230. Was den Menschen zum Menschen macht, ist für Arendt die ihm mit der Geburt mitgegebene Freiheit, kraft seines Denkens in Verbindung mit den anderen, der politischen Gemeinschaft, einen Neuanfang zu setzen. 50 Vgl. ebd., S. 8. 51 »Ce qui l’émeut, émeut. Ce qui lui plait, plait / Son heureux goût est le goût du monde.« Hannah Arendt, Vies politiques, zitiert nach: Kristeva, Le génie féminin (Anm.  47), S. 270. 52 Vgl. ebd., S. 278. 53 Vgl. ebd., S. 298. Statt Auflösung des Bestehenden ist In-Frage-Stellen ihre Methodik, wobei sie im Besonderen die moderne Trennung von sinnlicher und übersinnlicher Welt zu überwinden intendiert.

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In der aktiven Rezeption verbinden sich Denken und sinnliche Wahrnehmung, Schreiben wird zum Akt der Erinnerung54 und vollzieht sich Arendt zufolge somit in gewissem Sinne außerhalb der Zeit.55 Indem das Besondere als solches beurteilt werde, ohne zu vergleichen, werde das für die Moderne charakteristische lineare Fortschrittsdenken außer Kraft gesetzt. Es ist für Arendt mit Menschenwürde unvereinbar.56 Statt einer neutralen Logik des Sinns oder der Tradition steht der konkrete Raum der Individuation, wie er von jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt wird, im Zentrum. Das Singuläre wird zur Quelle des kreativen Prozesses. Nicht Arbeit oder Werk, sondern die Aktion ist Arendt zufolge entscheidend, in deren Verlauf sich der Wesenskern des Individuums enthüllt. Für diese Enthüllung ist das Individuum auf die Erzählung, den Beobachtenden angewiesen. Das Publikum unterscheidet sich nicht nur von den Handelnden, sondern auch vom Genie.57 Verflüssigen sich hier die Grenzen zwischen Produktion und Reproduktion, rücken mit der Wechselbezogenheit von Rezeption, Interpretation und Autorschaft Zwischenbereiche ins Blickfeld, die gemeinsam mit neueren künstlerischen Entwicklungen die Frage nahe legen, ob Begriffe wie Innovation und Kreation im Sinne einer creatio ex nihilo durch Vorstellungen von Kreation als Transformation, Überschreibung und Übersetzung wenn nicht ersetzt, so doch zumindest ergänzt werden müssen.

54 Vgl. ebd., S. 282. Wollen und Lieben im Sinne von Augustinus: »Amo: volo ut sis«. 55 Vgl. ebd., S.  315. Da nicht so sehr die Akteure, sondern die Betrachtenden die Geschichte schreiben, wird das kontemplative Moment des Denkens sichtbar, das die Basis für Unsterblichkeit darstellt. Allerdings sind die Denkenden auch immer der Welt verbunden, sodass sie sich ihrer Gespaltenheit bewusst werden. Denken und Am-LebenSein sind für Hanna Arendt eins. Das Glück des Denkens ist für sie ein euphorischer Zustand, der der Trunkenheit ähnelt. 56 Vgl. ebd., S. 355f. 57 Vgl. ebd., S. 351f. Mit Kant ist das Entscheidende für Arendt der Geschmack, verbunden mit Kommunizierbarkeit und der Fähigkeit zu urteilen. Arendts Überlegungen zu Kants Kritik der Urteilskraft unterstreichen dessen Intention, eine politische Urteilsfähigkeit nach dem Modell des ästhetischen Urteils zu entwerfen.

Melanie Unseld

Genie und Geschlecht Strategien der Musikgeschichtsschreibung und der Selbstinszenierung

Die Musikgeschichtsschreibung verortet den Genie-Begriff, von Christine Battersby als »bedrock of European culture«1 bezeichnet, vor allem im 19.  Jahrhundert. Zu Recht, denn die weitreichenden Diskussionen um das musikalische Kunstwerk und seinen Urheber, die Emphatisierung des Komponisten als Schöpfer, die prinzipielle Zuordnung des Mannes zum Bereich des Genialischen und schließlich die damit zusammenhängenden Wirkkräfte von Musikästhetik, Historisierung und Kanonisierung sind spätestens nach 1827 überdeutlich wahrzunehmen. Zu Unrecht allerdings, nimmt man das Ringen um den Genie-Begriff zur Zeit der Aufklärung und innerhalb der gegenaufklärerischen Strömungen in den Blick. Dass und wie intensiv hier Elemente des späteren Genie-Begriffs diskutiert wurden und wie eng dies mit dem sich wandelnden Bild vom Komponisten um 1800 in Verbindung stand, scheint nicht unerheblich zu sein, zumal im ausgehenden 18. Jahrhundert die Geschlechterfrage neuerlich in einem Aushandlungsprozess begriffen war.2 Denn deutlich ist die grundlegende Veränderung, die zwischen einem Konzept liegt, wie es etwa Ernst Ludwig Gerber in seinem »HistorischBiographischen Lexicon der Tonkünstler« (1790/92) vorstellte und dabei das Personal der an der Musikkultur aktiv Beteiligten weit fasste – vom »großen Genie« über Sängerinnen und Sänger bis zu »geschickte[n] Orgel- und Instrumentenmachern«3 – und einem Konzept, wie es fast zeitgleich etwa von 1 Christine Battersby, Gender and Genius. Toward a Feminist Aesthetics, London 1989, S. 3. 2 Einen Überblick über die Geschlechterdebatte um 1800 gibt die Anthologie von Sigrid Lange (Hg.), Ob die Weiber Menschen sind. Geschlechterdebatten um 1800, Leipzig 1992. Vgl. zur Thematik auch Ina Schabert und Barbara Schaff (Hgg.), Autorschaft. Genus und Genie in der Zeit um 1800, Berlin 1994. 3 Ernst Ludwig Gerber, Historisch-Biographisches Lexicon der Tonkünstler; welches Nachrichten von dem Leben und Werken musikalischer Schriftsteller, berühmter Componisten, Sänger, Meister auf Instrumenten, Dilettanten, Orgel- und Instrumentenmacher enthält, Leipzig 1790, S. VIII.

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Friedrich Rochlitz vorgelegt wurde, die »ausgezeichnetsten Männer«4 als Akteure von musikhistorischer Relevanz in den Blick nehmend. Die Genie-Diskussion, die Herausbildung eines Komponisten-Subjekts als Grundlage von Musikgeschichtsschreibung und die Geschlechterdebatte begegnen sich im 18. Jahrhundert in der übergreifenden Fragestellung, wie das moderne, sich von alten Hierarchien lösende, sich zugleich in seiner Volatilität bewusste Subjekt zu denken sei. Eine aus dem Geist der (Auto)Biografie entstehende Musikgeschichtsschreibung stand damit inmitten dieses Triangulums: Auf der Suche nach Argumenten, den Komponisten als aus dem weiten Kreis der biografiewürdigen Personen herausragendes Subjekt zum Gegenstand der Musikgeschichtsschreibung zu machen, stand die allgemeine Genie-Diskussion bereit, die dem männlichen Genie eigene Exponiertheit zum Kriterium der Geschichtswürdigkeit zu machen. Damit aber gelangte auf die musikhistoriografische Agenda, ein entsprechendes Bild für den Komponisten – als Person wie als Urheber musikalischer Kunstwerke – zu finden, weit über die gerade erst erlangte Biografiewürdigkeit hinaus.5 Dies erschien umso dringlicher, als der Charakter eines Komponisten mit seiner Musik gleichgesetzt wurde; Johann Mattheson etwa geht davon aus, dass sich die für die Biografiewürdigkeit notwendige moralische Integrität auch in der »Schreibart« der Komponisten erkennen lasse. Wenig später konnte über die Darstellung des Ausnahmecharakters des Komponisten die Avanciertheit seiner Werke argumentiert werden, ein Kriterium, das in zunehmendem Maße und im Zusammenhang mit der Idee des ästhetischen Fortschritts an Bedeutung gewann. Anders als etwa noch Mattheson, der den Musiker und die Musikerin qua moralischer Integrität als biografie- und damit geschichtswürdig erachtete,6 galt es nun, nicht das vorbildliche, sondern das herausgehobene, ästhetisch avancierte, männliche, komponierende Subjekt als Gegenstand der Musikgeschichtsschreibung zu legitimieren.7

4 Rochlitz, »Verbürgte Anekdoten aus Wolfgang Gottlieb Mozarts Leben. Ein Beytrag zur richtigern Kenntnis dieses Mannes, als Mensch und Künstler« in: Allgemeine musikalische Zeitung 1/Nr. 2 (1798), Sp. 17–24, hier: Sp. 17. 5 Vgl. dazu Melanie Unseld, Biographie und Musikgeschichte (in Vorbereitung). 6 Vgl. dazu Melanie Unseld, »Eine Frage des Charakters? Biographiewürdigkeit von Musikern im Spiegel von Anekdotik und Musikgeschichtsschreibung«, in: Anekdote – Biographie – Kanon. Zur Geschichtsschreibung in den Schönen Künsten, hg. von ders. und Christian von Zimmermann, Köln und Wien (Biographik. Geschichte – Kritik – Praxis 1) (in Druck). 7 Dass gleichwohl bereits bei Mattheson die Grundlage eines exponierten Individualsubjekts (Komponist) gelegt wurde, darauf wird später noch einzugehen sein.

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Der das 18. Jahrhundert maßgeblich umformende Prozess, dass Standesprivilegien »durch die Forderung nach moralischer und menschlicher Gleichstellung in Frage gestellt werden«8, führte unabweislich zu einem veränderten Bewusstsein von und zu einem Nachdenken über das, was ein Subjekt sei. Dass damit freilich nicht ad hoc das Individualsubjekt installiert worden war, darauf weist Cornelia Klinger zu Recht hin: »Die neuen Ideen von Freiheit und Gleichheit aller Menschen vermeiden mindestens im ersten Schritt die Berührung mit dem Individuellen […]. Die Idee der Menschheit bzw. des Subjekts wird mit der Position der Allgemeinheit identifiziert und vom empirischen Subjekt in seiner Bedingtheit und Endlichkeit abgegrenzt.«9

Und Andreas Reckwitz gibt ähnlich zu bedenken, dass es zunächst nicht um ein »expressives Individualsubjekt« gehe, sondern um das »Allgemeinsubjekt« als Träger der bürgerlich-demokratischen Idee: »Die bürgerliche Kultur modelliert ihre körperlich-mentalen Träger im emphatischen, anti-traditionalen Sinne als ›Subjekte‹, die eine autonome Selbstregierung und kritische Distanzierung von religiöser Tradition betreiben. Gleichzeitig macht sie die Subjektivität nicht zu einem arbiträren Unternehmen der Besonderheit des Einzelnen, sondern bringt über sehr spezifische Praktiken der Arbeit, der Intimsphäre und schriftorientierte Selbstpraktiken eine allgemeinverbindliche, bürgerlich-moderne Formierung des Subjekts, einen Anforderungskatalog intelligibler Subjekthaftigkeit als kulturell denkbar und legitim hervor: Die bürgerliche Kultur ist ein Trainingsprogramm zur Heranziehung eines moralisch-souveränen Allgemeinsubjekts.«10

Folgt man diesen Überlegungen, wird deutlich, dass sich zwar mit den bürgerlichen Subjekt-Codes eine Loslösung von religiösen oder standesbedingten Hierarchien vollzog, dass aber nicht das Individuum im emphatischen Sinne, sondern vielmehr jene Codes (nach)vollziehende Subjekte das Ziel waren. Erst die romantische Subjekt-Konzeption (Klinger spricht hierbei vom ro-

8 Helmut Scheuer, Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979, S. 11. 9 Cornelia Klinger, Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten, München und Wien 1995, S. 112. 10 Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 97.

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mantischen Korrespondenz-Ich11) ließ sich auf ein Modell ein, »das nach der Entfaltung von ›Individualität‹ strebt, das Modell einer einzigartigen ›inneren Tiefe‹, die nach Expression verlangt.«12 Jenes bürgerliche »Allgemeinsubjekt« aber, dessen Wesen sich durch Beruf (Praktiken der Arbeit), Familie (Praktiken der Intimsphäre) und eine sich auch (auto)biografisch manifestierende Selbstverortung (schriftorientierte Selbstpraktiken) modellierte, damit eine Moralität verband, die sich nicht zuletzt auch in der Ästhetik niederschlug, und in allem darauf abzielte, qua Selbstregierung Teil einer Gesellschaft (oder Idee von Gesellschaft) zu sein, die auf Gleichheit basiere, jenes »Allgemeinsubjekt« mithin ist in den »Berufsbiografien« zu erkennen, die für die Musikgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts prägend sind, und die nicht auf die Individualität von Lebensläufen abzielen, sondern auf die Frage der Vorbildlichkeit.13 Das Erfüllen eines aufgeklärt-bürgerlichen Codes war zentral für die Biografiewürdigkeit des Musikers, und mit ebendieser verband sich ebenso untrenn- wie unmittelbar der Anspruch auf Aufnahme in die Musikgeschichtsschreibung. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Vorstellung, wie das Komponisten-Subjekt zu denken sei (die mit den Hinweisen auf Gerber und Rochlitz bereits deutlich geworden sein dürfte), lässt sich deutlich mit dem Blick auf ein 1753 in Berlin erschienenes Gedicht erkennen, Gotthold Ephraim Lessings »An den Herrn Marpurg, über die Regeln der Wissenschaften zum Vergnügen; besonders der Poesie und Tonkunst«: »[…] Ein Geist, den die Natur zum Mustergeist beschloß, Ist, was er ist, durch sich; wird ohne Regeln groß. Er geht, so kühn er geht, auch ohne Weiser sicher; 11 Cornelia Klinger, »Subjekt, Individuum, Ich und Selbst. Erkundungen in einem unübersichtlichen Wortfeld«, Vortrag gehalten am 02.12.2011 im Rahmen des Internationalen Workshops des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung«. Wie Menschen zu Subjekten gemacht werden. Theorie und Methodologie der interdisziplinären Subjektivationsforschung, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 01.-03. Dezember 2011. 12 Reckwitz, Das hybride Subjekt (Anm. 10), S. 106. 13 Dazu, vor allem mit Blick auf Telemann, vgl. Joachim Kremer u. a. (Hgg.), Biographie und Kunst als historiographisches Problem. Bericht über die internationale wissenschaftliche Konferenz anläßlich der 16. Magdeburger Telemann-Festtage Magdeburg, 13.–15. März 2002, Hildesheim u. a. 2004. Die autobiografische Selbstverortung diskutiert anregend Vera Viehöver, »Musikerautobiographien zwischen Frühaufklärung und Sturm und Drang: Mattheson – Hiller – Schubart«, in: Lenz-Jahrbuch. Literatur – Kultur – Medien 1750–1800, hg. von Nikola Roßbach, Ariane Martin und Matthias Luserke-Jaqui, St. Ingbert 2010, S. 105–134.

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Er schöpfet aus sich selbst, er ist sich Schul’ und Bücher. Was ihn bewegt, bewegt; was ihm gefällt, gefällt. Sein glücklicher Geschmack ist der Geschmack der Welt. Fehlt einst der Mensch in ihm, sind doch die Fehler schön; Nur seine Stärke macht, daß wir die Schwäche sehn. […] Nachahmen wird er nicht, weil eines Riesen Schritt, Sich selbst gelassen, nie in Kindertappen tritt.«14

Dass hier bereits vorliegt, was (vor allem im 19. Jahrhundert) als »Individualsubjekt« gedacht und in die Genie-Ästhetik mitsamt ihrer Individualitätszentrierung einfließen wird, ist überdeutlich. Geradezu exemplarisch paradiert, was sich im Genie-Diskurs verfestigen wird: das Regellose und die Tradition Brechende, das Aus-sich-selbst-Schöpfende, das Kühne und Starke, das Solitäre, das Zukunftsweisende und das der Allgemeinheit ein Vorbild Gebende. Kaum anders definiert Andreas Reckwitz mit Bezug auf August Wilhelm Schlegel, Novalis und andere das romantische Genie: »Der Künstler als ›Genie‹ als Produzent von Werken aus seinem Innern, die keinen über-subjektiven, rationalen Regeln folgen. Er ist sein eigener ›Ursprung‹, ihm kommt eine spezifische‚ um die klassischen Muster unbekümmerte Originalität‹ (A. W. Schlegel) zu, er kann sich seine eigene Moral schaffen, das Kunstwerk ist ein ›echter Ausfluss der Persönlichkeit‹ [Novalis]«.15

Wie aber kommt dieser Umschwung vom »Allgemeinsubjekt« zum Genie, und inwieweit ist dieses in jenem möglicherweise enthalten? Wie kommt es, dass ein bürgerliches Subjekt, das allgemeine Codes entwirft und sich nach ihnen, die gesellschaftliche Identität bildend, ausrichtet und nach Homogenitäten strebt, sich dennoch bemüht, eine exponierte Position außerhalb des Code-Systems zu etablieren? Wie kommt es, dass das Normsprengende zum Regulativ, zur Bestätigung ex negativo für das bürgerliche Subjekt wird? Diese Fragen führen zur Debatte um das Genie, die sich seit der Aufklärung abzeichnete. Die Diskussion – und hierbei sei im Folgenden ein Fokus auf den deutschsprachigen Raum gelegt – hatte im 18. Jahrhundert den lateinischen Begriff genius neu belebt, hatte ihn über den antiken Begriff hinaus mit Bedeutungs14 Gotthold Ephraim Lessing, »An den Herrn Marpurg, über die Regeln der Wissenschaften zum Vergnügen; besonders der Poesie und Tonkunst«, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 18, Berlin 1827, S. 59–70. 15 Reckwitz, Das hybride Subjekt (Anm. 10), S. 214.

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inhalten versehen, nicht immer trennscharf unterschieden von den französischen und griechischen Pendants (génie, δαμων), »alle drei aber«, so der Artikel »Genie« im »Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm«16 von 1897, seien im 18. Jahrhundert »eigentlich ein und dasselbe« und bildeten »im grunde eine wunderliche wirrnis.« Weiter: »lat. genius und franz. genie kamen sich aber nun übel ins gehege nach gehalt und form. […] man wechselt zuweilen mit beiden, als dürfe zum vollen begriffe keins fehlen oder als wolle man keins zurücksetzen.« Zum Begriffsfeld ergänzt der Artikel, der gleichsam mit dem Fokus seiner Entstehungszeit (der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) auf die Zeit der Aufklärung zurückblickt, eine Geschlechterspezifik: »zum gebrauch ist zu bemerken, dasz man anfangs und lange ein mann von genie sagte, nach franz. homme de génie (auch engl. a man of genius), nun auszer gebrauch gesetzt durch genial, das anfangs und länger noch nicht zu gebote stand (das aber dem franz. abgeht): in der seele des mannes von genie herrscht ein heller tag, ein volles licht, das ihm jeden gegenstand wie ein nahe vor augen liegendes und wol erleuchtetes gemälde vorstellt u. s. w. Sulzer«.17

Dann explizit bei Novalis: »liebe [sei] für die frauen […], was genie für den mann«.18 So divers die Definitionen des Begriffs Genie im 18. Jahrhundert, so deutlich ist eine sich für das 19. Jahrhundert dann als anknüpfungsfähig erweisende Neuausrichtung zu bemerken, die sich von einem alten Genie-Begriff abzugrenzen versucht. Dieser bezeichnete, »was man seit der Antike unter ›ingenium‹ verstand: das, was einem Menschen an- oder eingeboren ist: die natürliche Begabung, das Naturell«.19 Damit aber war Genie jedem Menschen eigen, es kam freilich auf das Quantum an. Die Idee des neuen Genie-Begriffs, vor allem die des »Kunstgenies«, aber war dessen einmalige, solitäre, expo16 Das Wörterbuch entstand ab 1838 und wurde ab 1854 gedruckt, der hier relevante Band erschien 1897. Die im Folgenden verwendeten Zitate sind Band 5 entnommen und werden nach der Online-Ausgabe zitiert: http://woerterbuchnetz.de/DWB/ (Zugriff: 10.12.2011). 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Wilhelm Seidel, »Naturell – Unterricht – Fleiß. Telemanns Lebensläufe und der Geniebegriff des 18. Jahrhundert«, in: Biographie und Kunst als historiographisches Problem. Bericht über die internationale wissenschaftliche Konferenz anläßlich der 16. Magdeburger Telemann-Festtage Magdeburg, 13.-15. März 2002, hg. von Joachim Kremer, Wolf Hobohm und Wolfgang Ruf, Hildesheim u. a. 2004, S. 90–100, hier: S. 97.

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nierte Position, das Außer-Gewöhnliche. Um diese Idee zu festigen, bedurfte es Kriterien, die diesen Ausnahmecharakter des Genies erkennbar werden ließen. Dazu zählten insbesondere das voraussetzungslos20 Schöpferische (was das Moment der Inspiration zentral werden ließ), das gespaltene Verhältnis zum Schul- und Regelmäßigen, das Übermenschliche, der enge Konnex zum Männlichen, das Selbstbewusstsein des Genies und schließlich das Leiden und die Nähe zu Wahnsinn und »Tollheit«.21 Zunächst war es vor allem die Literatur, auf deren Terrain die Diskussion um die Begriffe Genius/Genie stattfand, die Musik trat um 1800 hinzu, umso intensiver sogar, da gerade hier gleichsam im Zeitraffer und unter besonderen Prämissen neue Konzepte notwendig waren: Die Musikkultur wurde sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihrer Geschichtlichkeit bewusst und befand sich auf der Suche nach entsprechenden Medien und Kriterien ihrer Geschichtlichkeit. Dieser Prozess ist – zumindest im Vergleich mit anderen Künsten – ein verspäteter. Umso drängender stellten sich die Fragen nach eben jenen Medien und Kriterien, die die Musikkultur in eine Musikgeschichte zu transferieren vermochten.22 Vor allem stellte sich die Frage nach den Protagonisten einer Musikgeschichte. Diese Frage freilich wurde vor und um 1800 noch höchst unterschiedlich beantwortet, was sich vergleichend an den Lexika, Periodika, Anekdotensammlungen und anderen Quellen wie etwa den Reisetagebüchern von Charles Burney, die als Materialsammlung für seine »A General History of Music from the Earliest Ages to the Present Period« gedacht waren, erkennen lässt. Auffällig dabei ist, dass in etlichen der genannten Publikationen Frauen wie Männer erwähnt werden und dazu eine Vielzahl an Professionen. Ludwig Gerber etwa argumentierte 1790 in seinen »Vorerinnerungen« zum »Historisch-biographischen Lexicon der Tonkünstler« ausführlich für eine Personenauswahl, die heute unter dem Begriff des 20 Albrecht Koschorke zieht einen nachdenkenswerten Vergleich zwischen der Idee des voraussetzungslos schaffenden Genies und der das Aufklärungs-Ideal enzyklopädischen Wissens ablehnende »neue« Schriftkultur, indem er »das Aufkommen des Geniebegriffs zum Verfall der Gedächtniskultur in Beziehung setzt. Wenn die Gelehrsamkeit alten Typs unter dem Postulat einer mentalen ›Habbarkeit‹ des Wissens stand, wenn intellektuelles Vermögen sich an der Gedächtniskapazität bemaß, so konnte das Ideal eines von allem kulturellen Ballast befreiten und insofern reinen Bewußtseins, das die Geniebewegung kultiviert, nur kontraproduktiv sein.« Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, 2. Aufl., München 2003, S. 427. 21 Vgl. zu den Kriterien den Artikel »Genie« im Grimmschen Wörterbuch (Anm. 16). 22 Frank Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776–1871, Frankfurt a. M. und New York 2006.

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»musikkulturellen Handelns«23 wieder aufgegriffen wird, die aber unter der Heroengeschichtsschreibung und dem Genie-Diskurs des 19. und 20. Jahrhunderts verloren gegangen war: Er sei, so Gerber, bei der Auswahl von Komponisten »desto vorsichtiger« vorgegangen, »ehe ich einen davon als unwürdig verwarf«24, und habe auch Sängerinnen und Sänger aufgenommen: »Die Sänger und Sängerinnen waren gleich anfangs mit in meinem Plane. Die Damen sollten insbesondere das Buch zieren. Wie manche schöne Arie haben wir auch nicht blos einer schönen Sängerin zu danken! Und wie mancher große Komponist ist seine Größe einer schönen Sängerin oder einem vortreflichen Sänger schuldig!«25

Des Weiteren »gehörten, so wie im Walther, außer musikalischen Schriftstellern, Erfindern und Verbesserern musikalischer Instrumente oder Maschinen, geschickte Orgel- und Instrumentenmachern, auch Dilettanten mit zu meinem Plane, welche der Kunst durch ihre Kenntnisse Ehre gemacht haben.«26 Die Begrenzung auf ein Geschlecht (Mann) und eine Profession (Komponist) existiert für Gerber nicht, im Gegenteil unterstreicht er sowohl die Vielfalt der Professionen, als auch seine Entscheidung, Musikerinnen und Musiker zu berücksichtigen, eine Entscheidung, die nicht zuletzt den Tendenzen der Zeit entspricht, die Biografiewürdigkeit nach demokratischem Anspruch breit zu fassen.27

23 Dazu u. a. Susanne Rode-Breymann, »Wer war Katharina Gerlach? Über den Nutzen der Perspektive kulturellen Handelns für die musikwissenschaftliche Frauenforschung«, in: Orte der Musik. Kulturelles Handeln von Frauen in der Stadt, hg. von ders., Köln u. a. 2007 (Musik – Kultur – Gender 3), S. 269–284. 24 Ernst Ludwig Gerber, Historisch-Biographisches Lexicon der Tonkünstler; welches Nachrichten von dem Leben und Werken musikalischer Schriftsteller, berühmter Componisten, Sänger, Meister auf Instrumenten, Dilettanten, Orgel- und Instrumentenmacher enthält, Leipzig 1790, S. VII. 25 Ebd., S. VII. Betonenswert hierbei freilich die Attributierung mit »groß« (Komponist), »schön« (Sängerin) und »vortrefflich« (Sänger). 26 Ebd., S. VIII. Gemeint ist hier Johann Gottfried Walther, Musicalisches Lexicon Oder Musicalische Bibliothec. Darinnen nicht allein die Musici, welche so wol in alten als neuern Zeiten […] mit allem Fleisse und nach den vornehmsten Umständen angeführet, sondern auch die in Griechischer, Lateinischer, Italiänischer und Frantzösischer Sprache gebräuchliche Musicalische Kunst- oder sonst dahin gehörige Wörter, nach Alphabetischer Ordnung vorgetragen und erkläret […], Leipzig 1732. 27 Vgl. dazu Hannes Schweiger, »Biographiewürdigkeit«, in: Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, hg. von Christian Klein, Stuttgart 2009, S. 32–36.

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Johann Mattheson hingegen hatte 1740 anders argumentiert. Zwar gibt auch er im Vorbericht seiner »Grundlage einer Ehren-Pforte« den Hinweis darauf, dass – im Sinne des »Allgemeinsubjekts« und qua moralischer Integrität – alle Musikerinnen und Musiker grundsätzlich biografie-/historiografiewürdig seien, in seinem erkennbar hierarchischen System der Musikberufe aber findet sich bereits ein deutlicher Hinweis, dass diese Vielfalt an Personen und Professionen zur Disposition steht. Zumindest wird durch die klare Binnenhierarchie eine musikhistoriografische Weichenstellung erkennbar, die den »Componisten« entgegen der Musikpraxis der Zeit auf-, Sängerinnen und Sänger hingegen deutlich abwertet: »Ein Capellmeister ist demnach ein gelehrter Hofbeamter und Componist im höchsten Grad: welcher eines Kaisers, Königs oder grossen Fürstens und Herrn geist- und weltliche Musiken verfertiget, anordnet, regieret und unter seiner Aufsicht vollziehen läßt. […] [ein] Cantor hergegen ist ein musikgelehrter Kirchenund Schulbedienter […] ein Organist ist ein kunstreicher Kirchen-Diener und starcker Clavierspieler, der die Composition verstehet […]. Sängerinnen endlich, Sänger und Spielleute […] sind geschickte, geübte, ruhmwürdige Musikanten, die das vorgeschriebene so gleich, mit guter Manier, absingen.«28

Auffallend dabei, dass die Tätigkeiten des Capellmeisters mit Verben des Herrschens beschrieben werden, und dass das »Verfertigen« von Musik, mithin das Komponieren, als erste Aufgabe genannt wird. Dass letzteres nicht notwendigerweise der Lebenswirklichkeit von Kapellmeistern entsprach, hat Axel Beer an zahlreichen Beispielen aus der Zeit um 1800 belegt, die erkennen lassen, dass im Rahmen von Kapellmeisteranstellungen um die Freiräume zum Komponieren gerungen werden musste:29 »Daß jedoch nur wenige Musiker, die man heutigentags ohne weiteres Nachdenken als ›Komponisten‹ zu bezeichnen pflegt, dieses Merkmal ihrer Arbeit auch als Berufsumschreibung wählten, kann nicht nachdrücklich genug betont werden. Wenn überhaupt, so begegnet es meist in Verbindung mit anderen Tätigkeiten, 28 Johann Mattheson, Grundlage einer Ehren-Pforte, woran der Tüchtigsten Capellmeister, Componisten, Musikgelehrten, Tonkünstler etc. Leben, Wercke, Verdienste etc. erscheinen sollen, Hamburg 1740, Vorbericht, S. XXXIIf. Im Übrigen wollte Mattheson den Begriff des Musikanten nicht abwertend gemeint wissen. Vgl. ebd. und folgende Seite. 29 Axel Beer, Musik zwischen Komponist, Verlag und Publikum. Die Rahmenbedingungen des Musikschaffens in Deutschland im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, Tutzing 2000, S. 15–17.

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etwa ›Compositeur und Virtuos‹, […] ›königl. Hofmusiker und Componist‹ oder ›Capellmeister und Compositeur‹ – nur selten trat ein Musiker seinem Gesprächspartner ausschließlich als ›Compositeur‹ entgegen.«30

Die Titulierung als »Componist« war, so Beer weiter, gar eine Verlegenheitslösung, die das Manko bezeichnete, keinen »Brotberuf« (mithin eine Anstellung) zu haben.31 Die Priorisierung des Komponierens, die Mattheson dem »Componist[en] im höchsten Grad« attestiert, deutet damit nicht auf reale Gegebenheiten, wohl aber auf die Intention hin, hiermit eine Kategorie der Historiografie zu schaffen. Damit ist in jenem Matthesonschen Quasi-Monarchen der Vorläufer jenes Komponisten-Bildes zu erkennen, das mithilfe des Geniebegriffs sich nach 1800 herausbildete. Vor allem auch die Trennung von Komposition und Interpretation, insbesondere die mit dieser Trennung verbundene Wertigkeit – Sängerinnen und Sänger, entgegen der herausgehobenen Position von Primadonnen und Kastraten im 18. Jahrhundert, in der untersten Kategorie –, ist bei Mattheson bereits deutlich. Um 1800 verfestigte sich diese Trennung, und zwar nun explizit mit dem Hinweis auf das »Genie«. Dazu ein Beispiel aus der »Allgemeinen musikalischen Zeitung«, die 1800 diskutierte, »wodurch […] sich der dichtende Tonkünstler über den ausübenden [erhebt]«32. Dabei beachtenswert, dass nicht nur die Trennung zwischen Komposition und Interpretation festge30 Ebd., S. 16. 31 Auch Leopold Mozarts Intention, seinen Sohn als historiografiewürdige Person auszubilden, zielte nicht auf den Beruf als »Tonkünstler«, sondern auf den des »Capellmeisters«. 1778 ermahnte er ihn, diesen Weg weiterzubeschreiten, um nicht in der Sphäre des »Tonkünstlers« (sprich: Komponisten) zu verbleiben: Es käme nun auf ihn »[…] ganz alleine […] [an,] in eines der grösten Ansehen, die iemals ein Tonkünstler erreicht hat, dich nach und nach zu erheben: das bist du deinem von dem Gütigsten Gott erhaltenen auserordentlichen Talente schuldig; und es kommt nur auf deine Vernunft und Lebensart an, ob du als ein gemeiner Tonkünstler, auf den die ganze Welt vergisst, oder als ein Berühmter Capellmeister, von dem die Nachwelt auch noch in Büchern lieset […] sterben willst?« Brief vom 12. Februar 1778, in: Mozart. Briefe und Aufzeichnungen, Gesamtausgabe, hg. von der Internationalen Stiftung Mozarteum, gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto E. Deutsch, Kassel und Basel, Bd. 2, S. 274. Vgl. dazu Melanie Unseld, »,…ein Berühmter Capellmeister, von dem die Nachwelt auch noch in Büchern lieset‹. Mozart und die Idee der Künstlerbiographie«, in: Mozart 2006. Experimentelle Aufklärung und latente Romantik im Wien des späten 18. Jahrhunderts. Essayband zur Mozart-Ausstellung, hg. von Herbert Lachmayer, Wien und Ostfildern 2006, S. 431–435. 32 Anonym, »Wodurch erhebt sich der dichtende Tonkünstler über den ausübenden?«, in: Allgemeine musikalische Zeitung 2/Nr. 17 (1800), Sp. 289–291.

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schrieben werden soll, sondern auch die wertende Gewichtung: Da instrumentales Können durch Fleiß, kompositorisches Können aber nur durch »Genie« (hierbei den neuen Genie-Begriff verwendend) zu erlangen sei, sei letzteres höher zu bewerten: »Durch ausdauernden Fleiss und anhaltende Uebung kann man nämlich ein Instrument fertig und angenehm spielen lernen, aber geistreich komponiren lehrt und lernt niemand. Dort trägt der Mechanismus vieles zur Wirkung bey, hier schafft das Genie auf eine nicht zu ergründende Art die Form und den Stoff.«33

Mit der Aufwertung der Tätigkeit des Komponierens und mit der Trennung zwischen Komposition und Interpretation, die um 1800 intensiv diskutiert wurde, sind zwei wesentliche Veränderungen hin zum Genie im Sinne des herausragenden Individualsubjekts benannt. Eine dritte Veränderung tritt maßgeblich noch hinzu: die veränderte Wahrnehmung des Charakters. Deutlich wahrnehmbar ist dies, nochmals auf die »Ehren-Pforte« zurückkommend, bei Mattheson. Dessen »Componist in höchstem Grad« ist noch keineswegs mit jenen Charakterattributen versehen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts für das Genie konstitutiv werden. Im Gegenteil: Mattheson legt explizit höchsten Wert auf die moralische Integrität und Vorbildlichkeit, kann damit überhaupt die Biografie- und Geschichtswürdigkeit des Komponisten argumentieren: »Soviel mir bekannt, ist hier kein geitziger Taffi, kein mördrischer Castagno, kein bullen-mässiger Raphael u.  d.  g. unter meinen Musicis anzutreffen, sondern es sind (menschliche Schwachheiten ausgenommen) tüchtige, gottsfürchtige, redliche fromme Männer, an deren etlicher Schreibart selbst man so gar erkennen kann, daß sie den Lastern feind sind. Daher es denn etwas unbilliges ist, wenn wir in einer gewissen Postille […] sehr unnöthiger und schimpflicher Weise von Musikanten, ohne Unterschied, die ärgerlichen Schmähworte lesen: Daß es an solcher Art Leuten zu A… eben so wenig fehle, als in den sumpfichten Oertern am Ungeziefer. […] Meine Schuldigkeit erforderts, dergleichen Anzüglichkeiten auf das glimpflichste zu ahnden, und sie weit von der Ehrenpforte zu entfernen.«34 33 Ebd., Sp. 291. 34 Mattheson, Grundlage einer Ehren-Pforte (Anm. 29), Vorbericht, S. IX. Mit Tafi, Castagno und Raphael spielt Mattheson auf Bildende Künstler an, die – etwa den Vite von Giorgio Vasari folgend – lasterhaft gelebt oder sogar Verbrechen begangen hätten. Der kursivierte Satz ist ein direktes Zitat Scheibes. Vgl. dazu Unseld, »Eine Frage des Charakters?« (Anm. 6).

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An die Überzeugung, hierdurch die Biografiewürdigkeit von Musikern erwiesen zu haben, knüpft Mattheson auch die Konsequenz, als Biograf notfalls kleinere Verfehlungen stillschweigend zu übergehen. Mit dem Eindringen des Genie-Begriffs aber verändert sich vor allem die Haltung gegenüber jenen »schattigen« Charakterseiten, die bereits Schlichtegroll bei Mozart aufgefallen waren.35 Diese seien nun, so Johann Aloys Schlosser 1828, nicht deshalb zu übergehen, weil sie die Biografiewürdigkeit in Frage stellten, sondern: »Ein wirklicher Kunstrichter übersieht solche Dinge, weil er etwas Wichtigeres zu beachten hat. Allerdings ist es wahr, daß Mozart für häusliche Ordnung, wie sie bei einem Hausvater, der weiter nichts ist als dieses, gefunden werden kann, keinen Sinn hatte; wahr, daß er seinen Vorteil sehr oft aus den Augen verlor; wahr, daß er häufig gegen Konvenienz und Mode verstieß – aber ist denn diese Welt die, in welcher und für welche der Künstler lebt? Mozarts Geist kannte eine höhere Beschäftigung. Und welcher seiner Feinde könnte seine Gleichgültigkeit gegen die Außenwelt eine Liederlichkeit nennen, wodurch sich so mancher Afterkünstler zum wahren stempeln will?«36

Die Alltagsabgewandtheit des Künstlers sei nicht als dessen »Fehler« zu interpretieren, sondern als Signum seines wahren Künstlertums. In diesem Sinne argumentiert auch Rochlitz: »dürfen wir einen solchen Mann [= Mozart] nach dem Maasstabe beurtheilen, der mit Recht für uns mittelmässige Leutchen zum Richtscheit dient? hat das Sprüchwort keinen Werth mehr: Duo dum faciunt idem, non est idem?«37 Zu den grundlegenden Eigenschaften des Genies gehört damit das »prinzipielle Anderssein der Größe«38, also auch das Anderssein gegenüber bür35 Adolf Heinrich Friedrich von Schlichtegroll, Nekrolog auf das Jahr 1791. Enthaltend Nachrichten von dem Leben merkwürdiger in diesem Jahre verstorbener Personen, Zweyter Jahrgang, zweyter Band, Gotha 1793. 36 Joh[ann] Aloys Schlosser, Wolfgang Amad. Mozart. Eine begründete und ausführliche Biographie desselben. Herausgegeben zur Gründung und Errichtung eines Monuments für den Verewigten, hg. von Oldrich Pulkert, Prag 1993, S. 31 (Hervorhebung: M. U.). 37 Friedrich Rochlitz, »Verbürgte Anekdoten aus Wolfgang Gottlieb Mozarts Leben. Ein Beytrag zur richtigern Kenntnis dieses Mannes, als Mensch und Künstler«, in: Allgemeine musikalische Zeitung 1/Nr. 2 (1798), Sp. 17–24, hier: Sp. 19. 38 Christian von Zimmermann, Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830–1940), Berlin und New York 2006, S.  136. Hegel bezeichnet dieses als »welthistorisches Individuum«, ein geschichtsphilosophisches Konzept, das von der Heroengeschichtsschreibung aufgegriffen und ausgestaltet wird.

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gerlichen Moralvorstellungen. Dem Genie wird, wie späterhin ähnlich dem Helden, eine Position außerhalb der (bürgerlichen) Gesellschaft zugewiesen und ein Moraldispens gewährt, der ihm den Freiraum zu künstlerischem Tun, aber auch zu moralischer Freiheit (Freizügigkeit) gewährt.39 Die Schlüsselfigur für das Umschwenken des Komponistenbildes zum »prinzipiellen Anderssein der Größe« ist Ludwig van Beethoven, der als Person und in seinen Werken seinen Zeitgenossen als unangepasst, wirr und (in der Begrifflichkeit der Zeit gesprochen) »wunderlich« galt. Die Darstellung als moralisches Vorbild, für Mattheson noch zentral, musste eine entsprechende Korrektur erfahren. Doch während Idealisierung dabei allenfalls eine graduelle Veränderung bedeutet hätte, stand mit der offensiven Bejahung der Unangepasstheit an bürgerliche Wertvorstellungen die Möglichkeit offen, Beethoven als Genie zu exponieren, ihn aus der Sphäre des »Allgemeinsubjekts« herauszulösen. Um diesen für die Musikgeschichtsschreibung zentralen Schritt nachvollziehbar machen zu können, sei – als eines von vielen Beispielen – aus einem Nekrolog zitiert, der 1827 in der »Allgemeinen musikalischen Zeitung« erschien: »Wie wenig er [= Beethoven] von der Welt wusste und sich um conventionelle Formen und irdische Dinge bekümmerte, zeigte sein Aeusseres in der Zeit, wo er am meisten componirte.[…] Als argloser, mit den Intriguen der Welt unbekannter Mann mag er wohl ein unordentlicher, oft betrogener Haushälter gewesen seyn. […] In Rücksicht seiner Sittlichkeit stand er wohl in jener luxuriösen Stadt [= Wien] hoch über dem grössten Theile seiner Kunst- und Lebensgenossen. Um nur ein Beyspiel seiner eigenthümlichen, strengmoralischen Denkweise anzuführen! Er jagte seine – sonst gute – Haushälterin aus dem Dienst, weil sie, ihn zu schonen, eine Unwahrheit gesagt hatte. Einer Freundin, welche ihm diese gute Person besorgt hatte und ihn dieser Härte wegen befragte, antwortete er: ›Wer eine Lüge sagt, ist nicht reines Herzens, und eine solche Person kann auch keine reine Suppe kochen.‹ Dieses seltsam klingende Urtheil seiner moralischen Grundsätze entspricht seinen oft seltsam klingenden Accorden und Ausweichungen in der Musik, welche von manchen Zuhörern für unverständlich, gesucht oder bizarr gehalten werden.«40 39 Für die Bildende Kunst in dieser Hinsicht aufschlussreich Martin Warnke, Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, 2. Aufl., Köln 1996 und Horst Bredekamp, Der Künstler als Verbrecher. Ein Element der frühmodernen Rechts- und Staatstheorie, München 2008. Interessant zu verfolgen wäre, wie dieser Moraldispens (jenseits von Pathologisierung) bis in heutige popkulturelle Phänomene Nachwirkungen zeigt. 40 Wilhelm Christian Müller, »Etwas über Ludwig van Beethoven«, in: Allgemeine musikalische Zeitung 29/Nr. 21 (1827), Sp. 345–354.

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Die »Suppen-Anekdote« könnte rasch mit dem Hinweis darauf abgetan werden, dass Anekdoten keine historische Quelle darstellten. Aus zweierlei Gründen jedoch scheint dies hier nicht angebracht: Zum einen, da der Autor direkt aus der Anekdote ein weitreichendes ästhetisches Urteil ableitet, zum andern, da ein anderer Umgang mit dieser Textgattung vonnöten scheint: In Anlehnung an Ernst Kurz und Otto Kris wird hier die Anekdote als biografischhistoriografische »Formel«, nicht als Hinweis auf eine historische Gegebenheit begriffen: »Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Aussage, die wir der Anekdote in diesem oder jenem Falle entnehmen dürfen, wird dabei unerheblich, allein bedeutsam vielmehr der Umstand, daß eine Anekdote öfters, daß sie so oft berichtet wird, daß wir aus ihr auf eine typische Vorstellung vom Künstler schließen dürfen.«41

Und insofern wird in der »Suppen-Anekdote« formelhaft das Genie-Bild des Komponisten erkennbar: das abweichende, anormale Aussehen, das mit dem Prozess des Komponierens in Bezug gesetzt wird, sein anti-bürgerliches Verhalten, die ungewöhnliche Moralvorstellung und die nicht eingängige Musik, deren Avanciertheit mit der Unangepasstheit von Beethovens Charakter unmittelbar in Relation gesetzt wird (»Dieses seltsam klingende Urtheil seiner moralischen Grundsätze entspricht seinen oft seltsam klingenden Accorden und Ausweichungen in der Musik«).42 Wie dauerhaft das hier entworfene Genie-Bild als Modell Anwendung fand, lässt sich vielfach nachweisen,43 ein einziger Hinweis auf Robert Schumann mag dafür exemplarisch stehen: »Das Alltägliche und Herkömmliche, das Mittelmässige, was, à la portée de tout le monde und gleich allgemeinverständlich und zugänglich, sich mit seinem geschmeidigen Allerweltscharacter, seiner verschwommenen Jedermanns-Physiognomie und mit jener, der Mittelmässigkeit immer eigenen Leichtigkeit und Ge41 Ernst Kris, Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt a. M. 1995, S. 32f. Vgl. zu diesem Kontext auch Melanie Unseld und Christian von Zimmermann (Hgg.), Anekdote – Biographie – Kanon. Zur Geschichtsschreibung in den Schönen Künsten, Köln und Wien (Biographik. Geschichte – Kritik – Praxis 1) (in Druck). 42 Sigrid Nieberle danke ich für den interessanten Hinweis, dass mit der »reinen Suppe« eine symbolische Inkorporation von Reinheit – im Sinne von Echtheit bzw. Wahrheit – inszeniert wird, die der Mann (Beethoven) verlangt, die Frau (Haushälterin) aber nicht zuzubereiten in der Lage ist. 43 Vgl. dazu Melanie Unseld, Biographie und Musikgeschichte (in Vorbereitung).

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wandtheit (Eigenschaften, die dem Genie selbst oftmals fehlen, eben weil es von Haus aus mehr und schwerere geistige Fracht mit sich führt) präsentirt, findet immer und überall gleich offene Thüren und Ohren; sein Verständnis erfordert keine besondere Anstrengung, kein Kopfzerbrechen; es bedarf dazu keines bedeutenden geistigen Aufwandes; wir werden dadurch nicht aus unserer Bequemlichkeit aufgerüttelt, während dies bei einer durchaus neuen und originellen, dem tiefsten Born der Individualität entquollenen Kunstschöpfung in hohem Grade der Fall, wo die Leute anfangs noch gar nicht recht wissen, woran sie sind, und wo gerade das Neue und Ungewohnte der Erscheinung sie scheu und befangen macht; je eigenthümlicher die letztere, in desto grösserer Verlegenheit befinden sie sich, wie sie dieselbe aufzunehmen haben, und wie sie’s mit deren Würdigung halten sollen, weil ihnen eben noch alle geistige Handhabe für die richtige Auffassung des betreffenden Kunstwerkes fehlt, und sie noch keinen passenden Maassstab für dessen wirklichen Werth besitzen.«44

Konsequent trieb das Genie-Bild den Ausschluss von Frauen aus dem Tätigkeitsfeld der Komposition voran, drei Argumentationslinien sind dabei besonders markant: eine auf den Berufsstand abzielende, eine, die dem Genie konsequent männlich konnotierte Charaktermerkmale zuschreiben, und schließlich der Aspekt des Schöpferischen. Der Versuch, dem um 1800 noch durchaus disponiblen Berufsstand des »Componisten« einen gewissen Halt zu geben, lässt sich daran ablesen, dass eine Partizipation von Frauen an diesem Beruf kritisiert wurde. 1799 hieß es über Josepha Auernhammer in der »Allgemeinen musikalischen Zeitung«: »Das 63ste Werk? – Ey, ey, das ist für den äussern Beruf einer Dame, auch von noch so vielem innern Berufe zu den Musenkünsten, etwas viel!«45 Indem der Rezensent ihr Ruhmsucht unterstellte (denn auch wenn eine Komponistin so viel komponiere, sei das »Ausstellen so vieler Werke«, mithin das Veröffentlichen als erkennbaren Anspruch auf ein professionelles Selbstverständnis, für eine Frau unschicklich), fasst er zugleich das Komponieren und Veröffentlichen als Erwerbsarbeit auf, im sich entwickelnden bürgerlichen Selbstverständnis ein ausschließlich für Männer vorbehaltener Bereich.46 Die Neukon44 Carl Kossmaly, »Ueber Robert Schumann’s Claviersompositionen«, in: Allgemeine musikalische Zeitung, 46/Nr. 1 (1844), Sp. 1–5, hier: Sp. 1f. 45 Rezension in der Allgemeinen musikalischen Zeitung 1/Nr. 5 (1799), Sp. 90f. 46 Dazu noch immer maßgeblich: Karin Hausen, »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben«, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, hg. von Werner Conze, Stuttgart 1976, S. 363–393.

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zeption der bürgerlichen Geschlechterdualität, die die strikte Trennung von Berufs- und Familienwelt vorsah und dementsprechend die Polarisierung der Geschlechtscharaktere vorantrieb, übertrug sich damit auch auf den neu entstehenden »bürgerlichen Beruf« des Komponisten. Zum Zweiten war – anders als im alten Genie-Begriff, der auf ein allgemein vorhandenes Naturell abhob – dem neuen Genie-Begriff eine substantielle Geschlechterkomponente insofern eingeschrieben, als von dem die Regeln und Gesetze überschreitenden Charakter des Genies auf ein männlich-heroische Charaktereigenschaften geschlossen wurde. Im Grimmschen »Wörterbuch« wird betont, dass dieses »Übersteigen« von Grenzen nicht ohne Aggression vonstattengehen könne, der Artikel führt hierbei den Vergleich mit der Französischen Revolution an, und wie »philister und genie als gegensatz« aufzufassen seien, habe »die alte und die neue welt, die nicht ohne verwüstung jener ins leben treten könnte«, Gewaltsames gezeitigt: »daher ist beim genie auch von wildheit, ja tollheit die rede.« Von diesen gewaltsamen »übersteigenden« Qualitäten des Genies ist es ein kurzer Weg zur Herrschaftsmetaphorik bzw. der Vision einer (auch politischen) Führungsstärke: »die meisten dieser (politischen) schriftsteller erinnern an die genie- kraft- drang- und sturmmänner, die Deutschland vor einigen jahren aus dem reiche der ästhetik weggelacht hat. es ist, als wenn sie jetzt ihr heil ernsthafter in der politik hätten versuchen wollen (als revolutionäre).« Damit war in das Genie-Bild eine Komponente eingefädelt, die sich dem Heroismus-Diskurs des 19. Jahrhunderts als anschlussfähig präsentierte, was sich in der Musikhistoriografie insbesondere an Beethoven exemplifizieren lässt: Die bei Beethoven so offensichtlichen moralischen wie ästhetischen Grenzüberschreitungen konnte in einen heroischen Typus des Genie-Bildes umgeformt werden. Gewalt und Aggressivität (übrigens Attribute, die seit Vasari bildenden Künstlern ganz selbstverständlich und geradezu affirmativ beigegeben worden waren) gehörte nun zum Komponistenbild als Genie hinzu. So heißt es etwa in einer Rezension über Beethovens Streichquartett op. 74 in der »Allgemeinen musikalischen Zeitung« von 1811: »Mehr ernst als heiter, mehr tief und kunstreich als gefällig und ansprechend, übt es, wie jedes geniale Werk, an dem Hörer eine gewisse Gewalt aus […] Das […] Adagio – ein dunkles Nachtstück – athmet mehr noch, als finstre Schwermuth, und scheint uns in der düstern Verworrenheit, worin es sich, besonders in der letzten Hälfte, verliert, hart an der Grenze der schönen Kunst hin zu streifen, die bewegen, aber nicht foltern soll.«47 47 Anonym: »Recension. Quatuor […] par L. v. Beethoven«, in: Allgemeine musikalische Zeitung 13/Nr.  21 (1811), Sp.  349–351 (Hervorhebungen: M. U.). Im weite-

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Diese Metaphern von Gewalt und Aggression freilich setzen sich so klar gegen die Weiblichkeitsvorstellungen der Zeit ab, dass eine Vereinbarkeit von »genial« und »weiblich« nicht mehr denkbar schien. Als dritte, dem Genie eingeschriebene substantielle Geschlechterkomponente ist das Schöpfer-Konzept zu nennen, das Kreativität ebenso einschließt wie Potenz.48 »Argumentativ wurde«, so Beatrix Borchard, »die an den Körper einer Frau gebundene Fähigkeit, Kinder zu gebären, mit der angeblich den Geist eines Menschen männlichen Geschlechts voraussetzende Fähigkeit, Werke hervorzubringen, parallelisiert. Diese Konstruktion schloß aus männlicher Sicht Kunstproduktion von Frauen aus, und zwar ganz explizit.«49

Und so wie in diesem Kontext das Schöpfer-Genie ausschließlich männlich gedacht werden kann, ist ihm die Muse als weiblich konnotiertes, und durchaus in erotischem Spannungsverhältnis gedachtes Pendant zugewiesen.50 Diese Vergeschlechtlichung des Genie-Begriffs zeitigte nachhaltigen Einfluss auf die (Musik)Geschichtsschreibung: Mit Hegels »welthistorischem Individuum« und Thomas Carlyles »On Heroes, Heroe-Worship, and the Heroic in History« sind nur zwei (wenngleich für die deutschsprachige Diskussion zentrale) Konzepte geschichtsphilosophischer und historiografischer Konzepte benannt, die aus dem Genie-Begriff einerseits und dessen Vergeschlechtlichung andererseits eine Heroengeschichtsschreibung argumentierten, die auch Friedrich Nietzsche in einer »monumentalischen His-

ren Verlauf der Rezension tauchen weitere mit Aggression assoziierte Begriffe wie »schneidend« oder »kriegerische Tänze« auf. Die Attributierung mit Metaphern der Gewalt(ausübung auf das Publikum) wird übrigens in der Rezeption der Avantgarde um 1900 wieder auftauchen. Vgl. dazu Martin Eybl (Hg.), Schönbergs Skandalkonzerte 1907 und 1908. Die Befreiung des Augenblicks. Eine Dokumentation, Wien 2004. 48 Vgl. Christoph Müller-Oberhäuser, Art. »Genie«, in: Lexikon Musik und Gender, hg. von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld, Kassel und Stuttgart 2010, S. 353. 49 Beatrix Borchard, »Beethoven: Männlichkeitskonstruktionen im Bereich der Musik« in: Kunst, Geschlecht, Politik. Männlichkeitskonstruktionen und Kunst im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, hg. von Martina Kessel, Frankfurt a. M. und New York 2005, S. 65–83, hier: S. 69. 50 Vgl. dazu auch Stephen Downes, The Muse as Eros. Music, Erotic Fantasy and Male Creativity in the Romantic and Modern Imagination, Aldershot 2006.

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torie« umgesetzt sehen wollte: verstanden als »Fackel-Wettlauf«51 der »Hundert-Männer-Schaar«52: »Dass die grossen Momente im Kampfe der Einzelnen eine Kette bilden, dass in ihnen ein Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende hin sich verbinde, dass für mich das Höchste eines solchen längst vergangenen Momentes noch lebendig, hell und gross sei – das ist der Grundgedanke im Glauben an die Humanität, der sich in der Forderung einer monumentalischen Historie ausspricht.«53

Der Biograf Emil Ludwig nahm Nietzsche beim Wort und synthetisierte die Aneinanderreihung von Genies mit dem Hegelschen Konzept des »welthistorischen Individuums«: In »Genie und Charakter«54 beschrieb er eine Reihe »tätige[r] und betrachtende[r], handelnde[r] und bildende[r] Menschen […], alle genialisch, alle problematisch.«55 Überdeutlich auch hier die Demarkationslinie der Geschlechterdichotomie, die dem Genie-Bild inzwischen unverrückbar eingeschrieben war, denn unter den biografierten »Menschen« befindet sich keine Frau, allenfalls werden sie als Ehefrauen thematisiert und bekräftigen, als (meist namenlose) Randfiguren, das Bild des Genies. Beispielhaft hier aus der Biografie Otto von Bismarcks: »Die Frau ist hin, der er durch beinah 50 Jahre alle zurückgedrängte Wärme ins Herz gegossen, die draußen immer erkalten mußte. In dieser Frau lag alles verkörpert, was seine problematische Natur an Weltflucht, an Sehnsucht nach Stille, Wald und Haus in Unruh hielt, wenn ihn der ebenso starke Wunsch nach Wirkung und Aktivität, der Wille zur Gestaltung immer wieder in Bewegung, Staat und Dienst zurückhielt. Je turbulenter sein Seelenleben im Kampfe wogte, um so gleichmäßiger mußte die Ehe sein, und sie war’s. […] Bismarck war keine glückliche Natur, und er wußte es. Aber er nahm das Leben wie ein Mann.«56 51 Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873, hg. von Giogrio Colli und Mazzimo Montinari, München 1980, S. 259. 52 Ebd., S. 261. 53 Ebd., S. 259. 54 Dass Emil Ludwig mit dem Titel Genie und Charakter auf Otto Weiningers Geschlecht und Charakter anspielte, mag hier nur genannt sein, es wäre ein eigenes Thema, dieser Verbindungslinie nachzugehen. 55 Emil Ludwig, Genie und Charakter. Zwanzig männliche Bildnisse, Berlin 1927, S. 15. 56 Ludwig, »Bismarck«, in: Genie und Charakter. Zwanzig männliche Bildnisse, Berlin 1927, S. 56f.

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Die Musikgeschichte partizipierte an diesen historiografischen Konzepten, hatte vor allem in Ludwig van Beethoven eine Person, die sich nach der frühen Einpassung in das Genie-Bild hierin einfügen ließ. So heißt es etwa in der Beethoven-Biografie von Romain Rolland: »Das Leben derer, deren Geschichte wir zu schreiben versuchen, war fast immer ein langes Martyrium. Sei es, daß ein tragisches Geschick ihre Seele schmiedete auf dem Amboß von leiblichem, seelischem Schmerz, von Unglück und Krankheit; sei es, daß ihr Leben verwüstet wurde, ihr Herz zerrissen vom Anblick der Leiden, der namenlosen Schmach, die ihre Brüder folterten. […] Der Anführer dieser Legion der Helden sei Beethoven, der Starke, Reine. […] Nach Jahren des Kampfes und der übermenschlichen Anspannung aller Kräfte dahin gelangt, sein Schicksal zu überwinden und seine Aufgabe zu vollenden, die, wie er sagte, darin bestand, der armen Menschheit ein wenig Mut einzuflößen, rief dieser siegreiche Prometheus einem Freunde, der zu Gott flehte, zu: ›O Mensch, hilf dir selbst!‹«57

Vielgelesen und vor allem auch während des Ersten Weltkriegs beliebte Frontlektüre, wird an Rollands Buch nicht zuletzt auch erkennbar, dass Beethoven über die Musik hinaus wie kaum eine andere Künstlerfigur zum Prototypen des Komponisten und zum Identifikationsobjekt ersten Ranges für eine Gesellschaft geworden war, in der das Heroisch-Aggressive mit dem Kultivierten in Einklang gebracht werden sollte.58 Neben diesen Wechselwirkungen mit (musik)historiografischen Konzepten zeitigte das Genie-Bild unvermeidlicherweise auch Auswirkungen auf das Selbstbild von Komponistinnen und Komponisten. Besonders erstere mussten Strategien entwickeln,59 sich zu dem männlich konnotierten Genie-Begriff zu positionieren. Damit wird das weite Feld von künstlerischer Selbstinszenierung betreten,60 das hier nur insofern gestreift werden soll, als die Wechselwir57 Romain Rolland, Ludwig van Beethoven, Zürich 1922, S. 11. Vgl. zur Beethoven-Interpretation durch Rolland auch Stefan Hanheide, »Die Beethoven-Interpretation von Romain Rolland und ihre methodischen Grundlagen«, in: Archiv für Musikwissenschaft 61/4 (2004), S. 255–274. 58 Vgl. dazu Andreas Reckwitz, »Umkämpfte Maskulinität. Zur Transformation männlicher Subjektformen und ihrer Affektivitäten, in: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, hg. von dems., Bielefeld 2008, S. 177–196, besonders S. 186–188. 59 Dass auch Komponisten sich im Kontext ihres künstlerischen Selbstbildes mit dem Genie-Begriff auseinanderzusetzen hatten, steht außer Frage, muss an dieser Stelle aus Platzgründen aber zurückgestellt werden. 60 Vgl. dazu u. a. Michael Heinemann, »Liszts Maskeraden«, in: Biographische Konstellation und künstlerisches Handeln, hg. von Giselher Schubert, Mainz 1997, S. 81–93; Anselm

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kungen zwischen den beschriebenen Diskursen und Entwicklungen einerseits und konkreten Komponistinnen andererseits in einigen wenigen Beispielen aufgezeigt werden sollen. Die Vergeschlechtlichung des Genie-Begriffs verlangte von Komponistinnen, für ihr künstlerisches Tun eine Legitimationsstrategie zu entwickeln.61 Es ist dabei zu betonen, dass diese Notwendigkeit unabhängig von ästhetischen Fragen bestand. Denn bevor diese Fragen überhaupt zur Diskussion hätten stehen können, war der Zugang zu den konkreten Handlungsspielräumen des Komponierens (Ausbildungsstätten, öffentliches Konzertwesen etc.) qua Geschlecht entweder verschlossen oder zumindest in hohem Maße (und unter Verweis auf das Geschlecht) zugangsbeschränkt. Dessen waren sich Komponistinnen sehr wohl bewusst, und eine der am häufigsten zu findenden Ausweichstrategien war die Einnahme einer konträren Position, die gleichsam auf der Ebene der Vergeschlechtlichung den Anschluss an den GenieBegriff bot. Wie das Genie ausschließlich männlich konnotiert war, war die Bescheidenheit weiblich konnotiert: »Dem Mädchen steht die Schaam, und Prahlerei dem Mann.«62 Eine Bescheidenheitsstrategie (und als solche ist sie zu benennen, denn es ist darunter kein Charaktermerkmal, sondern eine Selbstinszenierungsstrategie zu verstehen) ist tatsächlich die am häufigsten anzutreffende, wenn es um die Teilhabe von Frauen an der Komposition geht. Um nur zwei Beispiele von vielen zu nennen: Maria Theresia Paradis schrieb im Widmungstext der Ballade »Lenore« (gedruckt 1790, adressiert an Gottfried August Bürger): »Sehen Sie nur, welch ein Wagestück ich begangen habe – Ich unternahm es, eines ihrer schönsten Kinder, nach meinem Geschmacke gekleidet, in die Welt zu schicken. […] Wäre die Rede hiebey, von gelehrten Abhandlungen, von philosophiGerhard, »Verdi-Bilder«, in: Verdi-Handbuch, hg. von dems. und Uwe Schweikert, Kassel u. a. 2001, S. 1–23; Camilla Bork, »Zwischen Literarisierung und Reklame. Paganini im Spiegel der Anekdote«, in: Anekdote – Biographie – Kanon. Zur Geschichtsschreibung in den Schönen Künsten, hg. von ders. und Christian von Zimmermann, Köln und Wien (Biographik. Geschichte – Kritik – Praxis 1) (in Druck) sowie Janina Klassen, Clara Schumann. Musik und Öffentlichkeit, Köln und Weimar 2009 (Europäische Komponistinnen 3). 61 Sängerinnen und Instrumentalistinnen wären an dieser Stelle gesondert zu betrachten, da hier neben der Genialität andere (Selbst)Inszenierungsmuster (Virtuosin, Diva u. a.) zur Verfügung standen, die mit dem Genie-Begriff in einzelnen Facetten konform gehen konnten. Zu (Selbst)Inszenierungsstrategien der Diva vgl. Rebecca Grotjahn, Dörte Schmidt und Thomas Seedorf (Hgg.), Diva. Die Inszenierung der übermenschlichen Frau. Interdisziplinäre Untersuchungen zu einem kulturellen Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts, Schliengen 2011 (Forum Musikwissenschaft 7). 62 Lessing, »An den Herrn Marpurg« (Anm. 14), S. 66.

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schen Untersuchungen u. d. gl., so wäre es freylich unverzeihlich naseweis für ein Mädchen, sich hinein zu mischen; allein, wenn die Sprache von Einbildungskraft und Gefühl ist, so denke ich, dürfte das Mädchen wohl auch ein Wörtchen mitsprechen. Zwar hätte ich dieses Wörtchen zu Hause für mich sprechen können, ohne es in die Welt hinein zu schicken; aber was kann denn ich dazu, dass einige Musikfreunde mich so lange quälten, bis ich es heraus gab?«63

Zwar gehorchen Paratexte, wie im zitierten Fall das Widmungsschreiben, eigenen Anforderungen, die bei der Interpretation berücksichtig werden müssen, und der Hinweis auf die Freunde, die zur Herausgabe drängen, ist ein paratextueller Topos. Auffällig aber doch, dass Paradis detailreich argumentiert, um die Veröffentlichung ihrer Komposition zu rechtfertigen: etwa der Verweis auf die Textart (Ballade als erzählende Form) oder auch die Metapher des »in die Welt-Schickens«, die die Komponistin als Zurückbleibende, Zuhausebleibende markiert. Es ist mithin die Komposition selbst, die – gleichsam personifiziert – mit »starkem Wunsch nach Wirkung und Aktivität«, nach »Wille zur Gestaltung immer wieder in Bewegung« nach außen tritt, während Paradis zu Hause »im Stillen« verbleibt.64 Ähnlich einige Jahre später Fanny Hensel, geb. Mendelssohn, im Grunde eine prädestinierte Person für die Aufnahme in die Musikgeschichte nach Matthesonscher Vorstellung: Die Kriterien, die Mattheson für die Aufnahme in seine »Ehren-Pforte« aufgestellt hatte, hätte sie, die im Sinne der Aufklärung früh und intensiv ausgebildet wurde, deren künstlerisch höchste Kompetenz sich mit moralischer Integrität verband, bestens erfüllt. Doch zu letzterem Kriterium gehörte für sie im Sinne der bürgerlichen Weiblichkeitsideale vor allem Bescheidenheit, und gerade diese hätte sich mit der Veröffentlichung ihrer Kompositionen (mit dem »Ausstellen«, wie es bei Auernhammer hieß) nicht vereinbaren lassen. Nur so lässt sich auch der »Befehl des Vaters gegen Professionalisierung«65 verstehen, den Fanny Hensel noch als erwachsene Frau befolgte. In ihrem Brief an den Bruder, er möge doch der Veröffentlichung einiger Lieder zustimmen, spricht sie noch einmal von jener Furcht, gegen das 63 Gottfried August Bürger, Lenore. In Musik gesetzt von Maria Theresia Paradis, Wien 1790. 64 Dass es sich hierbei um eine Inszenierungsstrategie handelt, wird auch vor dem Hintergrund deutlich, dass Paradis ausgedehnte und durchaus erfolgreiche Reisen als Pianistin unternahm, sie diesem hier von sich entworfenen Bild einer »im Stillen zu Hause Verbleibenden« realiter nicht entsprach. Vgl. dazu Marion Fürst, Maria Theresia Paradis. Mozarts berühmte Zeitgenossin, Köln und Wien 2005 (Europäische Komponistinnen 4). 65 Peter Schleuning, Fanny Hensel, geb. Mendelssohn. Musikerin der Romantik, Köln und Wien 2007 (Europäische Komponistinnen 6), S. 149.

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Familienoberhaupt aufzubegehren und damit sich eines moralischen Fehlverhaltens schuldig zu machen. Nachdem sie ihm dann den Entschluss mitteilt, tatsächlich zu veröffentlichen, schließt sie: »Schande hoffe ich Euch nicht damit zu machen […]«66 Der Begriff »Schande« wird im »Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart« von Johann Christoph Adelung definiert als: »Hoher Grad der Unehre, das Urtheil anderer von uns, so fern es mit Unehre und Erniedrigung in der bürgerlichen Gesellschaft verbunden ist, und der Zustand, da man einem solchen Urtheile unterworfen ist; wo es der Ehre entgegen stehet.«67 Und in eben diesem Sinne erläuterte er auch Fanny Hensels Selbstverortung als Komponistin, die sie mit dem Schritt, einige Lieder zu veröffentlichen, erstmals und mit dem Gefühl der Unehrenhaftigkeit individuell vornimmt. Dieser schwierige Prozess, sich über das als ehrbar verstandene Verhalten innerhalb der Bescheidenheitsvorstellungen hinwegzusetzen, macht nicht zuletzt die engen Grenzen erkennbar, innerhalb derer sich eine komponierende Frau zu bewegen hatte. Grenzüberschreitungen, wie sie dem Genie selbstverständlich zugestanden, ja für sein künstlerisches Handeln geradezu als notwendige Prämisse erachtet wurden (»Suppen-Anekdote«), waren für Frauen nicht vorgesehen. Der Ausgangspunkt der Überlegungen, dass Komponistinnen mithilfe von Bescheidenheitsstrategien Handlungsspielräume erlangten, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bescheidenheit als Attribut durchaus auch von Kompo66 Der Brief lautet in größerem Zusammenhang: »Eigentlich sollte ich Dir jetzt gar nicht zumuthen, diesen Quark zu lesen, beschäftigt wie Du bist, wenn ich Dir nicht hätte schreiben müssen, um Dir etwas mitzutheilen. Da ich aber von Anfang an weiß, daß es Dir nicht recht ist, so werde ich mich etwas ungeschickt dazu anstellen, denn lache mich aus, oder nicht, ich habe mit 40 Jahren eine Furcht vor meinen Brüdern, wie ich sie mit 14 vor meinem Vater gehabt habe, oder vielmehr Furcht ist nicht das rechte Wort, sondern der Wunsch, Euch a. Allen die ich liebe, es in meinem ganzen Leben recht zu machen, u. wenn ich nun vorher weiß, daß es nicht der Fall seyn wird, so fühle ich mich rather unbehaglich dabei. Mit einem Wort, ich fange an herauszugeben, ich habe Herrn Bocks Liebesbewerbung um meine Lieder, u. seinen vortheilhaften Bedingungen endlich ein geneigtes Ohr geliehen, u. wenn ich mich aus freier Bewegung dazu entschlossen habe, u. Niemanden von den Meinigen verklagen kann, wenn mir Verdruß daraus entsteht, (Freunde u. Bekannte haben mir allerdings lange zugeredet) so kann ich mich anderseits mit dem Bewußtseyn trösten, die Art von musikal. Ruf, die mir zu solchen Anerbietungen verholfen haben mag, auf keinerlei Weise gesucht oder herbeigeführt zu haben.« Zitiert nach: Schleuning, Fanny Hensel (Anm. 66), S. 238. 67 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Wien 1811, hier zitiert nach der Online-Ausgabe: http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009133_7_0_874 (Zugriff: 10.12.2011).

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nisten als Inszenierungsmuster genutzt wurde,68 allerdings auffallend anders. So wird die Bescheidenheit des Geigers und Komponisten Louis Spohr gerühmt, allerdings mit dem Ziel, den Virtuosen aus der Aura des Scharlatans, die etwa dem Kollegen und Konkurrenten Niccolò Paganini anhaftete (bzw. von ihm als Selbstinszenierungsmuster gepflegt wurde69), zu befreien. Stattdessen steht hier Bescheidenheit für ausgewiesenes Künstlertum, flankiert durch die Hinweise auf die Gattung des Streichquartetts sowie durch die drei Namen, zu deren »klassischer Trias« der Name Spohr hinzugefügt wird: »ein Preciösthun, wie man es bei Künstlern findet, war ihm ganz fremd […]. So war er auch jeden Abend bis zum spätesten Alter gern erbötig, Quartett zu spielen, […] so eingehend in den Sinn der Compositionen, wird man gewiß nicht leicht wieder Quartetten von Haydn, Mozart, Beethoven und Spohr vortragen hören!«70

68 Dass Bescheidenheit zum autobiografischen Topos gehörte, wurde bereits erwähnt. In dieser Funktion wurde Bescheidenheit selbstverständlich auch in den Vorworten der Autobiografien von Komponisten eingesetzt. Dass gute Freunde zur Niederschrift und Drucklegung von Autobiografien aufgefordert hätten, ist dabei als ein Muster zu erkennen, das nicht auf reale Gegebenheiten, eher schon auf einen zur Attitüde geronnenen Auftakt in das autobiografische Schreiben gelesen werden sollte. Diese Hinweise auf Bescheidenheit, die sich entsprechend auch in den Autobiografien von Louis Spohr, Johann Adam Hiller, Richard Wagner u.v.a. finden, ist damit primär nicht als Selbstinszenierung, sondern vor allem als autobiografische Typik zu verstehen. Zur Autobiografik vgl. Michaela Holdenried, Autobiographie, Stuttgart 2000, sowie Martina WagnerEgelhaaf, Autobiographie, Stuttgart und Weimar 2000. 69 Bork, »Zwischen Literarisierung und Reklame« (Anm. 61). 70 Georg H. Wigand, »Vorrede«, in: Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, Kassel und Göttingen 1860, S. VIII (Hervorhebung im Original).

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Wen küsst die Muse? Zur Autorschaft der Sängerin

für Krystyna Michałowska: Cierpliwość. Wytrwałość. Wdzięczność. Hesiods Musenkuss Vor dem Anfang des Erzählens vom Werden und Wirken der Götter steht der flüchtige Gesang der Musen. Es ist eine unschlagbare Selbstinszenierung göttlicher Autorisierung, die Hesiod an den Anfang seiner Theogonie stellt: »Also sprachen die Musen, des Zeus wohlredende Töchter. Und sie verliehn mir den Stab, ein Gesproß frischgrünendes Lorbers Brechend, bewunderungswerth; und hauchten mir süßen Gesang ein, Göttlichen, daß ich priese, was sein wird, oder zuvor war; Hießen mich dann das Geschlecht der unsterblichen Seligen feiern, Ihrer selbst im Beginn und im Ausgang immer gedenkend.« (Proömium 29–34)1

Wie Johann Heinrich Voß hier übersetzt, obliegt es Hesiod selbst, den Musen am Anfang und Ende seiner Erzählung zu gedenken. Unwillkürlich schiebt sich damit noch vor den Anfang der Welt mit der Geburt von Gaias und Chaos’ Kindern ein dichterischer Übergangsritus. Der »Musenkuss« ‒ dieses Einhauchen des süßen Gesangs ‒ dient als Signal einer Transformation: vom Nicht-Sänger zum Sänger, vom Wortlosen zum Wortmächtigen. Regelmäßig benutzen antike Dichter dieses Performativ der Musen-Anrufung, um das Wort zu ergreifen. Aus Sicht der Ritualforschung lässt sich somit der kultursemiotische Dreischritt ansetzen: Der Dichter wird aus der Gemeinschaft der 1 Hesiod, Theogonie oder Der Götter und Göttinnen Geschlecht, übersetzt von Johann Heinrich Voß, Heidelberg 1806, Proömium 29–34.

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Rezipienten ausgegliedert, er agiert im Raum der Liminalität zwischen Leben und Werk und wird am Ende der Erzählung wieder in das Leben ohne dichterische Mission integriert. Dieser Hesiod, wie sich das Ich nennt, teilt in seiner Vorrede mit, wie ihn die Musen auserkoren haben. Er sei ein Hirte gewesen, der Lämmer hütete, als unnützer Träumer herumlag und sich den Bauch vollschlug (Proömium 23–26). Erst die Musen haben ihn zum nützlichen Wirken gebracht. Diese Informationen wurden häufig als autobiografische Informationen gelesen, zumal keine weiteren Belege zum Dichter tradiert sind. Nach Abschluss des Erzählvorgangs wäre für Hesiod dementsprechend eine Rückkehr in sein Leben als Hirte zu erwarten. Nach genauerer Lektüre der zitierten Stelle bleibt letztlich unentscheidbar, wie sich der Gesang der Musen zu Hesiods eigenem Gesang verhält. Handelt es sich um eine regelrechte Entsendung oder nur um ein Hilfsangebot der Musen? Flüstern sie ihm den Wortlaut ein, liefern sie nur den Anstoß oder schaffen sie lediglich eine angenehme und kreative Umgebung? Nicht nur das Verhältnis zwischen Dichter und Musen bleibt vage, sondern auch der Status dieser Autorisierungsstrategie innerhalb der Erzählung ist problematisch. Der Musenkuss lässt sich mit narratologischem Blick auf die Theogonie kaum als Rahmenerzählung bezeichnen noch lässt sich die Kategorie des modernen Autors auf eine historische Figur des 7. Jahrhunderts v. Chr. anwenden. Autorschaft, wie sie heute in den Kulturwissenschaften diskutiert wird, ist eine mehr oder weniger scharf definierte ökonomische, juristische und nicht zuletzt diskursanalytische Größe der Neuzeit.2 Umgekehrt haben sich in modernen Texten antike Topoi der Inspiration und Urheberschaft erhalten und vor allem seit der Genie- und Autonomieästhetik neuen Aufwind erfahren. Sie kommen den Bedürfnissen biografistischer Rezeptionserwartungen entgegen und sind zwischen autobiografischen und okkulten Autorisierungsstrategien angesiedelt, beispielsweise mit Herausgeberfiktionen in Briefromanen oder mit Vor- und Nachwörtern des »Verfassers«. Neben solchen biografistischen Aspekten sind mediale und performative Transformationsprozesse anzutreffen: Die Theogonie ist Gesang. Der Gesang der Musen stellt deshalb nicht nur eine intermediale Transformation vom weiblich konnotierten Gesang zur männlichen Schrift dar, sondern zugleich eine mnemotechnische Reminiszenz. Sorgte in der oralen Tradierung der Hexameter dafür, dass die Erzählung Generationen überdauern konnte, so haben sich in der literalen Tradition paratextuelle Angaben etabliert (Dank, Widmung, Motto), um den Text einordnen und erinnern zu können. 2 Für die Musikwissenschaft vgl. Michele Calella, Musikalische Autorschaft. Der Komponist zwischen Mittelalter und Neuzeit, Habil. masch., Universität Zürich 2003.

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Stimme, Schrift und geschlechtsspezifische Autorschaft Einer der auffälligsten Aspekte an den antiken überlieferten Topoi, die sich in neuzeitlichen Texten erhalten haben, ist die Gender-Konstellation, die mit einer binär konzipierten Medialität von Stimme und Schrift verbunden ist. Sie zeigt sich im ambivalenten Gegensatz zwischen männlichem Erzählen und weiblichem »Hauch« sowie zwischen männlich konnotierter Singularität und weiblichem Kollektiv (erst bei Hesiod sind es neun namentlich genannte Musen). Der männliche Künstler beruft sich auf ein weibliches Kollektiv, das allegorisch als Vitalität, Inspiration, Kreativität zu deuten bleibt. In Raffaels vatikanischem Parnaß-Fresco (um 1510) kommen Dichter und Dichterinnen der Antike und Renaissance miteinander ins Gespräch, beschützt von dem Musenführer Apoll und neun Musen. Die autonomieästhetische Zuspitzung auf das singuläre männliche Genie, das nachher die gesamte westeuropäische Musik- und Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts dominieren soll, blieb nicht unwidersprochen, etwa in einem gleichsam ironisch zu lesenden Bildkommentar durch die Künstlerin Angelika Kauffmann (1788): Sie stellt in ihrer allegoriekritischen Kreidezeichnung Die Musen des Dramas huldigen Goethe den Dramatiker Goethe als steinerne Büste dar, während sich die dazu gruppierten, überaus sinnlich-vitalen Musen Thaleia und Melpomene mehr oder weniger interessiert an Goethes Bildnis zeigen. Wie die Frauen- und Geschlechterforschung an vielen Beispielen zeigen konnte, war Frauen der Zugang zu einer Autorschaft, die derjenigen von männlichen Autoren entsprochen hätte, lange verwehrt. Das Konzept der Autorschaft ist zwar theoretisch ein beiden Geschlechtern zugängliches Modell; historisch ist es aber bekanntermaßen für verschiedene Künste und Genres unterschiedlich stark männlich oder weiblich konnotiert. Die Bezeichnung »Autorin« verbreitete sich im Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts nur sehr zögerlich und dabei häufig als pejorativ gebrauchte Ableitung vom männlichen »Autor«.3 Für die Komponistin und Künstlerin gilt Ähnliches: Es galt, sich einen Namen zu machen;4 zu publizieren und dabei gleichgestellte ökonomische und juristische Rechte am geistigen Eigentum wahrzunehmen, ist 3 Vgl. Kerstin Kazzazi, »Eine Hand mit Armbändern. Zur sprachgeschichtlichen Asymmetrie des Autorenbegriffs«, in: Autorschaft. Genus und Genie in der Zeit um 1800, hg. von Ina Schabert und Barbara Schaff, Berlin 1994 (Geschlechterdifferenz & Literatur 1), S. 21–39. 4 Vgl. Barbara Hahn, Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen, Frankfurt a.  M. 1991, und Susanne Kord, Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorenschaft 1700–1900, Stuttgart 1996.

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dafür unverzichtbar. Beides zugleich war Frauen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nur eingeschränkt und zumeist unter großen Schwierigkeiten möglich. Die feministische Forschung der letzten Jahrzehnte bemühte sich darum, weibliche Autorschaft der männlichen gleichstellen zu wollen, und begann damit just zu einer Zeit, als die strukturalistischen und poststrukturalistischen Debatten das emphatische Autorkonzept und die damit gegebene Einheit von »Leben und Werk« rigoros anzuzweifeln begannen.5 Dieses Dilemma zwischen dem theoretisch möglichen Dementieren der Geschlechterdifferenz einerseits und ihrem anerkennungspolitischen Markieren andererseits hat vielleicht in der kreativen Frau ihre größte Herausforderung gefunden. Rege methodische Diskussionen über Biografik, die damit zusammenhängenden Kanonisierungsprobleme sowie das berechtigte Monieren eines eklatanten Theoriedefizits scheinen diese Vermutung zu bestätigen.6 Ohne die beiden kanonischen Autorschaftstexte von Roland Barthes und Michel Foucault noch einmal zitieren zu wollen, sei nur darauf hingewiesen, dass sie beide im generischen Maskulinum verharren und keine geschlechtsspezifische Perspektive eröffnen. Und obwohl sie beide einer Autorschaftskritik zuarbeiten, setzen sie unterschiedliche Akzente, die für transmediale Zusammenhänge relevant sein können: Roland Barthes geht davon aus, dass dem Text traditionell eine Stimme als sein Ursprung vorauszudenken ist und diese Stimme im Akt des Schreibens sich verliert, ja im textuellen Raum der Deutungsmöglichkeiten des Lesers nicht mehr gehört wird. Der vielzitierte »Tod des Autors«, der als nietzscheanische Metapher die Abkehr von einer bedeutungsstiftenden Einheit hinter dem Text einfordert, kann deshalb auch als ein Prozess des Verstummens verstanden werden. Nicht von ungefähr betont Barthes die historischen Dimensionen sprachlicher Performanz. Dazu gehören nach Barthes Formeln »wie das Ich erkläre der Könige oder das Ich singe der frühantiken Dichter«7. Dass hinter

5 Sigrid Nieberle, »Rückkehr einer Scheinleiche? Ein erneuter Versuch über die Autorin«, in: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, hg. von Fotis Jannidis und Gerhard Lauer, Tübingen 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71), S. 255–272. 6 Vgl. Andrea Rinnert, Körper, Weiblichkeit, Autorschaft. Eine Inspektion feministischer Literaturtheorien, Königstein i. Ts. 2001, sowie Esther Marian, »Zum Zusammenhang von Biographie, Subjektivität und Geschlecht«, in: Die Biographie ‒ Zur Grundlegung ihrer Theorie, hg. von Bernhard Fetz, Berlin und New York 2009, S. 169–198, und Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld (Hgg.), Lexikon Musik und Gender, Kassel und Stuttgart 2010. 7 Vgl. Roland Barthes, »Der Tod des Autors«, in: ders., Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a. M. 2006 (Kritische Essays IV), S. 57–63.

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dem Autor eine »menschliche Person«8 vermutet wird, die im Zuge der Entwicklung des modernen Subjektbegriffs entstanden sei, wie Barthes schreibt, lässt sich zwar für den Einzelfall historisch rekonstruieren, ist jedoch nicht als ahistorische heuristische Kategorie zu rechtfertigen. Daraus folgt für die Textinterpretation, dass die Bedeutungszuschreibung in der Rezeption entsteht und nicht im Akt des Schreibens. Michel Foucault geht hingegen nicht von der Möglichkeit aus, Autor und moderne Person in eins setzen zu können. Für ihn liegen Autorschaft und deren Funktionen in der Moderne gerade darin begründet, dass sich der Autor zum Beispiel in eine Schriftstellerfigur einerseits und eine Erzählerfigur andererseits aufspalten kann. Die Mächtigkeit des Autorschaftskonzepts erklärt sich unter anderem aus der Integration mehrerer Egos unter dem Schirm eines den Diskurs verknappenden Autorennamens (Beethoven spielen, Goethe lesen etc.). Die Autorfunktion ist damit von einer simplen Identifikation des Namens mit einer »Person« abgekoppelt und darüber hinaus von drei wichtigen Aspekten gezeichnet: Sie ist juristisch und institutionell zu denken (Aneignung), weder historisch noch transkulturell als stabil zu bezeichnen und schließlich keinesfalls spontan, sondern nur über sogenannte »komplexe Operationen« zu erreichen.9 Insofern »hat« ein Werk nicht einen vorgängigen Autor, weil die Vorstellung von einem Werk zuallererst über die Autorfunktion entsteht. Es kann immer nur das sein, was wiederum ein Autor geschrieben hat. Barthes hingegen kommt es auf etwas Anderes an: Er denkt seinen Textbegriff von antikem Gesang und künstlerischem Raum ausgehend. Nebenbei verweist er auf die medialen Aspekte des Erzählens und die kollektive Imagination eines »sprechenden« Textes. Lesen meint deshalb vor allem, eine im Text vorübergehend verstummte, gleichsam semiotisch gezähmte Stimme zu hören. Indem man Äußerungen den Regeln des Diskurses unterwirft, gesteht man der verschriftlichten Rede zugleich eine »entpersonalisierte« Aussagefunktion und -ästhetik zu. Mit Hesiod gelesen, finden wir bei Barthes im Grunde die Vorstellung des Musenkusses erhalten: Freilich nicht als genieästhetische Ursprungsfantasie okkulter Kreativitätsphänomene, sondern als eine vorgängige Idealvorstellung der Stimme, die der dichterischen Stimme als Autorisierungsritual vorgeschaltet wird. Erst im Akt des Lesens, still im inneren Ohr oder laut rezitiert, nimmt die Stimme wieder Gestalt an. Denn immer am Anfang und am Ende, so steht es bei Hesiod, gedenken die Dichter des inspirierenden Gesanges der Musen. Um folglich in den grammatischen Raum 8 Barthes, »Der Tod des Autors« (Anm. 7), S. 57. 9 Vgl. Michel Foucault, »Was ist ein Autor?«, in: ders., Schriften zur Literatur, hg. von Daniel Defer und François Ewald, Frankfurt a. M. 2003, S. 234–270.

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des Textverstehens einzutauchen und am Ende dem wieder zu entkommen, nutzen Erzählungen die Stimme als Medium der narrativen Passage. Vom Gesang zur Schrift: autobiografisches Erzählen Wenn die Kultur- und Mediengeschichte gerne den großen evolutionären Bogen spannt, der von der Oralisierung über die Literarisierung bis hin zur Digitalisierung reicht, dann wird Verschriftlichung dabei häufig als technische Fortschrittsgeschichte präsentiert. Technischen Verfahren der Konservierung und Tradierung von Schrift, Bild und Ton wird per se ein soziokultureller Wert zugeschrieben, und sie werden entsprechend über das Moment der ästhetischen Präsenz gestellt. Autobiografien von Sängerinnen und Sängern verdichten geradezu diese Erzählung im Zuge ihrer autobiografischen Entelechie; sie stehen gleichsam metonymisch für die Kulturgeschichte des Abendlandes ein, indem sie sich vom vorsymbolisch lallenden Kleinkind, das wir alle waren, über den artifiziellen Gesang hin zum schreibenden Autorsubjekt entwickelt hätten. Paradoxerweise soll aber darin gerade die Schriftlichkeit ein Phänomen repräsentieren, das die Einzigartigkeit dieser Autorinnen und Autoren ausmacht: ihre perfekte Stimmfärbung und Stimmführung, mit denen sie über lange Jahre hinweg ein Publikum faszinieren konnten. Dass Schrift jedoch keine Stimme vermitteln kann und beide in prekärer Relation zueinander stehen, ist ein viel diskutierter Gegenstand der älteren und neueren Medienphilosophie ‒ von Platon bis Derrida. Für den Kunstgesang wurde dieses Problem bekanntlich von Roland Barthes, der kurzzeitig Gesang bei Charles Panzéra studiert hatte, als »le grain de la voix« thematisiert.10 Als »Medium des Nachlebens« tritt die Stimme zur schriftlichen Erzählung in Konkurrenz.11 Die sich daraus ergebende Spannung, nämlich das Versprechen, von der eigenen Stimmbildung und Mediatisierung zu erzählen, macht ein wichtiges und basales Moment aus, um das anhaltende Interesse an diesen sich im Grunde sehr ähnlichen Sängerinnenbiografien zu erklären. Hierbei spielt die Mythisierung der Stimmritze keine unerhebliche Rolle, dringt doch 10 Vgl. Roland Barthes, »Die Rauheit der Stimme«, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.  M. 1990 (Kritische Essays III), S.  270f., sowie Sabine Bayerl, Von der Musik zur Sprache zur Sprache der Musik. Konzepte zur Spracherweiterung bei Adorno, Kristeva und Barthes, Würzburg 2002, S. 193–240. 11 Vgl. Sigrid Weigel, »Die Stimme als Medium des Nachlebens: Pathosformel, Nachhall, Phantom, kulturwissenschaftliche Perspektiven«, in: Stimme. Annäherung an ein Phänomen, hg. von Doris Kolesch und Sybille Krämer, Frankfurt a. M. 2006, S. 16–39.

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ein offenbar unerklärlicher Laut aus dem Zwischenraum der Glottis, einer buchstäblichen gähnenden Leere, die sich als überaus produktive Leerstelle für physiologische, phonetische, psychosomatische, psychoanalytische und kultursemiotische Deutungsansätze erwiesen hat.12 Weil sich die singenden Autobiografinnen lediglich sporadisch um die Reflexion ihrer Schreibweisen bemühen, stellt sich die Frage nach der Modellierung ihres Kreativitätsmodells umso dringlicher. Während sich männliche Kollegen mit ihrer musikalischen und literarischen Künstlerschaft gleichsam selbstverständlich bzw. selbsterklärend auf die Musen als antagonistischen Inspirationsquell beziehen können, kollidieren im Fall der Sängerin das Modell der einzigartigen und auf sich gestellten Diva mit dem kollektiven Modell der Musen. Traditionell verleiht die Sängerin ihre Stimme dem Komponisten, fungiert also ‒ insbesondere seit der romantischen Musikästhetik und deren Erzähltradition bei E.T.A. Hoffmann u. v. a. ‒ als sinnlich reizvolles Medium für den männlichen Künstler und Autor.13 Dieses Paar verkörpert den symbolischen Gegensatz von Natur (Klang) und Kultur (Schrift) als basale Polarisierung abendländischer Geschlechterdifferenz. Die Loyalität der Interpretin gegenüber dem Urheber der aufgeführten Werke wird im philosophischen und literarischen Diskurs seither nicht selten als komplexe Vater-Tochter-Beziehung modelliert, z. B. mit Hoffmanns Figur des Rates Krespel und seiner Tochter Antonia. Deren Mutter Angela figuriert noch für den älteren Topos der Sängerin, die dem Komponisten Leben und Werk »zur Hölle macht«. Anekdoten zur Barockoper fabulieren solche konkurrierenden Verhältnisse »jenseits von Gut und Böse« aus, indem sie den christlichen Topos der Musik als Teufelswerk fortschreiben.14 Dass Autorschaft in jeglicher Sparte hingegen sonst in

12 Vgl. Sigrid Nieberle, »Stimme, Identität, Geschlecht. Konstruktionen in den Gender Studies«, in: Frauenstimmen, Frauenrollen in der Oper und Frauen-Selbstzeugnisse, hg. von Gabriele Busch-Salmen und Eva Rieger, Herbolzheim 2000 (Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Musik 1), S. 19–36, und Friedrich Kittler u. a. (Hgg.), Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin 2002 sowie Kolesch und Krämer, Stimme (Anm. 11). 13 Vgl. Yvonne Hörmann, Die Musikerfiguren E.T.A. Hoffmanns. Ein mosaikartiges Konglomerat des romantischen Künstlerideals, Würzburg 2008, S. 42–44. 14 Vgl. hierzu auch Rebecca Grotjahn, »Die Teufelinn und ihr Obrister. Primadonnen, Komponisten und die Autorschaft in der Musik«, in: Musik und Emanzipation. Festschrift für Freia Hoffmann zum 65. Geburtstag, hg. von Marion Gerards und Rebecca Grotjahn, Oldenburg 2010 (Oldenburger Beiträge zur Geschlechterforschung 12), S. 131–140.

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Bildfeldern der Zeugung und Vaterschaft verhandelt wird,15 widerspricht dieser Beobachtung nicht – im Gegenteil: Folglich ist der Sängerin der Zugang zu Autorschaft durch die binäre Konstellation zum Komponisten verstellt.16 Darüber hinaus zeichnet sich die Ikonizität der Diva durch ihre Widersprüchlichkeit aus, ihr Oszillieren zwischen fiktionaler und realer Figur.17 Sie agiert sowohl in der Entrückung als auch Nähe zu ihrem Publikum. Deshalb riskiert die medienpräsente Sängerin des 20. Jahrhunderts mit ihrer autobiografischen Darstellung, das eigene Image zu vereindeutigen, wenn sie die biografischen Versprechen auf Entmythisierung einlöst. Vielmehr noch greifen die Erzählstrategien der Divenautobiografie die vorherige bühnenwirksame Selbstinszenierung auf und projizieren sie von der Bühne auf das eigene und nun selbst beschriebene Leben zurück.18 Zum einen lässt sich das Phänomen der modernen Diva über die Mediengeschichte und deren Quantensprünge in der fotografischen und phonografischen Repräsentation um 1900 erklären19 und ‒ damit einhergehend ‒ zum anderen über die Sprachkrise des ausgehenden 19. Jahrhunderts, weil diese Krise ikonische und phonetische Inszenierungsstrategien wechselwirksam beförderte.20 Die Diva inszeniert sich fortlaufend selbst, steht außerhalb ihrer zeitgenössischen Kontexte; sie repräsentiert jene Kunst, die sie zugleich hervorbringt, und ist somit ein performatives Symbol ihrer selbst. Die Autobiografie ist derjenige Ort, an dem sie ihre eigene 15 Vgl. David E. Wellbery, »Kunst – Zeugung – Geburt. Überlegungen zu einer anthropologischen Grundfigur«, in: Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, hg. von Christian Begemann und David E. Wellbery, Freiburg im Breisgau 2001, S. 9–36. 16 Vgl. zu einzelnen Kooperationen die Beiträge in Daniel Brandenburg und Thomas Seedorf (Hgg.), »Per ben vestir la virtuosa«. Die Oper des 18. und frühen 19. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen Komponisten und Sängern, Schliengen 2011 (Forum Musikwissenschaft 6). 17 Vgl. Elisabeth Bronfen, »Zwischen Himmel und Hölle. Maria Callas und Marilyn Monroe«, in: Die Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, hg. von Elisabeth Bronfen und Barbara Straumann, München 2002, S. 43–67. 18 Vgl. Hans-Otto Hügel, »Das selbstentworfene Bild der Diva. Erzählstrategien in der Autobiographie von Sarah Bernhardt«, in: Diva – Die Inszenierung der übermenschlichen Frau. Interdisziplinäre Untersuchungen zu einem kulturellen Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von Rebecca Grotjahn u. a., Schliengen 2011 (Forum Musikwissenschaft 7), S. 37–56. 19 Vgl. Bronfen, Zwischen Himmel und Hölle (Anm. 17). 20 Vgl. Christina von Braun, »Das Weib als Klang. Text, Musik und Geschlecht bei Richard Wagner und Franz Schreker«, in: Diva – Die Inszenierung der übermenschlichen Frau. Interdisziplinäre Untersuchungen zu einem kulturellen Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von Rebecca Grotjahn u. a., Schliengen 2011 (Forum Musikwissenschaft 7), S. 19–36.

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Autorschaft inszeniert und den literarischen Text zur buchstäblichen Bühne ihres Lebens erklärt. An den Gesang und sich selbst erinnern Hätte man je schon davon gehört, dass »die Diva« von Musen inspiriert sei? Wie schreiben Sängerinnen über sich und ihre Stimme selbst? Lassen sich in ihren Autobiografien Spuren von Hesiods Autorisierungsmodell finden? Welche Sorte »Musenküsse« sind in den Texten anzutreffen und gehen ihnen doch zugleich voraus? Als These sei vorangestellt, dass sich die Sängerin als Autorin um die paradoxe Position der schreibenden Muse bemüht. Zunächst ließe sich danach fragen, welche Autorisierungstopoi für die Sängerin und welche für die Autorin beobachtet werden können. Dabei fällt auf, dass lediglich die Autorin eine Legimitation sucht, ihre autobiografische Stimme zu erheben. Die Sängerin hingegen hat für die Erklärung, warum sie ihre Stimme im Gesang erhoben hat, Modelle der »Infektion«21, der Gnade Gottes22, des Wunders23, des »Blitzeinschlags«24, der Potenz einer »Gesangmaschine«25 parat. Erna Berger fasst die Schwierigkeiten, das vertraute Medium zu wechseln und dessen Ausdrucksmöglichkeiten aufzugeben, prägnant zusammen: »Wann schreiben Sie endlich Ihre Memoiren? Ja, wenn man die singen könnte, hätte ich’s längst getan.«26 Ein solcher Erzählauftakt operiert mit der häufig anzutreffenden Rollenprosa, die es im autobiografischen Genre erlaubt, Fremdzuschreibung und Selbsteinschätzung zu differenzieren. Damit werden zwei Egos im Sinne Foucaults etabliert, die zu einer veritablen Autorschaft gehören: Diejenige »Frau Berger«, »Frau Rothenberger«, »Fräulein Hempel« oder »La Nilsson«, die in den Autobiografien über den Musikbetrieb und dabei zugleich in den Worten der Erzählerin in der dritten Person spricht,27 unterscheidet sich grammatisch von der Erzählstimme in der ersten Person. Die populäre Autobiografik und 21 Frieda Hempel, Mein Leben dem Gesang. Erinnerungen, Berlin 1955, S. 15. 22 Anneliese Rothenberger, Melodie meines Lebens. Selbsterlebtes ‒ Selbsterzähltes, München 1972, S. 65. 23 Erna Berger, Auf Flügeln des Gesanges. Erinnerungen einer Sängerin, Berlin 1990, S. 7. 24 Birgit Nilsson, La Nilsson. Mein Leben für die Oper, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2006, S. 43. 25 Berger, Auf Flügeln des Gesanges (Anm. 23), S. 7. 26 Ebd. 27 »Person« führt etymologisch auf die antike Maske am Theater oder die Funktion im öffentlichen Leben zurück; vgl. dazu Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 2. aktualisierte und erweiterte Aufl., Stuttgart und Weimar 2005, S. 101f.

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damit auch Sängerinnenautobiografik vollzieht meistens nur die doppelte Codierung des Ich als Textsubjekt und Textobjekt, reflektiert dieses Verfahren jedoch nicht explizit.28 In Anneliese Rothenbergers Autobiografie geht dies zum Beispiel so weit, dass sie ‒ nach einem Einschub ihres Ehemanns als Erzählerfigur ‒ sich selbst als kursiv gesetztes »Ich« wieder zurückmeldet.29 Es ist dieses autodiegetische Ich, das mit dem Lesepublikum einen »autobiographischen Pakt« schließt, so dass Autorinnenname, Figurenname und Erzählstimme eine übereinstimmende Textinstanz bilden.30 Die Spaltung des erzählten und erzählenden Ich vollzieht sich in ähnlicher Weise in Bezug auf das adressierte Publikum: Demzufolge gäbe es »da draußen« ein Musikpublikum, dessen Vertreter aus Journalismus und Fans die Sängerin auffordern, die Lebensgeschichte preiszugeben, während die erzählende Sängerin mit dem Text zugleich ein Lesepublikum anspricht, das über das Vorleben der Erzählstimme als Singstimme informiert werden soll. Im Hinblick auf die Plot-Gestaltung und den narrativen Diskurs folgt die Sängerinnenautobiografik mit ihren Erzählstrategien im Übrigen der populären Biografik: Häufig werden Verhältnisse intimisiert, Ereignisse und Figuren dramatisiert, der Text mit Anekdoten angereichert, schließlich die Erzählung im Paradigma des Bildungsromans überformt.31 Die Autorinnen legen zudem regelmäßig dar, warum sie sich in ihrem Buchprojekt überhaupt erinnern möchten und die Leserschaft daran teilhaben lassen. Diese Motive der Selbstautorisierung sind nicht sehr vielfältig und zumeist in Mehrfachnennungen zu finden: Es ginge den schreibenden Sängerinnen um kulturhistorische Zeitzeugenschaft (Hempel), ein didaktisches Ansinnen (Berger, Nilsson), Verteidigung gegen üble Nachreden (La Mara, Hempel, Callas) und Entmythisierung des Ikonischen (Berger).32 Auch wird in diesem Zusammenhang stets auf die Notwendigkeit der sorgfältigen technischen Ausbildung für 28 Wagner-Egelhaaf, Autobiographie (Anm. 27), S. 10f. 29 Rothenberger, Melodie meines Lebens (Anm. 22), S. 20. 30 Vgl. Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1994. 31 Vgl. den Überblicksbeitrag von Stefan Porombka, »Populäre Biographik«, in: Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, hg. von Christian Klein, Stuttgart u. a. 2009, S. 122–133. Bedauerlich ist, dass dieser Artikel durchgängig androzentrisch organisiert ist und ausschließlich vom biografischen »Autor« und »Held« spricht. Gerade auch in der Populärkultur sind die Gender-Relationen von einigem Interesse für das Genre. 32 Neben den bisher angeführten Autobiografien vgl. auch die Ausschnitte in folgenden beiden Anthologien: Hans-Peter Müller (Hg.), Schaut her, ich bin’s ... Erinnerungen berühmter Sänger, 2. Aufl., Berlin 1989, und Eva Rieger und Monica Steegmann (Hgg.), Göttliche Stimmen. Lebensberichte berühmter Sängerinnen. Von Elisabeth Mara bis Maria Callas, Frankfurt a. M. 2002 (mit umfänglicher Bibliografie).

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alle nachkommenden Generationen aufmerksam gemacht. Denn eine Diva verdankt ihre Karriere vorwiegend sich selbst, ihrer Begabung, ihrer Konzentration auf die Kunst und vor allem ihrem Fleiß. Deshalb muss die öffentliche Wahrnehmung als musikalisches »Wunder« enttarnt werden, war es doch, wie Erna Berger schreibt, »viel reale Mühe und Arbeit«33. Frieda Hempel versucht es auf eine rechnerische Formel zu bringen: »Zehn Prozent Stimme und neunzig Prozent Fleiß machen eine Karriere! Und ‒ auch das ist wichtig ‒ die körperliche Gesundheit ist notwendig, die uns erlaubt, fleißig zu sein. Wer nicht mehr übt als die anderen, bleibt hinter diesen anderen zurück, er sei denn geradezu ein Genie. Und auch das Genie wird es wahrscheinlich ohne Fleiß nicht sehr weit bringen.«34

An anderer Stelle reduziert sie diese Lebenserfahrung auf eine allbekannte sprachmusikalische Figur: »üben, üben, üben!«35 Aufschlussreich ist auch eine euphemistische Figur wie »Ein Zehntel Stimme ‒ Der Rest Fleiss«36. Wieso wird ein Anteil von 90 Prozent als »Rest« bezeichnet? Was macht jene zehn Prozent aus, die das Eigentliche und scheinbar doch Überwiegende darstellen? »Die Stimme« erscheint in diesen Texten als zu beschreibendes Objekt, als eigenständiges Wesen, das die Sängerin verstehen lernen und in ihren Selbstentwurf als Teil der Persönlichkeit integrieren muss. Letztlich bleibt Stimme jedoch unerklärlich und ist nur im Modus der temporären Aneignung greifbar. Grace Bumbry bringt es drastisch auf den Punkt: »Ich bin so begeistert von dem schönen Klang meiner Stimme, daß ich mich zurücklehne und denke: ›O Gott, wie kann dies nur aus meinem Hals kommen?‹ Ich bekomme Gänsehaut.«37 Darüber hinaus ist die Stimme der permanenten Entwicklung verpflichtet. Dementsprechend setzen manche narrativen Konstruktionen der Autobiografien nicht linear mit Genealogie und Geburt ein, sondern zum Beispiel mit einem Kapitel über eine stimmliche Krise (Erna Bergers AustralienTournee in der Menopause) oder ein riskantes Debut (Birgit Nilsson an der Met). Solche biografischen Prolepsen holen das zentrale Thema der Texte an

33 Berger, Auf Flügeln des Gesanges (Anm. 23), S. 7. 34 Hempel, Mein Leben dem Gesang (Anm. 21), S. 31. 35 Ebd., S. 30. 36 Ebd., S. 27. 37 Zitiert nach: Eva Rieger, »Nachwort«, in: Göttliche Stimmen. Lebensberichte berühmter Sängerinnen. Von Elisabeth Mara bis Maria Callas, hg. von Eva Rieger und Monica Steegmann, Frankfurt a. M. 2002, S. 318.

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den Anfang der Erzählung und streichen damit die hohe Relevanz der Stimme für die Identität der Erzählerin heraus. Um zumindest zeitweise Kontrolle über diese Unbekannte, aber auch Freude an ihr zu haben, sind ‒ so suggerieren es zahlreiche dieser Texte ‒ gleichsam religiöse Opfer nötig, um das »Wunder« präsent zu halten: Sängerinnen opfern dem »Heiligtum Musik« ihr Leben und üben sich in der Konzentration auf den Klangkörper, der sie sind. In den Erinnerungen betonen sie ihre asketische Lebensweise, die von Disziplin und Verzicht beherrscht wird, um eigene Bedürfnisse und vor allem die Stimme kontrollieren zu können: »Denn zur Stimme, zur Schauspielkunst, zum Aussehen, zum Fleiß gehört noch etwas: der Verzicht.«38 Die erzählende Muse Der Topos des Heiligen in übermenschlicher Sphäre ‒ und damit ein direkter intertextueller Bezug zu Hesiods Theogonie ‒ findet sich in diesem Genre immer wieder. Ein explizites Beispiel ist das vorangestellte Motto aus Hofmannsthals und Strauss’ Ariadne auf Naxos bei Erna Berger: »Musik ist heilige Kunst, zu versammeln alle Arten von Mut.«39 Auch implizit klingt das Opfer in der Dativ-Konstruktion von Hempels Buchtitel an: »Mein Leben dem Gesang«. Die metaphysische Dimension äußert sich darüber hinaus in den Ausführungen über verständnislose Musikkritiker, die den Gesangsdarbietungen analytisch und wertend begegnen, wohingegen das nicht-professionelle Publikum emotional reagiert und sich von der Sängerin bereitwillig affizieren lässt. Dieser Skepsis gegenüber der professionellen Rezeption arbeiten auch die Kapitel zur Medienschelte zu, die häufig betonen, dass Stimmen aller Erfahrung nach nur eingeschränkt reproduzierbar sind und von Transzendenz und Präsenz leben.40 Ein überaus auffälliger Aspekt an dieser Memoirenliteratur ist ‒ wie oben bereits angedeutet ‒, dass sich die Sängerin selbst zur Muse stilisiert. Sie stellt sich als Gleiche unter Gleichen dar, als Mitglied eines inspirierenden weiblichen Kollektivs. Dieses Kollektiv bilden bei Hesiod die Töchter des Zeus. Entsprechend finden sich in den Schilderungen der Sängerinnen jene Kindheitserfahrungen, die für die Stimmbildung und Stimmentdeckung entschei38 Rothenberger, Melodie meines Lebens (Anm. 22), S. 77. 39 Berger, Auf Flügeln des Gesanges (Anm. 23), S. 8. 40 Vgl. die Ausführungen zu den frühen Aufzeichnungsmethoden bei Hempel, den RingGesamtaufnahmen bei Nilsson, zum Fernsehen bei Berger und Rothenberger.

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dend waren. Solche Erlebnisse sind stets maternal überliefert und in der weiblichen Großfamilie verortet. Als Musterbeispiel mag hier Erna Bergers zweites Kapitel gelten, wonach die frühe gesangliche Entwicklung und Ermunterung in einem über Jahre männer- und vaterlosen Arrangement erfolgen, denn »Vaters drei Tanten« kümmern sich, zeitweise gemeinsam mit der Mutter, um ihre Nichte.41 Mütter, Tanten, Schwestern und Lehrerinnen repräsentieren in diesen Erzählungen ein symbolisches Kollektiv der Musen, das nicht in direkter Linie genealogisch organisiert sein muss und aus dem sich erst zögerlich das außergewöhnliche Ego der Diva herauslöst. Nicht nur Erna Berger, sondern auch Anneliese Rothenberger erwähnt eine »Tante Käthe«, die ihr in frühem Kindesalter während des Zweiten Weltkriegs Arien und Lieder beibrachte. Woher sie ihre Stimme habe, wird die junge Anneliese Rothenberger gefragt: »Von meiner Tante«, lautet die Pointe dieser Anekdote.42 Ihre weitere Karriere wird in einem Pakt von Mutter und Lehrerin verhandelt: »Sie versündigen sich, wenn Sie dieser Stimme nicht alles opfern,«43 droht Fräulein Schrader der Mutter Rothenberger. Historisch kann die Fixierung auf die weiblichen Familienmitglieder, die hier wichtige Rollen spielen, nur auf den ersten Blick auf familiäre und politische Ereignisse während der beiden Weltkriege und die daraus resultierende »männerarme« Gesellschaft zurückgeführt werden, denn bereits Lotte Lehmanns Tante wird nachgesagt, die »Stimme eines Engels« gehabt zu haben.44 Dieses antiker Tradition verpflichtete Narrativ des Musenkollektivs zeigt sich außerdem selten so klar wie in der Autobiografie Lilli Lehmanns, worin sie ihre Anfangszeit auf dem Grünen Hügel in Bayreuth schildert. Dem Genie Richard Wagners stehen sowohl das zumeist verständnislose Kollektiv von Kunstkonsumenten und Musikhandwerkern gegenüber als auch das stützende der Musiker, Sänger und Sängerinnen. Lilli und Marie Lehmann sowie Minna Lammert bewohnen mit Mutter Lehmann gemeinsame Zimmer und bereiten den ersten Ring des Nibelungen mit vor: »Wir waren die ersten, die zu den Proben kamen, und nicht lange dauerte es, so sangen wir in ›Wahnfried‹ Wagner unsere Rheintöchter-Terzetten auswendig, fehlerlos ‒ wie es sich gehörte ‒ mit unendlicher Lust und Liebe vor.«45 41 Vgl. Berger, Auf Flügeln des Gesanges (Anm.  23), S.  11–26. Vgl. auch die Rollen von Mutter Stina, die gestrenge opferbereite Lehrerin, und des Vaters Nils, des Verständnisvollen, in: Nilsson, La Nilsson (Anm. 24), S. 30–47. 42 Rothenberger, Melodie meines Lebens (Anm. 22), S. 63. 43 Ebd., S. 65. 44 Vgl. Lotte Lehmann, Von Anfang und Aufstieg. Lebenserinnerungen, Wien 1937. 45 Lilli Lehmann, Mein Weg, Leipzig 1913, zitiert nach: Hans-Peter Müller, Schaut her, ich bin’s (Anm. 32), S. 105.

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Aus den Zeus-Töchtern werden hier die Rheintöchter. An späterer Stelle der Autobiografie wird die eigene Stimme mit der Stimme der Schwester nahezu verschmolzen, denn zumindest für ungeübte Hörer bringen sie ein Echo der jeweils anderen hervor: »Manchmal stand ich unten an den Wasserkünsten, meine Schwester oben versteckt oder auch umgekehrt; eine sang unten, die andere markierte das Echo oben, ohne daß jemand ahnte, daß das Echo ›auch Lehmann‹ hieß.«46 An dieser Anekdote fällt die aufschlussreiche Selbstreferentialität des auf Mythen bezogenen Narrativs auf, ist doch Echo diejenige aus dem Kreis der Nymphen, die sich als Geschichtenerzählerin unwürdig erwiesen hatte und von Hera auf die Imitation von bereits Gesagtem festgelegt worden war. Dass nun familiäre Konstellationen, gerade solche mit musikalischen Schwestern und Eltern, eine Sängerinnenkarriere befördern können, bedarf keiner weiteren Erläuterung, zumal die Geschichte der Diva gleichsam notwendigerweise Konkurrenz- und Konvergenzverhältnisse diskutieren muss (etwa für die berühmten Schwestern Pauline Viardot-Garcia und Maria Garcia-Malibran), um den außergewöhnlichen Status der einen unvergleichlichen Stimme und ihrer Karriere hervorzukehren. Interessant ist jedoch die narrative Inszenierung dieser Konfigurationen weiblicher Kollektive, die sowohl als konfliktbeladene, traumatische Erzählungen über Mutter und Schwester – beispielsweise bei Maria Callas47 – als auch sehr lustbetonte und lebenslustige Selbstdarstellungen der Cecilia Bartoli mit Mutter und Schwester in der Pasta-Küche daherkommen können. Zugleich ist mit diesen Mutterfiguren die ungerechte Verteilung von Anerkennung und deren häufig »eiserne« Disziplin angesprochen, die sie den begabten Kindern aufbürden. Sie antizipieren die späteren Erwartungen der Gesellschaft, indem sie das Potential der Töchter erkennen. Wollte man die weit verbreitete Allegorie der Nachtigall für die Sängerin in Überlegungen zu Kollektiv und Individuum miteinbeziehen, ergibt sich ein weiterer interessanter Bezug auf jene Metamorphose, die von Philomela und Prokne erzählt und zur Verwandlung der Schwestern in Nachtigall und Schwalbe führt.48 Gemeinsam versuchen sie, Rache am Ver46 Ebd., S. 114. 47 Sabine Eickenrodt, »Callas oder die chronique scandaleuse. Neue Tendenzen der Starbiographie«, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 6 (Biographisches Erzählen) (2002), S. 191–201. 48 Vgl. Dörte Bischoff, »Die schöne Stimme und der versehrte Körper – Ovids Philomela und die eloquentia corporis im Diskurs der Empfindsamkeit«, in: Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit, hg. von Doerte Bischoff und Martina Wagner-Egelhaaf, Freiburg im Breisgau 2003, S. 249–281, und Rebecca Grotjahn, »A compleat nest of nightingales in her throat – Angelica Catalani und die Stimme(n) des Stars«, in: »Per ben vestir la

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gewaltiger Philomelas, dem Ehemann Proknes, zu nehmen. Auch dabei handelt es sich um die nötige Verständigung zwischen Schwestern, die sich mit Gewalt, verbalem Verstummen, Transformation und Gesang an der Grenze zwischen Kultur und Natur auseinandersetzen müssen. Die körperlichen Dimensionen, die dem Gesang zugeschrieben werden ‒ seine unmittelbare Sensation in der Wahrnehmung sowie die ontogenetischen Aspekte des vorsymbolischen Hörens im Mutterleib und des Schreiens nach der Geburt49 ‒, werden über diese weiblichen Mythisierungsstrategien indirekt immer weiter fortgeschrieben. Autorschaft und Gesang Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die autobiografische Autorschaft der Sängerinnen vorrangig über den fiktionalisierten Akt des Erinnerns konstituiert, der eine Aufspaltung der erzählenden Instanz in ein historischdistanziertes Ich (dritte Person) und ein bekennend-symbolisches Ich (erste Person) mit sich bringt. Dieses für die Autobiografie kaum außergewöhnlich zu nennende, sondern vielmehr konstitutive Verfahren wird jedoch in diesem speziellen Korpus mit einer Selbststilisierung zur Muse kombiniert. Auf diese Weise fallen die Musenfunktion und die Erzählerfunktion, die dem von den Musen »geküssten« Hesiod zukam, zusammen. Womöglich erklärt sich daraus die Spannung zwischen weiblichem Künstlerindividuum und kollektiv organisierter Inspiration, die sich auch an der in den Autobiografien verhandelten Relation von natürlicher Stimme zu kunstvollem Gesang beobachten lässt. Zudem wird über das Aufrufen von Topoi des »Göttlichen« und »Heiligen« an traditionelle Autorisierungskonzepte angeknüpft. Als Besonderheit dieser Autobiografik kann gelten, dass die »komplexen Operationen«, die Foucault als Voraussetzung für die Etablierung der Autorschaft nennt, bereits während der Künstler- und Sängerinnenlaufbahn einsetvirtuosa«. Die Oper des 18. und frühen 19. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen Komponisten und Sängern, hg. von Daniel Brandenburg und Thomas Seedorf, Schliengen 2011 (Forum Musikwissenschaft 6), S. 162–176. 49 Vgl. Sam Abel, Opera in the Flesh. Sexuality in Operatic Performance, Boulder und Oxford/Colorado 1996, Eva Rieger, »Nachwort«, in: Göttliche Stimmen. Lebensberichte berühmter Sängerinnen. Von Elisabeth Mara bis Maria Callas, hg. von Eva Rieger und Monica Steegmann, Frankfurt a. M. 2002, S. 311f., Wayne Koestenbaum, The Queen’s Throat. Opera, Homosexuality, and the Mystery of Desire, New York 1994, sowie Susan J. Leonard und Rebecca A. Pope, The Diva’s Mouth. Body, Voice, Prima Donna Politics, New Brunswick/N.J. 1996.

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zen.50 Zahllose Paratexte zur Konzert- und Bühnentätigkeit liefern bereits eine Figur der dritten Person für die wahrnehmende Öffentlichkeit (Textobjekt) und eine Figur in der ersten Person, die sich nur zu bestimmten Gelegenheiten äußert (Textsubjekt in Interviews, Meisterkursen etc.). Dass dabei die eigene Stimme die Funktion der Musen übernehmen kann, die der Autorin den »lieblichen Gesang« vor jeglichem Akt des Erzählens »einhaucht«, muss als eine genre- und geschlechtsspezifische Konstellation von Autorschaft gelten. Die Stimme allerdings, die Barthes als vorgängig für jeglichen Text ansetzt, verstummt auch in diesen Schriften. Allerdings zeigt sich daran zugleich, dass die Performanz des Gesangs im autobiografischen Text ihre würdige Fortsetzung mittels der bereits erwähnten Formeln erfahren kann: »Schreiben kann nämlich [...] nicht mehr einen Vorgang des Aufzeichnens, des Feststellens, des Darstellens oder des ›Ausmalens‹ bezeichnen (wie die Klassiker sagten), sondern das, was die Linguisten im Gefolge der Oxfordschen Philosophie einen [sic] Performativ nennen, eine seltene (ausschließlich in der ersten Person Präsens auftretende) verbale Form, in der die Äußerung keinen anderen Inhalt (keine andere Aussage) besitzt als den Sprechakt selbst: etwas wie das Ich erkläre der Könige oder das Ich singe der frühantiken Dichter; [...].«51

Die mediale Transformation impliziert demzufolge nicht die Fragen danach, ob und wie man sich unter geänderten Bedingungen ausdrücken kann. Vielmehr scheint es sich um das Ordnen lebensweltlicher Diskurse zu handeln, die als erinnerte Erfahrungen dem Musikbetrieb und dem Beruf der Sängerin anhaften. Vergänglichkeit und Flüchtigkeit der Stimme, aber auch das utopische Begehren danach, können kein technisches Medium kompensieren außer die Stimme selbst, wenn sie erklingt. Ein abschließender Blick soll der Sängerin und ihrer Autorschaft im populären Diskurs gelten. Obgleich Musik von kollektiver Autorschaft lebt (dies selbstverständlich nicht in allen Kulturen und zu allen Zeiten in gleicher Weise), fokussiert sich die Wahrnehmung immer wieder auf einzelne Künstlerinnen und Künstler. Vor allem im Starwesen und Divenkult rücken die Interpretinnen an die Stelle von Urhebern und überschreiben mit ihrem Namen den Namen von Komponisten und Textdichtern. Insbesondere der erwähnte mediengeschichtliche Schub um 1900 mit »Grammophon, Film, 50 Wie Forschung zum Paratext erbrachte, realisieren sich Autor oder Autorin vor allem dort, wo Text und extratextuelle Sphäre operativ verknüpft sind (Epi- und Peritexte). Vgl. Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M. 1989. 51 Barthes, »Der Tod des Autors« (Anm. 7), S. 57.

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Typewriter«52, der es seither ermöglicht, Stimmen zu archivieren und wie Bilder und Texte mit geringem Aufwand massenhaft zu reproduzieren, beförderte in der Literatur- und Kulturgeschichte Verwertungsmechanismen, die darauf beruhen, den Wiedererkennungswert von Künstlerinnen und Künstlern zu steigern, um Vielfalt und Streuung einzudämmen. Dazu ist ein Label vonnöten,53 das in der darstellenden Kunst auch auf der Ikonizität der Figur selbst beruhen kann. Berühmte Sängerinnen und Sänger erhalten auf frühen Grammophonplatten eigene Farben des Firmenlabels zugewiesen. Im Sinne der von Foucault erwähnten »komplexe[n] Operationen« zur Etablierung von Autorschaft tragen solche Imagestrategien der Plattenlabels einen entscheidenden Teil dazu bei, den Werkbegriff vom Komponisten zu lösen und auf Interpreten und Interpretinnen zu verschieben. In Regietheater und Film beobachtet man seit geraumer Zeit Vergleichbares zugunsten der Regisseure, sodass in diesen Disziplinen auch konsequent von kollektiver Autorschaft gesprochen werden müsste, obwohl der Name des Regisseurs oder der Regisseurin als verknappender Code für die Autorschaft des Werkes kursiert (z. B. Der Barbier von Sevilla von Ruth Berghaus oder der Ring von Patrice Chéreau). Die Autorfunktion wirkt dort, wo sie eingesetzt wird, und sie erweist sich als stark medienspezifisch codiert. Der Titel der Primadonna assoluta mag im 18. und 19. Jahrhundert noch Informationen über künstlerische Qualität und sozialen Status der Sängerin enthalten haben; im 20. Jahrhundert wurde daraus gleichermaßen eine ökonomische und mediale Größe, die mit der Inanspruchnahme von Autorschaft einhergeht. Hinzu kommt ein Phänomen, das die Autorschaft der Sängerin nicht nur in Bezug auf die Urheberinnen und Urheber musikalischer Werke definiert, sondern in Relation zu anderen großen Sängerinnen. Dass die Musikkritik häufig mit Vergleichen arbeitet und mit Bezeichnungen wie »die Callas der Gegenwart« oder »der neue Pavarotti« stimmliche Genealogien großer Sänger und Sängerinnen fortschreibt, mag im alltäglichen Diskurs kaum überraschen. Es gibt jedoch auch Sängerinnen, die sich selbst in die Reihe großer Namen stellen und die Vorgängerinnen als gesangliche Schwestern oder auch Ahnschwestern (Urgroßtanten) inszenieren. Ein überaus bekannter Fall ist Frieda Hempels Verwandlung in Jenny Lind. 1920 sollte sie zum 100. Geburtstag der »schwedischen Nachtigall« in New York ein Konzert in historischem Kos52 Vgl. Friedrich Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986. 53 Dirk Niefanger, »Der Autor und sein Label. Überlegungen zur fonction classificatoire Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer)«, in: Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001, hg. von Heinrich Detering, Stuttgart und Weimar 2002 (Germanistische Symposien/Berichtsbände 24), S. 521–539.

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tüm und mit historischem Repertoire geben. Daraus entwickelte sich eine jahrelange Konzerttätigkeit in den USA und Europa, die die beiden Namen Hempel-Lind verquickte.54 Die Inspiration, wie die Lind zu singen und damit deren Namen in einem Zug zu bewahren und zu überschreiben, scheint besonders mit einem speziellen Kostümteil zusammenzuhängen: Die Krinoline, die Lind trug, störte nicht nur moderne Bewegungen auf der Bühne, wie Hempel erzählt, sondern gerät auch zum Streitobjekt mit der Tochter Jenny Linds, die durch die musikalische Resurrektion ihrer Mutter ihr symbolisches und finanzielles Erbe bedroht sah. Ebenso erhielten die Jenny Lind-Frisur und spätere Perücke durchaus fetischartigen Charakter in den Schilderungen,55 indem sich das Begehren nach Anerkennung in diesen Gegenständen des historischen Vorbilds materialisierte. Der Name der Sängerinnen-Autorin blieb so an der Grenze zwischen ihrer eigenen Kunst und der zu imitierenden Kunst der Lind situiert. Wie sehr beide Stimmen zu einer verschmelzen können und damit gesangliche Kollektivität entsteht, galt es zum Beispiel mit dem historisch belegten norwegischen »Echolied« als obligatorischem Programmpunkt zu beweisen. Dass dieser Beweis überhaupt nicht zu erbringen war, weil die Stimme der Lind eben noch nicht konserviert worden war und die Stimme der Hempel somit lediglich auf die Schriften mit Rezeptionszeugnissen verweisen konnte, ist evident. Somit generierte sich die Autorschaft der Sängerin Hempel aus den Verweisen auf namenlose Schrift; ihre Kunstfigur und ihr Name agierten an der Grenze zwischen Kunst und Leben sowie zwischen Geschichte und Gegenwart gleichermaßen, indem sie die Performanz der Lind für ihren eigenen Wiedererkennungswert produktiv nutzen konnte. Ein erst unlängst sehr erfolgreiches Projekt der Cecilia Bartoli verfährt in vergleichbarer Weise. Unter dem Titel Maria sang sie 2007 das überlieferte Repertoire der Maria Malibran ein und platzierte damit acht Weltersteinspielungen in zahlreichen europäischen Chartlisten. Neben der CD und DVD wurden Fernsehdokumentationen über die »Leidenschaft« der einen für die andere Diva produziert;56 vor allem fand eine große Tournee statt, die mit der Rolle, in die Cecilia schlüpfte, überschrieben ist: »Maria«, verehrungswürdigste Jungfrau und Mutterfigur der christlichen Kirche, trifft auf die Heilige der Musik, auf Cecilia. Die Namen sprechen eine deutliche pathetische Sprache, indem das mythisch tradierte Diva-Konzept ins katholische Martyrium transformiert wird. Im gegenwärtigen Musikbetrieb genügt es wie noch 54 Hempel, Mein Leben dem Gesang (Anm. 21), S. 226–233. 55 Ebd., S. 265 und 270f. 56 Vgl. z.  B Michael Sturminger, Cecilia Bartoli – Maria Malibran. Die Geschichte einer Leidenschaft (Dokumentation), WDR 2008, Erstausstrahlung Arte TV am 22.12.2008.

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für Hempel freilich nicht mehr, in historischen Kostümen aufzutreten. Das Image der musikwissenschaftlich und archivalisch gebildeten Diva, das sich Bartoli mit früheren Projekten bereits erarbeitet hatte, wurde vielmehr für eine populäre Road-Show genutzt. So wurde die Maria-Konzerttournee von einem Sattelschlepper durch ganz Europa begleitet, auf dem in monumentalem Maßstab beide Diven-Porträts sowie der Namenszug »Maria« aufgebracht waren. In diesem Sattelschlepper war ein kleines Maria Malibran-Museum untergebracht.57 An der Inszenierung der Bartoli als Maria fällt auf, dass es auch in diesem Fall wie bei Hempels Lind-Krinoline einen Gegenstand gibt, der Auctoritas und Wiedererkennung materialisiert. Es ist das Armband der Malibran, das in ihrem Bühnen-Nachlass noch vorhanden war und dessen meisterhafte Kopie den Arm der Bartoli schmückte: »Als ich zum ersten Mal das Armband in der Hand hielt, das Maria Malibran bei der Uraufführung von Rossinis Cenerentola in Rom 1817 getragen hat, habe ich vor Freude geweint. Ich bin verrückt nach diesen authentischen Stücken.«58 Das CD-Cover sowie das Porträt der Bartoli auf dem Sattelschlepper lenken die Aufmerksamkeit der Betrachter auf dieses Armband, das symbolisch das Gestern und Heute der Divengeschichte offenbar umschließen kann. Dass es eine ausgewiesene Replik ist, unterstreicht die Reproduzierbarkeit der Aura einer Diva durch die andere nur umso deutlicher. Der Erfolg dieses Projekts mag auch darin begründet sein, dass Autorfunktion und Musenfunktion in der paradoxen kollektiven Einzigartigkeit beider Sängerinnen so vollständig wie nur möglich zusammenfallen. Demnächst, wenn Bartoli ihre Autobiografie schreibt, wird es darin womöglich ein Malibran-Kapitel geben – gewidmet also einer jener Musen, deren Autorschaft die Diva und Erzählerin fortführt.

57 Dokumentiert ist dieses Museo Mobile unter: http://www.mariamalibran.net (Zugriff: 22.12.2011). 58 »Cecilia & Maria. Die Oper in Italien ist eine Katastrophe! Cecilia Bartoli über den Belcanto, Bellini und ihre Wahlverwandte aus dem 19. Jahrhundert, die Diva Maria Malibran«, in: Der Tagesspiegel, 14. September 2007.

Kordula Knaus

Italian Courts and their Musicians in the Early Modern Period Authority, Authorship, and Gender

In 1961, Carol MacClintock argued in her article »The Monodies of Francesco Rasi« that the famous tenor Francesco Rasi always appears in discussions of early solo songs, yet, »in none of these discussions is his music mentioned, and he is dismissed with the imputation that he was solely an expert performer«1. Various strands of discussion underscore such a statement. There is the uncomfortable status of performers within a musicology that defines itself as work-oriented. MacClintock’s words display the tendency to rehabilitate performers as composers and authors after they had written and published music. Her comment evidences the problematic status of the canon, leading to the question why Rasi’s compositions obviously did not find their way into the canon; and it demonstrates different concepts of authorship and performance in early modern history, when the musici were not solely musicians and when court musicians were never composers per se. Intentionally, I did not place the example of a woman at the beginning of this article. The question of who can be an author in the academic understanding of music and music history has various layers of inclusion or exclusion that will be discussed in the course of this article. Author-centered approaches to music that dominated and still dominate musicology have led to various forms of critique within musicology. »Anonymity has most often made us rather uncomfortable when it comes to musical works«2, Don Michael Randel observed in 1992. A few years later, Bernhard Janz argued that Renaissance researchers generally tend to focus on manuscripts with clear author attributions and

1 Carol MacClintock, »The Monodies of Francesco Rasi«, in: Journal of the American Musicological Society 14/No. 1 (1961), pp. 31–36, here: p. 31. 2 Don Michael Randel, »The Canons in the Musicological Toolbox«, in: Disciplining Music. Musicology and its Canons, ed. by Katherine Bergeron and Philip V. Bohlman, Chicago 1992, pp. 10–12, here: p. 12.

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neglect the enormous mass of anonymous records of this time.3 According to Janz, completely different research questions appear for manuscripts with or without a known author: on the one hand scholars are looking for the personal style of a composer or are comparing different compositions from one author; on the other hand they are trying to contextualize an anonymous composition through its structural elements, the collection it appeared in or its institutional frame.4 Martha Feldman observed that »anonymity interested musicology mainly in its inverse prospect, as a negative to be turned positive, a problem to be solved«5. Similarly, musical works by several authors appear as a »problem to be solved«: L’incoronazione di Poppea by Claudio Monteverdi and/or Francesco Sacrati and/or others being a prominent example.6 In these discussions, »authorship« seems to be in good company with other concepts that were perceived critically by several musicologists in the past decades (such as »work« or »autonomy«).7 The discussion of author-centered approaches in musicology has raised the question of why some authors are more important than others, thus leading to various forms of canon critique. Canon critique was and still is an important issue within feminist scholarship, even if it often reinforced the concept of authorship, claiming the participation of women composers in music history and/or creating a »counter canon«.8 Additionally, the tension between composer and performer (being visible also in the example of Francesco Rasi) has found rich interest in feminist scholarship as female performers by far out3 Bernhard Janz, »Schall und Rauch? Überlegungen zur Relevanz von Autorenzuschreibungen in Musikhandschriften des 15. und 16. Jahrhunderts«, in: Studien zur Musikgeschichte. Eine Festschrift für Ludwig Finscher, ed. by Annegrit Laubenthal, Kassel 1995, pp. 64–71. 4 Ibidem, pp. 64–65. 5 Martha Feldman, »Authors and Anonyms. Recovering the Anonymous Subject in Cinquecento Vernacular Objects«, in: Music and the Cultures of Print, ed. by Kate van Orden, New York and London 2000, pp. 163–199, here: p. 165. 6 See for example Alan Curtis, »›La Poppea Impasticciata‹ or, Who Wrote the Music to L’incoronazione (1643)?«, in: Journal of the American Musicological Society 42/No. 1 (1989), pp. 23–54; Rachel A. Lewis, »Love and Persuasion in Monteverdi’s L’incoronazione di Poppea. New Thoughts on the Authorship Question«, in: Music and Letters 86/No. 1 (2005), pp. 16–41. 7 For a summary see David Clarke, »Musical Autonomy Revisited«, in: The Cultural Study of Music. A Critical Introduction, ed. by Martin Clayton, Trevor Herbert and Richard Middleton, New York 2003, pp. 159–170. 8 See the comprehensive discussion of these issues in Marcia J. Citron, »Gender, Professionalism and the Musical Canon«, in: The Journal of Musicology 8/No.  1 (1990), pp. 102–117.

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number female composers. Moreover, the »performative turn« in the humanities gave these issues a particular importance. In the following article I want to discuss these various fields of tension for the Early Modern Period, particularly for musical life in Florence under the reign of Ferdinando and Cosimo de’ Medici. Many scholars (for example Tim Carter, Suzanne Cusick, or Nina Treadwell) have recently discussed this period, also with regard to various aspects of gender and authorship.9 Starting from their findings I will discuss the complex interrelations of dynastic power, political influence and new aesthetic principles in music around 1600 and then suggest some new perspectives for the interrelations between authority, authorship and gender in that period. The Early Modern Period was a time when musical authorship was already acknowledged and highly valued. Compared to the Middle Ages, where musical practice was inferior to music theory and where »autores« were either writers or theorists but not composers, a shift towards more recognition of authorship in musical historiography can already be observed in the 15th and 16th centuries, as Michele Calella pointed out.10 In the Early Modern Period, the composer and musical author became figures with more presence than before. Names appeared in publications, the dissemination of music increased and the composer was recognized as an inventor and creator. This development, however, does not stand for artistic independency or the personal independency of artists and musicians as can easily be seen in courtly musical life. A range of problems concerning authorship-construction emerged with the »invention« of the new monodic style around 1600. I want to pursue three different aspects of this particular subject: 1. The relation between musical authorship and court authority 2. The relation between authorship, performance and publication 3. The relation between authorship and asymmetries in gendered realities

9 The relevant publications will be mentioned in the course of this article. 10 Michele Calella, »Names of the Past. Musical Authorship and Historical Consciousness at the End of the Middle Ages«, in: The Past in the Present. Papers Read at the IMS Intercongressional Symposium and the 10th Meeting of the Cantus Planus, Budapest et al. 2000, ed. by Lázló Dobszay, Vol. 1, Budapest 2003, pp. 119–130, here: pp. 129–130. For an extensive discussion see also his Habilitations-Thesis Musikalische Autorschaft. Der Komponist zwischen Mittelalter und Neuzeit, University of Zürich 2003 (publication in preparation).

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Authorship and Court Authority In the Early Modern Period, Italian courts were centers of flourishing musical life. For musicians they represented a complex system of power relations. The court offered many opportunities for wealth or glory and at the same time was an environment of artistic and personal restrictions. The successful composer associated with a specific court or an aristocratic patron was a means for presenting power and authority. At the same time, the musical author was a servant to court authority and the musical works as well as the musicians were properties that could be used freely and widely by rulers. The Medici court in Florence in the late 16th and early 17th centuries is a good example of how court politics randomly and arbitrarily influenced questions of musical authorship.11 In 1587, Cardinal Ferdinando de’ Medici became Grand Duke of Tuscany, succeeding his brother Francesco de’ Medici. For Cardinal Ferdinando, who had been in Rome for several years, this meant going back to Florence and reigning over the Tuscan court. Tim Carter pointed out that the »Grand Duke’s purge of anything connected with his predecessor extended even to the court musicians«12. One of the most important figures in Florentine musical life and musical life at court was, until that point, Giovanni de’ Bardi (strongly associated with theorizing the new monodic style in his Florentine Camerata in the 1580s).13 In 1587 he was replaced in his function as an organizer of court festivities by Emilio de’ Cavalieri, who came with Ferdinando de’ Medici from Rome. He brought with him from Rome the singer Vittoria Archilei and her musician-husband Antonio Archilei. Bardi finally left Florence for Rome in 1592, as Tim Carter suggested, »prompted or forced by Emilio de’ Cavalieri’s dictatorial control of the court music«14. Another court musician who had to yield was Giulio Caccini. He lost his salary in 1589 and his wife Lucia already in 1588, together with all other women musicians at court. In 1591, when the musical print of the famous 1589 intermedi was released, the song that Giulio Caccini had contributed to the intermedi 11 Warren Kirkendale gives detailed information about the music at the Medici court, The Court Musicians in Florence During the Principate of the Medici. With a Reconstruction of the Artistic Establishment, Florence 1993 (Historiae musicae cultores 61). 12 Tim Carter, »Jacopo Peri«, in: Music & Letters 61/No.  2 (1980), pp.  121–135, here: p. 124. 13 Biographical information about Bardi and the below mentioned composers and musicians can easily be gained by consulting the relevant articles in The New Grove Dictionary of Music and Musicians. 14 Tim Carter, »A Florentine Wedding of 1608«, in: Acta Musicologica 55/No. 1 (1983), pp. 89–107, here: p. 93.

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was simply omitted. In the same year, Jacopo Peri joined the court as a musician. He had been in Florence for more than 20 years, mostly active in church music as a singer and organ player. In 1600, Giulio Caccini again won back Ferdinando’s favors and replaced Emilio de’ Cavalieri in his position in Florence. Cavalieri went back to Rome. In 1600, mainly surrounding the performance of Euridice at the festivities for the wedding of Maria de’ Medici with King Henry IV of France, the protagonists of these checkered careers engaged in a debate about the invention of the monodic style, a debate that was most unpleasant for Grand Duke Ferdinando’s reputation. Both Tim Carter and Suzanne Cusick argued that this rivalry was the reason why Ferdinando decided not to name any musicians in the official descrizione of the festivities.15 Suzanne Cusick further argues: »The erasure of composer’s names from the public record seems to have become court policy […]. Thus seeming to have no individual human authors, the musical marvels of Ferdinando’s court could seem to have emerged almost as if by the magic of the grandducato’s will. Ferdinando had appropriated all authorship to himself; his servants would have access to apparent authorship only ›as an agent of the prince‹.«16

The examples show how much the recognition of musical authorship depended upon court policy and the decisions of court authority. Giulio Caccini was not recognized as a participator at the 1589 festivities – his song was simply omitted from the only record that transmitted an impression of the music: the musical print. In 1600 and the following years no names of musical authors appeared at all in the official Florentine records. A shift towards the recognition of musical authorship at the Medici court happens only after 1612. Authorship, Performance, and Publication The examples outlined already hint at the importance of the print medium for the acknowledgement of musical authorship and dissemination of a composer’s

15 See Tim Carter, »›Non occorre nominare tanti musici‹. Private Patronage and Public Ceremony in Late Sixteenth-Century Florence«, in: I Tatti Studies. Essays in the Renaissance 4 (1991), pp. 89–104; Suzanne Cusick, Francesca Caccini at the Medici Court. Music and the Circulation of Power, Chicago and London 2009, p. 104. 16 Cusick, Francesca Caccini at the Medici Court (note 15), p. 104.

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music. It is no coincidence that musical prints were the dominant medium in the discussion about the invention of the monodic style around 1600.17 Cavalieri, who dominated musical life in Florence particularly with regard to solo song in the 1590s,18 performing his pastorals Il Satiro (1590), La disperatione di Fileno (1590) and Il giuoco della cieca (1595) in several carnival seasons, lost influence in Florence at the end of the century, possibly due to his numerous absences. The letters he wrote to the Tuscan court during his diplomatic missions in Rome reveal how much he was disturbed by the claims of the Tuscans to have invented monody with Dafne and Euridice.19 Several artists involved emphasized their claims by using the print medium: In the preface of the libretto-print of Euridice, Ottavio Rinuccini wrote that Jacopo Peri had set to music Dafne and Euridice with wonderful art not used by others before.20 In Caccini’s score to his Euridice he claimed to have invented the new style himself; Peri tried to acknowledge Cavalieri’s work in his printed score of Euridice; and Cavalieri (correctly Alessandro Giudotti, presumably ghostwriting for Cavalieri) argued in his publication of Rappresentatione di anima e di corpo that he had already established the new style in his pastorals, long before Peri and Caccini. Caccini again stressed his entitlement to »invention« in his 1602 publication of Le nuove musiche.21 All these accounts prove that the print medium was obviously the most important medium to claim authorship and, moreover, innovation. Several musicologists have argued lately that the solo song had a lively practice throughout the 16th century and was by no means invented around 1600, as Cavalieri, Peri or Caccini so loudly laid claim.22 So the particularly »new« aspect was that 17 Carter argued that Giulio Caccini with his publication of Le nuove musiche was »one of the first of many monodists to exploit the power of print in order to establish his wares in the musical market-place.« See Tim Carter, »Printing the ›New Music‹«, in: Music and the Cultures of Print, ed. by Kate von Orden, New York and London 2000, pp. 3–38, here: p. 4. 18 See Murray C. Bradshaw, »Cavalieri and Early Monody«, in: The Journal of Musicology 9/No. 2 (1991), pp. 238–253. 19 See Claude V. Palisca and Emilio de’ Cavalieri, »Musical Asides in the Diplomatic Correspondence of Emilio de’ Cavalieri«, in: The Musical Quarterly 49/No.  3 (1963), pp. 339–355. 20 »l’Euridice messa in musica dal medesimo Peri, con arte mirabile, e da altri non più usata«, Ottavio Rinuccini, L’Euridice, Florence 1600. 21 The arguments of Caccini, Peri, and Cavalieri are quoted in detail below. 22 See for example Silke Leopold, Al modo d’Orfeo. Dichtung und Musik im italienischen Sologesang des frühen 17. Jahrhunderts, Vol. 2, Laaber 1995 (Analecta Musicologica 29). About performing improvisers in the Italian Renaissance see Iain Fenlon, »The Status of Music and Musicians in the Early Italian Renaissance«, in: Le concert des voix et des

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these practices were written down and that the music was published. For the display of innovation, however, the print medium turned out to be inadequate. The para-texts of the publications give interesting insights into this inadequacy, particularly with regard to authorship and performance. To outline these insights I will quote passages from the prefaces quite extensively (although they are well known in opera scholarship) and highlight the relevant passages. Emilio de’ Cavalieri’s Rappresentatione di anima et di corpo was first performed in February 1600 in the Oratorio della Vallicella, in Rome (and was printed in Rome in the same year). The preface, which speaks of Cavalieri in the third person and was written by Alessandro Giudotti (presumably as a ghostwriter by Cavalieri himself ) starts with: »A’ Lettori Volendo rappresentare in palco la presente opera, overo altre simili, e seguire gli avvertimenti del Signor Emilio del Cavalieri, e far sì che questa sorte di musica da lui rinovata commova a diversi affetti, come a pietà & a giubilo, a pianto & a riso, & ad altri simili, come s’è con effetto veduto in una scena moderna della Disperatione di Fileno, da lui composta; nella quale recitando la singora Vittoria Archilei, la cui eccellenza nella musica a tutti è notissima, mosse maravigliosamente a lagrime, in quel mentre che la persona di Fileno movea a riso; volendola dico rappresentare, par necessario che ogni cosa debba essere in eccellenza, che il cantante habbia bella voce, bene intuonata, e che la porti salda, che canti con affetto, piano e forte, senza passaggi, & in particolare che esprima bene le parole, ché siano intese, & le accompagni con gesti & motivi non solamente di mani, ma di passi ancora, che sono aiuti molto efficaci a muovere l’affetto.«23 (»To the Reader If one wishes to stage the present work, or other similar ones, and follow the directions of Signor Emilio del Cavaliere, and if one wishes to cause this sort of music, which he has revived, to elicit diverse affections, such as pity and joy, tears and laughter, and others like them, as was effectively shown in La disperazione di Fileno, a modern scene composed by him, in which Signora Vittoria Archilei, whose excellence in music is well known to all, recited and moved everyone to tears while the character of Fileno moved to laughter; if, I say, one wishes to stage it, it seems necessary that everything be excellent: that the singer have a beautiful instruments à la Renaissance. Actes du XXXIVe Colloque International d’Études Humanistes Tours, ed. by Jean Michel Vaccaro, Paris 1995, pp. 57–70. 23 Cited after Warren Kirkendale, Emilio de’ Cavalieri »Gentiluomo Romano«. His Life and Letters, his Role as Superintendent of All the Arts at the Medici Court, and his Musical Compositions, Florence 2001 (Historiae Musicae Cultores 86), p. 259.

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voice, with good intonation and solid control, that he sings with affection, both soft and loud, without passages, and in particular that he express well the words so they be understood and that he accompany them with gestures and motions not of the hands alone but of the steps too, which are very effective aids in moving the affections.«24)

Giudotti clearly defines Cavalieri as the one who has invented that sort of music and who is the composer, the creator. But Cavalieri (Giudotti) also acknowledges the importance of the performer. Particularly with regard to a performance of his piece, he gives a clear idea of what the singer needs to accomplish. He or she has to sing with »affetto« and use all possible means to »muovera l’affetto«; at the same time Cavalieri presents himself as the one who wrote these »affetti« into the score. The preface only gives a vague picture of the actual relation between authorship, composition and performance of solo song. Less nebulous, or rather surprisingly distinct, is Giulio Caccini’s discussion of composition and performance in the preface to his Euridice score that appeared in print shortly before Jacopo Peri’s version. Caccini writes: »Io era stato di parere, con l’occasione presente, di fare un discorso ai lettori del nobil modo di cantare, al mio giudizio il migliore col quale altri potesse esercitarsi, con alcune curiosità appartenenti ad esso, e con la nuova maniera de’ passaggi e raddoppiate inventate da me, quali ora adopera, cantando l’opere mie, già è molto tempo, Vittoria Archilei, cantatrice di quella eccellenza che mostra il grido della sua fama. Ma, perché non è parso, al presente, ad alcuni miei amici (ai quali non posso, né devo mancare per questo), mi sono perciò riserbato ad altra occasione, riportando io, per ora, questa sola soddisfazione di essere stato il primo a dare alla stampa simile sorte di canti, e lo stile e la maniera di essi.«25 (»I had thought on the present occasion to deliver a discourse to my readers upon the noble manner of singing, in my judgment the best one, so that others could practice it, along with some curious points relating to it, and with the new style of passaggi and raddoppiate invented by me, which Vittoria Archilei, a singer of that excellence to which her resounding fame bears witness, has long employed in singing my works. But since this has not at present seemed best to some of my friends [to whom I cannot and must not be disloyal], I have reserved this for an-

24 Translation by Piero Weiss, Opera. A History in Documents, New York 2002, pp. 20–21. 25 Cited after Angelo Solerti (Ed.), Le origini del melodramma. Testimonianze dei contemporanei, Torino 1903, pp. 51–52.

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other occasion, enjoying, for the first time being, this single satisfaction of having been the first to give songs of this kind and their style and manner to press.«26)

Caccini claims authorship explicitly for himself: he invented the new style and the singer, Vittoria Archilei, merely carried out his will. Only Jacopo Peri, to whom Rinuccini referred to as the inventor of the new style in his libretto to Euridice, emphasized the role of the performer as somebody who »invents« something that cannot be written down. He writes in his preface: »Onde fatta udire a quei Signori la mia openione, dimostrai loro questo nuovo modo di cantare, e piacque sommamente, non pure al Singor Iacopo, il quale haveva di gia composte arie bellissime per quella favola, ma al Signor Piero Strozzi, al Signor Francesco Cini, & ad altri molti intendentissimi gentilhuomini (che nella nobiltà fiorisce hoggi la Musica) come anco a quella famosa, che si puo chiamare Euterpe dell’età nostra, la Signora Vettoria Archilei, la quale ha sempre fatte degne del cantar suo le Musiche mie, adornandole non pure di quei gruppi, e di quei lunghi giri di voce semplici e doppi, che dalla vivezza dell’ingegno suo son ritrovati ad ogn’hora, più per ubbidire all’uso de’ nostri tempi, che perch’ella stimi consistere in essi la bellezza e la forza del nostro cantare, ma anco di quelle, e vaghezze e leggiadrie che non si possono scrivere, e scrivendole non s’imparano da gli scritti.«27 (»Whence, having had my opinion heard by these gentlemen, I demonstrated to them this new manner of singing, and it gave the greatest pleasure, not only to Signor Jacopo, who had already composed some most beautiful airs for this tale, but also to Signor Piero Strozzi, to Signor Francesco Cini, and to other most learned gentlemen (for music flourished today among the nobility) and also to that celebrated lady whom one may call the Euterpe of our age, Signora Vettoria Archilei, who has always made my music worthy of her song, adorning it not only with those gruppi and with those long roulades both simple and double which, by the liveliness of her wit, are encountered at every moment – more to obey the practice of our times than because she judges that in them consist the beauty and

26 Translation by Oliver Strunk. Leo Treitler (Ed.), Source Readings in Music History, Revised Edition, New York 1998, p. 606. 27 Cited after Howard Mayer Brown (Ed.), Jacopo Peri. Euridice, Madison 1981 (Recent Research in the Music of the Baroque Era 36–37), plate 2.

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force of our singing – but also those sorts of delights and graces which cannot be written, and if written cannot be learned from the notation.«28)

Though Peri acknowledged the role of the performer, he creates himself as the composer who speaks of »his music« and who clearly identifies the part of Archilei to add embellishments, etc., then he further restricts this perspective by claiming that this is not essential to the music. A central aspect concerns Peri’s remark that not all the things that make music beautiful can be written down. This is an aspect articulated quite often, particularly for music that focused on a virtuoso performer, either a singer or an instrumentalist.29 The monodic style and its aesthetic value and effect on the audience were highly dependent upon the performer. Though each of these 1600 forewords strongly emphasized authorship and invention by a composer, the collaboration between composer and performer necessarily needed to be a close one or even sometimes appeared to be a personal union (both Peri and Caccini were singers). A letter from Giulio Caccini to Virginio Orsini from 14th September 1596 – discussed extensively by Tim Carter30 – reveals that Caccini worked closer with singers in creating his music than he admitted in his foreword to Euridice: »Ho composto il madrigale di V. E. Ill.ma con quelle note che ho conosciuto, e Saputo esser più a proposito per esprimere l’affetto delle parole, et accompagnatolo anco di quei passaggi, ch’io mi sono immaginato che possino dar’ gusto a V. E. quando li sentirà. Et che mi disse che desiderava, che’l madrigale fusse cantato dalla S.ra Vittoria; saprà V. E. che mentre l’ho fatto ella l’ha udito più volte, e conforme al suo gusto l’ho finito, perché partendo hoggi per Pisa né essendo V. E. mai venuta, ho preso resolutione (per lo meglio) di darlo a lei, acciò V. E. non habbia occasione di udirlo da altri, che mi potia ancor’ servir per arte, poi ché facendo lei con la dolcezza del suo canto apparir’ le cose mie quello, che per si stesse non sono.« 28 Translation by Tim Carter. Treitler (Ed.), Source Readings in Music History (note 26), p. 661. 29 André Maugars, for example, argued in his Response faite à un curieux sur le sentiment de la musique d’Italie in 1639 that although Girolamo Frescobaldi’s »printed works testify sufficiently to his ability, still, to judge properly of his deep science, he must be heard in his improvisations of toccades, full of admirable research and invention«. See »André Maugars«, in: Studies in Music by Various Authors. Reprinted from ›The Musician‹, translated by John S. Shedlock, ed. by Robin Gray, London 1901, pp. 215–232, here: p. 223. 30 Tim Carter, »Finding a Voice. Vittoria Archilei and the Florentine ›New Music‹«, in: Feminism and Renaissance Studies, ed. by Lorna Hutson, Oxford 1999, pp. 450–467.

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(»I have composed Your Most Illustrious Excellency’s madrigal with those notes which I have recognized and known to be more suitable to express the affect of the words, and [I have] accompanied it also with those passaggi which I have imagined might give delight to Your Excellency when you will hear it. And if you were to say to me that you desired that the madrigal should be sung by Signora Vittoria, Your Excellency should know that while I made it, she heard it several times, and I finished it according to her taste. Since I am leaving today for Pisa – and since Your Excellency has still not arrived – I have decided (for the better) to give it to her, so that Your Excellency will not have the chance to hear it [sung] by others, which might also serve me by art, for with the sweetness of her song she makes my works appear what in themselves they are not.«31)

Caccini had Archilei listen several times to his madrigal and then finished it according to her taste. That has a tone of collaboration rather than advising a singer how to perform his music. Yet, in the para-texts of printed music such collaborations are not referred to. In his Le nuove musiche, which was printed in 1602, Giulio Caccini does not mention any singer or performer but gives detailed examples of how the singer might improvise ornaments. As a singer and singing teacher himself, Caccini was well aware of how much the »new music« depended upon the performer. However, in giving these examples he creates himself as the authority concerning these issues. The composer Giulio Caccini is the connoisseur of how his music should be performed.32 The strong emphasis on authorship in prints around 1600 clearly reflects the different interests and rivalries concerning the new monodic style. Moreover, the example of Giulio Caccini (who strongly claims authority in his prints but acts differently in his correspondence with Orsini) on the one hand limits the reliability of all these sources. On the other hand, these sources tell us specific attitudes towards the relationship between composer and performer in the early modern period. The general tone of the para-texts reflects the complicated relationship between composer and performer particularly in music for a solo voice. When Caccini published his nuove musiche in 1602, he claimed authority for both the creation of the music and the way it should be performed. Yet the detailed instructions also show his anxiety over mediocre performances and the preface 31 Cited after Carter, »Finding a Voice« (note 30), p. 451 and p. 462. Translation by Tim Carter. 32 Carter emphasizes: »For all his efforts in and through print to proclaim his status as a composer, Caccini was first and foremost a performer«, Carter, »Finding a Voice« (note 30), p. 451.

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reads in most parts as an instruction manual for vocal expression and embellishment. The solo songs Caccini published were by no means new compositions but represented a selection of compositions he had made in the past decades. Carter assumes that Caccini decided to publish his collection in 1602 particularly because of the controversy in 1600.33 In his preface Caccini claims authority for something that is definitely out of his control as soon as the print was available to whoever would buy it from the Marescotti Press. Moreover, it is particularly the aesthetically »new« in the new monodic style that was not satisfyingly presented in these prints. The louder the claims of authorship resound from these para-texts, the more one has the feeling that the aesthetic value of the new monodic music lay way beyond those authoritarian voices. However, particularly to achieve an aesthetic legitimation of the new music the role of the composer had to be highlighted. Authorship, Performance, and Gender Scanning these prefaces, one name clearly sticks out: the singer Vittoria Archilei.34 Caccini, Cavalieri, and Peri mention her in the prefaces of their compositions. The role of Archilei in the creation of the new monodic style concerns not only the space the performer gets in the process of innovation, but digs deeply into the gendered realms of the Early Modern Period and the attitude of musical scholarship towards these questions. To claim that performers intensely participated in creating the monodic style also means that women performers participated in these innovations and that we as scholars can demand musical authorship for women. In this sphere of influence we can put, for example, Nina Treadwell’s suggestion that Vittoria Archilei was involved in composing music for the intermedi in 1589.35 The performance of the intermedi for the play La Pellegrina during the wedding festivities for Ferdinando de’ Medici and Christine de Lorraine are not directly involved in what later became the monodic style but particularly the solo songs of the intermedi have found interest in music schol-

33 Carter, »Printing the ›New Music‹« (note 17), p. 4. 34 Archilei was recently discussed by Tim Carter, »Finding a Voice« (note 30) and Nina Treadwell, »She descended on a cloud ›from the highest spheres‹: Florentine monody ›alla Romanina‹«, in: Cambridge Opera Journal 16/No. 1 (2004), pp. 1–22. 35 Treadwell, »She descended on a cloud ›from the highest spheres‹« (note 34), pp. 16–18.

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arship.36 The connection to monody was probably enforced by the fact that the prominent participants in this debate had composed solo songs:37 I, 1. Dalle più alte sfere, composed by Antonio Archilei (or Emilio de’ Cavalieri), sung by Vittoria Archilei IV, 1. Io, che dal ciel, composed by Giulio Caccini, sung by Lucia Caccini (V,1. Io, che l’onde raffredo, composed by Christoforo Malvezzi, sung by Vittoria Archilei)38 V, 4. Dunque fra torbid’ onde, composed by Jacopo Peri, sung by Jacopo Peri VI, 3. Godi, turba mortal, composed by Emilio de’ Cavalieri, sung by Onofrio Gualfreducci Vittoria Archilei sang two of the five solo songs composed for the intermedi and was put prominently as a performer at the beginning of the first intermedio, descending from a cloud while singing. Those facts already speak for themselves concerning her role as a solo singer. Treadwell argued that she might have composed the first song of the first intermedio Dalle più alte sfere as well. According to Treadwell, Archilei’s song was »in large part quasi-improvised«, hence »it may now appear somewhat superfluous to consider questions surrounding the ›composer‹ of the piece«39. Then she reasons from the attribution of the song to Vittoria Archilei’s husband Antonio (which would thus have been his only known composition) that Vittoria Archilei herself may as well have composed it. Treadwell explains that »it was not uncommon during this period for either a husband or father to take credit for compositions by a wife or daughter«40. She further argues that Vittoria Archilei set ottave rime to music for another Florentine court entertainment in 1611 as Jacopo Cicognini, the author of the text, noted in a letter. Hence, Archilei could also have been the author of Dalle più alte sfere. Was Vittoria Archilei in 1589 kept away for appearing as the musical author because she was a woman, as Nina Treadwell suggests? What speaks 36 See, for example, Kirkendale, The Court Musicians in Florence (note 11); Nina Treadwell, Music and Wonder at the Medici Court. The 1589 Interludes for »La Pellegrina«, Bloomington and Indianapolis 2008. 37 For details see the critical edition Daniel P. Walker (Ed.), Les Fêtes du Mariage de Ferdinand de Médicis et de Christine de Lorraine Florence 1589, Vol. 1: Musique des Intermèdes de ›La Pellegrina‹, Paris 1963. 38 This song appeared in a five-part setting in the score but was performed as a solo song. See Walker (Ed.), Musique des Intermèdes de ›La Pellegrina‹ (note 37), p. XLVIII. 39 Treadwell, »She descended on a cloud ›from the highest spheres‹« (note 34), p. 16. 40 Ibidem.

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against Treadwell’s suggestion is the fact that two other women did appear as authors during the wedding festivities: Laura Giudiccioni wrote the text to the final ballo in the 6th intermedio41 and Isabella Andreini conceived and played the central character in the comedy La pazzia d’Isabella that was performed by her family’s commedia dell’arte-troup I Gelosi.42 Why should Archilei have been precluded as a musical author when two woman writers were not? Even more problematic seems the fact that in her monograph about the intermedi from 2008 Treadwell again argues for Dalle piu alte sfere that »Archilei likely composed the work«43 but does not consider any claims to authorship for other solo singers. If Archilei composed the first song, which was attributed to her husband Antonio Archilei, why should Lucia Caccini not have composed the second solo song that was attributed to her husband Giulio Caccini? Here Treadwell clearly distinguished between »the singer’s delivery« and Giulio Caccini’s »compositional strategy«.44 And why should the castrato Onofrio Gualfreducci not have been the author of Godi, turba mortal though Emilio de’ Cavalieri was mentioned as a composer in the print.45 This example demonstrates several critical points in the discussion about solo song, musical authorship, and gender around 1600. If scholarship claims authorship for singers of solo songs then this claim has to be discussed for every single singer and song. In this case, the differentiation between author and performer would be generally blurred for this genre and it would not make sense to speak of authors of songs at all because the song only exists in its particular performance and an authority besides the one of the performer does not subsist. However, this view would neglect the shift that takes place exactly at this historical point and for the genre of solo song. As Jette B. Hansen pointed out:

41 Lauria Giudiccioni is mentioned in Malvezzi’s print. See Walker, Musique des Intermèdes de ›La Pellegrina‹ (note 37), p. LVI. 42 The question of »authorship« in this commedia dell’arte-performance is a very complicated issue, as the comedy was largely improvised. Isabella Andreini, however, seems to appear »authorlike« because the piece focuses on her specific skills and her selfrepresentation. Anne MacNeil provides further information, in: »The Divine Madness of Isabella Andreini«, in: Journal of the Royal Musical Association 12/No. 2 (1995), pp. 195–215. 43 Treadwell, Music and Wonder at the Medici Court (note 36), p. 77. 44 Ibidem, p. 114 45 Again, in her discussion of this song, Treadwell does not discuss any claims for authorship of the singer but identifies Cavalieri as the composer and Gualfredicci as the singer. See Treadwell, Music and Wonder at the Medici Court (note 36), p. 160.

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»In ›the new way of singing‹ the composer, rather than the singer, is in control of the discourse. Because of a new and more elaborate way of notating vocal music, the singer has now been turned into an interpreter of the composer’s rhetorical realization of the words, fixed on the paper by musical notation.«46

Particularly with regard to the new print medium the one person setting his or her name upon the paper became the identifiable author and the authority outlasting one particular performance. Even if it was »Malvezzi’s task to capture as far as possible through the medium of print the spell-binding virtuosity displayed by Florence’s virtuosa when she opened the intermedi some two years earlier«47, as Treadwell suggests, the print medium only acknowledges the author that appears on the print as an author. Around 1600, this newly represented kind of authorship in solo song was particularly male dominated. Rather than rehabilitating Archilei as an author it seems essentially important to acknowledge that a dominantly patriarchal society has not allowed her to occupy an authorship position. Archilei definitely influenced all the monodic music at the Florentine court in the 1590s and further on but she could not and/or did not write down a song and put her name under it as did other men who were involved in the music of the intermedi. She was not seen as an author, she did not appear as an author and so she did not exist as an author. Somewhere in the courtly chambers in Florence some men who defined themselves as authors collaborated with her, whom they defined as a singer, to develop solo songs that made history as they were written down. Rather than claiming authorship for Vittoria Archlei in 1589, I would suggest that there were particular reasons she did appear as a composer of a song only in 1611. The recognition of women as musical authors at the Medici court can be linked quite closely to the increasing influence of Christine de Lorraine after the death of her husband Ferdinando de’ Medici in 1609. This influence culminated in 1620 when Cosimo II de’ Medici had also died and she took over regency together with her daughter-in-law Maria Maddalena d’Austria between 1621 and 1628. There is one woman musician at the court who specifically benefitted from these political developments particularly with regard to musical authorship: Francesca Caccini. It is no coincidence that her publications and her participation at larger court festivities as a musical author all fell 46 Jette Barnholdt Hansen, »From Invention to Interpretation. The Prologues of the First Court Operas Where Oral and Written Cultures Meet«, in: The Journal of Musicology 20/No. 4 (2003), pp. 556–596, here: p. 557. 47 Treadwell, »She Descended on a Cloud ›from the highest spheres‹« (note 34), p. 6.

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at the time when Christine de Lorraine had the most political power at court.48 Francesca Caccini’s role at the court during the regency of Maria Maddalena d’Austria and Christine de Lorraine were analyzed in detail in Suzanne Cusick’s Caccini-biography and will not be outlined in detail.49 For the purpose of this article’s research questions I just want to take a quick look at one particular moment of her career: the publication of Il primo libro delle musiche a una e due voci in 1618. When the primo libro came out, history had seen almost two decades of published collections with mostly solo-songs.50 Containing 36 songs, Il primo libro was the most extensive collection so far with a unique mixture of spiritual and secular songs. But what does that mean, and what was Caccini’s position within the history of early monody? Musicological approaches to the primo libro have been quite diverse: Gary Tomlinson refers in his facsimile-edition to her father Giulio Caccini when writing that Francesca Caccini’s works »exploit the florid lyricism and diatonic harmonic style that Francesca inherited from her father«51. In contrast, Carolyn Raney argued in the 1960s that Francesca Caccini’s collection differs markedly from her father’s.52 In the preface of their 2004 edition, Ronald J. Alexander and Richard Savino again strongly refer to Giulio Caccini, emphasizing the common ground between Giulio and Francesca rather than explaining the differences.53 Suzanne Cusick establishes the songs of Il primo libro mainly within a didactic context. »Their pedagogical order strongly suggests that Francesca intended her book to demonstrate the range of skills she was prepared to teach and that she expected some of her book’s users to be aspiring singers and their teachers.«54 In her book about Italian solo song in early 17th century, Silke Leopold in 1995 wrote about Caccini’s Il primo libro:

48 For general information about her regency and the arts at the Florentine court see Kelley Harness, Echoes of Women’s Voices. Music, Art, and Female Patronage in Early Modern Florence, Chicago 2006. 49 See Cusick, Francesca Caccini at the Medici Court (note 15). 50 See Nigel Fortune, »Italian Secular Monody from 1600 to 1635. An Introductory Survey«, in: The Musical Quarterly 39/No. 2 (1953), pp. 171–195. 51 Gary Tomlinson (Ed.), Italian Secular Song 1606–1636, Vol. 1: Florence, New York 1986, p. xvi. 52 See Carolyn Raney, »Francesca Caccini’s ›Primo Libro‹«, in: Music & Letters 48/No. 4 (1967), pp. 350–357, here: p. 357. 53 See Ronald J. Alexander and Richard Savino (Ed.), Francesca Caccini’s »Il primo libro delle musiche« of 1618. A Modern Critical Edition of the Secular Monodies, Bloomington and Indianapolis 2004, pp. 5–9. 54 Cusick, Francesca Caccini at the Medici Court (note 15), p. 94.

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»Mit ihrer kleingliedrigen, korrespondierenden Motivik, die sich dennoch zu großen Bögen fügt, die die rhythmischen Elemente der Tanzmusik verwendet, ohne sich ihren formalen Gesetzen zu unterwerfen, gehört Francesca Caccinis Komposition zu den modernsten dieser Zeit.«55 (With its short corresponding motives that are still assembled to larger entities, using rhythmic elements from dance music without being subject to their formal design, Francesca Cacccini’s primo libro belongs to the most modern compositions of her time.)

All these views have consequences for the recognition of authorship and authority. A reference to Giulio Caccini always increases his authority, even if the differences between his daughters and his own compositions are discussed. Cusick places Francesca Caccini’s collection strongly within its contexts and its function, focusing on Caccini’s task of teaching the women at court as well as women from convents. Leopold provides a stylistic analysis and comparison with other collections of that time. The stylistic analysis automatically creates a sphere of autonomy and therefore a stronger author position for Caccini, whereas the close reading that Cusick provided in a mostly pedagogical context weakens Caccini’s position as an author, giving her the status of a singing teacher who composed music for this purpose only. In her preface, Caccini wanted to praise the virtuosi of Florence and in a letter to Michelangelo Buonarotti discussed whether she should name her father or not.56 Francesca Caccini clearly saw herself in a Florentine lineage of court musicians that claimed authority for a new style and she was particularly keen on not appearing as only the daughter of Giulio Romano. Her author position was automatically weakened because her father so excessively claimed it for himself. In the end, however, Il primo libro appeared without a preface and so without a composer’s »voice« in the para-texts. Conclusions Questions of musical authorship are connected to authority, power, and visibility; three tools that were distributed in society along the categories of class, gender, ethnicity, et cetera. Cavalieri, Peri, Rinuccini, and Giulio Caccini used the print medium to claim authorship and innovation, both with the musical texts and the para-texts of their publications. In the battle for innovation and 55 Leopold, Al modo d’Orfeo (note 22), p. 245. 56 See Cusick, Francesca Caccini at the Medici Court (note 15), p. 109.

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authorship they raised their voices and found their way into music scholarship. Others did not, or were not seen to do so. There was the lawyer Domenico Maria Melli, who published two volumes of monodies in 160257, but he was not situated in Florence and nobody talks about his music when Caccini’s Le nuove musiche are praised for being the first published monodies.58 There was Francesco Rasi whose several volumes of published music hardly found any interest in scholarship though he is praised as one of the foremost singers of his time. There was Emilio de Cavalieri with his lost pastorals of the 1590s. There was Vittoria Archilei who never appeared as an author of a surviving musical manuscript or print and whose role in the establishment of monody is still not clear, and there was Francesca Caccini who did publish her music but kept silent in the para-texts to her publications and who disappeared from the public sphere when the influence of the women at the Florentine court subsided.59 It is not so difficult to determine that we have to reduce the volume of certain authoritarian voices (for example Giulio Caccini’s loud and constant voice of innovation and authority) so that others have a chance to be audible. However, the silence of some protagonists (and particularly some women) remains silence even when we increase the volume. As long as we acknowledge the cultural concept of authorship – and it makes sense to do that in times where the concept itself had a certain authority – we cannot give women authority they did not have.

57 See Nigel Fortune, »Melli, Domenico Maria«, in: Grove Music Online. Oxford Music Online: http://www.oxfordmusiconline.com/subscriber/article/grove/music/18341 (accessed August 31, 2011). 58 Silke Leopold speaks of Luzzasco Luzzaschi’s Madrigal per canare e sonare a uno e due e tre soprani from 1601 as being the first examples for solo-song. Leopold, Al modo d‘Orfeo (note 22), p. 116. 59 See Suzanne Cusick, »›Thinking from Women’s Lives‹. Francesca Caccini after 1627«, in: The Musical Quarterly 77/No. 3 (1993), pp. 484–507.

Katharina Hottmann

»Ein solcher Ehrgeiz hat mein Gemüth nicht bezaubert« Inszenierungen von männlicher und weiblicher Autorschaft in Lieddrucken des 18. Jahrhunderts

In einer musikalisch-literarischen Gattung wie dem Lied ist Autorschaft immer eine doppelte, meist, aber nicht zwangsläufig auf zwei verschiedene Menschen verteilt. Im Medium des gedruckten Liederbuches können weitere Autorinnen und Autoren hinzutreten: mehrere Komponisten und/oder Dichter, aber auch etwa der Autor eines literarischen Mottos oder der Künstler, der das Titelkupfer gestaltet hat. Die Autoren können ihre Autorschaft in unterschiedlichem Maße aktiv in das Medium einbringen und damit über die Weise, wie ihr Werk an sein Publikum tritt, entscheiden. Denn manche Autoren sind zwar die namentlich genannten Urheber von Bestandteilen des Druckes; diese werden aber ohne Zutun des Autors – im Fall von Zitaten antiker Autoren etwa lange nach ihrem Tod – von anderen in den Kontext des Liederbuches gesetzt. Dabei übernimmt der Autorenname eine Verweisfunktion, die über die Aussage des Zitates hinausweist, indem mit einer literarischen Tradition ein spezifischer Bezugshorizont angesprochen ist. Andere Autoren sind verantwortliche Herausgeber des Mediums und steuern damit nicht nur die Gestalt ihres Werkes – Text, Komposition oder Bild –, sondern auch die kommunikativen Bedingungen von dessen Veröffentlichung. Wie diese verschiedenen Ebenen von Autorschaft in Liederbüchern des 18. Jahrhunderts konkret zum Ausdruck gebracht wurden, konnte trotz der starken Konventionsgebundenheit von Druckerzeugnissen dieser Epoche recht unterschiedlich sein. Das soll kurz an zwei Beispielen gezeigt werden. Auf dem Titel der 1757 in Leipzig bei Breitkopf erschienenen Oden und Lieder1 sind die Namen der Autoren Johann Friedrich Löwen und Johann Wilhelm Hertel (die am Schweriner Hof wirkten) nicht gleichgewichtig gesetzt, sondern durch Reihenfolge wie Schriftgröße hierarchisiert. Obgleich der Komponist, wie aus der Widmung hervorgeht, den Druck primär verantwor1 Johann Friedrich Löwen, Oden und Lieder, in Musik gesetzt von Johann Wilhelm Hertel, Leipzig 1757.

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Abb. 1  Titelblatt von Johann Friedrich Löwens Oden und Lieder, in Musik gesetzt von Johann Wilhelm Hertel, Leipzig 1757 (SLUB Dresden, Mus. 3259.K.1)

tet, ist sein Name kleiner als der des Dichters, was der zeittypischen Hierarchie zwischen beiden Künsten im Lied entspricht. Als dritter Autorenname erscheint Horaz, dessen Oden-Vers »Virginibus, puerisque canto« dem ganzen Liederbuch das Motto gibt. Den Kontext dieses Verses (»Odi profanum volgus et arceo / favete linguis: carmina nun prius / audita Musarum sacerdos / virginibus puerisque canto.«2) dürften zumindest die männlichen Nutzer solcher Liederbücher aufgrund ihrer gymnasialen Bildung sich hinzugedacht haben. Die Liedtexte des mittleren 18. Jahrhunderts sind meist der Anakreontik zuzuordnen, einer sich auf Anakreon und Horaz berufenden Dichtungsart, die Wein, Lebensfreude und erotische Liebe in scherzhaft-pointierter Form thematisiert. Diese Lyrik wird oft an Frauen adressiert, nicht selten auch an beide Geschlechter. Wesentlicher als die Kategorie Gender aber erscheint die 2 Vgl. Horaz, Carminum libri quattuor III/1: »Abhold bin ich dem gemeinen Volk, ich halte es fern. / Zügelt die Zungen: Gesänge, nie zuvor / gehört, als Musenpriester / den Mädchen und Knaben singe ich.« Horaz, Sämtliche Werke Lateinisch/Deutsch, mit einem Nachwort hg. von Bernhard Kytzler, Stuttgart 2006, S. 126f.

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Abb. 2  Titelblatt von Knuth Lambo, Oden, Hamburg 1754 (SUB Hamburg, Scrin B/175)

Adressierung an die Jugend, denn die Zuordnung der Gattung Lied zur Jugend – des Autors wie der Adressaten – bot eine Lizenz zum literarischen Spiel mit gesellschaftlichen Normen.3 Das Motto, das beide Geschlechter 3 Steffen Martus, Friedrich von Hagedorn. Konstellationen der Aufklärung, Berlin und New York 1999 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 15), S. 34.

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explizit erwähnt, verweist also auf eine gattungspoetische Norm. Doch wer macht sich die »Ich-Position« des Mottos zu eigen, oder anders gesagt, wessen »poetisches Ich« spricht durch das Motto? Es haben sich keine Quellen darüber erhalten, wer den Odenvers ausgewählt hat (ob Dichter oder Musiker, beide gemeinsam, oder auch der Verleger). Aus wirkungspoetischer Perspektive könnte man jedoch sagen, dass das »Ich« des Horaz als ein poetisches »Gesamt-Ich« fungieren kann, das Text und Musik gemeinsam verantwortet, also die beiden Autorschaften zu einer verschmilzt. Der Ausdruck »canto« verweist zugleich auf eine weitere Ich-Position im Lied, nämlich die Sängerin oder den Sänger, der oder die sich in die Position des jeweiligen lyrischen Ich hineinbegibt und gemeinsam mit dem Begleiter Autor einer Aufführung wird. Die in den Oden Löwens und Hertels realisierte Repräsentation von Autorschaft bewegt sich um 1750 im Rahmen des Üblichen, stellt aber nicht die Norm selbst dar. Denn es war eher selten, dass ein Musiker einen Lieddruck mit Texten nur eines Dichters herausgab und beide Namen auf dem Titel standen. Ein Beispiel vom anderen Rand des Spektrums bilden die drei Jahre vor Hertels Liedern erschienenen Oden Knuth Lambos. Hier stehen weder die Namen der Dichter auf dem Titel noch der Name des Komponisten, welcher aber durch die Unterschrift unter dem Widmungsschreiben zu identifizieren ist. Die Autoren der vertonten Texte werden – teils mit ihrem Namen, teils mit (pseudonymen) Initialen – direkt über jedem Lied angegeben. Ein Motto ist nicht vorhanden, dafür ist die Titelgraphik unten rechts mit dem Namen des Kupferstechers Friedrich Schönemann versehen: der einzige Autorenname auf der Titelseite. Während über Autorschaft in der Lyrik des mittleren 18. Jahrhunderts schon in diversen Forschungsbeiträgen reflektiert wurde,4 setzte die Musikwissenschaft ihren Schwerpunkt auf stilgeschichtliche und gattungsästhetische Perspektiven. Deshalb sollen im folgenden Hauptteil des Beitrags zunächst Aspekte der Autorschaft in Lieddrucken der Aufklärung anhand eines klar umgrenzten Repertoires – Liederbüchern, die zwischen 1730 und 1770 in Hamburg und Altona gedruckt wurden5 – beschrieben und verglichen werden. Zum einen wird untersucht, welche Möglichkeiten Komponis4 Beispielsweise Christoph Perels, Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760, Göttingen 1974 (Palaestra 261), S.  150; Martus, Friedrich von Hagedorn (Anm. 4), S. 99–101. 5 Dieser Quellenbestand wird in einem aktuellen Forschungsprojekt der Autorin an der Universität Hamburg untersucht (Zur Gattungs- und Kulturgeschichte des weltlichen Liedes im Hamburg der Aufklärung von 1730–1780).

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ten nutzten, um ihre eigene Autorschaft sowie die Autorschaft der vertonten Dichter in den Paratexten des Lieddrucks – Titelblatt, Zuschrift, Vorrede, Inhaltsverzeichnis oder Liedtitel  – zu dokumentieren. Hierbei kann eine Bandbreite von Möglichkeiten aufgezeigt werden, die bei aller Vielfalt auch eine Norm erkennen lässt. Zum anderen geht es um die Frage, wie auf innerpoetischer Ebene Autorschaft suggeriert wird, wie also ein Textsubjekt sich als Autor artikuliert; an zwei Beispielen wird diskutiert, wie im unterschiedlichen Verhältnis der paratextuellen und textuellen Autorschaftsrepräsentationen auch Gender-Implikationen aufscheinen. Die Gender-Perspektive fordert auch dazu heraus, männliche und weibliche Autorschaft miteinander zu vergleichen. Für den hier im Fokus stehenden Zeitraum ist dies allerdings nicht möglich, denn im deutschsprachigen Raum beginnen erst seit 1780 Komponistinnen Liederhefte zu veröffentlichen. Gattungsgeschichtlich ist dann eine neue Epoche erreicht: Die Anakreontik wurde von der Empfindsamkeit abgelöst. Die Entscheidung, im zweiten Abschnitt des Beitrages dennoch einen Blick auf Liederbücher von Frauen zu werfen, rechtfertigt sich aus der Erwartung, dass durch den systematisierenden Blick auf die »Männerliederbücher« ein Spektrum möglicher Autorschaftsrepräsentation erarbeitet wird, das als Werkzeug für eine erste Bestandsaufnahme auch später erschienener Frauenliederbücher dienen kann. Das hilft, den Blick für den Zusammenhang von Geschlecht und Autorschaftsrepräsentation zu schärfen und wird zeigen, dass etwaige Differenzen zwischen Autorinnen und Autoren weniger schwer wiegen als die Ähnlichkeiten. Autorschaft in Hamburger Lieddrucken von 1730 bis 1770 Eine Bestandsaufnahme Das weltliche Lied des 18. Jahrhunderts entwickelte sich nicht in ungebrochener Tradition aus dem Lied des 17. Jahrhundert, vielmehr ist in den Jahrzehnten um 1700 eine rund 60jährige Phase zu beobachten, in der in Deutschland fast kein weltliches Liederbuch gedruckt wurde. Als Erklärung dafür dient oft die zeitgleiche Etablierung von Oper und Kantate. Die Arie habe das Lied verdrängt – ein Zusammenhang, der plausibel erscheint, ohne den Sachverhalt restlos zu klären. Denn Zweifel an der Vorstellung, die ersten Dekaden des 18.  Jahrhunderts seien »liederlos« gewesen, sind nach Heinrich W. Schwab jedenfalls angebracht, »weil aus dem drastischen Rückgang der Zahl gedruckter Liedsammlungen nicht gleich darauf geschlossen

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werden darf, ansonsten singlustige Gesellschaftskreise seien insgesamt verstummt und hätten keine Lieder mehr gesungen.«6 Nach dieser zumindest medienhistorisch begründeten Unterbrechung der Gattungsentwicklung tritt in Bezug auf die Autorschaft in Liederbüchern in Hamburg eine signifikante Veränderung zwischen Barock- und Aufklärungslied ein, die in dieser Deutlichkeit nicht auf andere Regionen übertragbar ist. Im 17. Jahrhundert gaben überwiegend Dichter wie Johann Rist, Philip von Zesen oder Jacob Schwieger Liederbücher heraus. Sie zogen zur Vertonung einen oder mehrere Musiker heran, deren Namen häufig nicht oder nur mit Initialen genannt wurden, und das nicht auf dem Titel, sondern über dem Einzellied. Im 18. Jahrhundert waren es dagegen meist die Komponisten, welche die Liederhefte mit ihrem Namen autorisierten und darin zumeist Texte mehrerer Dichter zusammenstellten. An der folgenden Übersicht der 14 Lieddrucke mit Kompositionen, die in den 40 Jahren zwischen 1730 und 1770 in Hamburg und Altona publiziert wurden, lassen sich einige Tendenzen in der Repräsentation von Autorschaft ablesen. Dabei wird in der ersten Spalte der Titel, mit oder ohne Darstellung des Autorennamens, gemäß der Formulierung auf der Titelseite (ohne Zeilenfall) wiedergegeben. Die zweite Spalte nennt den Autor, der den Druck initiiert hat, sowie die paratextuelle Position, an der das greifbar wird, falls der Autorenname nicht bereits auf dem Titel steht. In den Fällen, wo im Lieddruck selbst kein Name angegeben ist, lässt sich die Autorschaft durch andere Quellen wie Rezensionen, Briefe, spätere Werkausgaben etc. belegen. Die dritte Spalte informiert über die Darstellung der Autorschaft der Dichter, also darüber, ob und wie ihre Namen erscheinen, die vierte Spalte über die der Komponisten. In den Fällen, wo der Dichter als Initiator greifbar ist, wurden um der graphischen Übersichtlichkeit willen die Spalten zwei bis vier verbunden.

6 Heinrich W. Schwab, »Musikalische Lyrik im 18. Jahrhundert«, in: Musikalische Lyrik. Teil 1: Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert, hg. von Hermann Danuser, Laaber 2004 (Handbuch der musikalischen Gattungen 8/1), S. 349–407, hier: S. 359f.

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Titelformulierung Singe= Spiel= und Generalbaß= Uebungen, Hamburg 1733/1734.

Vier und zwanzig, theils ernsthafte, theils scherzende Oden, mit leichten und fast für alle Hälse bequehmen Melodien versehen, von G. P. T. Hamburg, bey Christian Herold. 1741. Sammlung neuer Oden und Lieder. Hamburg, bey sel. Felginers Wittwe und J. C. Bohn. 1742. Sammlung neuer Oden und Lieder. Zweyter Theil. Hamburg, bey Johann Carl Bohn. 1744. Lieder zum Unschuldigen Zeitvertreib. Hamburg. 1748. Sammlung Neuer Oden und Lieder. Dritter Theil. Hamburg, bey Johann Carl Bohn. 1752. Oden. Hamburg. 1754.

Verantwortlicher Autor Dichter Komponist Telemann, Georg Philipp verschiedene Dichter, meist anonym steht nur der Anfangsbuchstabe, seltener die erste Silbe, die eine Identifizierung gestattet (wie »Gottsch.« für Gottsched), nur einmal vollständiger Nachname Position: oben rechts auf jeder Liedseite kryptonym8 Telemann, Georg Philipp verschiedene Dichter orthonym7 Position: unter dem Titel auf jeder Liedseite

Hagedorn, Friedrich von

anonym

anonym

Hagedorn, Friedrich von

anonym

anonym

Kuntzen, Adolph Carl (Zuschrift)

verschiedene orthonym, man- orthonym che kryptonym (mit Initialen) Position: oben rechts auf jeder Liedseite 1 Dichter anonym orthonym

Görner, Johann Valentin (Vorrede) Lambo, Knuth (Zuschrift)

orthonym verschiedene orthonym und kryptonym (fiktive Initialen9) Position: oben rechts auf jeder Liedseite

7 Orthonym = mit dem richtigen Namen des Autors veröffentlicht. 8 Es gibt zwei verschiedene Versionen des Drucks, in einer gibt Telemann falsche Initialen an („T. J. P.“), in der anderen seine richtigen (G. P. T.). Vgl. dazu Ralph-Jürgen Reipsch, »Telemanns ›Zuschrift‹ der Vier und zwanzig, theils ernsthaften, theils scherzenden, Oden (Hamburg 1741) an Scheibe – eine Satire auf Mizler?“, in: Biographie und Kunst als historiographisches Problem. Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz anläßlich der 16. Magdeburger Telemann-Festtage, Magdeburg, 13. bis 15. März 2002, hg. von Joachim Kremer, Wolf Hobohm und Wolfgang Ruf, Hildesheim u. a. 2004 (Telemann-Konferenzberichte 14), S. 233–260, Abbildung beider Titelblätter im Anhang des Aufsatzes. 9 Die Texte erschienen in den sogenannten Bremer Beyträgen mit falschen Initialen, die der Camouflage der wahren Verfasser dienten.

92 Titelformulierung Lieder zum Scherz und Zeitvertreib, in die Musik gesetzt, und herausgegeben von Christian Friedrich Endter, Organisten in Buxtehude. Hamburg, in der Hertelischen Handlung im Dom, 1757. Oden und Lieder mit ihren eigenen Melodien von J. D. Leyding. Altona, bey David Iversen. 1757. Auserlesene Oden und Lieder von verschiedenen Dichtern: zum musikalischen Vergnügen in die Musik gesetzt von Johann Gottfried Müthel. Hamburg, verlegts Christian Wilhelm Brandt. 1759. Scherzhafte Lieder mit Melodien von Christian Ernst Rosenbaum. Altona und Lübeck, bey David Iversen 1760. Lieder mit Melodien für das Clavier, von Christian Ernst Rosenbaum. Zweeter Theil. Altona und Lübeck, Bey David Iversen, Königl. privil. Buchhändler aufs Herzogth. Holstein. 1762. Romanzen mit Melodien, und einem Schreiben an den Verfasser derselben. Hamburg und Leipzig 1762. Romanzen. Hamburg 1767.

Katharina Hottmann

Verantwortlicher Autor Endter, Christian Friedrich

Dichter verschiedene anonym

Leyding, Johann Dietrich verschiedene anonym

Komponist orthonym

orthonym

Müthel, Johann Gottfried

verschiedene anonym, wenige orthonym orthonym Position: wenige orthonym ohne direkte Zuordnung zu den Texten in der Vorrede

Rosenbaum, Christian Ernst

1 Dichter anonym

orthonym

Rosenbaum, Christian Ernst

verschiedene orthonym, einige pseudonym und anonym Position: Vorrede

orthonym

Löwen, Friedrich

anonym

anonym

Schiebeler, Daniel

anonym

anonym

Von den 14 Lieddrucken sind vier primär von Dichtern – Hagedorn, Löwen und Schiebeler  – verantwortet, alle anderen wurden von den Komponisten besorgt. Fast alle von Komponisten verantwortete Publikationen erschienen orthonym, d. h. die Musiker nennen ihren Namen entweder auf der Titelseite oder unterzeichnen die Zuschrift oder Vorrede. Ausnahmen sind die zwei frühesten Lieddrucke, beide von Georg Philipp Telemann. Im Fall der Singe-,

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Spiel- und Generalbass-Uebungen war die Identität des Komponisten allerdings durch Ankündigungen in den Hamburgischen Berichten von Neuen Gelehrten Sachen bekannt gemacht. Bei den 24 Oden dagegen könnte sich die Kryptonymität möglicherweise dadurch erklären, dass Telemann sich in der Vorrede polemisch in eine aktuelle gattungsästhetische Debatte einmischte. Auch in den beiden zeitlich folgenden Lieddrucken bleibt der Komponist ungenannt; hier war aber der Initiator des Liederbuches der Dichter, Friedrich von Hagedorn, der sehr wahrscheinlich über die Anonymität des Ganzen entschied. Hierin wird ein Muster sichtbar: Alle drei Dichter, die Lieddrucke herausbringen, bleiben mitsamt den beteiligten Komponisten anonym, können allerdings durch spätere Werkausgaben eindeutig identifiziert werden. Überdies geht aus Rezensionen hervor, dass schon zur Zeit des Drucks die Autorschaft teilweise öffentlich bekannt war. Die Anonymität der Dichter wurzelt in den Publikationskonventionen der Literatur. Auch wegen des erotischen Themas suchten die Anakreontiker einen gewissen Schutzraum in der Namenlosigkeit. So wurde die Lyrik des mittleren 18. Jahrhunderts überwiegend anonym publiziert107– entweder in Gedichtbänden oder in literarischen Wochenschriften wie den Belustigungen des Verstandes und des Witzes oder den Neuen Beyträgen zum Vergnügen des Verstandes und Witzes. Die in diesen Publikationen verwendeten Strategien der Autorschaftsverschleierung – Anonymität, Pseudonymität oder auch bewusst irreführende Initialen118 – werden in die Lieddrucke übernommen, die dadurch eine deutlich größere Vielfalt der Autorschaftsdarstellungen der Dichter als der Komponisten zeigen. In nur einem Druck sind alle Dichter orthonym repräsentiert: in Telemanns 24 Oden, in welchen er drei jungen Hamburger Dichtern (Hagedorn, Johann Arnold Ebert und Johann Matthias Dreyer) die Möglichkeit der Erstpublikation bot, wobei die Texte noch nicht den anzüglichen Ton der Anakreontik zeigen. In allen anderen Lieddrucken bleiben entweder alle ungenannt oder es steht in bunter Mischung einmal ein Realname, einmal ein Pseudonym und einmal nichts. Anders als im 17. Jahrhundert, als das Umtexten vorgefundener Melodien übliche Praxis war, dominiert im 18. Jahrhundert die umgekehrte Reihenfolge: Ein vorhandener Text wurde vertont.129Deshalb gab es in den Fällen, wo die 10 Vgl. dazu Perels, Studien (Anm. 5), S. 150. 11 Das ist bei den Bremer Beiträgern häufig der Fall, vgl. Franz Muncker (Hg.), Bremer Beiträger, 2 Bde., Berlin und Stuttgart [ca. 1889] (Deutsche National-Litteratur 43), Bd. 1, S. XX. 12 Das prominente Gegenbeispiel der Singenden Muse an der Pleiße, in der Sperontes vorfindliche Instrumentaltänze mit neuen Dichtungen versehen hatte, traf auf heftige zeitgenössische Ablehnung.

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Dichter die treibende Kraft waren, stets eine Kooperation zwischen beiden Autoren, denn die Dichter mussten einen Musiker suchen, der bereit war, ihre Texte zu vertonen und sich auf ihre stilistischen Erwartungen einzulassen. Im umgekehrten Fall gab es mehrere Möglichkeiten: So kam es in der konstituierenden Phase des Aufklärungsliedes durchaus häufig vor, dass Komponist und Dichter sich persönlich kannten; hier kann man nicht ausschließen, dass beide über die Gattungsanforderungen kommunizierten, auch wenn sich das nicht in Quellen niedergeschlagen hat. Im Laufe der 1740er Jahre aber explodierte der Lyrikmarkt, sodass die Musiker aus einem großen Reservoir anakreontischer Gedichte schöpfen konnten, ohne deren Urheber persönlich zu kennen oder auch nur um ihre wahre Identität zu wissen. Kamen Text und Musik auf diese Weise zusammen, so hatten die Dichter keinerlei Einfluss auf die Veröffentlichungsform ihrer Texte: Im Liederbuch konnten sie in der Regel weder die Publikation ihrer Texte noch die Repräsentation ihrer Autorschaft selbst kontrollieren. Hier übernahm der Komponist Autorfunktionen auch für den Text, wobei er die ursprüngliche Anonymität aufheben konnte, wenn er aus persönlichem Kontakt um die Urheberschaft wusste, aber auch Autorschaft verschleierte, wenn es ihm geboten schien. Die Einbettung von Lyrik des 18. Jahrhunderts in den Kontext geselliger Kommunikation führte zu weiteren Vervielfältigungen der Autorschaft durch mündliche Verbreitung, Abschriften und unautorisierte Neudrucke, was häufig neue Varianten entstehen ließ. Dies war den Autoren oder auch deren Anhängern durchaus nicht gleichgültig, vielmehr zeigen etwa Konflikte wie die um die »Verbesserungen« der Gedichte in Ramlers Liedern der Deutschen13,10dass Eingriffe in fremde Texte mit dem Wert der Texttreue kollidierten und in Rezensionen überaus kritisch diskutiert wurden. Vor diesem Hintergrund wird plausibel, dass sich ein Komponist wie Johann Gottfried Müthel in der Vorrede zu seinen Auserlesenen Oden und Liedern angesichts der komplizierten Quellenlage mit dem Verweis auf die Publikationskonvention der Anonymität und der geselligen Überlieferung der Texte aus der Affäre zu ziehen suchte: »Die Poesien sind nicht alle von mir gesammlet. Ich habe verschiedene von guten Freunden und Freundinnen geschrieben erhalten, und kann ich [sic] also für die gänzliche Richtigkeit derselben nicht stehen. Die Namen der Poeten würde ich gern beygesetzt haben; weil aber die mehresten Poesien ohne Namen erschienen, und die von dem Herrn von Hagedorn, dem Herrn Professor Gellert, dem Herrn

13 Karl Wilhelm Ramler (Hg.), Lieder der Deutschen, Berlin 1766.

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Leßing, und aus den Belustigungen und Beyträgen bekannt genug sind: so habe es [sic] deswegen unterlassen.«1411

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im Bereich der Dichtung eine stärkere Tendenz zur Anonymität zu beobachten ist, während die Komponisten überwiegend bestrebt sind, ihre Autorschaft im Druck selbst zu dokumentieren. Das »poetische Ich« im Liederbuch Eine andere Ebene von Autorschaft realisieren die Ich-Instanzen in den Liedern selbst.1512In ihrer Studie zur Rolle und Funktion des »poetischen Ich« unterscheidet die Komparatistin Carolin Fischer verschiedene Ich-Positionen der Lyrik.1613Dass Ich-Aussagen der Lyrik häufig dem empirischen Autor zugeschrieben werden, liege, so ihre These, nicht nur an der Naivität der Exegeten, sondern auch an den von den Dichtern angewendeten Strategien auktorialer Selbstinszenierung. Die »Versuchung [ist] groß«, schreibt Fischer, »einen Text als persönliche Äußerung des Autors zu lesen, wenn sein Thema ein poetologisches ist«17.14Anhand diverser Beispiele von der Antike bis ins 19. Jahrhundert demonstriert sie, wie die Verwechslung von Autorschaft und Ich-Instanz »durch die Texte selbst ›verursacht‹ wird«18,15und beschreibt unter dem Begriff des »poetischen Paktes« die literarischen Strategien, mit denen Dichter Authentizität suggerieren. Um von den vielen verschiedenen möglichen Ich-Perspektiven einer Gedicht- oder auch Liedsammlung das »Ich« zu unterscheiden, das sich als Autor des geschriebenen lyrischen Textes ausgibt, schlägt sie

14 »Vorrede« (unpaginiert), in: Auserlesene Oden und Lieder von verschiedenen Dichtern: zum musikalischen Vergnügen in die Musik gesetzt von Johann Gottfried Müthel, Hamburg 1759. 15 Über die Problematik des Begriffs »Lyrisches Ich« und mögliche Alternativen ist in der Literaturwissenschaft intensiv diskutiert worden. Eine Zusammenfassung des Forschungsstandes findet sich bei Matías Martínez, »Das lyrische Ich. Verteidigung eines umstrittenen Begriffs«, in: Autorschaft. Positionen und Revisionen, hg. von Heinrich Detering, Stuttgart u.  a. 2002 (Germanistische Symposiums-Berichtsbände 24), S. 376–389. 16 Carolin Fischer, Der poetische Pakt. Rolle und Funktion des poetischen Ich in der Liebeslyrik bei Ovid, Petrarcha, Ronsard, Shakespeare und Baudelaire, Heidelberg 2007 (Germanischromanische Monatsschrift Beiheft 28). 17 Ebd., S. 57. 18 Ebd., S. 67.

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den Begriff des »poetischen Ich« vor. Dieses »poetische Ich« erweckt den Anschein, dass es »den Text, in dem es in Erscheinung tritt, selbst generiert«19.16 Diese Perspektive lässt sich auch für die Analyse von in Musik gesetzter Lyrik fruchtbar machen. Der Komponist tritt als Herausgeber eines Liederbuches in zweifacher Hinsicht als Autor in Erscheinung: erstens als Autor der Musik und zweitens als Autor eines neuen Textzusammenhanges, der verschiedene Gedichte in eine neue Konstellation setzt. In dieser Funktion kann er vergleichbare Strategien nutzen wie die Dichter, um sich als »poetisches Ich« zu inszenieren. Der oben zitierte Satz Carolin Fischers lässt sich auf den Komponisten übertragen: Vertont er einen Text, in dem es um Musik geht, ist die Versuchung groß, das Ich des Liedes als Sprachrohr des Komponisten zu verstehen. Das gilt insbesondere, wenn das entsprechende Lied an einer markierten Position in der Sammlung steht, also etwa dieselbe einleitet. Denn mit dem ersten Lied stellt sich der Komponist in seinem eigentlichen Ausdrucksmedium vor; auf dem Titelblatt steht sein Name, aber im ersten Lied repräsentiert er sich in seiner Sprache. Hat man im ersten Lied ein »poetisches Ich« wahrgenommen, so weist dessen Autorschaft über das einzelne Lied hinaus auf den Gesamtzusammenhang des Liederbuches: Das »poetische Ich« wird zugleich zum »zyklischen Subjekt«.2017Jenseits des gut erforschten Phänomens des Liederzyklus im engeren Sinne stehen andere Formen des Zusammenhanges einzelner Lieder in einer Publikation selten im Blickpunkt der Forschung, was nicht nur für die Musikforschung gilt, sondern auch für die Literaturwissenschaft. Obwohl sie so offenkundig sei, so konstatiert Rolf Fieguth in dem von ihm herausgegebenen Tagungsbericht Architektur der Wolken, liege die Dimension des durch die Publikation geschaffenen Kontextes von Lyrik  – »das vom Autor oder von der Autorin geplante und gewollte Zusammenwirken von Gedichten in einer Gruppe, einer Sammlung, einem Zyklus, einem Gedichtbuch, nicht selten sogar in einer vom Dichter selbst angeordneten Gesamtausgabe seiner Gedichte«2118 – weitgehend im Verborgenen. Fieguth verweist auf die im Grunde zwar selbstverständliche, aber von der Forschung selten ausgewertete Tatsache, dass Gedichte neben ihrer Tendenz, als einzelne gelesen zu werden –  gleichsam als »Tropfen, die eine ganze Welt in sich enthalten«  −, sich durch ihre je spezifische Anordnung bereichert sehen: »In der Gesellschaft 19 Ebd., S. 70. 20 Rolf Fieguth, »Architektur der Wolken. Einleitungsessay«, in: Die Architektur der Wolken. Zyklisierung in der europäischen Lyrik des 19. Jahrhunderts, hg. von Rolf Fieguth, Bern u. a. 2005, S. 11–17. 21 Ebd., S. 12.

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mit anderen Gedichten bilden sie dann oft neue Zusammenhänge, neue Bedeutungs- und Sinndimensionen, die ein neues Lesen oder Wiederlesen der Gedichte erfordern.«2219Er beschreibt die Instanz eines »zyklischen Subjekts« von Gedichtbüchern, das als Urheber des spezifischen Textzusammenhanges wahrgenommen wird.2320 Das kann man nun wiederum leicht auf das Liederbuch übertragen, das ein empirisches »zyklisches Subjekt« besitzt, nämlich den Komponisten: Er wählt Texte aus, modifiziert sie gegebenenfalls seinen musikalischen Bedürfnissen gemäß (etwa durch Textwiederholungen) und stellt sie in einen neuen Zusammenhang, sodass im Einzelfall zu fragen ist, wie gezielt oder beliebig, wie lose oder wie dicht dieser Zusammenhang ist. Und es gibt – unter Umständen – ein innerpoetisches »zyklisches Subjekt«, also ein »poetisches Ich«, das für das Ganze einsteht, wobei »das Ganze« einerseits die Einheit zwischen Text und Musik und andererseits die Einheit der versammelten Lieder meint. Zwei Beispiele mögen das beleuchten. Männliche Autorschaft und »poetisches Ich«. Zwei Beispiele Nach der »liederlosen Zeit« begann die neue Liedepoche mit einem Experiment. Telemann gab 1733 die 48 Lieder seiner Singe= Spiel= und Generalbaß= Uebungen in Form eines wöchentlichen Abonnements heraus: Jeden Donnerstag erschien ein Liedblatt mit ausgesetztem Generalbass, unter dem Lied fanden sich Erläuterungen des Komponisten zur Generalbass-Praxis. 1735 publizierte Telemann die Stücke dann auch als Liederbuch mit Titelblatt und Register.2421Durch ihr periodisches Erscheinen ist der Konnex der Lieder eher lose. Betrachtet man jedoch das Ganze, so wirken erstes und letztes Lied als Rahmen, der einen ästhetischen Zusammenhang herstellt, da sich diese Lieder selbstreflexiv auf Produktion und Rezeption des Liederbuches beziehen lassen.

22 Ebd. 23 Ebd., S. 13. 24 Georg Philipp Telemann, Singe-, Spiel- und Generalbaß-Uebungen, Hamburg 1733– 1734, Reprint der Originalausgabe mit einer Einführung von Günter Fleischhauer, Leipzig 1983.

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»Neues. Etwas neues vorzutragen, so nicht nach dem alten schmeckt, will schon manchen niederschlagen, dass er nicht was iunges heckt. Doch, was soll die sclaverey, die so enge grenzen setzet? ob es alt ist, oder neu, gnug, wenn’s nützet und ergetzet.«

Abb. 3  Telemann, Singe= Spiel= und Generalbaß= Uebungen, Hamburg 1733/34 (hg. von Max Seiffert, Kassel u. a. 1968), Faksimile von Nr. 1

Das erste Lied heißt Neues. Der Autor des Textes, nur durch die Initiale W. angegeben, ist noch nicht identifiziert. Das Horazische prodesse et delectare (nützen und ergötzen) steht hier als zentrale ästhetische Maxime der Aufklärung über der Frage von Tradition und Innovation. Wieweit der Liedtitel von Telemann oder aus der Textvorlage stammt, ist ohne Kenntnis der letzteren nicht festzustellen. In jedem Fall produziert er eine gewisse Spannung, weil er einen Ankündigungscharakter zeigt – »Neues« –, den das Textsubjekt dann wieder zurücknimmt, indem es den Anspruch an den Autor, stets innovativ zu sein, als Sklaverei zurückweist. Telemanns Komposition ist äußerst regelmäßig gebaut, und außer der Hemiole am Schluss ist kaum etwas auffällig an der Musik. Allerdings muss man sich in Erinnerung rufen, dass dieser liedhaft schlichte Gestus in einer Zeit, in der Da-Capo-Arien dominierten, die Zeitgenossen bei einer TelemannMusik eher überrascht haben mag.

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Abb. 4 und Abb. 5  Daniel Stoppe, Sonntags-Arbeit oder Geistliche Gedichte auf alle Sonn- und Fest-Tage durch das ganze Jahr, aufgesetzt, Hirschberg 1737, S. 112f.

Der Text des letzten Liedes stammt aus einer geistlichen Kantate von Daniel Stoppe.2522Ausgehend vom Jesus-Wort über den »Balken im eigenen Auge« ist das Generalthema des Kantatentextes der Umgang mit Fehlern. Telemann wählt für sein Lied die Schlussarie, die von allen vier Arientexten die schwächste biblische Konnotation hat und als einzige aus einer Ich-Perspektive formuliert ist.2623Mit seiner Aufnahme in die Liedsammlung löst Telemann den Text aus seinem religiösen Kontext und verweltlicht ihn, was für das Bekenntnis des lyrischen Ich bedeutet, dass die moralische Stoßrichtung des Textes sich in eine künstlerische verkehrt. Dabei dreht sich auch die Richtung des Appells. 25 Die Quelle von Telemann habe ich nicht eruieren können, einige Jahre nach dem Lieddruck publizierte Daniel Stoppe sie in seiner Kantatensammlung Sonntags-Arbeit. Kantate auf den IV. Sonntag nach Trinitates, in: Daniel Stoppe, Sonntags-Arbeit oder Geistliche Gedichte auf alle Sonn- und Fest-Tage durch das ganze Jahr, aufgesetzt, Hirschberg 1737, S. 110–113, Liedtext S. 112f. 26 Die anderen sind entweder appellativ oder neutral darlegend gehalten.

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Im Originaltext legt Stoppe die Betonung darauf, dass das Ich sich selbst als mängelbehaftet erkennt und Besserung gelobt. Telemann aber stellt über das Ganze den Titel »Jeder sein eigner Richter«, womit das sprechende Ich Kritik von außen abwehrt. »Jeder sein eigener Richter Ich will vor meiner Thüre kehren, Ich habe gnug für mich zu thun. Ich kenne mich, ich bin kein Engel. Ein jeder Mensch hat seine Mängel, Wer diese tilgen will, darf Lebenslang nicht ruhn.«

Abb. 6  Telemann, Singe= Spiel= und Generalbaß= Uebungen, Hamburg 1733/34 (hg. von Max Seiffert, Kassel u. a. 1968), Nr. 48

Telemann übernimmt die im Originaltext vorgeschriebene Da-Capo-Form und wiederholt ariengemäß Textteile. Wie üblich rekapituliert er den letzten Vers vor dem Da-Capo, sodass der aufklärerische Selbstanspruch, sich zu verbessern, stärkeres Gewicht erhält. Geradezu spannend aber wirkt im Hinblick auf die Frage nach der Autorschaft die Wiederholung des Wortes »ich« am Ende jedes Formteils: Ursprünglich viermal tritt das Wort »ich« im Text auf, in der Vertonung erscheint es nun nicht weniger als vierzehnmal. Außerdem wird das Wort bei der quasi vorgezogenen Wiederholung musikalisch mehrfach markiert. Die Singstimme setzt eine Terz höher an und singt das Wort »ich« allein – die einzige Stelle im Lied, wo die Stimme unbegleitet singt, das »Ich« also ganz alleine für sich steht.

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Als Komponist nutzt Telemann die Option zur Textwiederholung, um seine Identifikation mit dem »lyrischen Ich« zu betonen. Als Autor der Fußnote bestätigt er, dass die Aussagen von Anfangs- und Schlusslied sich programmatisch auf die Liedzusammenstellung beziehen: »Hiermit beschließen wir diese übungen, und wünschen, dass der abgezielte zweck, zu nützen und zu belustigen, erlanget seyn möge.« Und er schließt mit dem Appell: »Uebrigens wollen unsre beurtheiler den inhalt der obstehenden Arie mit uns gemeinschaftlich beobachten!« Mit dem paratextuellen Bezug auf die Lieder macht Telemann die Instanz des poetischen »zyklischen Subjekts« explizit. Ein kontrastierendes Beispiel kann helfen, Telemanns auktoriale Inszenierung noch schärfer zu profilieren. Während die Singe= Spiel= und Generalbaß= Uebungen ein sehr spezielles Liedmedium sind und die Texte noch keine anakreontischen, vertreten Christian Friedrich Endters Lieder zum Scherz und Zeitvertreib 2724den klassischen Typus des anakreontischen Liederbuches. Sie beginnen mit dem Lied An Chloe aus Johann Peter Uz’ Lyrischen Gedichten von 1749. »An Chloen O Chloe! Höre du Der neuen Laute zu, Die jüngst, bey stiller Nacht, Mir Cypripor gebracht. Nimm diese, war sein Wort, Statt jener Stolzen dort. Die buhlt so lange schon Um Pindars hohen Ton: Doch da sie Siegern fröhnt, Wird sie und du verhöhnt.

Auf ! trit in seine Spur; Da trit man Rosen nur: Und singe nur berauscht Und wo man Küsse tauscht. Lyäen kennst du schon, Doch nicht Cytherens Sohn. Den mache dir anitzt Ein Blick, der feurig blitzt; Und meine schnelle Hand Durch diesen Pfeil bekannt.

Thu, wie der Tejer Greis, Der keines Helden Preis In seine Leyer sang, Die nur von Liebe klang. Er sang voll Weins und Lust Und an der Mädchen Brust. Da sang er erst ein Lied, Das noch die Herzen zieht: Das machten ihm alsdenn Ich und die Grazien.

Kaum sprach der Bube so, So schoß er und entfloh; So fühlte schon mein Herz Noch ungefühlten Schmerz; So sah ich, voll Begier, O Chloe! nur nach dir. Nun siege, wer da will! Mein neues Saitenspiel Soll nur dem frohen Wein Und Chloen heilig seyn.«28

27 Christian Friedrich Endter, Lieder zum Scherz und Zeitvertreib, Hamburg 1757. 28 Johann Peter Uz, Lyrische Gedichte, Berlin 1749, S. 10f.

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Das Gedicht variiert tradierte literarische Topoi mit einer doppelten kommunikativen Struktur. Einen Rahmen bildet die Rede des männlichen lyrischen Ich an seine Geliebte Chloe: Sie soll der neuen Laute zuhören, die ihm Amor gebracht habe. Nachdem so die Aufmerksamkeit der Zuhörenden gewonnen ist, beschreibt das Ich die Rede Amors, der dem Instrument einen poetologischen Auftrag hinzufügt: anders und anderes als zuvor dichten. Amor kontrastiert zwei Stilhöhen, konkretisiert durch die Namen Pindar, dessen Hymnen für die hohe Dichtkunst stehen, und Anakreon, der die mittlere Stilhöhe vertritt, und er beauftragt das lyrische Ich, sich dieser letzteren zu bedienen. Nachdem Amors Pfeil ins Ziel getroffen hat, fühlt das Ich ungekanntes Begehren und stellt fortan seine Laute in den Dienst des Weines und der Liebe. So wird die schöpferische Potenz des männlichen Autors durch die Liebe entzündet und gewinnt dadurch zugleich eine Adressierung: Chloe, die Frau, ist Inspiration und Publikum. Durch die Anrede »An Chloen« dürfen sich Frauen besonders angesprochen fühlen, doch spricht aus dem Text eine Diskrepanz zwischen dem ästhetischen Programm der mittleren Stilhöhe und dem Vokabular, das stark auf humanistisches Bildungswissen rekurriert, indem Uz die Namen der antiken Bezugsfiguren durch Insider-Begriffe wie Tejer Greis (Anakreon) oder Cipripor (Amor) ersetzt. Wer sich so ausdrückt, wendet sich eher an Menschen, die gymnasiale Lektüreerfahrungen mit antiken Originaltexten haben, also weniger an Frauen. Zudem stellt er als Autor sicher, dass die Wahl des genus medium nicht als poetische Unzulänglichkeit interpretiert wird, sondern als freie Entscheidung eines, der die Verfügungsgewalt über verschiedene Stilhöhen hat. Das »Ich« des ersten Liedes wird durch die Autor-Inszenierung als »zyklisches Subjekt« des Liederbuches wahrgenommen, das vom Komponisten eingesetzt wird und seine Autorschaft auch über die folgenden Lieder der Sammlung suggeriert. Und wie spricht der Komponist in seiner Sprache? Eher unscheinbar. Die Musik entspricht der mittleren Stilhöhe und in jedem Aspekt der zeitgenössischen Liednorm. Nur eine kompositorische Idee lässt sich ausmachen, nämlich die lautenartige Bassführung, die als kompositorische Authentizitätsstrategie glauben machen will, man höre die neue Laute schon. Wie bei Telemann gibt es auch bei Endter eine Repräsentation von Autorschaft im Paratext, hier in einer zweiseitigen Vorrede, die mit folgendem Absatz beginnt: »Ich opfere hiermit den Liebhabern der Tonkunst die Erstlinge meines Fleißes, den ich seit verschiedenen Jahren auf die musikalische Setzkunst verwendet habe. Sollten sich einige darüber verwundern, daß ich mich unterstehe, mit meinen Be-

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Abb. 7  An Chloen, in: Christian Friedrich Endter, Lieder zum Scherz und Zeitvertreib, Hamburg 1757, Nr. 1 (SUB Hamburg, M B/4807)

mühungen öffentlich hervorzutreten, da es an geschickten Männern nicht fehlet, die bald in dieser, bald in jener Gattung der Tonkunst die vortrefflichsten Meisterstücke der Welt vorgeleget haben: so bin ich vielleicht im Stande mich gegen billige

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Richter hinlänglich zu entschuldigen. Ich gebe die aufrichtige Versicherung von mir, daß ich bey Herausgabe dieser Proben nicht die Kühnheit gehabt habe, großen Meistern den Rang abzulaufen. Ein solcher Ehrgeiz hat mein Gemüth nicht bezaubert. Es ist nur meine Absicht gewesen, denen ein Vergnügen zu machen, die sich zum Zeitvertreibe im Singen, und auf dem Klavier üben wollen. Ich habe mich deswegen vor diesmahl bloß mit Liedern beschäftiget, die größtentheils aus den Schriften berühmter Dichter entlehnet worden.«2925

In diesem Zitat sind unterschiedliche Aspekte zu erkennen: Zunächst betont Endter sein handwerkliches Selbstverständnis, indem er sich auf Fleiß mehr als auf Inspiration beruft. Zeittypisch muss er rechtfertigen, seine Stücke überhaupt zu publizieren. Ungewöhnlich ist, dass er sich dabei nicht auf das Drängen von Freunden beruft, sondern nur für sich selbst einsteht. Mit der Absicht, etwas zum Vergnügen und Üben zu bieten, ist das Horazische prodesse et delectare auch hier präsent, und wie Telemann rechnet Endter mit möglichen Kritikern. Im Tonfall beider gibt es aber eine deutliche Differenz, aufgrund von Alter, Erfahrung und Ansehen: Telemann war zur Zeit des Lieddrucks über 50 und als Hamburger Stadtmusikdirektor deutschlandweit anerkannt; entsprechend selbstbewusst stellt er sich dar. Endter, Organist in Buxtehude, war erst 26 Jahre alt, als er seine Lieder als erste und einzige Publikation auf den Weg brachte; das vermag die Massivität der Bescheidenheitsrhetorik zu erklären, die durchaus das übliche Maß übersteigt. Das Verhältnis von Lied und Paratext ist bei beiden Komponisten unterschiedlich. Telemann bezieht beide Ebenen aufeinander und suggeriert, dass wir mit dem lyrischen Ich der Lieder seine auktoriale Stimme hören. Endter repräsentiert sich auf zwei verschiedenen Ebenen: mit einem quasi empirischen Ich, das in der Vorrede spricht und hinter der vorherrschenden Topik kaum erkennbar wird, und einem »poetischen Ich«, das mit den Worten des anerkannten Lyrikers eine Künstleridentität vertritt, die bei aller Bescheidung auf das genus medium mit der göttlichen Inspiration auf du und du steht. Auch der Gender-Aspekt ist anders ausgeprägt. Telemann markiert sich nicht speziell als Mann – dass er aber als Mann für ein primär männliches Publikum Lieder komponiert, kann man aus einem Blick auf sein lyrisches Gesamtwerk feststellen: In seinen rund 70 Liedern gibt es keine Adressierung von Liedern an Frauen und kein einziges Lied eines weiblichen Sprechsubjekts: beides ist in späteren Hamburger Liederbüchern immer vorhanden. Telemann schreibt für einen eher geschlechterhomogenen Zirkel als gelehrsamer Autor. Endter inszeniert durch die Stimme von Uz demgegenüber ein explizit männliches Au29 »Vorrede« (unpaginiert), in: Endter, Lieder zum Scherz und Zeitvertreib (Anm. 28).

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torschaftskonzept, indem er sich als Liebender und Künstler einem weiblichen Subjekt gegenüberstellt, das seine Einbildungskraft entzündet und ihm zuhört. Weibliche Autorschaft in Liederbüchern des 18. Jahrhunderts Vor dem Hintergrund dieser Beispiele zur Repräsentation männlicher Autorschaft sollen nun einige Beobachtungen zu weiblicher Autorschaft angeführt werden. Nach der »liederlosen Zeit« sind Frauen von Anfang an als Adressatinnen30,26Widmungsträgerinnen und Dichterinnen3127präsent, wogegen sie als Komponistinnen erst seit 1780 auftreten. Deshalb soll der Blick zunächst auf eine Lyrikerin der Jahrhundertmitte gerichtet werden, wobei aufschlussreiche Differenzen in der Autorschaftsrepräsentation von Dichterinnen und Komponistinnen aufscheinen. 1751 schrieb die anakreontische Dichterin Johanne Charlotte Unzer3228in ihrem anonym veröffentlichten Versuch in Scherzgedichten: »Ich würde wegen dieser Gedichte gar nichts zu erinnern haben, wenn ich nicht ein Frauenzimmer wäre. Eine Mannsperson hat die Freyheit, von Liebe und Wein zu scherzen, ohne befürchten zu dürfen, daß man es ihr übel auslegen werde. Unser Geschlecht ist hierinnen weit mehr eingeschränkt.«3329 30 Sperontes (= Johann Sigismund Scholze) wendet sich in seinem Einleitungsgedicht an die »Freunde meiner Kunst, von beyderley Geschlechte«. Sperontes, Singende Muse an der Pleisse in 2.mahl 50 Oden, der neuesten und besten musicalischen Stücke mit den darzu gehörigen Melodien zu beliebter Clavier-Übung und Gemüths-Ergötzung Nebst einem Anhange aus F. C. Günthers Gedichten, Leipzig 1736, Faksimile, mit einem Nachwort von Horst Irrgang, Leipzig 1964. 31 Johann Friedrich Gräfe widmete den ersten Teil seiner Oden von 1737 Christiane Mariane Ziegler, den zweiten Teil von 1739 Luise Victorie Adelgunde Gottsched; von beiden Dichterinnen finden sich auch Vertonungen. Johann Friedrich Gräfe, Sammlung verschiedener und auserlesener Oden zu welchen von den berühmtesten Meistern in der Musik eigene Melodeyen verfertiget worden besorgt und herausgegeben von einem Liebhaber der Music und Poesie, Halle 1737–1743. 32 Vgl. dazu ausführlicher Katharina Hottmann, »Eine weibliche Stimme der anakreontischen Aufklärung. Johanne Charlotte Unzer in Vertonungen von Christian Ernst Rosenbaum, Peter Paulsen und Carl Philipp Emanuel Bach«, in: Musikgeschichten – Vermittlungsformen. Festschrift für Beatrix Borchard zum 60. Geburtstag, hg. von Martina Bick, Julia Heimerdinger und Krista Warnke, Köln 2010 (Musik-Kultur-Gender 9), S. 183–211. 33 »Vorerinnerung« (unpaginiert), in: Johanna Charlotte Unzer, Versuch in Scherzgedichten, Halle 1751.

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Die Poetik der scherzhaften Lyrik gäbe als Themen Liebe und Wein vor. Diese für Frauen ungeeignet zu finden, zeige mangelnde Einsicht in den Gattungscharakter anakreontischer Lieder, denn »kein vernünftiger Leser« suche »in einer scherzhaften Ode die Sprache des Herzens«, angemessen sei vielmehr die Sprache »des Witzes und der Scharffsinnigkeit«34.30Auch Dichterinnen könnten sich dieser Sprache bedienen, wofür Unzer zwei Argumente vorträgt. Erstens die Stilhöhe: Da nur wenige Autoren – und zwar Männer wie Frauen – erhaben dichten könnten, müsse es erlaubt sein, »Gedichte der niedern und mittlern Art zu verfertigen«. Das zweite Argument betrifft den Realitätsgehalt anakreontischer Poesie: »Doch man könnte denken, es wäre unnatürlich, wenn ein Frauenzimmer vom Weine singet; weil es unter uns keine Trinker giebt, […] und eben so könne es nicht wohl angehen, daß sie die Liebe erhebet, weil es wider die Eingezogenheit unsers Geschlechtes ist, auch nur den Schein von sich zu geben, als wenn man viel Werk aus der Liebe machte. Allein ein anakreontischer Trinker, und ein anakreontischer Liebhaber, rühmt und räth bloß das Lieben und das Trinken, um einen Scherz zu machen, und ein Lachen zu erregen. Wer mehr bey einer anakreontischen Ode denkt, als dieses, wird sich ohne Zweifel betriegen.«3531

Autoren anakreontischer Lyrik mussten, selbst wenn sie anonym blieben, zum Verhältnis von poetischer Fiktion und persönlicher Lebenshaltung Stellung beziehen, auch Männer. Ein Beispiel dafür ist der oben erwähnte Schweriner Hofdichter Friedrich Löwen, der mit Unzer befreundet war und sich in seinem – seinerseits ebenfalls anonym publizierten – Gedichtband mit Bezug auf ihre Vorrede verteidigt und im Zuge dessen ihre Identität preisgibt: »[Die] Frau Doctorin Unzern, in Altona, (ich nenne sie, wenn sie mir auch tausend verliebte Schwüre, und Haß und Wasser wünschen würde) diese muntre Dichterin besingt die Liebe und den Wein, aber sie sagt es auch in ihrer Vorrede, daß man sie deswegen keiner Neigung zum Trunk beschuldigen, und sie unter männliche Trinker setzen solle.«3632

34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd.

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Nach kurzem Bekunden seiner Anständigkeit schließt Löwen mit Rekurs auf Unzer: »Die scherzhafte Dichterin, auf die ich mich berufe, hat in ihrem Vorberichte alles gesagt, was ich hier sonst sagen wollte.«3733 Susanne Kord stellt fest, dass in »Einleitungen zu Pseudonymenlexika und wissenschaftlicher Literatur zum Thema […] immer wieder betont [werde], daß die meisten Autoren […] ihr Pseudonym nur bei Erstveröffentlichungen verwendeten. Das trifft auf Autorinnen nicht zu.«3834Unzer ist hier offenbar eine Ausnahme, denn in der Neuauflage des Gedichtbandes unterschreibt sie die »Erinnerung bey der zweyten Auflage«, also die neue Vorrede, mit »J. Ch. Unzerinn geb. Zieglerinn«39.35Ob die Aufhebung der Anonymität ursächlich mit der »Enthüllung« durch Löwen zu tun hatte, lässt sich nicht mehr feststellen. In jedem Fall sind auf dem Gebiet der anakreontischen Lyrik auch Gattungskonventionen für die überwiegend gewählte Anonymität verantwortlich zu machen, denen sich beide Geschlechter unterwarfen. Die Trennung von empirischem und »poetischem Ich« musste explizit vollzogen werden, sobald der Charakter der Texte mit den herrschenden gesellschaftlichen Normen in Konflikt geriet. Genau hierin könnte auch eine Erklärung dafür liegen, dass Telemann eine Autorschaftsstrategie wählen konnte, die empirisches und »poetisches Ich« überblendet, während Endter, der anakreontische Texte vertonte, den Weg einer gesplitteten auktorialen Repräsentation nutzte. Erst 30 Jahre später im Zeitalter der Empfindsamkeit realisiert sich weibliche Autorschaft im Liederbuch. Nachdem bereits die ab 1770 erscheinenden Musenalmanache Dichterinnen wie Komponistinnen ein Publikationsforum boten, erschienen ab 1780 auch einige Liederbücher von Frauen, wobei die Zahl der von Männern herausgebrachten Lieddrucke die der aus weiblicher Initiative besorgten Publikationen nach wie vor weit überstieg. In Max Friedländers Kompendium zum deutschen Lied des 18. Jahrhunderts40,36das als wichtigste Recherchegrundlage zum Liedschaffen dieser Epoche noch nicht überholt ist, sind in der Dekade zwischen 1780 und 1790 sechs Lieddrucke von Komponistinnen zu identifizieren, wobei bei anonymen Publikationen eine weibliche Autorschaft natürlich nie auszuschließen ist. Den »echten« Liederbüchern von Frauen einige Jahre voraus ging ein Liederbuch mit suggerierter weiblicher 37 »Empfehlungs Schreiben an das schöne Geschlecht« (unpaginiert), in: Johann Friedrich Löwen, Zärtliche Lieder und Anakreontische Scherze, Hamburg 1751. 38 Susanne Kord, Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorschaft 1700– 1900, Stuttgart und Weimar 1996 (Ergebnisse der Frauenforschung 41), S. 16. 39 Versuch in Scherzgedichten, Zweyte, veränderte und vermehrte Auflage, Halle 1753. 40 Max Friedlaender, Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert. Quellen und Studien; mit 350 teils gestochenen, teils in den Text gedruckten Musikbeispielen, 3 Bde., Stuttgart und Berlin 1902 (Reprografischer Nachdruck) Hildesheim u. a. 1962.

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Autorschaft; die 1774 erschienenen Lieder eines Mägdchens, beym Singen und 7 Claviere413wurden von Friedrich August Clemens Werthes gedichtet, die Urheberschaft der Vertonungen ist unbekannt. Der Ton der Vorrede sowie der Gedichte lässt vermuten, dass der Autor hoffte, einerseits mit der Vorspiegelung weiblicher Autorschaft ein größeres Interesse besonders bei der weiblichen Käuferschaft zu wecken und andererseits den amourösen Texten aus weiblicher Sprechperspektive eine scheinbare Authentizität zu verleihen.4238 Von den sechs Frauen-Liederbüchern des befragten Zeitraums sollen vier einer kurzen Betrachtung unterzogen werden. Die beiden anderen sind auszunehmen, da der Lieddruck der sächsischen Herzogin Maria Charlotte Amalie nicht mehr auffindbar ist4339und die Lieder der Schauspielerin und Sängerin Minna Brandes posthum herausgegebenen wurden44,40so dass über die Repräsentation der weiblichen Autorschaft hier nicht durch die Autorin selbst, sondern durch ihren Vater entschieden wurde.4541 Alle vier Komponistinnen waren Sängerinnen (Marie Theresia Paradis allerdings in erster Linie Pianistin), und alle nennen ihren Namen auf der Titelseite, teils mit Zusätzen wie der Berufsbezeichnung, teils nur für sich stehend. Alle vertonen mehrere Dichterinnen und Dichter, deren Namen angegeben werden, wenn die Komponistinnen ihn kannten. Nach wie vor wurde Lyrik auch anonym oder pseudonym publiziert, etwa in den Musenalmanachen; manchmal werden die Quellen (Vossischer Musenalmanach, Blumenlese etc.) verzeichnet, und wenigstens ein Teil der anonymen Gedichte wird auf Anonymität in den benutzten literarischen Werken zurückzuführen sein. Es ist also in dieser Hinsicht kein Unterschied zu den früheren männlichen Lieddrucken zu beobachten: Einem ziemlich durchgängigen Bestreben der Komponistin41 Lieder eines Mägdchens, beym Singen und Claviere, Münster 1774. 42 »Der Herausgeber dieser Lieder macht sich die Hofnung, dem Publikum, besonders dem schönern Theile desselben, kein unangenehmes Geschenke damit zu machen. Alles, was er ihm hierüber entdecken kann, ist dieses, daß sie von zwo Freundinnen herrühren, deren eine die Lieder gedichtet, die andere componirt hat. Wegen der Art, wie diese Beute von ihm erobert und gebraucht worden ist, hat er es mit beyden Verfasserinnen selbst zu thun, und schmeichelt sich, Ihre Vergebung deswegen, und mit der Zeit vielleicht Ihren geheimen Dank zu erhalten.« Vorrede zu Lieder eines Mägdchens (Anm. 42). 43 Maria Charlotte Amalie, Herzogin von Sachsen, Lieder von einer Liebhaberin, Gotha 1786. 44 Minna Brandes, Musikalischer Nachlass, Hamburg 1788. 45 Vgl. dazu Matthew Head, »Cultural Meanings for Women Composers: Charlotte (‚Minna‹) Brandes and the Beautiful Dead in the German Enlightenment«, JAMS 57/2 (2004), S. 231–284.

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nen und Komponisten, ihr Werk mit dem eigenen Namen zu autorisieren, steht eine Vielfalt der Autorschaftsdarstellung bei den Gedichten gegenüber. Titelformulierung

Zwölf Lieder mit Melodieen fürs Klavier, von Maria Adelheid Eichner, Kammersängerin S. K. H. des Prinz von Preußen. Potsdam, bey Carl Christian Horvath. 1780. Lieder und Claviersonaten, von Juliane Reichardt, geb. Benda. Hamburg, bey Carl Ernst Bohn. 1782. Zwölf Lieder auf ihrer Reise in Musik gesetzt. Widmet der besten edelsten Fürstin Louise verwitweten Herzogin zu Sachsen-Meynungen gebohrnen Prinzessin zu Stollberg-Geudern Ihrer gnädigen Gönnerin als ein geringes Zeichen ihrer tiefsten Verehrung Maria Theresia Paradis. Leipzig, bey Johann Gottlob Immanuel Breitkopf, 1786. Fünf und Zwanzig Lieder. In Musik gesetzt von Corona Schröter. Weimar 1786. Annoch bey mir selbst, und in Commission in der Hoffmannischen Buchhandlung

Dichter

Komponistin

verschiedene orthonym, kryptonym (Initiale)

orthonym

verschiedene orthonym, anonym

orthonym

verschiedene orthonym, anonym

orthonym

verschiedene orthonym, pseudonym, anonym

orthonym

So einheitlich der Umgang mit dem eigenen Namen auf dem Titelblatt ist, so verschieden sind andere Aspekte der Selbst-Darstellung in den Paratexten. Nur ein einziger der vier Lieddrucke enthält eine Vorrede, und zwar der früheste von Adelheid Eichner. Die Preußische Hofsängerin spricht in ihrem knappen Vorbericht zunächst vom Beifall der Freunde, es folgen Bescheidenheitstopoi, und am Schluss rekurriert sie mit einem Sinngedicht von Christoph Friedrich Sangerhausen4642auf das Thema Kritik: »Der Beyfal, den diese Lieder von einigen meiner Freunde, theils Kennern, theils bloßen Liebhabern des Gesanges erhalten haben, hat mich bewogen sie herauszugeben, obschon ich mir deswegen nicht schmeichle, daß sie nun auch andern Kennern, die nicht von Freundschaft für mich eingenommen sind, eben so sehr als jenen gefallen werden. Sollt’ es, wie ich daher zu vermuthen Ursach habe, einem oder andern von letzteren belieben, sein Urtheil über diesen meinen ersten Versuch in der musikalischen Liederkomposition irgendwo bekannt zu machen: so werd’ ich dieses mit Dank erkennen, wenn nur sein Urtheil belehrend und nicht das ist was Sangerhausen von unserer heutigen Kritik algemein zu behaupten scheinet, wenn er sagt: 46 Das Sinngedicht findet sich in Christoph Friedrich Sangerhausen, Gesamlete Gedichte, Leipzig 1782, S. 11. Die Quelle Eichners habe ich nicht eruieren können.

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So wie die Medizin, so heilte Sonst die Kritik den Text nur innerlich, zertheilte Vertrieb und linderte. – Nun ist sie Chirurgie Nun schneidet sie.«4743

Wie die Paratexte Telemanns und Endters antizipiert auch der Vorbericht Adelheid Eichners mögliche kritische Reaktionen, wobei es den rhetorischen Konventionen entsprach, zu bekunden, dass man sich gerechtfertigter Kritik im Dienste der Selbstverbesserung nicht verschließen würde, aber zugleich gegen zerstörerische Kritik verwahre. Juliane Reichardt nennt ihren Namen und ihren Mädchennamen Benda auf dem Titel; beide hatten in der musikalischen Öffentlichkeit natürlich einen guten Klang. Sie ist damit die einzige von den vier Komponistinnen, an deren Namen sich das spezifisch »weibliche« Phänomen der Aufspaltung des einen Autorennamens in mehrere Namen zeigt.4844Einige der Lieder waren schon früher – auch orthonym – in Musenalmanachen erschienen. Reichardt verzichtet auf eine Vorrede, setzt aber als Motto ein Shakespeare-Zitat aus dem Hamlet auf den Titel: »Sind Veilchen in des Jahres Jugend, sind Erstlinge der Natur, früh und nicht dauernd, Süß, aber bald dahin: der Duft, die Blüthe Von wenigen Minuten – [...]«

Ihren baldigen Tod – sie starb ein Jahr nach der Drucklegung – hatte sie kaum ahnen können. Vielleicht könnte man das Motto als Appell werten, angesichts des »Erstlingscharakters« dieses Liederbuches in der Kritik maßvoll zu sein. Oder geht es um Vergänglichkeit, der mit dem Druck ja gerade entgegengewirkt wird? Die Anregung, diese Verse aufzugreifen, wird sie vermutlich aus Herders Volksliedern bezogen haben, denen auch der Text des ersten Liedes entnommen ist; diese tragen das gleiche Shakespeare-Motto.4945 Auch Paradis fügt ihren Liedern keine Vorrede hinzu, dafür ist ein Scherenschnitt als bildliche Repräsentation der Autorin auf dem Titelblatt zu se-

47 »Vorbericht«, in: Adelheid Eichner, Zwölf Lieder mit Melodieen fürs Klavier, Potsdam 1780. 48 Vgl. Barbara Hahn, Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen, Frankfurt a. M. 1991, S. 7–19. 49 Johann Gottfried Herder, Volkslieder. Erster Theil, Leipzig 1778.

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hen.5046Anders als die drei ersten Komponistinnen kommt Corona Schröter bei ihrer Titelgestaltung ganz ohne Zusätze ikonographischer oder literarischer Art aus, dafür ist unter dem Erscheinungsort und -datum ein Hinweis darauf zu lesen, dass die Noten »bey mir selbst« zu erhalten seien; überdies enthält der Druck ein Pränumerantenverzeichnis.5147Allerdings rekurriert sie in ihrem Subskriptionsaufruf in Cramers Magazin der Musik auf ihr Geschlecht: »Die Liebhaberey an leichtem Gesang kann zwar die Liebhaberey der Liedercomposition entschuldigen; dennoch habe ich, dieser Voraussetzung ohngeachtet, manche Bedenklichkeit bekämpfen müssen, ehe ich den Entschluß ernstlich zu fassen wagte, eine Sammlung kleiner Gedichte, die ich mit Melodien begleitet habe, durch den Druck bekannt zu machen. Unserm Geschlecht ist ein eignes Gefühl von Schicklichkeit und Sittlichkeit eingeprägt, das uns nicht erlaubt, allein, und ohne Begleitung öffentlich zu erscheinen: wie kann ich daher anders als mit Schüchternheit diese meine musikalischen Arbeiten dem Publikum übergeben, da ich für dieselben keinen Beschützer und Vorsprecher habe? Denn der schmeichelhafte Ausspruch und die Aufmunterung einiger Personen, denen ich sie bekannt gemacht, – so unbezweifelte Ansprüche auch denenselben auf das Richteramt im Reiche der Künste zustehen, – kann leicht aus Nachsicht partheyisch seyn: doch der Arbeit eines Frauenzimmers wird ja in den Augen anderer Kenner gleiche Nachsicht zu Theil werden.«5248

In der Forschungsliteratur wird häufig die These vertreten, dass Autorinnen mit mangelndem Selbstbewusstsein zu kämpfen hätten. Marcia Citron etwa spricht von einem »lack of professional self-confidence« im Fall von Corona Schröter und Maria Theresia Paradis.5349Citron bezieht sich dabei vor allem auf öffentliche Selbstaussagen wie den oben zitierten Subskriptionsaufruf, wobei diese aus meiner Sicht zu unkritisch als direkter Reflex auf die innere Haltung

50 Vgl. das Digitalisat in der Wolfenbütteler Digitalen Bibliothek: http://diglib.hab.de/wdb.php?dir=drucke/77-musica-div-2f (Zugriff: 04.04.2012). 51 Vgl. das Digitalisat der Herzog Anna Amalia Bibliothek Weimar: http://ora-web.swkk.de/digimo_online/digimo.entry?source=digimo.Digitalisat_anzeigen &a_id=2614 (Zugriff: 04.04.2012). 52 Corona Schröter, »Subskriptionsaufruf«, in: Carl Friedrich Cramer (Hg.), Magazin der Musik, Jg. 2, Hälfte 1, Hamburg 1785 (Reprint) Hildesheim und New York 1971, S. 692–694, hier: S. 692f. 53 Marcia J. Citron, »Women and the Lied 1775–1850«, in: Women Making Music. The Western Art Tradition, 1150–1950, hg. von Jane Bowers, Urbana u. a. 2003, S. 224–248, hier: S. 230.

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interpretiert werden.5450 Die Erwartungen an öffentliche Textaussagen waren auch im späten 18. Jahrhundert noch geprägt von rhetorischen Konventionen, die Autoren eine Rechtfertigung für die Publikation abverlangten, besonders wenn es sich um Erstlingswerke handelte. Aus der Artikulation von Unsicherheit daher auf das »authentische« Selbstkonzept zu schließen, scheint daher problematisch; zumindest teilen die Frauen die entschuldigende Haltung auch mit diversen männlichen Autoren, die erstmalig mit Lieddrucken an die Öffentlichkeit traten. Üblich ist auch der Hinweis, dass die Lieder bereits die Zustimmung von kompetenten Hörern erhalten hätten, und man könnte die Formulierungen Schröters auch dahingehend lesen, dass die gattungstypische Zurückweisung unberechtigter Kritik durch den Hinweis auf das weibliche Geschlecht ein zusätzliches Argument erhält, das von der Autorin wirkungsbewusst eingesetzt wird. In jedem Fall verzichtet Schröter darauf, den Zusammenhang von Autorschaft und Geschlecht im Liederbuch selbst zum Ausdruck zu bringen. Als letzter Aspekt sei die Frage untersucht, inwieweit sich in den Liederbüchern von Frauen ein »poetisches Ich« findet, also im ersten Lied der Zusammenstellung ein Textsubjekt eingesetzt wird, das eine Identität mit der Verfasserin suggeriert. Adelheid Eichner wählt als einzige Komponistin für ihr Eingangslied den Text einer Dichterin, Dorothee Charlotte Elisabeth Spangenberg, publiziert im Göttinger Musenalmanach von 1779 unter dem Pseudonym »Aemilia«, das auch in den Lieddruck übernommen ist. Ein ungegendertes Textsubjekt bekräftigt die Zufriedenheit mit seinem von Gott eingesetzten bescheidenen Stand – ein überaus gängiges Thema der Schäferdichtung, sowohl der Anakreontik als auch noch der Empfindsamkeit. Das Gedicht scheint weder Dichtung noch Kunst zu thematisieren, steht allerdings unter dem Titel »Lied«. Die Bekundung von Bescheidenheit, verbunden mit dem Gattungsnamen, könnte daher durchaus als demonstratives Bekenntnis zur stilistischen Zurückgenommenheit des genus medium gelesen werden. Das Eingangslied in Juliane Reichardts Liederbuch – Das strickende Mädchen – stammt aus Herders Volksliedern.5551Ein männliches lyrisches Ich bemüht sich um die Antwort eines Mädchens auf seine verliebte Ansprache; dieses reagiert durch Nicht-Reagieren, schließlich verlässt sie schweigend den Raum. Ein »poetisches Ich« wird hier offenkundig nicht eingesetzt, ebensowenig wie

54 Überdies erscheint mir die englische Übersetzung des Zitatendes durch Citron sehr geschärft: »[…] The work of any lady … can indeed arouse a degree of pity in the eyes of some experts«. Ebd. 55 Herder, Volkslieder. Erster Theil (Anm. 50), S. 56f.

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in Schröters Liederbuch. Das einleitende Lied der Morgenröthe, ebenfalls aus Herders Volksliedern56,52ist ein Liebeslied aus männlicher Sprechperspektive. Nur in einem der Liederbücher lässt sich die Konstruktion eines »poetischen Ich« ausmachen. Maria Theresia Paradis beginnt mit der Vertonung eines Liedes aus dem vielgelesenen empfindsamen Briefroman Sophiens Reise von Memel nach Sachsen von Johann Timotheus Hermes.5753Dass Paradis auf dem Titelblatt auf die Umstände der Komposition rekurriert, nämlich Zwölf Lieder auf ihrer Reise in Musik gesetzt, trägt zur Authentizitätsstrategie bei: Das Reisen verklammert das empirische Ich mit dem »poetischen Ich«. Unter dem Titel An das Klavier entfaltet sich im Gedicht ein Dialog zwischen einem empfindsam klagenden lyrischen Ich und dem Instrument, das zum Adressaten eines Gefühlsausdrucks wird, der zu intim für die zwischenmenschliche Kommunikation ist.5854Innerhalb des Gedichts ist das lyrische Ich nicht eindeutig gegendert, im Roman aber singt die Protagonistin, so dass wir ein intertextuell weiblich gegendertes »poetisches Ich« vorfinden. Die Einsetzung des »poetischen Ichs« bestätigt sich auch beim Blick auf das von Hartmut Krones als »gleichsam autobiographisches Schlussstück« bezeichnete letzte Lied, An meine entfernte Lieben von Johann Riedinger, das die Themen »Reise« und »Kommunikation« wieder aufgreift.5955 Schluss Nach dem Versuch, den Zusammenhang der drei vom Tagungsthema gesetzten Begriffe Autorschaft, Genie und Geschlecht an einem begrenzten 56 Johann Gottfried Herder, Volkslieder. Nebst untermischten andern Stücken. Zweiter Theil, Leipzig 1779, S. 7f. 57 Johann Timotheus Hermes, Sophiens Reise von Memel nach Sachsen, Leipzig 1770–1772. Der Roman enthält mehrere Lieder, zu denen der Verfasser auch Melodie-Vorschläge macht und Vertonungen von Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Adam Hiller und Johann Friedrich Gräfe vorschlägt. Vgl. dazu auch Gudrun Busch, »Die ›Aura des Intimen‹. Interdependenzen des empfindsamen Klavier-, Roman- und Bühnenliedes zwischen 1766 und 1800«, in: Musik und Szene. Festschrift für Werner Braun zum 75. Geburtstag, hg. von Bernhard R. Appel, Karl W. Geck und Herbert Schneider, Saarbrücken 2001, S. 223–255, hier: S. 230f. 58 Eine Analyse dieses Liedes findet sich in Marion Fürst, Maria Theresia Paradis. Mozarts berühmte Zeitgenossin, Köln u. a. 2005 (Europäische Komponistinnen 4), S. 233–235. 59 Hartmut Krones, »›An das Klavier‹. ›Fräulein Paradis, diese merkwürdige Künstlerinn unserer Vaterstadt‹«, in: Das Klavier in Geschichte(n) und Gegenwart. Irmgard Bontinck zugeeignete Festschrift, hg. von Michael Huber u. a., Strasshof 2001, S. 136–152, hier: S. 139.

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Quellenbestand zu konkretisieren, lassen sich einige Ergebnisse resümierend festhalten. Die Gattung Lied ist im 18. Jahrhundert nicht mit einem GenieKonzept verbunden, weil das genus medium deutlichen Selbstbeschränkungen im künstlerischen Ausdruck unterliegt; der Anspruch, Neues zu sagen, scheint eher en passant auf. Die Kategorie »Geschlecht« hat Relevanz auf der Ebene der Akteure und auf der Ebene der Repräsentation. Bei den Akteuren gibt es ein klares chronologisches Gefälle: Frauen publizieren im 18. Jahrhundert zwei Generationen später Lieder als Männer. Im Medium des Liederbuches selbst und der darin gewählten Repräsentation von Autorschaft sind die Differenzen dagegen nicht sehr markant. Sowohl Komponisten als auch Komponistinnen inszenieren ihre Autorschaft sehr unterschiedlich, wobei letztere durchgehend darauf verzichten, die weibliche Autorschaft im Liederbuch selbst explizit zu thematisieren. Außerdem ist kein Aspekt auszumachen, der frauen-spezifisch wäre, insbesondere sind die Bescheidenheitstopoi, die häufig als besonders typisch für Frauen angesehen werden, nicht signifikanter als in männlichen Lieddrucken des 18.  Jahrhunderts. Eher wäre der Verzicht auf ausformulierte Paratexte zu beobachten, wobei ein Vergleich der Frauenliederbücher mit gleichzeitig erschienenen Männerliederbüchern und eine Ausweitung des Quellenbestands auf mindestens ein weiteres Jahrzehnt unerlässlich wäre, um zu ermessen, wieweit das wirklich als geschlechterspezifischer Befund gelten kann. Eine bestimmte Autorschaftsinszenierung allerdings ist Männern vorbehalten: Inspiration durch erotische Liebe. Auf diese Inspiration darf sich indes auch nur das »poetische Ich« berufen, die Differenz dieses »poetischen Ichs« zum empirischen Ich des Autors muss erkennbar bleiben.

Michael Walter

»Norma di Pasta«

Der Titel ist natürlich ironisch gemeint. In den studentischen Arbeiten der letzten Jahre habe ich viele kuriose Operntitel gesehen, die Neuschöpfungen aus der unverstandenen Sekundärliteratur waren. Dazu gehörten z. B. Eugen Scribe von Auber und Helmina von Chezy von Carl Maria von Weber. Eine äußerst interessante Oper wäre auch, wenn sie denn jemals komponiert worden wäre, der Judenstaat von Richard Wagner. Unter solchen Neuschöpfungen findet sich auch die Oper Norma di Pasta von Bellini. Giuditta Pasta war bekanntlich die Uraufführungssängerin der Norma. Die Formulierung »Norma di Pasta von Bellini« gibt also in sprachlicher Hybridform zwei Autoren für die Oper an, nämlich die Pasta und Bellini. Und genau an dieser Stelle ist man gezwungen, das, was eigentlich studentische Unkenntnis ist, ernst zu nehmen, denn nichts anderes wird auch in der rezenten Forschung behauptet, genauer gesagt in einem 2007 erschienen Artikel Susan Rutherfords über Giuditta Pasta.1 Der Artikel ist in mehrerer Hinsicht exemplarisch. Er verbindet die Frage der Performanz ebenso wie den Problemkreis »Autor« und »Werk« mit Ansätzen der Genderforschung. Ausgangsfrage Rutherfords ist die – mittlerweile nahezu klassische Frage – nach der Identität des Kunstwerkes bezogen auf die Oper des 19. Jahrhunderts, also ob das »Kunstwerk« die Komposition oder die Aufführung sei. In den 1820er Jahren sei die Antwort klar gewesen, meint sie, das »Kunstwerk« sei allein die Aufführung gewesen. Dieser käme Werkcharakter zu und zwar – in letzter Konsequenz – eben nur der Uraufführung bzw. der Uraufführungsserie, in der jene Sänger und Sängerinnen sangen und agierten, für die der Komponist seine Oper komponiert hatte. Die Darsteller selbst erhalten in dieser Sicht eine Position als Mitautoren der Oper. Rutherford spricht zunächst von »creative partnership between Bellini, his librettist Felice Romani and Pasta«2, präzisiert dann aber an anderer Stelle, Norma sei »the embodiment of Pasta as much as of Bellini, as an artwork of both composition and performance«3. 1 Vgl. Susan Rutherford, »›Le cantante delle passioni‹. Giuditta Pasta and the idea of operatic performance«, in: Cambridge Opera Journal 19 (2007), S. 107–138. 2 Rutherford, »Le cantante delle passioni« (Anm. 1), S. 123. 3 Ebd., S. 136.

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Die Pasta wäre in dieser Perspektive also Mitautorin der Oper (nämlich als Aufführung), Norma wäre tatsächlich auch »di Pasta«. Dagegen wäre aus werkästhetischer Sicht einzuwenden, dass, folgt man Rutherford, die Oper als solche ein ephemeres Werk wäre, das sich der historischen Überlieferung entziehe. Der Sachverhalt ist für Aufführungen zweifellos plausibel, müsste im Hinblick auf das Werk jedoch quellenkritisch belegt werden. Insofern ist Rutherfords Aufsatz hier von exemplarischem Interesse, nämlich in Bezug auf die Validität kulturwissenschaftlicher Thesenbildungen. Ich werde im folgenden darum zunächst danach fragen, ob die Darstellung der Norma durch die Pasta in besonderer Weise einmalig war, denn nur das könnte ihren Rang als Mitautorin bestätigen und mich dann der Frage des »Kunstwerkes« bzw. der Frage nach dem Werkcharakter zuwenden – beides ist nicht identisch –, um dann abschließend auf die Autorenfrage zu kommen. Pasta wurde von Rutherford ausgewählt, weil sie im Gegensatz zu anderen Sängerinnen, eine »physicality of dramatic expression into the performance of opera seria«4 eingeführt habe, die vorher unbekannt war. An der Sichtweise Rutherfords ist, worauf nur am Rande hingewiesen sei, gerade wenn man die Aufführung als das eigentliche Werk betrachtet, schon die Annahme fraglich, allein die Pasta sei Mitautorin der Norma gewesen. Zwar ist die Rolle bekanntlich für die Sängerin konzipiert worden, so wie alle Hauptrollen aller italienischer Opern bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Sänger und Sängerinnen der Hauptpartien komponiert wurden. Das gilt neben der Pasta im Falle der Norma aber z.  B. auch für Domenico Donzelli, den Sänger des Pollione.5 Von einem Augenzeugen einer Vorstellung der Norma an der Scala im März 1831 wird neben der Darstellung der Pasta mehrfach auch die Donzellis hervorgehoben, nicht ohne den Hinweis, dieser sei früher ein schlampiger Darsteller gewesen, nunmehr aber, nach seiner Rückkehr aus 4 Ebd., S. 110. 5 Bellini mochte allerdings Donzelli nicht, obwohl er seine Stimme nicht kannte, sodass er sich Informationen über sie von seinem Freund Mercadante und von Donzelli selbst einholte. Der Brief Donzellis ist insofern interessant, als er darauf hinweist, dass er die Töne vom eingestrichenen G bis zum zweigestrichenen C im Falsett sänge, ein Sachverhalt, der sich offensichtlich in der Tessitura der Partie niedergeschlagen hat. Dass Bellini die Komposition der Hauptpartien an die Pasta und Donzelli anpasste, um deren Stimmen gerecht zu werden, war, wie erwähnt, eine Selbstverständlichkeit. Im Falle Donzellis, dem Bellini Rubini vorgezogen hätte, ergab sich ein Problem dadurch, dass Donzelli offenbar einen deutlichen Registerbruch beim G hatte und nicht wie Rubini nahtlos von der Tenorstimme ins Falsett wechseln konnte, was das Schreiben hoher Koloraturen nicht allzu ratsam erscheinen ließ. Vgl. zur Stimmcharakteristik Rubinis z. B. den Bericht über seinen Auftritt in Il Pirata in London im King’s Theatre vom 1. Juni 1831, in: The New Monthly Magazine. And Literary Journal 33/Nr. 3 (1831), S. 258.

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Frankreich und England, orientiere sich seine Darstellung an (Edmund) Kean und François Joseph Talma.6 Donzelli wurden also genau jene darstellerischen Qualitäten zugeschrieben, die auch der Pasta zugeschrieben wurden, welche gelegentlich in Italien sogar fälschlich als Lieblingsschülerin Talmas bezeichnet wurde (»scuolara anch’essa prediletta di Talma«7). Die Stimme der Pasta Die große Bedeutung, die physische Präsenz als Schauspielerin für die Pasta hatte, erklärt sich leicht durch die Defekte ihrer Stimme. Die wohl erste Eloge über die Pasta ist Stendhals Kapitel über sie in seinem 1824 erschienenen Rossini-Buch. Das ist kein unwichtiger Sachverhalt, denn wie alles in diesem Buch ist auch das Kapitel über die Pasta eine Polemik gegen die Große Oper in Paris. Die Pasta ist das Gegenbeispiel für die nach Meinung Stendhals marode und altertümliche Aufführungspraxis französischer Sänger. Zudem war Stendhal, auch wenn die Gerüchte über ein Verhältnis zwischen ihm und der Pasta wohl falsch sind, ein Fan, der sogar in das Haus zog, in dem die Pasta in Paris wohnte, und häufiger Besucher ihres Salons war.8 Insofern ist Stendhals Kapitel über die Pasta mit quellenkritischer Vorsicht zu betrachten. Stendhal lobt den großen Stimmumfang der Sängerin und die stimmlich nuancierte Darstellung, konzediert aber, die Stimme sei nicht schön9 und es gebe »unbequeme Lagen«10.

6 Vgl. (ohne Autor, vermutlich Carlo Ritorni) »L’Anna Bolena e la Norma«, in: Annali del Teatro della città di Reggio. Anno 1832, Bologna 1832, S. 37. 7 »Descrizione dello spettacolo«, in: Almanaco del Teatro di Reggio per l’anno MDCCCXXXV, Bologna 1834, S. 89. 8 Vgl. Philippe Berthier, »La voix de Giuditta«, in: ders., Figures du fantasme. Un parcours dix-neuviémiste, Toulouse 1992, S.  102, und Benjamin Walton, Rossini in Restoration Paris. The Sound of Modern Life, Cambridge u. a. 2007, S. 46. 9 Stendhal argumentiert implizit gegen den – von ihm nicht bestrittenen – Vorwurf, dass die Stimme nicht schön sei, wenn er z. B. schreibt: »La Todi, Pacchiarotti, et un grand nombre de chanteurs du premier ordre, ont montré jadis comment on pouvait changé en beautés des désavantages apparents, et en tirer des effets d’une originalité séduisante. L’histoire de l’art tendrait même à faire croire que c’est ne pas avec une voix également argentine et inaltérable dans toutes les notes de son extension que l’on obtient le chant vraiment passioné.« Vgl. Stendhal, Vie de Rossini. Seconde Partie, Paris 1824, S.  476f. Dieses implizite Argumentieren gegen die Defekte der Stimme der Pasta ist in Stendhals Text mehrfach zu beobachten. 10 Stendhal, Vie de Rossini (Anm. 9), S. 482.

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Derselbe Sachverhalt hörte sich, ebenfalls 1824, bei einem Rezensenten, dessen Absicht es nicht war, die Pasta gegen die französischen Sängerinnen auszuspielen, so an: »Einer Sängerin müssen drei Dinge zu Gebote stehen, erstens eine Stimme, zweitens eine Stimme und drittens eine Stimme. Mme. Pasta besitzt kein einziges davon. Was ihr die Natur statt dessen gegeben, klingt als schnitte man ein Stück Filz mit dem Messer durch. – Der Mangel an Stimme zieht einen Mangel an reiner Intonation nach sich, weil, wo gar kein Ton ist, auch kein reiner Ton sein kann.«

Gewiss, der Rezensent äußert sich drastisch, aber nach allen Berichten, die wir haben, trifft er durchaus die Sache. Gleichwohl konzediert er, es gäbe etwas, was die Pasta über alle anderen Sängerinnen erheben würde: »Sie singt mit dem Gefühle, statt mit der Stimme.« Das aber sei »in Sachen des ästhetischen Geschmacks, was das Salz dem leiblichen ist: es macht geniessbar [...]«. Der Rezensent fügt dann hinzu: »Wenn wir noch gesagt haben werden, dass Mme. Pasta, ausser ihrem Gefühle, auch einen lobenswerten Verstand (oder doch den Instinct davon, was auf Eins hinausläuft) in Auffassung und Darstellung von dramatischen Details, wenn auch nicht von Characteren, besitzt, so ergibt sich dass Mme. Pasta, Trotz [sic] ihres heisern Organs, Trotz [sic] ihrer unsichern Intonation (wenn sie erschöpft ist) und Trotz ihrer Dilettantenschule, die beste singende Schauspielerin der jetzigen Zeit ist.«11

Übersieht man die verfügbaren Rezensionen der Pasta aus den 1820er und 1830er Jahren in Bezug auf die Stimme, so ergeben sich drei Sachverhalte. Erstens gibt es einen Überlieferungsstrang, für den der Text von Stendhal die Initialzündung ist. Gerade englische Rezensenten beziehen sich – zum Teil ohne es zu wissen (gewissermaßen als Tertiärrezipienten) – auf Stendhal, wobei aber die Defekte der Stimme nicht mehr heruntergespielt, sondern hervorgehoben werden: Pasta singt heiser, sie »detoniert« in ihren Partien immer wieder, sie singt, insbesondere wenn sie müde ist, unsauber, sie hat unausgeglichene Register, insbesondere das mittlere Register wird immer wieder als »verschleiert« beschrieben, was einen Zeitgenossen 1831 dazu brachte, von ihren wenigen guten und vielen abgenützten Tönen zu sprechen.12 11 »Allerlei Musikalisches aus Paris«, in: Caecilia 1 (1824), S. 305f. 12 »Beschluss der Karneval- und Fasten-Opern u.a.w. in Italien«, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 33 (1831), col. 322: »Starken Beyfall hatte immerwährend die Pasta,

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Schon 1830 in Wien stellte ein Rezensent fest, dass »nun ihre tiefen und zum Theile auch ihre Mitteltöne, noch voilirter als früher sind«13. Zweitens aber wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Pasta die stimmlichen Defekte durch ihre Darstellungskunst ausgeglichen habe. Drittens aber ist bis in die frühen 1830er Jahre – sinngemäß – immer wieder zu lesen, die Pasta habe viel dazugelernt und vielleicht würde noch eine gute Sängerin aus ihr. Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht. Vielmehr ging die Pasta vom Stadium einer noch nicht guten Stimme nahtlos in das Stadium einer nicht mehr guten Stimme über, was sich spätestens 1832 belegen lässt, als ihr Auftritt in Norma so beschrieben wurde: »Was nun die Sänger betrifft, so sind leider die voriges Jahr noch vorhanden gewesenen wenigen guten Töne der Pasta fast auch schon dahin […] und grössthenteils singt sie gerade so, als wenn Spohr oder Paganini ein Adagio auf einer Violine mit falschen Saiten spielten.«14

Rutherford befasst sich mit einer Kontroverse, die 1835 in Mailand um Pasta und Malibran geführt wurde als Pasta unmittelbar nach einer Aufführungsserie der Norma mit der Malibran selbst diese Rolle wieder sang, und referiert einen von ihr als »satirisch«15 bezeichneten Artikel in Dialogform aus Il Figaro. Dort wird der Pasta vorgeworfen, sie sei fett geworden, ihre Stimme habe nachgelassen, sie würde Noten in den Koloraturen auslassen etc.16 Tatsächlich mag der Autor übertreiben, trifft aber einen Sachverhalt, der kaum zu bestreiten, sondern anhand von genügend Quellen zu belegen ist: die Pasta, die mit 37 nach damaligen Maßstäben keineswegs mehr jung war, hatte Mitte der 1830er Jahre ihren stimmlichen Zenit deutlich überschritten, intonierte falsch

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aber weit stärkeren fand der ungeheure Gesangskünstler Rubini. Es ist zum Erstaunen, welche herrlichen Sachen die Pasta mit ihren wenigen guten und vielen abgenützten Tönen zu machen imstande ist, ihr Gesang ist auch dramatischer, als der von Rubini; aber letzterer steht dermalen einzig da, und ist im ganzen Umfange seiner Kunst, selbst in den feinsten Nüancen ein Riese.« (Der Bericht bezieht sich auf eine Anna BolenaVorstellung der Carnevals-stagione 1831). »Correspondenz« (aus Wien, Ende Mai 1830), in: Damen-Zeitung. Ein Morgenblatt für die elegante Welt 2 (1830), (11. Juni 1830), S. 552. Allgemeine Musikalische Zeitung 34 (1832), col. 200 (Korrespondentenbericht aus Mailand). Der Rezensent fährt fort: »doch ihre guten Augenblicke sind oft himmlisch schön und sie gefällt überhaupt ungemein«. Rutherford, »Le cantante delle passioni« (Anm. 1), S. 126. Ebd., S. 125.

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und ihr Äußeres war durchaus nicht mehr vorteilhaft.17 Vor allem, dass sie ihre Stimme noch weniger in der Gewalt hatte und noch unsauberer intonierte als Ende der 1820er Jahre, machte sich schon bei ihren Auftritten 1833 und 1834 in Paris bemerkbar.18 Nach der Norma-Serie in Mailand 1835 zog sie sich denn auch von der Bühne zurück, trat aber 1837 in London, 1840 in St. Petersburg und nachfolgend in Deutschland wieder auf. Hatte man vor 1830 noch die Hoffnung, die Pasta würde gutes Singen noch lernen, so ist spätestens ab 1837 immer wieder zu lesen, man sei von der Pasta entzückt, weil man sich so gerne daran erinnere, wie gut sie einmal gewesen sei. Als Beispiel sei hier Felix Mendelssohn-Bartholdy zitiert, der am 23. August 1841 über einen Berliner Auftritt der Pasta in Rossinis Semiramide berichtete: »Neulich hörte ich die Pasta in der Semiramide. Sie singt jetzt, namentlich in den Mitteltönen, so fürchterlich falsch, dass es eine wahre Qual ist; dabei sind natürlich die herrlichen Spuren ihres großen Talents, die Züge, die eine Sängerin ersten Ranges verrathen, oft unverkennbar. In einer andern Stadt würde man das schreckliche Detoniren erst empfunden und – nachher überlegt haben, dass dies die große Künstlerin sei; hier sagte sich jeder vorher, dies sei die Pasta, sie sei alt, sie könne daher nicht mehr rein singen, man müsse also davon abstrahiren. So würde man sie anderswo vielleicht ungerechterweise herabgewürdigt haben; hier war man ungerechterweise entzückt, und zwar mit voller Reflexion, mit Bewußtsein des Drüberstehens entzückt. Das ist ein schlimmes Entzücken.«19

Dies war nicht nur die Einschätzung eines deutschen und wenig an der Oper interessierten Komponisten, sondern gab eine allgemeine Einschätzung der Stimme der Pasta seit spätestens ihrem Londoner Auftritt 1837 wieder. Tatsächlich waren die späten Auftritte der Pasta in St. Petersburg und Berlin 1840/41, vielleicht auch schon die in London 1837, mehr oder weniger durch einen äußeren Sachverhalt bedingt und nicht dadurch, dass die Pasta, wie andere Sängerinnen, nicht von der Bühne lassen konnte. Sie hatte nämlich durch

17 Vgl. August Lewald, »Künstler-Portraits«, in: Allgemeine Theater-Revue 2 (1836), hier: »Judith Pasta«, S. 333f. 18 Vgl. François-Joseph Fétis, Biographie universelle des musiciens et bibliographie générale de la musique, Bd. 6, 2. Aufl., Paris 1867, S. 464. 19 Felix Mendelssohn-Bartholdy, Briefe aus den Jahren 1830 bis 1847. Zweiter Theil. Briefe aus den Jahren 1833–1847, hg. von Paul Mendelssohn Bartholdy und Carl Mendelssohn Bartholdy, 4. Aufl., Leipzig 1878, S. 202.

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das Missgeschick einer Wiener Bank einen Großteil ihres Vermögens verloren und war zu Auftritten gezwungen, »in order to earn a living«20. Nun lassen sich die Erfolge der Pasta als Darstellerin zumindest in den 1820er Jahren in Paris und London kaum bestreiten, doch verdanken sich diese primär ihrem nuancierten und individualisierten Deklamationsstil, der, wie Paolo Russo gezeigt hat, eine Übernahme aus Techniken des englischen und französischen Sprechtheaters sowie den Darstellungstechniken des Pariser Mélodrame war und geprägt wurde von »frasi interrotte, cesure, scarti ritmici ed espressivi, ma sopratutto silenzi«21. Angesichts des altertümlichen Pariser Gesangsstils und vor dem Hintergrund eines noch nicht allein auf den aktuellen italienischen Belcanto-Stil zugespitzten und teilweise deutlich veralteten Opernrepertoires in London wurden die Defekte der Stimme wegen der »scenic effects«, die die Pasta erzielte, in Kauf genommen.22 In Italien legte das Publikum jedoch wesentlich mehr Wert auf die Perfektion der Stimme und war angesichts des am nordeuropäischen Sprechtheater orientierten Darstellungsstils der Pasta zunächst mehr als irritiert, sodass ihre ersten Auftritte in Neapel 1826 nicht goutiert wurden und sie erst ab 1829, nach ihren Auftritten am Teatro Carcano in Mailand, auch in Italien23 zum Star wurde, wenn auch nur für kurze Zeit und nicht unangefochten. Komponieren für die Pasta Angesichts der geschilderten Umstände stellt sich die Frage, warum Donizetti und Bellini Opern für die Pasta komponierten, deren stimmliche Defekte ihnen natürlich ebenso bekannt waren wie die Gefahr, die dadurch beim Publikum auch in Mailand entstand. Die Pasta bot allerdings etwas, was beiden Komponisten um 1830 zentral für ihr ästhetisches Konzept erschien: Beide – Donizetti mehr als Bellini – wollten eine deutlich dramatisierte Form der Oper statt der primär musikalischen Parametern gehorchenden Form der 20 Bericht von »H. T.« in der New Musical Gazette vom 6. Juli 1841, abgedruckt in: The Musical Magazine; or, Repository of Musical Science, Literature, and Intelligence 3 (1842), S. 361–363, hier: S. 362. Der Autor ist, wie aus dem Ende des Texts hervorgeht, ein Deutscher. Vgl. dazu auch Michael Walter, »Das Opernpublikum im 19. Jahrhundert«, in: LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie 2 (2009), S. 87f. 21 Paolo Russo, »Giuditta Pasta: cantante pantomimica«, in: Musica e Storia 10 (2002), S. 521. 22 John Ebers, Seven Years of The King’s Theatre, London 1828, S. 299. 23 Vgl. Russo, »Giuditta Pasta« (Anm. 21), S. 497–532. Völlig zu recht warnt Russo vor der üblicherweise hagiografischen Pasta-Literatur auch der neuesten Zeit.

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Rossinischen Oper. Damit einher ging der Versuch, die üblichen Konventionen der »solita forma« zu durchbrechen und die Koloraturen zugunsten des dramatischen Ausdrucks zu reduzieren. Faktisch erfolgte damit bereits eine Annäherung an dramaturgische Elemente des Sprechtheaters, wenn auch in den engen Grenzen, die in der italienischen Gattungstradition möglich waren. Der Deklamationsstil der Pasta dürfte aber für beide Komponisten im Hinblick auf die Intention, dem Publikum ihre Opern dramatisch unmittelbar fassbar zu machen, durchaus attraktiv gewesen sein, da es (noch) keine anderen Darstellungsalternativen gab. Dennoch hieß das Komponieren einer Partie für die Pasta für Donizetti und Bellini, dass sie bei der Gestaltung der Vokalpartie in gewisser Weise behindert waren. Sie hatten die Wahl zwischen der geringstmöglichen Rücksichtnahme auf die Defekte der Stimme zugunsten der dramatischen Rollenkonzeption oder der Rücksichtnahme auf die Stimme unter Verlust von Passagen, die stimmliche Brillanz bei anderen Sängerinnen in späteren Aufführungen hätten garantieren können. Wahrscheinlich hat Rutherford recht, wenn sie annimmt, »Norma’s spinning melodies and canto sillabico«24 seien durch die Pasta verursacht worden. Allerdings widersprach dies den ästhetischen Intentionen Bellinis zu diesem Zeitpunkt nicht. Ganz anders scheint der Fall bei Donizettis Anna Bolena zu liegen. Donizetti hat nach der Uraufführung das Duett Percy/Anna »Sei t’aborre« gegen das sogenannte »duetto rifatto« »Si, son io« ausgetauscht. Während das ursprüngliche Duett mit seiner dramatischen zerrissenen Melodieführung und den häufigen Melodiesprüngen alle Eigenschaften aufweist, die Donizetti Anfang der 1830er Jahre einsetzte, um die Musik dramatischer und handlungsadäquater zu gestalten, ist das »duetto rifatto« dissonanzärmer, rhythmisch wesentlich einfacher und legt Wert auf größere Melodiebögen. Es ist musikalisch sehr viel näher an Bellinis Stil als das ursprüngliche Duett. Donizetti meidet außerdem im »duetto rifatto« die tiefen Töne der Sopranstimme und vereinfacht und reduziert die Koloraturen, fügt aber Triller hinzu.25 Das alles passt zur Stimmcharakteristik der Pasta und es ist durchaus wahrscheinlich, dass er dieses Duett gegen das ursprüngliche ausgetauscht hat, weil die Pasta mit diesem stimmlich nicht zurecht kam und so den Erfolg der Oper gefährdete. Donizetti wollte aber eine Aufführung dieses Duetts außerhalb Mailands nicht zulassen, weil es musikalisch und dramaturgisch nicht seiner ästhetischen Konzeption der Oper entsprach. Im Ge24 Rutherford, »Le cantante delle passioni« (Anm. 1), S. 124. 25 Vgl. die etwas ausführlichere Analyse der beiden Duette bei Michael Walter, »Kompositorischer Arbeitsprozeß und Werkcharakter bei Donizetti«, in: Studi Musicali 26 (1997), S. 474–479.

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gensatz zu Bellini hat Donizetti also zunächst versucht, gegen die Sopranistin zu komponieren, um seiner ästhetischen Idee gerecht zu werden. Und dies, obwohl er die Rolle mehr oder weniger unter den Augen der Pasta komponierte. Wenn konstatiert wurde, Donizetti sei in Anna Bolena »diventò per la prima volta belliniano«26, dann mag sich das zum Teil auch den Problemen der Stimme der Pasta verdanken.27 Noch gravierender waren die Änderungen, die Donizetti an seiner zweiten Oper mit Pasta als Primadonna vornehmen musste, dem am 13. März 1832 uraufgeführten Ugo, conte di Parigi. Dabei handelte es sich nicht nur um Vereinfachungen der Partie der von Pasta gesungenen Bianca und die Einfügung von absteigenden Skalen, die die Pasta gut singen konnte, sondern auch um das Streichen eines Ariensatzes, eine weitgehende Revision eines Duetts und eine Verkürzung der Schlussszene.28 Ugo war ein Misserfolg. Die Oper scheiterte jedoch nicht nur an den Zensoren und den geforderten Libretto-Änderungen, sondern wahrscheinlich auch an der Pasta. Die Carnevals-stagione der Scala 1831/32 war, worauf Ashbrook aufmerksam gemacht hat, für die Pasta sehr anstrengend, weil sie in weniger als drei Monaten 34 Vorstellungen in vier unterschiedlichen Opern singen musste, wozu noch die Proben für diese Opern kamen. Bedenkt man die Berichte, die darin übereinstimmen, dass die Stimmtechnik der Pasta bei Überanstrengung und Müdigkeit immer schlechter wurde, verwundert es kaum, wenn Donizetti aus schierer Notwendigkeit versuchte, die Rolle der Bianca zu vereinfachen. Es kann also kaum davon ausgegangen werden, die Pasta bzw. die Spezifika ihrer Stimme hätten sie als Mitautorin der Opern im Sinne der Aufführung qualifiziert. Der Darstellungsstil der Pasta kam Donizetti und Bellini entgegen, wobei es für Bellini offensichtlich leichter war, für ihre Stimme zu komponieren als für Donizetti, der im Gegensatz zu Bellini29 zu melodisch dramatischen Gesten neigte, die von Intervallsprüngen und zerrissenen Melodielinien geprägt waren. Zudem verkürzte er spätestens ab Anna Bolena musikalische Übergänge im Großen wie im Detail, was zu einem bruchloseren dramatischen Verlauf als in Bellinis Opern führte. Die Absicht Donizettis, einen lückenlosen dramatischen Verlauf mit möglichst wenigen Unterbrechungen 26 »L’Anna Bolena e la Norma«, in: Annali del teatro della città di Reggio. Anno 1832, Bologna 1832, S. 34. 27 Vgl. Walter, »Kompositorischer Arbeitsprozeß und Werkcharakter bei Donizetti« (Anm. 25), S. 474 (wo das »duetto rifatto« ausschließlich als Zugeständnis an den Geschmack des Mailänder Publikums interpretiert wird), dort wurde dieser Sachverhalt noch nicht berücksichtigt. 28 Vgl. William Ashbrook, Donizetti and his Operas, Cambridge u. a. 1982, S. 328f. 29 Vgl. dazu auch Philip Gossett, Anna Bolena and the Artistic Maturity of Gaetano Donizetti, Oxford 1985 (Studies in Musical Genesis and Structure), S. 46–58.

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zu erreichen, stand im Gegensatz zu einem Deklamationsstil der Pasta, für den dramatische Pausen und »Lücken« essentiell waren. Darstellungstechniken aus dem Sprechtheater Die bereits erwähnte Kontroverse um Pasta und Malibran in Mailand 1835 ist für Rutherford eine Kontroverse um unterschiedliche Darstellungsstile. Die Pasta habe ihre Gestik mehr am Rhythmus und der Harmonik der Musik orientiert, die Malibran agierte freier: »For Pasta, the music was a fabric on which she wove her gestures, movement and melody thus becoming a single, unified expression; for Malibran, it was rather a backcloth against which she moved at impulse.«30 Die Fans der Pasta priesen sie für eine Darstellung, die der Musik angemessen sei (worin sich eine Darstellung auf der Opernbühne von jener auf der Schauspielbühne unterschied)31, wohingegen von den Fans der Malibran deren Darstellung als natürlicher in Bezug auf die Psychologie und die Emotionen der Rolle betrachtet wurde. Mit anderen Worten: die Darstellung der Pasta war eine im Hinblick auf die musikalischen Vorgaben eher stilisierte, die der Malibran ignorierte die musikalischen Vorgaben und orientierte sich mehr am Text, also am dramatischen Zusammenhang. Für Rutherford manifestiert sich in der Kontroverse die aufkommende Idee einer größeren Abhängigkeit der schauspielerischen Gestik von der Musik. Pastas Darstellung habe nach Meinung einiger Kritiker die Musik sowohl visuell als auditiv verdeutlicht, Malibran habe die feine Naht zwischen »image« und Musik zerstört.32 Die Pasta war berühmt für ihre dramatische Darstellung, die sie während ihrer Karriere außerhalb Italiens, vornehmlich in Frankreich und England, entwickelt hatte. Erst ab 1826 sang sie regelmäßig in Italien und das mit durchaus wechselndem Erfolg. Ihr Ruhm verbreitete sich in Europa, auch in Italien, zunächst über Zeitungsartikel, sodass die Erwartungshaltung des Publikums sich schon in der zweiten Hälfte der 1820er Jahre primär weniger auf die Stimme als auf den Darstellungsmodus bezog. Das unterschied die Pasta von anderen Sängerinnen ihrer Generation. Die Pasta wird zwar immer als hervorragende Schauspielerin beschrieben, aber in den Rezensionen außerhalb Italiens wird selten ein Vergleich mit anderen Sängerinnen angestellt. Zum Vergleich waren offenbar nur Schauspielerinnen des Sprechtheaters geeignet, und zwar des jeweils nationalen Sprech30 Rutherford, »Le cantante delle passioni« (Anm. 1), S. 132. 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. ebd., S. 133.

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theaters. So wird etwa 1825 die Natürlichkeit der Pasta in der Rolle der Nina in Paisiellos gleichnamiger Oper in Paris hervorgehoben, aber eben im Vergleich zu der Darstellungspraxis im französischen Sprechtheater: »In Mad. Pasta’s Rolle der Nina liegt etwas nachlässiges, das sich keine französische Schauspielerin würde zu Schulden kommen lassen. Eine französische Schauspielerin spielt immer wie in Gegenwart des Hofes und vergißt nie die Zuhörer, deren Beyfall sie sucht. Die arme Mad. Pasta denkt so wenig an die Zuhörer als Nina selbst thun würde. Sie gibt sich ganz dem Einflusse ihrer Rolle hin, verliert die Gewalt über sich selbst und wird von ihren Gefühlen fortgerieben; sie spielt keine Rolle, sie ist die darzustellende Person selbst.«33

Ähnlich gut gelang der Pasta 1830 auch in Wien die Darstellung der Nina, allerdings wurde dort – wenngleich vom Hörensagen – der seltene Vergleich mit der Malibran gezogen, von der »Kenner, welche die Malibran sahen und hörten, behaupten wollen, dass diese der Pasta im Spielen überlegen sei«34. 1837 erschienen im Idler »Reminiscences« eines ungenannten Autors an den Auftritt der Pasta in London Mitte der 1820er Jahre. In diesen Erinnerungen vergleicht der Autor Pasta mit Talma und Madame Georges und wundert sich, dass ein Publikum, welches an »the artifical and exaggerated style of acting adopted by Talma and Mademoiselle Georges« gewöhnt sei, dem naiven und scheinbar kunstlosen Darstellungsstil Pastas applaudieren konnte.35 Nun war aber gerade François-Joseph Talma durch seinen natürlichen Darstellungsstil berühmt geworden. Marguerite Georges (Marguerite-Josephine Weimer) erstaunte bei ihrem Debut ebenfalls durch ihre Natürlichkeit und galt Jules Janin als Wegbereiterin eines romantischen Darstellungsstils. Beiden wurde also exakt das nachgesagt, wofür nun Pasta im Kontrast zu diesen gelobt wurde. Und wie oben zu sehen war, wurde die Nähe zum Darstellungsstil Talmas zumindest auf dem Kontinent immer noch als Positivum betrachtet. Der Verdacht liegt nahe, dass die Verwunderung des Autors nur vorgeschützt ist und sich dahinter nationale, gegen die Franzosen Talma und Georges gerichtete Ressentiments verbergen (dass die Pasta Italienerin war, war in diesem Zusammenhang angesichts der Popularität italienischer Sänger und Sängerinnen in London seit dem 18. Jahrhundert unerheblich). Denn in dem Artikel wird Paisiellos Nina, die in der Mehrheit der verfügbaren (deutschen und englischen) Rezensionen 33 »Korrespondenz-Nachrichten« (aus Paris, Februar 1825), in: Morgenblatt für die gebildeten Stände vom 18. März 1825, S. 264. 34 Correspondenz (Anm. 13) S. 557. 35 The Idler and Breakfast-Table Companion 1 (1837), (10. Juni 1837), S. 34.

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als Antiquität bezeichnet wird, die nur durch die Darstellungskunst der Pasta gerettet worden sei, absurderweise mit »our own Ophelia«36 verglichen. Andererseits wurde allerdings 1828 der Stil von Mademoiselle Georges im Keepsake for 1828 als zu wahrnehmbar künstlich betrachtet.37 Was man sich unter »natürlicher Darstellung« unter diesen Umständen vorzustellen hat, muss ebenso offen bleiben wie die Frage, inwieweit sich der Darstellungsstil der Pasta tatsächlich von dem als französisch empfundenen unterschied. Der Text aus dem Keepsake war im Wesentlichen eine Eloge auf die nuancierte Ausdruckskunst der Pasta. Im Juli 1829 erschien er in italienischer Übersetzung im Mailänder La farfalla38, offensichtlich um den Auftritt der Pasta im Teatro Carcano publizistisch zu flankieren und das Publikum auf ihren Darstellungsstil vorzubereiten. Der Text wurde von Carlo Ritorni in seinen Annali del Teatro della Città di Reggio nachgedruckt sowie in Fußnoten kommentiert.39 Ritorni ist einer der wenigen Verteidiger der Stimme der Pasta und weist die Darstellung im Keepsake, in der die Pasta wie üblich als ausgezeichnete Darstellerin aber weniger gute Sängerin charakterisiert wird, zurück (Ritorini hatte die Pasta in Mailand gehört). Ebenso weist er die Vermutung zurück, die Kritik an Mademoiselle Georges sei national bedingt, gibt allerdings eine schlechte Begründung für die Unparteilichkeit des Autors an: Dieser habe die Darstellungskunst der »Smitson« nicht gegenüber jener der Pasta hervorgehoben.40 Mit »Smitson« ist wohl Harriet Smithson gemeint, die später Hector Berlioz heiraten sollte. Sie hatte allerdings nicht in London Erfolg, sondern erst seit 1828 in Paris, was sich bis zu Ritorni herumgesprochen haben dürfte, der daraus unausgesprochen wohl folgerte, sie müsse auch in London erfolgreich gewesen sein. Das war zwar unrichtig, aber ei36 Ebd. 37 Vgl. »Opera Reminiscences for 1827«, in: The Keepsake for 1828, London o. J., S. 302– 312, hier: S.  311f. Die italienische Teilübersetzung der Seiten 303–312 der »Opera Reminiscences for 1827«, in der Ausführungen, die nicht direkt die Pasta betreffen, eliminiert wurden, findet sich als »Giudizio su la Signora Pasta« in Carlo Ritornis Annali del Teatro della Città di Reggio. Anno 1829, Bologna 1829, S. 184–198, hier S. 196f. Ein Autor wird im Keepsake nicht genannt. Es handelt sich hierbei um die erste Nummer des Keepsake, einem literarischen Jahrbuch, das vor allem durch die Beiträge von Mary Shelley, Walter Scott, Samuel Taylor Coleridge, William Wordsworth und anderer bedeutender zeitgenössischer Schriftsteller bekannt ist. Walter Scotts Keepsake Stories sind zunächst im Keepsake for 1829 erschienen. 38 Vgl. Carlo Ritorni, Ammaestramenti alla composizione di ogni poema e d‹ogni opera appartenente alla musica, Mailand 1841, S. 174, und Ritorni, »Giudizio su la signora Pasta« (Anm. 37), S. 183. 39 Ritorni, »Giudizio su la signora Pasta« (Anm. 37), S. 196f. 40 Ebd., S. 197 (Fußnote).

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nes wird aus dem Fehlschuss wieder deutlich: Die »Vergleichsobjekte« waren auch für Ritorni Schauspielerinnen des Sprechtheaters. Freilich war das nur im speziellen Fall Ritornis ein positiver Vergleich, der die Ansicht vertrat, die italienischen Sängerinnen sollten auf der Bühne in der gleichen Weise agieren wie die Schauspieler(innen) nördlich der Alpen (»i drammatici recitanti oltremontani«41). Ritorni wollte den Import der englischen und französischen Schauspielkunst auf die italienische Opernbühne. Dieselbe Bühnenaktion, die vom neapolitanischen Publikum abgelehnt wurde, wurde darum logischerweise von Ritorni positiv bewertet.42 Aber die Übersetzung des Artikels aus dem Keepsake sowie Ritornis Nachdruck und Kommentierung zeigen, dass der ungewöhnliche Darstellungsstil der Pasta dem oberitalienischen Publikum erläutert werden musste, wollte man nicht Gefahr laufen, den Misserfolg der Sängerin in Neapel zu wiederholen. Das Fehlen eines nennenswerten Sprechtheaters mit ausgefeilter Darstellungskunst, sei sie nun stilisiert oder nicht, dürfte der Grund für die Irritation und die Ablehnung gewesen sein, die die Auftritte Pastas 1826 in Neapel hervorriefen.43 Ihre Gesten waren zudem stark standardisiert. Der Korrespondent des Mercure du dix-neuvième siècle konstatierte, »les amis de cette dame passent presque condamnation sur son chant; jugeons-la donc comme actrice tragique«44. Der Bericht sei in etwas größerer Ausführlichkeit wiedergegeben, weil er neben der Darstellung des gestischen Standardisierungsausmaßes auch eine detailgetreue und präzise Beschreibung der berühmten Armgeste der Pasta enthält, auf die noch zurückzukommen sein wird. Zudem kann der Bericht ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit beanspruchen, denn einleitend meint der Korrespondent, er wisse, der Mercure du dix-neuvième siècle habe mehr als einmal eine Lanze für die Pasta gebrochen und fürchte, deswegen in Ungnade zu fallen. In einer Fußnote wird jedoch (zutreffenderweise) von der Redaktion bestritten, dass der Mercure häufig über die Pasta berichtet habe (aber nicht, dass man auf deren Seite stehe), und hinzugefügt: »A part les

41 Vgl. Ritorni, Ammaestramenti (Anm. 38), S. 269. 42 In ihrer Bezugnahme auf Ritorni als »one of the most informed critics of the period« (Rutherford, »Le cantante delle passioni« (Anm. 1), S. 112) lässt Rutherford den Sachverhalt, dass die Pasta auch das Vehikel zur Propagierung von Ritornis eigenen ästhetischen Ansichten ist, außer Acht. 43 Vgl. auch Russo, »Giuditta Pasta: cantante pantomimica« (Anm.  21), S. 497f. (dort: Anm. 1). 44 Taddeo di Cesare, »Madame Pasta«, in: Le Mercure du dix-neuvième siècle. Verité, liberté 15 (1826), S. 556–560, hier: S. 558. (Der Korrespondentenbericht ist mit 8. Dezember 1826 datiert.)

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formes un peu vives de son jugement, nous sommes entièrement de son avis«45. Der erwartete Widerspruch blieb also aus, was dem Bericht Plausibilität gibt. Der Korrespondent fährt nach den bereits zitierten Einleitungsworten fort: »Quand Mme Pasta entre en scène, c’est toujours avec un air d’ennui; et cet air l’accompagne jusqu’à sa sortie. On dirait qu’elle joue pour l’amour de Dieu (per carità). Ses gestes, son accent, sa démarche, tout est apprêté, tout est jeté dans un moule invariable. A la première représentation de Niobé, elle a dit mon cœur (mio core) en passant la main sur son front; elle l’a dit de même à la cinquième, elle le dira de même à la trentième. J’ai remarqué, à huit reprises, un air d’étonnement sur son visage; elle venait de faire un geste terrible que le parterre avait eu l’impolitesse de ne pas applaudir. J’en ai conclu qu’elle avait l’habitude d’enlever, avec ce geste, les applaudissemens du parterre de Louvois [sc. der Pariser Opéra]. En voici, Monsieur, la description très-exacte, car elle est faite d’après nature. J’ai crayonné sur mon album l’attitude de Mme Pasta; avant de clore ma lettre, j’irai voir encore une fois Niobé, pour m’assurer si j’ai été bon peintre. Lorsque la scène est bien échauffée, Mme Pasta s’agite un moment sur ses jambes, fait un demi-pas, s’arrête, contracte ses muscles buccinateurs, élève à une hauteur incroyable celui de ses sourcils qui est plus bas que l’autre, ferme ses poings, jette ses deux bras sur ses épaules, porte les coudes en avant, presse fortement le derrière de sa tête, puis ramenant son avantbras vers sa poitrine, elle frôle l’air avec violence, ouvre ses mains, les laisse tomber sur sa cuisse, pousse en long mugissement, et reste là pour attendre les bravos. Comme la Madonna des sept douleurs, les yeux levés au ciel, et la bouche béante, cette actrice semble pleurer sur une grand infortune. Elle doit être dévorée par un chagrin profond, car à Londres, à Paris, à Naples, on lui a toujours vu sur la scène une figure triste, un air inconsolable. Si c’est là de la tragédie, Mme Pasta est tragique au suprême degré. Mais ne lui demandez ni vérité, ni entente des passions, ni naturel, ni grâce.«46

Hier wird einerseits deutlich, wie präzise die Pasta ihr Gestenrepertoire einstudiert hatte und andererseits weist dieses in Italien als unwahr und übertrieben empfundene Gestenrepertoire auf seine Wurzeln im Pariser Mélodrame hin. Beides irritierte das italienische Publikum, vermutlich weil die einstudierte und artifiziell ausgedrückte Natürlichkeit in Italien nicht als natürlich, sondern als manieriert wahrgenommen wurde. Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Indizien dafür, dass die Pasta zwischen ihren einstudierten Gesten, vor allem den plötzlichen Armbewe45 Ebd., S. 558. 46 Ebd., S. 558f.

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gungen, Phasen völliger Immobilität hatte. So heißt es in einem Bericht über eine Pariser Semiramide-Aufführung 1826 zum ersten Akt: »[…] Mme. Pasta se présente avec […] cette figure immobile qu’elle porte dans tous ses rôles.« Und ebenso wird das Verhalten Pastas während zweier Duette des zweiten Aktes als völlige Bewegungslosigkeit beschrieben. Im Finale des ersten Aktes hingegen machte sie überraschenderweise die übliche Armbewegung: »elle avance brusquement le bras, le ramène brusquement encore; jette sa tête en arrière, et dans ses habitudes cavalières, semble toujours chercher à son côté l’épée de Tancréde ou de Romeo.«47 Vermutlich meinte der bereits oben zitierte deutsche Rezensent diesen Wechsel zwischen dramatischer Gestik und Bewegungslosigkeit, als er schrieb, die Pasta habe einen lobenswerten Verstand »in Auffassung und Darstellung von dramatischen Details«, aber nicht von »Characteren« als Ganzes. Diese Phasen der Bewegungslosigkeit, vermutlich verbunden mit einer Pose, wurden offenbar bald als neoklassizistisch verstanden. Schon im Keepsake for 1828 wird das Schauspiel der Pasta mit »her antique simplicity« und »her grand and classical simplicity«48 gekennzeichnet, was dann in der italienischen Übersetzung von 1829 zu »sua semplicità antica« und zum (vielleicht bezeichnenderweise) sinnreduzierten »e la di lei grande semplicità«49 wurde. 1830 gab ein deutscher Autor der Pasta den Vorzug vor der Malibran (und anderen Sängerinnen) »wegen der ernsten, hohen, wahrhaft antiken Grazie, welche im Spiel und Gesang in den Rollen ›Romeo, Tancred, Semiramis, Medea und Nina‹ athmet«, wobei aber doch betont wird, die Malibran habe das größere mimische Talent und sei auf der Bühne »ganz die Person, die sie darstellen soll«, womit sie die Zuschauer mitreiße.50 Anfang der 1830er Jahre finden sich öfters, wenn auch in der Regel nur als nicht näher beschriebener Eindruck, Hinweise für die »antike Darstellung«, die wohl aus den Phasen posenhafter Bewegungslosigkeit resultierte. Ludwig Börne beschrieb 1831 zwar vordergründig nur die Stimme der Pasta, die er in Paris gesehen und gehört hatte, doch zeigt der Hinweis auf Gluck wohl, dass er die Darstellung insgesamt für eher klassizistisch hielt: »Die Pasta singt immer noch herrlich, aber ihre Stimme drang mir nicht in das Herz. Ihr Vortrag ist höchst edel, aber kalt, plastisch, antik; sie singt nicht christlich. In Glucks Opern wäre sie 47 »Théatre Royal Italien. Mme. Pasta. – Sémiramis.«, in: La Nouveauté vom 19. Jänner 1826. 48 »Opera Reminiscences for 1827« (Anm. 37), S. 312. 49 Ritorni, »Giudizio su la Signora Pasta« (Anm. 37), S. 197. 50 Freiherr von L***, »Giuditta Pasta und Giov. Batt. Rubini«, in: Damen-Zeitung. Ein Morgenblatt für die elegante Welt 2 (1830), (14. Juni 1830), S. 558.

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an ihrer Stelle.«51 1843 wünschte sich ein englischer Autor fiktiv die Pasta als Darstellerin in Glucks Armide, wegen ihrer »Griechischen Würde«52. Auch bei diesen Belegen ist zu beachten, dass sie aus Ländern stammten, in denen das Sprechtheater größere Bedeutung hatte als in Italien und neoklassizistische Darstellungsweisen in den 1820er Jahren verbreitet waren.53 Die Arme Medeas Im zitierten Bericht aus Neapel wird jene berühmteste Geste der Pasta beschrieben, die auch in der Argumentation Rutherfords eine zentrale Rolle spielt. Ihr Hauptbeleg für die These, die Pasta »was not simply ›miming‹ but rather embodying action«54, ist eine Geste aus den Aufführungen von Mayrs Medea in Corinto in London 1826, die nach dem Kritiker des Quarterly Musical Magazine so beeindruckend gewesen sei, dass man sie nur verstehen könne, wenn man sie gesehen hätte. Nachdem Giasone gesungen hat »Che sperar posso? che mi resta?« schleuderte (»flung«55) die Pasta die Arme über den Kopf, als sie mit »Io.« antwortete. Rutherford erläutert die Geste als völlig unkonventionell. Sie habe nicht nur den Sinn des Textes verdeutlicht, sondern »rather supremely embodied both character and underlying dramatic action«56. Der spätere Gebrauch der Geste in Norma sei vielleicht ein »echo«57 dieser in Medea besonders akklamierten Geste gewesen. Nun scheint es allerdings, als habe die Pasta diese Geste als Reaktion auf ihre Londoner Auftritte 1825 erfunden, weil kritisiert worden war, »ihre Bewegungen, vorzüglich die der Arme und Hände, seyen zu steif und einförmig: in der Nina erscheine sie nicht als eine in Lieberaserei Verfallene, sondern als eine simpelhafte Person«58. 51 Ludwig Börne, Mittheilungen aus dem Gebiete der Länder- und Völkerkunde, Erster Theil, Offenbach 1833, hier: »Fünfter Brief« (Paris, 20. Oktober 1831), S. 53. 52 »England. Eines Engländers Urtheil über Glucks Armide und ihre Aufführung in Berlin«, in: Magazin für die Literatur des Auslandes 223 (1843), (8. Mai 1843), S. 218: »die Pasta mit ihrer Griechischen Würde, mit ihrer italiänischen Leidenschaft und zugleich mit Deutschem Verständnis und Deutscher Auffassung der Musik«. 53 Vgl. dazu und insbesondere im Hinblick auf den Vergleich mit Sarah Siddons Russo, »Giuditta Pasta« (Anm. 21), S. 507–509. Russo vergleicht Lithographien von Siddons und Pasta als Medea. 54 Rutherford, »Le cantante delle passioni« (Anm. 1), S. 114. 55 Vgl. ebd. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 126. 58 »Omniana«, in: Britannia oder neue englische Miszellen 34 (1825), S. 253.

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Die Nennung von Nina neben Medea im Zusammenhang mit der Armgestik verwundert nicht. Denn das Über-den-Kopf-Werfen der Arme war eine Standardgeste der Pasta, die sie auch in Nina und später in Anna Bolena und Norma verwendete. Es kann keine Rede davon sein, dass die Geste einen besonderen Moment in Medea »verkörperte«. Die Pasta fügte sie offenbar in die meisten ihrer Vorstellungen ein, so auch in die Aufführungen der Anna Bolena (»presenta le sue braccia intieramente nude fino alle spalle«59), was ein Rezensent des Censore Universale dei Teatri im Januar 1831, also kurz nach der Uraufführung der Norma, heftig kritisierte.60 Er stand damit keineswegs allein. Schon 1829 war es in Mailand zur Parteienbildung gekommen. Auf der einen Seite standen die Anhängerinnen und Anhänger der Pasta, auf der anderen die der Henriette Meric-Lalande, die ebenfalls für ihre Darstellungskunst berühmt und in direkter Konkurrenz zur Pasta auch durchaus erfolgreicher als diese war.61 Meric-Lalande sang im Teatro alla Canobbiana, Pasta sang im Teatro Carcano. Es waren allerdings nicht nur die Fans der Meric-Lalande, die der Pasta vorwarfen, sie sei »eine gemeine Sängerin, eine mittelmäßige oder schlechte Aktrice und […] eine Charlatane.«62 Die Pasta-Partei sah das naturgemäß genau umgekehrt. Schon in diesem Zusammenhang war im Censore Universale die Armbewegung in der Semiramide ebenso kritisiert worden 59 »Notizie interne«, in: Censore universale dei teatri vom 5. Jänner 1831, zitiert nach der Edition Le prime rappresentazioni delle opere di Donizetti nella stampa coeva, hg. von Annalisa Bini und Jeremy Commons, Mailand 1997 (L’Arte Armonica 3), S. 253. 60 Ebd., S. 253: »Nell’ultima scena finalmente, oltre all’error di costume che ci presenta le sue braccia intieramente nude fino alle spalle (ciò che non si permetterà mai veruna attrice), rivediamo ne’ suoi delirj copiato affatto la Nina; per cui le sciagure della povera Anna Bolena, con tanto ingegno espressse dall’egregio poeta, commoverci non possono in tal guisa rappresentata.« Während in den Uraufführungskritiken der Oper nur stereotyp zu lesen war, dass die Pasta eine herausragende »attrice« sei, wird der Rezensent des Censore Universale konkreter. Ebenso wie er einerseits die Stimme lobt, ohne andererseits die bekannten Defekt zu verschweigen (vor allem in der Mittellage und tiefen Lage), gibt er auch ein differenziertes Bild der Schauspielkunst der Pasta. Vor allem kritisiert er, dass sie in der Finalszene die Arme nackt bis an die Schultern zeige und damit ihre Pose aus Nina kopiere, die aber für Anna unangebracht sei. 61 Vgl. »On the Italian opera«, in: Frasers Magazine for Town and Country 2 (August 1830– January 1831), S.  50. In direkter Konkurrenz mit der Pasta war sie z.  B. nicht nur stimmlich, sondern auch darstellerisch erfolgreich. In Bologna sang sie Rossinis Semiramide in 30 aufeinanderfolgenden Vorstellungen, während die nach ihr in Bologna eingetroffene Pasta es nur auf drei Vorstellungen brachte. 62 »Theatralische Frühlings- und Sommerstagione in Italien (Fortsetzung)«, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 31 (1829), S.  613. In Wien hatte es kurz vorher eine ähnliche Parteienbildung gegeben.

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wie in einem satirischen Gedicht auf die Pasta.63 Das hielt sie offenbar nicht ab, die Bewegung 1830 in der Anna Bolena und 1831, 183364 sowie 1835 in der Norma zu machen, in letzterer offenbar bis zum Überdruss.65 Weil die Geste so charakteristisch war, wurde die Pasta sogar mehrfach damit porträtiert66, unter anderem in der Rolle der Anna Bolena. Nur eine statistische Auswertung der Pasta-Kritiken könnte Auskunft geben, ob diese dramatische Geste, die in Italien zum Emblem der Pasta wurde, überwiegend kritisch oder, wie von Carlo Ritorni67, positiv beurteilt wurde. Jedenfalls ist eine Uniformität der Geste in den Aufführungen der Pasta anzunehmen, unabhängig von der jeweils aufgeführten Oper und unabhängig von der Spezifik der Situation. Prinzipiell wurde an den Darstellerinnen und Darstellern der italienischen Oper in den 1820er Jahren kritisiert, ihre Darstellungskunst beschränke sich auf »methodische« Armbewegungen und anmutige Posen mit Front zum Publikum.68 Die Armbewegung der Pasta war, auch wenn sie zunächst für die italienische Bühne neu war, zweifelsohne eine methodische Armbewegung und wurde schon bald zur Manier, ebenso wie andere Darstellungsmittel, etwa das Berühren der Stirn mit der Hand. Ein deutscher Rezensent, der die Pasta 1831 in Paris gesehen hatte, beschreibt angesichts eines ihrer Auftritte Gesten und Posen und resümiert: »Das ist Manier, feststehende Manier, wer sich darüber nicht wegzusetzen vermag, ist zu beklagen, denn er wird um den Genuß gebracht. Auch darf man die Pasta nur mehre Male hören, so wird man die Manier gewohnt und denkt nicht mehr daran.«69 Das heißt mit anderen Worten, die Darstellungskunst der Pasta, die Mitte der 1820er Jahre auf den nicht-italienischen Opernbühnen als spektakulär neu galt, war in Italien auf der Opernbühne zunächst nicht unumstritten und wurde zunehmend als klassizistisch, das heißt als veraltet betrachtet. Rutherford glaubt, die präzisen Bühnenanweisungen Bellinis in der Partitur würden das Schauspielvermögen der Pasta widerspiegeln. Angesichts ihrer statuarischen Unbeweglichkeit über weite Strecken der Aufführung ist aber eher das 63 Beides wird auch von Rutherford, »Le cantante delle passioni« (Anm.  1), S.  115, in Fußnote 40, angegeben. Wie sie dann zu der Einschätzung kommen kann, die Geste sei in der Norma ein »echo« der Medea-Geste von 1826 gewesen, ist etwas rätselhaft. 64 In Venedig. Vgl. Rutherford, »Le cantante delle passioni« (Anm. 1), S. 115 (Fußnote 40). 65 Vgl. ebd., S.  126: Sie »raised her arms frequently at cadences and trills«, was sie bei jedem »refrain« wiederholte. 66 Vgl. ebd., S. 115. 67 Vgl. ebd. 68 Ritorni, »Giudizio su la Signaora Pasta« (Anm. 37), S. 197f. (Fußnote). 69 Lewald, »Künstler-Porträts« (Anm. 17), S. 334.

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Gegenteil anzunehmen: Bellini schrieb die Bühnenanweisungen nieder, um die Pasta dazu zu bringen, sich auch jenseits ihrer großen Gesten zu bewegen. Wichtiger aber ist, dass die Pasta auf ein Repertoire von Standardgesten zurückgriff, die keineswegs spezifisch für die Opern waren, in denen sie sang. Ob sie Nina, Anna Bolena, oder Norma interpretierte, war darstellerisch mehr oder weniger gleichgültig. Ihre Bühnendarstellung war weder spezifisch für einzelne Opern noch für die von ihr dargestellten Opernfiguren, sie war spezifisch nur für die Pasta selbst. Insofern wird man kaum von einer darstellerischen Mitautorschaft an einer neuen Oper sprechen können, in der die Pasta die Hauptrolle sang. Werk und Autor Rutherford betrachtet die Uraufführung der Norma als Beispiel für ein Konzept, in dem das Kunstwerk durch die Komposition und die Vorstellung konstituiert wird.70 Diese Idee sei in der Folge unhaltbar geworden, weil der Opernmarkt »depended on the production of works, the control of works, and the exploitation of works«71. Wenn das Kunstwerk die Komposition und die Aufführung seien, würde das dem kommerziellen Ethos des 19. Jahrhunderts widersprechen, denn die Vermarktung eines Werkes setze dessen Wiederholbarkeit voraus. Diese wiederum sei dann durch Urheberrechtsgesetze einerseits und die »reduction of the singer’s status from collaborator to subordinate«72 andererseits erreicht worden. Dem widerspricht aber in mehrerer Hinsicht der empirische Befund: 1. Die Idee Rutherfords von einer Mitautorschaft der Sänger (eigentlich: der Sängerinnen) am Werk als Aufführung könnte nur dann Geltung haben, wenn die Bühnendarstellung werkspezifisch gewesen wäre. Gerade das aber war bei der »Kronzeugin« Pasta nicht der Fall. 2. Die Tatsache, dass für bestimmte Sängerinnen und Sänger komponiert wurde, bedeutete eine Optimierung einer oder mehrerer Aufführungen für diese spezifischen Sängerinnen und Sänger. Wie das Beispiel Donizettis zeigt, war das unabhängig von der Werkkonzeption an sich und konnte auch bedeuten, ein Werk notgedrungen »nach unten« zu optimieren und dadurch zu gefährden oder gar zu ruinieren, falls die Sängerinnen und Sänger stimmlich nicht in der Lage waren, den Intentionen des Komponisten nachkommen zu 70 Vgl. Rutherford »Le cantante delle passioni« (Anm. 1), S. 136. 71 Ebd. 72 Ebd.

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können. Der Unterschied zwischen Donizetti und einem späteren Komponisten wie Verdi liegt im Detail: War es Verdi wichtig, seine Werkkonzeption auch im Detail durchzuführen, ging es im Gegensatz dazu Donizetti darum, eine Werkidee durchzusetzen, wobei Details durchaus der Notwendigkeit des unmittelbaren Erfolgs geopfert werden konnten. Man kann diesen Sachverhalt unterschiedlich bewerten, er ändert aber nichts daran, dass beide Komponisten sich als Autoren und zwar als Autoren eines von ihnen verfassten Werkes begriffen. 3. Die Uraufführungsvorstellungen waren nicht unbedingt die idealen Manifestationen des Werkes an sich, wie die Beispiele der genannten Opern von Donizetti und Bellini zeigen. Für die ideale Werkgestalt wollte Donizetti das in der Anna Bolena gestrichene Duett wieder einsetzen und Bellini sah nicht in der Uraufführung der Norma die Idealgestalt des Werkes, sondern in einer Aufführung aus dem August 1832, in der ebenfalls die Pasta sang. Dass aber die Idealgestalt einer Oper nach Meinung der Komponisten nicht in der Uraufführung erreicht wurde, zeigt, dass der Begriff des Werkes unabhängig von konkreten Aufführungen war. Das Werk Oper war nicht seine Uraufführung, sondern es manifestierte sich in unterschiedlich vollkommener Weise in verschiedenen Aufführungen jeweils neu. Zwar war der Werkbegriff nicht jener der klassischen Instrumentalmusik (von dem der moderne Werkbegriff ausgeht), in dem – im Übrigen nicht selten zu Unrecht – davon ausgegangen wird, ein Werk müsse unveränderbar sein. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch in der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts die Idee der Werkidentität gibt, die in größerem Maße als eine klassische Sinfonie Modifikationen verträgt, aber die Oper nicht zu einem offenen und beliebig veränderbaren Werk macht. 4. Die Vermarktung von Opern war auch schon vor entsprechenden Urheberrechtsregelungen in Italien immer die Vermarktung der Partitur, die die Grundlage für jede Aufführung darstellte. Vor den Urheberrechtsregelungen aus den 1840er Jahren73, basierend auf der Convenzione del Re di Sardegna coll’Austria von 1840, wurden direkt Partituren ge- und verkauft, nach den neuen Urheberrechtsgesetzen wurden Partituren und Aufführungsmaterial gegen Tantiemenzahlungen verliehen. Wie wichtig die Partituren selbst für einen Komponisten wie Rossini waren, zeigt sich daran, dass dieser zwar behauptete, nicht am Verbleib seiner älteren eigenhändigen Partituren interessiert zu sein, in Wahrheit aber in Paris versuchte, seiner alten Partituren habhaft zu werden und diese sammelte. Gewiss, das Werk Oper war nicht die Partitur, aber die 73 Vgl. Michael Walter, »Die Oper ist ein Irrenhaus«. Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert, Stuttgart und Weimar 1997, S. 225f.

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Partitur war jener materiale Gegenstand, in dem der Wille des Autors unverändert und wiederholbar übertragbar war. Und der Autor einer Oper war der Komponist. 5. Auch die Zeitgenossen vertraten diese Meinung, wie sich nicht nur daraus ergibt, dass die Rezensenten in erster Linie die Opern selbst besprachen und erst in zweiter Linie deren Ausführung, sondern auch daraus, dass sie das Werk auf die Partitur reduzierten. In Mailand habe man »tutti gli altre spartiti del Bellini« und zuletzt »suo spartito la Norma« applaudiert, meint etwa ein Autor.74 Und bezeichnenderweise wird in Filippo Gerardis unmittelbar nach dem Tode Bellinis geschriebener Biografie des Komponisten kein einziger Sängername genannt75, während es viermal in Bezug auf unterschiedliche Opern »questo spartito« heißt.76 Auch Komponisten betrachteten die Partitur als Manifestation ihres Werkes. So schreibt Donizetti in einem in der Gazzetta privilegiata di Milano abgedruckten Brief, der sich gegen Aufführungen der Parisina aus geraubtem und daher unzureichendem Material richtet: »È questo il vero spartito da me creato a Firenze? No!« oder »Donzelli ha cantata la parte come è scritta? No!« Oder in Bezug auf zwei andere Opern: »questi spartiti siano falsi«. Es ging ihm bei solchen Richtigstellungen nicht um seine Einnahmen, sondern um »l’onore« und »la verità«, also seine Integrität als Autor des Werkes.77 Wenn man, wie Rutherford, »authenticity, fixity and permanence« als Kriterien für das nimmt, was das »artwork« konstituiere, dann war das »artwork« Oper auch nach den Kriterien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eben nicht die Aufführung, sondern die Komposition. Und deren Autor war der Komponist, und zwar (zum Ärger der Librettisten) der Komponist allein. Dass Il Pirata eine Oper »di Bellini« war, der weniger ausdrücklich 74 P. Inzenga, »Qualche idea intorno alla musica del Bellini«, in: Giornale di scienze lettere e arti per La Sicilia 10/Bd. 37 (1832), S. 326. 75 Vgl. Filippo Gerardi, Biografia di Vincenzo Bellini, Rom 1835. 76 Ebd., S. 13, 14, 17 und 18. 77 Vgl. dazu Walter, Kompositorischer Arbeitsprozeß und Werkcharakter bei Donizetti (Anm. 25), S. 494–499. Meine in diesem Aufsatz skizzierte Position zum Werkbegriff in der italienischen Oper ist insofern zu relativieren, als der Aspekt der Werkidentität dort zu wenig diskutiert wurde. Es ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen einem Begriff von Werk als unveränderliches Objekt und der Werkidentität, die Veränderungen an einer Oper erlauben, ohne dass deren Werkcharakter in Zweifel gezogen würde. Zudem wäre zu unterscheiden zwischen der Oper in statu nascendi, also vor der Uraufführung, und zwischen der uraufgeführten Oper, die im Regelfall Verbesserungen zulässt, aber keine Veränderung der Werkidentität. Die meisten Änderungen, die wir heute unter dem Begriff »Fassung« subsumieren, wurden von den Komponisten nicht als Eingriff in die Werkidentität betrachtet, sondern als deren Optimierung. Das gilt wohl noch bis hin zu Verdis Don Carlos.

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denn selbstverständlich als »l’autore di quest’opera […] applaudita in Europa« bezeichnet wird, war für einen Zeitgenossen um 1830 gar keine Frage.78 Als 1836 der Londoner Korrespondent des Il Pirata beklagte, die Musik Italiens sei im Niedergang begriffen und deshalb das Publikum in London und Paris weniger an den jeweiligen Werken als an der Sängerbesetzung interessiert (»Il Pubblico nostro [= in London] e di Parigi non va a sentire che la Grisi, Tamburini, Rubini, e Lablache, ma non Bellini, nè Donizetti«), entgegnete Francesco Regli, der Herausgeber des Pirata, in kommentierenden Fußnoten, wie man denn von einem Niedergang reden könnte, wenn Rossini noch lebe, Donizetti, Mercadante und Coccia als Komponisten aktiv seien und die Opern Bellinis in ganz Europa gespielt würden. Zwar habe der Korrespondent vielleicht insofern Recht, als Opern bei mehrmaligem Hören langweilig würden, aber falls er »ha voluto limitare il merito di quegli egregi Maestri, voi gli domanderemo che cosa ci potrebbe dare l’Inghilterra in loro vece, questo paese che vive (in fatto di musica) delle nostre fattiche e dei nostri sudori«79. Regli hatte offenbar keinen Zweifel daran, dass die Rolle der Sängerinnen und Sänger im Hinblick auf das Werk Oper eine untergeordnete war (sein Einwand setzte als Selbstverständlichkeit voraus, dass Werk und Aufführung nicht identisch waren) und somit die Autoren der Opern die Komponisten waren. Die »meriti« waren die der »Maestri« und nicht jene der Sängerinnen und Sänger.

78 »Teatro di Palermo«, in: Cenni storici intorno alle lettere invenzioni arti commercio e spettacoli teatrali per l’anno 1828 al 1829, (5. Februar 1829), T. 10, Bologna o. J., S. 213. 79 »London. Teatro del Re. – Drury-Lane. (Dal Galignani).«, in: Il Pirata. Giornale di Letteratura, Belle Arti, Mestieri, Teatri e Varità 2 (1836), (30. August 1836), S. 72.

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Voiceless Songs: Maria Malibran as Composer

Not long after his death in 1848, a claim began to circulate that Gaetano Donizetti’s prodigious success in both serious and comic opera derived from a neurological idiosyncrasy. As biographer Filippo Cicconetti related, the composer had been ambidextrous, in a unique sense. Examining the failing composer, doctors noticed that he had »two founts of inspiration, one on the left side, which gave forth comic music, and the other on the right, from which sprung the serious music. When he sat down to compose it worked like a valve, which opened on one side or the other depending on the genre of the opera.«1 This is just the most whimsical of the innumerable anecdotes that highlight the speed with which the Italian composers of the era worked. Elsewhere Donizetti is described as tossing off melodies in quarter-hours in coffee houses, and Rossini’s facility was supposedly such that it was easier for him to rewrite a page from Il barbiere di Siviglia than to retrieve a page of music that had blown out of his hands.2 These indications of haste were compounded by accusations of opportunistic recycling of musical material. With Italian opera early in the nineteenth century still more securely defined as »act« than as »text,« the question of who deserved to be called an »author« was an important topic of debate in journalistic discourse, broached implicitly whenever vignettes of speed or self-borrowing were retailed in the press. In light of the disapproval that informs such anecdotes, contemporary accounts of the composerly acitivities of mezzo-soprano Maria Malibran make surprising reading. In memoirs and early biographies, Malibran is celebrated for just the kind of speed and distraction that raised critical eyebrows when 1 Filippo Cicconetti, Vita di Gaetano Donizetti, Rome 1864, p. 178. 2 Donizetti’s biographer Cicconetti relates that »often fearing that the ideas that came to mind during his walks through the city and during his pleasant conversations would flee from his memory before he returned home, [Donizetti] would enter some restaurant and, taking up a piece of paper, would note his ideas with lightning speed«. Ibidem, pp. 69–70. The Rossini anecdote was first recounted in Geltrude Giorgi Righetti, Cenni di una donna già cantante sopra di maestro Rossini, Bologna 1823, and reprinted in Luigi Rognoni, Rossini, Parma 1956 (Biblioteca di Cultura Musicale 6), pp. 304–305. Philip Gossett discusses these tropes of speed and carelessness in his »Gioachino Rossini and the Conventions of Composition,« in: Acta Musicologica 42/No. 1–2 (1970), pp. 48–58, here: pp. 49–50.

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suspected in Rossini or Donizetti. As the Comtesse de Merlin recounts in her 1838 memoir of the singer, Malibran would often pass the time during rehearsals either drawing sketches and caricatures or jotting down songs. Merlin claims that Malibran could compose even amid the din of orchestral warm-ups and carpenters hammering away at the set: »I have seen her with a sheet of music paper and a pencil, busily noting down, without labor or study, airs worthy of a first-rate composer.«3 Merlin is, in fact, one of the very few biographers who comment at all on Malibran’s activities as a composer: most accounts of her career focus exclusively on Malibran’s triumphs on the opera stage, her intense personality, and her colorful behavior, both on- and off-stage.4 Merlin mentions Malibran’s work as a composer several times, but the compositions are always invoked in contexts that emphasize lightness, effortlessness, conviviality, entertainment, and sociability. Expanding on her boast about Maria’s speed, Merlin describes an encounter in Florence at which Malibran tossed off a new »romance« in a mere quarter of an hour for the Marquis de Louvois, to make up for having forgotten her promise to write a new piece for him.5 In other contexts composition is equated with improvisation, or with caricature or social games such as charades.6 3 Countess Maria Mercedes de Merlin [Maria de las Mercedes Santa Cruz y Montalvo Merlin], Memoirs of Madame Malibran / by the Comtesse de Merlin and other intimate friends / with a / selection from her correspondence / and notices of the / progress of the musical drama / in England, Vol. 1, London 1840, p.  219. Maria de las Mercedes Santa Cruz y Montalvo (1789–1852) born in Havana to an aristocratic family, married the French General Christophe Antoine Merlin in 1809. Once settled in Paris, the Countess studied voice with Malibran’s father Manuel Garcia, established a successful literary salon, and became a fixture in Balzac’s salon. In addition to her memoirs of Malibran, she published three memoirs and a series of travel narratives, although a good deal of her writing may actually have been written by Prosper Merimée. On Merlin’s writings and the charges of plagiarism, see Adriana Mendez Rodenas, Gender and Nationalism in Colonial Cuba. The Travels of Santa Cruz y Montalvo, Nashville and London 1998; on the connection to Balzac, see Michael Lucey, The Misfit of the Family. Balzac and the Social Forms of Sexuality, Durham/N.C. 2003. 4 See, for example, April FitzLyon, Maria Malibran. Diva of the Romantic Age, London 1987; Patrick Barbier, La Malibran. Reine de l’opéra romantique, Paris 2005; and Howard Bushnell, Maria Malibran. A Biography of the Singer, University Park/Pennsylvania, 1979. 5 Merlin, Memoirs of Madame Malibran (note 3), pp. 218–219. The romance must have been Les Noces d’un Marin, which was published with a dedication to Louvois. 6 Confronted in Venice with a gondolier who arrived under her window in the middle of the night to sing an unflattering song about her private conduct, Maria improvised a reply on the spot; see Merlin, Memoirs of Madame Malibran (note 3), p. 219. Merlin also reports that Malibran »possessed a great talent for caricaturing; but she never exercised

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By all accounts Malibran had a voracious, almost desperate, appetite for parties, and her friends often remark on her talents for theatricals, comic impressions, and for improvising jokes and riddles. The pianist Ignaz Moscheles described one such gathering in his diary for 1836: »She came at three o’clock; with her were Thalberg, Benedict, and Klingemann. We dined early, and immediately afterward Malibran sat down at the piano and ›sang for the children‹, as she used to call it, the Rataplan and some of her father’s Spanish songs. For want of a guitar accompaniment she would, while playing, mark the rhythm now and then on the board at the back of the keys. After singing with exquisite grace and charm a number of French and Italian romances of her own composition, she was relieved at the piano by Thalberg, who performed all manner of tricks on the instrument, snapping his fingers as an obbligato to Viennese songs and waltzes. I played afterwards with reversed hands, and with my fists, and none laughed louder than Malibran.«7

Later that evening, after a group outing to the Zoological Garden, Malibran entertained the company further with impressions of singers, conductors, and patrons, before settling down to sing some Lieder and then moving on to Don Giovanni, for which she played and sang all the parts herself. These vignettes are usually trotted out to emphasize Malibran’s tendency to excess, her compulsion to over-exert herself and burn the candle at both ends – qualities that are treated as helping to explain her early death, with which critics and biographers were obsessed. But the same stories could be read as part of a deliberate strategy to humanize the diva and to deflate the significance of her compositions, to reduce her music to just another form of entertainment or diversion. In addition to the insistence that Malibran’s music arose from sudden inspiration rather than hard work, the Comtesse de Merlin takes pains to assert that the singer’s music was intended exclusively for personal or philanthropic use, rather than for publication or financial gain. Blotting out Malibran’s impressive publication record – which comprised more than forty songs, issued in multiple editions and transcriptions across four countries during her lifetime – Merlin insists that »she exercised [this talent] only for amusement, giving to her friends, this talent in a way to wound the feelings of others. Her sketches were incomparably droll, but not ill-natured. Her great amusement was to sketch the profiles of her operatic colleagues during the time of a performance, and this generally when she was waiting between the side-scenes to come on. She frequently took caricature likenesses of all the performers in the green room, and showed them to the parties themselves, who, knowing that no malice was intended, would be heartily amused«. Ibidem, p. 211. 7 Charlotte Moscheles, Life of Moscheles, with Selections from his Diaries and Correspondence, in two volumes, Vol. 2, London 1873, pp. 7–8.

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or to charities, the pieces she composed«, and drives the point home with a sentimental anecdote. Malibran once approached an impoverished but proud friend claiming that she had composed six airs without text, asking if the woman’s son, a poet, might consider supplying the words, so that they could divide the profits when the songs were published.8 As Merlin tells the story, Malibran never did publish the songs, but nevertheless bestowed six hundred francs on the woman, allowing her to believe they were profit from the publication. It is easy to imagine that the picture Merlin paints was shaped partly by contemporary unease about a woman making money or damaging her reputation by putting herself into the marketplace, concerns that stifled the desires of both Fanny Mendelssohn and Clara Schumann to disseminate their music in print. But the broad dissemination of Malibran’s songs in published form makes the dénouement of Merlin’s tale seem to stretch credulity beyond the breaking point. On one level it is no surprise if Malibran’s public image, and the reception of her compositions, were subject to the familiar anxieties and constraints that attended creative women in the early nineteenth century. Yet we might expect something different of the singer who led a fairly unconventional personal life (including an annulled marriage and a common-law relationship with Charles de Bériot) and whose enormous fame as a performer might seem to neutralize any questions of exposure or display raised by the comparatively modest step of publishing her songs. But it is not only because Malibran lived her entire career in the public eye that the conventional historiographies of gender and genius in the nineteenth century do not quite fit. Her case is complicated also by the type of music she wrote, which was conceived – and received – primarily within the not-quite-public yet not-quite-private sphere of the salon. The music Malibran wrote down bears little resemblance to what we might call her true authorial signature, residing in the music she performed on stage, and especially in her distinctive interpretative twists and embellishments. With the exception of a few operatic arias for her own performance, Malibran composed entirely in the genres of solo and chamber vocal music. Over the last ten years of her life she published four song collections, along with many individual songs, many of which appeared in separate editions in London, Naples, Milan, Leipzig, and Paris (see Table 1 for an overview of her published music). Generically, these songs correspond neatly with the familiar categories of Parisian salon music – melancholy barcarolles, nocturnes for two similar voices, comic 8 Merlin, Memoirs of Madame Malibran (note 3), pp. 105–106. On the importance of charity and philanthropy in the image-making of nineteenth-century female singers, see Hilary Poriss, »Prima Donnas and the Performance of Altruism«, in: The Arts of the Prima Donna in the Long Nineteenth Century, ed. by Rachel Cowgill and Hilary Poriss, Oxford 2012.

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chansonettes, and such – and the vocal demands are modest, within the reach of competent amateurs.9 The dedications of individual songs further underline their destination for the salon, with many inscribed to the hostesses of the leading Parisian musical salons. La tarantelle is decidated to the Countess Merlin, while the two-voice »romance« Les Refrains is offered to Madame Orfila, another prominent salonnière and the wife of a prominent Parisian doctor and toxicologist, while Il mattino is dedicated to the Countess Giuilia Samoyloff, who was the patroness and lover of Giovanni Pacini. A smaller number of songs are dedicated to fellow musicians (Gioachino Rossini, tenor Adolphe Nourrit, bass Luigi Lablache), and a handful of the songs for »deux voix égales« are inscribed to Malibran’s close friend the Comtesse de la Sparre, herself a professional singer, suggesting that the two may have sung them together.10 11

Matinées musicales: album lyrique (Paris: Troupenas, c.1828, Naples: Girard, 1828) song, genre 1. Le beau page, ballade 2. Il ritrovo, barcarola a due voci uguali 3. Il gondoliere, barcarola a due voci uguali 4. Rataplan, chansonette 5. La Bayadère: romance 6. No chiú lo guarracino (nuova tarantella napoletana) 7. Il barcajuolo, barcarola a due voci 8. Il follettino, barcarola a due voci 9. Chant caractèristique des matelôts anglais («Enfants, ramez«) 10. Le Mènestrel: romance 11. La voix qui dit: je t’aime, romance 12. Les refrains, romance

Poet Loraux de Ronsière Marcelline DesbordesValmore adapted from »Tambour de Ville« by Robert-deRigoulène11 Ambroise Bétourné

[unknown]

dedicatee

Comtesse de la Sparre Comtesse de la Sparre

Gioachino Rossini

Ambroise Bétourné Sylvain Blet Ambroise Bétourné

9 On the topoi and archetypal genres of Parisian salon music in the 1830s, see Mary Ann Smart »Parlor Games. Italian Music and Italian Politics in the Parisian Salon«, in: 19thCentury Music 34/No. 1 (2011), pp. 39–60. 10 The Comtesse de la Sparre was born Mademoiselle Naldi, daughter of a prominent Parisian singer. When Maria’s marriage to businessman Eugene Malibran ended, the Comtesse de la Sparre took her into her own home and became her chaperone. 11 Poem printed in Le Chansonnier des grâces pour 1831, Paris: F. Louis.

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Album lyrique, composés de quatorze chansonettes, romances et nocturnes mis en musique avec l’accompagnement de piano e dédié au Général Lafayette par Madame Malibran12 (Paris: Troupenas, 1833; Naples: Girard, 1833) Song 1. Le Réveil d’un beau jour, chansonette 2. La voix qui dit: je t’aime, romance 3. Le village, chansonette 4. La tarentelle, chansonette 5. Les refrains, romance 6. Rataplan, chansonette 7. La Bayadère, chansonette 8. La résignation, romance

poet Ambroise Bétourné

dedicatee General Lafayette

Sylvain Blet

9. Le Ménestrel, romance 10. Enfants, ramez!, chant caracteristique des matelôts anglais 10a. Row, boys! 11. Le Batelier, nocturne à deux voix égales 12. Le Rendez-vous, nocturne à deux voix égales 13. Belle, viens à moi, nocturne à deux voix égales 14. Le lutin, nocturne à deux voix égales

Alexandre Duponchel [unknown]

Madame la Duchesse d’Allupin Mme. Lagrange Comtesse Merlin Mme. Orfila Comtesse de la Sparre Comtesse de la Sparre Comtesse de la Redorte Baronne de Rothschild Rossini

[unknown]

Comtesse de la Sparre

[unknown]

Comtesse de la Sparre

Marceline DesbordesValmore Marie-EmmanuelGuillaume-Marguerite Theaulon

Madame Naldi

M. Zacharie fils Ambroise Bétourné Ambroise Bétourné [unknown] Ambroise Bétourné Ambroise Bétourné

Comtesse de la Sparre

Les sept romances françaises (Naples: Girard, 182?) La fiancée du brigand Le message Le retour de la tyrolienne Hymne des matelôts Au bord de la mer Le montagnard

Ambroise Bétourné Emile Deschamps M. Loraux de Ronsière [unknown] [unknown] Ambroise Bétourné

Prière à la Madone

Marquis de Louvois

Sophie Bertin de Veaux Virginie Cottinet Clotilde Troupenas Paul Perignon Daniel-François-Esprit Auber Sophie Boutellier

12 Re-issued as part of Album lyrique and Dernières Pensées, New York 1984. Also published with guitar accompaniment, with fourteen lithographs.

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Dernières pensées, album lyrique faisant suite aux Matinées musicales (Troupenas, Girard, 1837)13 Published posthumously, bringing together the contents of the Sept Romances francaises and the Trois Ariettes. La fiancée du brigand, ballade Le message, romance Prière à la Madone, romance Hymne des matelôts Les noces du marin, chanson Au bord de la mer Adieu à Laure Addio a Nice, canzonetta Le montagnard, tyrolienne

Ambroise Bétourné Emile Deschamps Marquis de Louvois [unknown] Ambroise Bétourné Emile Deschamps Mestastasio, trans. Deschamps Ambroise Bétourné

Les brigands, ballade La morte Le Moribond

F. Géraldi Antonio Benelli

Sophie Bertin de Veaux Virginie Cottinet Sophie Boutellier Clotilde Troupenas Marquis de Louvois Baron Paul Perignon Rossini Daniel-François-Esprit Auber Adolphe Nourrit Lablache

Individual Songs, not included in collections Title Tyrolienne («Adieu, douce pensée), à deux voix Le Prisonnier Les Adieux d’un brave (Ecossais) La fête du village Prendi: per me sei libero; substitute aria for L’elisir d’amore

poet Marceline DesbordesValmore Pierre-Jean Béranger Zacharie Zacharie Felice Romani

Table 1  Maria Malibran’s published compositions

publisher, date Girard, c. 1832 Pacini, n.d. Garcia, c. 1820 Garcia, c. 1820 Milan: Ricordi 1837; first ed. attributed to Charles de Bériot)

This association with salon performance brings with it specific assumptions about authorship and the status of the work that have more to do with function than with gender. Although most of the music heard in salons was composed by men, the salon was a feminine space. All salon music is gendered feminine, in the sense that it has no more than a passing acquaintance with genius, and is instead bound and shaped by mundane factors like function, performance setting, the identity of the performers, and taste. Salon music was confined within narrow social and expressive boundaries – presented as just one element in a constellation that might include, on a single evening, poetic recitation, charades and riddles, tableaux vivants or amateur theatricals, and conversation. Within such a mosaic of sociability 13 Also published posthumously with texts in English, by Mori and Lavenu.

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and convention, authorship devolves into groupthink – into music that is more a barometer of collective taste than expression of individual style. Far from being marginalized as »trivial« or »light,« as was once the case, such music has become central to musicological investigations that focus on understanding how music functioned as an element of social and political discourse, and on how audiences listened and processed musical style.14 Valuable as this new direction is, we perhaps have not yet taken account of its implications for gender studies. In the context of the occasional, anonymous, and convention-driven world of salon performance, songs by Malibran become almost indistinguishable from songs by Louis Niedermeyer, or Henri Romagnesi, or Vincenzo Bellini. Do gender and authorship dissolve completely as heuristic concepts when we focus on this kind of generic, social music? In an interpretive sphere in which the idea of authorship yields to an event-based, performative and collective notion of expression, what role remains for specifically female experience and creativity? One answer is suggested by Jeffrey Kallberg, who has theorized the piano nocturne as a genre that was addressed to a specifically feminine audience, and whose content and musical gestures reference dramatic scenes in which a male lover courts a beloved woman with song.15 Kallberg focuses on a single genre, and his methodological goals are to destabilize musical autonomy and to show how musical details acquire new relevance when viewed through a lens of reception and social meaning. In what follows I want to explore what happens if we approach a broader array of genres from this angle, thinking not just about the demonstrably feminine associations of the nocturne but about the implicit feminization of the salon space and the music written for it. Kallberg’s understanding of genre as a social category rather than a formal one is a crucial starting point, as is his observation that genre functions as a »communicative concept, shared by composers and listeners alike«16. I want to ask what social and expressive messages are communicated by these genres of salon song, and 14 Recent studies include Thomas Christensen, »Four-Hand Piano Transcriptions and Geographies of Nineteenth-Century Musical Reception«, in: Journal of the American Musicological Society 52/No.  2 (1999), pp.  255–298; Jennifer Ronyak, »›Serious Play.‹ Performance, and the Lied: The Stägemann Schöne Müllerin Revisited«, in: 19th-Century Music 34/No. 2 (2010), pp. 141–167; Dana Gooley, »Liszt, Thalberg, and the Parisian Publics«, in: The Virtuoso Liszt, Dana Gooley, Cambridge 2004, pp. 18–77; and Peter J. Rabinowitz, »›With Our Own Dominant Passions‹: Gottschalk, Gender, and the Power of Listening«, in: 19th-Century Music 16/No. 3 (1993), pp. 242–252. 15 Jeffrey Kallberg, »The Harmony of the Tea Table. Genre and Ideology in the Piano Nocturne«, in: Representations 39 (1992), pp. 102–133. 16 Ibidem, p. 103.

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especially to probe the ways these songs mean differently from the autonomous music to which musicologists still devote greater attention. As we shall see, one key difference lies in their approach to subjectivity – in the ways they constitute the speaking or singing subject as a fictional author. The music Malibran composed both was and was not intended for herself to perform, was and was not intended to showcase her own voice. She did sing much of this music herself, but never in the big public settings of opera house or concert hall. It was, instead, destined to be heard often late at night, amid noise and gossip. Nor do these songs have anything musically in common with the operatic music on which Malibran’s fame was built. As described by Henri Romagnesi in his 1846 treatise »L’Art de chanter les Romances, les Chansonettes, et les Nocturnes…«, this music called for a different voice altogether: not the »strong and rebellious« vocalization of opera, but a voice that is »more modest and more accommodated to the majority of amateurs«.17 Romagnesi also observes that intensive study is not only unnecessary for salon music, but may even be harmful, damaging the larynx of a delicate voice. Finally, Romagnesi specifically cautions against too much overt emotion or expression, which would be suitable only in the theater. Although the salon singer should evidence a strong and sincere emotional connection with the music s/he sings, the confrontational address and dramatic gestures of an actor in the theater would be in bad taste in the more intimate setting of the salon. One typical example of the style is Malibran’s 1828 »romance« Le Prisonnier, with words by Pierre-Jean Béranger. Beginning as a straightforward barcarolle, the song could be another of the many characteristic songs, colorful sketches of picturesque regions or pastoral scenes, that filled contemporary song collections. Béranger’s poetry was originally penned as a scene for an operetta (Amadée de Beauplan’s La Balançoire), and thus contains more narrative content and dramatic tension that the average barcarolle, qualities that are emphasized by Malibran’s music.18 A prisoner closed into a cell gleans knowledge of the outside world only through the overheard songs of a girl who passes each day in a boat, and he imagines that she will become his 17 A. [Antoine Michel, dit Henri] Romagnesi, L’art de chanter les Romances, les Chansonettes, et les Nocturnes et généralement toute la musique du salon, Paris 1846, pp. 14–15. 18 See Patricia Adkins Chiti (Ed.), Songs and Duets of Garcia, Malibran, and Viardot. Rediscovered Songs by Legendary Singers, Van Nuys 1997, p. 45. Malibran did not set the first quatrain of Béranger’s text, which reads: »Thus sings, through the bars, a captive, who every day sees a most beautiful girl sail by on the waters that bathe the tower.« She also omitted his final stanza in which the prisoner’s hope revives that he may still be rescued tomorrow.

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savior, his path to freedom. In its original incarnation, Béranger’s text began with a quatrain that set the scene, a narrator intoning: »Thus sings, through the bars, a captive, who every day sees a most beautiful girl sail by on the waters that bathe the tower.« But Malibran’s song begins in medias res, with the prisoner’s invocation of the girl and her sailing song, sung by two sopranos: Reine des flots, sur ta barque rapide, vogue en chantant, au bruit des longs échos. Les vents sont doux L’onde est calme et limpide. Le ciel sourit: vogue, vogue, vogue, reine des flots. (Queen of the tides, on your quick boat, row and sing with the sound of the distant echos. The winds are gentle, the waves are calm and limpid. The sky smiles: row, row, row, queen of the tides.)

This refrain alternates with three stanzas sung by the lead soprano alone, expressing the prisoner’s yearning for freedom. In the first stanza he equates the pleasure of the hearing the girl’s voice with the hope of liberty; in the second he imagines that the gondoliera will actually set him free; and in the third he gives up hope (»Tu passes, tu fuis, et je meurs«). Moi, captif, à la fleur de l’âge, Dans ce vieux fort inhabité J’attends chaque jour ton passage Comme j’attend la liberté. De quel espoir mon coeur s’ennivre! Tu veux m’arracher de ce fort. Libre par toi, je vais te suivre: Le bonheur est sur l’autre bord. Tu t’arrêtes et ma souffrance Semble mouiller tes yeux des pleurs. Hélas! semblable à l’espérance, Tu passes, tu fuis, et je meurs.

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(I, captive, in the flower of the my youth, in this old fortress… every day I await your passage, just as I await freedom. What hope seizes my heart! You wish to rescue me from this fortress. Free by your hand, I will follow you: happiness lies on the opposite shore. You pause, and my suffering seems to soak your eyes with tears. Alas! like hope itself, you pass, you disappear, and I die.)

By leaving out Béranger’s explanatory prelude, Malibran renders the song less dramatic and less specific, and the fluidity of its persona is intensified by the intertwining of the paired voices in the refrain. The two singers – together perhaps representing the voice of the boatwoman, as replayed in the prisoner’s mind – either call to each other, echoing across space, or sing in close harmonies in the lilting compound-meter refrain (see Example 1). Effects like the luxuriant sustained dissonance of the simultaneous G and A in the voices on the word »échos« (m. 11) and the sequence of 3rds and 6ths beginning at »le ciel sourit« (mm. 16–22) capitalize on the timbral possiblities of the paired-soprano combination. The solo verses, in duple meter and the tonic minor, are more down to earth, musically and poetically. In a series of rhythmically chunky, resolutely stepwise phrases, the prisoner speaks in the first person, articulating the usual dreams and dashed hopes of the Romantic subject. The play of subjectivity and impersonation in this »romance« goes beyond the usual limits of salon performance. Duets were common, of course, combining all manner of voices; but they usually cast the voices either as undifferentiated, not as characters at all, or as engaged in a flirtatious dialogue appropriate to the voice types employed. An obvious model for the duet is the »nocturne«, a sub-genre of »romance« that was always composed for two like voices.19 One close analogue is Rossini’s song La pesca, from his 1835 Soirées musicales, set to a text by Metastasio.20 But the timbres in the refrains of Le Prisonnier also recall the blend of voices 19 Romagnesi, L’Art de chanter les Romances (note 17). Romagnesi himself composed many nocturnes for two sopranos, as did his Parisian contemporaries Félice Blangini and Auguste Panséron. In a recent study that examines the vocal nocturne as a model for Chopin’s nocturnes, James Parakilas characterizes the two-voice nocturne as a genre that can adopt any metrical topos but that is often set as a barcarolle, and as »not a genre that entirely shunned the pleasures of operatic singing«. See Parakilas, »›Nuit plus belle qu’un beau jour‹. Poetry, Song, and the Voice in the Piano Nocturne«, in: The Age of Chopin. Interdisciplinary Inquiries, ed. by Halina Goldberg, Bloomington 2004, pp. 203–223, here: p. 218. 20 Malibran herself composed at least two other similar songs, with watery themes, for two like voices: Le Batelier (poet unknown) and Belle, viens à moi (to poetry by Marceline Desbordes-Valmore). The first of these is sung by a boatman or gondolier («girls

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of the village, come out with me in my boat, in the nice weather, the air we breathe is so sweet…«), who eventually consoles a girl, Alizon, who has been betrayed by an inconstant lover. The Desbordes-Valmore text exhibits a split persona similar to that of Le Prisonnier, shifting mid-verse from the person listening to the sound of the eaves and the song of the gondoliers («do you hear the gondolas, wandering on the tides, the gentle barcaroles of the young boatmen? everywhere gentle desire awakens pleasure«) to the active voice of the boatman himself («I row towards you, ah, ah, ah…«) Both songs share the harmonic simplicity of Le Prisonnier, confined mostly to tonic-dominant alternation, and the latter song’s infatuation with parallel thirds and the occasional bittersweet major second (over a dominant seventh) between the voices. Au bord de la mer

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Example 1  Maria Malibran, Le Prisonnier, mm. 1–30, in: Songs and Duets of Garcia, Mailbran, and Viardot. Rediscovered Songs by Legendary Singers, ed. by Patricia Adkins Chiti, Van Nuys/California: Alfred Music Publishing 1997

(poetry by Emile Dechamps, for a single voice) is a strophic song in which the speaker’s emotions exactly mirror the state of the sea by which he sits (first serene, then stormy); Malibran’s music here is slightly more adventurous harmonically and melodically.

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cultivated in the classic Rossini repertoire that Malibran performed to clamorous acclaim in duo-recitals with the soprano Henriette Sontag. Sontag and Malibran first sang together in a concert organized by the Comtesse de Merlin in 1828, the very year Le Prisonnier was composed; as their duo-act migrated from the salon to the concert stage their signature pieces were duets from Rossini’s Tancredi (Fiero incontro) and Semiramide (Ebben, a te: ferisci). James Davies has written about the curiosity of these duo appearances, the near-paradox that Malibran seemed to define herself most fully as a diva when she blended her voice imperceptibly with that of another prima donna who might usually have been considered a rival. Davies connects the public fanaticism aroused by these performances with the seismic shift that took place in the distribution of voices and dramatic types at this time: just as the soprano took over from the castrato and the trousered hero as the central and compelling archetype of opera, public enthusiasm began to be directed not so much towards dramatic impersonation, nor to the polish or control of a voice, but to the elemental »charge« that could be emitted by a voice, and especially by two voices in tandem.21 This strange phenomenon, of a diva making a splash by melding her voice with that of another singer, draws attention to a rarely noted feature of Malibran’s songs, and of salon song in general. This music not only disperses the author-function into an ether of social practice and generic expression; it also, to a surprising extent, sacrifices the representation of a unified subjectivity, blurring the identity and affective profile of the singing persona much as it erases the imprint of a particular author. In fact, it may be easier to define this repertoire in terms of lack than of its actual qualities: there are no characters to speak of, to identify with, and only the slimmest shards of narrative or setting to grab on to. In this sense, Malibran’s songs and their many salon siblings operate on a different expresssive plane than the one usually assumed to operate in nineteenth-century music. What marks these performances is that they were not really Romantic, although their poetry superficially adopts the tropes and preoccupations of Romantic literature.22 Rather than showing listeners to themselves, or allowing listeners to experience grander and better versions of 21 James Davies, »Gautier’s Diva. The First French Use of the Word« in: The Arts of the Prima Donna in the Long Nineteenth Century, ed. by Rachel Cowgill and Hilary Poriss, Oxford 2012; and James Davies, »The Sontag-Malibran Stereotype«, in: Romantic Anatomies of Performance, ed. by James Davies, Berkeley and Los Angeles, forthcoming 2013. 22 In this they have much in common with the Lieder of the Biedermeier period, which re-purposed the traits of Romantic poetry within a more sentimental and more domestic context; see Jane Brown, »In the beginning was poetry«, in: Cambridge Companion to the Lied, ed. by James Parson, Cambridge 2004, pp. 12–32.

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themselves in a heroic mold, these songs offer generic and anonymous personae that blur and mesh with each other promiscuously.23 The very blankness of the images, and the slim narratives of the songs, may have wielded its own expressive power, perhaps by opening up what Catherine Gallagher has called »suppositional identities« – vaguely delineated characters that could be temporarily appropriated by anyone, allowing readers or listeners to try on emotions with minimal personal investment.24 Gallagher connects the demand among eighteenth-century readers for such labile, forgettable personae to changes in the economic basis of British society. In the Parisian setting in which Malibran’s songs were created and performed, uncertainty about the nature of political authority seems a stronger force than economic anxiety. The July revolution had overthrown a king, Charles X, but on 9 August 1830 resulted in a coronation, of Louis-Philippe. As Sandy Petrey has written »Louis-Philippe was known as the Citizen King, and a century and a half of repeating the designation has concealed the fact that it’s a glaring oxymoron«25. The interchangeability and permeability of the selves represented in these songs, as well as the weakening of the identity of the author, may have made them a perfect cultural pursuit for a Parisian society in which the lineaments of the king and the government kept shifting in subtle ways and in which disillusion reigned supreme. To talk about authorship in the nineteenth century is to talk also about broader historical notions of subjectivity. When the author is female, understanding the nature of authorship also entails careful attention to the boundary between actual artistic creation and representations of that creative act. Perhaps all authorship is subject to rhetorical exagerration and mythologization; 23 The subjective, or »heroic«, model of nineteenth-century listening has been described by Scott Burnham, Beethoven Hero, Princeton 1995; Michael Steinberg, Listening to Reason. Culture, Subjectivity, and Nineteeth-Century Music, Princeton 2004; and John Toews, »Integrating Music into Intellectual History. Nineteenth-Century Art Music as a Discourse of Agency and Identity«, in: Modern Intellectual History, 5/No. 2 (2008), pp. 309–331. 24 Catherine Gallagher, Nobody’s Story. The Vanishing Act of Women Writers in the Marketplace, 1670–1820, Berkeley and Los Angeles 1994. Gallagher argues that early female novelists blurred the boundaries between their own identities and those of their characters, or disappeared into collaborations with their fathers, in order to secure a position in the literary marketplace. For Gallagher characters in these early novels are »nobodies«, characters with whom readers could identify while they were reading, and from whom they could learn to navigate the new feelings and relationships required of them in a new economy based on exchange rather than land-ownership. For an insightful discussion of Gallagher’s book in these terms, see also Blakey Vermeule, »Gossip and Literary Narrative«, in: Philosophy and Literature, 30/No. 1 (2006), pp. 102–117. 25 Sandy Petrey, »Pears in History«, in: Representations 35 (1991), pp. 52–71, here: p. 61.

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for female authors, that rhetoric leans heavily away from narratives of genius and rebellion, toward domestication and self-erasure. No surprise there – except that as a flamboyantly public figure who also lived an unconventional personal life very much in the public eye, one might have expected Maria Malibran to be immune to the imperative to tone down her authorial persona. We have seen that Malibran’s compositional role was downplayed both by the narrative spin provided by the Comtesse de Merlin and by the dispersal of her compositions into the multi-voiced (yet anonymous) realm of salon performance. I want to suggest in closing that the seismic event of the prima donna’s sudden death at the age of only twenty-eight fundamentally altered that unwritten contract, so that the events of the last year or so of her life are narrated in very different terms. The circumstances of the singer’s demise have stimulated the imaginations of journalists and biographers since 1836. The cause of death was a fall from a horse, but Malibran lived for three months, plagued by pain and headaches before succumbing; the combination of sudden violence and lingering decline allow biographers to evoke vividly both the cataclysmic drama of injury and the periods of melancholy retrospection that followed. One of her last compositions was the song Le Moribond, written and performed privately several times in 1836, but published only posthumously. The convergence of her composition of a song about a dying man with her own demise just two months later has proved sentimentally irresistible to chroniclers, who are unanimously compelled to posit connections between the artistic work and the life. The comtesse de Merlin calls the song The Romance of Death, and notes (as did every subsequent writer) the sad irony that Malibran wrote it just a month before her death, while the author of the poetry, Antonio Pellegrino Benelli, had himself died just two months after he penned the verses in 1830.26 Merlin recalls that Malibran had always had presentiments that she would die young, and notes that in her last weeks of life, her behaviour became even more extravagant: »in the intervals between her severe bouts of headache […] She would run about, dance, disguise herself, paint her face to perform burlesque scenes: never was joy so exuberant.«27 Another account tells that just two weeks before her death Malibran wanted to sing the »romance« for bass Luigi 26 See Merlin, Memoirs of Madame Malibran (note 3), pp. 259–261. Antonio Maria Pellegrino Benelli (1771–1830) was a tenor, voice teacher, and composer based in London, and later Dresden. In 1819 he published the Regole per il canto figurato, o siano precetti ragionati per apprendere i principi di musica, con esercizi, lezioni, e infine solfeggi per imparare a cantare, Dresden 1819. 27 Ibidem, p. 261.

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Lablache, but while singing she became so overwrought that she had to retire to her bed.28 The song to which these premonitions attach is a surprising vehicle for this sentimental reception, since its address to death is resolutely ironic. Benelli’s poetry is disjunctive, almost modern in its disregard for regular patterns and clear structure. A twist on the »death and the maiden« topos, the song begins and ends with an onomatopoeic stanza in which Death knocks on the door and demands to be admitted. This is answered by two quatrains in the voice of the invalid, who laments that he had continually wished for Health to visit him, but had never been able to convince her to stay long: Pan, pan! Qui frappe là? Pan, pan! Je suis la mort. La mort! Eh, camarade! Vite, ouvre la porte, Que je t’emporte, Ouvre à la mort. Belle santé, tous les jours je t’invoque, l’ingrate qui se moque parait et puis s’en va. La folle aux bois danse avec les bergères, Crie et tempête avec les militaires, Chante avec les saints frères, Et moi me laisse là. (Tap, tap! Who knocks there? Tap, tap! I am death. Death! Ah, comrade! Quick, open the door, so that I may take you away; open up to Death. Beautiful Health, every day I invoke you, the ingrate who makes fun of me appears and then runs away again. The madwoman dances in the woods with the shepherdessess, cries and storms with the soldiers, sings with the holy friars; but me she leaves all alone here.)

As in Le Prisonnier and the other two-voice nocturnes, the singer is asked to portray a shifting persona, envoicing first Death himself, then the invalid. The characterization of Health as an »ingrate« and a »madwoman« who dances with shepherdesses and sings with monks lends the poem a grotesque tinge that is matched by Malibran’s musical setting. The invocation of Health moti28 See Bushnell, Maria Malibran (note 4), p. 220.

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vates a shift to the major key and some bright and mercurial musical effects, especially for the third verse. For all three stanzas, Malibran’s music emphasizes the instability of the invalid’s situation. The opening section is marked by the onomatopoeic F pedal in Bb minor, with a good deal of chromatic coloration (see Example 2). The elusive quality of Health is represented in the second section by a long descending bass line from the tonic Eb (mm. 26–32), and a play of substituting dominants that never quite resolve directly, beneath syncopated cries of »Ah!« in the voice (mm. 33–40). The music for the third verse is both the most harmonically stable and the most changeable, adopting a new local tonic and new rhythmic topoi for each of the three settings in which Health is imagined (pastoral, military, religious; mm. 47–60). The song ends with a literal reprise of the opening section, the solid closure it provides almost certainly probably signifying the death of the invalid. The constant tonal shifts and the restless motion of the bass line project a condensation and detachment that dilute the song’s emotional impact, rendering it less immediate. Yet the song’s slim contemporary reception betrays none of this uncertainty about its intention, instead wholeheartedly embracing the weighty parallels with its composer’s untimely death. Besides the overwhelming compulsion to equate art and life that shapes so much nineteenth-century biography, and that beckons especially to those who write about the transgressive lives of female singers, that reception may have been informed by Malibran’s performance practice and by a general climate in which female authors were almost joyfully understood through images of death. This was a period that was anyway obsessed with death, and that had with the English Romantics found some new ways to write about loss, memory, and funerary monuments. But Patrick Vincent has recently suggested that female poets were particuarly dependent on close association with death, whether as authors of elegies or as the subject of odes and elegies when they themselves expired. Vincent describes a kind of parasitical relationship, in which poetesses could be forgiven for venturing into print, exposing themselves to wide dissemination, and making money, their successs redeemed or defanged by a morbid glorification of their deaths.29 Maria Malibran was the subject of scores of such funerary lamentations, as well as of a surprising number of valedictory poems penned during her life29 Vincent attributes a similar redeeming function to the salon, suggesting that by 1830 the actual salon had become irrelevant to literary success in Paris, but that critics like SaintBeuve still liked to read female poets as tied to the salon as a nostaglic signifier for a time when literary production by women was more private and personal. Patrick Vincent, The Romantic Poetess. European Culture, Politics, and Gender, 1820–1840, Lebanon/NH 2004.

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Example 2  Maria Malibran, Le Moribond, mm. 1–71, in: Maria Malibran, Album lyrique and Dernières pensées, New York: Da Capo Press 1984

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time as she departed from Naples or Bologna or Lucca to perform in the next city.30 Malibran’s own »Romance of Death«, Le Moribond, completely eschews the consoling Romantic language that posits ever-resounding poetry or song, or the vibrating strings of an Aeolian harp, as a substitute for the voice of the deceased person. The refusal of that particular poetic and musical convention may be another attribute by which we can arrive at a sense of who Malibran was as an author. Although the songs do exist in a space between performed event and notated text, they do so in a way that has little or nothing to do with Maria Malibran’s operatic self, and everything to do with her friends and patrons and the social world she occupied. This also must be on some level an authorial choice, whether conscious or conditioned. It is a strange irony that to find notations of what Malibran’s public performances sounded like we must look not to her own compositions, but to those of her friend Moscheles, who transcribed her embellishments for arias by Mozart, Rossini and Niccolini in two virtuosic works for piano solo titled Bijoux à la Malibran. In these pastiche compsitions vocal spontaneity melds seamlessly with instrumental mechanicity, resulting in a transcription of Malibran’s voice that artificially emphasizes speed, range, and mastery of fioritura. Perhaps it is in the space between the virtuosic voice transferred to the piano and the tamer utterances of the salon songs that Malibran’s true voice can be discerned.

30 A number of these are reprinted in Merlin, Memoirs of Madame Malibran (note 3), pp. 271–294. The most famous of the many poetic laments written after her death is Alfred de Musset, »À la Malibran. Stances« (1836).

Rebecca Grotjahn

»Mein bessres Ich« Schumanns Myrthen als Selbstbildnis des Künstlers

Komponist Sein – Mann Sein »Warum gibt es so wenige Komponistinnen?« – das war eine der Hauptfragen, die die musikwissenschaftliche Frauenforschung der 1970er und 1980er Jahre umtrieb. Auch wenn sie mittlerweile anderen Themenstellungen Platz gemacht hat: Erledigt hat sie sich nicht. Gerade wenn auf der Basis eines kulturgeschichtlichen Ansatzes von Musikgeschichtsschreibung das Komponieren seine zentrale Position eingebüßt hat und – neben dem Musizieren, dem Musik Hören, Fördern, Konsumieren etc. – nur mehr als eine mögliche musikbezogene Handlungsform von vielen betrachtet wird, stellt sich die alte Frage mit großer Dringlichkeit: Warum sind ausgerechnet im Bereich des Komponierens die Geschlechterverhältnisse so extrem? Zu Unrecht jedoch wird auf der Suche nach Antworten der Blick zumeist auf die Frauen gerichtet. Zwar waren die Beschränkungen der Handlungs- und Wirkungsmöglichkeiten im Bereich der Musik und auch die Problematik der weiblichen Autorschaft, die sich nicht mit bürgerlichen Weiblichkeitsnormen vertrug, zweifellos von großer Wirksamkeit – gegen die in letzter Zeit spürbare Tendenz, mit dem berechtigten Hinterfragen des Opfernarrativs das Faktum der Benachteiligung von Frauen selbst zu leugnen, sei an dieser Stelle entschieden Widerspruch angemeldet. Jedoch muss auch die »männliche Seite« des Problems betrachtet werden. Denn dass Frauen offenbar weniger komponieren und, wenn sie es tun, dabei nur selten einem Selbstkonzept als Komponistin folgen,1 ist ja nicht die einzige Auffälligkeit, mit der wir es zu tun haben. Ebenso sehr wun1 Bis ins 20. Jahrhundert findet man nur wenige komponierende Frauen, die sich als professionelle Komponistinnen verstehen. Neben Emilie Mayer, Augusta Holmès, Luise Adolpha LeBeau und einigen weiteren wäre hier vor allem auf Ethel Smyth zu verweisen, in deren Selbstkonzept der Kampf gegen die Benachteiligung von Frauen im Bereich des Komponierens eine zentrale Rolle spielt. Vgl. hierzu Marleen Hoffmann, »›Wie ich Suffragette wurde‹. Künstlerisches und politisches Selbstverständnis der englischen Komponistin Ethel Smyth (1858–1944)«, in: Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 4 (2012), S. 90–107.

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dern könnte man sich darüber, warum Männer im Feld Komponieren so stark überrepräsentiert sind. Von diesem Ausgangspunkt aus lässt sich das Komponieren vielleicht mit den heute im Fokus von Frauenfördermaßnahmen stehenden MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) vergleichen, wo ähnliche Geschlechterverhältnisse herrschen wie seit Jahrhunderten im Berufsfeld Komponist/in. Soziologische Untersuchungen im Anschluss an Raewyn/Robert Connell haben auf den Zusammenhang der zunehmenden ökonomischen und politischen Relevanz der MINT-Fächer und der dort herrschenden Männerdominanz hingewiesen. Cynthia Cockburn und Susann Ormrod formulieren: »Männlich zu sein heißt, technisch kompetent zu sein [...]. Weiblich zu sein heißt, nichts oder wenig mit Technik zu tun zu haben [...]«2, und verweisen damit nicht nur auf die gesellschaftliche Funktion, die die Verbindung des Feldes MINT mit Männlichkeit hat, nämlich »Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats« zu sein3, sondern auch auf die Funktion für individuelle Selbstkonzepte: Durch Kompetenz und Erfolg in MINT beweist ein Mann seine Männlichkeit, nämlich die Übereinstimmung seines Selbstkonzepts mit einem anerkannten Männlichkeitskonzept. Dieser Zusammenhang wäre versuchsweise auf das Komponieren zu übertragen: Wird Kompetenz und Erfolg im Komponieren als Nachweis von Männlichkeit betrachtet? Inwiefern ist Komponist Sein Mann Sein?4 Wenn dieser Frage im Folgenden anhand eines Beispiels aus der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts nachgegangen wird, hat das seinen Grund darin, dass sich in dieser Epoche neue Vorstellungen von musikalischem Künstlertum, musikalischem Schaffen und musikalischer Autorschaft durchsetzen. Vieles spricht dafür, dass es sich bei diesen auch um Konzepte von Maskulinität handelt, so wie es die Kunsthistorikerin Silke Wenk für vergleichbare 2 Cynthia Cockburn und Susann Ormrod, »Wie Geschlecht und Technologie in der sozialen Praxis gemacht werden«, in: Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, hg. von Irene Dölling und Beate Krais, Frankfurt a. M. 1997, S. 17–47, hier: S. 29. 3 »Hegemoniale Männlichkeit kann man als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis definieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll).« Robert W. Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, hg. und mit einem Geleitwort versehen von Ursula Müller, Opladen 1999, S. 98. 4 Da sich der vorliegende Aufsatz mit der Maskulinität des Künstlertums befasst, werden die Begriffe »Künstler«, »Autor« und »Komponist« in der männlichen Form verwendet – Frauen sind nicht mitgemeint.

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Entwicklungen in der Kunstgeschichte herausgearbeitet hat. Ihre These, Ausgrenzung und Marginalisierung von Frauen in der Kunstgeschichte haben »mit der Definition von Kunst und Künstler als männlich zu tun«5, lädt zum Transfer auf die Musikgeschichte ein. Geleitet von dem Anliegen, Musik als Kunst zu nobilitieren und sie der Literatur als ebenbürtig an die Seite zu stellen, bilden sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert neue Konzepte musikalischen Künstlertums heraus. Zu deren zentralen Elementen gehören bekanntlich die miteinander verbundenen Aspekte Originalität und Genie, auf deren enge Verbindung mit dem Gender- und Sexualitätsdiskurs um 1800 unter anderem der Literaturwissenschaftler Christian Begemann aufmerksam gemacht hat.6 Die machtvolle Durchsetzung der Kategorie Originalität (die ja bis heute als Leitkategorie kompositions- bzw. stilgeschichtlich orientierter Musikgeschichtsschreibung in Kraft ist) zum ästhetischen Wert ging einher mit der Vorstellung, dass der Künstler sich gewissermaßen selbst gebiert: Erst dadurch, dass er ein originales, neues Werk schafft, wird der Produzent eines Stückes, eines Romans, eines Gemäldes zum Künstler; und nicht nur das: Er macht sich durch sein Schaffen selbst dazu. Diese Vorstellung ist den seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entstehenden neuen biologischen Theorien verwandt, die die Entstehung von Leben nicht mehr als Ausfaltung eines bereits im Keim Angelegten verstehen, sondern davon ausgehen, dass sich Leben »jeweils neu aus ungeformter Materie« bildet.7 Oft unter expliziter Bezugnahme auf solche Thesen wird die Produktion von Kunst wie der biologische Vorgang der Entstehung von Leben beschrieben: Die »Schöpferkraft« des Künstlers ist es, die Materie in Kunst verwandelt. Damit steht der Künstler auf einer Stufe mit dem Schöpfer. Dies wiederum bedeutet eine Aufwertung der Kunst insgesamt, die nun immer mehr mit dem kreativen Akt identifiziert und über Handwerk und »Reproduktion« gestellt wird. An zahlreichen Beispielen zeigt 5 Silke Wenk, »Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit«, in: Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20.  Jahrhundert, hg. von Kathrin Hoffmann-Curtius und Silke Wenk, Marburg 1997, S. 12–29, hier: S. 12. 6 Christian Begemann, »Der Körper des Autors. Autorschaft als Zeugung und Geburt im diskursiven Feld der Genieästhetik«, in: Autorschaft. Positionen und Revisionen, hg. von Heinrich Detering, Stuttgart und Weimar 2002 (Germanistische Symposien Berichtsbände 24), S. 44–61. 7 Begemann, »Der Körper des Autors« (Anm. 6), S. 54. Eine Art Vorstufe dieser Vorstellungen, allerdings auf der Basis anderer Konzepte von Sexualität und Fortpflanzung, findet sich in dem Topos vom Autor als »Vater« seiner Werke, wie sie auch im Musikdiskurs schon in der frühen Neuzeit begegnet. Vgl. Michele Calella, Musikalische Autorschaft. Der Komponist zwischen Mittelalter und Neuzeit, unpublizierte Habilitationsschrift, Universität Zürich 2003, S. 107f. und S. 326. Ich danke dem Autor für die Überlassung des Manuskripts.

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Begemann, wie literarische und autobiografische Texte den Akt des künstlerischen Schaffens mit männlicher Sexualität in Analogie bringen. Sie beschreiben den Prozess des Schreibens oft wie einen Sexualakt, vom Verlieben in den Gegenstand über das immer tiefere Eindringen in ihn, der Vollendung und der darauf folgenden Erschlaffung.8 Dies verbleibt keineswegs immer auf der metaphorischen Ebene. Oft stilisieren sich Literaten (und natürlich ebenso die von Begemann nicht fokussierten Maler, Bildhauer oder Komponisten) zu Liebenden, bei denen die – gerne unglückliche – Liebe zu einer Frau den künstlerischen Trieb entzündet habe. Bis heute ist der durch die Muse inspirierte schaffende Künstler ein Modell von Künstlertum, das weit in die populäre Kultur eingedrungen ist. Ein gegengeschlechtliches Pendant dazu gibt es bis heute nicht. Seiner geliebten Braut: Autobiografik und künstlerische Selbstaussage Robert Schumann zählt, insbesondere in seiner Eigenschaft als Redakteur der Neuen Zeitschrift für Musik, zu den maßgeblichen Vermittlern der neuen Ideen von Kunst und Künstlertum in den Musikdiskurs. Schon deshalb liegt es nahe, ihn als Beispiel für die Untersuchung des Zusammenhangs von Maskulinität und Künstlertum bzw. Autorschaft zu wählen. Allerdings sollen hier nicht seine im Medium Sprache formulierten Äußerungen zum Thema gemacht werden – so ergiebig dies zweifellos wäre –, sondern sein musikalisches Œuvre.9 Schriftsteller verleihen ihrer Auseinandersetzung mit Autorschaft und Künstlertum in literarischen Werken Gestalt, Maler geben in Selbstbildnissen Auskunft über ihr Selbstverständnis als Künstler und positionieren sich so im Diskurs über Kunst, Genialität und Maskulinität. Wie aber gestalten sich Komponisten als musikalische Autoren, als Künstler – und als Männer? Als Untersuchungsobjekte für eine solche Fragestellung bieten sich insbesondere Werke an, die autobiografische Züge aufweisen. Solche Stücke sind beliebte Objekte wissenschaftlicher wie populärer Musikliteratur, die im Bezug zum 8 Vgl. Begemann, »Der Körper des Autors« (Anm. 6), S. 56–58. 9 Der vorliegende Beitrag greift auf Ergebnisse von Studien der Autorin zurück, die an anderer Stelle publiziert sind, insbesondere: »Rätsel und Lektüren. Zur Zyklizität von Robert Schumanns Liederkreis Myrthen op. 25«, in: Gattungsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschrift für Arnfried Edler, hg. von Christine Siegert u. a., Hildesheim 2008 (Ligaturen. Schriften der Hochschule für Musik und Theater Hannover 3), S. 149–162, sowie »Das Komponieren von Gedichten. Schumanns Myrthen«, in: Robert Schumann – Musik und Dichtung. Bericht über die Internationale Tagung im Robert-Schumann-Haus Zwickau 2010, hg. von Thomas Synofzik (in Druck).

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privaten Leben des Komponisten den Schlüssel zum Verständnis des Werkes zu finden meint. Nicht immer wird dabei ausreichend bedacht, dass mit einem solchen Vorgehen eine Prämisse im Hinblick auf Adressaten und sozialen Ort gesetzt wird, die es zu hinterfragen gilt. Wenn sich die Bedeutung einer Komposition aus der privaten Situation erschließen lässt, impliziert dies, dass die eigentliche Zielgruppe des Komponisten in dessen privaten Umfeld zu suchen ist – im Extremfall besteht sie aus einer einzelnen Person, beispielsweise der Geliebten, die alleine den geheimen Liebesbrief verstehen kann (dessen Inhalt andere Personen gar nichts anginge). Träfe das zu, würde streng genommen erst die Musikwissenschaftlerin oder der Enthüllungsjournalist, die oder der die Botschaft dekodiert, ein breiteres Publikum für das Stück herstellen. Normalerweise jedoch weist der Komponist seinen Werken selbst einen sozialen Ort zu und dieser liegt eher außerhalb seines persönlichen Kreises: in einer mehr oder weniger großen, mehr oder weniger anonymen Öffentlichkeit.10 Im Unterschied zu literarischen Autorinnen kann sich der Komponist dabei zweier Arten von Publikationsmaßnahmen bedienen: der musikalischen Darbietung vor einem Publikum (die natürlich nicht durch ihn persönlich zu erfolgen braucht) oder des Drucks und der Verbreitung durch einen Verlag. Der Akt der Veröffentlichung ist von entscheidender Bedeutung für den Sinn autobiografischer Bezüge. Wenn beispielsweise ein Komponist in einem vor Publikum aufgeführten oder gedruckten Werk seine Liebesbeziehungen thematisiert, so setzt er voraus, dass sich die Öffentlichkeit, die Käufer, das Publikum für sein Privatleben interessieren. Welche Gründe kann er dafür haben? Sofern nicht maßlose Eitelkeit im Spiel ist, muss angenommen werden, dass der Künstler sein Privatleben eben nicht als rein private Angelegenheit betrachtet. Wer mit künstlerischen Mitteln von sich selbst spricht, teilt etwas mit über sich als Künstler. Und wenn er dabei von Liebe spricht, so spricht er über seine Geschlechtsidentität – also über sich als männlicher Künstler. Dass es sich um künstlerische Selbstaussagen handelt, liegt besonders auf der Hand, wenn – z. B. durch die einer Vertonung zugrunde liegenden Texte, Programme, poetische Überschriften oder Paratexte – explizit auf Kunst und Künstlertum Bezug genommen wird. Ein bekanntes Beispiel ist Hector Berlioz’ Symphonie fantastique, dessen ursprünglicher Titel Episode de la vie d’un artiste lautete, was natürlich nicht auf irgendeinen männlichen Menschen verweist, dessen Beruf zufällig Künstler ist, sondern darauf, dass hier Künstlertum selbst verhandelt wird – eine Thematik, die auch nach der Änderung des Titels 10 Damit soll nicht der überholten Dichotomie öffentlich versus privat das Wort geredet werden, im Gegenteil: Die Grenzen sind fließend, gerade weil es den rein privaten Charakter kaum (bzw. nur als Extremfall) gibt.

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im Programm erhalten blieb und in der Fortsetzung des Werkes, Le Retour à la vie (1831; 2. Fassung: Lélio ou le retour à la vie, 1851) eine weitere Ausformung erfuhr.11 Im Zusammenwirken des Programms mit der kompositorischen Idee inszeniert das Werk seinen eigenen Urheber als Mann, der durch unglückliche Liebe zum künstlerischen Schaffen gedrängt wurde. Dieser zentrale Topos des maskulinen Autorschaftskonzepts wird ins Formkonzept der Sinfonie überführt: In der Bewältigung des Unglücks – der Demütigung der Geliebten zur Hure und Hexe – findet Berlioz die Idee der »negativen« Finalsymphonie, die statt in den positiv-überhöhten Schlusssatz, wie er dem Beethoven’schen Gattungsmodell entspräche, in eine Peripetie mündet.12 Bekanntlich war Robert Schumann von dieser Art Programmmusik nicht überzeugt, aber die Verbindung von Kunst und Liebe im Selbstkonzept des Autors hat auch ihn künstlerisch beschäftigt. Dies sei am Beispiel der Myrthen op. 25 gezeigt – also ausgerechnet desjenigen Liederzyklus, dem in der Forschung bisher zumeist ein rein privat-autobiografischer Charakter zugesprochen wurde. Nahezu einmütig vertrat die Schumann-Forschung lange Zeit die Auffassung, dass es sich bei den 26 Liedern um eine heterogene Liedersammlung handelt, die lediglich durch den Bezug zum privaten Anlass – der Heirat mit Clara Wieck, der die pünktlich zur Hochzeit gedruckte Erstausgabe gewidmet ist – zusammengehalten werde. »[D]ie Vielzahl der Autoren wie die musikalische Buntheit dieses Opus lassen Zweifel an der Subsumierung als ›Zyklus‹ aufkommen – ein bunter Brautstrauß für Clara scheint eher die Intention zu sein«13, formuliert Reinhold Brinkmann diesen common sense zustimmend – und nicht nur er ignoriert die Tatsache, dass Schumann schon mit dem Untertitel Liederkreis auf einen zyklischen Charakter hinweist. Auch die Schmuckelemente, mit denen der Band (dessen Herstellung Schumann sorgfältig überwachte) versehen ist, beziehen sich auf Kreisförmiges: Der grüne Rahmen auf dem Titelblatt ist ein auf das vorgegebene rechteckige Format 11 Zur »Verschränkung von Autobiographie und Literatur« in Berlioz’ »Künstlerdramen« vgl. Wolfgang Dömling, Hector Berlioz. Die symphonisch-dramatischen Werke, Stuttgart 1979, S. 9–54, hier: S. 54. 12 Vgl. Rebecca Grotjahn, »Episode aus dem Leben einer Künstlerin – Harriet Smithson, Hector Berlioz und die Symphonie fantastique«, in: Musik. Frau. Sprache. Interdisziplinäre Frauen- und Genderforschung an der Hochschule für Musik und Theater Hannover, hg. von Kathrin Beyer und Annette Kreutziger-Herr, Herbolzheim 2003 (Beiträge zur Kulturund Sozialgeschichte der Musik 5), S. 277–294. 13 Reinhold Brinkmann, »Musikalische Lyrik im 19. Jahrhundert«, in: Musikalische Lyrik, Teil 2: Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Außereuropäische Perspektiven, hg. von Hermann Danuser, Laaber 2004 (Handbuch der musikalischen Gattungen 8/2), S. 9–124, hier: S. 64.

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Abb. 1 und Abb. 2  Robert Schumann, Myrthen. Erstdruck. Titelblatt und Widmungsseite

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gebrachter Myrthenkranz, und einen Myrtenkranz trägt auch der Putto auf der Widmungsseite. Wie sich zeigen wird, hängt die Frage nach der Zyklizität der Myrthen eng mit der nach Schumanns künstlerischem Selbstverständnis zusammen. Wie jedoch steht es um die private Veranlassung des Werkes? Fraglos hat Schumann die Myrthen als Hochzeitsgabe für Clara Wieck gedacht, die er am 12. September 1840 heiratete. Jedoch wird bereits, als Schumann erstmals wegen der Publikation an den Verleger Julius Kistner schreibt, die Stellung des Werkes zwischen privater und öffentlicher Adressierung – und zwischen Geschenk und Geschäft – deutlich: »Verehrester Herr Kistner, Seit langen [!] hege ich einen Lieblingsgedanken, zu dessen Mitausführung Sie Sich vielleicht verstehen. Es soll ein Brautgeschenk werden, das eine Ausschmückung verlangt, wie gerade Sie sie so sinnig und zart immer zu geben wissen. Der Titel ist: Myrthen. Liedercyklus in vier Heften von R. Sch. [op. 25]. [...] Jedes Heft würde im Ladenpreis etwa 16 Gr. zu stehen kommen. Die zwei ersten wünschte ich bis Ende Mai, die letzten zwei bis Ende August beendigt, und dafür Ende Mai ein Honorar von 12 Louisdor für die zwei ersten, und für die zwei letzten Ende August ein gleiches Honorar. Die Lieder selbst, glaub’ ich mich nicht zu täuschen, werden sich rasch verbreiten und viel gesungen werden; wer davon gehört hat, sagt mir das, und der Componist weiß ja immer auch am besten, was ihm von Herzen gekommen ist und was wirken muß. [...] Sagt Ihnen mein Gedanke zu, so sprechen wir noch über das Aeußere. Daß Sie Niemandem noch davon sagen möchten, ersuche ich noch freundlich, damit Klara nichts davon erfahre.«14

Für den privaten Zweck hätte es genügt, ein einziges Exemplar herzustellen. Kistner aber produzierte in Schumanns Auftrag natürlich nicht nur das mit rotem Samteinband, Goldschnitt und goldglänzendem Druck für die Lied14 Robert Schumann, Brief an den Verlag Fr. Kistner in Leipzig vom 7. März 1840, in: Schumann Briefedition, Serie III, Bd. 4: Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Leipziger Verlegern IV, hg. von Petra Dießner u. a., Köln 2010, S. 173f.

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überschriften besonders schön ausgestattete Exemplar für die Braut,15 sondern zahlreiche weitere für den Verkauf; und selbstverständlich trägt sogar das Widmungsexemplar für Clara Schumann den prosaischen Aufdruck, der auf den Veröffentlichungs- und Vermarktungszweck hinweist: »Pr. 16 Gr.« [Preis 16 Groschen] (vgl. Abb.  1). Auch dass Schumann den Druck seiner Braut widmet (vgl. Abb. 2), spricht gerade nicht für eine rein private Adressierung. Privat ist lediglich die zusätzliche handschriftliche Widmung, die er auf dem für Clara Wieck/Schumann bestimmten Exemplar auf dem Vorsatzblatt anbringt: »Meiner geliebten Klara am Vorabend unserer Trauung von ihrem Robert.« Verwendet die gedruckte Widmung im Unterschied dazu die dritte statt der ersten Person – »Seiner geliebten Braut« –, so wird die Position des privaten Partners durch die des Autors ersetzt, der nicht mit, sondern über die Braut spricht. Sein Gegenüber ist hier die Öffentlichkeit, der mitgeteilt wird: Ich, der Autor, habe eine geliebte Braut. Schumann macht hier mithin eine Selbstaussage, die nicht nur vor dem Hintergrund des – seinerzeit von der interessierten Öffentlichkeit durchaus wahrgenommenen – Rechtsstreits mit dem Brautvater Friedrich Wieck von Bedeutung ist, als dessen Sieger sich Robert Schumann hier präsentiert.16 Vielmehr positioniert er sich überdies als Mann, den glückliche Liebe zum Schaffen inspiriert hat. Das Ergebnis sind die Myrthen: Symbol für die Hochzeit und Werktitel, gleichermaßen Ausweis für den Erfolg des werbenden Mannes wie den des schaffenden Künstlers. Mit der Publikation des Hochzeitsgeschenkes schreibt sich Robert Schumann also in den Diskurs um die Maskulinität des Künstlers ein. Das Komponieren von Gedichten Ein Grund dafür, dass die zyklische Konzeption der Myrthen bisher zumeist übersehen wurde, ist die Heterogenität der Textvorlagen. Dass Schumann Texte unterschiedlicher Dichter – Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Rückert, Lord George Gordon Byron, Thomas Moore, Heinrich Heine, Robert Burns und Julius Mosen17 – vertont, widerspricht der in der Musikwissenschaft noch 15 Exemplar im Robert-Schumann-Haus Zwickau, D ZSch Signatur 4501. 16 Zur öffentlichen Rezeption des Heiratsprozesses vgl. Friederike Preiß, Der Prozeß. Clara und Robert Schumanns Kontroverse mit Friedrich Wieck, Frankfurt a. M. u. a. 2004 (Europäische Hochschulschriften 36/239), besonders S. 211–218. 17 Schumann vertont außer diesen je ein Gedicht von Mariane von Willemer (Lied der Sukeika) und Catherine Fanshawe (Räthsel), die er freilich für Werke Goethes bzw. Lord Byrons hielt.

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immer verbreiteten Definition von »Liederzyklus«, die eine mehr oder weniger geschlossene Gedichtvorlage voraussetzt.18 Sie ist gerade für Schumann viel zu eng. Wer dessen Liederzyklen insgesamt betrachtet,19 erkennt, dass sich dieser in seinen Liederzyklen systematisch mit unterschiedlichen Graden von Geschlossenheit und Offenheit der Gedichtvorlagen befasst. Die bloße Übernahme eines bereits vom Dichter vorgegebenen Gedichtzyklus gibt es in seinem Œuvre überhaupt nicht. Lediglich ansatzweise ist dies der Fall in seinem ersten vollendeten Zyklus, dem Heine-Liederkreis op. 24, der den Abschnitt »Lieder« aus den Jungen Leiden in Heinrich Heines Buch der Lieder in der dort vorgegebenen Reihenfolge übernimmt. In Frauenliebe und Leben op. 42 werden leichte – die Gesamtaussage des Textes freilich substanziell verändernde – Eingriffe in die Vorlage vorgenommen. In der Dichterliebe op. 48 wählt Schumann nur einen Bruchteil der Gedichte aus der Vorlage – wiederum dem Buch der Lieder – aus, behält aber deren Reihenfolge bei, während er bei den Sechs Gedichten aus dem Liederbuch eines Malers op. 36 mit Gedichten von Robert Reinick und dem gemeinsam mit Clara Schumann vertonten Liebesfrühling op. 37/12 jeweils ebenfalls eine Auswahl trifft und überdies die Reihenfolge verändert. Einen wieder anderen Typus vertreten die Lieder aus Wilhelm Meister op. 98a, die Rollengedichte aus einem Prosawerk extrahieren, und der Eichendorff-Liederkreis op. 39, der sogar auf mehrere Romane zurückgreift. In diese (nicht der Chronologie entsprechende) Reihe der Experimente mit mehr oder weniger zyklischen Vorlagen fügen sich die Myrthen ein. Um deren Bedeutung zu verstehen, muss man sich klar machen, dass, je weniger sich der Komponist an die Vorlage hält und je stärker er eingreift, der Text desto mehr zu seinem eigenen Produkt wird. Wenn Schumann in den Myrthen Texte unterschiedlicher Herkunft zu einem Zyklus zusammenstellt, eignet er sich die Texte stärker an, als wenn er einfach den Zyklus eines Dichters übernimmt. Die Heterogenität der Vorlagen, die erst durch Schumann in einen Zusammenhang gebracht werden, zeigt mithin einen hohen Grad von Zyklizität und Autorschaft an und ist gerade kein Grund, dem Werk den zyklischen Charak18 Widerspruch gegen diese Definition meldet nachdrücklich John Daverio an: »The Song Cycle. Journeys Through a Romantic Landscape«, in: German Lieder in the Nineteenth Century, hg. von Rufus Hallmark, New York 1996, S. 279–312, ebenso mit Blick auf Schumann: David Ferris, From Fragment to Cycle. Formal Organization in Schumann’s Eichendorff »Liederkreis«, PhD Brandeis University 1993, Ann Arbor 1994. 19 Vgl. zum Folgenden Rebecca Grotjahn, »Zyklizität und doppelte Autorschaft im Liebesfrühling von Clara und Robert Schumann«, in: Robert Schumann. Persönlichkeit, Werk und Wirkung. Bericht über die Internationale Musikwissenschaftliche Konferenz vom 22.24. April 2010 in Leipzig, hg. von Helmut Loos, Leipzig 2011, S. 69–89.

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ter abzusprechen. Wie an anderer Stelle dargelegt, beginnt die Komposition des Liederzyklus mit dem »Komponieren von Gedichten«.20 Durch die Wahl von Gedichten unterschiedlicher Provenienz greift Schumann als Autor neben der Musik auch in die Ebene des Textes ein und verschafft sich in seinem autobiografischen Zyklus die Gelegenheit, mittels einer Art Textcollage ein Bild seiner selbst zusammenzustellen. Die ausgewählten Texte sind inhaltlich keineswegs heterogen; sie kreisen vielmehr um drei zentrale Themenfelder: Liebe – in zahlreichen Facetten: Erwartung, Sehnsucht, Erotik, Ehe, Heirat, Mutterliebe, Eifersucht etc.21 –, Freiheit (vor allem in den auf den schottischen Freiheitskampf bezogenen Robert-Burns-Vertonungen, aber auch in Freisinn und den Liedern aus dem Schenkenbuch nach Goethe) und Künstlertum (in den Gedichten, die das Dichten thematisieren, wie Talismane, Lied der Suleika und den beiden Byron-Liedern), wobei alle drei Aspekte in einigen Texten von religiösen Bezügen überwölbt werden. Zusammen gelesen, ergeben die Gedichte ein Programm, das sich in etwa so umschreiben lässt: Der Künstler ist niemandem zu etwas verpflichtet als Gott, der ihm alle Freiheit lässt; zugleich wird seine Kunst durch die Liebe poetisiert und er selbst auch dadurch in himmlische Sphären gehoben. Widmung: Geschlechter- und Besitzverhältnisse Dass die Lieder zusammen gelesen und aufeinander bezogen werden sollen, wird daran deutlich, dass Schumann sie auf kunstvolle Weise zyklisch miteinander verbindet. Wie die Quellen zum Entstehungsprozess dokumentieren, verlangte gerade dieser Arbeitsschritt dem Komponisten erhebliche Anstrengungen ab, zumal das zyklische Konzept sich offenbar erst allmählich herauskristallisierte, als ein Teil der Lieder bereits komponiert war. Dessen ungeachtet kann ein stringenter Tonartenplan nachgewiesen werden, ebenso gibt es motivische Substanzgemeinschaften in einem Teil der Lieder. Dies hier auszuführen, ist aus Raumgründen unmöglich, jedoch sei exemplarisch anhand eines Liedes gezeigt, wie Zyklusbildung im Detail funktioniert und in welcher Weise dadurch schon ein einzelnes Lied zum Ausdruck des künstlerischen Selbstkonzepts werden kann. 20 Vgl. den in Anm. 9 genannten zweiten Beitrag. 21 Eric Sams zufolge sind die Myrthen »all about ideas of the nature of man and woman and their relation«; er übersieht dabei jedoch die anderen Themenfelder. Eric Sams, The Songs of Robert Schumann, London 1975, S. 50; ähnlich Barbara P. Turchin, Robert Schumann’s Song Cycles in the Context of the Early Nineteenth-Century »Liederkreis«, PhD Columbia University 1981, Ann Arbor 1981, S. 268.

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Das Beispiel ist die Nr.  1, Widmung, eines der berühmtesten Lieder aus den Myrthen, das in Konzertdarbietungen und Tonaufnahmen zumeist seines zyklischen Zusammenhanges beraubt wird. Dagegen ist freilich nichts einzuwenden: Aufführungen ganzer Zyklen entsprachen nicht der Praxis der Schumann-Zeit, und der Zykluscharakter wurde nicht in der Konzertsituation präsentiert, sondern erschloss sich beispielsweise bei der Lektüre am Klavier. Gerade die Widmung ist jedoch auch ein Beispiel dafür, wie der zyklische Zusammenhang auch im einzelnen Lied präsent ist, das somit selbst bei der separaten Aufführung auf das gesamte »Programm« des Werkes verweist. Wenn Schumann für die Eröffnung des Zyklus ein Gedicht auswählt, das mit »Du« beginnt – das dritte Lied aus dem Ersten Strauß des Liebesfrühlings von Friedrich Rückert22 –, so spricht er offensichtlich die Adressatin und Widmungsträgerin an. Damit gibt er einen Hinweis auf das Geschlecht des Du, das dadurch, dass das Gedicht aus seinem ursprünglichen Zusammenhang gerissen wurde, sprachlich indefinit geworden war23 – anders als in der Vorlage, wo zu Beginn des Zyklus, im ersten Gedicht des Ersten Straußes, das Ich und das Du als Ehepaar identifiziert werden. Dort ist das Ich der Mann, der seine künstlerische Tätigkeit wie einen bürgerlichen Beruf auffasst: als außer Haus verrichtetes »Tagwerk«, nach dessen Beendigung er zu seiner Frau heimkehren wird: »Und, den Tag lang dichtend, denk’ ich immer An den Abend, wo, zu süßen Tagwerks Süßem Lohn, ich gehe zu der Guten, Die mit treuer anspruchloser Neigung Mich beglückt, wie ich es nie mir träumte. Hab’ ich doch allein für sie gedichtet [...].«24 22 Schumann benutzte die Ausgabe Gesammelte Gedichte von Friedrich Rückert, 2. Aufl., Erlangen: Verlag von Carl Heyder, Bd. 1, 1836. (Exemplar aus dem Besitz Clara Schumanns im Robert Schumann Haus Zwickau, Signatur 7901 – A4/C1.) 23 Es scheint mir jedoch eine lediglich theoretische Möglichkeit zu sein, das Gedicht auf ein weibliches Ich und ein männliches Du zu beziehen; denn wenn auch die Sprache das Geschlecht hier offen lässt, so ist doch das hier ausgedrückte Motiv, dass ein Ich durch ein geliebtes Du vervollständigt, befriedet und in überirdische Gefilde gehoben wird, in romantischer Dichtung und Literatur so fest mit der Dichotomie Männlichkeit und (»höhere Werte« repräsentierende) Weiblichkeit verbunden, dass eine Vertauschung des Geschlechts kaum in Betracht zu ziehen ist. Vgl. hierzu auch Wenk, »Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit« (Anm. 5), S. 21–23. 24 Friedrich Rückert, »Liebesfrühling«, in: ders., Gesammelte Gedichte, 2. Aufl., Erlangen 1836. Darin: Erster Straus. Erwacht, Nr. 1, S. 189–191, Zeile 13–18.

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Das »Du« des dritten Liedes in Rückerts Erstem Strauß, Du meine Seele, du mein Herz, ist die Person, für die das Dichter-Ich seine Arbeit versieht: die Gattin. In dem von Schumann vertonten Text25 taucht das Wort Du in nahezu jeder Zeile auf, oft exponiert am Zeilenbeginn; in Zeile 10 erscheint es als Possessivpronomen »dein«, lediglich in den Zeilen 6, 12 und 17, die die Liedabschnitte A, B, A’ abschließen, fehlt es. (Bei Rückert besteht der Text nur aus den Zeilen 1–12, den Text des musikalischen Abschnitts A’ hat Schumann aus den Zeilen 1–5 sowie 12 neu zusammengestellt. An der Verteilung der Personalpronomina ändert das nicht viel.) Zeile 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Vertonter Text Du meine Seele, du mein Herz, du meine Wonn’, o du mein Schmerz, du meine Welt, in der ich lebe, mein Himmel Du, darein ich schwebe, o du mein Grab, in das hinab ich ewig meinen Kummer gab! du bist die Ruh’, du bist der Frieden, du bist vom Himmel mir beschieden. Dass du mich liebst, macht mich mir werth, dein Blick hat mich vor mir verklärt, du hebst mich liebend über mich, mein guter Geist, mein bessres Ich! du meine Seele, du mein Herz, du meine Wonn’, o du mein Schmerz, du meine Welt, in der ich lebe, mein Himmel Du, darein ich schwebe, mein guter Geist, mein bessres Ich!

Anzahl der Wörter pro Spalte: 110

Pronomina 2. P. Sg. Du, du du, du du Du du du, du du du dein du du, du du, du du Du

19

Pronomina 1. P. Sg. meine, mein meine, mein meine, ich mein, ich mein ich, meinen mir mich, mich, mir mich, mir mich, mich mein, mein, Ich meine, mein meine, mein meine, ich mein, ich mein, mein, Ich 33

Tabelle  Widmung. Vertonter Text in der Fassung des Erstdrucks der Myrthen mit Verteilung der Personalpronomina

Ungeachtet der Häufigkeit des »Du« handelt es sich um ein Lied über das Ich. Bereits die statistische Verteilung ist aufschlussreich: Den 19 Pronomina der 25 Der von Schumann vertonte Text ist die Textversion, wie sie im Erstdruck der Myrthen erscheint (dessen Orthografie hier übernommen wird), im Unterschied zur Textvorlage, dem Text der Schumann vorgelegenen Ausgabe des Liebesfrühlings von Friedrich Rückert. Vgl. zu den Textvorlagen: Literarische Vorlagen der ein- und mehrstimmigen Lieder, Gesänge und Deklamationen, hg. von Helmut Schanze, Mainz u.  a. 2002 (Robert Schumann. Neue Ausgabe sämtlicher Werke VIII/Supplementbd. 2).

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zweiten Person Singular stehen nicht weniger als 33 in der ersten Person Singular gegenüber, darunter siebenmal »Ich«, achtzehnmal »mein/meine/meinen«, dreimal »mir« und fünfmal »mich« (siehe Tabelle). Dass fast die Hälfte des Textes aus Pronomina zur ersten und zweiten Person Singular besteht (immerhin 52 von insgesamt 110 Wörtern), zeigt schon äußerlich die Thematik des Textes an: Hier wird die Beziehung von Du und Ich verhandelt. Dabei verweist das Übergewicht der Pronomina der ersten Person auf die zentrale Position des Ich: Das Subjekt, das sich der Bedeutung des Du für sich versichert, steht im Mittelpunkt. Bezeichnenderweise wird, um diese Beziehung sprachlich auszudrücken, vor allem das besitzanzeigende Pronomen mein/meine/meinen verwendet, was ja nicht zwangsläufig aus dem Inhalt der Sätze folgt: Mögliche Alternativformulierungen wie »Du bist mir Seele und Herz« oder »Du bist Wonne und Schmerz für mich« hätten die Funktionen des Du für das Ich ähnlich zum Ausdruck bringen können, aber die Konnotation »Besitz« vermieden. Der liebende Künstler als Rahmen Zusammen mit dem letzten Lied, Zum Schluss, bildet die Widmung einen Rahmen um die Myrthen. Die beiden Lieder sind nicht nur durch ihre Herkunft aus Rückerts Liebesfrühling aufeinander bezogen, sondern Schumann verbindet sie auch musikalisch – durch die Tonart As-Dur und durch die Klanglichkeit: Beide Lieder beginnen mit dem gleichen Akkord – im ersten Lied arpeggiert, im letzten homophon – und lassen die Singstimme auf der Terz, c2, einsetzen (vgl. Abb. 3). In der Rückert’schen Textvorlage stehen beide Lieder im Ersten Strauß, dessen Inhalt aufschlussreich auch im Hinblick auf die Aussage der Myrthen ist. Im Ersten Strauß bringt Rückert das Anliegen des Werkes zum Ausdruck, dessen Thema das Dichten selbst ist. Der in der Ich-Form schreibende fiktive Dichter dichtet nur für die geliebte Gattin. Ein zentrales Motiv ist dabei die Hochzeit, die als Metapher für die Dichtung verwendet wird. In der Dichtung vermählt sich der Geist des Dichters mit der Seele der Geliebten, wodurch das Werk unsterblich wird: »Meinen Geist vermähl’ ich deiner Seele Wie die Welt vermählet Mann und Weib. Ewig lebt das Paar, das ich vermähle; sinke dann ins Grab der morsche Leib.«26 26 Rückert, »Liebesfrühling« (Anm. 24), S. 192.

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Abb. 3  Widmung, T. 1–3, und Zum Schluss, T. 1f.

Wie in Du meine Seele, du mein Herz wird hier die Seele der Frau zugeordnet. Der Mann indessen spielt eine paradoxe Rolle. Er ist zunächst eine Hälfte des Ganzen – in der »Welt« Teil des Paares, in der Dichtung als Geist das mit der Seele zu einem Ganzen zu verbindende Element. Jedoch wird diese Symmetrie der Geschlechterpolaritäten sogleich überschritten: Als Dichter ist der Mann derjenige, der die Verbindung erst herstellt. Es gibt keinen Dritten, der Geist und Seele vermählt, sondern es ist der »Geist-Inhaber« selbst, der die Vermählung durchführt. Mit den Formulierungen »vermähl’ ich« und »ich vermähle« findet also eine Selbstermächtigung des Künstlers statt: Es ist der Dichter, der die poetische »Ehe« schafft, indem er die Verbindung von Geist und Seele herstellt. Rückert greift hier auf die oben skizzierte Vorstellung des sich selbst schaffenden, sich selbst gebärenden Künstlers zurück, wie sie im Künstlerdiskurs seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert verbreitet war, und reinterpretiert sie dadurch, dass er das Motiv der Vermählung – und die damit verbundene Idee der romantischen Liebe als Verbindung von Geist und Seele – an die Stelle

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des Sexualaktes setzt. Damit wird gleichzeitig die Rolle Gottes problematisch, dem in der religiösen Tradition die Funktion des Vermählenden zukommt. Rückert belässt ihn – mit Anspielung auf einen kanonischen Bibelspruch27 – im Amt als Stifter der Ehe, weist ihm jedoch im Schaffensvorgang eine passive Rolle zu, da der aktive Part des Schaffenden ja vom Dichter besetzt ist: »Lebet in einander, o ihr beiden, Geist beseelt, begeistet Seele Du! Was Gott fügte, soll der Mensch nicht scheiden, Und dem Bund sah Gott vom Himmel zu.«28

In Rückerts Liebesfrühling formulieren die ersten vier Gedichte das Gesamtprogramm des liebenden Dichters. Zu ihnen zählt als Nr. 3 Du meine Seele, du mein Herz, das in diesem Kontext das Du nicht nur als Ergänzung des Ich zum ganzen Menschen benötigt, sondern auch als Metapher für die Seele, die sich mit dem Geist zur Dichtung vereinigt. Schumann übernimmt für den Rahmen der Myrthen das äußere Gerüst von Rückerts Erstem Strauß: ein Gedicht aus dem programmatischen Anfangsteil und das Schlusslied (Nr. 46) Hier in diesen erdbeklommnen Lüften. Indem er jedoch die poetologischen Reflexionen der ersten Rückert-Gedichte nicht mit vertont, scheint es zunächst, als werde aus Du meine Seele, du mein Herz nun ein reines Liebesgedicht, das lediglich die gegenseitige Ergänzung von Mann und Frau feiert. Auch der Bezug für Hier in diesen erdbeklommnen Lüften, das Schumann als Schlusslied seines Zyklus wählt, verblasst. Es bezieht sich bei Rückert nicht nur auf den Glauben an die Wiederauferstehung, wie es bei der kontextlosen Lektüre des Gedichts scheint, sondern auf die in Gedicht Nr. 4 formulierte Idee, dass sich Geist des Dichters und Seele der Geliebten in der Dichtung vereinen und dadurch unsterblich werden. Keineswegs jedoch reduziert Schumann Rückerts Texte auf die Liebesthematik. Vielmehr »entkernt« er sie nur, um sein eigenes poetologisches Konzept einbauen zu können. Hierfür verbindet er Rückerts Texte mit denen anderer Dichter und stellt durch textliche wie musikalische Anspielungen neue Bezüge her. Eine seiner Maßnahmen besteht darin, die beiden – bei Rückert unbetitelten – Lieder des Rahmens mit Überschriften zu versehen. Die Titel Widmung und Zum Schluss verweisen nicht nur auf die eröffnende und schließende 27 Matthäus 9,6 bzw. Markus 10,9: »Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden«, bis heute in unterschiedlichen Übersetzungen eine der traditionellen Schriftstellen zur kirchlichen Trauung. 28 Rückert, »Liebesfrühling« (Anm. 24), S. 192.

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Funktion (und damit einmal mehr auf den zyklischen Charakter der Myrthen), sondern auch auf ein anderes, ebenfalls im Hinblick auf künstlerische Selbstaussagen aufschlussreiches Werk. Denn die Idee für die beiden Titel stammt nicht von Schumann selbst. Er fand sie in Robert Reinicks Liedern eines Malers mit Randzeichnungen seiner Freunde,29 die durch eine Widmung und ein Gedicht Zum Schluss eingerahmt werden. Lieder eines Malers ist ein mit Zeichnungen durchsetzter Gedichtzyklus, der ebenfalls das Thema Künstlertum reflektiert, in diesem Fall mit Blick auf die Malerei und in leichtem, humoristischem Tonfall, mit volksliedartigen und teils der Kinderwelt entnommenen Versen. Dabei wird ein Spiel mit der Identität des Künstlers (und seiner »Freunde«) gespielt, das in Zum Schluss kulminiert. Dieses Gedicht bezieht sich auf eine Zeichnung, in der ein Dichter von dem Buchstaben R umschlossen ist, welcher dem Gedicht zufolge auf den Namen des Maler-Dichters verweist: »Und fragt ihr, was zum Schluss wohl Das große R bedeuten soll? So wisset, daß ein Freund es mir Verehrt zu dieses Buches Zier, Dieweil mein Nam’ fängt damit an [...].«30

Der Name des Dichters wird in der allerletzten Zeile enthüllt (»REINICK, so pflegt er sich zu nennen«31), wobei wiederum offen bleibt, ob er mit dem in der dazugehörigen Zeichnung abgebildeten Dichter identisch ist und ob es noch einen weiteren Maler gibt – ein Spiel mit Identitäten, wie es Schumanns Vorlieben entsprochen haben dürfte und zu dessen Aneignung im eigenen künstlerischen Selbstporträt er sich umso mehr berechtigt gesehen haben mag, als er denselben mit R beginnenden Vornamen wie Reinick trug. Indem er die Überschriften übernimmt, überschreibt Schumann die in Reinicks Werk stattfindende Auseinandersetzung mit Künstlertum auf seinen eigenen Zyklus, und indem er sie überdies auf die Rückert-Gedichte überträgt, gibt er ihnen – anstelle des durch die Herauslösung aus Rückerts Zyklus entfallenen poetologischen Kontexts – die Thematik Künstlertum zurück 29 Robert Reinick, Lieder eines Malers mit Randzeichnungen seiner Freunde, Düsseldorf 1838. Für den Hinweis auf Reinicks Zyklus und die Übernahme der Titel durch Schumann danke ich Thomas Synofzik, Zwickau. Eine Auswahl aus den Liedern eines Malers vertont Schumann in dem Liederzyklus Sechs Gedichte aus dem Liederbuch eines Malers op. 36. 30 Reinick, Lieder eines Malers (Anm. 29), S. 60. 31 Ebd., S. 61.

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und bezieht zugleich mit der Malerei ein weiteres Kunstgenre ein. Durch die gleichzeitige Verbindung seines Werkes mit Rückert und Reinick transferiert Schumann den Künstlerdiskurs auf die Musik und konstruiert einen die drei Sparten Literatur, Malerei und Musik überspannenden Dreiklang der Künste. Der freie Künstler und seine (musikalischen) Beziehungen Eine spezifisch musikalische Strategie, die Schumann in den Myrthen anwendet, um sein eigenes Konzept von Künstlertum herzustellen, besteht darin, Texte zu unterschiedlichen Facetten des Künstler-Ichs durch tonale und motivische Beziehungen in Zusammenhang zu bringen. Exemplarisch lässt sich dies an der Verbindung des ersten mit dem zweiten Lied, Freisinn, zeigen. Der hier vertonte Text Goethes bildet ein Gegenstück zu Rückerts Du meine Seele, du mein Herz. Exponierte dieser das Du als Gegenstück zum Ich, so akzentuiert jener das Ich als freies Individuum, das der Gesellschaft und ihren beharrenden Konventionen gegenübergestellt wird. Hierfür bedient er sich der Gegensatzpaare Bewegung/Ruhe und draußen/drinnen: Während das Ich in die Ferne reitet, bleiben die anderen Menschen in ihren Hütten und Zelten. »Lasst mich nur auf meinem Sattel gelten, bleibt in euren Hütten, euren Zelten, und ich reite froh in alle Ferne, über meiner Mütze nur die Sterne.«

Schumann verbindet die beiden ersten Lieder seines Zyklus durch ein musikalisches Motiv, das im Nachspiel der Widmung erstmals auftaucht und unmittelbar darauf im Vorspiel des zweiten Liedes aufgegriffen wird – und zwar quasi als eine die Grenze zwischen den Liedern überspannende Sequenz (vgl. Abb. 4). Durch diese enge Verknüpfung können die beiden Lieder zusammen als Exposition des Künstlerkonzepts gesehen werden: Das Ich ist durch die Liebe zum Du wie durch die individuelle Freiheit definiert. Zugleich kommt – was hier nur angedeutet werden kann – diesen beiden Liedern auch in musikalischer Hinsicht Expositionsfunktion zu. Das verbindende Motiv wird in vielen Liedern der Myrthen wieder aufgegriffen, sodass es als Grundmotiv des gesamten Zyklus betrachtet werden kann, das den Zyklus insgesamt wiederum auch inhaltlich an das Doppelgesicht des Künstlers als durch Liebe inspirierten und freien Mann bindet.

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Abb. 4  Widmung, T. 42–44, und Freisinn, T. 1f.

In der Widmung wird jedoch noch eine weitere Verbindung der Aspekte Liebe und Freiheit hergestellt. Schon oft ist beobachtet worden, dass das Nachspiel des ersten Liedes auffällig der Melodie von Ellens Gesang III (Hymne an die Jungfrau) D 839 von Franz Schubert ähnelt. Da dieses Lied bereits seit Ende der 1820er Jahre zu den bekanntesten Schubert-Liedern zählte,32 ist davon auszugehen, dass die Ähnlichkeit nicht zufällig ist und dass sie vom (Hör- oder Lese-)Publikum auch wahrgenommen wurde. Mit ihr stellt Schumann jedoch nicht nur eine Beziehung zu Schubert allgemein her, den er – obwohl er sich selbst »als Liederkomponist mitnichten in der Nachfolge Franz Schuberts«33 sah – spätestens seit seiner »Entdeckung« der C-Dur-Sinfonie zu den bedeutendsten Komponisten zählte.34 Von Bedeutung für die Myrthen sind hier auch Kontext und Text des Schubert-Liedes, das mit Schumann Widmung übrigens das Schicksal teilt, fast ausschließlich als Einzellied (unter dem irreführenden Titel Ave Maria) wahrgenommen zu werden. Es ist jedoch ebenfalls Teil eines Liederzyklus, Sieben Gesänge aus Walter Scott’s Fräulein vom See (erschienen 1826) nach dem Gedichtzyklus The Lady of the Lake von Walter Scott (1810, in deutscher Übersetzung erstmals 1819). Hier geht es um das Thema der Unabhängigkeit Schottlands, mithin um einen Stoffbereich, der 32 Vgl. Walther Dürr, »Zur Edition«, Kassel u. a. 1982 (Franz Schubert. Neue Ausgabe sämtlicher Werke IV/3, Teil a), S. XVIII. 33 Arnfried Edler, Robert Schumann und seine Zeit, 3. überarbeitete und erweiterte Aufl., Laaber 2008, S. 234. 34 Vgl. Marie Luise Maintz, Franz Schubert in der Rezeption Robert Schumanns. Studien zur Ästhetik und Instrumentalmusik, Kassel u. a. 1992.

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sich in den Myrthen an anderer Stelle wiederfindet: in den Vertonungen von Gedichten Robert Burns’. Auch wenn die Werke Scotts und Burns’ in unterschiedlichen historischen Situationen angesiedelt sind (Scotts Versepos spielt während der Schlacht von Solway Moss im Jahre 1542, während sich Burns auf die Jakobitenaufstände Mitte des 18. Jahrhunderts bezieht), so verbindet sie doch das Themenfeld Freiheit, das bei beiden – mehr als bei Goethe – auch im politischen Sinne aufgefasst wird. So stellt Schumann nicht erst durch die enge Anbindung an das zweite Lied, sondern bereits mit dem Nachspiel der Widmung eine Verbindung zum Aspekt der Freiheit her und hinterlegt damit die beiden zentralen Aspekte seines Künstlerbildes – Liebe und Freiheit – in der Eröffnung seines Zyklus. Der Zyklus Myrthen ist ein autobiografisches Werk, aber kein privates: Wie wohl jede Künstler-Autobiografie ist auch Myrthen eine Selbstkonstruktion, mit der sich Schumann als durch Liebe inspirierten und in Freiheit schaffenden Autor darstellt. Durch den Zusammenschluss der ausgewählten und durch verbale wie musikalische Mittel in Zusammenhang gebrachten Gedichte verbindet er die Bedeutungsfelder Kunst, Liebe und Freiheit auf kunstvolle Weise zum Selbstbild des Künstlers und gestaltet so seine eigene Vorstellung eines maskulinen Künstlertums. In dieser decken sich der Erfolg des Mannes und der des Komponisten: So wie es dem liebenden Mann gelungen ist, eine Braut zu erringen, ist es dem Komponisten gelungen, ein Werk zu vollenden – ein Werk, dessen Bedeutung weit über den privaten Anlass hinausweist. Denn durch die kunstvolle Konstruktion bindet Schumann nicht nur sich selbst, sondern den Komponisten generell in den Künstlerdiskurs ein, der mit seinen spezifischen – d. h. musikalischen – Mitteln nicht nur sein Selbstbildnis schafft, sondern auch seine Identität als Künstler. Dies ist eine Aussage über musikalisches Künstlertum: Der Komponist ist sich selbst schaffender Künstler und beansprucht denselben Status wie der Dichter oder der Maler. Indem Schumann sich in dieser Weise in den Diskurs um den männlichen Künstler einschreibt, konstruiert er Komponist Sein als Mann Sein.

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In Stella Gibbons’s wartime novel Westwood (1946), her heroine of sorts – the dowdy schoolteacher Margaret Steggles, recently moved to London from the provinces – aspires to become part of what she perceives to be a thrilling circle around playwright Gerald Challis. Margaret befriends the Challis’s maid, Zita, a refugee from Central Europe, who provides access to the family home (the Westwood of the novel’s title). More importantly, Zita introduces Margaret to a new cultural realm. She attends a Lieder recital at what Zita calls »Apollonian Hall«: »The great artist of whom Zita had spoken was now sixty years old. As she stood on the platform of the concert hall [...] surveying the crowded room with calm eyes, her appearance suggested that of some cultured hausfrau dressed to entertain friends in her own drawing-room, rather than that of a singer who had delighted discriminating listeners and Royalty all over the world [...] her hair was drawn straight back from her beautiful profile in that uncompromising style which is always thought of as typically German. When she smiled her severe expression changed to a sweet warmth that suggested the taste of fresh bread and other homely delights; and two portraits, which appeared on the programme Margaret was earnestly studying, emphasized the singer’s charm by their suggestion that her development had been continuously harmonious. One showed her as a round-faced girl of twenty with a sweet mouth and the elaborate puffs and curls of a German beauty of 1903, while the other showed the mature and still beautiful artist of today. [...] Zita had explained to Margaret that this was a Jubilee concert, commemorating the fortieth year of Madame’s career.«1

The great artist described here is in all likelihood a fictional version of the German mezzo soprano Elena Gerhardt, who did indeed give her first Lieder recital in 1903 and, having emigrated to London in 1934, celebrated forty years of concertizing at the National Gallery and Wigmore Hall.

1 Stella Gibbons, Westwood or The Gentle Powers, London 1946, pp. 136–137.

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Fig. 1  Illustration: © Royal College of Music, London

For British wartime audiences, Gerhardt had become a symbol both of what was salvageable from German culture and what was lost. Gibbons pinpoints this in Westwood through Margaret’s response to the music. In the first half of the programme, »the stout elderly figure« is transformed into a »white witch«, her »unromantic« appearance acting as a foil to the »German beauty of the songs«2. A picture grows in Margaret’s mind »of a Germany which she did not realize was lost forever«3. However, in the second half Margaret becomes aware of more sinister associations: »beneath the [singer’s] calmness she detected the 2 Ibidem, p. 138. 3 Ibidem.

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note of insane despair«, a »pining sadness« and a »heartbroken gentleness« that was »oddly disturbing«4. Margaret’s initiation into the world of Lieder within the novel signals her own quest for something beyond her mundane life as a teacher (she later explains to a concerned colleague that her dissatisfaction is partly expressed in Wolf ’s and Schubert’s songs). However, she is soon informed that the singer is a familiar figure, both to the exotic Zita, and to the highbrow – and very British – circle at Westwood. On their return from the concert Mrs Challis asks, slightly patronizingly: »Was she in good voice – dear old thing [...] Isn’t Madame an angel? I adore her bun; she never varies it, and it suits her marvelously.«5 On the one hand the singer is domesticated; she is nothing more than a »cultured hausfrau« with an unchanging hairstyle, to be celebrated simply for her longevity. On the other hand, in the query after whether the »dear old thing« had been in good voice, Mrs Challis indicates reservations about whether her development really had been »continuously harmonious«. Were there signs of deterioration, of the singer stepping beyond the boundaries of ripe maturity into the fragility of old age? Mrs Challis’s concerns were shared by real-life British listeners to Gerhardt’s performances, who seemed acutely aware of the way they marked the passing of time – both hers and theirs. One reason for this was the length of her career, and the way it was interrupted and politicized by two world wars. Another was that Gerhardt’s generation was the first to have been recorded throughout their careers (between 1907 and 1948 she made over 300 recordings, 132 of were issued). It is possible to overstate the influence of recording technology on the ways in which people listened to Lieder: its impact, while profound, was felt more gradually than is sometimes claimed. But there is no doubt that access to recordings transformed the way listeners conceived the status of musical performances, both in relation to time and as an aesthetic experience. More than this, and as Gerhardt’s British reception demonstrates, the listening strategies encouraged by recording also altered perceptions of the complex relationships between performer, authorial voice and gender. Gerhardt gave her first British recital at London’s Bechstein Hall in 1906, accompanied by her mentor, conductor Arthur Nikisch, and then returned regularly until 1914. At the beginning of that year an article in The Musical Times placed her at the forefront of the new »cult of Lieder singing«; while she had sung in many cities, »nowhere was she more warmly welcome or keenly appreciated than in Great Britain«6. The outbreak of war, however, led to dif4 Ibidem, p. 140. 5 Ibidem, p. 144. 6 »Elena Gerhardt«, in: The Musical Times 55 (1914), pp. 9–11, here: p. 9.

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ficulties.7 The German-owned Bechstein Hall was taken over (to re-open as the Wigmore Hall in 1917) and for several years the German-language repertoire, not to mention German performers, was rarely heard on British stages. Gerhardt was not, though, inactive or politically neutral during the war. She sang in the United States until 1917, toured Denmark and Norway, and performed for German troops on the Western Front.8 After the war, she claimed she was reluctant to return to England because of a rumour that people walked out of concerts when they discovered Lieder were to be sung (she had already experienced some hostility on revisiting the United States).9 As it turned out, Gerhardt had no difficulty attracting an audience when she reappeared in London in 1922. »Devout crowds« apparently greeted her.10 Critic R.W.S. Mendl pointed out that while previously she would only have filled one of the smaller concert-halls, she now »had little difficulty in drawing 2400 people to hear her sing at the Queen’s Hall. Critics and public alike hastened to pay their tributes to the great artist«11. »Those who know the usual cold reception of the Lieder singer in Great Britain, will realise how popular this shows her to be«, reflected B.D. Wratten.12 It was not simply relief that wartime hostilities were finally over that prompted Gerhardt’s warm reception, although that surely played a part. British audiences were keen to hear someone of international standing (and, no less importantly, a native German speaker). They were also aware that a number of artists with personal links to the nineteenth-century tradition were disappearing: Nikisch had died earlier that year and Gerhardt’s voice was already beginning to show signs of age. «In listening to Elena Gerhardt [...] we hear the German Lied in its completely authentic form.«13 Thus began The Times review of her return to the 7 For more on British attitudes towards German music during World War One see Glenn Watkins, Proof Through the Night. Music and the Great War, Berkeley 2003, pp. 33–46. American responses to German culture during wartime have been written about more extensively, and while there are differences with the situation in Britain some themes are shared. A useful collection is Hans-Jürgen Schröder (Ed.), Confrontation and Cooperation. Germany and the United States in the Era of World War I, 1900–1924, Providence and Oxford 1993. 8 Gerhardt provides an account of her wartime activities in her memoir Recital, London 1953, pp. 71–73. 9 Ibidem, pp. 102 and 97. 10 Review: »Gramophone Notes«, in: The Musical Times 64 (1923), p. 410. 11 Robert William Sigismund Mendl, »Performance«, in: The Musical Quarterly 10/No. 4 (1924), pp. 532–545, here: p. 542. 12 Bernard D. Wratten, »A Gerhardt Recital«, in: The Gramophone 2 (1925), p. 394. 13 »Elena Gerhardt. Schubert’s Songs«, in: The Times, March 31, 1922, p. 10, Issue 42994, col. B.

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Queen’s Hall; her Wolf recital a few months later was declared »authoritative«14. Gerhardt was prized for those moments in which she revealed »her real self« and »old memories seemed at once to revive«. She sang Brahms’s songs as »they ought to sound«, it was said and, along similar lines: »When Gerhardt sings Schubert, Schubert sings for himself«.15 She was heard to hark back not only to her own pre-war self: on her lips, through her fingers, The Times critic gushed, the audience was granted access to German culture from a century earlier. The »real secret« of interpreting Lieder, which Gerhardt demonstrated, was »the personality of the artist, which cannot be told in words, but must be heard in her voice«16. Even as that began to fail her, »there remains an indefinable personal quality in her singing which gives an extraordinary authority to all her interpretations«17. It hardly needs to be stressed that »authenticity«, »authority«, and the »real« have remained powerful tropes in interpretations of Lieder performances ever since, however much we now hesitate when they appear in other discourses.18 Such difficult words have, of course, routinely been complicated by gender issues. In this instance, Gerhardt’s association with Nikisch occasionally served to undercut her authority as an interpreter, along well-travelled gendered lines. There was an assumption among some members of the press that Nikisch was a kind of Svengali to Gerhardt’s Trilby – one that lingered long after the conductor’s death in 1922. One defender complained, as late as 1929: »We are to suppose that Gerhardt is merely a mechanical automaton which Nikisch originally set in motion, and which has gone on working ever since obedient to this ghostly mainspring.«19 The larger problem – and this might surprise modern-day listeners to Gerhardt’s records – was one of lack of variation: »The critical listener who has heard her regularly is slightly oppressed by a kind of machine-made certainty in her performances. We know precisely, after a little, what Madame Gerhardt

14 »Elena Gerhardt. Hugo Wolf Programme«, in: The Times, May 20, 1922, p. 12, Issue 43046, col. C. 15 Wratten, »A Gerhardt Recital« (note 12), p. 394. 16 »Week-end Concerts«, in: The Times, May 12, 1924, p. 9, Issue 43649, col. C. 17 »Recitals of the Week. Mme. Gerhardt«, in: The Times, November 18, 1928, p. 14, Issue 48155 col. D. 18 Veit Erlmann argues that from 1918 onwards, musicological interest in listening resulted in a fixation on authorial intention; see Reason and Resonance. A History of Modern Aurality, New York 2010, p. 317. 19 Charles W. Orr, »A Tribute to Gerhardt«, in: Musical Times 70 (1929), pp. 815–816, here: p. 816.

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will do with any song.«20 The references to »machine-made« performances fit, as mentioned, into entrenched critical discourses around female singers.21 But another strand might be important here: that involving the gramophone. Particularly as technology improved and circulation widened, listeners increasingly compared live and recorded versions. By the 1920s, then, Gerhardt was not just being judged against her previous – for some, too consistent – concert appearances, but to her endlessly repeatable records.22 In other words, there was potential for people to hear a (live) machine – the recording angel, as Evan Eisenberg has it – begin to break down.23 Before considering Gerhardt’s recordings in more detail, an overview of her British reception during the interwar years will be helpful. My guide is one of her loyal followers, Lionel Bradley. Born in Lancashire, Bradley kept records of his concert-going from his schooldays through his undergraduate years at Oxford (when he often assigned singers marks in a donnish manner – α- and so on) until the end of the war, during which time he worked at the London Library.24 While Bradley’s musical tastes were varied, he made a point of hearing Gerhardt throughout the decades. He typically compared her performance with previous encounters (including on recordings) and paid close attention to her voice quality. At the Queen’s Hall on 12 May 1923 Gerhardt had taken a little while to warm up, but especially in the soft and delicate passages Bradley found her singing »more delightful than ever«. Two years later he found her »if possible more wonderful than ever. Some of her low pianissimo notes can only be described as ravishing«25. The repetition of »than ever« acknowledges that hearing Gerhardt was an ongoing project. Bradley was aware of the significance of the singer ageing. In 1936 he explained that he would forsake a concert by Artur Schnabel to hear Gerhardt

20 H. Julian Kimbell, »A Gerhardt Critic«, in: Musical Times 70 (1929), p.  1021, and Anon., »London Concerts. Singers of the Month«, in: Musical Times 71 (1931), p. 1131. 21 See for instance Heather Hadlock, Mad Loves. Women and Music in Offenbach’s Les Contes d’Hoffmann, Princeton 2000. 22 Daniel Leech-Wilkinson concludes, on surveying records from throughout Gerhardt’s career, that her interpretations remained in important aspects unchanged. Daniel Leech-Wilkinson, »Performance Style in Elena Gerhardt’s Schubert Song Recordings«, in: Musicae Scientiae 14 (2010), p. 57–84. 23 See Evan Eisenberg, The Recording Angel. Explorations in Phonography, New Haven 2006. 24 Bradley’s Bulletins, as they are known, are held in the Centre for Performance History at the Royal College of Music, London. 25 Bradley’s Bulletins, February 10, 1925.

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because »the voice doesn’t retain its power as long as the hands«26. On 14 January 1939 Bradley went to hear Gerhardt at the Wigmore Hall. His account is worth quoting at length: »I went to this recital from a sense of piety and with some misgivings. And my heart did sink at first to see her looking so much older, and with hollow lines by the nose and mouth. And yet she is not more than 55 (the three reference books which I have looked at vary between 1883 and 1886 as to the date of her birth). One had heard that her voice is uncertain and in the first few songs there seemed to be a danger that it would be so this afternoon – the long note, for instance on Ort in »Nun wandre Maria« was unsteady and a little harsh each time. But that soon passed and though the lovely quality of the voice is somewhat impaired and some subtleties may now be beyond her powers, still once she had gained command of herself (and for the first song or two, I notice that she had to apply her handkerchief to nose and eyes), the old mastery was apparent and her voice could ring out clearly at need and with hardly any perceptible trace of unsteadiness. Nor did she hesitate to repeat even the most exacting songs when she thought it was the pleasure of the audience to hear them again. Though the hall was not absolutely full, there was a better attendance than I had expected from reading the notices of the concerts she gave before Christmas, and there was great applause, tho[ugh] it did not become tumultuous or excessive.«27

Bradley goes on to describe the programme in detail, noting that the five Wolf songs she recorded seven years previously were »perhaps not quite so good as they were then, but there was not much loss«, although he thought her version of Und willst du deinen Liebsten sterben sehen better than Hüsch’s recording. Mörike’s Rat einer Alten now seemed to Bradley »pathetically appropriate«. (The song begins and ends with: »Bin jung gewesen, kann auch mit reden, und alt geworden, drum gilt mein Wort«.) Gerhardt assumed on the outbreak of the Second World War that her performing career was over: that, as with the previous war, British audiences would not tolerate German-language repertoire.28 However, attitudes were different this time round. After a brief hiatus, concerts began again in London, most notably at the National Gallery, in a series of lunchtime recitals run by pianist Myra Hess. With profits donated to the Musicians Benevolent Fund, the National Gallery Concerts ran from 10 October 1939 until 10 April 1946: 26 Bradley’s Bulletins, Entry for October 28, to November 12, 1936. 27 Bradley’s Bulletins, January 14, 1939. 28 See Gerhardt, Recital (note 8), p. 125.

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lunchtime concerts were given daily, with repeat performances on Tuesday and Thursday afternoons. Gerhardt appeared 22 times in all, typically alongside other performers. Bradley heard her Frauenliebe und Leben thrice, each time accompanied by Hess. Of the 1940 version he reported: »Gerhardt is singing now very much better than she did a few years ago. One or two declamatory passages showed that her voice is not quite as perfect as it once was. But the supreme art is still there and in songs which did not cause any vocal strain, all the old loveliness was present with an added subtlety of fully matured expression. For this reason the sixth song («Süsser Freund, du blickest«) was almost incredibly beautiful and so was the quiet ending of the last song in the cycle. In response to tremendous applause she gave us two encores. »Der Nussbaum« was sung nearly if not quite as beautifully as when I first heard it from her 17 years ago.«29

Enthused after the 1941 Frauenliebe Bradley claimed, »Gerhardt can still knock spots off most singers of only half her years and cares«: »The voice cannot be quite what it must have been 30 years ago, but age has only deepened the art and expressiveness. Whatever lack of control impaired her singing in recent years seems now to be gone and though it was her quiet singing of the sixth and eighth songs which was the most magical, her voice rang out clearly enough in the more exultant songs.«30

Four years later he admitted that »it would be idle to pretend that Mme Gerhardt has retained her full beauty of voice [...] [but] it is only by comparison with her own past that one can even say that the beauty of voice has diminished«31. Again, we have a listener comparing Gerhardt to his memories of earlier performances – from as far back as seventeen years ago, acknowledging that she was not what she was, but divining something »supreme« and »magical« from certain passages. The admission that it is only by comparison to her own past that her voice seemed less beautiful graciously accords Gerhardt an exalted position. The National Gallery concerts drew large audiences, many of whom, like Gibbons’s Margaret Steggles, would not normally have attended recitals. While several singers presented Lieder (including Roland Hayes and a young Peter Pears), Gerhardt was particularly popular. Bradley could not get a seat 29 Bradley’s Bulletins, May 21, 1940. 30 Bradley’s Bulletins, November 10, 1941. 31 Bradley’s Bulletins, March 15, 1945.

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with a view on 18 March 1942, but was content: »I didn’t really hear any of these songs but it gave me a nostalgic pleasure to be listening to her again even in such unfavourable circumstances and so far as I could judge her voice was in very good form, with clear ringing notes, and she was singing as well as ever.«32 Nostalgic pleasure. We are back to the cultured hausfrau who was once a round-faced girl of twenty, to memories of a Germany now lost forever. The Times had noted of a Wigmore recital Gerhardt gave that year that she had attracted a »prewar audience« who knew German songs.33 On 31 January 1946, Bradley remarked that the Wigmore was packed with faces »one rarely sees in concert halls nowadays, men with bald heads and women with grey hair and an old fashioned coiffure who may well have heard Gerhardt when she was in her youthful prime over 30 years ago«34. She had chosen songs in which she felt safe, he complained, but then her voice had lost its freshness. »It wasn’t quite unalloyed pleasure«, Bradley conceded: »I’m not sorry I went, but I may feel nervous about the next occasion«35. In fact he had been feeling nervous about going to hear Gerhardt for over two decades. The balance between nerves and nostalgia, on listening to Gerhardt through the ages, was tipped towards the latter by the fixity of recordings. Desmond Shawe-Taylor explained that one reason he valued Gerhardt’s records was that they reminded him of attending her concerts.36 Among her most famous sets of recordings were eight songs from Winterreise, made in 1927 and released the following year. Gerhardt was one of several singers who recorded at least part of the cycle in celebration of the Schubert centenary (which incidentally was also taken as an opportunity for record companies to showcase their new electrical recordings). Unusually for the period, her decision to sing Winterreise raised questions about gender-appropriate performances.37 Of one of her live renditions, The Times doubted »whether any woman’s voice can convey to the full this sustained outcry of despair, descending at last into madness, wrung from an outraged sensibility«38. Gerhardt disagreed that it was a man’s cycle: 32 33 34 35 36

Bradley’s Bulletins, March 18, 1942. Bradley’s Bulletins, November 3, 1942. Bradley’s Bulletins, January 31, 1946. Bradley’s Bulletins, January 31, 1946. Desmond Shawe-Taylor, »Elena Gerhardt and the Gramophone«, in: Gerhardt, Recital (note 8), pp. 168–180. 37 Attitudes towards gender-appropriate performances were generally much more fluid; see Laura Tunbridge, The Song Cycle, Cambridge 2010, pp. 50–63. 38 »Recitals of the Week. Mme Gerhardt«, The Times, November 17, 1927, p.  12, Issue 46606 col. C.

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»It expresses unhappy love, despair and a complete resignation to the fact that life may not hold anything more worth living for. Why should a woman, who is capable of understanding these emotions, not be able to perform it? For me, the psychology of this cycle is that of unhappy love in general, and does not depend on a particular masculine or feminine approach.«39

Life experience, however, was still gendered, as is apparent on comparing the reception of Gerhardt’s version of Der Leiermann to another from that year, by the 78-year-old George Henschel.40 Both recordings can be listened to on the CHARM (Centre for the History and Research of Recorded Music) website hosted by the University of London.41 Henschel accompanies himself and stays close to the microphone, like one of the newly fashionable American crooners.42 His words are almost slurred and he slips into triplets for the line »und die Hunde knurren um den alten Mann«, as if mimicking the dog’s movements. Henschel’s record seems to support Jonathan Sterne’s claim that through recordings »listening became more directional and directed, more oriented towards constructs of private space and private property«43. This was a performance if not played at then certainly to be heard at home where, as Ivor Novello described: »In the studied seclusion of your own room, belonging to you, evocative of you, with nothing extraneous, nothing disturbing, no risk of interruption on the part of temporarily alien surroundings or people, you may dredge your soul to its depths, drown your senses and cultivate, as cruelly as you care, your thoughts, master of the music that plays at your will and at your pleasure.«44

By contrast, Gerhardt stands at a greater distance from the microphone and her consonants are better projected. We can imagine her in a large venue, 39 Gerhardt, Recital (note 8), p. 163. 40 For more on Henschel see George S. Bozarth, Johannes Brahms and George Henschel. An Enduring Friendship, Sterling Heights/Michigan 2008. 41 http://www.charm.rhul.ac.uk/sound/sound.html (accessed April 17, 2012). 42 Crooning in popular song developed in response to the new microphone; for more, see Allison McCracken, Real Men Don’t Sing. Crooning and American Culture, 1928–1933, PhD University of Iowa 2000, and Jonathan Ross Greenberg, Singing Up Close. Voice, Language and Race in American Popular Music, 1925–1935, PhD University of California Los Angeles 2008, pp. 97–137. 43 Jonathan Sterne, The Audible Past. Cultural Origins of Sound Production, Durham/N.C. 2003, p. 24. 44 Ivor Novello, »My gramophone«, in: The Gramophone 1 (1924), p. 157.

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such as the Queen’s Hall, singing to thousands. Hers is a public, rather than a private, performance: although much younger than Henschel, Gerhardt’s approach belongs more to Lieder performance practice of the mid to late nineteenth century than that of the recording era. There is a stronger sense that she is performing a role or adopting a fictional persona. Both recordings take the final verse more slowly. It is the end of the song, the end of the cycle; it was the end, for Gerhardt at least, of the recording session.45 It is also a moment of apostrophe, in which the song’s protagonist directly addresses the hurdy-gurdy man. At »Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehn?« the regular alternation between voice and piano is upset.46 Unlike in the first two verses, the piano here does not just provide a drone when the voice sings, but continues to play its melodic figuration. The voice, meanwhile, sings largely on one note until the last line, »Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?«, when it leaps up the octave. Gerhardt fails to cover the leap from chest voice; she falls short of the octave.47 She slows to almost double-time on that final phrase, the vocal line threatening to decouple entirely from the piano part. These final phrases stand out as a moment when, not only through the apostrophe of the poem but through the performance, the »ich« reveals itself – here as tired, old, and female. The revelation of Gerhardt’s weaknesses were detected by reviewers, who heard her voice as not »so fresh, so resonant, so reliable«48. Henschel was much older than Gerhardt but was celebrated as a »veteran«; he was said to do »equally well today all that he did to the admiration of the world over half a century ago«49. There is a confluence of factors at play here, including gender and technology. The positive response to Henschel’s »crooning« indicates the extent to which, through recordings, Lieder performance became ever more bound up with notions of intimate performance and intimate listening. By 1928 Gerhardt’s audience seemed to be dwindling, with critics detecting variation in her vocal abilities almost on a week-by-week basis, some expressing uncertainty about whether she would get through her advertised programmes.50 She was established as a teacher, and her recordings – albeit imperfect in some 45 See Leech-Wilkinson, »Performance Style in Elena Gerhardt’s« (note 22). 46 See Rufus Hallmark, »The Literary and Musical Rhetoric of Apostrophe in Winterreise«, in: 19th-Century Music 35/No. 1 (2011), pp. 3–33, here: p. 18. 47 See Leech-Wilkinson, »Performance Style in Elena Gerhardt’s« (note 22). 48 Hermann Klein, »The Gramophone and the Singer«, in: Gramophone 5 (1928), p. 5. 49 Ibidem. 50 »Recitals of the Week. Miss Elena Gerhardt«, in: The Times, April 20, 1928, p. 14, Issue 44872, col. D, and »Recitals of the Week. Mme. Elena Gerhardt«, in: The Times, March 25, 1928, p. 19, Issue 44539, col. E.

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respects – were also treated as pedagogical tools. There was a long-standing practice in the concert hall of singers repeating well-liked numbers on the spot, and now record buyers were encouraged to listen to discs repeatedly. While all conceded that her voice could no longer do everything it used to, she was still considered an authority on what, for better or worse, we might call »authentic« Lieder performance.51 On top of Gerhardt’s interpretative abilities »her diction is an education in itself« proclaimed one HMV advert.52 The impact of early recordings on perceptions of time has, of course, been much discussed. According to Jonathan Sterne, the archival potential of the phonograph was swiftly recognised: early recordings were – famously – conceptualized as preserving the voices of the dead, as a kind of acoustic embalming.53 The heightened awareness of history evident in the reception of Gerhardt during the interwar period suggests that hers was simply one more voice to be archived. I would argue, though, that the technological developments of the interwar period also encouraged listeners to reconceive recordings as preserving the voices of the living. A higher quality of voice reproduction was made available through the advent of electrical recording and the invention of the microphone, allowing for a (slightly) more immediate connection between voice and listener.54 For example, a reviewer of Gerhardt’s discs for the Hugo Wolf Society commented: »The recording of the human voice in song has become sufficiently exact for the listener (who must know, of course, how to choose a good instrument and the right quality of needle) to be able safely to take it for granted that idiosyncrasies belong to the artist rather than to the mechanics of reproduction ... The quality of these records, then, is personal to Madame Gerhardt, as indeed we know it to be, from memories of her recitals.«55 51 »Mme. Gerhardt. Anniversary Recital at Wigmore Hall«, in: The Times, February 6, 1932, p. 10, Issue 46050 col. C. 52 »The Art of Elena Gerhardt«, December 1929. 53 Jonathan Sterne, The Audible Past. Cultural Origins of Sound Production, Durham and London 2003, p. 288, see also Jason Stanyck and Benjamin Piekut, »Deadness. Technologies of the Intermundane«, in: TDR. The Drama Review 54 (2010), pp. 14–33, and Hans-Ulrich Gumbrecht, In 1926. Living on the Edge of Time, Cambridge/Mass. 1997, p. 69. 54 See Michael Chanan, Repeated Takes. A Short History of Recording and its Effects on Music, London 1995. Also significant for Lieder singers was that piano rather than orchestral accompaniments became more viable. 55 Sc.G., »Gramophone Records«, in: Music and Letters 14/No.  2 (1933), pp.  195–198, here: p. 197.

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Gerhardt is judged not only according to the medium through which she is heard, but also in comparison to experiencing her live. An aura of nostalgia – to borrow from Walter Benjamin – may have lingered around her recordings, but rather than an archive this was a living museum, against which all manner of musical experiences could be compared.56 Perhaps the better analogy is to a lending library. As records became less expensive and no longer so vulnerable to damage, they could be more easily collected:57 One could now hear great artists at will, rejoiced Novello: their records are »in my library and [I can] take [them] down and listen to [them] whenever I wish, just as a bibliophile handles his volumes«58. As Sophie Maisonneuve has discussed, a new musical literature sprang up around recordings, supported by journals devoted to the gramophone and accompanying programme notes.59 Listeners were encouraged to read the lyrics or even the scores of songs when they played records. Increasing attention was thus paid to the actual performance as well as its preservation. We have, then, the first stirrings of the score-based approach to musical works that musicologists typically take as their model today – and that is sometimes critiqued by those investigating historical performance.60 Despite recent scholarly interest in analyzing recordings, they have most often been treated sui generis, rather than being situated within the context of the musicmaking that took place around them: within what David Edgerton would call a use-centred history.61 Yet this is to overlook the complex relationships between different modes of performing and listening, of which interwar audiences were well aware. Although some commentators claimed that audiences for concerts were distinct from the public who bought gramophone records (typically, along generational lines), and an increasing number of people ex56 Walter Benjamin, »The Work of Art in the Age of Mechanical Reproduction (1936)«, in: The Work of Art in the Age of Mechanical Reproduction, London 2008, pp. 1–50. 57 »Gerhardt’s records are now pearls of cheap price, but, as ever, priceless«, eulogized one reviewer of her Der Musensohn and Morgen recording with Harold Craxton (Vocalion B3112), which cost four shillings. The Gramophone 2 (1924), p. 217. 58 Ivor Novello, »My gramophone«, in: The Gramophone 1 (1924), p. 157. 59 Sophie Maisonneuve, »Between History and Commodity. The Production of a Musical Patrimony through the Record in the 1920–1930s«, in: Poetics 29 (2001), pp. 89–108, here: pp. 94–95. 60 See for example Nicholas Cook, »The Ghost in the Machine. Towards a Musicology of Recordings«, in: Musicae Scientiae 14/No. 2 (2010), pp. 3–22. 61 David Edgerton, Shock of the Old. Technology and Global History since 1900, London 2008. Arved Ashby discusses the changing contexts for talking about recordings in: Absolute Music, Mechanical Reproduction, Berkeley 2010.

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pressed a preference for listening to music in their own home, live and recorded performances did not exist in separate spheres.62 Daniel Leech-Wilkinson advocates comparing recordings from different ages as a means of gaining insight into changes in performance styles, and attitudes towards the ontology of musical works. He has commented extensively on the »strangeness of performance styles from the distant past« and uses as examples of this the peculiarities of Gerhardt’s timbre, vibrato, scoops, portamento, tuning and rubato.63 Leech-Wilkinson struggles to understand why audiences responded to Gerhardt positively, asking: »Was her performance always appalling, and was everybody who admired her so wrong? Or is it just taste has changed?«64 Leech-Wilkinson concludes that old styles such as Gerhardt’s sound strange to us now, because they come from a distant, alien culture.65 As will already be evident, interwar British audiences and critics were not uncritical of Gerhardt, and her singing was not to everyone’s taste. Age, again, had its part to play. Some thought her abilities had weakened. According to Mendl, were she not so famous, the public and critics might have disapproved of »the extent to which the post-war Gerhardt dragged the tempos in the slower songs and the unwelcome appearance of a ›vibrato‹«66. Another critic confessed: »It is daring to criticise Gerhardt’s singing, but, greatly moving as her record [of Von ewiger Liebe] is, doesn’t she use rather a lot of vibrato?«67 Her intonation was also cautiously criticised: »Elena Gerhardt’s record of ›Auf dem Wasser‹ [HMV DB916] is one of her very best [...] There is only one defect, I think, which, however, it will take some time to be reconciled to, and to ignore – the sustained note near the end of each verse is never quite in tune.«68 62 John F. Porte, »Julia Culp. A Great Lieder Singer«, in: The Gramophone 5 (1927), p. 35. 63 Daniel Leech-Wilkinson, »Performance Style in Elena Gerhardt’s Schubert Song Records«, in: Musicae Scientiae 14 (2010), pp. 57–84. 64 See Daniel Leech-Wilkinson, The Changing Sound of Music. Approaches to Studying Recorded Musical Performance, London 2009, and »Listening and Responding to the Evidence of Early 20th Century Performance«, in: Journal of the Royal Musical Association 135 (2010), pp. 45–62. 65 Daniel Leech-Wilkinson, »Listening and Responding to the Evidence of Early Twentieth-Century Performance«, in: Journal of the Royal Musical Association 135 (2010), pp. 45–62. 66 Ibidem. 67 K.K., »Songs«, in: The Gramophone 4 (1926), p. 79. 68 Ibidem.

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Several listeners noted that it could take Gerhardt a while to warm up, that she tended to tire during the course of her programmes, and that she could not always keep pitch in forte passages: there was also »a mannerism or two that one could wish away«69. Even Bradley acknowledged that »more vigorous and strident songs, though they suit her statuesque appearance, are less completely pleasing since they bring the fear of roughness and harshness which is indeed, on powerful top notes, only just avoided«70. Still, many advocated that Gerhardt be recorded, as »already time is beginning to tell«71. Compton Mackenzie acknowledged that Gerhardt »is a difficult singer for the gramophone« but did not think it »quite fair, as some of my correspondents have done, to blame the recordings«.72 A 1923 review of Strauss’s Ständchen for Aeolian-Vocalion Company describes the singing as effortless, »save at one high note [...] where we are reminded that Gerhardt made her début a long time ago«73. Ten years later, a comparison of Gerhardt with Elisabeth Schumann acknowledged that Gerhardt’s breathing was frequently audible, while Schumann’s was not: »Perhaps, however, this is hardly a fair comparison, considering that Madame Schumann must be the younger of the two by a good many years.«74 Gerhardt, it seems, was always heard as a historical subject. She was associated with nineteenth-century repertoire and previous generations of musicians. The interruptions in her career lead to her always being heard as someone returning to the stage. And then, her recordings were never treated as perfect: they documented but did not define her. If what seem now to be »appalling« weaknesses were forgiven, perhaps, as well as the provisional nature of recordings, it was because of a latent anxiety, in the interwar period, about time running out for everybody. Leech-Wilkinson concedes that further interference to our understanding of listening to historical recordings comes from the limitations of their technological mediation: he instructs us »to fall back on our imaginations and try to listen through the [surface] noise and through all the other distortions of

69 »Elena Gerhardt. Schubert’s Songs«, in: The Times, March 31, 1922, p. 12, Issue 42994, col. B. 70 Bradley’s Bulletins, May 12, 1923. 71 Letter to the Editor from Orlo Williams, in: The Gramophone 3 (1925), p. 227. 72 The Editor, »Review of the Last Quarter of 1923«, in: The Gramophone 1 (1923), pp. 147–152, here: p. 149. 73 Review: »Gramophone Notes«, in: Musical Times 64 (1923), p. 410. 74 Letter to the editor from Esmé E. Greaves, »Gerhardt and Schumann«, in: The Gramophone 10 (1933), p. 307.

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pitch and colour«75. He observes that listeners in the interwar period had to use their imaginations too: while every improvement was noted, so too were the imperfections of early recordings. But Leech-Wilkinson does not extend that observation to a broader historical context. It is apparent that previous generations of listeners also experienced recordings as highly – and unfortunately – mediated, and what is more, they shared some of our objections to Gerhardt’s performance style. Although Sterne cautions, while we can have access to artefacts, we can only presume the existence of an auditory past, maybe the record’s surface noise should not be taken as a symbol of historical alienation but as a way to connect with listeners from previous generations.76 The hiss of history, if you will, may be distracting, but communicates a richer story about the way in which Gerhardt was heard through the ages.

75 Leech-Wilkinson, The Changing Sound of Music. Approaches to Studying Recorded Musical Performance, London 2009, Chapter 3, Paragraph 30: http://www.charm.rhul.ac.uk/ studies/chapters/chap3.html#d2271e8531 (accessed September 28, 2011). 76 Sterne, The Audible Past (note 43), p. 19.

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Frauen in der experimentellen Musik: Kreativität in Nischen? Fragwürdigkeiten in der Darstellung von Musikgeschichte der Gegenwart

In der Musikgeschichtsschreibung des 20. und 21. Jahrhunderts beruht die Rubrik »experimentelle Musik« nicht auf einer eindeutig festgelegten künstlerischen Klassifizierung. Die vielleicht bekanntesten Konzepte des Experimentellen in der Kunst und Musik beziehen sich auf die »Unkalkulierbarkeit des [Material]-Gebrauchs«1 oder auf Cages Nichtvorhersagbarkeit des Resultats (einer Aufführung) im Gegensatz zu den produktiven Entscheidungen und Festlegungen in der Musik. Cage formulierte: »[...] the word ›experimental‹ is apt, providing it is understood not as descriptive of an act to be later judged in terms of success and failure, but simply as of an act the outcome of which is unknown.«2 Die Definition von »experimenteller Musik« ist also oft vage und uneinheitlich, bezieht sich aber häufig auf kompositorische oder interpretatorische Konzepte, die vom traditionellen Modell des komponierten und in der Partitur festgelegten sowie in der Aufführung nach der Partitur wiedergegebenen musikalischen Werkes absehen.3 Diese Situation hat dazu geführt, dass Komponistinnen und Komponisten auch dann zur »experimentellen Musik« gezählt werden, wenn sie sich nicht eindeutig künstlerisch verorten 1 Gunter Gebauer, »Wissenschaftliche Experimente und experimentelle Kunst«, in: Das Experiment in Literatur und Kunst, hg. von Siegfried J. Schmidt, München 1978 (Grundfragen der Literaturwissenschaft 3), S. 25. 2 Vgl. John Cage, »Experimental Music. Doctrine«(1955), in: ders., Silence. Lectures and Writings by John Cage, Hanover 1973, S. 13. 3 Vgl. dazu Sabine Feißt, Der Begriff ›Improvisation‹ in der neuen Musik, Sinzig 1997 (Berliner Musik Studien 14), S. 115–155, sowie Hermann-Christoph Müller, Zur Theorie und Praxis indeterminierter Musik. Aufführungspraxis zwischen Experiment und Improvisation, Regensburg 1994 (Kölner Beiträge zur Musikforschung 179). Vgl. dazu auch Susanne Kogler, »Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Kunst. ›Experiment‹ als ästhetische Kategorie in Moderne und Postmoderne«, in: Kunst und Wissen in der Moderne. Otto Kolleritsch zum 75. Geburtstag, hg. von Andreas Dorschel, Wien u. a. 2009, S. 71–81.

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lassen. Das Etikett »experimentelle Musik« ist somit auch ganz unterschiedlichen künstlerischen Richtungen gegeben worden, ohne im Einzelnen ihren experimentellen Arbeitsansatz auszudifferenzieren. Dies trifft insbesondere auf Komponistinnen zu, die gerne in das Sammelbecken »experimentelle Musik« aufgenommen wurden, dort jedoch ohne ausführliche und angemessene Beachtung wie in einer Nische verblieben sind. Angesichts weltweit aktiver Komponistinnen und Künstlerinnen wie zum Beispiel Laurie Anderson, Meredith Monk, Pauline Oliveros oder Yoko Ono ist jedoch nicht davon auszugehen, dass mit der »experimentellen Musik« für Frauen eine kreative Nischenkultur gegeben war. Abgesehen von der Indifferenz der Rubrik »experimentelle Musik« gibt es jedoch weitere Kriterien, die eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den genannten Künstlerinnen und weiteren »experimentellen Komponistinnen« kaum begünstigt haben. Da »experimentelle Musik« zudem häufig gleichgesetzt wurde mit unkonventionellen künstlerischen Arbeitsweisen von amerikanischen Künstlern – ausgehend von Cage sind etwa zu nennen Earle Brown, Christian Wolff, Alvin Lucier, La Monte Young, Gordon Mumma oder Robert Ashley, um nur einige herausragende Namen anzuführen4 –, trägt auch eine akademische, direkt oder indirekt anti-amerikanische musikwissenschaftliche Betrachtung der neuen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts ebenfalls dazu bei, »experimentelle Musik« noch immer als Randgebiet aufzufassen. Auch dies führt dazu, dass Künstlerinnen der »experimentellen Musik« und ihre Werke selbst in Kreisen wohlinformierter Kenner neuer Musik nur grob oder gar nicht bekannt sind beziehungsweise in der Regel selten oder gar nicht thematisiert werden. Musikästhetik und Musikkritik, Diskurskritik und kulturmoralische Profilierung (häufig von Kollegen, die offenbar besser wissen, wie die musikalische Vergangenheit hätte sein sollen und wie die kompositorische Zukunft auszusehen hat), greifen hier oft genug ineinander, um die aktuelle Musikgeschichtsschreibung zu lenken und die Kanonbildung zu bestimmen.5 Sofern eine künstlerische Arbeit nicht einzuordnen ist, wird sie einer »anderen« Musikkultur zugewiesen, die dann im Grunde genommen irrelevant erscheinen soll (es ist nur beispielsweise auf die entsprechenden aktuellen Handbücher der Musikwissenschaft hinzuweisen, dort wird dies mehr als deutlich). Selbst im Handbuch über »Experimentelles Musik- und Tanzthe4 Vgl. Michael Nyman, Experimental Music. Cage and Beyond, 2. Aufl., Cambridge 1999. 5 Vgl. etwa Jean-Noël von der Weid, Die Musik des 20. Jahrhunderts. Von Claude Debussy bis Wolfgang Rihm, Frankfurt a.  M. und Leipzig 2001. Vgl. auch Max Paddison und Irène Deliège (Hgg.), Contemporary Music. Theoretical and Philosophical Perspectives, Farnham und Burlington 2010.

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ater« von 2004 gibt es keinen Eintrag zu Laurie Anderson oder Meredith Monk, geschweige denn zu Pauline Oliveros oder gar zu Yoko Ono.6 Im 2009 erschienenen »Research Companion to Experimental Music« hat man neben 22 Autoren eine einzige Frau ( Jennifer Walshe) zu Wort kommen lassen.7 Um die Positionierung von Komponistinnen und Musikerinnen in der »experimentellen Musik« konkreter zu bestimmen, ist daher zunächst nochmals kurz der Blick auf die Rubrik selbst zu wenden. »Experimentelle Musik« zeigt – wie bereits angemerkt wurde – unterschiedliche Definitionen und Ausprägungen, die auch unterschiedliche Diskurse hervorgebracht haben. Dabei gibt es Betrachtungsweisen, die im Grunde genommen fast als gegensätzlich zu bezeichnen sind. Klare Gegensätze zeigen sich beispielsweise in der Polarisierung zwischen einer naturwissenschaftlichen Auffassung des Experimentellen, abgeleitet vom Experiment im Sinne einer erkenntnisgeleiteten, rational geplanten und durchgeführten Forschungsmethode, und dem Experimentellen, das sich auf Konnotationen des Experiments im Sinne spezieller Erfahrungsfelder oder im Sinne besonderer Erfahrungsräume zurückführen lässt.8 In der »experimentellen Musik« des 20. und 21. Jahrhunderts wird diese Polarisierung evident in der Separierung einerseits von kompositorischen Zielsetzungen, die im weitesten Sinne innovative Klangforschung betreffen (hauptsächlich im Umfeld elektroakustischer Musik und Computermusik), und andererseits in kompositorischen Zielsetzungen, die ausgehend von Cage neue Aufführungs- und Hörerfahrungen betreffen (die zugehörigen Schlagworte sind beispielsweise Aleatorik, Indetermination, Intuition, Ritual oder Spiel). Diese eben skizzierte kontrastreiche Auffassung von »experimenteller Musik« lässt sich gut terminologisch belegen, wie in Christoph von Blumröders Artikel zur »experimentellen Musik« im »Handwörterbuch der musikalischen Terminologie« nachzulesen ist.9 Allerdings muss eingeschränkt werden, dass mindestens die Separierung der beiden erwähnten Pole Klangforschung und Herausforderung neuer Hörerfahrungen kaum den allgemeinen realen künstlerischen Ambitionen entspricht. Klangforschung ist in der 6 Frieder Reininghaus und Katja Schneider (Hgg.), Experimentelles Musik- und Tanztheater, Laaber 2004 (Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert 7). 7 Vgl. James Saunders (Hg.), The Ashgate Research Companion to Experimental Music, Farnham u. a. 2009. 8 Der Begriff »experientia« umfasst sowohl Versuch und Probe als auch Erfahrung und Kenntnis, vgl. dazu Albert Sleumer, Kirchenlateinisches Wörterbuch, Lüneburg a. d. Lahn 1926, Nachdruck Hildesheim 1996, S. 319. 9 Christoph von Blumröder, Art. »Experiment, experimentelle Musik«, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, hg. von Albrecht Riethmüller, 9. Auslieferung, Stuttgart 1981/1982, S. 1–23.

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Regel auch mit der Schaffung oder Herausforderung neuer Hörerfahrungen verbunden (ausgezeichnete Beispiele sind viele Werke Stockhausens). Umgekehrt gilt ebenfalls, dass offene und unbestimmte Aufführungssituationen auf völlig rational durchstrukturierten Klangexperimenten beruhen können, wie etwa in den letzten Jahrzehnten die Versuchsanordnungen des Klangkünstlers Alvin Lucier gezeigt haben.10 Es ist also zunächst einmal festzuhalten, dass eine hauptsächlich terminologische und diskursive Polarisierung in der »experimentellen Musik« vorhanden ist. In dieser Dichotomie etwa zwischen rationalem Denken und Intuition, Konstruktion und Indetermination, Erkenntnis und Erfahrung etc. lassen sich unschwer auch Stereotype des Geschlechterdualismus erkennen, zumindest vor dem Hintergrund der westlich-europäischen Kulturgeschichte.11 Die »experimentelle Musik« geht jedoch in dieser Dichotomie nicht auf, wie bereits gezeigt wurde; insofern ist die Rubrizierung von Komponistinnen und Komponisten im Sinne einer einfachen Zuteilung von Klangforschung gleich Arbeitsbereich für Männer oder für männliche Frauen und Schaffung offener und intuitiver Aufführungs- und Hörsituationen gleich Arbeitsbereich von Frauen oder von weiblichen Männern nicht sinnvoll und nicht angemessen, obwohl genau diese Zuteilung nicht selten unüberlegt (und unausgesprochen) vorgenommen wird. Es ist klar, dass gerade in der elektroakustischen und elektronischen Musik beziehungsweise Klangforschung Frauen noch immer unterrepräsentiert sind, dass sich Frauen in diesem Bereich noch immer einer besonderen Bewährungsprobe zu unterziehen haben (weil ihnen die Professionalisierung auf diesem Gebiet häufig nicht zugetraut oder zugestanden wird). Kirsten Reese und Tatjana Böhme-Mehner haben dies in ihren Beiträgen im Sammelband »Performativität und Performance. Geschlecht in Musik, Theater und MedienKunst« (2008) sehr instruktiv dargestellt und diskutiert, und jüngst hat dies auch sehr eindrucksvoll Tara Rodgers in ihrem Buch »Pink Noises. Women on Electronic Music and Sound« belegt.12 In diesem Fall be10 Vgl. Alvin Lucier, Reflections. Interviews, Scores, Writings 1965–1994/Reflexionen. Interviews, Notationen, Texte, 1965–1994, hg. von Gisela Gronemeyer und Reinhard Oehlschlägel, Köln 1995 (Edition MusikTexte 3). 11 Vgl. dazu Anne-Charlott Trepp, »Diskurswandel und soziale Praxis. Zur These von der Polarisierung der Geschlechter seit dem 18. Jahrhundert«, in: Geschlechterpolaritäten in der Musikgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, hg. von Rebecca Grotjahn und Freia Hoffmann, Herbolzheim 2002 (Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Musik 3), S. 7–17. 12 Vgl. Kirsten Reese, »Geschlechtslose elektronische Musik? PerformerInnen am Laptop« sowie Tatjana Böhme-Mehner, »Negation und Wiedereinführung der Interpretation – Negation und Wiedereinführung von Subjektivität und Geschlecht. Elektro-

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stätigen also die realen Verhältnisse einen Teil der Diskurse und ein Teil der Diskurse wirkt sich auf die realen Verhältnisse (noch immer) aus. Bevor im Folgenden auf drei Künstlerinnen der »experimentellen Musik« und hauptsächlich auf ihre Positionierungen im bislang aufgespannten diskursiven Rahmen eingegangen werden soll, sind einige allgemeine Einschätzungen und Urteile über »experimentelle Musik« zu ergänzen, womit nochmals an den Anfang meiner Ausführungen erinnert werden kann. Mit dem Experimentellen in der Kunst und in der Musik sind viele Aspekte verbunden, die die gängigen Werte der musikalischen Produktion im Rahmen der »Western Art Music« zu kritisieren, zu torpedieren oder zu unterlaufen drohten und drohen. Die Anwürfe gegen »experimentelle Musik« bewegten und bewegen sich etwa zwischen dem Vorwurf, den Werkbegriff außer Kraft zu setzen, ästhetische Regression zu befördern, künstlerische Verantwortung (und Autorschaft) abzulehnen oder zu negieren, keine vollendete Kunst zu schaffen, sondern nur Versuche anzustellen, die sowohl das Material als auch die Rezeption betreffen, sowie Laien einzubeziehen (womit eine Subversion des Geniebegriffs verbunden ist). Wurde und wird John Cage als zentrale Figur der Avantgarde noch positiv eingeschätzt, so ergießt sich der Spott in aktuellen Stellungnahmen auf seine vermeintlichen Epigonen, wie etwa im folgenden Zitat: »Cages Dispositiv [in Variations I, indeterminiertes Stück] zeichnet sich durch die Präzision der Fragestellung aus und ist insofern ein überzeugendes ästhetisches Äquivalent zur wissenschaftlichen Form des Experiments. Von den zahllosen Nachahmungsprodukten, die bis heute von dieser Ursprungsidee [bei Cage] leben, lässt sich das nur bedingt sagen. Geboren eher aus der Abwesenheit von formalem Denken als aus der Fähigkeit, konzeptionelle Offenheit positiv zu definieren, stehen die meisten der Improvisation näher als dem Experiment.«13

In den folgenden Betrachtungen sind demnach die Selbstpositionierungen der Künstlerinnen zu konfrontieren mit Aussagen über sie und Aussagen und Kommentaren zu ihrem Schaffen (in Relation zu den erwähnten Aspekten akustische Musik zwischen technizistischem Schaffensakt und Interpretationskunst«, in: Performativität und Performance. Geschlecht in Musik, Theater und MedienKunst, hg. von Martina Oster, Waltraud Ernst und Marion Gerards, Hamburg 2008 (Focus Gender 8), S. 99–109 und S. 110–118, und Tara Rodgers, Pink Noises. Women on Electronic Music and Sound, Durham und London 2010. Vgl. auch Organised Sound 8/1 (2003), (Themenheft zu »Gender in Music Technology«). 13 Max Nyffeler, »Experiment – Schlagwort und Metapher. Zur problematischen Übertragung des Begriffs aus der exakten Wissenschaft in die Kunst« (2007): http://www. beckmesser.de/themen/experiment.html (Zugriff: 02.03.2011).

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»experimenteller Musik«, auch wenn die Rubrizierung zu diesem Genre in Kommentaren nicht explizit vollzogen wird, sondern manchmal nur indirekt aus ihnen abgeleitet werden kann). Die drei Künstlerinnen, auf die eingegangen werden soll, sind die amerikanische Vokalartistin, Komponistin und Regisseurin Meredith Monk, die amerikanische Komponistin und Musikerin Pauline Oliveros und die neuseeländische Komponistin und Klangkünstlerin Annea Lockwood. Alle drei werden der »experimentellen Musik« zugerechnet. Ferner haben sie gemeinsam, sich intensiv mit Klangforschung zu beschäftigen, wobei Oliveros und Lockwood zu den Hauptvertreterinnen elektroakustischer Musik zählen, jeweils mit etwas anderen Ausrichtungen und Interessen. In der lange Zeit repräsentativen musikhistorischen Darstellung zur neuen Musik von Ulrich Dibelius »Moderne Musik nach 1945« (in der erweiterten Neuausgabe von 1998) findet man immerhin kurze Einträge zu Pauline Oliveros und Meredith Monk. Dibelius hat die Spezifik ihrer Live-Präsentationen betont: »Ihre eigenste, emanzipatorische Domäne haben darin aber die amerikanischen Performance-Künstlerinnen entdeckt. Vielleicht, weil diese vielfältig konzentrische Form der Selbstverwirklichung durch Singen, Spielen, Tanzen, Agieren am ehesten ein Äquivalent gegen lange gesellschaftliche und vor allem künstlerische Unterdrückung zu bieten scheint. Vielleicht aber auch, weil das umfassende Exponieren der eigenen Physis dem weiblichen Naturell am sinnfälligsten entspricht und zugleich jede Konkurrenz im Vorhinein ausschließt. Die Auswahl an Spielarten ist dabei jedenfalls relativ groß und individuell reich gestaffelt. Um die Hauptachse der Vokalexpression angesiedelt, reicht sie von dem eher meditativen, séancehaften Ausforschen und Abhorchen der eigenen Stimme bei Pauline Oliveros [...] bis zu den effektvoll aufgeputzten Selbstinszenierungen der Laurie Anderson [...] mit einem krausen, sehr amerikanischen Themenkatalog [...]. Dazwischen gibt es Multimedia-Begabungen wie die in Gesang, Tanz, Schauspiel, Regie gleich bewanderte Meredith Monk [...], die bei ihrem behenden Umgang mit vokalen Mitteln an ›Tänze für die Stimme‹ denkt und das dabei aufgedeckte Emotionsrepertoire für vielfältiger hält, als es Worte je auszudrücken vermögen.«14

Man möchte es Hilflosigkeit und Unvermögen nennen, aber es wird durchaus deutlich, dass diese Darstellung auch impliziert, den künstlerischen Anspruch der erwähnten Arbeitsgebiete gar nicht erst in Betracht zu ziehen. Stattdessen wird auf weibliche Selbstverwirklichung und Emanzipation verwiesen, die 14 Ulrich Dibelius, Moderne Musik nach 1945, erweiterte Neuausgabe, München und Zürich 1998, S. 509.

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sich vor allem in der experimentellen Arbeit mit dem Körper und mit der Stimme ausagieren lasse. Das ist übrigens nicht einmal eine Nische der Musikgeschichtsschreibung des 20. und 21. Jahrhunderts, die man den Künstlerinnen eröffnet hätte, sondern das ist eine Aburteilung und ein Ausschluss aus der Musikgeschichte. Solche Mechanismen verdeutlichen, weshalb GenderLexika und Gender-Handbücher beziehungsweise Gender-Studien in der Musik notwendig waren und sind. Blickt man auf die englischsprachige musikhistorische Literatur, so wird rasch klar, dass durchaus Pendants zu Ulrich Dibelius zu finden sind, etwa Paul Griffiths, »Modern Music and After. Directions Since 1945«.15 Selbst in Michael Nymans Standardpublikation »Experimental Music. Cage and Beyond« werden keine weiblichen Vertreterinnen genannt.16 Erst in der amerikanischen Musikforschung, die sich positiv zu »experimenteller Musik« stellt, begegnet man Würdigungen der Arbeiten von Komponistinnen. David Nicholls, »American Experimental Music, 1890–1940«, bezieht Ruth Crawford ein und erwähnt Meredith Monk.17 Hervorzuheben sind jedoch vor allem die Beiträge in Larry Austins Zeitschrift »Source« (1966–1974), denen in Deutschland Aufsätze in Gisela Gronemeyers und Reinhard Oehlschlägels Zeitschrift »MusikTexte« zur Seite zu stellen sind. Hervorzuheben ist auch Kyle Ganns Musikgeschichte »American Music in the Twentieth Century« (1997). Bei Gann werden Oliveros und Lockwood zunächst einmal künstlerisch genauer eingeordnet: beide gehören zur Rubrik »Post-Cage Conceptualism«.18 Monk wird dem Minimalismus (minimal music) zugerechnet, wogegen sie selbst sich sträuben würde, obwohl in ihrer Musik viele Charakteristika der minimal music nachzuweisen sind. Gann hebt in seinem Porträt von Monk zunächst ihre Arbeit mit dem Körper und mit der Stimme hervor, wobei er ebenfalls betont: »Women composers are far more likely than men to use their own voices and bodies as material for their music.«19 Dann fährt er fort: »To distinguish these composers from the usual kind who work in a more abstract way, writing notes or playing instruments, they are often called performance artists, but their role as composers of essentially musical structures should not 15 Vgl. Paul Griffiths, Modern Music and After. Directions Since 1945, Oxford 1995, S. 250f. und S. 274f. 16 Vgl. Nyman, Experimental Music. Cage and Beyond (Anm. 4). 17 Vgl. David Nicholls, American Experimental Music 1890–1940, Cambridge 1990, S. 89– 133 und S. 218. 18 Vgl. Kyle Gann, American Music in the Twentieth Century, New York 1997, S. 54–157, S. 161–164 und S. 174–176. Vgl. auch William Duckworth, 20/20 20 New Sounds of the 20th Century, New York 1999. 19 Gann, American Music in the Twentieth Century (Anm. 18), S. 208.

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thereby be diminished.«20 Gann ist ein zu exzellenter Kenner der amerikanischen Musikszene, als dass er Meredith Monks Einwände gegen ihre Bestimmung als Komponistin von minimal music nicht berücksichtigen würde. Insofern ist auch sein Vergleich zwischen Monk und Steve Reich oder Phil Glass nicht unbegründet. Es reiche wohl aus zu sagen, meint er, dass in der Musik von Monk eine »infectious emotionality« zum Ausdruck komme, die in starkem Kontrast stehe zu den linearen, objektiven Stimmen etwa von Reich oder Glass.21 Auch in Richard Taruskins Musikgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird Monk neben Anderson berücksichtigt. Dabei zeigt sich der aktuelle Blick auf »performance art« in Amerika, der – inzwischen angeglichen an viele Studien der Kunstgeschichte – mit einer Würdigung verbunden ist, obwohl diese künstlerische Richtung hauptsächlich als weibliche Domäne beschrieben wird: »Performance art is one way in which women have been able to wrest creative agency from its traditional custodians while maintaining, as Anderson whimsically suggests, their traditional ›advantage‹, and without becoming authoritarian figures themselves. Performance art, as a site of female self-representation, thus found itself a naturally ally of the feminist movement.«22

Kyle Ganns Porträtierung von Pauline Oliveros und Annea Lockwood ist gleichfalls die eines beispielgebenden Kenners. Oliveros rangiert bei Gann als künstlerisches Gegenstück zu Cage (nur am Rande sei angemerkt, dass bei einem Vergleich der Literatur über Cage und Oliveros sofort deutlich wird, dass davon in der übrigen musikhistorischen Rezeption nicht die Rede sein kann). Oliveros stehe auf gleicher Höhe wie Cage, weil ihre künstlerischen Arbeiten »have been similarly universal in their attempt to alter human behavior in spiritually beneficial ways.«23 Gann hält fest: »Like Cage, she has been among the hardest figures for the classical music establishment to take seriously.«24 Seine 20 Ebd., S. 208f. 21 Ebd., S. 209. 22 Richard Taruskin, The Late Twentieth Century, Oxford 2005 (The Oxford History of Western Music 5), S.  492. Bei einem Seitenblick auf die einschlägige Literatur wird rasch deutlich, dass Frauen in der »Performance art« eine wichtige Rolle gespielt haben, dass diese künstlerische Richtung aber keinesfalls eine weibliche Domäne war und ist. Vgl. etwa Henry M. Sayre, The Object of Performance. The American Avant-Garde Since 1970, Chicago und London 1989, oder Lisa Phillips, The American Century. Art & Culture 1950–2000, Katalog, New York 1999. 23 Gann, American Music in the Twentieth Century (Anm. 18), S. 161. 24 Ebd.

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weitere allgemeine Beschreibung von Oliveros gibt uns einen Hinweis darauf, weshalb dies so ist: »It is fitting to her role as the avant-garde’s premier female artist that she has molded her work to the supremely feminine archetype of receptivity, specifically a radical receptivity to sound.«25 Es erscheint zwar nicht plausibel, von einer spezifisch weiblichen »archetypischen« Aufmerksamkeit oder Sensibilisierung für Klang auszugehen, aber bei Pauline Oliveros trifft sich diese Behauptung zum Teil mit ihren Selbstkommentaren und mit ihrer Arbeitsausrichtung. Ihre künstlerischen Intentionen richten sich auf die Öffnung beziehungsweise Offenheit für eine ästhetische Wahrnehmung von Umweltklängen sowie auf die meditative Intensivierung von Hörerfahrungen in solistischen Aufführungen und Projekten mit Ensembles und mit dem Publikum, wobei sie diese Ausrichtung mit »expanded listening« umschreibt.26 In ihren 25 »Sonic Meditations« hat Oliveros ihre Ambitionen erstmals gebündelt. Sie kommentierte dieses Projekt folgendermaßen: »In 1970 I began a body of work called Sonic Meditation. Sonic Meditations are recipes for ways of listening and sounding and are scores transmitted orally without musical notation. I found that I could involve all kinds of people in Sonic Meditations whether or not they had any musical training. What mattered was an interest in participation, the cultivation of listening strategies and willingness to explore sound.«27

Die Sonic Meditations schließen aktive Klangproduktion (Stimme, Instrumente) einschließlich Bewegung im Raum, Klangvorstellungen, Konzentration auf aktuelle Klänge und Erinnerung an vergangene Klänge ein, wobei Passagen auch medial aufgezeichnet werden können. Eine Fortsetzung der Sonic Meditations fand in den sogenannten Deep Listening Pieces (1970–1990) statt, wobei sich Deep Listening im Sinne einer ständig sich erneuernden Aufmerksamkeit und Konzentration auf Klang inzwischen zur künstlerischen Le25 Ebd. 26 Vgl. Heidi von Gunden, The music of Pauline Oliveros, Metuchen/N.J. und London 1983, sowie Pauline Oliveros, Software for People. Collected Writings 1963–80, Baltimore 1984. Vgl. auch Dörte Schmidt, »Experimentierfeld Universität. Über die Bedeutung des akademischen Umfelds im Werk von Pauline Oliveros«, in: Dissonanz 45 (1995), S. 18–22. Vgl. auch http://paulineoliveros.us (Zugriff: 16.08.2011). 27 Pauline Oliveros, Deep Listening®. Bridge To Collaboration (1998). Vgl. http://richard.doust.free.fr/2-ESPACE%20COURANT%20D%27ART/Devis% 20et%20propositions%20ateliers/BAAL%20novo/MULTI%20YAZIK/La%20 muse%20qui%20rit%20%20lead%20an%20improvised%20chamber%20group/improvising%20across%20borders/bridge.htm (Zugriff: 02.08.2012).

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bensphilosophie und Lebenspraxis von Pauline Oliveros entwickelt hat. Elektroakustische Apparaturen als Arbeitsmedien gehören selbstverständlich dazu. Das Hauptinstrument von Pauline Oliveros ist das Akkordeon, das sie durch mediale Erweiterungen zu einem multifunktionalen »expanded accordeon« gewandelt hat.28 Pauline Oliveros, die übrigens auch Karlheinz Stockhausen und seiner »intuitiven Musik« gleichberechtigt zur Seite zu stellen wäre, hat ihre meditative, intuitive Musik bewusst mit einer feministischen Haltung im Sinne eines »cultural feminism« verknüpft.29 Sie reklamiert ihre künstlerische Arbeit als verortet in einem spezifischen, kreativen Raum von Frauen, der jedoch insgesamt für die unterdrückten, nicht-dominanten Bereiche der westlichen Kultur als repräsentativ erklärt wird. Rationalität, Analyse und das Akademische werden der dominanten männlichen Kultur zugerechnet, dagegen stellt Oliveros das Intuitive, das Nicht-Akademische, also die körperlichen und geistigen Erfahrungen jenseits der rational durchstrukturierten Wissenskultur. Es wird damit keine experimentelle Nischenkultur beansprucht, sondern die Ergänzung häufig ausgeblendeter oder verdrängter menschlicher Intuition, Sensibilität, Emotion, Erfahrung und Konzentration sowie Disziplin im Rahmen von Meditationen.30 28 Vgl. Martha Mockus, Sounding Out. Pauline Oliveros and Lesbian Musicality, New York und London 2007, S. 89–91. Zu technischen Details von Oliveros’ »Expanded Instrument System™« (EIS) vgl. ihren Aufsatz »Acoustic and Virtual Space as a Dynamic Element of Music« (1994), in: dies., The Roots of the Moment, New York 1998, CDBooklet, S. 3–17. Vgl. auch David Gamper und Pauline Oliveros, »A Performer-Controlled Live Sound-Processing System. New Developments and Implementations of the Expanded Instrument System«, in: Leonardo Music Journal 8 (1998), S. 33–38. Vgl. auch »Der lange Ton. Pauline Oliveros über meditative Klänge, wilde Volksmusik und das Akkordeon als Atmungsorgan«, in: Neue Zeitschrift für Musik Nr. 155 (1994), S. 32f. 29 Vgl. Timothy D. Taylor, »The Gendered Construction of the Musical Self. The Music of Pauline Oliveros«, in: The Musical Quarterly 77/Nr. 3 (1993), S. 385–396. Vgl. auch Mockus, Sounding Out (Anm. 28). 30 Vgl. dazu auch Dörte Schmidt, die Taylor zu Unrecht kritisiert, aber darauf aufmerksam macht, dass Oliveros nicht bei dem dualistischen Gender-Konzept geblieben ist. Vgl. Dörte Schmidt, »Composing Beyond Gender. Kreativität und Geschlecht im Werk der Komponistin Pauline Oliveros«, in: Musik und Emanzipation. Festschrift für Freia Hoffmann zum 65. Geburtstag, hg. von Marion Gerards und Rebecca Grotjahn, Oldenburg 2010, S. 53–67. Vgl. auch Pauline Oliveros und Fred Maus, »A Conversation about Feminism and Music«, in: Perspectives of New Music 32/Nr. 2 (1994), S. 174–193. Oliveros’ »beyond gender« kann jedoch nicht ohne Berücksichtigung ihrer »lesbian subjectivity« und ihrem lebenslangen Austausch mit lesbischen Künstlerinnen diskutiert werden, wie Martha Mockus in Sounding Out (Anm.  28) ausführlich dargelegt hat.

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Annea Lockwood vertritt eine ähnliche künstlerische und persönliche Haltung. Tara Rodgers kommentiert Lockwoods Arbeit: »She has been a rigorous experimenter, amassing a diverse body of work that includes collaborations with choreographers, sound poets, and visual artists; electroacoustic performances, recordings, and installations; and compositions for acoustic instruments and voices.«31 Lockwood hat unter anderem 1963/64 bei Gottfried Michael Koenig in Köln elektronische Musik studiert und wurde bekannt durch ihre provokanten Klang-Aktionen mit alten Flügeln, Stücke aus der Reihe Piano Transplants (1967–1982), in denen die Instrumente verbrannt, versenkt oder bepflanzt wurden. Die Flügel und Klaviere sollten nicht nur als Objekte der vergänglichen Natur präsentiert werden, sondern Lockwood ging es auch darum, allmähliche Klangveränderungen in solchen ungewöhnlichen Situationen erlebbar zu machen. Annea Lockwood formulierte in Erinnerung an diese Aktionen: »I developed as a personal guideline that when I had an idea which I thought was unreasonable, that was exactly what I should try to realize.«32 Das Interesse am klingenden Material brachte Annea Lockwood dazu, sich in der experimentellen Arbeit auch mit Glas zu beschäftigen. Unterschiedliche Glasobjekte und Glasstücke bildeten Ausgangspunkte für The Glass Concert (1967–1970), eine ganze Serie von Konzerten, bei denen Lockwood durch verschiedene Aktionen Klänge der Glasmaterialien erzeugte und präsentierte. In den letzten Jahren konzentrierte sie sich auf Kompositionen für Solisten, Instrumental- und Vokalensembles und elektroakustische Musik sowie vor allem auf zwei große Projekte, in denen sie sich den Klängen von Flüssen und ihrer Dokumentation widmete (seit 1973 lebt die Komponistin in den Vereinigten Staaten von Amerika): A Sound Map of the Hudson River (1982) und A Sound Map of the Danube (2005).33 In den elektroakustischen Klangporträts der beiden Flüsse, es sind Aufnahmen von Klangkomplexen der Natur entlang der Flussverläufe, zeigt sich Annea Lockwoods individuelle kompositorische Arbeitsweise vielleicht am besten. Auch ihr geht es in erster Linie um die Wiederentdeckung des konzentrierten Hörens, doch betrifft es bei ihr die Klänge der Umwelt und der Natur, deren ästhetische Qualität aus einer eigenen Existenz resultiere. »I’m trying to listen my way into the nature Die Ausblendung dieser Dimensionen würde die Kategorie »sex« ausgrenzen, mit der Oliveros ihre sinnliche, »erotische« Beziehung zur Musik verbindet. 31 Rodgers, Pink Noises (Anm. 12), S. 114. Vgl. auch Mockus, Sounding Out (Anm. 28), S. 57–65 (über die Beziehungen zwischen Oliveros und Lockwood). 32 Rodgers, Pink Noises (Anm. 12), S. 115. 33 Vgl. Jennifer Hymer, »Von brennenden Klavieren zu Donauklängen. Die Klangwelt der Annea Lockwood«, in: MusikTexte 126 (2010), S. 41–46.

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of the phenomenon that’s sounding. That is something other than myself and I’m curious about its being.«34 Das Experimentelle liegt also in den gesuchten, aber dennoch offenen Klangerlebnissen der Komponistin. Diese Arbeitsweise schließt bei der Auswahl und Dokumentation von klingenden Flussabschnitten jedoch subjektive Setzungen nicht aus. In der Musikgeschichtsschreibung des 20. und 21. Jahrhunderts, die einer großen Pluralität von kompositorischen Richtungen und Werken Rechnung zu tragen hat, ist vermutlich nie eine gleichgewichtige Berücksichtigung aller künstlerischen Aktivitäten und Gesichtspunkte zu verwirklichen. Doch es ist nicht nur die Fülle der Informationen, die hier immer wieder zu Beschränkungen führt, sondern es sind auch bestimmte Blickwinkel und Parteienbildungen, die deutliche Haupt- und Nebenlinien der Musikgeschichte festschreiben. Komponistinnen gehören dabei noch immer zu den Nebenlinien, obwohl sie im allgemeinen Bewusstsein von Musikhistorikerinnen und -historikern sowie Musikpädagoginnen und -pädagogen inzwischen sicherlich präsenter sind als vor einigen Jahrzehnten. Studierende an einer Musikhochschule reagieren allerdings auf die Frage nach ihrer Lieblingskomponistin erfahrungsgemäß noch immer mit einem leicht irritierten Lächeln oder kennen immerhin Madonna, Björk oder Katy Perry. Am Beispiel der drei genannten Komponistinnen, die hier nur kurz porträtiert werden konnten, wird deutlich, dass ihre künstlerische Positionierung hauptsächlich von der jeweiligen musikhistorischen Perspektive abhängig ist. Handelt es sich um eine musikgeschichtliche und kulturmoralische Haltung, in der die »experimentelle Musik« amerikanischer Prägung als abgelebter Zweig der Avantgarde betrachtet wird, so trifft die Komponistinnen eine doppelte Zurücksetzung: Sie werden als Vertreterinnen dieser Richtung und als Künstlerinnen abgeurteilt (dann hilft es auch nicht, dass sie mit namhaften männlichen Kollegen verglichen werden). Bei einer Anerkennung und Würdigung der »experimentellen Musik«, die einschließt, dass man nicht mehr von einer führenden Rolle der europäischen »Western Art Tradition« ausgeht, ergibt sich ein anderes Bild. Die drei genannten Komponistinnen gelten dann als international renommierte Vertreterinnen unterschiedlicher Richtungen der experimentellen Musik- und Kunstszene. Erst allmählich allerdings beginnt sich auch die Erkenntnis durchzusetzen, dass sie und ihre Werke nicht nur an der musikalischen Geschichte und am musikalischen Diskurs des Körperlichen, der Erfahrung, der Intuition etc. hohen Anteil haben, sondern auch an der Geschichte der natur34 »Annea Lockwood. Beside the Hudson River. Listening to the Environment«, Jänner 2004, Gespräch mit Frank Oteri: http://www.newmusicbox.org (Zugriff: 07.03.2011). Vgl. auch http://www.annealockwood.com (Zugriff: 16.08.2011).

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wissenschaftlichen und technologischen Klangforschung.35 Dieses Gebiet wird in den letzten Jahren zunehmend mit Fragen der Zukunftsforschung verknüpft, die Gedanken über den Einfluss neuer Technologien auf Mensch und Umwelt einschließen. Pauline Oliveros und Annea Lockwood nehmen an diesen Diskursen aktiv teil, wie beispielweise Oliveros’ Key Note bei der International Computer Music Conference 2010 (Stony Brook University/New York University) belegt.36 Angesichts von zukünftigen technischen Entwicklungen, die den menschlichen Körper und dessen Fähigkeiten optimieren können (Nanotechnologie im medizinischen Bereich), diskutiert Oliveros nicht nur die fragliche weitere Relevanz der menschlichen Fortpflanzung, sondern auch Konsequenzen für die Gehörsphysiologie und Gehörspsychologie, die nicht nur die Wiederherstellung des Gehörs nach seinem Verlust, sondern auch bisher ungeahnte Erweiterungen des Hörens betreffen. Annea Lockwoods Interesse an Klängen der Natur schließt längst nicht nur die Ästhetik der Geräusche von Flussläufen ein, sondern sie widmet sich auch der historischen und sozialen Bedeutung von bestimmten Naturphänomenen: »I am interested in how and why people are drawn to rivers so strongly, myself included. Certainly rivers are iconic to us, suggesting continuity and voyaging, infinity perhaps; they provide livelihood, but even more, they seem to be an integral part of personal identity for those who live on them. [...] After working on it for four years, my strong feeling is that the Danube is alive, shaped by gradient, soil and rock conditions, climate, and animal as well as human action, but powerfully, the river is a sharper of the land around it and of the human societies along the banks. [...] it shapes its sounds itself by the way it sculpts its banks. It composes itself. Listening to it I feel that I’m hearing the process of geological change in real-time, which is enthralling.«37

Den weltweit vorherrschenden rigiden Eingriffen in die Natur wird hier eine offene, aufmerksame und selbst-experimentelle Haltung gegenübergestellt, die im Kontext von Diskussionen über das zukünftige Verhältnis zwischen Kunst, Kultur und Natur (ecocriticism) relevant wird.38 35 Vgl. Thomas B. Holmes, Electronic and Experimental Music, New York 1985; vgl. auch Elizabeth Hinkle-Turner, »Women and music technology. Pioneers, precedents and issues in the United States«, in: Organised Sound 8/1 (2003), S. 31–47. 36 Vgl. http://paulineoliveros.us/site/node/14 (Zugriff:17.08.2010). 37 Annea Lockwood, »What is a River?«, in: Soundscape. Journal of Acoustic Ecology 7/Nr. 1 (2007), S. 44. 38 Vgl. dazu die Aktivitäten der Ecocriticism Study Group der American Musicological Society. Vgl. http://www.ams-esg.org (Zugriff: 17.08.2010).

Sally Macarthur

Difference, Becoming and Event in Women’s Music: Anne Boyd’s Ganba

There was a time when those driving the feminist research into women’s music predicted a bright future. McClary announced in 1993 that musicology had been »permanently transformed by its encounter with feminism«, declaring that »it is anybody’s guess what will have transpired by the year 2000«1. The acceleration of feminist work in the first half of the 1990s carried with it the expectation of a radical, rapid, and positive transformation. Feminist scholarship by its very nature is political. It aims to give voice to those excluded from the hierarchies of knowledge. In the late 1980s, Wood had already observed that women composers »have become more visible, more accomplished, and more numerous«2. Over a decade later, Pendle’s annotated bibliography attests to the breadth and depth of the research on women’s music, and its verdict is that feminist work in music is a thriving field of knowledge.3 Some researchers, however, have also warned that it is too early to be complacent: feminist research into women’s art music seems to be in decline4 and women’s music destined for the concert hall struggles to be heard.5 1 Susan McClary, »Reshaping a Discipline. Musicology and Feminism in the 1990s«, in: Feminist Studies 19/No. 2 (1993), p. 420. 2 Elizabeth Wood, »Foreword«, in: Women Composers. The Lost Tradition Found, ed. by Diane Peacock Jezic, New York 21994, p. xii. 3 See Karin Pendle, Women in Music. A Research and Information Guide, New York and London 2005. 4 For example, Suzanne Cusick, »Performing/Composing/Woman. Francesca Caccini meets Judith Butler«, in: Musics and Feminisms, ed. by Sally Macarthur and Cate Poynton, Sydney 1999, pp. 87–98. 5 See Patricia Adkins Chiti, »Secret Agendas in Orchestral Programming«, http:// www.culturegates.info/down/secret_agendas.pdf 2003 (accessed September 15, 2008), pp. 325–360; Patricia Adkins Chiti, »Cultural Diversity-Musical Diversity. A Different Vision-Women Making Music«, http://www.imc-cim.org/mmap/pdf/prod-chiti-e.pdf 2003 (accessed September 15, 2008), pp. 1–9; Lisa Hirsch, »Lend Me a Pick Ax. The Slow Dismantling of the Compositional Gender«, in: New Musicbox. The Web Magazine from the American Music Center, http://www.newmusicbox.org/article.nmbx?id=5576, (accessed May 14, 2008); Jennifer Fowler, »Where are the Women?«, in: Music Forum 13/No. 1 (2006–2007), pp. 24–25; Sally Macarthur, »Raising the Platform for Women«,

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Much of the empirical research on women’s music has been couched in a neo-liberal version of agency and invokes the discourse of the emancipation politics from the 1960s. The discursive positioning of this research is embedded in an oppositional paradigm. It makes distinctions between pieces of statistical evidence to suggest improvements or backward slides. It polarises male against female, positive against negative trends, researcher against »gatekeepers«, such as concert organisations and festival directors, and it implies superior quality music against inferior music.6 This research is crucial for providing vital statistical evidence that shows that women’s music is significantly under-represented in the concert hall. However, it paradoxically reinforces its negative findings – that women’s music is absent – and it fails to solve the problem. Running parallel with the neo-liberal feminist approach is a radical version of feminism that emerges as a reactionary discourse. It is outraged at the suggestion that women’s music is inferior and focuses on the music itself to demonstrate that it is every bit as worthy as men’s music.7 The radical feminist work directs its effort to retrieving a feminist aesthetic, and to deconstructing the heroic individuality of the genius composer and understanding the ways in which musical canons are formed. This research, like that of the liberal feminists, is reliant upon hierarchical conceptions of difference that reduce the female composer to a negative image in relation to the male. It demonstrates that women’s art music is poorly represented in the concert hall and seeks redress by appealing to the common sense argument that women’s music is different but not inferior. This argument falls on deaf ears. The research fails to find ways of improving the situation. A major flaw in both the radical and liberal feminist work, then, is that it envisages the future from the standpoint of the present, and relies on a set of pre-determined goals. It is dependent upon representationalism which, to draw on Barad, is »the belief that words, concepts, ideas, and the like accurately reflect or mirror the things to which they in: Music Forum 12/No. 2 (2006), pp. 40–43; Sally Macarthur, Feminist Aesthetics in Music, Westport/Connecticut and London 2002, pp. 31–41, and Sally Macarthur, Towards a Twenty-First Century Feminist Politics of Music, Farnham and Burlington 2010. 6 See Adkins Chiti, »Secret Agendas in Orchestral Programming« (note 5). 7 I am here reminded of some remarkable pioneering work which argues that women’s music is different from men’s. See Susan McClary, Feminine Endings. Music, Gender, and Sexuality, Minnesota and Oxford 1991; Eva Rieger, »I Recycle Sounds. Do Women Compose Differently?«, in: Journal of the International League of Women Composers (March 1992), pp. 22–23; Marcia J. Citron, Gender and the Musical Canon, Cambridge 1993; Macarthur, Feminist Aesthetics in Music (note 5), and Ellie M. Hisama, Gendering Musical Modernism. The Music of Ruth Crawford, Marion Bauer, and Miriam Gideon, Cambridge 2002.

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refer«8. The feminist research on women’s music replicates the present reality, so reinforcing, rather than changing the status quo. From the standpoint of 2011, the problems investigated in the previous research may never be solved and the changes envisioned by McClary for the year 2000 may never come to pass. Rather than to dwell on this bleak possibility, in this paper I argue for a renewed approach that moves beyond the debates that have led to a dead end. My aim, in so doing, is not to find a solution to the problems that have besieged the previous work, but to discover new potentialities for thought and action. Drawing on the work of philosophers, such as Deleuze, and Deleuze with Guattari,9 and on feminists, including those who work with Deleuze, I attempt to sketch out a practice of difference that is positive and productive as it relates to women’s »new« music composition. I draw on the concept of the event from Deleuze who understands it as a potentiality or possibility, or a moment of dynamic change, and I use it as a way to engage creatively and productively with the not-yet-known. The concept of the event affirms rather than reacts against possibility and becoming. In feministDeleuzian thought, the woman as subject must not simply oppose man but must affirm herself in the process of becoming. I explore the implications of this idea for the Australian composer Anne Boyd (b. 1946) and, in so doing, I will attend to the particularities of her recent work, Ganba for baritone saxophone and piano (2010). I regard this work not as an entity regulated by the linear concept of time which positions it at a particular point in the succession of Boyd’s other works, but as a process that invites an open-ended conversation, encouraging the idea that it has a life beyond itself. Boyd, who is currently Professor of Music at the University of Sydney, is recognised as one of Australia’s most distinguished composers. The typical biographical narrative of Boyd establishes her pedigree as a protégé of Peter Sculthorpe (b. 1929), with whom she studied as an undergraduate student at the University of Sydney. It lists among her credentials her PhD from the University of York in England (1972), her lecturing position at the University of 8 Karen Barad, Meeting the Universe Halfway. Quantum physics and the entanglement of matter and meaning, Durham and London 2007, p. 86. 9 The philosophy of Gilles Deleuze (1925–1995), and his work with Félix Guattari (1930–1992), has had a significant and wide-ranging impact on disciplines as diverse as mathematics, architecture, law, science, education, economics, music and the arts. Three important books on music include: Ronald Bogue, Deleuze on Music, Painting and the Arts, New York 2001; Ian Buchanan and Marcel Swiboda (Eds.), Deleuze and Music, Edinburgh 2004, and Brian Hulse and Nick Nesbitt (Eds.), Sounding the Virtual. Gilles Deleuze and the Theory and Philosophy of Music, Farnham and Burlington 2010.

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Sussex (1972–77), her position as founding Head and Reader of Department of Music at the University of Hong Kong (1981–1990) and her appointment to her current position in 1990. Boyd is the recipient of the prestigious awards of Member of the Order of Australia (AM) for her contribution to music as a composer and educator (1996), Honorary Doctorate from the University of York (2003), and an award for Distinguished Services to Australian Music by the Australian Performing Rights Association in conjunction with the Australian Music Centre (2005). Her music is performed to wide critical acclaim and her reputation is further boosted by the publication of her music with Faber Music and the University of York Music Press.10 Previous musicological work has demonstrated that Boyd’s musical aesthetic has strong associations with music from various parts of Asia, suggesting that the distinguishing markers of this aesthetic are: its orientation to various permutations of the pentatonic mode; its tendency to resist goal-oriented structures; its utilisation of cyclical, heterophonic textures; and its overall effortless simplicity of style.11 The early works, in particular, are characterised by a meditative quality. Cycle of Love (1981), viewed by the composer as a middleperiod work, is an illustration of the composer’s Asian aesthetic. In Musical Example 1, her knowledge of the performance traditions associated with Asian instruments is demonstrated: the Asian instruments set up fields for certain timbres and techniques that suggest special ways of performing on Western instruments. The alto flute and cello are treated in this way, giving a strong sense of the music’s connection with Asia. Boyd’s recent composition, Ganba, shifts into dramatically different territory, abandoning the distinctive Asian aesthetic of her previous works. It is composed in the key of D-flat major and modulates to the relative B-flat minor. It luxuriates in a lengthy, rhapsodic, lament over the dominant chord, which simultaneously sounds like a tonic chord, with a melody drawn from 10 See Sally Macarthur, »Boyd, Anne (Elizabeth)«, in: Grove Music Online. Oxford Music Online, http://www.oxfordmusiconline.com/subscriber/article/grove/music/03773 (accessed January 23, 2012). 11 See Deborah Crisp, Elements of Gagaku in the Music of Anne Boyd, Honours Thesis, University of Sydney 1978; Kathryn Tibbs, East and West in the Music of Anne Boyd, Honours Thesis, University of Sydney 1989; Joy Sotheran, Concepts as Organising Elements in Selected Works of Anne Boyd, Master of Music Thesis, University of New South Wales 1992, and Rita Williams, Asian Influences are Integral to the Music of Anne Boyd, Honours Thesis, University of Sydney 1996. See also Sally Macarthur, »Women, Spirituality, Landscape. The Music of Anne Boyd, Sarah Hopkins and Moya Henderson«, in: The Soundscapes of Australia. Music, Place and Spirituality, ed. by Fiona Richards, Aldershot 2007, pp. 51–74.

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Example 1  Interlude 1 from Cycle of Love (1981), Bars 1–9; © 1981 by Faber Music

the notes of the supertonic. A snapshot is given in Example 2. Boyd views the new direction in this work as extended tonality.12 It might also be understood as recalling a musical language from a much earlier time in the history of music. The typical reaction, for those who know Boyd’s music well, might be to question the impetus for this new direction in the composer’s aesthetic and to ask whether this work is an indication of her future direction. The analyst might seek answers by interviewing the composer, imagining that her intentions hold the key to understanding the work and to understanding the direction her work will take in the future. This realist, representational approach to thinking about the musical work supposes that the composer is the receptacle of the »truth«. The analyst caught up in this model of thinking, will attempt to produce the faithful copy of the composer’s intentions, and to re-present the work as descriptive or graphic analyses, focusing on the similarities and differences between the elements within the work itself, and/or between this work and others from the composer’s output that predate it. Such an approach assumes that music can be reduced to a fixed, stable essence and that its meaning can be inferred exclusively from a formalist analysis which privileges the score. Strictly formal explanations, to draw on McClary, move the analyst away from admitting »even the possibility of other sorts of readings, gendered or 12 Anne Boyd, email correspondence, March 14, 2011. Used with permission.

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Example 2  Lament from Ganba (2010), Bars 67–79; © 2011 by University of York Music Press

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otherwise«13. Formalist approaches are also reliant upon categorical and oppositional difference. Approaches that aim to produce accurate representations of music – a mirroring of the mirror, as it were, in which music is itself imagined as a mirror – subscribe to the illusion of transcendence. Such approaches imagine that the musical work refers to an existence outside of our possible experience of the world.14 Representational thinking in music asks us to view it as being a more or less faithful copy of a supposed »original«15. This realist approach also tends to summon a progress-narrative to unfold the development of Boyd’s style from the earliest to the latest works. As Patton points out, however, explanations generated from a representational stance will never be conclusive.16 In contrast to these approaches, and with the understanding that my analysis will not be conclusive either, I conceive of Boyd’s music as constitutive of events, in the Deleuzian sense as a multiplicity of flows that, to draw on Barad, »intraact« with other flows. Barad suggests that the animate and inanimate and the organic and inorganic are all constituted of the same matter but that each is a different manifestation of that matter. As she continues: »Reality is composed not of things-in-themselves or things-behind-phenomena but of things-in-phenomena. The world is a dynamic process of intra-activity and materialization in the enactment of determinate causal structures with determinate boundaries, properties, meanings, and patterns of marks on bodies. This ongoing flow of agency through which part of the world makes itself differentially intelligible to another part of the world and through which causal structures are stabilized and destabilized does not take place in space and time but happens in the making of spacetime itself. It is through specific agential intra-actions that a differential sense of being is enacted in the ongoing ebb and flow of agency. That is, it is through the specific intra-actions that phenomena come to matter – in both senses of the word.«17

The concept of »intra-action« shifts the emphasis from the traditional notion of causality to reconceptualising matter in terms of its relationality, vitality, 13 McClary, Feminine Endings (note 7), p. 20. 14 See Gavin Carfoot, Deleuze and Music. A Creative Approach to the Study of Music, Master’s Thesis, University of Queensland 2004, p. 15. 15 Carfoot, Deleuze and Music (note 14), p. 20. 16 See Paul Patton, Deleuzian Concepts. Philosophy, Colonisation, Politics, Stanford/CA 2010, p. 91. 17 Barad, Meeting the Universe Halfway (note 8), p. 140.

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dynamism and agency.18 It is a way of thinking that enables different engagements with phenomena and matter according to what matters in any given engagement with it. As Barad writes: »The neologism ›intra-action‹ signifies the mutual constitution of entangled agencies. That is, in contrast to the usual ›interaction‹, which assumes there are separate individual agencies that precede their interaction, the notion of intra-action recognizes that distinct agencies do not precede, but rather emerge through, their intra-action […] Distinct agencies are only distinct in relation to their mutual entanglement; they don’t exist as individual elements.«19

I view Boyd’s life and her music in these terms, and as an event in history, her life is a life-force of flows intra-acting with other life-forces, events and flows. In a recent interview, Boyd endorsed my approach, stating that: »The concept of flows is the opposite of analysis. Analysis is about cutting whereas this is much more organic. It’s more like water and you can’t cut water […] If you think about us all as fragments of human consciousness floating around the world – tiny, little powerful pieces of consciousness – I’m certain we’re all interconnected.«20

Deleuze’s Conceptions of Difference, Deterritorialisation, Event and Becoming Deleuzian philosophy parts company with the usual framing of difference as hierarchical and categorical. He refuses the idea of difference being reduced to binary opposites. In categorical difference, the body is stratified and conceived as a static entity. Hickey-Moody and Malins comment that categorical difference give rise to the arrangement of the body into distinctive, bounded categories »such as sex, gender, colour, ethnicity, religion, sexuality, age and ability«21. While these categories may be useful, they are also limiting, »for they reduce the body to particular modes of being and interacting; affecting not only how the body is

18 See ibidem, p. 33. 19 Ibidem. 20 Anne Boyd, Interview with Sally Macarthur, January 22, 2011. Used with permission. 21 Anna Hickey-Moody and Peta Malins, »Introduction. Gilles Deleuze and Four Movements in Social Thought«, in: Deleuzian Encounters. Studies in Contemporary Social Issues, ed. by Anna Hickey-Moody and Peta Malins, Houndmills, Basingstoke 2007, p. 5.

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understood, but its potentiality; its future capacity to affect and be affected«22. Deleuze’s philosophy allows us to move beyond this way of thinking. According to Hickey-Moody and Malins, Deleuze’s conception of difference is as follows: Difference is, first and foremost, an internal – rather than relational or external – process.23 A body is produced through an internal differenciation (as when cells differentiate) and, over time, continually differs from itself. This view presents difference as positive and productive, rather than negative and subtractive; difference is that which produces life itself, and enables the production of the new.24 This concept of difference differing from itself, is produced through an ongoing process of differenciation and disrupts the idea »of a self which is constituted through its difference to an ›other‹, and allows us to think of relationships between bodies as productive of (rather than reliant upon) difference«25. Davies argues that the value of thinking about difference in this manner, as an ongoing, productive process, shifts the focus from the fixed end-product and allows us to think of difference as a constantly emerging process of becoming other-than-itself and »as the ongoing production of life itself«26. Placing a positive value on difference enables me to think of Boyd’s music, not in terms of its categorisation, but in terms of its multiplicity of movements and flows. It offers a useful way to explore Boyd’s Ganba which, in its remarkable difference from her earlier works, might be understood as a destabilisation, in Deleuzian terms, a deterritorialisation, of her own aesthetic. For Deleuze, the concept of deterritorialisation is important, for it is the imagined escape-route out of a coded, stratified, hierarchically organised territory. A territory is established through a set of habituated practices. Music researchers have habitually locked Boyd’s music into a static conception, making its strong associations with Asian music and with the Australian landscape matter more than anything else, and conceiving of each of these phenomena as bounded entities. Boyd’s music is routinely elaborated in these terms, enclosing it in what Deleuze refers to as molar lines. Molar lines reduce the music to its hierarchical relationships and regulate the way we think about it. The territorialising process is reiterative, behaving like a refrain. The refrain that has become established in the research on Boyd’s music romanticises the 22 Ibidem, p. 5. 23 Gilles Deleuze, Difference and Repetition, London 1994, pp. 20–27. 24 Hickey-Moody and Malins, »Introduction« (note 21), p. 5. 25 Ibidem, pp. 5–6. 26 Bronwyn Davies, »Difference and Differenciation. Embodied Subjects in Pedagogic Spaces«, Lecture given at Mittuniversitet, Sundsvall, Sweden, September 2009, p.  3. Used with permission of the author.

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Asian sound-world with which her music is enmeshed, connecting this aspect of Boyd’s musical aesthetic to the arid Australian landscape of her childhood. Boyd herself participates in the reiterative elements of this refrain, both in her commentary on her own music and on that of other composers.27 Recently she wrote that the sacred »other« of Japanese ritual music is analogous to »the vast, flat and often forbidding spaces that had provided the backdrop for my childish imagination«28, continuing that: »the landscape of my early childhood came to stand in the place of mother and so this country became etched with a kind of sorrow, but also great beauty. It was these qualities of sorrow and beauty conjoined that I heard in music for the first time in gagaku. Thus, in this instant, my own musical aesthetic became inseparably linked to the Japanese aesthetic of yugen (founded in Zeami’s concepts of Noh) in which sorrow and great beauty are conjoined.«29

This refrain creates a circle of control around Boyd’s music. The idea of the music’s Asian-ness linked to the Australian landscape spills into the analytical domain to territorialise the music. Weiner Le Page, for example, draws into her brief biographical narrative on Boyd a review of a performance of My Name is Tian (1979) in which the critic observes the treatment as »typical of the composer. The idiom is Indonesian, with airy, lucid, simple melodies«30. My 27 Anne Boyd, Neo-Medieval Aspect of Contemporary Music, BA Hons Thesis, University of Sydney 1967; Anne Boyd, »Peter Sculthorpe’s Sun Music 1. An Analysis«, in: Miscellanea Musicologica. Adelaide Studies in Musicology 3 (1968), pp. 3–20; Anne Boyd, »Asian Music in Australian Music Education (Part 1)«, in: The Australian Journal of Music Education 3 (1968), pp. 41–44; Anne Boyd, »Asian Music in Australian Music Education (Part 2)« in: The Australian Journal of Music Education 4 (1969), pp. 37–42; Anne Boyd, »Asian Music in Australian Music Education (Part 3)« in: The Australian Journal of Music Education 6 (1970), pp.  27–32; Anne Boyd, »Not for Export. Recent Developments in Australian Music«, in: Musical Times (1970), pp. 1097–1100; Anne Boyd, »An Original Composer. A Profile of Wilfred Mellers«, in: Eboracum 10 (1970), pp. 17–18; Anne Boyd, »Composing Today«, in: Eboracum 11 (1971), (not paginated); Anne Boyd, »The Ethnomusicologist«, in: Musical Times 113/No.  1555 (1972), pp.  863–864; Anne Boyd, »Dreaming Voices. Australia and Japan«, in: Intercultural Music. Creation and Interpretation, ed. by Sally Macarthur, Bruce Crossman and Ronaldo Morelos, Sydney 2006, pp. 9–13, and Anne Boyd, »Landscape, Spirit and Music. An Australian Story«, in: The Soundscapes of Australia. Music, Place and Spirituality, ed. by Fiona Richards, Aldershot 2007, pp. 11–33. 28 Boyd, »Dreaming Voices« (note 27), p. 10. 29 Ibidem. 30 Fred Blanks, Sydney Morning Herald (August 11, 1979), quoted in Jane Weiner Le Page, Women Composers, Conductors, and Musicians of the Twentieth Century. Selected Biographies Volume III, London 1988, p. 50.

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own contribution to this refrain is to echo similar thoughts: the composer’s Japanese musical language »is just as easily a depiction of the parched, outback landscape of her early childhood«31. And, as recently as 2011, by way of maintaining continuity with the refrain, Boyd dispenses with the Asian association but maintains the landscape metaphor, stating that Ganba »as is all my music, is intimately bound up with the Australian landscape«32. This refrain establishes a territory around Boyd’s music that becomes recognisable and distinctive. It is, however, a fixed way of thinking that potentially shuts down the possibility for different conceptualisations. As Deleuze and Guattari point out, however, even a territory has a deterritorialising impulse: the moment a territory is established it is already in the process of changing and transforming itself.33 What would it mean to explore the concept of deterritorialisation in relation to Boyd’s music? The transformational potential of the refrain is its openness to the new and the not-yet-known. In a Deleuzian conception, Boyd’s music is viewed not as a bounded entity but, rather, a multiplicity of dynamic flows and intensities. An elaboration of music that fixes it as a static, unchanging entity ignores the possibilities opened up by its »minoritarian« tendencies, forces which have a deterritorialising effect and which may even seem initially to be unintelligible. Some previous work on Boyd has argued that the distinctive aesthetic of her music, opened up through her engagement with Asian music, is already singing a different refrain from that music composed in the dominant streams

31 Macarthur, »Women, Spirituality, Landscape« (note 11), p. 56. 32 Anne Boyd, Ganba for Baritone Saxophone and Piano. Programme Note, unpublished, 2011. Used with permission. 33 See the discussion of the refrain (which deals with territorialisation) in Gilles Deleuze and Félix Guattari, A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia, Minneapolis 1987, pp. 311–350. Here the role of the refrain – a repetitive, organising feature – is elaborated as the marking of a territory, such as a bird sings to mark its territory. The space associated with the territory is not in itself territorial but the activity associated with the territory is. See also Kylie Message, »Territory«, in: The Deleuze Dictionary, ed. by Adrian Parr, Edinburgh 2005, p.  275. According to Kylie Message, »the concept of ‹territory‹ evades easy categorisation because rather than being a sedentary place maintaining firm borders against outside threat the territory itself is a malleable site of passage […] it continually passes into something else [but] […] it maintains an internal organisation«, p. 275. Message goes on to say that as an assemblage, a territory is a process and a necessary component of the territory is its capacity to be deterritorialised or destabilised. When a territory is deterritorialised it becomes »a mobile and shifting centre that is localisable as a specific point in space and time.«

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of post-serial and post-minimal music.34 Using a feminist-Deleuzian approach, my own work argues that Boyd’s music sets in motion two dynamic senses of movement. These are, to draw on Colebrook, »a double politics of the molar and the molecular«35. The concept of the molar, in which music is reduced to its hierarchical relationships and divided into rigid segments, can be applied to the research on Boyd’s music. Molar lines territorialise music and regulate the way we think about it. In Boyd’s case, the critical discourse around the composer’s music territorialises it and regulates our thinking about it such that, regardless of any other aspect of the music that might be considered, its Asian aesthetic seems to matter most. This dominant mode of thinking about Boyd’s music corresponds to the norm. The concept of the molar is also applied to composers with majority status. Its usefulness in the present discussion, however, enables me to consider the specificities of Boyd’s music, as an example of women’s music and having outsider status, while invoking the concept of the molecular to imagine the extent to which her music corresponds to or breaks away from the norm. Molecular lines and lines of flight are the processes of change or movements away from the norm. These concepts permit me to undertake a reading of Boyd’s music that is imagined as a dynamic movement, as »the mobile, ceaseless challenge of becoming«36. The territorialisation of the particular narrative around Boyd’s music, as depictions of landscape and Asian aesthetic and as music etched with mystery, sorrow and beauty is further complicated through Deleuze’s concept of the event. In a typical dictionary definition, the event is understood as a bounded entity with a determinate structure. It is often regarded as the essential component of the story and, in abstract music, as the melodic, harmonic and rhythmic occurrences within the finite structure of the work. The events unfolding in the typical narrative structure contribute to its overall plot. Boyd conceives of Ganba in these terms. Her programme note explains that the piece has three distinct sections, each corresponding to the parts of the narrative it references from the Aboriginal legend as told by the ethnologist Daisy Bates. In the legend, the ganba refers to the »huge snake« (a manifestation of the rainbow serpent) that lived in the caverns and blowholes that run under the Nullabor Plain, which the Aborigines feared. The legend also recounts the reactions of the Aboriginal people to the first steam trains as they appeared on the East34 Macarthur, Towards a Twenty-First-Century Feminist Politics of Music (note 5), pp. 109– 149. 35 Claire Colebrook, Art. »Introduction«, in: Deleuze and Feminist Theory, ed. by Ian Buchanan and Claire Colebrook, Edinburgh 2000, p. 1. 36 Ibidem.

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West Rail line, »thinking it was the ganba monster emerging from under the earth to pursue them«37. Boyd says that »the Aboriginal people fled in terror. It was reported that some literally died of fright. For others, death came more slowly. Attracted to the railway line, they were subjected to the continuing ill-effects of first contact with white-man’s economy, many falling into prostitution and disease«.38

The programme note is one representation, among many, of the composer’s intentions. Traditional approaches to analysis will frequently defer to the composer’s intentions and, in all likelihood, will refer to Boyd’s programme note on Ganba as a useful starting point. In the note, the composer offers a realistic interpretation of the work, viewing it as a sonic documentary of the narrative events of the legend. She explains how she translated these events into sonic material, stating that the mysterious opening captures the feeling of »the geographical and spiritual landscape«39 and that the opening section establishes »an atmosphere at once physical and spiritual, animating the features of the landscape«40. While these images that connect the landscape with Boyd’s music are useful in their suggestion of particular modes of listening, they are also limiting. Boyd’s music offers so much more than a mode of listening that relies on a programmatic outline. For each listener, the music offers a different experience and emotional engagement with it. Another aspect of the composer’s intentions captured in the programme note is her vision of the music itself. There she maps out the tonal markers for the work. These rely on a linear metaphor in which the music is conceived as a journey: it begins in one key, travels to another key, and returns to the opening key before closing. In this metaphor, the key relationships are assumed to be hierarchically organised, and the music is defined by its beginning, from silence, and ending, into silence. In Ganba, the composer explains that the home key signature of D-flat major, representing the key of the earth, is established at the beginning. The tonic, or home, key of D-flat, in this case, is positioned at the top of the hierarchy. Boyd goes on to say that early on in the journey the music modulates to the relative B-flat minor. The relative minor’s relationship to the tonic is of secondary importance, subjugated to the tonic. The analyst relying on the score would note that the tonic B-flat is actually avoided by the 37 Boyd, Ganba for Baritone Saxophone and piano (note 32). 38 Ibidem. 39 Ibidem. 40 Ibidem.

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time the music establishes the »sorrowing« lament which, in Boyd’s words, is constructed of a series of »repetitive tumbling phrases of the melodic line […] placed over and within an F major triad,« here also referencing »traditional Aboriginal singing«41. From an analytical perspective based on an experience of listening to the work, the F major triad is at this juncture functioning not as a dominant chord but as a tonic chord. Can this be read as a subversion of the traditional treatment of the tonic/sub-mediant relationship? This observation points to the way in which the virtual makes possible an infinite array of experiences of the work. Virtuality exists in its infinite multiplicity through our senses which, in turn, are mediated and influenced by what we know and what we have experienced in the past. The virtuality of Boyd’s music is its capacity for difference brought about by action or thought. Boyd then discusses the haunting melody that is heard over the F major triad as a kind of sorrowing which, she says, »comes from deep within my soul and is bound up with the condition facing contemporary non-indigenous Australia coming to terms with the anguish heaped upon the rightful owners of the land«42. She then goes on to explain that the third section recycles the ganba music which, to recall the programmatic metaphor, »morphs into a steam train«43. Boyd concludes that the lament returns before the »monster steam train« brings the work to a close. The analytical culture caught up in reproducing a faithful copy of the composer’s intentions, to recall Wilson, leaves unchallenged the ideology of the unique self. It assumes that the composer’s self-representations, such as in programme notes, »shape not only the receptions of particular outputs but also wider historiographical conceptions of the past«44. The Deleuzian concept of the event together with Barad’s concept of intra-action enables other possibilities for thinking about this uniquely different work in Boyd’s oeuvre. The powerful sensation of the haunting, repetitive elements of the lament melody, repeating over and over again, but never sounding the same attends to difference in such a manner that difference gives rise to repetition and repetition gives rise to difference. It recalls Deleuze who states that: »The wheel in the eternal return is at once both production of repetition on the basis of difference and selection of difference on the basis of

41 Ibidem. 42 Ibidem 43 Ibidem. 44 Charles Wilson, »György Ligeti and the Rhetoric of Autonomy«, in: Twentieth Century Music 1/No. 1 (2004), p. 5.

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repetition.«45 This conception of difference, to paraphrase Kielian-Gilbert, is productive, for one kind of difference does not oppose or exclude the other.46 It is the kind of difference that allows for a mutual constitution of the music as a web of entangled agencies: the music, the composer, the performer, the listener, and the analyst are all caught up in the music and emerge empowered through their mutual intra-actions with the music. The music’s aesthetic, ethical, political and social dimensions are actualised through the processes of intra-action. Considering yet another perspective, Boyd’s music invites us to partake in a new way of listening. Such listening enables an encounter with the music that is dynamic and constantly changing. Listening in this new way encourages a different conception of the composer. In a Deleuzian understanding, she is no longer the finite, heroic creator of the music, but one of a multiplicity in the experiential practice of her music. As an event in the history of music, Boyd’s life would not be conceived as a static entity with a finite beginning and ending, charting a logical progress through linear time. Rather, it is always imagined as in-between, a movement that is dynamic, and a life-force that is characterised by movement. Her music is conceived in terms of events that are always already constituted within a system of relations. The movement of her music is marked by change: her musical works are events that constantly pass through other events. This way of interpreting Boyd’s music avoids thinking of it in terms of a pre-existent set of signifiers that belong to a specific musical referential system. Instead, we are encouraged to think of Boyd’s music, to draw on Colebrook and Bennett, according to its »capacity to transform bodies, organs and territories«47. A Deleuzian critique shifts the focus from the structure and the aesthetics of the music to the multiple connections it makes in life beyond its birth by the composer. A Deleuzian analysis of Ganba veers away from discussing the internal patterns of the music and its sonic referencing of the specific Aboriginal legend to thinking that as part of an event it might even be something that as yet we do not understand. While the Australian landscape as a metaphor for the music is important for Boyd, do listeners and analysts hear the landscape in Boyd’s music? Or, do they need to hear the landscape in 45 Deleuze, Difference and Repetition (note 23), p. 42. 46 See Marianne Kielian-Gilbert, »Music and the Difference in Becoming«, in: Sounding the Virtual. Gilles Deleuze and the Theory and Philosophy of Music, ed. by Brian Hulse and Nick Nesbitt, Farnham and Burlington 2010, p. 202. 47 Claire Colebrook and David Bennett, »The Sonorous, the Haptic and the Intensive«, in: New Formations. A Journal of Culture/Theory/Politics No. 66 (2009), p. 68.

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her music? Does one metaphor aid another metaphor? When such metaphors become established, they begin to territorialise the music, locking it into the idea that there is only one correct hearing of the music and that hearing should ideally correspond with the hearing of the composer. A theorist who is familiar with Boyd’s music might be perplexed by the composer’s apparent reverting to a tonal musical palette when all her preceding work over a period of some forty years has been so heavily marked by references to Asian modes, timbres and rhythms. Are there precursors for this radical shift? In a representational model of thinking, it would be possible to demonstrate that there are precedents, such as in two previous orchestral works, Grathawai (1993) and Angry Earth (2006). Both these works include some diatonic moments. Grathawai incorporates an energetic dance-refrain structure in the second movement which is based on dominant seventh chords that cycle around all the keys available, following the cycle of fifths pattern. And, the second movement of Angry Earth concludes in D minor and E major emerges in the third movement as a significant tonality before an »up-beat conclusion […] in a celebratory D major«48. In a Deleuzian sense, we might even think of the unexpected event of Ganba as a line of flight out of the territory that has become firmly established around Boyd’s music. In this view, the deterritorialising impulse could be understood as a movement from modality to tonality. Or, to recall the power of the virtual in opening up different possibilities for the music, it could be understood as an arrival where the composer started and her knowing that place for the first time. Patton suggests that Deleuze viewed some events as »turning points in history, after which some things will never be the same as before« and as »moments at which the untimely and the historical coincide«49. The concept of the Deleuzian event, to draw on Williams, shifts the thinking of Ganba as a logical time-line, or as an ideological narrative, or as a conceptual classification, such as its resonance with Asian music, to understanding it in terms of a diagram of »event-driven« and »event-creating« movements.50 According to Williams: »These movements are not displacements of things as the effect of forces, but changes in things as they move and encounter others […] The diagram is not a map, 48 Anne Boyd, Angry Earth. Programme Note, Sydney Youth Orchestra, City Recital Hall Angel Place, Thursday, September, 28, 2006. 49 Patton, Deleuzian Concepts (note 16), p. 89. 50 James Williams, Giles Deleuze’s Logic of Sense. A Critical Introduction and Guide, Edinburgh 2008, p. 79.

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but a series of directions and processes rendered in such a way as to combine many sensual and linguistic interactions in a domain.«51

Ganba is endlessly interwoven into the musical fabric of events, experienced as a diversity of different encounters. It traverses a multiplicity of sensual experiences. As perceivers we become participants, attenuating to the dynamic experiences of the music rather than to its linear progress of structure. Events give rise to becomings. A becoming, suggests Kielian-Gilbert, is »paradoxical, a process directed both toward imperceptibility and invisibility and toward discernibility, differentiation, and actualization and refinement«52. In my previous work on Boyd, I argued that her music could be understood as a »becoming-woman«, for in working with the minor music traditions of Asia, it was seen as a disruption of the dominant male form of music realised in and through the Western art music tradition. Boyd’s aesthetic was heard as feminine. My own initial experience of the lament from Ganba triggered a surprised reaction. It was not music that I had previously associated with this composer. I heard the extended passage orbiting the F major triad as a trance-like, weaving and interweaving, repetitive, modal melody, carried on the raspy, breathy, mournful timbres of the baritone saxophone, as music that was deeply moving. The shift in key seemed unpredictable, denying the expectation of a perfect cadence. The music seemed to slide from one musical event into another, with the previous event, a parody of a dance-like rhythmic section, still lingering in the present event. Listening to Ganba in this way – without the aid of the programme note or the score – shifts the focus from the composer’s intentions, the score and what a structural analysis would want to do with it, to an experience that is sensed through hearing, and through its vibration in other regions of the body. The dark timbres and breathy sounds emanating from the saxophone set up vibrations in the region of my heart. In that moment, I hear this music as a becoming, a becoming-heart. Conclusion An event is never in the present in ways that we can understand it and make sense of it. It is always in the past or in the future, and connects the past with the future. In any given rendering of it in the future, the past is always different. 51 Ibidem, p. 79. 52 Williams, Giles Deleuze’s Logic of Sense (note 50), p. 204.

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Sally Macarthur

A realist, representational interpretation of Ganba, however, would understand the work as a bounded entity, the event for which in the past would be understood as the same in the present. Such an illusion conceives of the music as chronologically sequenced in the linear paradigm of time, suggesting that its moment of composition remains the same in the future at the time its moment of composition is recalled. In the Deleuzian critique of Ganba, I have offered a variety of different ways through which to experience Boyd’s music, viewing it as an animate flow, and a dynamic process of intra-activity. The poststructuralist approach I have adopted shifts the focus from the realist discourse to understanding how the music makes itself differently intelligible to the bodies which intra-act with it. I have used the Deleuzian concept of event for considering how Ganba makes »thinking its own event«53. I have suggested that the event gives rise to a moment of dynamic change in which the work might be understood as a potential immanent, a momentary convergence of a multiplicity of forces and flows and intra-actions. I have carved out a space in this paper between the actualisation of Boyd’s Ganba, as an inert object as score, and its virtuality, in which it is imagined as a becoming, a movement through other events, a multiplicity of experiences, and a future that remains elusive and as-yet-unknown.

53 Cliff Stagoll, Art. »Event«, in: The Deleuze Dictionary, ed. by Adrian Parr, Edinburgh 2005, p. 88.

Renate Bozic

Klang – Raum – Zeit Die musiktheatralische Welt Adriana Hölszkys jenseits von Genderstereotypen

Nicht selten sind es äußerliche Momente, die für Aufmerksamkeit sorgen: Die Wirkung einer verblüffenden Vokaltechnik, die die Grenzen des physisch Machbaren auslotet und in signifikanter Weise die Klangwelt Adriana Hölszkys kennzeichnet, weckte die Neugier für das Schaffen der Komponistin. Das frühe Stück … es kamen schwarze Vögel für fünf Sängerinnen mit Perkussion aus dem Jahr 1978 steht für kompositorische Positionen, deren Merkmale sich wie ein roter Faden durch das Werk Adriana Hölszkys ziehen: Dazu zählen das Wechselspiel von Vokalem, Instrumentalem, Gestischem, die fließenden Grenzen zwischen Vokalem und Instrumentalem mit den Übergängen zwischen Geräusch und reiner Tonhöhe, zwischen gesungen, gesprochen, Lippengeräuschen und kontinuierlich klingenden Requisiten, zwischen Stille und maximaler Aktivität des Klanges. Hölszky zählt zu den »Vorzeigefrauen« der Neuen Musik, die durch ihre Produktivität und ihren Bekanntheitsgrad das Vorurteil der eingeschränkten weiblichen Kreativität nachhaltig widerlegen konnten. Die Unterrepräsentanz komponierender Frauen im Rampenlicht des Konzert- und Theaterbetriebes ist dennoch gegeben und so verdankt sich der Anstoß der Beschäftigung nicht selten dem Interesse am Ausnahmephänomen der »komponierenden Frau«. Dies wäre kein Grund zur Skepsis, wenn gleichzeitig mit der Genderperspektive der Fokus erweitert wird auf das grundlegend Essentielle der vorliegenden individuellen Kunstproduktion. In einer Befragung zur Frauen-Musik-Bewegung betonte Hölszky, dass es gerade für eine Komponistin wichtig sei, »nicht als ›komponierende Frau‹ etikettiert zu werden«. Vorrangig ginge es »um die Rangordnung des Wirkens in einer Kultur […]. Dies bedeutet, statt dem Pauschalen das Individuelle und Unverwechselbare zu suchen und zu fördern. Das setzt ein ständiges wachsames In-Frage-Stellen voraus. Um gerade das Lebendige, das Widersprüchliche und das Zerbrechliche zu erfassen, muss man sich von ›festen Fundamenten‹ lösen.«1 1 Adriana Hölszky, »Von festen Fundamenten lösen«, in: Neue Zeitschrift für Musik 155/ Nr. 4 (1994), S. 13f.

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Renate Bozic

Hier wird ausgesprochen, was dem Ziel und dem Sinn jeglichen kreativen Wollens immanent ist: es ist nicht die Demonstration einer vagen Kategorie des Weiblichen, sondern die Manifestation eines unabdingbaren künstlerischen Ich. Voraussetzungen und Weichenstellungen Bevor im Detail auf die Ästhetik der Komponistin eingegangen und abschließend die Frage nach einer weiblichen Ästhetik gestellt wird,2 dient ein Blick auf die Herkunft, die familiären Wurzeln, das soziale und historische Umfeld dem Verständnis des künstlerischen Werdegangs sowie den Voraussetzungen der kreativen Entwicklung. Hölszky, in Rumänien in einer deutschstämmigen Familie – beide Eltern waren Chemiker  –  aufgewachsen, profitierte von einem musischen Umfeld, das ihre früh zu Tage tretenden künstlerischen Ambitionen förderte. Die politisch historische Konstellation war günstig, da man im Zuge des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg Männer wie Frauen gleichermaßen benötigte und das ehrgeizige Projekt keine weiblichen Ausgrenzungen zulassen konnte. Im gesellschaftlichen Entwicklungsplan war auch Platz für die Kunst und den Aufbau einer jungen rumänischen Kultur. Dazu Hölszky: »Dieser Luxus, diese Nestwärme [der Frau] ist vom Wohlstand und vom System abhängig und nicht von der Tradition, weil es Tradition nicht (mehr) gab.«3 Adriana Hölszkys Weg ist von Anfang an ein auffallend eigenwilliger. Den Einflüssen von Lehrern und der Musik der Vergangenheit verweigerte sie sich strikt und gegenüber Modeerscheinungen zeigte sie sich unbeeindruckt. Sie verglich sich mit einer »Gans, die mit so viel Fett auf den Federn ins Wasser geht, dass sie nicht nass wird«4, wie sie es in einem Interview anlässlich der Uraufführung ihres Bühnenwerkes Bremer Freiheit bei der Münchener Biennale 1988 formulierte. »Freiheit« als Schlüsselwort existentiellen Seins wird – wie in der Oper  –  für die Komponistin zum Inbegriff geistiger Unabhängigkeit und künstlerischen Wollens. Für sie ist »das Komponieren ein Arbeiten vom 2 In diesem Zusammenhang wird auf den Beitrag von Sally Macarthur im vorliegenden Band verwiesen. 3 Gisela Gronemeyer, »›Du musst das Geheimnis bauen‹. Adriana Hölszky – Ein Komponistenporträt«, in: Neues Musik-Theater. Almanach zur 1. Münchener Biennale, hg. von Hans Werner Henze, München und Wien 1988, S. 79. 4 Ebd.

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Nullpunkt aus, wobei das Handwerk allein ihr keine Garantie gibt, dass sie auch wirklich ›schwimmen‹ kann«5. Das Handwerk lernte sie unter anderen bei Stefan Niculescu an der Bukarester Musikhochschule und, nachdem sie 1976 mit ihrer Familie in die Bundesrepublik nach Stuttgart übersiedelt war, bei Milko Kelemen und Erhard Karkoschka. Das Einhören in signifikante Werke – Vokalkompositionen, darunter ihr Hauptwerk Bremer Freiheit. Singwerk auf ein Frauenleben (1987) – ermöglichen in beachtlicher Zahl vorliegende CD-Einspielungen. Diese bedingen allerdings einen Nachteil gegenüber dem unmittelbaren Live-Erlebnis: Charakteristischen Hörkomponenten trägt die technisch reproduzierte Wiedergabe der Musik Hölszkys nur ungenügend Rechnung. Klangliche Tiefendimension, Mobilität und Raumeffekte der Klänge – prägende Bestandteile auch in der Erinnerung an Hölszkys Karawane für zwölf Schlagzeuger, uraufgeführt 1989 beim musikprotokoll des steirischen herbstes – wirken in der Aufnahme flach. Das Ergebnis ist ein chaotisch anmutendes Dickicht von Klang- und Geräuschereignissen, deren Einzelgestalten dem unvorbereiteten Hörer undurchdringlich verknotet erscheinen. Zunächst entsteht auch ein Widerspruch zwischen dem improvisatorischen Gestus mancher Stücke und – nach einem Blick in die Partitur – einer äußerst peniblen und differenzierten Aufzeichnung der von der Komponistin gewünschten Klangwirkungen. Hier tut sich ein Spannungsfeld auf, das sich einerseits aus eruptiver Intuition speist und andererseits den impulsiven Kräften überlegtes Ordnen und Gestalten entgegensetzt. Das Bild der Malerin Hölszky – auch das ist ein Teil ihrer vielseitigen Begabung, die in spontaner Eingebung Farben aufträgt, um deren innewohnende Dynamik und Kraft in weiteren Arbeitsgängen zu modellieren und zu entfalten – hilft, die Prozesse ihres musikalischen Gestaltens besser nachvollziehen zu können. Für die Komponistin ist der Beginn des Arbeitsvorgangs zunächst unbestimmt. »Das Ausgangsmaterial – Klänge, Geräusche, Rhythmen, Richtungen, Skalen – ›lebt‹ ständig in Adriana Hölszky und kommt im Moment des Komponierens an die Oberfläche. Durch ›Katalysatoren‹ […] wird eine Reaktion ausgelöst, von der man weder weiß, wie sie verläuft, noch, wohin sie führt. […] Das Material beginnt sich zu verselbstständigen, ein Eigenleben zu entwickeln, es bildet verschiedene Schichten (z.B. Zeit, Raum), die sich überlagern.«6

5 Ebd. 6 Beatrix Borchard (Hg.), Adriana Hölszky, Berlin 1991 (Klangportraits 1), S. 18f.

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Die Komponistin »sieht sich als Bildhauerin, die aus ihrem Material eine möglichst lebendige Form wachsen lässt«7. Die experimentelle Grundhaltung geht auf in Gestaltungsprinzipien, die schließlich die Zusammensetzung des fertigen Produkts bestimmen: Klangfelder, die übereinander geschichtet werden, wandernde Raumklänge und vielfältige Klang- und Geräuschkomponenten – der dynamische Atem im Labyrinth der einzelnen Klangformen und im Wechselspiel ihrer Elemente ist damit noch nicht ausreichend beschrieben. Erklärungen der Komponistin zu einzelnen Parametern und Verfahrensschritten ihres Komponierens bieten Orientierungshilfe, machen aber nach ihren eigenen Angaben nicht die eigentliche Essenz künstlerischen Tuns aus. In der Konstituierung einer perspektivisch ästhetischen Wirkung geht es vielmehr um individuelle Maßstäbe und Hörkategorien, die aus kreativen Impulsen hervorgehen und für die Positionierung, die Distribution der Klangereignisse und die Proportionen bestimmend sind. Es sind letztendlich imaginierte Kräfte, denen sich die endgültige Klanggestalt verdankt. »Es geht um die Kräfte, die unter der Erscheinungsform liegen« und die mit dem herkömmlichen analytischen Bezeichnungsvokabular zu erfassen, für die Komponistin nicht ausreicht. Hingegen ist für sie gesichert, »dass etwas organisches Neues eben nicht durch bloße Addition von Materialien entsteht. Das ist auch der Unterschied zwischen guten und schlechten Stücken: wenn die Grenze des Materials überschritten ist, wenn nicht Addition regiert, sondern organisches Wachsen, Verschmelzen. Eine Komposition ist wie ein Lebewesen: einzigartig.«8

Bausteine in einem energetischen Klangkosmos Das Eindringen in den kompositionstechnischen und ästhetischen Kontext führt zu den zentralen Parametern ihres Komponierens, die bereits Beatrix Borchard als Klang, Raum und Zeit apostrophierte.9 In Umkehrung der Reihenfolge erscheint die Reflexion über Zeitempfinden und Zeitvorstellung als das gewichtigste Element in Hölszkys kreativem Kosmos. Der Gedanke an Bernd Alois Zimmermann drängt sich auf, dessen Zeitphilosophie, pluralistisches Denken und Konzept »der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« Vor7 Ebd. 8 Hartmut Möller, »…ein Gewirr unterschiedlicher Zeiten… Adriana Hölszky im Gespräch«, in: Adriana Hölszky, hg. von Eva-Maria Houben, Saarbrücken 2000, S. 12. 9 Borchard, Adriana Hölszky (Anm. 6), S. 8.

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aussetzungen schuf. In seiner Oper Die Soldaten stehen simultane autochthone szenische und musikalische Vorgänge für das gleichzeitige Vorhandensein von Vergangenem und Zukünftigem im Gegenwärtigen und spiegeln damit die psychische Verfasstheit des Menschen. Davon abstrahiert, entsteht die musikalische Konzeption von parallelen strukturellen Abläufen als grundlegendes Gestaltungsmoment, das auch bei Adriana Hölszky eine wesentliche Rolle spielt. War das Übereinanderschichten heterogener Elemente bei Zimmermann noch in einer dramaturgischen Funktion begründbar, so stellt sich die Frage der Intention bei Hölszky anders. Die verschiedenen Klangschichten, zusammengefügt zu einem dichten Gesamtkomplex und für die Hörerinnen und Hörer schwer unterscheidbar, sind in ihrer Einzelgestalt von prägnanter Ausformung und Träger unterschiedlichen Zeiterlebens. Im Interview spricht die Komponistin von vielfältigen Zeiterfahrungen und Erlebniszeiten, von denen oft Menschen, resultierend aus verschiedenen Lebenslagen und Gefühlssituationen, zum selben Zeitpunkt betroffen sein können. So wie wir mit Zeit umgehen, betont Hölszky, basiere auf einer abstrakten Zahlenordnung und auf der Unterteilung von Grundwerten. Das sei aber nur ein Gerüst und Modell, ein Ordnungsprinzip, dem keine seelische Wirklichkeit entspricht. »Durch das Teilen von oben nach unten oder durch Multiplizieren von Zeiteinheiten meint man, die Zeit zu beherrschen. Doch das ist ein Trug. Zeit kann in Wirklichkeit nicht manipuliert werden. Du kannst nur komponieren, wenn du in der Zeit bist. Oder anders gesagt: Für den Komponisten ist die Zeit wie ein Berg für den Bergsteiger: Der Berg gehört dem Bergsteiger nicht.«10

Und noch ein Bild verwendet die Komponistin, um ihr Denken zu veranschaulichen: »Beim Komponieren kommt es mir so vor wie in einem Flugzeug, das mal höher steigt, mal tiefer sinkt. Über den Wolken sind die Sterne zu sehen und so weiter, es entsteht ein ganz anderes Zeitgefühl als beim Hinabtauchen in die menschliche Zeit, wenn Städte sichtbar werden und allmählich die Landebahn des Flugplatzes in Erscheinung tritt. Zwischen diesen Zeiten ist Spannung und je mehr Spannung entsteht, umso mehr erlebst du die Zeit als etwas Einmaliges, vor dem man Ehrfurcht empfindet.«11

10 Möller, »…ein Gewirr unterschiedlicher Zeiten…« (Anm. 8), S. 11f. 11 Ebd., S. 12.

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Mit Blick auf oft lang dauernde Schaffensprozesse meint sie: »… ich bin dabei nicht durchgängig in derselben Zeit, sondern plötzlich treten Erfahrungen aus anderen Lebenszeiten wieder zutage, mischen sich ein. Die Auffächerung der verschiedenen Zeiten in einem Werk ist für den Komponisten präsent […], eine Spannung von gleichzeitig verschiedenen Zeiten – eine Wechselwirkung zwischen einer kosmischen Zeitempfindung und einer Art AmeisenZeitempfindung.«12

Auch bei der Suche nach der Logik des Komponierens werden die Notentexte im linearen Nacheinander analysiert, davon ausgehend, dass »die Zeit etwas Äußerliches, Gegenständliches, Verfügbares ist« und somit eine verlässliche Konstante im Koordinatensystem des Kunstwerkes. Das erweist sich aber als unhaltbar.13 Um eine differenzierte Zeitgestaltung im musikalischen Medium sinnlich akustisch umzusetzen, können Zeitgestaltung und Zeitmodellierung in entgegengesetzten Systemen ausgedrückt werden, »wie temperierten und untemperierten Tonhöhen, flüssigen und bröckligen Klangtypen, linearen und vertikalen Strukturen, Fläche und Tiefe, kurzatmigen und langatmigen Verläufen, fließender und durchlöcherter Zeit. Diese Systeme laufen nebeneinander her wie Spuren, die ihren eigenen Weg gehen, sich zufällig treffen, auseinanderdriften, abtauchen und wieder an die Oberfläche gelangen«14.

Wichtig ist ihr, die Zeit zu brechen, sie nicht als linearen Vorgang zu empfinden, sondern vom Klang her neue Zeiträume zu erschließen. Viele Jahre nach Bremer Freiheit, ihrem erfolgreichen Bühnenerstling, in dem sie die hier angesprochenen Prinzipien eindrucksvoll umsetzte, bringt es Adriana Hölszky noch einmal auf den Punkt: »Das Diskontinuierliche der Wirklichkeit, die Mehrgleisigkeit der Zeitebenen innerhalb der Musik und die existenziellen Zeiten des Komponierens – das spielt tatsächlich eine Hauptrolle bei mir.«15 12 Ebd., S. 13. 13 Der Diskurs um die Zeit und die Mehrdimensionalität von Zeiterleben legt den Querverweis auf andere Wissenschaften nahe, denn sie haben der Erkenntnis Rechnung getragen, dass die physikalische Zeit nur eine einzelne »Systemzeit« darstellt unter sehr vielen anderen Systemzeiten, den biologischen, psychologischen und soziologischen usw. 14 Gronemeyer, »›Du musst das Geheimnis bauen‹« (Anm. 3), S. 80. 15 Möller, »… ein Gewirr unterschiedlicher Zeiten …« (Anm. 8), S. 14.

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In den Spielräumen der künstlerischen Imagination hängen Zeit und Raum zusammen und bedingen einander. Die Arbeit mit Raum-Zeit-Dimensionen und deren Verschränkung durchzieht das Œuvre der Komponistin in verschiedenster Ausprägung. Nicht nur der reale Raum ist wichtiger Mitspieler, sondern vor allem der in und durch die Partitur versteckte und ausgeformte akustische Raum. Ein Schlüsselsatz des Schweizer Bildhauers und Malers Alberto Giacometti, »Der Raum existiert nicht, man muss ihn schaffen«16, gewinnt im klingenden Medium eine ebensolche Bedeutung. Hölszky experimentiert mit »Wanderklängen« und gruppiert die Ausführenden im Kreis um Publikum und Dirigenten, wie im schon erwähnten Stück Karawane für 12 Schlagzeuger. Die Linearität des Komponierens von Punkt zu Punkt stellte sich immer mehr in Frage. An deren Stelle tritt das Konzept der Materialorganisation mittels vorgeformter Strukturen (Klangfiguren, -farben, -blöcke, -gesten), aus denen die Disposition für ein ganzes Werk entsteht. Für die Vorstellung »einer durchlässigen räumlichen Klangfelderarchitektur« lieferte die Arbeit im elektronischen Studio Voraussetzungen und Impulse, besonders die Live-Elektronik, die eine »verfeinerte Handhabung der Tiefenund Raumbewegung des Klanges«17 gewährleistet. Das künstlerische Ergebnis seit den 80er Jahren sind – im Bezug auf die Raumkomponente – »mehrperspektivische Verschachtelungen von beweglichen Klangfeldern, die sich geschlossen und diskontinuierlich verhalten«18. Auch die Bedeutung und Differenzierung von Geräuschfeldern nimmt im Laufe der Jahre zu. Raum und Zeit sind in Klangräumen verbunden. Ihr Stück Tragödia für Bühnenbild und Orchester, ohne Sänger und äußere, sichtbare Handlung, trägt den Untertitel Der unsichtbare Raum und ist kein Musiktheater, sondern »der Entwurf eines neuen Theaters, in dem die Musik selbst und ausschließlich das Drama ist«, und »als ein Gegenentwurf zur Vorstellung der Wirklichkeit durch Bilder«19 gedacht. Die Klänge bringen theatralische Zustände aus sich heraus, die aus dem Klang gewissermaßen hervortreten und entsprechend ihrer Qualität einen akustischen Raum schaffen, der sich ausdehnt und zusammenzieht, vergrößert und verkleinert. Die Klangräume aus vorgefertigten Modulen werden übereinander gestapelt, wobei jeder Raum vom Material her 16 Zitiert nach: Brigitte Kirchgatterer, »Dünner Mann für dicke Brieftaschen. Giacometti in Salzburg«, in: Kurier, 26. März 2011. 17 Adriana Hölszky, »Einige Aspekte meiner kompositorischen Arbeit«, in: Adriana Hölszky, hg. von Eva-Maria Houben, Saarbrücken 2000, S. 94. 18 Ebd., S. 81f. 19 Martin Zenck, »›Wegfegen die angezettelten Wortopern‹. Adriana Hölszkys wirkliches und imaginäres Musiktheater«, in: Neue Zeitschrift für Musik Nr. 4 (2004), S. 61f.

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jederzeit klar identifizierbar bleibt. »Alles, was sich entwickelt, kommt aus der Konfrontation dieser vermeintlich autarken Systeme.«20 Die Unabhängigkeit der klanglich strukturellen Schichten erzeugt wieder eine Mehrdimensionalität der Zeitempfindung. Ein Aufeinanderprallen von getrennten Zeiten findet statt. Durch allmähliche Transformationen kommt es zu einer neuen Ebene des Zeitempfindens, es verändert sich langsam die Hörperspektive. »Was zwischen den Schichten in Spannung gebracht wird, was dazwischen gekrümmt ist, wird wesentlich. So kann man die Relation CHAOS – UNORDNUNG nicht verstehen ohne der Gleichzeitigkeit der komplementären Kräfte in der Partitur zu folgen …«21 Die der Musik immanente Dramatik und das ihr eigene Theatralische entfalten sich nicht minder stark auf der Ebene der Mikrostruktur, bei einer geschlagenen Saite, beim verfremdeten Anblasgeräusch. Auch die kleinsten Elemente der klingenden Materie unterliegen einer ständigen Metamorphose und die daraus entstehenden Spannungsverläufe werden zur Grundlage der Konstruktion. Die ganze Palette der Lautartikulation – vom Sprechen zum Singen, vom Flüstern zum Schreien, vom Weinen zum Lachen – wird in die musikalischen Prozesse involviert. Unterschiedlichste Geräuschfarben, erzeugt von Händen und Füßen sowie vielfältigen Schlaginstrumenten, lassen die Grenzen zwischen Vokal- und Instrumentalmusik verschwimmen, da die Sängerinnen und Sänger gleichzeitig Schlaginstrumente spielen, während die Instrumentalistinnen und Instrumentalisten auch von ihrer Stimme Gebrauch machen. Oft sind es »mikroskopische Farbtupfer«, die aus der Verschmelzung von Stimmgeräuschen und Schlaginstrumenten (meist außereuropäischer Herkunft) entstehen.22 Wenn also Vokalistinnen Zusatzinstrumente spielen, dann haben diese die Rolle, den Stimmapparat zu verlängern. Sie dienen nicht der Illustration einer Atmosphäre, sondern stellen die innerlichen Spannungen dar. Der Klang entsteht aus der Bewegung. Die Anstrengungen der Klangerzeugung ergeben ebenso ein theatralisches Element, wobei die Einheit zwischen physischer Bewegung und psychischer Anstrengung das »Moment des totalen Erlebens der Zeit« hervorbringt. »Die Ausführung der durch

20 Christine Lemke-Matwey, »Klänge mit Zündschnur«, in: Die Zeit Nr. 20, 6. Mai 2004. Siehe auch Online-Ausgabe: http://www.zeit.de/2004/20/M-KS-H_9alszky_komma_ (Zugriff: 09.03.2012). 21 Maria Kostakeva, »Die Weltzeituhr ist abgeschafft ... Adriana Hölszky thematisiert die stille Katastrophe«, in: Neue Zeitschrift für Musik Nr. 4 (2008), S. 31. 22 Vgl. Adriana Hölszky, »Elastisch verfremden und kultivieren. Einige kompositorische Aspekte im Umgang mit der Stimme«, in: MusikTexte 65 (1996), S. 53f.

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Emotionen (›psychischen Anstrengung‹) bedingten Bewegungsimpulse wird Bestandteil der Komposition.«23 Hölszkys Interesse gilt der ständigen Bewegung, den kleinen Veränderungen, der filigranartigen Modulation des Klangs,24 den musikalischen Mikrostrukturen und den darin enthaltenen Energien, so wie sie vergleichsweise im Leben eines Blattes stecken. Sie identifiziert ihr Tun als das einer Wissenschaftlerin, die Dinge unterm Mikroskop erforscht, wobei es nicht um abgeschlossene Ergebnisse geht, sondern um das In-Beziehung-Setzen des Erforschten. Oder sie betont die haptische Komponente, wenn sie einmal mehr ihr Arbeiten mit dem einer Bildhauerin vergleicht: »Meine Klänge haben weniger mit Schwingungen zu tun als mit Materialien, die sehr konkret sind, beispielsweise mit Stein oder Sand, mit verschiedenen Oberflächen, auch mit unterschiedlicher Leuchtkraft. Ich betrachte sie nicht als Klänge: zu Klängen werden sie im Arbeitsprozess«25.

Wenn Hölszky Arbeitsprozesse beschreibt, dann kommen darin fast keine musikalischen Kategorien vor. »Meine Denkweise ist vielleicht nicht musikalisch. Das klingt sicher seltsam, aber es ist so. Das Musikalische berührt mich einfach nicht im entscheidenden Moment.«26 Sie skizziert abstrakt anmutende Versuchsreihen mit Chiffren, Symbolen oder Pfeilen, die Richtungen bedeuten können, Wanderungen im Tonraum, Geräuschqualitäten, Impulse, die in ihrer endgültigen Bestimmung offen bleiben. Sie nennt diese Elemente ihre »Tierchen, Würmchen, Steinchen oder Farben«. Zufallsmaterialien (verschiedene Modi, gefilterte und krebsläufige Skalen, improvisierte Akkorde und Zeitabläufe) werden auf Kassette aufgenommen und verändernden, auch verfremdenden Operationen unterworfen. Vorkomponiertes Material wird zerlegt, neu geordnet und geschichtet, auch unter Benützung von Schere, Fotokopien, Radiergummi und Klebstoff. Es wird die Verwendbarkeit der Partikel geprüft, erprobt, unter die Lupe genommen, bis etwas lebendig Neues entsteht, das die anfängliche Versuchsanordnung weit hinter sich lässt. »Ich versuche mit jedem Stück etwas Unmögliches […]. Ich baue immer, aber bauen heißt nicht: ich messe, ich proportioniere. Aber man modelliert […] Es hat viel mit Intuition

23 Borchard, Adriana Hölszky (Anm. 6), S. 29. 24 Vgl. ebd., S. 16. 25 Frank Kämpfer, »Keimzellen für ein Theater der Klänge. Adriana Hölszky über ihr neues Stück Tragödia«, in: Neue Zeitschrift für Musik Nr. 4 (1997), S. 12f. 26 Gronemeyer, »›Du musst das Geheimnis bauen‹« (Anm. 3), S. 80f.

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und Gespür zu tun.«27 Auch Kategorien wie Kontrast, Eckigkeit, Reibung und Verfremdung spielen eine wichtige Rolle. »Das Wachsen der Form ist eine Konsequenz der Konflikte und Reibungen zwischen den Strukturkomplexen und nicht eine Klanginszenierung, in der ein Schema mit Material ausgefüllt wird«28, referierte Hölszky 1986 in Darmstadt. Die Form wächst aus dem Detail, das sein innewohnendes Potential unter dem experimentierenden Zugriff entfaltet. Wie Organismen entstehen Strukturen, die aufeinander treffen, unterschiedlich reagieren und aus den Spannungszuständen eine Form generieren, die keiner vorgefassten Absicht entsprechen. »Hölszkys Musiktheater, das seit jeher an einer Radikalisierung des Gesamtkunstwerkes arbeitet, fast so, als stattete sie die einzelnen Bestandteile (Klang, Bild, Wort, Bewegung) mit Zündschnüren aus und wartete auf die finale ästhetische Explosion?«29. Die rhetorische Frage der Rezensentin nach der Uraufführung von Der gute Gott von Manhattan bei den Schwetzinger Festspielen am 19. Mai 2004 kann als Tatsächliches genommen werden und verweist einmal mehr auf das grenzgängerisch Gewagte des kompositorischen Vorhabens. Innerstrukturelle Beziehungen von Text und Musik Das Verhältnis der Komponistin zur literarischen Textvorlage bedarf der getrennten, differenzierten Betrachtung. Die Wahl des Sujets zu ihrem ersten Bühnenwerk Bremer Freiheit. Singwerk auf ein Frauenleben legt die Annahme einer feministischen Grundhaltung Hölszkys nahe. Ausgangspunkt ist die wahre Geschichte der Gesche Gottfried, einer 43-jährigen Frau, die, des mehrfachen Giftmordes (an Vater, Mutter, Gatten, Verlobten, Bruder, den eigenen Kindern und weiteren Personen) beschuldigt, zum Tode durch das Schwert verurteilt und am 21. April 1831 öffentlich hingerichtet wird.30 Wie schon bei Rainer Werner Fassbinder, der den Kriminalfall 140 Jahre später zum Gegenstand eines Theaterstücks und eines Film machte, erfährt die Geschichte die Auslegung als Paradigma der misslingenden emanzipatorischen

27 Marita Emigholz, »Die Freiheit, mit Raum und Zeit zu spielen. Gespräch mit der Komponistin Adriana Hölszky«, in: Neue Zeitschrift für Musik Nr. 9 (1989), S. 22. 28 Gronemeyer, »›Du musst das Geheimnis bauen‹« (Anm. 3), S. 80f. 29 Lemke-Matwey, Klänge mit Zündschnur (Anm. 20). 30 Adalbert von Chamisso wurde 1828, im Jahr von Gesche Gottfrieds Festnahme, zu dem Gedicht »Die Giftmörderin« inspiriert.

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Idee. Gesches Motiv war, »Ordnung« zu schaffen und sich zu »befreien«31, ihre Taten ein Auflehnen »gegen jene (von Eltern und Ehemännern verkörperte) bigotte Moral, die Unmündigkeit und sexuelle Unterdrückung zu Lebensnormen weiblicher Existenz erhebt«32. Die Sehnsucht in existentieller Enge nach Selbstbestimmung und das Scheitern der Protagonistin, indem sie durch ihre Taten in immer noch größere Unfreiheit stürzt, hat die Komponistin herausgefordert und während Thomas Körner noch am Libretto arbeitete, war sie schon lange mit den Klängen beschäftigt, ohne die Einschränkungen und Zwänge szenischer Vorgaben. »Als der Text kam, hatte ich schon eine Arbeit hinter mir, die mir sehr genutzt hat. Die ganzen Vokalstellen, die Überlagerungen, dann die ganzen Instrumentalflächen wurden meistens als Rohmaterial gearbeitet und dann noch einmal auf den Text bezogen – von Null angefangen die Arbeit. Aber die ganze Raumdisposition, das Prinzip der Klangwanderung war fertig. Denn das sind Sachen, die unabhängig vom Text ein selbstständiges Leben haben in Klang und Form.«33

So als hätte sie verschiedene Baustellen, Steinbrüche oder Labors, in denen sie die Materialien und Ingredienzien ihrer späteren Werke vorfertigt, um sie schließlich in der Architektur ihrer Klanggebäude zusammenzuführen. Die Prinzipien ihrer Arbeitstechnik wiederholen und differenzieren sich am jeweiligen Werk. Anlässlich der Uraufführung von Die Wände (Libretto von Thomas Körner nach dem Stück Les Paravents von Jean Genet) 1995 in Wien bemerkte sie, sie habe die kompositorische Verfahrensweise strukturell und zeitlich »mehrspurig« angelegt: »Ich habe getrennt an den Chören, an den Stimmen auf der Bühne, am Instrumentalensemble, am Raumklang und gleichzeitig an der Struktur der Zusammenhänge gearbeitet.«34 Hinter der strukturellen verbirgt sich wieder die zeitliche Vielschichtigkeit, die uns »in die Lage versetzt, mehrere Zeiten gleichzeitig zu erleben und zu imaginieren«. Das hat unterschiedliche Ausprägungen. In Bremer Freiheit entsteht der 31 Adriana Hölszky, »›Bremer Freiheit‹. Zum Werk«, in: Neues Musik-Theater. Almanach zur 1. Münchener Biennale, hg. von Hans Werner Henze, München und Wien 1988, S. 83f. 32 Michael Töteberg, »Fassbinders Moritat von der Giftmischerin Gesche Gottfried«, in: Neues Musik-Theater. Almanach zur 1. Münchener Biennale, hg. von Hans Werner Henze, München und Wien, S. 96. 33 Borchard, Adriana Hölszky (Anm. 6), S. 42. 34 Hartmut Möller, »›Man muss die Oper überwunden haben‹. Adriana Hölszky im Vorfeld der Uraufführung ihres neuen Musiktheaterstücks ›Der gute Gott von Manhattan‹«, in: Neue Zeitschrift für Musik Nr. 2 (2004), S. 63.

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Eindruck einer rotierenden Beschleunigung der Zeit von einem Giftanschlag der Gesche Gottfried zum nächsten. In Die Wände werden das fünfstündige Schauspiel von Jean Genet und das mehrstündige Libretto von Thomas Körner in der Komposition durch allmähliche mehrfache Überlagerungen zu Simultanszenen von der Komponistin auf hundert Minuten komprimiert. Die strukturellen und zeitlichen Dimensionen der Partitur erfahren durch Tonbandeinspielungen eine zusätzliche Steigerung. In Bremer Freiheit bekommen die real agierenden Personen noch eine zusätzliche Stimme in der elektronischen Schicht, während im weiteren Verlauf des Stücks die mittlerweile durch Vergiftung zu Tode gekommenen Bühnengestalten durch ihre Stimme aus dem Lautsprecher präsent bleiben, wodurch sich eine weitere Analogie zu Zimmermanns »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« auftut. Es entsteht eine ungemeine Informationsdichte, verstärkt durch 107 von den Sängerinnen und Sängern betätigte Perkussions- und Blasinstrumente, die das Publikum fast erschlägt. Hölszky merkt an, dass chaotische Zustände auszukomponieren für sie verlockend und reizvoll waren. Für die Komponistin sind es Reisen durch klangliche Landschaften. Auch der Klang versucht, sich gewissermaßen wie die Hauptfigur zu befreien. Im Umgang mit dem Text ist nicht dessen Vertonung das Ziel, sondern es geht vielmehr darum, Musik zu schreiben, indem man den Text zunächst »vergisst« und ihn dann neu komponiert. Ihr Interesse gilt den phonetischen Komponenten der Sprache. Texte werden zerlegt, Wörter zerstückelt und in kleinste Elemente pulverisiert, um danach neu geordnet und zusammengesetzt zu werden. »Die Musik ist aus der Abhängigkeit von einer Geschichte auf der Bühne zu lösen, indem Text und Musik in eine neue, indirekte Relation gebracht werden und auf getrenntem Wege die Konzeption und die Objekte des Bildenden Künstlers auf der Bühne beeinflussen.«35 Die durch das Spiel mit der Sprache neu gewonnene Kommunikation bewegt sich an der »Grenzlinie zwischen Klang und Sinn, Klang und Bedeutung«36. Mit Hilfe der Stimmen – Singen ist für Hölszky ein Ausnahmezustand – wird das Klanggeschehen in extreme Ausdrucksbereiche vorangetrieben. Es entstehen Klanglandschaften, die sich ständig erneuern und verändern. Im Stück Die Wände sind die Chorstimmen Teil einer Bedeutungssymbolik, indem sie geistige Situationen repräsentieren: »Sie bilden die imaginären Wände als Kräfte, als Farbe, als Membranen, als Licht, als Kälte oder Hitze. Das bedeutet, dass der Chor beispielsweise Kälte erzeugen muss, damit die Leute frieren.«37 35 Ebd. 36 Kostakeva, »Die Weltzeituhr ist abgeschafft...« (Anm. 21), S. 30. 37 Möller, »›Man muss die Oper überwunden haben‹« (Anm. 34), S. 63.

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Das Ausloten der eigenen Grenzen und der des musikalischen Mediums sind Nährboden der Fantasie und der kompositorischen Visionen, die die Unverwechselbarkeit ihres Schaffens ausmachen. Hier liegen nicht nur die Wurzeln des Theaters und das Potential künstlerischen Schaffens. Die Suche nach dem noch nie Gemachten geht weiter, denn »die Utopien sind nicht übertragbar, sie müssen jedes Mal neu geschaffen werden«38. Zur offenen Frage der weiblichen Ästhetik Wie ist nun abschließend mit dem Blick auf Hölszkys Œuvre die Frage nach dem Sinn einer weiblichen Ästhetik zu beantworten? Die Auseinandersetzung hat gezeigt, dass mangels geeigneter Kriterien eine sinnvolle Antwort nicht gegeben werden kann. Hölszkys experimentelle Arbeitsprozesse haben die traditionellen Vorstellungen des Komponierens weit hinter sich gelassen. Ihr Werk stellt avancierte Arbeitstechniken vor und ist Ausdruck eines Rationalisierungsvorgangs in der Kunst, der – wenn man Klischees bemüht – vorrangig männlich konnotiert ist. Das Fehlen metaphysischer Komponenten und der Verzicht auf affektive Impulse zugunsten des bildenden plastischen Moments im Komponieren entsprechen dem Stand avantgardistischen Kunstschaffens. Dadurch aber, dass Frauen wie Hölszky die musikalische Entwicklung mitgetragen haben, stellt sich die immer wieder diskutierte Frage nach einer Unterscheidung zwischen männlichem und weiblichem Komponieren, männlicher und weiblicher Ästhetik nicht mehr. Die Trennung der Geschlechter unter diesem Gesichtspunkt dürften wenige Komponistinnen für angemessen halten. Die österreichische Komponistin Olga Neuwirth hat jedenfalls die Frage nach einer spezifischen weiblichen Ästhetik dezidiert verneint. Auch die junge Komponistin Joanna Wozny – Gesprächspartnerin von Irene Suchy im Programm der Tagung – sieht Frauen als Teil des Musikbetriebs, deren Bestreben es ist, Beachtung und Anerkennung aus der Qualität ihrer Kunstproduktion zu beziehen und nicht aus der Tatsache ihres Frau-Seins. Fast entsteht der Eindruck als hafte dem Attribut des Weiblichen etwas Negatives an, wenn es um die Positionierung gegenüber dem vorherrschend Männlichen geht. Bis zur vollständigen und gleichberechtigten Durchsetzung weiblicher Interessen am Kunstmarkt bleibt das ungeliebte Thema der weiblichen Ästhetik zumindest in den Augen der Komponistinnen ein vorerst unbedeutendes.

38 Ebd.

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Introduction The cultural milieu that I would like to address – Slovenia and its music – lacks the historical coordinates in which the concept of geniuses would be something more than a theoretical frame observed from »outside«. The main Slovenian historiographical topic seems to be that of »Kleinmeister« and, since the end of the Second World War, »das Problem des Einholens der ›europäischen‹ Musik«1. The gender issue in Slovenian music is rather vaguely researched; actually, the basics still await discussion, although the gender differences seem hardly relevant for the musical practice of the approximately last two decades. And the third issue of this symposium, one of the thorniest since the heroic years of 20th-century modernisms, the concept of authorship – this is the leitmotiv running through the discussion – is becoming juridically self-evident, omnipresent qualia of which no one doubts, in spite of the difficulties regarding the extent to which it refers in music. A Surmise and the Main Question Edward Lowinsky’s comment on the musical vogue of his time reminds us nicely of how drastically the musical practice has changed, yet the perception of the production remained the same in the last half century: »›Total organization‹ or ›chance‹ are two sides of the same process. Both rule out the free act of creation that we ordinarily associate with the nature of genius. At the same time we observe a deflation of the idea of genius.«2 What Lowinsky deplores as a »deflation of the idea of genius« in his search for the concept of a musical genius might sound almost banal for a period in which everything but the »total organization« and »chance« is offered under 1 Andrej Rijavec, »Sloweniens Wünsche an die ›Musikgeschichte Österreichs‹«, in: Musicologica Austriaca 12 (1993), pp. 59–69, here: p. 66. 2 Edward Lowinsky, »Musical Genius. Evolution and Origins of a Concept«, in: The Musical Quarterly 50/No. 3 (1964), pp. 321–340.

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the umbrella of »contemporary music«. Yet the answer regarding the range, and the value, to which the idea of a genius has been deflated rather equivocally points to the level of the distribution of goods. For instance, the Slovenian composer Lojze Lebič recently noted: »I am concerned regarding the art of music, because nothing new has happened in music in the last forty years. There were always some novelties throughout the history [of Western music], there were always masters, geniuses […]. I am far from saying that nowadays there are no talented musicians, great masters, geniuses […]. But today we have a different situation. Individual geniuses are not decisive, but the power of the technique is. […] Individuals, masters, geniuses are not decisive – the merchants with their coins affect the choices.«3

Aside from the resignation in Lebič’s observation, one might point to a certain historiographical narrative with a rather clearly discernible shift from an individualistic perspective toward a certain »democratization« of the achievements: »there have always been individuals … but today we cannot do much as individuals«. The shift might be seen as a process in which all the differences between the authors are levelled out; their historical or pragmatic value is questioned; the hierarchy between them is somehow changed. My aim here is to offer a glimpse into this process of change in the historical perspective where, beside the lack of »big names«, also »the small names« – along with the very concept of authorship – are going through a notable change. In doing this, four Slovenian composers and their work shall serve as an example. Four Composers In the period when »the art of theory has become as destabilized as the theory of art«, it seems inevitable to indicate the range of the authorship with a certain common denominator. Thus, four Slovenian composers claiming certain avant-garde views and their notion of authorship are compared  – through their explicit musical poetics: Urška Pompe, Tadeja Vulc, Lojze Lebič, and Vito Žuraj.

3 Gregor Pirš, »Interview with Lojze Lebič«, in: Arsov Art Atelje, Ljubljana: RTV Slovenija, broadcast, December 2010.

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Urška Pompe (*1969) For her, »each composition has its own purpose, whether it is provoked by an event, with the sounds from the surroundings, by silence, by human relationships, nature: each composition aims to resolve the basic compositional idea, technical problem, technical challenge, taking into account the personality of the performer (his musicality, technical ability, character, personality), the curiosity for discovering color. Sound material are the tones, which communicate together through well thought-out movements, sometimes more and sometimes less accomplished, sometimes trapped in a narrow framework, sometimes bursting out on all sides. The guiding principle is a gesture, a gesture as a unit of time, because music exists in time, a gesture as a musical event, as the contents of sound, a gesture that is always imbued with energy directing the flow of events«4.

She noted in the CD booklet for the composition Almost a Loneliness for soprano and wind quintet: »I caught six moments of imagination from the world of metaphors, irony, humor, and intuitive poetry with a great emotional and intellectual load.«5 Urška Pompe is engaged in a search for intimate, personal truth. Being well aware of the plethora of existent music and many excellent works and believing in the responsibility of the composer, she is driven by a certain »subtle complexity«6. Actually, her music is imbued with an intimate »lurking« for subtle fragments of sound. She is developing ideas for each piece extremely carefully, out of »some thought, something I would like to communicate […], sometimes from a complex of sounds, sometimes as a symbiosis between the urban and the natural«7. Her music is written with sharp, precise, minutely elaborated gesticulation, creating a neatly refined flow of sound events. Urška Pompe conceives her music within the classical expressionist tradition, where a »sigh can be extended into a novel«. Although comparable to some techniques of musique spectrale and the new complexity movement, she is not primarily concerned with the medium of sound. She is much more concerned with the minute elaboration of the technical details, knitting a tight, 4 Urška Pompe, Brst, Založba kaset in plošč RTV Slovenija, Ljubljana 2009. 5 Ibidem. 6 Gregor Pirš, »Interview with Urška Pompe«, in: Arsov Art Atelje, Ljubljana: RTV Slovenija, broadcast, November 2010. 7 Ibidem.

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poetic flow of gestures. Nothing more but nothing less: the semantics of her music is focused on intimate utterances. The past is somehow latently present, the contemporaneity thoroughly sieved through personal volition. The relation between the author and his audience is primarily ahistorical, though focused on a certain personal experience, semantically idiosyncratic, narratively »stimulating« and socially almost entirely »disinterested«. Tadeja Vulc (*1978) If one may point to the technical details and the role of the compositional technique in Urška Pompe’s work, Tadeja Vulc’s music emerges as a rather »a-technical« art. Of course this does not mean that Tadeja Vulc neglects compositional techniques. Far from it, her education in composition is at the highest level academically. Although her invention is sparked from similar events from everyday life – »sometimes I read a book, a poem, sometimes I see a photograph, a picture, often a sound from my surroundings or at home«8 – she receives the main impulses for creation in »such feelings that anyone is experiencing«9. When compared to Urška Pompe, the much more intuitively biased approach to music may be detected. Her works suggest a more novelist-like exploration of the trajectory communicating – a certain in-«between the intellect and the intuition«10 –, where the intellect refers mainly to the overall formal design and the intuition to the aesthetical dynamism of a piece. The semantic potential of her music is painted with a rather soft, well-balanced palette of sound episodes. Tadeja Vulc approaches music within different branches of the new complexity tradition in the widest sense of the term. She is primarily concerned with the medium of sound as a vehicle for elemental human experiences. The narrative of her music consists of more or less broad aesthetic situations. The relation between the author and the audience is primarily ahistorical, focused 8 Danica Dolinar, Rok Golob and Tadeja Vulc, Portraits of Young Slovenian Composers, TV Slovenija, Ljubljana 2004: http://tvslo.si/predvajaj/portreti-mladih-slovenskih-skladateljev-rok-golob-in-tadejavulc/ava2.99591626/ (accessed April 1, 2011). 9 Luisa Antoni, »Portrait of Tadeja Vulc«, in: Po poteh slovenske glasbe, Ljubljana: RTV Slovenija, broadcast, May 2008. 10 Tadeja Vulc, »Koncert Studia za tolkala«, concert leaflet from December 9, 1999, Society of Slovenian Composers 1999. – Tadeja Vulc, »Skladateljski večer: Tadeja Vulc – Daniel Tement«, concert leaflet from November 28, 2002, Cankarjev dom, Ljubljana 2002.

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on a certain general aesthetic experience, semantically broad, permeable, narratively »descriptive«, socially sometimes connected to religion. Lojze Lebič (*1934) Lojze Lebič is a distinguished academician and probably the most popular Slovenian composer for many young composers and a rather wide circle of listeners. He emphasizes that the strongest lesson from the avant-garde is, for him, the rigorousness of thought. However, he is far from underestimating the »common listener«. Although he would hardly assent to any pragmatic concession, he has a kind of »second listener« in his mind while composing: »If [my music] is to attract the listener to seek deeper layers and hints, the surface of the work has to be understandable and covered with a sufficient number of recognizable sounds.«11 Those layers feature prominently in his music, emerging through tissues of complex sonorous textures as »hints«, »allusions«, »evocations«, »indications«, or »reminiscences« of certain phenomena. Whether it be an »evocation« of an archetypal sound event, or of a more apparently associatively »permeable« musical structure, such as a bucolic quality of the melodies, emphasized repetitions of triads in a highly complex texture, a Mahlerian »moment of narration«12, or a complement to Bach’s famous cadence from the Fifth Brandenburg Concerto: these telling details are interwoven carefully in a complex musical narrative rooted in the formal universals of music. Those semantic layers sometimes evade the vice of a name, yet remain closely related to more or less easily recognizable allusions and hints to different non-musical as well as musical phenomena. For him, composing is a process of »framing something from one world which is found in another«13. He composes according to the aesthetic ideal: to allow »the grammatical feeling to restore to the music some of its lost ability of speech«14. Yet, he adds: »I remain within the limits of my field. This, however, teaches me that all significant musical works – from Bach’s art of the fugue to Bartok’s masterpieces with a sectio aurea – are crafted with great architectonic consideration, that they are a junction of necessity, that the laws of these junctions may be analytically discovered just as 11 Milan Dekleva, »Kot da je svet že dopolnjen«, in: Dnevnik, February 7, 1994, p. 9. 12 Caroline Abbate, Unsung Voices. Opera and Musical Narrative in the Nineteenth Century. Princeton 1991, pp. xi and 29. 13 Ibidem. 14 Ibidem.

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they were consciously built; but that the impulses dictating them will be forever hidden.«15

For Lebič, the author should be a typical modernist, but the ideals of »communicative aesthetics« should be typically postmodern. He listens carefully to the history and searches for subtleties in the classical compositional technique, developing an artistically unique utterance while standing »on the shoulders of the giants«. The central theme of the relation between the author and his audience is broached historically and culturally, narratively »enlightening«, oriented somewhat fatalistically, even if it is, at the same time, strongly recognizable as a part of the composer’s personal experience. Vito Žuraj (*1979) One of the most prominent young Slovenian composers; as far as musical technique is concerned the most open-minded among the four chosen and commented on here. He is familiar with electronic as well as classical instruments, which is far from the more »romantic« attachment to the classical heritage of the previously mentioned composers. Commenting on one of his major symphonic works, In medias res, Žuraj indicated his broadest view of music as a purely additive art (from the program booklet): »I am trying to stick to the principle of writing music that would be understandable also without analysing the compositional concepts.« However, he is far from generating any palpable semantic fragments, searching the semantic potentials of the musical flow at a general cognitive level. Moreover, in each work he creates a kind of ludically instrumentalized, technologically driven soundscape. His artistic aim reads: »not to paint the programmatic title [usually used for his composition], but, as I generally understand musical composition, to offer a musical flow, flow of musical energies that I am directing through the medium of instruments on the stage.«16 His musical poetics are rather physically experiential. Replying to a question asking for his inspiration, his reply is much less culturally conditioned than Lebič’s views (not to mention Vinko Globokar): »I often pick up ideas for my music in nature. [...] Especially in Karlsruhe [where Žuraj currently lives] I often go for a walk in the city park. I am trying to avoid the 15 Ibidem. 16 Gregor Pirš, »Vito Žuraj«, in: Arsov Art Atelje, Ljubljana: RTV Slovenija, broadcast, May 2009.

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common everyday thinking amidst the green trees and their sounds and to establish a different kind of communication with the environment. From the sounds of nature, as well as from visual impressions, various ideas can be channeled into other dimensions. They bring me to various sound effects, which are then incorporated into existing musical form, or the entire composition emerges out of them.«17

Žuraj is reflecting his music as a culturally open-minded tribute to global diversity, where the authorship is unquestionably an ethical issue: »When and if we ever manage to look at the art and consider artists with the same measure of respect regardless of their nationality, race, religion, stylistic direction and ideological attitude, then we shall perhaps be able to anchor more steadfastly in the arts the function of uniting and connecting people. […]. I believe that we should see the future of the arts in the amalgamation of all insights from the past with the visions of times to come.«18

Notwithstanding the differences, or social embeddedness, of different musical phenomena, Žuraj reveals himself in a much less typical yet still explicitly modernist light. The medium of sound production, rather important for his work, offers him new means for artistic expression. However, the past and the present are not seen as relevant aesthetic resources, even if his attitude is explicitly ethical. The relation between the author and his audience is primarily ahistorical, self-confined in a ludic process of semantically common, even naïve events, narratively »disengaged«, socially more »disinterested« than engaged. Authorship If compared to one another, the four musical poetics discussed share certain ambitions toward semantic permeability, a notion of music as a universe of sounds, or rather: audible figments of reality. In spite of the generational differences, they are all attached to (different segments of ) the modernist tradition in which the main role is connected to the central ideal of musique informelle, as described by Gianmario Borio19 – in his words: »Appellcharakter [...] an die Lebenswelt des Rezipienten« in which there takes place a »Gewichtsverschie17 Ibidem. 18 Črt Sojar Voglar, Composers’ Traces from 1900 Onwards, Ljubljana 2005, p. 295. 19 Gianmario Borio, Musikalische Avantgarde um 1960. Entwurf einer Theorie der informellen Musik, Laaber 1993 (Freiburger Beiträge zur Musikwissenschaft 1).

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bung der sinnbildenden Elemente von abstrakten Gestaltungsprinzipien zur konkreten, körperlichen Beschaffenheit des Klanges«20. They share a certain universalistic view of music as a phenomenon emerging out of »transhistoric« aesthetics. They expect the listener to indulge in different idiosyncrasies of the metaphorical permeability of the musical structures. These range from music-historical or cultural (as in Lojze Lebič’s work), over a kind of »gaming« with the medium of sound (as in the works by Vito Žuraj) and individual poetic experiences in sound (as in the works by Urška Pompe), toward broadly conceived aesthetic situations (Tadeja Vulc). The Genius in Music and its Conditions At this point one could, of course, object that the cognitive differential in perception of those musical poetics is missing here. Without otherwise necessary argumentation regarding the extent to which the commented explicit musical poetics may, or may not, be described as authorial, one aspect seems to stand true: they all aspire toward ideals of musical narrativity that pretends to be generally accepted, transcultural and eventually – classical. They all tend toward well rounded-off, universal aesthetic ideals presupposing a certain surplus, a certain extra-value, certain non-temporal features, usually found in the works of the great masters, distinguished individuals as well as the geniuses and they develop them further. What exactly does the concept of genius offer in respect to their works? Harold Bloom wrote an appealing view of the concept of genius today: »There are evidences of wavering among those who have dismissed genius merely as an eighteenth-century fetish. Groupthink is the blight of our Age of Information, and is most pernicious in our obsolete academic institutions, whose long suicide since 1967 continues. The study of mediocrity – whatever its origins – breeds mediocrity. Thomas Mann, descendant of furniture manufacturers, prophesied that his Joseph-tetralogy would last because it was well made. We do not accept tables and chairs whose legs fall off, no matter who carpentered them, but we urge the young to study mediocre writings, with no legs to sustain them.«21

20 Ibidem, p. 169. 21 Harold Bloom, Genius. A Mosaic of 100 Exemplary Creative Minds, New York 2002, Preface.

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His book is founded on »two paradigms«, Kabbalah and Gnosticism, to which he adds the third one: Hermetism.22 Bloom derived from Kabbalah the formal plan of his book: he takes Kabbalah Sefirot as a system of interrelated key-qualities complementing each other as a »kind of mosaic-in-perceptionalmovement«23 chapters for grouping the literary masters and subdividing them into »lustres« which »refer to the condition of shining by reflected light, the gloss or sheen that one genius imparts to another, when juxtaposed in my mosaic«24. He understands the Gnostic tradition as a »knowledge that frees the creative mind from theology, from historicizing, and from any divinity that is totally distinct from what is most imaginative in the self«, whereas hermetism is but a handheld in the tradition of »Platonists who had absorbed the allegorical techniques of Alexandrian Jewry«25. Bloom states: »My placement of the hundred geniuses is hardly one that fixes them in place, since all the Sefirot are images constantly in motion, and any creative spirit must move through all of them, in many labyrinths of transformation.«26 His position in defining genius is commonsensical. For him, a genius evades the confines of place and time; instead, a genius is an idiosyncratic embodiment of what might be considered classical: »All genius, in my judgment, is idiosyncratic and grandly arbitrary, and ultimately stands alone.«27 One is tempted to see Bloom’s definition of genius as an epistemological embellishment of the Kantian notion of genius.28 Although without mentioning Kant at all, Kant’s definition of genius – as an »innate mental predisposition (ingenium) through which nature gives the rule to art« – is nevertheless a centripetal force also for Bloom’s geniuses. His aim is far from offering any clear-cut typologies of genial personalities, as offered by Peter Kivy;29 yet 22 Ibidem, p. xvii. 23 Ibidem, p. xii. 24 Ibidem, p. xv. 25 Ibidem, p. xviii. 26 Ibidem, p. xi–xii. 27 Ibidem, p. xii. 28 »Genius is the talent (natural endowment) that gives the rule to art. Since talent is an innate productive ability of the artist and as such belongs itself to nature, we could also put it this way: Genius is the innate mental predisposition (ingenium) through which nature gives the rule to art.« (sect. 46, quoted from Immanuel Kant, Critique of Judgment, transl. by Werner Pluhar, Indianapolis 1987). 29 Kivy demarcates the Platonic myth of »demon-possessed«, passive genius (Mozart); the Longinian »self-possessed« conception of active, genius (Handel, Beethoven), and extraordinary »odd man out« craftsman-geniuses like (Bach, Haydn). Peter Kivy, The Possessor and the Possessed. Handel, Mozart, Beethoven, and the Idea of Musical Genius, New Haven 2001.

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Bloom’s subtle net of »lustres« unveils several sets of features offering a nomenclature for what might be called a performative concept of genius: a concept of defining outstanding phenomena through cognitive variables and their social relevance. Bloom’s claim that »talent cannot originate, genius must« has a rather peculiar relation with Schubart’s romantic claim »Kein Sprichwort ist so wahr und der Natur der Sache so angemessen als dieses graue: Dichter und Musiker werden geboren. […] Das musikalische Genie hat das Herz zur Basis, und empfängt seine Eindrücke durchs Ohr.«30 (The Horatian saying »Orator fit, poeta nascitur« seems to lie behind those claims.31) For Bloom, the genius is always a kind of entelechy connecting »the heart« with »the ear« – the ear standing not only for the individual’s senses but as a complex performing act entailing certain socially relevant influences. Whereas the genius is capable of achieving this »surplus value«, in Bloom’s view, the assumed notion of authorship behind this is but a legal category defining the authors’ merits in terms of intellectual copyright and authorial liability. The edge from which to demarcate »genius« from an »author« is, hopefully, clear enough as an issue of »cultural economy«. To return to my music examples: who, and on what basis, can define the cultural value of idiosyncratic, highly personal, individualistic narrative that broached the issue of a plethora of cultural as well as different experiential topics in terms of a sublime universe of sound? Conclusion In other words, contemporary music production, as seen through the commented music examples, sheds a rather perplexed light on the author. The authors commented on may be described as »lustres« (to use Bloom’s phrase) of allegedly universal human experience. It would be difficult to deny uniqueness to their artistic credibility or cultural relevancy. Yet it seems equally difficult to think of defining the range of authorship within a culture in which the semantic fragility of the aesthetic ideals unfolds a kind of axiological pontoon, on which one can expect incommensurability 30 Christian Friedrich Daniel Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, Wien 1806, p. 368. 31 The historical details for the claim considered here refer to: William Ringler, »Notes and Documents. Poeta nascitur non fit: Some Notes on the History of an Aphorism«, in: Journal of the History of Ideas 2/No. 4, (1941), pp. 497–504.

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of the aesthetic phenomena, shifting and wavering to and fro between certain sound universals and semantic particularities imbued with existentialism ascribed to them by the composer. There is hardly a place even to juxtapose an author and a genius on this horizon. The music commented on should be appreciated as a congenial reflection of the elemental, most profound human experiences, but also some specific ones – including a wide range of semantic aspirations, ranging from visceral to different cultural phenomena. To sharpen the focus: the authorship in the given music examples figures as a fragment within a universe of heterogeneous and heteronomous universals. It would be difficult to deny their authorship; yet it would also be difficult to accept them as – either more or less – »congenial« than any other artistic creation just because of their formal attributes. In other words: the musical phenomenon stands in line with the notion of a »handwork« product, not aesthetical surplus. Even if shifting away from the stylistic orientation specific for the composers discussed, one is tempted to claim that any other musical style today supposes a certain »self-evident« jouissance prevailing in the »goods of small things«, individual solutions and alleged incommensurateness. To what extent those differences could be considered as more, or less, uniquely authorial than the ones discussed here – that would be, of course, another story.

Ruth Neubauer-Petzoldt

Traumwesen oder durchgeknallte Isländerin Selbstinszenierungen und mythische Ikonologie der Künstlerin Björk

Sie empfanden natürlich; wir empfinden das Natürliche. Friedrich Schiller Aus dem Gedanken, daß uns das Selbst nicht gegeben ist, kann meines Erachtens nur eine praktische Konsequenz gezogen werden: wir müssen uns wie ein Kunstwerk begründen, herstellen und anordnen. Michel Foucault

»Bjork is regarded as the most eccentric Hollywood star when she continuously shocks people with her crazy outfits. Bjork is even more famous for her eccentricity than for her music«1; »überdrehte Kitsch-Diva, zerbrechliche Kindfrau, zielstrebige Avantgardistin«, aber auch »feministische Ikone«2, lautet die Cover-Beschreibung einer Biografie Björks. »Eisfee, Traumwesen, singende Elfe«3, schreibt das trendmagazin, und ein Musikkritiker äußert 2005: »Björk ist seit ihrem Debut Kult. Bei jedem neuen Werk übertrifft sie sich selbst, und gibt noch einen drauf. Manchen war das bei Vespertine [von 2001] schon zuviel Schnick-Schnack und Skurrilität, andere Hörer stiegen beim stimmlichen Meisterwerk Medúlla [2004] aus. […] Björk geht nämlich [mit Drawing Restraint 9] noch mal einen Schritt weiter, vermischt Folkloristisches aus [dem] Norden und

1 http://lifestyle.ezinemark.com/craziest-outfits-of-stars-7736923f7e9c.html#ixzz1 HEPOp5xa (Zugriff: 30.03.2011). 2 Evelyn McDonnell, Björk, Freiburg 2002. 3 http://www.trendmagazin.ch/trend-journal/bjoerk (Zugriff: 30.03.2011).

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Japan mit Weltuntergangsstimmung, Totentanz-Jazz und anstrengenden Dialogen. […] Björk geht keine Kompromisse ein […]«.4

Einig ist man sich, dass Björk eine unberechenbare, absolut selbstbestimmte Künstlerin und Musikerin ist; einerseits trennt sie professionell zwischen privatem und öffentlichem Leben, andererseits inszeniert sie sich als Gesamtkunstwerk aus Klang, Text und Bild, deren verschiedene Facetten im Folgenden näher untersucht und in den Kontext tradierter Künstlermythen und Geschlechterrollen eingebettet werden. Dabei wird sich zeigen, dass Björk einen konsequent weiblichen Künstler- und Natürlichkeitsdiskurs verfolgt. Ich beziehe mich dabei exemplarisch auf einzelne Stücke, ausgewählte Videos oder Auftritte; ihr Werk selbst ist nahezu unüberschaubar: sehr oft remixed sie eigene Titel, arbeitet mit anderen Musikern zusammen. Es ist programmatisch für sie, dass kein Auftritt dem anderen gleicht, sogar bei Tourneen gestaltet sie jeden Abend, jede Inszenierung, oft jedes Lied anders, kombiniert das Programm neu, tritt verändert auf; neue Arrangements, etwa der Wechsel von Streichern zu Blechbläsern, verändert den Ausdruck eines Stücks völlig (so in den Volta-Konzerten 2007 und 2008), mal klingt es introvertiert, »romantisch«, mal fast aggressiv, euphorisch – so wird es offensichtlich auch ihr selbst nie langweilig. Was zeichnet Björks Musik und Inszenierung jenseits des Etiketts »niveauvolles postmodernes Patchwork«5 aus? In ihrer Kunst, um Musik, Text und Inszenierung hier zusammenzufassen, ist der Bezugspunkt zur Natur, die Natürlichkeit zentral, denen komplementär Künstlichkeit, Technik und selbstreflexive Abstraktion gegenüber gestellt sind. Ihr Ende 2011 erschienenes Album Biophilia trägt diese Programmatik bereits im Titel und will auf noch konsequentere und innovative Weise, Musik und Technik, Natur und Kunst zu einem allumfassenden Gesamtkunstwerk verbinden, in dessen Mittelpunkt Björk in unterschiedlichen Inszenierungen steht und die sich diesmal auch anderer bzw. aller neuen verfügbaren Medien bedienen, so etwa der Apps für das iPad: »The app […] is an eBook with interactive 3D objects, movies, animations, and diagrams‚ based on real scientific data, along with images from NASA, the European

4 http://www.exitmusic.ch/rezensionen/neuerscheinungen/bjoerk_drawing_restraint_9.htm (Zugriff: 30.03.2011): exit:Music. Schweizer Online Musikmagazin; Rafael Werner im August 2005 über Björks Soundtrack Drawing Restraint 9. 5 McDonnell, Björk (Anm. 2), S. 53.

Traumwesen oder durchgeknallte Isländerin

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Abb. 1  Cover des Albums Biophilia 7

Space Agency and the Japan Aerospace Exploration Agency. From June, every song in the album will be released as a single app for iPad, twice a month.«6 7

Zugleich sind Videos, eine Website mit 3D-Animationen und eine dreijährige Welttournee angekündigt, die auf die Veröffentlichung des Albums Ende September 2011 folgen, und ein ausführlicher englischer Wikipedia-Artikel steht schon bereit, das Album-Cover wurde bereits Anfang 2011 getwittert (Abb. 1). Björk will hier alle Möglichkeiten der kommunikativen Technik zu Marketingzwecken, wie dies nicht zuletzt Lady Gaga derzeit idealtypisch vorführt, ausschöpfen, aber vor allem steht die Idee des grenzüberschreitenden Kunstwerkes im Zentrum, das immer wieder als aktuelle Neuschöpfung erfahren werden soll und das innovative technische und musikalische Möglichkeiten, etwa der Einsatz der Blitze produzierenden Tesla-Spule zur Ton- bzw. Musikerzeugung, vorführt. Die Coverabbildung zeigt Björk als entrückte, verwandelte Figur, deren Selbstinszenierung die Pole zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit ausreizt und zu Mythen der Künstlerrezeption in Beziehung setzt, zu denen natürlich auch die Performanz und die Vermarktung künstlerischer Produkte gehören. 6 http://en.wikipedia.org/wiki/Biophilia_%28album%29 (Zugriff: 22.07.2011). 7 http://en.wikipedia.org/wiki/Biophilia_%28album%29 (Zugriff: 30.08.2011). Ich danke Björks Plattenfirma One Little Indian Record für die freundliche Erlaubnis, Aufnahmen der Cover und Filmstills für diesen Artikel zu verwenden.

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Diskurse der Natürlichkeit und Künstlichkeit werden seit der Antike verhandelt, prononciert formuliert in Friedrich Schillers Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« und immer wieder seit der Romantik und in der Moderne aktualisiert, von Philosophen wie Arnold Gehlen oder Helmuth Plessner, der die natürliche Künstlichkeit als anthropologische Grundeigenschaft des Zivilisationsprozesses bezeichnet.8 Dabei gilt das Natürliche als uneinholbare Projektion, als idealer Zustand, der im Verlust des Natürlichen und im 21. Jahrhundert noch deutlicher durch die Umweltzerstörung und den damit verbundenen konkreten Verlust von Natur immer wieder imaginiert wird. Die Natur symbolisiert eine grundlegende Ordnung, die sich letztlich auch in Naturkatastrophen zeigt, deren Opfer vor allem der Mensch ist, aber zugleich hier eine jenseits der Geschichtlichkeit des Menschen und seiner technischen »Korrekturversuche« bestehende »mythische« Zeitlosigkeit offenbart. Das Weibliche wird dabei immer wieder als kulturelles Residuum von Natürlichkeit betrachtet und der Frau werden – vor allem aus männlicher Perspektive – Eigenschaften der Natur zugewiesen9; diesem Prinzip der Natürlichkeit werden dabei auch die Liebe als »Naturereignis« und der kreatürliche Teil der Kunst beigeordnet, das sich mit mythischen Idealisierungen, wie etwa dem »ewigen Kind«, der »Urmutter«, der Idee des göttlichen Spiels, dem divina artista, zu einem transzendierenden Naturbild verbindet, das Björk in ihrer Kunst und vor allem in der medialen Inszenierung aufgreift. Die Künstlermythen und ambivalenten Stereotype, wie der Künstler als melancholischer Außenseiter und visionärer Heilsbringer, die absolute Freiheit des Genies, das Unterlaufen weiblicher Rollenklischees durch Künstlerinnen begleiten die Diskurse der Künstlichkeit, die als komplementärer Part den Natürlichkeitsdiskurs ergänzen.10 8 Vgl. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 2. Aufl. Berlin 1965 sowie Dieter Birnbacher, Natürlichkeit, Berlin und New York 2006, sowie Barbara Ränsch-Trill (Hg.), Natürlichkeit und Künstlichkeit. Philosophische Diskussionsgrundlagen zum Problem der Körper-Inszenierung, Hamburg 2000 (Schriften der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft 110). 9 Die Frau als Allegorie der Natur sowie die Wahrnehmung der Natur als Braut sind romantische Topoi, die ich ausführlicher in meinem Aufsatz »Von Bräuten, Holunderbäumen und Hieroglyphen. Mythos, Ritual und Raum in der Romantik«, in: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 68/69 (2008/2009), S. 137–156, diskutiere. 10 Vgl. zu Künstlermythen: Verena Krieger, Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007, vor allem auch die Konzepte weiblichen Künstlertums, S. 129–149, sowie Ernst Kris und Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt a.  M.  1995, Eckhard Neumann, Künstlermythen. Eine psycho-historische Studie über Kreativität, Frankfurt a. M. und New York 1986, sowie meinen Aufsatz »Modellfall – ›Genie‹ – Mythos. Nor-

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Eine besondere Rolle spielen tradierte Künstlermythen, die dem Künstler und vor allem der Künstlerin eine besondere Verbindung zur Natur und zu mythischem Wissen unterstellen und eine quasi göttliche Schöpferkraft suggerieren, indem etwa die weibliche Gebärfähigkeit mit der Kreativität einer Urmutter und dem künstlerischen Akt verbunden wird – auch wenn viele zeitgenössische Künstlerinnen dies gezielt als satirische Überzeichnung unterlaufen bzw. in einer androgynen Selbstinszenierung auflösen, was in Björks Performanz nur ansatzweise zu beobachten ist.11 Dem steht das männliche Prinzip des Schöpfers, aber auch des Zerstörers, der einem ambivalent bewerteten kulturellen und vor allem technischen Fortschritt verpflichtet ist, gegenüber, das hier einem matriarchalen Prinzip als komplementär, aber eben auch als destruktiv, als gewinn- und machtorientiert gegenüber gestellt wird – »natürlich« sind diese Geschlechterzuweisungen jeweils kulturelle Konstrukte und werden auf einer Metaebene durch die Inszeniertheit selbst in ihrer »Gemachtheit« entlarvt. Das Lied und Video »Bachelorette« (eine englische Neuschöpfung à la »Junggesellin«) aus dem Album Homogenic zeigt die Rolle der Künstlerin im Konflikt zwischen Vermarktung und Geschlechterbeziehungen. In historisierenden s/w-Aufnahmen und in einem Ambiente der 40er Jahre wird der tragische Lebensweg einer Schriftstellerin Björk gezeigt, die erst erfolgreich von ihrem verliebten Lektor protegiert wird und dann wie zweigeteilt auf Bühnen steht; alle Welt liest ihre Zeilen, bis sie schließlich an den Markt verraten, alles nur noch der Macht des Geldes, verkörpert in dem Verlagstycoon, untergeordnet wird. Die Liebe zerbricht, ihre Kreativität schwindet und zur selben Zeit verblasst in einem magischen Akt auch die Schrift in ihren Büchern. Am Schluss erobert die Natur, die Björk anfangs das Buch, das sie aus der Erde ausgrub, schenkte, wieder alles zurück, so dass hier die Kreativität als natürliche Gabe erscheint, die durch die Liebe als Naturkraft noch gesteigert und schließlich durch die moderne Gesellschaft und die Mechanismen des Marktes bzw. die machtvolle Abstraktion des Geldes zerstört wird. Zum Schluss aber erweist sich die unaufhaltsam alles überwuchernde Pflanzenwelt als Siegerin.

bert Elias und sein Blick auf den bürgerlichen Künstler W.A. Mozart«, in: Mozart – eine Herausforderung für Literatur und Denken. Mozart – A Challenge for Literature and Thought, hg. von Rüdiger Görner, Bern u. a. 2007, S. 311–336. 11 Vgl. Verena Krieger, »Zur (Un-)Fruchtbarkeit der Liebe im Surrealismus. Die weibliche Gebärfähigkeit als Kreativitätsparadigma«, in: Transformationen der Liebe. Eros und Geschlecht im Surrealismus, hg. von Verena Krieger, Hamburg 2006 (Ikonologie der Moderne 1), S. 123–152.

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Diese Natürlichkeitsdiskurse suggerieren auf paradoxe Weise außerdem Authentizität12: Die Echtheit der Person Björk und ihrer Kunst ist als performativer Akt nicht überprüfbar bzw. entzieht sich der Kategorisierung als authentisch; aber dennoch entsteht durch Björks künstlerische Autonomie und Autorität der Eindruck, dass sie moralisch glaubwürdig und als Subjekt konsequent hinter ihrer Kunst steht und diese nicht opportunistisch den Anforderungen des Marktes oder einer Plattenfirma anpasst. Gerade weil in jeder künstlichen und künstlerischen Darstellung ihre »Natürlichkeit« erkennbar und umgekehrt das Thema der Natur und Natürlichkeit als Teil der Inszenierung ersichtlich ist, verkörpert Björk in ihrer multimedialen Präsenz die Idee von Authentizität, die in Biophilia durch noch größere, als »echt« erlebte Nähe der Unterhaltungsindustrie mittels Twitter etc. gesteigert werden soll. All dies bedingt auch den Wiedererkennungseffekt und die Originalität der Björkschen Kunstformen und setzt ihre Selbstinszenierungen in einen reizvollen und spannungsreichen Bezug gerade zu den technischen »Spielereien«, den signifikant als künstlich hervorgehobenen Elementen. Zentral sind daher die mit den Natürlichkeitsdiskursen konkurrierenden bzw. diese konterkarierenden Elemente der Verfremdung, die Björk als Metaebene, als künstlerischen Selbstkommentar mit humorvoll spielerischem Augenzwinkern in ihre Performanz integriert.13 Neben den Motiven der Natur Islands14, sind dies die komplementären Elemente: Natur, Kind, Spiel, Fantasie, Liebe, Archaik, Mythos vs. Verfremdung, Kunst, Technik, mediale Performanz, Markt/Konsum. Das Klischee der Exzentrik der Künstlerin bzw. des Künstlers wird allein schon durch die Tatsache bedient, dass Island, die Heimat Björks, außerhalb jedes Zentrums, ex-zentrisch am Rande Europas liegt: eine sehr überschaubare Insel mit einer Hauptstadt und viel Wildnis bzw. archaischer, vulkanischer Natur. Diese Natur stellt sich in ihrer Kunst, Musik, Text und Video, häufig als ›postmodern gemachte‹ Natur dar, als eine Collage aus Zitaten, etwa der Kleidung indigener Völker und ihrer Rhythmen und Tänze, von mythi12 Vgl. Erika Fischer-Lichte und Isabel Pflug (Hgg.), Inszenierung von Authentizität, Tübingen 2000, und Volker Wortmann, Authentisches Bild und authentisierende Form, Köln 2003. 13 Eine Künstlerin, die dieses Prinzip der Imitation und Irritation vervollkommnet hat, ist etwa Cindy Sherman. 14 Vgl. dazu das Kapitel »Nature« in der Biografie von Nicola Dibben, Björk, London 2009, S. 24–52, das zwischen den Kapiteln »Nationalism« und »Technology« die zentralen Naturmotive in Björks Musik und Kunst analysiert, vor allem die wilde isländische Natur, Feuer, Eis und Wasser, »winter landscapes« (S. 61f.), das Meer sowie das Tierreich, dem sich Björk als Jägerin wie als Gejagte und auch selbst als Tier, etwa als Schwan, zugehörig fühlt.

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Abb. 2  Cover des Albums Debut von Björk, 1993

schen Naturschauplätzen wie Tibet und dem Himalaya, isländischer Flüsse, der Ozeane und aus Elementen mythischer Überlieferungen wie der Erd- und Meeresgottheiten und ihrer Beziehungen, bis hin zur (Marten-)Ehe zwischen Tier und Mensch; Beispiele dafür sind die Musik und Videos Triumph of a Heart (aus dem Album Medúlla) als groteske Liebesbeziehung Björks zu einem Katzenmann und Earth Intruders und wanderlust (Album Volta), die verschiedene indigene Rhythmen und Traditionen aufgreifen. Björk inszeniert ihre Kreativität als »natürlich«, zeigt sich von der Natur inspiriert und kombiniert damit Künstlermythen und Diskurse der Natürlichkeit, die im Bild des Mädchens und des kindlich spielerischen Genies kulminieren. In der musikalischen und performativen Aktualisierung einer idealen, jedoch als verschwunden erfahrenen Welt, jener der ursprünglichen Natur und der Kindheit, tritt die Künstlerin als Vermittlerin auf, die in verschiedenen Rollen das »Naive«, das Ideale und Archaische mit der (Post)Moderne und den Errungenschaften der Gegenwart, der Technik und auch deren zeitgenössischen Deformationen verbinden kann. Im Folgenden werden als zentrale Aspekte der Antinomien »Natürlichkeit« und »Künstlichkeit«, die Aspekte und Diskurse der Kindlichkeit, des »Mädchens«, der Urmutter und des Spiels in Verbindung mit der Aktualisierung von Mythen und vor allem von Künstlermythen analysiert. Der Aspekt der Natürlichkeit fällt auf dem Cover von Debut (Abb. 2) ins Auge, trotz der Kunsttränen bzw. des Bindi-Körperschmucks. Es zeigt ein

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leicht strubbeliges Mädchen in einem langärmeligen Pullover mit dunklen Haaren, die Hände wie in einer bittenden oder verbergenden Geste vor dem Mund gefaltet bzw. zu diesem hin geöffnet. Sein Blick begegnet dem Betrachter, wirkt aber zugleich entrückt, nach innen gewandt. Diese Natürlichkeit hat mehrere Aspekte, zum einen, dass Björk gerade auch in ihren künstlerischen »Verkleidungen« authentisch wirkt bzw. Authentizität suggeriert: Sie ist immer erkennbar, ja unverwechselbar, und die Kostümierungen wirken wie ein Spiel mit Rollen und Inszenierungen, die sie wechselt und hinter denen sich immer »Björk pur« zeigt. Sie hat sich vom Typ her grundsätzlich in den letzten 25 Jahren, seit sie auf internationalen Bühnen steht, nicht verändert – nur ihre Kostüme und Verkleidungen, ihre Inszenierungen ändern sich und folgen doch einem Muster, das im Folgenden analysiert wird. Zu diesem Natürlichkeitsdiskurs lässt sich auch ihr Name rechnen, der sich als Vorname von Björk Guðmundsdóttir verselbständigt hat (wobei sich alle Isländer ohnehin duzen und mit Vornamen nennen, zumal sie sich bei nicht ganz 320.000 Einwohnern »fast alle« kennen). Björk bedeutet Birke. Dieser schlichte eigene Name sendet eine ganz andere Botschaft als der Vorname Madonna oder der Künstlername Lady Gaga, die den Anspruch als Ikone schon im Namen tragen und deren multimedial wechselnde Images legendär sind. Die Künstlerin Björk signalisiert damit ihre Verwurzelung in der eigenen Biografie, ein Bekenntnis zur isländischen Nationalität, gerade auch im internationalen Musik-Business, und ihre Verbundenheit mit Island und der isländischen Natur. Im Mittelpunkt von Björks Werk steht – außer ihre eigene Person – die Natur, vor allem Islands ursprüngliche, wechselhafte Natur, von Wiesen, Meer und Vulkanen, und deren Bedrohung durch die Umweltzerstörung, deren Bekämpfung ihr als »Ikone der isländischen Umweltbewegung«15 ein zentrales Anliegen ist, das sie immer wieder thematisiert (z. B. auf dem ECO-Konzert 2008 in Rejkiavik); 2009 hat sie etwa einen Wagniskapitalfond16 gegründet (Einlage 300.000 Euro), der Islands Umwelt zugutekommen soll. Björk nimmt kontinuierlich autobiografische (nicht private!) Themen auf, reflektiert ihre eigenen Rollenmuster als Ehefrau und Geliebte, als Frau, als Mutter – und als Künstlerin, Dichterin, Musikerin, Sängerin.17 Begleitet wird 15 http://www.youtube.com/watch?v=g4oSKi6SVXg (Zugriff: 30.8.2011). 16 http://www.motor.de/news/0987297;bjoerk_bjoerk_hilft_kraenkelnder_umwelt_islands.html (Zugriff: 30.8.2011). 17 Diese Nähe von Leben und Musik hat Ian Gittins veranlasst unter dem Titel Human Behaviour. Die Story zu jedem Song, Schlüchtern 2003, alle Lieder, die Musik und Texte

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Abb. 3  Filmstill Video Venus as a boy (1994), Album Debut (1993)

dies immer mit einem selbstironischen Augenzwinkern, so etwa wenn sie im Video Venus as a boy aus dem Album Debut (Abb. 3) die klassische Geschlechterzuordnung verkehrt und ein Lied über Geschlechtsverkehr als Entdeckung und Verehrung (ihrer) weiblichen Schönheit singt: »he’s exploring / the taste of her arousal / so accurate / he sets off / the beauty in her / he’s venus / venus as a boy«, so der Refrain dieser Ballade, den eine Inszenierung der tüchtigen jungen Hausfrau mit hochgesteckten Haaren begleitet, die dabei Spiegeleier brät und träumt. Verfremdet wird dieses Bild der jungen Liebenden durch ähnliche Details, wie die zwei Tränen auf dem Cover, indem über ihren Augenbrauen Punkte gemalt sind, die mit den zusammengerollten Haarwirbeln korrespondieren und Björk einen mädchen- und sphinxhaften Ausdruck verleihen. Im Lied bzw. Liedtext werden die im Bild so offensichtlichen Rollenklischees unterlaufen, wenn der Liebesgöttin Venus der männliche Part zugeordnet wird, der die Sängerin mit quasi göttlicher Inspiration erfüllt. Dies ist das wohl größte Kompliment an ihren Liebhaber, dass er in die Rolle der Liebesgöttin schlüpfen kann. Die Liebeserfahrung wird zum Inhalt und zum Movens des Liedes. Einen mythisch erweiterten Natur- und Natürlichkeitsdiskurs eröffnet Björk mit ihrem Video zu dem Lied Oceania des Albums Medúlla. Hier tritt Björk als ozeanische Göttin selbst auf (Abb. 4, 5). Auf dem Album sind keine Musikinstrumente zu hören, sondern allein die menschliche Stimme tritt in ihrer ganzen Bandbreite auf. Von der Idee her, indem Stimmen Musikinstrumente imitieren bis hin zum Beatboxing und Björk a capella singt, erinnert dies an Bobby McFerrin, aber auch an Meredith Monk, die mit Stimmen experimentiert haben (Monks Lied Gotham Lullaby hat Björk in mehreren Konzerten gesungen); aber zugleich erschafft sie etwas Neues und Unverwechselbares, als Björks Musik Erkennbares. der Alben von Debut bis Verspertine zu analysieren und im Hinblick auf den biografischen Kontext und die musikalische Entwicklung Björks einzuordnen.

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Abb. 4  Filmstill aus dem Video Oceania

Abb. 5  Cover der Single Oceania (Teil des Albums Medúlla, 2005)

Das Video zeigt sie am Anfang in einer Pose, die indische Tempeltänzerinnen imitiert, und sodann von den Bewegungen der durchsichtig schillernden Quallen und ihren tänzelnden Tentakeln gespiegelt wird; ihr Gesicht ist mit kristallinen, bläulich reflektierenden Pailletten und Schmucksteinen (Bindis) bedeckt, ihre Haut bemalt, so dass der Übergang zwischen Haut und Kleidung, zwischen Umgebung und Person nahezu verschwimmt. Der Liedtext lautet:18 »One breath away / from Mother Oceania / your nimble feet make prints / in my sand / You have done / good for yourselves / since you left my wet embrace / and crawled ashore Every boy is a snake is a lily / every pearl is a lynx is a girl 18 http://specials.bjorkish.net/oceania/ (Zugriff: 30.08.2011).

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Sweet like harmony / made into flesh / you dance by my side / children sublime You show me continents / – I see the islands / you count the centuries / – I blink my eyes Hawks and sparrows / race in my waters / stingrays are floating / across the sky Little ones / – my sons and my daughters / your sweat is salty / – I am why.«

Eine Künstlerin als Göttin – das mag wie Hybris klingen, zeigt aber eben nur einen Aspekt der Selbstinszenierungen, die hier eine erhabene und auch belehrende Funktion haben: Hier spricht die Meeresmutter, mit der alle, als ihre Söhne und Töchter, durch ihren Schweiß und ihre Tränen verbunden sind. Damit wechselt die gewohnte Perspektive der Menschen vom festen Kontinent auf die sehr viel größere von Meer bedeckte Fläche unserer Welt. Dies ist eine Inszenierung, die auch auf die Rolle der gottähnlichen Schöpferin anspielt, aber innerhalb der Fiktion bleibt: Björk spielt Oceania, eine Göttin, die es so in den weltweiten Überlieferungen nicht gibt, die also selbst ihre Schöpfung einer Urmutter ist, die die europäische Erdgöttin Gaia ergänzt – und die Menschen an ihre marginale Rolle und ihre Verantwortung erinnert. Das Cover lässt die mythischen Erzählungen von Meerjungfrauen, Undinen, Melusinen und Nereiden anklingen, die in der literarischen Tradition von Hans Christian Andersens Märchen bis zu Ingeborg Bachmanns Erzählung Undine geht einen großen Echoraum gefunden haben.19 Diese Grenzgängerinnen sind Mischwesen, die zwischen den Elementen, vor allem Wasser und Erde, stehen und die die Liebe befähigt, ihr eigenes Element, das Meer bzw. Wasser, zu verlassen, und die beim Leben unter Menschen die Hellsichtigkeit der Fremden nie verlieren; diese Figuren wirken fragil, entrückt und ätherisch und zugleich kraftvoll, selbstbewusst und »elementar«. Björk lässt die Musik des Albums Medúlla ausschließlich durch die menschliche Stimme erzeugen. Der Titel bedeutet »the inner or deep part of an animal or plant structure«, so ein Selbstzitat auf dem Cover der Medúlla-Doppel DVD bzw. Björks Kommentar, »It’s about getting to the essence of something«20, also der Kern eines Lebewesens oder einer Pflanze, auf den sich Björk hier fundamental als wesenhaft für die Natur bezieht, die den Menschen und seine Stimme miteinbezieht. 19 Vgl. meinen Aufsatz »Grenzgänge der Liebe: Undine geht« in: Werke von Ingeborg Bachmann, hg. von Mathias Mayer, Stuttgart 2002, S. 156–175 sowie entsprechende MotivUntersuchungen, etwa Irmgard Roebling (Hg.), Sehnsucht und Sirenen. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien, Pfaffenweiler 1992, Ruth Fassbind-Eigenheer, Undine oder Die nasse Grenze zwischen mir und mir. Ursprung und literarische Bearbeitungen eines Wasserfrauenmythos, von Paracelsus über Friedrich de la Motte Fouqué zu Ingeborg Bachmann, Stuttgart 1994. 20 http://unit.bjork.com/specials/albums/medulla/ (Zugriff: 30.8.0211).

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Abb. 6  Björk als Oceania, Auftritt zur Eröffnung der Olympiade in Athen 200421

Zum ersten Mal wurde das Stück Oceania 2004 bei den Eröffnungsfeierlichkeiten der Olympiade in Athen vorgestellt (Abb. 6) – und war eine unglaubliche Inszenierung, die die vorliegenden Bilder nur erahnen lassen. Björks Kleid öffnete sich schließlich zu einer 900 qm großen blauen Fläche, auf der eine Weltkarte abgebildet war und die das Stadion bedeckte und alle mit einschloss.21 Diese olympische Idee der Gemeinsamkeit wird hier von ihr ausgeweitet zu einer Verbindung zwischen den Menschen aller Kontinente, aber eben auch mit der Natur, mit dem Meer, in dem alles Leben seinen Ursprung hat. Das lyrische Ich spricht hier mit der Stimme des Ozeans selbst, der alle Kontinente wie Inseln erscheinen lässt und das menschliche Leben zu einem verschwindend kleinen Teil der natürlichen Zyklen und der Evolution werden lässt; zugleich veranschaulichen Lied, Text und Inszenierung die lebensspendende und -notwendige Bedeutung der Ozeane für das menschliche Leben, an die nicht zuletzt der salzige Schweiß und die Tränen erinnern. Jeder Junge als Schlange, als Lilie und jedes Mädchen als Perle und als Luchs bzw. die chiastische Verschränkung dieser Reihe machen die Gleichwertigkeit der Lebensformen deutlich – »every pearl is a lynx is a girl« – und illustrieren in der fließenden Melodik und der poetisch einfachen Sprache die Bedeutung und die Schönheit von Flora und Fauna, Mensch und Tier. 21 http://specials.bjorkish.net/oceania/ (Zugriff: 30.08.2011).

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Abb. 7  Cover zum Album Verspertine (2001)

Björks überwältigender Auftritt als Göttin bedeutet nicht, dass sie sich als »Diva« inszeniert, denn dies müsste sie auch vor allem außerhalb des fiktionalen Rahmens ihrer musikalischen Auftritte tun. Sie wirkt hier wie eine Künstlerin, die mit immer neuen Rollenspielen, die sie mit Hilfe befreundeter Designer, etwa Alexander McQueen, ausführt, ihr Publikum überrascht, irritierende Botschaften vermittelt, aber nie – außerhalb ihrer Filme oder Bühnenauftritte – als entrückte Diva und noch weniger als glamouröses Sexsymbol auftritt. Nicht nur die Rolle der Oceania, die es als Göttin in der mythischen Tradition so nicht gibt, sondern auch die Verbindung zum Schwan als mythischem Vogel ist in Björks Werk und Inszenierung auffällig. Das spektakuläre Schwanenkostüm der Designerin Marjan Pejoski soll hier ausführlicher Beachtung finden, das sie auch zur Oscar-Preisverleihung 2001 trug; zuvor hatte sie in Cannes den Preis als beste Darstellerin für ihre Rolle der Selma in Lars von Triers Film Dancer in the Dark erhalten, zu dem sie die Filmmusik schrieb.22 Björk trug kein Kleid, sie trug einen Schwan: Dies war 22 Im Internet finden sich Dutzende von Fotografien dieses Auftritts, etwa http://www. moviebazaar.de/fspec411.htm (Zugriff: 30.08.2011), die meist von hämischen Kommentaren über die »Untragbarkeit«, über die ungewollte (?!) Komik oder groteske Wirkung des Kleides begleitet werden.

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eine Provokation, eine klare Aussage, die auch wieder mit Metaphern aus den Bereichen der Natur und des Mythos spielt. Die Frau als Schwan (man denke an den Film The Swan mit der unberührbaren Grace Kelly) und sein weißes Gefieder werden wie das weiße Brautkleid mit Reinheit, Treue und Unschuld assoziiert; Anklänge an das Ballett Schwanensee mit der Liebe des Prinzen zu der verzauberten Schwanenfrau schwingen mit, aber auch an den Schwan als Vermittler zwischen den Göttern und den Menschen, als Todesboten, der etwa in Jean Sibelius’ op. 22 als Schwan von Tuonela die Insel der Toten umkreist. Der Schwan erinnert an den Schwanengesang der zerstörten Umwelt, dem Björk ihre Stimme gibt; andere interpretierten diesen Auftritt als Björks Schwanengesang als Schauspielerin, denn sie hatte nach dem Film dezidiert verkündet, dass dies ihr letzter Auftritt als Schauspielerin gewesen sei. Der Schwan ist auch ein Symbol des poetischen und künstlerischen Schaffens, das eng mit dem musischen Gott Apollon verbunden ist, denn bei seiner Geburt singen die Schwäne und Apollons Sohn Kyknos stürzt ins Meer und wird in einen Schwan verwandelt, so berichten Ovids Metamorphosen (Buch VII, 371–383). Immer wieder vergleichen sich Dichter mit dem Schwan, mit dem singenden oder klagenden Schwan, mit dem Schwan, dessen Flügel gebrochen sind, der seiner Freiheit oder der Möglichkeit der Poesie beraubt wird.23 All dies wird aufgerufen und zugleich durch die schelmische Mimik Björks beim Auftritt auf dem roten Teppich konterkariert, denn ihr Schwanenkleid ist eben keine Robe, wie die der anderen »Diven«, sondern ein »Kostüm«; und als sie dann auch noch ein Ei legt, ist der kleine Skandal vollkommen. Björk scheint sich selbst in eine Art Mischwesen zu verwandeln, ähnlich wie auf dem Cover von Verspertine (Abb. 7) oder bei späteren Auftritten in schwanenähnlichen Kostümen. Sie unterläuft mit dieser ironischen Überzeichnung, indem sie einen Schwan wie ein ausgestopftes Tier trägt, die Regeln der attraktiven Repräsentation als Schauspielerin und wirkt auch hier – vor allem im Kontrast zu den 30 cm größeren, allen Schönheitsidealen folgenden Stars – wie ein verspieltes Kunstwerk, das sich nie mit Pilates und Botox beschäftigt, sondern mit Musik, mit spielerischer Inszenierung, mit ihren Botschaften als Künstlerin. Auch die Geschlechterrollen werden auf spielerische Weise in Verbindung mit dem mythenumrankten Schwan thematisiert und unterlaufen: Auf dem Cover zu Verspertine scheint der Schwan eine elegisch auf Sand und Steinen liegende Björk im erotischen Spiel durch die Übermalung und den sie umarmenden Schwanenhals zu überwältigen, während sie bei ihrem Auftritt selbst den deutlich aktiveren Part spielt und den Schwan wie eine Trophäe trägt. Die Anspielung auf Leda 23 Vgl. Michael Jakob, »Schwanengefahr«. Das lyrische Ich im Zeichen des Schwans, München und Wien 2000.

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und den Schwan, in dessen Gestalt Zeus selbst sich der begehrten Königstochter nähert, sind offensichtlich und werden hier konterkariert, denn einerseits ist Björk hier die selbstbewusst begehrenswerte und begehrte Frau, ein Bild, das sich mit Hans Christian Andersens Märchen Das hässliche junge Entlein als Darstellung von Reife und Erfolg im Bild des Schwans fortsetzen lässt. Andererseits ist der Schwan, vormals der oberste Gott und Frauenverführer selbst, nur noch ihr Kleid, ein Kostüm, ja sie selbst scheint sich in einen Schwan verwandeln zu können und spielt hier, wie in der Rolle der Oceania als Mischwesen zwischen Wasser und Land, mit den Möglichkeiten der Fantasie und der Kunst, die an antike und moderne Mythen anknüpfen. Kindlichkeit ist ein weiterer zentraler Aspekt des Kriteriums für Natürlichkeit, denn nichts scheint »natürlicher« oder der Natur näher als ein Kind. Björk wirkt oft kindlich, scheint diese Zuweisung zu provozieren: Sie ist relativ klein, hat kleine Hände und mit ihrem runden Gesicht, den schmalen, dunklen Augen und den oft etwas struppig ins Gesicht fallenden Haaren erinnert sie an Ronja Räubertochter24, einen elfenhaften, verspielten Schelm. Weibliche Biografen hat diese unwidersprochene Kindfrau-Rolle irritiert, ja befremdet: Evelynn McDonnell, eine amerikanische Musikkritikerin, stellt fest, dass die Bezeichnung »elfenhafte Kindfrau«, etwa in der Rolling Stone Encyclopedia »ein Stereotyp mit sexistischen und rassistischen Untertönen« kolportiert, aber bemerkt auch: »Björk hat nicht besonders viel Energie darauf verwandt, die verniedlichenden Attribute loszuwerden.«25 »Ich hielt Björk für schräg und unterhaltsam, aber ihr Baby-Getue stieß mich ab«26, bis sie erkannte, dass Björk hier Vorurteile zurückspiegelt und in der kommerziellen Musikwelt des Rock-Pop »eine wahrhaft einzigartige Pionierin«27 war, die alle ihre Titel selbst produzierte und alle Phasen ihrer Musik begleitet, alles selbst entschied. Björk besitzt eine große Begabung, mit anderen Künstlern und Musikern zusammenzuarbeiten und hier für beide Seiten eine enorme Kreativität zu entfesseln: »She has earnt [sic] herself the resources, the team and the musicians to make exactly the music she wants, at the moment she comes up with it.«28 Wie das Zitat des Musikerkollegen aber auch betont, hat sie sich diese Souveränität im Musikgeschäft »verdient«, also hart erarbeitet. 24 Ich beziehe mich hier auf den schwedischen Film von 1984 nach dem Kinderbuch von Astrid Lindgren. Die Titelrolle spielte Hanna Zetterberg. 25 McDonnell, Björk (Anm. 2), S. 32f. 26 Ebd., S. 49. 27 Ebd., S. 50. 28 So äußert sich Shlomo, ein Musiker und beatboxing-Künstler, mit dem Björk bei dem Olympia-Auftritt 2004 in Athen zusammenarbeitete, in einem Interview anlässlich der Vorstellung des Album Medúlla im Juli 2001: http://unit.bjork.com/specials/albums/

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Befremdlich mag zunächst erscheinen, dass eine so selbstbewusste Musikerin in Liedern so häufig von »boys« bzw. »girls« singt, also Jungen und Mädchen, statt (selbst eine erwachsene Frau, sie ist Jahrgang 1965) von Männern und Frauen – aber das gibt ihren Texten auch eine gewisse Leichtigkeit, als sei jede Liebe das erste Mal. Und gerade das Mädchen hat für sie eine besondere Bedeutung: »I am a fountain of blood / in a shape of a girl«, singt sie in Bachelorette und kombiniert in diesem drastischen Bild die Leidenschaft ihrer Persönlichkeit mit der Außenwirkung bzw. der öffentlichen Person, Natur und Kultur, Blut und Lebensquell in der kulturell determinierten Form des Mädchens in einem Satz. Björk spielt also vielmehr ein »altes«, ein zeitloses Kind, ja man muss betonen, dass sie kein asexuelles Wesen, kein kindliches Neutrum darstellt, sondern vielmehr das Mädchenhafte betont, das Versprechen der Zukunft, das Verträumte, eine intuitive Kraft und die Offenheit, die das kindlich Mädchenhafte verspricht. Darin klingen romantische Künstlermythen an, die etwa den Künstler als göttliches Kind zu fassen versuchen, die in der Kindheit den Ursprung der Poesie und Kunst sehen und mit dieser Idee, dieser Konstruktion, einem paradiesischen Ur- und Naturzustand und einer göttlich inspirierten Kunst nahe kommen wollen.29 »Wunderkind«-Status hatte sie als knapp Elfjährige in Island, als ihr erstes, das wirklich allererste, Album Björk 1977 großen Erfolg hatte; es enthielt Kinderlieder und Coverversionen der Beatles – damit war aber bald Schluss, als Björk in sich den Punk entdeckte und begann, eine ganz andere Musikrichtung zu verfolgen. Damit ist ein weiterer Aspekt angesprochen: Björk scheint sich immer wieder neu zu erfinden und wird damit zu einer gottähnlichen Schöpferin ihrer selbst, die in ihren Kunstwerken, vor allem im Video, auch alle menschlichen Grenzen übertreten kann: Sie kann fliegen, unter Wasser singen, spricht mit medulla/ (Zugriff: 30.08.2011): »Many of the artists at Björk’s level of fame often suffer from musical dictatorship from their major label boss, and as a result the end product you hear is not their music at all. But not with Björk! She is very much in charge of the music you hear, and I am so envious of her position: she has earnt herself the resources, the team and the musicians to make exactly the music she wants, at the moment she comes up with it. For me that would be a dream come true.« Entsprechend selbstbestimmt fällt Björk auch andere Entscheidungen: nach ihrem großen Erfolg mit Debut wollte Madonna, dass Björk mit ihr zusammenarbeitet und ein Album schreibt, doch diese verfasste nur den einen Song Bedtime story für sie. 29 Vgl. Dieter Lenzen, Mythologie der Kindheit. Die Verewigung des Kindlichen in der Erwachsenenkultur. Versteckte Bilder und vergessene Geschichten, Reinbek 1985, sowie Yvonne-Patricia Alefeld, Göttliche Kinder. Die Kindheitsideologie in der Romantik, Paderborn u. a. 1996.

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Abb. 8  Filmstill aus dem Video I miss you

Tieren und Bäumen, verwandelt sich sogar in eine Comicfigur mit mal roten, mal schwarzen Haaren, so in dem Video I miss you aus dem zweiten Album Post (1995 bzw. Video von 1997) (Abb. 8). Auch diesen selbstironischen, schelmischen Part kann man in der Rolle des Kindes, das sich als ursprünglichster Anarchist alles erlauben kann, wiedererkennen – ohne diese Rolle damit abwerten zu wollen, denn Björk setzt diese sehr bewusst ein. Das Kind, das Mädchen verbindet das Ursprüngliche mit dem Natürlichen zu einer Kreatürlichkeit, die für Björk eng mit ihrer isländischen Herkunft und Identität verbunden ist und sich musikalisch in der Adaption von Volksliedern, von Rhythmen indigener Völker (die sich mit einem Militärmarsch vermischen), so in dem Video earth intruders (Album Volta), alten Instrumenten und nicht zuletzt der weitgehend »ungekünstelt« eingesetzten menschlichen Stimme zeigt. Auch ihre Inszenierungen nehmen dies auf, wenn sie auf der Volta-Tour (Abb. 9) unter anderem Kostüme trägt, die von südamerikanischen Indios inspiriert sind, und in denen sie wie eine Schamanin wirkt und zugleich alle Möglichkeiten der Technik für ihre Musik ausreizt. Die anarchistische Punk-Phase und ihre Zeit als »Kunst-Terroristin«30 ist in vielen Werken immer noch erkennbar, kann als unangepasste, auch revolutionäre Haltung jederzeit, wie auch in ihren politischen Äußerungen, zum Vorschein kommen, so als sie während eines Konzerts in Shanghai nach dem Lied Declare Independence »Free Tibet« rief und damit Kontroversen in China auslöste. Künstler als Revolutionäre haben eine lange Tradition.31 Björks eigene künstlerische Entwicklung lässt Analogien zu diesem Künstlermodell erkennen und ist verbunden mit ihrer früheren Band Kukl (isländisch, auf Deutsch: 30 McDonnell, Björk (Anm. 2), S. 28. 31 Vgl. Krieger, Was ist ein Künstler? (Anm. 10), S. 71–80, die hier unter anderem die Surrealisten nennt, aber auch die Dadaisten zu Anfang des 20. Jahrhunderts wären dazu zu zählen, deren ernsthaftes Spiel und originelle Suche nach neuen Ausdrucksformen, die immer auch einen gesellschaftskritischen Impetus verfolgen, auch Björks künstlerischer Haltung entsprechen.

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Abb. 9  Cover der DVD zur Volta-Tour 2007

Hexe), die sich dezidiert auf die Dadaisten bezog – und wie diese auch nicht lange erfolgreich war.32 In einem Interview im Jahr 2000 mit Harald Schmidt in der Late Night Show33 aus Anlass des Erscheinens von Verspertine ist dieses Verhalten gut zu beobachten: fast wie ein Kind bzw. wie ein junges Mädchen (Björk ist hier 35 Jahre alt) tritt sie in einem knielangen bunten Kleid auf, das Korsett über dem Kleid wie ein Panzer, was von Schmidt – unter dem Gelächter des Studiopublikums – die Frage provoziert, ob sie ihre Kleidung nicht verkehrt herum trage, worauf Björk nur antwortet: »I hope so« und verschmitzt lächelt. Sie spricht mit einem starken Akzent und ist deutlich geschminkt, aber auch hier wie 32 In dem Video zu Army of Me (Album Post) kämpft Björk gegen einen Gorilla und betont, „dass ich lernen muss, mich zu wehren“. Ihre Biografin bemerkt zu ihren autobiografisch inspirierten und manchmal naiv anmutenden Fantasien, die sie so konkret in Bilder umsetzt: „Diese Weigerung, erwachsen zu werden – wenn Erwachsen-Sein bedeutet, den Kontakt mit Phantasie, Intuition und Herz zu verlieren –, ist schön und gut. Doch manchmal will man als Künstler auch, dass man ihn ernst nimmt. Vor allem, wenn es sich um eine Frau handelt […] [wenig später stellt sie aber fest:] Björk ist als feministische Ikone wunderbar und geradezu perfekt. Auch wenn sie es nicht sein will.“ McDonnell, Björk (Anm. 2), S. 36f. 33 http://www.youtube.com/watch?v=Q-dFRFsQKGQ (Zugriff: 30.08.2011).

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ein Mädchen, das sich zu sehr beim Augen-Makeup bedient hat, so dass man deutlich sieht, dass sie geschminkt ist und dies kein subtiles »Unterstreichen der natürlichen Vorzüge« im Rahmen eines weiblichen Verführungsinszenarios ist. Dieses Image der Kindfrau bzw. des »FrauKindes«, eben des Mädchens, erweist sich als bewusst inszeniertes Rollenspiel, mit dem die Musikerin geradezu provoziert, dass man sie zunächst intellektuell unterschätzt, aber schon bald eines Besseren belehrt wird.34 Auch diese Rolle ist eng mit Künstlermythen verknüpft, mit der Idee vom Künstler-Kind, dem alles wie im Spiel gelingt, dessen Genialität und Originalität ein »Geschenk« ist – und nicht etwa Üben und Lernen, Wissen und harter Arbeit geschuldet ist. Björk beweist über ihre künstlerische Originalität hinaus Geschäftstüchtigkeit und großen Unternehmergeist im Musikgeschäft; Eigenschaften, die jede Naivität Lügen strafen und gerade deshalb die Rolle Björks als »Frau-Kind« als Künstlermythos entlarven, der gezielt inszeniert ist und von ihr mit einer gewissen Koketterie ausgespielt wird. So kommt Björk kurz darauf im Interview auf ihr Selbstverständnis als Künstlerin zu sprechen und betont, dass sie »full artistic controll« über alles und die Rechte an ihrer Musik als ihrem geistigen Eigentum habe – eine Situation, die nur eine Handvoll Künstler (von George Michael, Prince bis Madonna) von sich behaupten können, indem sie nicht von einer Plattenfirma und deren Imagewünschen und Vermarktungsstrategien abhängig ist, sondern genau das macht, was sie interessiert, mit den Leuten, die sie auswählt, an dem Ort und in der Zeit, die sie braucht.35 Spätestens hier wird klar, dass Björk nicht das drollige kleine Mädchen vom Ende der Welt ist, sondern genau weiß, was sie will und was sie tut. Das komplementäre Bild zum Kind ist das der Mutter, das als Urmutter Oceania bereits präsent war – und es ist dieses »Image«, das Björk künstlerisch sehr viel mehr interessiert, denn es enthält in nuce ihr Konzept von weiblicher Schöpfungskraft, das sie auch in Oceania inszenierte und das sie zum Beispiel in ihrem Video Cocoon (2002 erschienen; Teil des Albums Verspertine von 2001) darstellt; hier verbindet sie Weiblichkeits-, Liebes- und Kreativitätsdiskurse buchstäblich mit einem roten Faden.36 34 Sie spielt auf unaggressive, selbstbewusste Weise die Bälle im Gespräch zurück, und der Fragende entlarvt sich mit der Borniertheit und Arroganz seiner Fragen und den damit verbundenen Vorurteilen selbst. 35 Ich beziehe mich auf Björks Werke, die alle zum Großteil von ihr oder in Zusammenarbeit mit anderen, mit ihr als federführender und an erster Stelle genannter Künstlerin veröffentlich wurden. 36 Das Video ist unter YouTube einsehbar: http://www.youtube.com/watch?v=YLyD5gjAyew (Zugriff: 30.08.2011).

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Abb. 10  Cover der Single Cocoon

Abb. 11  Filmstill aus dem Video Cocoon

Cocoon (Abb. 10, 11) präsentiert eine Inszenierung zwischen Kindfrau und Kunstfigur, als Abstraktion, in der Björk aus ihrem Körper »Kunst«, Musik, rote Fäden aus ihren Brüsten zu wachsen scheinen; ihr Körper produziert einen »roten Faden«, einen sich zur Musik bewegenden und entwickelnden Strang, der sich dann schützend und schließlich verstrickend und einengend um die Sängerin schlingt. Björk ist fast nackt und wirkt doch körperlich entrückt, wie in ein Selbstgespräch vertieft. Schließlich ist sie mumienartig wie in einen Kokon eingewickelt – bis sie verstummt. Die Rolle der schöpferischen Frauenfigur scheint also auch ambivalent zu sein, nicht nur kreativ, mütterlich nährend, reproduzierend und originell schöpferisch, sondern auch sich selbst verschlingend. Der klassische Akt, der nackte Frauenkörper, der den Blicken des (männlichen) Betrachters dargeboten wird, wird hier zugleich metapoetisch ausgestellt und neu ent- bzw. verhüllt: Die Frau verfügt als Subjekt über den eigenen Körper, setzt ihre Stimme, ihre Musikalität, Wort, Ton und Bewegung ganz auf sich selbst »reduziert« und zugleich voller Freude, die sich als Lächeln in ihrem Gesicht offenbart, ein. Statt dem üblichen Modell des allmählichen Entblößens zu folgen, verhüllt der rote Faden allmählich den Körper, ja er wickelt ihn so ein, dass er nicht nur den Blicken entzogen ist und schließlich ganz verschwindet, sondern ihn wie in einem Kokon erstarren lässt. Björk ist sich hier Objekt und Subjekt, in der Performanz Schöpferin und Modell zugleich; alle ihre Videos lassen sich als »Selbstporträts« lesen, doch stellt dieses in seiner Radikalität und seiner Fokussierung auf ihren Körper und die bildhafte Darstellung des Gesangs im sie umschlingenden roten Faden eine neue Qualität der ambivalenten Inszenierung als Musikerin und Künstlerin dar. Auffällig ist, dass auch hier wie in nahezu allen Liedern der Weiblichkeitsdiskurs wieder mit einem Liebesdiskurs verknüpft ist. Der Liedtext lautet: »Who would have known / That a boy like him / Would have entered me lightly / Restoring my blisses // Who would have known / That a boy like him / After shar-

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ing my core / Would stay going nowhere // Who would have known / A beauty this immense / Who would have known / A saintly trance / Who would have known / Miraculous breath / To inhale a beard / Loaded with courage // Who would have known / That a boy like him / Possessed of magical / Sensitivity / Would approach a girl like me / Who caresses cradles his head / In a bossom // He slides inside / Half awake, half asleep / We faint back / Into sleephood / When I wake up / The second time / In his arms / Gorgeousness / He’s still inside me // Who would have known / Who ahhh / Who would have known // A train of pearls / Cabin by cabin / Is shot precisely / Across an ocean // From a mouth / From the mouth / Of a girl like me / To a boy.«37

Im Video Cocoon tritt die Sängerin aus den in einer Reihe aufgestellten, nahezu identischen Duplikaten ihrer selbst heraus, um ein sexuell anspielungsreiches bzw. auch sehr dezidiertes Liebeslied an bzw. auf einen abwesenden Jungen zu singen; dabei empfindet sie die Liebe wie einen Trancezustand, als Erweiterung ihres Bewusstseins, als neue Erfahrung von Schönheit, von Wunder und besonderen, sexuellen Gefühlen, die hier wieder in einen Schöpfungsprozess der weiblichen Figur münden, der seine Pointe in der überraschenden Metapher für den Geschlechtsakt und Orgasmus als »train of pearls« findet, in dem sich der Junge in einen Ozean, den Schoß des Mädchens, ergießt. Die körperliche Liebe wird mit neuen Metaphern für die bekannten Verschmelzungsgefühle beschrieben, vor allem originell ist jedoch die bildkünstlerische Interpretation, die kein Liebespaar zeigt, sondern es ist, wie schon bei der Hymne auf den Liebhaber in Venus as a boy, nur Björk zu sehen, die für sich poetisch und musikalisch die Einzigartigkeit dieser Liebe beschwört. Der Geschlechtsakt und die zärtliche Nähe der Liebenden, die mit den Worten »saintly trance« und »miraculous breath« eine magisch-mystische Aura erhalten, wird in der erotisch entrückten Darstellung Björks zu einem Symbol weiblicher Kreativität und Verherrlichung, bei dem sich die Figur zunächst entblößt, sich aber dann geheimnisvoll, ja wie die Erscheinung einer »leibhaftigen Apotheose«, den Blicken der Betrachter entzieht. Diese umgekehrte Metamorphose der Künstlerin, die im selbst ersungenen Kokon verschwindet, zeigt eine singende und liebende Selbstverwandlung, aber was dann aus dem sich erhebenden Cocoon/Kokon schlüpft, bleibt uns verborgen. 37 Dieser Text, wie auch die meisten anderen, ist eingestellt unter: http://www.azlyrics.com/lyrics/bjork/cocoon.html (Zugriff: 30.08.2011).

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Das Urbild der Mutter verweist auf die Erdgöttin bzw. die Meeresgöttin – und auf den Künstlermythos des deus artifex bzw. des divina artista, der/die gottgleich Kunstwerke schafft. Björk inszeniert dies zunächst auf musikalische Weise. In einem nächsten Schritt kommen dann die bildnerischen Inszenierungen hinzu, die aus Text und Musik inspiriert, neue Welten rund um Björk, die nahezu immer im Mittelpunkt steht, entstehen lassen – wobei die entsprechenden Regisseure und Videokünstler ihre Ideen umsetzen. Auf ein und demselben Album können so extrem unterschiedliche Videos zu finden sein, wie die sphärisch-entrückte, magische Meeresgottheit Oceania und die slapstickartige Aufführung der Alltagsszenen einer Ehe zwischen Frau und Kater in Triumph of a heart, die dann noch dazu im Video über das Making of auf der DVD zu Medúlla satirisch von einem Wissenschaftler kommentiert wird, der ausführlich auf die isländische Mythologie und die Rolle der Katzenfrau eingeht. Die Irritation des Unernsten, das etwa auch die Biografen an Mozart und seinen schmuddeligen Briefen und Liedchen faszinierte, das Genie, das aus der Rolle fällt, dies mischt sich auch hier in die Versuche, Björk mit großer Ernsthaftigkeit auf ein Image festzulegen. Ein Versuch, den diese Künstlerin offensichtlich immer wieder unterminiert und mit Vorliebe ins Lächerliche zieht, wobei sie zwar auch hin und wieder lächerlich wirken mag, doch ist sie stets die Person, die zugleich am besten über sich selbst lachen kann und sich all dieser Rollenspiele, Betonung auf Spiele, höchst bewusst ist – auch wenn sie zugleich andere Aussagen mit heiligem Ernst verkündet. Künstlichkeit bzw. Artifizialität scheinen der Gegenpol zur Natürlichkeit zu sein. Diese Begriffe bezeichnen hier eine bewusste Stilisierung und kunstvolle Inszenierung, die verschiedene Elemente sowohl in der Musik wie im Bild aufgreifen, neu kombinieren und darstellen. Letztlich ist jede Form der Inszenierung, die auch schon bei der Analyse der Natürlichkeit und Kindlichkeit angesprochen wurde, eine artifizielle Performanz. Das CD-Cover Homogenic (1997) zeigt Björk als fast abstraktes Kunstwesen, eine Mischung aus Geisha, Alien und Elfe (Abb. 12). Titel und Bild signalisieren die Ambivalenz von Homogenität, die sich zwischen Ordnung, Sicherheit, Tradition, festen Strukturen (wie die Geisha) und Zwang, Reglement, dem Bedürfnis nach Revolte, nach Aufbruch aufspannt. Biografisch und künstlerisch spiegelt dieses Album Björks Aufbruch von Island, ihr neues Leben in London, Heimweh und Sehnsucht nach einem sicheren Zuhause und zugleich nach neuen Erfahrungen wieder. Björk erklärt auf ihrer Homepage: »Our craving for modern times – in my case, the desire to unite with the new and unknown, the alien and taboo by merging my voice with foreign electronic beats. With this experience, I

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Abb. 12  Cover des Albums Homogenic

could then try to develop a peculiarly ›Icelandic‹ electronic rhythm.«38 Björk verbindet in ihrer Musik individuelle, nationale und international Elemente, etwa isländische Volkslieder und Punk, elektronische Rhythmen, Klassik und modernen Minimalismus, um einen eigenen »isländischen« Ton zu finden: »Where we come from, the ancient things in us – in my case, stubbornness and patriotism; enthusiasm for Iceland, the culture and the natural physical environment; old-woman melodies and indigenous punk rock; my voice.«39 Natur und Kultur sollen eine originelle Verbindung eingehen, »björkish« werden. Natürlichkeit drückt sich vor allem aus in der populären Musik, der Folk Music und in Björks unverkennbarer Stimme, die »natürlich« klingt trotz aller Virtuosität, denn sie hat keine klassische Gesangsausbildung. Die Kritik schrieb im Zusammenhang mit ihrem Auftritt im August 1996 auf dem Verbier Festival, auf dem sie Schönbergs Pierrot Lunaire unter der Leitung von Kent Nagano aufführte: »She is a true virtuoso vocalist, the likes of whom popular music has rarely seen. […] Her voice can be perfectly clear, and she often phrases in an intentionally ten38 http://unit.bjork.com/specials/gh/FT/index.htm (Zugriff: 30.08.2011). 39 Ebd.

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tative way, bringing the childlike quality of her singing to the fore. But that can be undercut immediately by an extraordinary guttural sound, as if the note [sic] were too fragile to support the energy coming out of her body. It is a sound no child could ever make.«40

Diese pseudo-kindlich-natürliche Stimme kombiniert sie mit der Künstlichkeit der elektronischen und experimentellen Musik, den Rhythmen des Trip Hop, Elementen der Minimal Music, Psychedelic Rock und synthetischen und seriellen Klängen und collagenhaften Zitaten technischer Geräusche. Klassische Musik, abstrakte Musik und Volksmusik verbindet Björk zu immer neuen Kunstwerken – Musik ist für sie – frei nach Schiller – das »Reich der Freiheit«, in dem sie ihre Träume verwirklichen, musikalisch, bildlich umsetzen kann: Technik und Natur, im Sinne von Gemachtheit und Ursprünglichkeit, ergänzen hier einander als »Gesamtkunstwerk«. Die Abstraktion, etwa der seriellen Musik, ist die Fortführung dieser selbstreferentiellen Form von Artifizialität, entsprechende Einflüsse der Musik von Schönberg und Stockhausen sind bekannt und werden als intellektuelle und experimentelle Herausforderung in der neuen Musik auch von Björk aufgenommen.41 Spielerische Elemente wirken als Verbindung zwischen Natürlichkeit, Kunst/Künstlichkeit und Selbstreflexion, wobei die Grenzen etwa auch in dem Video Cocoon kaum auszuloten sind: Björk tritt reduziert auf ihren Körper auf, einerseits als Verkörperung der Natürlichkeit, betont aber zugleich durch die künstliche Aura, die kunstvolle Frisur, ihre Performanz, die Künstlichkeit, die Gemachtheit dieser Inszenierung und zeigt sich als Kunstfigur – so wie auch ihre Musik komplementäre Elemente vereint. 40 http://lostsongs.bjorkish.net/pierrotlunaire/ (Zugriff: 30.8.2011). Mondestrunken und Galgenlied sind hier in einer relativ schlechten Aufnahme zu hören. Schönbergs Stück selbst ist eine Verbindung von Antinomien, von musikalischen Elementen, solistischem und orchestralem Spiel, Rede und Gesang, clownesker und ernster männlicher Rolle, die von einer Frau gesungen wird – ein inspirierendes Experiment, dessen Herausforderung Björk entgegenkommt. So adaptiert, neudeutsch „sampled“, „Hidden Place“ des Albums Verspertine Arnold Schönbergs Verklärte Nacht, op. 4 und werden Einflüsse minimalistischer Musik und sich spiegelnder Motive (auch im Video) aufgegriffen. Der Einfluss von Stockhausen und der Konkreten Musik zeigt sich ebenso in Selma Songs (2000), der Filmmusik zu Lars von Triers Film Dancer in the Dark, in dem Björk die Titelrolle spielte. 41 Vgl. Ralf von Appen, »Konkrete Pop-Musik. Zum Einfluss Stockhausens und Schaeffers auf Björk, Mathew Herbert und Matmos«, in: Samples. Notizen, Projekte und Kurzbeiträge zur Popularmusikforschung 2 (2003), S. 1-10. Vgl. auch http://aspm.ni.lo-net2.de/samples-archiv/Samples2/vappenp.pdf (Zugriff: 30.8.2011).

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Abb. 13  Cover der Single All is Full of Love

Dabei ist auffällig, dass der Einsatz von Technik für Björk selbstverständlich erscheint, sie diese aber »naturalisiert«, gewissermaßen in den Dienst der Natürlichkeit als Kunst stellt. Bezeichnend ist hier das berühmte Video All is full of Love (Abb. 13, 14), das im Museum of Modern Art in New York gezeigt wird, in dem sich zwei weibliche Computerwesen, zwei Androiden, die die Züge Björks tragen, liebend begegnen, sich auf anrührende Weise streicheln und küssen – Liebe ist überall und infiziert, ja auratisiert sogar die Technik. Auch andere Alben zeigen diese extremen Metamorphosen Björks, die sich als Naturwesen, als Teil der Natur inszeniert, wie wir bereits sahen, und im nächsten Video fast unkenntlich reduziert oder verfremdet auftaucht, so bei dem programmatischen Lied Hunter, in dem sie als Sängerin zugleich Jägerin und doch auch Gejagte ist. Die isländische Künstlerin inszeniert sich als Gesamtkunstwerk, das einerseits keinem vorhersagbaren Muster zu folgen scheint und das sich andererseits als Inszenierung der selbstbestimmten, unkonventionellen, immer nach Neuem suchenden Künstlerin treu bleibt und gerade dieses Spannungsverhältnis zwischen Alltag und Fantasie, zwischen aufoktroyierten Mustern und Freiheitsdrang, zwischen Ideal und Banalität, zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit zeigt. So schwanken die selbstinszenierten und kolportierten Bilder von ihr zwischen verspieltem Troll und Kunstfigur, mädchenhaftem

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Abb. 14  Filmstill Video All is Full of Love

Kind und reifer Frau, Mensch und Tier, Verführerin und Verführter, Showgirl und Künstlerin. Vor allem ihre Identität als Frau wird auch immer wieder als Auseinandersetzung zwischen dem biologischen und dem kulturellen Geschlecht thematisiert, das sich eben nicht auf tradierte Rollenmodelle festlegen lassen will – aber zugleich im mythischen Bild der Muttergöttin ein zentrales Bild ihrer Kreativität und Verantwortlichkeit und damit auch Authentizität prägt. Björks Wandelbarkeit bedeutet letztlich gerade ein Beharren darauf, sich nicht festlegen lassen zu wollen; als professionelle Künstlerin trägt sie selbst die Verantwortung für ihre Kunst – und wenn sie entscheidet, Kritik an Chinas Invasion in Tibet zu äußern und dafür »zur Strafe« nicht ins Reich der Mitte eingeladen wird, so ist dies Teil ihres Selbstverständnisses als Künstlerin. Was ihr als »unweibliches«, als zickiges, als »übertrieben weibliches« oder als »männliches« Verhalten unterstellt wird, so in den Kritiken, lässt sich in der Regel ihrem Beharren auf Selbstverfügbarkeit und ihrer Kompetenz zuordnen

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und spiegelt die Vorurteile des Musikbetriebs, die ihr in der Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Musikern unterstellen, sie bräuchte männliche Hilfe beim Arbeiten mit PC-Programmen, mit technischen Elementen ihrer Kompositionen, was definitiv nicht der Fall ist. In ihrer Souveränität, Selbstständigkeit und Kreativität ist sie auch eine Projektionsfigur, ja vielleicht sogar ein »Traumwesen«, das sich selbst seine Träume erfüllt und sein Publikum intensiv daran teilhaben lässt. »Durchgeknallt« nennt sie sich selbst, wenn sie die Fremdwahrnehmung ihrer Person von außen bereits als Teenager in Island beschreibt, als sie Mitglied der PunkRockband Kukl, später Sugarcubes, war und permanent versuchte, Grenzen zu überschreiten, vor allem musikalischer Art, aber eben auch als »Gesamtkunstwerk« und in ihrer Performanz als Künstlerin. Originalität hat ihren Preis im Kampf mit traditionellen Bildern und normativen Erwartungen, die zu einer Karriere wie der von Björk nicht passen können. In einem Interview auf Arte formulierte sie, was sie auch in ihrem Lied Hunter, das programmatisch der erste Titel auf dem Album Homogenic ist, singt: Sie fühlt sich vor allem in der Rolle der Jägerin »addicted to interesting situations and experiences«, as a »kind of hunting […] for adventures« – and then »you bring back the goods«42 in der Form selbstreflexiver, selbstironischer und selbstbestimmter Kunst.

42 Vgl. auch das Interview in Hermann Vaskes »Why are you Creative?«, 2002: http:// www.youtube.com/watch?v=oUKMIlsoevU (Zugriff: 01.08.2012).

Autorinnen und Autoren

Renate Bozic studierte Musikwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Wien sowie Gesang an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien; 1979 Promotion. Opernschule und Lehrbefähigungsprüfung Gesang an der Kunstuniversität Graz. Chormitglied der Grazer Oper und freie Mitarbeiterin im ORF-Landesstudio Steiermark. Seit 1983 beschäftigt am Institut für Wertungsforschung der Kunstuniversität Graz, seit Oktober 2000 außerordentliche Universitätsprofessorin. Von 2003 bis 2007 Vizerektorin für Evaluierung, Personalentwicklung und Frauenförderung. Publikationen auf dem Gebiet der Musikästhetik und Rezeptionsforschung mit Schwerpunkt auf produktions- und rezeptionsästhetischen Entwicklungen im Musiktheater des 20. Jahrhunderts. Christa Brüstle studierte Musikwissenschaft, Germanistik und Linguistik in Freiburg i. Br. und Frankfurt a. M.; 1996 Promotion über die Rezeptionsgeschichte Anton Bruckners. 1999–2005 und 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen« an der Freien Universität Berlin. Lehrbeauftragte an der Hochschule für Musik »Hanns Eisler« und der Universität der Künste Berlin, der Technischen Universität Berlin sowie der Universität Wien. 2008–2011 Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin. Seit 2011 Senior Scientist an der Kunstuniversität Graz. 2007 Habilitation über Konzert-Szenen: Bewegung – Performance – Medien. Musik zwischen performativer Expansion und medialer Integration 1950–2000. Weitere Informationen: www.chrbru.de Rebecca Grotjahn ist Professorin für Musikwissenschaft mit Schwerpunkt Genderforschung an der Universität Paderborn und der Hochschule für Musik Detmold. Publikationen zu SängerInnen und zur Geschichte des Singens (Diva. Die Inszenierung der übermenschlichen Frau, hrsg. gem. mit Dörte Schmidt und Thomas Seedorf, Schliengen 2011), zur musikalischen Institutionen- und Alltagsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zu Robert Schumann, Ethel Smyth etc. Seit 2008 Mitherausgeberin des Jahrbuchs Musik und Gender, Hildesheim. Sprecherin der Fachgruppe Frauen- und Genderstudien in der Gesellschaft für Musikforschung.

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Autorinnen und Autoren

Katharina Hottmann studierte Lehramt Musik und Deutsch in  Hannover; 2003 dort Promotion über die Opernästhetik von Richard Strauss. Von 2002–2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Musik und Gender an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Seit 2006 Arbeit an einem DFG-geförderten Forschungsprojekt Zur Gattungs-  und Kulturgeschichte des weltlichen Liedes im Hamburg der Aufklärung von 1730–1780 an der Universität Hamburg. 2007 Hermann-Abert-Preis der Gesellschaft für Musikforschung, im Sommersemester 2011 Vertretungsprofessur an der Universität der Künste Berlin. Kordula Knaus studierte Konzertfach Gitarre an der Kunstuniversität Graz und Musikwissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz; daneben Dramaturgie- und Regieassistenz am Opernhaus Graz. Von 2002–2009 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Musikwissenschaft der Universität Graz, seit Januar 2010 ist sie Assistenzprofessorin. 2003 Promotion über Alban Bergs Lulu (2003, Rombach) sowie 2010 Habilitation über Cross-gender Casting in der Barockoper (2011, Franz Steiner Verlag) an der Universität Graz. Im Frühjahr 2007 war sie Gastprofessorin am New York City College. Forschungsschwerpunkte: Italienische und deutsche Oper, Alban Berg, Genderforschung. Susanne Kogler studierte Musikpädagogik, Klassische Philologie und Musikwissenschaft an der Kunstuniversität und der Universität Graz. Dissertation über Sprache und Sprachlichkeit im zeitgenössischen Musikschaffen (2003, Universal Edition). 1996–2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Wertungsforschung, 2009–2011 am Zentrum für Genderforschung der Kunstuniversität Graz, 2010–2011 stellvertretende Leiterin des Zentrums. 2006–2009 Forschungsaufenthalt in Paris (Habilitationsprojekt Adorno versus Lyotard: moderne und postmoderne Ästhetik, Publikation 2013, Karl Alber Verlag). Lehrbeauftragte an der Universität Wien (Herbst 2009), Gastprofessorin am New York City College (Herbst 2005) und der Universität Paris 8 (Studienjahr 2007/2008 und April 2010). Sally Macarthur is a musicologist and keyboard performer, and holds the position of Senior Lecturer in Musicology at the University of Western Sydney. An important strand of her work exemplified in her recent book, Towards a Twenty-First-Century Feminist Politics of Music (Ashgate, 2010), draws on the work of Deleuze and Guattari to open up new ways of thinking about the absence of women’s music. Other books include Feminist Aesthetics in Music (Greenwood Press, 2002) and with co-editor Cate Poynton, Musics and Femi-

Autorinnen und Autoren

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nisms (AMC, 1999). She has published in a number of scholarly journals such as Radical Musicology, Cultural Studies Review, and Musicology Australia. Further details about Sally Macarthur are available on her website: www.sallymacarthur.com. Sigrid Nieberle studierte Neuere deutsche Literatur, Musik- und Theaterwissenschaften in München und Wien und ist seit 2009 Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Forschung und Lehre an den Universitäten München, Darmstadt, Greifswald, Bielefeld, Debrecen, Brno und Oxford. Forschungsschwerpunkte: Biographik; Narratologie; Intermedialität der Literatur, insbesondere von Musik und Literatur; Gender Studies. Veröffentlichungen: FrauenMusikLiteratur. Deutschsprachige Literatur im 19. Jahrhundert (2001); Literarhistorische Filmbiographien. Literaturgeschichte und Autorschaft im Kino (2008); Mitherausgeberin von Sammelbänden zur Erzählforschung, zur Literatur der 1950er Jahre, zur Reiseliteratur und zum literarischen Paar. Ruth Neubauer-Petzoldt studierte Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte an den Universitäten Regensburg, Karlsruhe und Los Angeles (UCLA). 1998 promovierte sie mit ihrer Arbeit Albernheit mit Hintersinn: Intertextuelle Spiele in Ludwig Tiecks romantischen Komödien an der LudwigMaximilians-Universität München. Ihr Habilitationsprojekt Von verbotener Neugier und grenzüberschreitendem Wissen: Blaubart als neuer Mythos an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg steht kurz vor dem Abschluss. Weitere Forschungsschwerpunkte sind: Raumtheorie; Fremdheitsforschung; Kriminal- und Vampirliteratur. Mary Ann Smart is a professor of musicology at the University of California, Berkeley. She is author of Mimomania: Music and Gesture in Nineteenth-Century Opera (California, 2004) and editor of the critical edition of Donizetti’s Dom Sébastien. Her book on opera and political opinion in nineteenth-century Italy, Waiting for Verdi, will be published in 2013. Leon Stefanija joined the Department of Musicology, Faculty of Arts, University of Ljubljana in 1995 and has chaired the systematic musicology department there since 2001. His main research and teaching areas are the epistemology of music research, contemporary Slovenian (classical and popular) music and the sociology of music. Main publications: Musical Listening Habits of College Students in Finland, Slovenia, South Africa, and Texas – Similarities and Differences (2010), Sociology of Music (2010), Contribution to the Analysis

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Autorinnen und Autoren

of the Slovenian Music Institutions in the 20th Century (2010), On the New in Music, Ljubljana 2001, Methods of Music Analysis: A Historical and Theoretical Survey, Ljubljana 2004. Laura Tunbridge is Senior Lecturer in Music at the University of Manchester. She studied at the University of Oxford (B.A. (Hons.) 1996), University of Nottingham (M.A. 1997) and Princeton University (PhD 2002). Her publications include the monographs Schumann’s Late Style (Cambridge University Press, 2007) and The Song Cycle (Cambridge, 2010), and the co-edited collection Rethinking Schumann (Oxford University Press, 2011). She is currently working on a book about Lieder singers in New York and London between the World Wars, research for which she has been supported by a Study Abroad Fellowship from the Leverhulme Trust and an Early Career Fellowship from the Arts and Humanities Research Council. Melanie Unseld studierte Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft, Philosophie und Angewandte Kulturwissenschaft in Karlsruhe und Hamburg. 1996 Magister über das Streichquartettschaffen des russischen Komponisten Alexander Borodin an der Universität Hamburg. 1999 ebenda Promotion (»Man töte dieses Weib!« Tod und Weiblichkeit in der Musik der Jahrhundertwende, Stuttgart/Weimar 2001). 2002-04 Stipendiatin des Lise Meitner-Hochschulsonderprogramms (Habilitationsprojekt »Biographie und Musikgeschichte«). 2005-08 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik und Theater Hannover, hier ab 2006 am Forschungszentrum für Musik und Gender (fmg). Seit 2008 ist sie Professorin für Kulturgeschichte der Musik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.  Michael Walter studierte Musikwissenschaft an den Universitäten Marburg und Gießen. Er war DFG-Stipendiat an der Universität Siegen und Assistent am Lehrstuhl für historische Verhaltensforschung der Universität Stuttgart. Nach der Habilitation (1993) lehrte er an den Universitäten Bochum und Bayreuth. Seit 2001 ist er Universitätsprofessor für Musikwissenschaft an der Universität Graz. Er hat zahlreiche Aufsätze und Bücher über die Musikgeschichte des Mittelalters, die Geschichte der Oper, klassische Instrumentalmusik, Richard Strauss und das Musikleben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts veröffentlicht.

PETER WEGELE

DER FILMKOMPONIST MAX STEINER (1888–1971) (EXIL.ARTE-SCHRIFTEN, BAND 2)

Vom Winde verweht, King Kong und nicht zuletzt Casablanca – wer kennt diese Klassiker nicht. Aber der Mann, der diesen Filmen eine musikalische Sprache gegeben hat und die sinfonische Filmmusik im sogenannten Goldenen Zeitalter Hollywoods etabliert hat, Max Steiner, ist für viele Zeitgenossen unbekannt. Dieses Buch ist die erste Monografie über diesen Filmmusikpionier. Gestützt auf seine unveröffentlichte Autobiografie und viele Interviews zeichnet dieses Buch das Leben Max Steiners von seiner Geburtsstadt Wien über London und New York nach Hollywood nach. Anhand vieler Originaldokumente wird die Entstehung des Films Casablanca und der Musik dazu erzählt. Eine detaillierte Analyse einiger ausgewählter Passagen zeigt die technische, musikalische und psychologische Seite seiner Filmmusik. 2012. 300 S. 18 S/W-ABB. U. 88 NOTENBSP. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-78801-0

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DIE WIEDERKEHR DES KÜNSTLERS THEMEN UND POSITIONEN DER AKTUELLEN KÜNSTLER/INNEN FORSCHUNG (KUNST – GESCHICHTE – GEGENWART, BAND 2)

Nachdem die Kunstgeschichte im 20. Jahrhundert erfolgreich bemüht war, die Fixierung auf das Künstlersubjekt zu überwinden, ist um die Jahrtausendwende die Figur des Künstlers wieder verstärkt in ihren Fokus geraten. Die Künstler/innen-Forschung geht heute von einer theoretisch und methodologisch neu reflektierten Basis aus. Anstatt naiv »das Leben« oder »die Seele« des Künstlers zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen, begreift sie die Verbindung von Biografie, Sozialstatus, psychischer Konstitution, Habitus und Werk als komplexe Konstruktionen, die es in ihrer je spezifischen historischen Situation zu analysieren gilt. Der vorliegende Band gibt – konzentriert auf die Moderne vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart – einen Einblick in die aktuelle Künstler/innen-Forschung. 2011. 362 S. MIT 74 S/W-ABB. FRANZ. BR. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-20727-4

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19. JAhrhundert

und dIskurse

mit EinEm Vorwort Von

2007. XiV, 316 s. 6 fArB. ABB. und

frEiA hoffmAnn

EinigE notEnBsp. Br.

2010. Viii, 364 s. 41 s/w-ABB. und

isBn 978-3-412-20003-9

notEnBsp. Br. | isBn 978-3-412-20496-9

Bd. 5 | AnnEttE KrEutzigEr-hErr,

Bd. 9 | JuliA hEimErdingEr,

KAtrin loslEBEn (hg.)

mArtinA BiCK, KristA wArnKE (hg.)

History/Herstory

MusikGescHicHten –

AlternAtIve MusIkgeschIchten

VerMittlunGsForMen

2009. Xiii, 430 s. 23 fArB. und s/w-ABB.

FestschrIFt Für BeAtrIx BorchArd

Br. | isBn 978-3-412-20243-9

zuM 60. geBurtstAg 2010. 360 s. 62 s/w-ABB. gB.

Bd. 6 | susAnnE rodE-BrEymAnn (hg.)

isBn 978-3-412-20625-3

Musikort kloster kulturelles hAndeln von FrAuen

Bd. 10 | floriAn hEEsCh,

In der Frühen neuzeIt

KAtrin loslEBEn (hg.)

2009. Vi, 274 s. 34 s/w-ABB. und 11 fArB.

Musik und Gender

ABB. mit musiK-Cd. Br.

eIn reAder

isBn 978-3-412-20330-6

2012. 313 s. EinigE notEnBsp. Br. isBn 978-3-412-20785-4

Bd. 7 | CArstEn wErgin kréol Blouz

Bd. 11 | KordulA KnAus,

MusIkAlIsche InszenIerungen von

susAnnE KoglEr (hg.)

IdentItät und kultur

autorscHaFt – Genie – GescHlecHt

2010. Vii, 212 s. 9 fArB. ABB. Auf 4 tAf.

MusIkAlIsche schAFFensprozesse

und notEnBsp. mit musiK-Cd. Br.

von der Frühen neuzeIt BIs zur

isBn 978-3-412-20442-6

gegenwArt 2013. 284 s. 28 s/w-ABB. und

UB116

notEnBsp. Br. | isBn 978-3-412-20902-5

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