222 84 20MB
German Pages 498 Year 2005
Übertragungen
W G DE
Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Nikiaus Largier Mireille Schnyder
Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa
Volume 5
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Übertragungen ··
Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit Herausgegeben von Britta Bußmann · Albrecht Hausmann Annelie Kreft · Cornelia Logemann
Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISSN 1612-443X ISBN-13: 978-3-U-018339-9 ISBN-10: 3-11-018339-0 Bibliografische Information Der Deutschen
Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© Copyright 2005 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. G m b H & Co. KG, Göttingen
Forschernachwuchsgruppe
Stimme · Zeichen · Schrift in Mittelalter und Früher Neuzeit
Der vorliegende Band ist eine Veröffentlichung der Forschernachwuchsgruppe , Stimme - Zeichen - Schrift in Mittelalter und Früher Neuzeit' am Zentrum für Mittelalter- und Frühneuzeitforschung (ZMF) der Universität Göttingen. Die Gruppe wird aus Forschungsmitteln des Landes Niedersachsen finanziert. Der Band dokumentiert die Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung, die vom 18. - 20. Juni 2004 in Göttingen stattfand. Das Thema Übertragungen: Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit ist aus der gemeinsamen Arbeit unserer Forschernachwuchsgruppe hervorgegangen. Dass die Diskussionen während der Tagung viele wertvolle Impulse lieferten, ist vor allem den Moderatoren der Sektionen, Prof. Dr. Noberto Gramaccini, Prof. Dr. Volker Honemann, Prof. Dr. Andreas Kraß, Dr. Norbert H. Ott, Prof. Dr. Bruno Reudenbach und Prof. Dr. Hans-Jochen Schiewer zuzuschreiben; ihnen sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt. Das Projekt war nur möglich, weil wir Autorinnen und Autoren gefunden haben, die sich mit ihren Referaten und Beiträgen auf ein interdisziplinäres Gespräch eingelassen haben. Ihnen gilt unserer besonderer Dank. Die inhaltliche und organisatorische Vorbereitung der Tagung, ihre Durchfuhrung und schließlich die Publikation dieses Bandes bildeten Gemeinschaftsprojekte unserer Gruppe, die ohne die Mithilfe unserer studentischen Mitarbeiterinnen kaum durchfuhrbar gewesen wären: Karen Thöle unterstützte uns insbesondere bei den redaktionellen Arbeiten, Alena Diedrich fertigte das Register an, und Hanna Rabea Garlt übersetzte und redigierte die englischen Zusammenfassungen der Beiträge. Ihnen allen danken wir herzlich. Schließlich möchten wir den Herausgebern für die Aufnahme des Bandes in ihre Reihe Trends in Medieval Philology danken.
Göttingen, im September 2005 Britta Bußmann Annelie Kreft
Albrecht Hausmann Cornelia Logemann
Inhaltsverzeichnis
ALBRECHT HAUSMANN
Übertragungen: Vorüberlegungen zu einer Kulturgeschichte des Reproduzierens
XI
I. Äquivalenz E i n f u h r u n g v o n BRITTA BUSSMANN
1
KLARA VANEK
Überlieferung und Textverderbnis. Konrad Rittershausens Monitio de varietate lectionum von 1597
9
JÜRGEN W O L F
Der Text in den Fängen der Schreiber oder: Sind die Sorgen der Autoren um Textkorruption und Textzerstörung berechtigt?
29
CHRISTIAN THOMAS LEITMEIR
Klang, Zeichen, Schrift. Zwei Fallstudien zur schriftlichen Vermittlung und Überlieferung von Musik im Mittelalter und der Frühen Neuzeit
43
VOLKER SCIOR
Stimme, Schrift und Performanz. Übertragungen' und Reproduktionen' durch frühmittelalterliche Boten
77
M A R K U S SPÄTH
Kopieren und Erinnern. Zur Rezeption von Urkundenlayouts und Siegelbildern in klösterlichen Kopialbüchern des Hochmittelalters
101
PETER SCHMIDT
Die Anfange des vervielfältigten Bildes im 15. Jahrhundert oder: Was eigentlich reproduziert das Reproduktionsmedium Druckgraphik?
129
Inhaltsverzeichnis
VIII
II. Wiedererzählen E i n f ü h r u n g v o n ANNELIE KREFT
157
STEFANIE SCHMITT
Übertragungen in literarische Kontexte. Beobachtungen an altfranzösischen und mittelhochdeutschen Alexanderdichtungen
163
L E N A BEHMENBURG
Das beredte Verschweigen der Vorlage. Beobachtungen zum Philomena-Mythos Crestiens' Ii Gois
185
NIKOLAI A . BONDARKO
Analyse, Synthese, Transformation. Modelle der Textreproduktion im kompilativen Erbauungsbuch Geistlicher Herzen Bavngart
199
JOHANNES KLAUS KIPF
Zwischen Wiedererzählen und Übersetzung. Übertragungen frühneuhochdeutscher Schwänke in neulateinische Fazetien und umgekehrt im Vergleich
219
III. Übersetzen Einführung von
ALBRECHT H A U S M A N N
253
CAROLA REDZICH
Mittelalterliche Bibelübersetzung und der Übersetzungsbegriff
259
LAURENT B R U N / MATTIA C A V A G N A
Das Speculum historiale und seine französische Übersetzung durch Jean de Vignay
279
VOLKHARD W E L S
Die Poetik des Averroes in ihren lateinischen Fassungen
303
ALMUT SCHNEIDER
... in Teutsch vertiert. Zu Heinrich Steinhöwels Übersetzung von Giovanni Boccaccios De claris mulieribus
315
Inhaltsverzeichnis
IX
R E G I N A TOEPFER
Mit fleiß zu Teütsch tranßferiert. Schaidenreissers Odyssea im Kontext der humanistischen Homer-Rezeption
329
S T E F A N SCHWEIZER
Die Stadt auf dem Papier. Druckgraphische und architektonische Übertragungen' antiker Kultur im frühneuzeitlichen Verona
349
IV. Übergänge Einführung von CORNELIA LOGEMANN
371
HENRIKE M A N U W A L D
Die Große Bilderhandschrift des Willehalm: Kommentierter Text oder .zweisprachige' Ausgabe?
377
IMKE H A R J E S
...zu ergetzung Gotsförchtiger herzen / und zu dinst den solcher kunst übenden: Figurenbände zur Bibel
395
KATHRIN MÜLLER
Irritierende Variabilität. Die mittelalterliche Reproduktion von Wissen im Diagramm
415
BRITTA B U S S M A N N
Mit tugent und kunst. Wiedererzählen, Weitererzählen und Beschreiben in Albrechts Jüngerem Titurel
437
Abkürzungsverzeichnis
463
Handschriftenregister
466
Personen- und Werkregister
469
Die Beiträgerinnen und Beiträger dieses Bandes
475
ALBRECHT HAUSMANN
Übertragungen: Vorüberlegungen zu einer Kulturgeschichte des Reproduzierens I Unter Übertragungen' verstehen wir Reproduktionsprozesse, bei denen von einer Vorlage (z. B. von einem Text, einem Bild, einem musikalischen Notat) ein Reprodukt hergestellt wird, um Inhalte, gegebenenfalls aber auch Form und Gestalt der Vorlage an einem anderen Ort, in einem anderen Medium oder in einem anderen gesellschaftlichen oder sprachlichen Kontext verfugbar zu machen. Das Reprodukt kann und soll die Vorlage dabei mehr oder minder weitgehend ersetzen (,Verdoppelung'). Übertragungen in diesem Sinn verstehen sich nicht nur als punktuelle oder partielle Wiedergaben, sondern als Reproduktionen, die das Ganze der Vorlage im Blick haben. Exemplarische Übertragungen' sind demnach: Abschreiben, Kopieren (z. B. von Werken der bildenden Kunst oder auch von Architektur) und Edieren; verschiedene Formen des Übersetzens; die Umsetzung von Textinhalten in bildliche Darstellung (Illustrationen) und umgekehrt (Bildbeschreibungen, Ekphrasen); die Herstellung von musikalischen Kontrafakturen. Die Aufteilung der Beiträge des vorliegenden Bandes auf vier Sektionen versteht sich als pragmatischer Versuch einer Typologie: In Sektion I werden unter dem Stichwort ,Äquivalenz' vor allem solche Übertragungen thematisiert, bei denen Medien- oder Sprachwechsel keine wesentliche Rolle spielen (Abschreiben, Kopieren, Edieren; Druckgraphik). Probleme der Äquivalenz zwischen Vorlage und Reprodukt werden hier besonders deutlich sichtbar, weil Varianz - erzeugt durch Eingriffe des Reproduzenten - in diesen Fällen nicht als Effekt von Sprach- oder Medienwechsel gebucht werden kann. 1 Die Beiträge der II. Sektion behandeln überwiegend Übertragungen, denen ein von der Forschung als .Wiedererzählen' 2 bezeichnetes literarisches Verfahren zugrunde liegt. ,Wiedererzählungen' können mit einem Sprachwechsel verbunden sein; deshalb ist der Übergang zu Sektion III ^Übersetzen') fließend. In den Beiträgen dieser Sektion spielt der Wechsel der Spra1 2
Z u m B e g r i f f , Ä q u i v a l e n z ' vgl. die Einführung zur I. Sektion v o n BRITTA BUSSMANN, S. Iff. Z u m B e g r i f f vgl. die Einführung v o n ANNEUE KREFT, S. 1 5 7 f f .
XII
ALBRECHT HAUSMANN
che von der Vorlage zum Reprodukt eine wesentliche Rolle. Mit medialen ,Übergängen' 3 beschäftigen sich die Beiträge der IV. Sektion: Gemeint sind damit Übertragungen, die auf dem Wechsel des Mediums zwischen Vorlage und Reprodukt beruhen (Text-Bild-Bezüge, Bildbeschreibungen). Das Äquivalenzproblem stellt sich hier nicht zuletzt deshalb auf besondere Weise, weil Vorlage und Reprodukt häufig direkt nebeneinander zu stehen kommen. Mit der Verwendung des Begriffs Übertragung' wird die strukturelle Vergleichbarkeit, ja Ähnlichkeit von Reproduktionsformen behauptet, die in der Mittelalterforschung von verschiedenen Teildisziplinen untersucht werden. So hat das Thema .Abschreiben' in der Vergangenheit vor allem die Philologen interessiert4 (mit einer bemerkenswerten kulturwissenschaftlichen Öffnung durch die New Philology in den 1990er Jahren)5; fur sie sind die häufig variierenden Abschriften eines Textes neben allem anderen auch Material fur die Herstellung von Editionen und deshalb Anlass fur editionsphilologische Methodendiskussionen. 6 ,Übersetzen' gehört zum Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft im engeren Sinn.7 Kopien von Kunstwerken oder von Archi-
3 4 5
Z u m Begriff vgl. die Einführung von CORNELIA LOGEMANN, S. 3 71 ff. Vgl. neuerdings z. B. die Beiträge in: Das Mittelalter 7/2 (2002): Der Schreiber im Mittelalter. Hrsg. von MARTIN J. SCHUBERT. Einen guten Überblick über die Diskussion um eine ,neue' Philologie vermittelt KARL STACKMANN: Autor - Oberlieferung - Editor. In: Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie. Freiburger Colloquium 1997. Hrsg. von ECKART CONRAD LUTZ, Freiburg 1998, S. 11-32. Vgl. außerdem: KARL STACKMANN: Neue Philologie? In: Modernes Mittelalter. N e u e Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE, Frankfurt a. M., Leipzig 1994, S. 3 9 8 - 4 2 7 ; Alte und neue Philologie. Hrsg. von MARTIN DIETRICH GLESSGEN/FRANZ LEBSANFT, Tübingen 1997 (Beihefte zu editio 8), darin insbesondere die Beiträge von RÜDIGER SCHNELL und DIETMAR RIEGER; PETER STROHSCHNEIDER: Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur ,New Philology'. In: Z f d P h 116 (1997). Sonderheft): Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hrsg. von Helmut TERVOOREN/HORST WENZEL, S. 6 2 - 8 6 ; STEPHEN G. NICHOLS: Why Material Philology? Some Thoughts. In: Ebd., S. 10-30. Die Diskussion in den U S A (v. a. innerhalb der Romanistik) kann hier nicht nachgezeichnet werden; auslösend waren die Beiträge in Speculum 65 (1990), S. 1 - 1 0 8 , sowie: BERNARD CERQUIGLINI: Eloge de la Variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989; überwiegend kritisch dazu: Towards a Synthesis? Essays on the ' N e w Philology'. Hrsg. von KEITH BUSBY, Amsterdam, Atlanta 1993.
6
Die älteren Diskussionen fasst zusammen: KARL STACKMANN: Mittelalterliche Texte als A u f gabe. In: FS Jost Trier. Hrsg. von WILLIAM FOERSTE/KARL HEINZ BORCK, Köln, Graz 1964, S. 2 4 0 - 2 6 7 ; zur Methodendiskussion im Z u s a m m e n h a n g mit der ,New Philology' vgl. ALBRECHT HAUSMANN: Mittelalterliche Überlieferung als Interpretationsaufgabe. ,Laudines K n i e f a i r und das Problem des .ganzen Textes'. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Hrsg. von URSULA PETERS, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 7 1 - 9 5 .
7
Vgl. u. a. Wolfram-Studien 14 (1996), insbesondere den Beitrag von ANDREAS KRASS; Translation Theory and Practice in the Middle Ages. Hrsg. von JEANETTE BEER, Kalamazoo 1997 (Studies in Medieval Culture 38); The Medieval Translator. The Theory and Practice of Translation in the Middle Ages. Hrsg. von ROGER ELLIS, Cambridge 1989; RITA COPELAND: Rhetoric, Hermeneutics and Translation in the Middle Ages. A c a d e m i c Traditions and Vernacular Texts, Cambridge u. a. 1995 (Cambridge Studies in Medieval Literature 11); The Politics of Translation in the Middle Ages and the Renaissance. Hrsg. von RENATE
Übertragungen
XIII
tektur werden von Kunsthistorikern untersucht. 8 Mit musikalischen Notationssystemen und ihrer Bedeutung für die Überlieferung beschäftigt sich die Musikwissenschaft. Fasst man diese und weitere Reproduktionsformen unter dem Oberbegriff Übertragungen', dann ergibt sich daraus zwangsläufig ein interdisziplinärer Ansatz, dessen Vorzug in der Vernetzung der Ergebnisse aus den jeweiligen Disziplinen besteht. Erkennbar und beschreibbar werden auf diese Weise die möglicherweise vorhandenen Gemeinsamkeiten, durch die sich mittelalterliche Reproduktionsprozesse vielleicht grundsätzlich von Reproduktionsformen und -konzepten in der Moderne unterscheiden. Das Projekt Übertragungen' sucht insofern mit Mitteln des Vergleichs nach einer Epochensignatur des Mittelalters und versteht sich zugleich als Beitrag zu einer Kulturgeschichte des Reproduzierens.
II Reproduzieren im dargelegten Sinn gehört zu den grundlegenden menschlichen Kulturtechniken. Die Nachbildung bestimmter ,Vorlagen' ist nicht nur eine Form materieller oder geistiger Aneignung, sondern auch wesentliches Merkmal von Traditionsbildung und -Verbreitung in nahezu jeder Gesellschaft. Wer reproduziert, erspart sich einerseits die eigene Erfindung, kann aber andererseits die dadurch freigesetzten Leistungsressourcen fur Anpassungen und Verbesserungen' am Reprodukt nutzen; die Ökonomie des Reproduzierens ermöglicht auf diese Weise Variationen, die sich auch als ,Distanzierungen' von der Vorlage äußern können. Nicht zuletzt dienen Reproduktionstechniken der Konfliktvermeidung: Der Streit um das ,einzige Exemplar' wird entschärft, wenn sich nach seinem Vorbild ein zweites oder - wie bei serieller Massenproduktion viele weitere herstellen lassen. Die jeweils praktizierten Verfahren und die geltenden Konzepte von Reproduktion sind fur eine Gesellschaft von prägender Bedeutung. In historischer Perspektive erscheinen Entwicklungen im Bereich der Reproduktionstechniken als geradezu epochal: Die Verfügbarkeit von mechanischen Verfahren der seriellen Massenfertigung für die Verbreitung von Informationen (Druckgraphik, Buchdruck mit beweglichen Lettern) seit dem 15. Jahrhundert kann als ein wesentliches Epochenmerkmal der so genannten Frühen Neuzeit gelten; 9 die
8 9
BLUMENFELD-KOSINSKI, Tempe/Ariz. 2001 (Medieval and Renaissance Texts and Studies 233). Zu weiterer Literatur vgl. den Beitrag von CAROLA REDZICH in diesem Band, v. a. S. 2 5 9 - 2 6 7 . Vgl. hierzu die Einfuhrung von CORNELIA LOGEMANN zur IV. Sektion in diesem Band, S. 372, Anm. 2 (mit Literatur). Vgl. hierzu und zum Folgenden: MICHAEL GIESECKE: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M. 1991; Ders.: Von den skriptographischen zu den typographischen Informationsverarbeitungsprogrammen. N e u e Formen der Informationsgewinnung und -darstellung im 15. und 16. Jahrhundert. In: Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neu-
XIV
ALBRECHT HAUSMANN
fortschreitende Ausdehnung solcher Verfahren auf die Erzeugung von Gebrauchsgütern im 19. Jahrhundert prägt die moderne Industriegesellschaft bis heute grundlegend. Das Mittelalter dagegen ist durch die nahezu vollständige Abwesenheit mechanischer Vervielfaltigungstechniken gekennzeichnet; es ist die Epoche manueller Reproduktionsverfahren. Deren Eigentümlichkeit besteht darin, dass jede einzelne ,Kopie' von einem Reproduzenten in Handarbeit hergestellt werden muss und deshalb zugleich auch dessen produktive Rezeptionsleistung dokumentiert. Völlige Übereinstimmung mit der Vorlage ist dabei ebenso unwahrscheinlich wie die exakte Identität aller Kopien, die nur mechanische oder elektronische Reproduktionsverfahren gewährleisten können. Der entscheidende Vorteil manueller Reproduktion liegt jedoch in der Adaptationsmöglichkeit an die jeweilige Gebrauchssituation, in die das Reprodukt gestellt wird. 10 Der Schreiber, Handwerker, Illustrator, Maler usw. kann und wird bei der Herstellung von der Vorlage abweichen und sein Erzeugnis durch Variation an die jeweils neue Rezeptions- oder Gebrauchssituation anpassen. Er folgt damit der Ökonomie manueller Reproduktion, die eine andere ist als diejenige der seriellen Massenfertigung: Hohe Stückzahlen lassen sich nur erzielen, wenn die immer gleichen Exemplare einer Auflage fur möglichst viele, auch unterschiedliche Gebrauchssituationen verwendbar sind. Die dabei häufig zu beobachtende Nivellierung kann in bestimmten Gebrauchszusammenhängen zu Redundanzen, aber auch zu Defiziten führen: Ein gedrucktes Buch kann (insbesondere im Bereich der Sachliteratur) Inhalte bieten, die fur einen bestimmten Rezipienten überschüssig und deshalb uninteressant sind; an anderer Stelle hätte eben dieser Rezipient gerne ausfuhrlichere Informationen gelesen (ein typisches Problem etwa bei gedruckten Reiseführern). Ein Schreiber, der selbst Rezipient eines Textes ist oder um die individuellen Interessen des voraussichtlichen Lesers weiß, kann dagegen flexibel agieren: Er wird auf Passagen, die ihm in der jeweiligen Situation überflüssig erscheinen, verzichten, an anderen Stellen kann er dagegen Ergänzungen einfügen (Beispiele dafür in dem Beitrag von BRUN/CAVAGNA, in diesem Band S. 288-290). Eine Druckgraphik kann für den Rahmen, in den sie eingesetzt, oder fur das Buch, in das sie eingeklebt oder eingebunden werden soll, schon vom Format her zu groß sein (Beispiel in diesem Band S. 353f.); sie muss dann zugeschnitten oder gefalzt werden. Ein Illustrator dagegen kann sein Bild genau dem Format anpassen, das am vorgesehenen Rezeptionsort zur Verfugung steht. Manuelle Reproduktion ist also prinzipiell offener für Adaptationen; Variationen entsprechen ihrer spezifischen Ökonomie, die auf Vermeidung von Redundanzen und Lücken gerichtet ist.
zeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache. Hrsg. von HORST BRUNNER/RICHARD WOLF, Wiesbaden 1993 (Wissensliteratur im Mittelalter 13), S. 328-346. 10 Dazu ausführlicher demnächst: ALBRECHT HAUSMANN: Oberlieferungsvarianz und Medienwechsel. Die deutschen Artes dictandi des 15. Jahrhunderts zwischen Manuskript und Buchdruck. In: Revue Beige de Philologie et d'Histoire. Sonderheft: Manuscriture: la litterature medievale dans les manuscrits. Hrsg. von KEITH BUSBY (im Druck).
Übertragungen
XV
Die manuellen Verfahrensweisen sind sicherlich ein Grund fur die Varianz, die sich bei mittelalterlichen Reproduktionsvorgängen beobachten lässt. Es wäre aber falsch, diese Varianz bzw. die zugrunde liegende Variabilität allein auf im Mittelalter geltende technische Voraussetzungen zurückzuführen. Denn sie begegnet auch bei solchen Übertragungen, bei denen die Reproduktionstechnik selbst keine Rolle spielt, etwa beim Übersetzen oder bei der Nachbildung von Architektur. Im Bereich der Kunstgeschichte wurde dieses Phänomen bereits 1 9 4 2 von RICHARD 11 KRAUTHEIMER in einem einflussreichen Aufsatz untersucht. KRAUTHEIMER geht von der Beobachtung aus, dass in mittelalterlichen Quellen Bauwerke als ähnlich oder sogar als Imitationen bezeichnet werden, die für den modernen Betrachter nur geringe Übereinstimmungen aufweisen. Am Beispiel der relativ häufigen .Kopien' der Jerusalemer Grabeskirche in Europa zeigt KRAUTHEIMER, dass die Nachbildungen selbst dann nur wenig Ähnlichkeit mit der , Vorlage' zeigen, wenn die Bauherren die similitudo betonen oder sogar Korrespondenten zur Bauaufnahme ins Heilige Land schickten: 12 „Zweifellos gibt es einige allgemeine Ähnlichkeiten zwischen den Kopien des Heiligen Grabes in Fulda, Paderborn, Lanleff und Cambridge und ihrem frühchristlichen Prototyp. Aber diese Ähnlichkeiten sind für das Auge des heutigen Betrachters ziemlich vage." 13 KRAUTHEIMER zieht den allgemeinen Schluss: „Die mangelnde Präzision bei der Nachbildung der spezifischen Gestalt architektonischer Formen, im Grundriß wie im Aufriß, ist eines der hervorstechendsten Merkmale von Kopie und Original im Mittelalter." 14 Tatsächlich wurde, so KRAUTHEIMER, weniger das Gebäude an sich als vielmehr seine ,Bedeutung' kopiert; dies erfolgte durch die Reproduktion einiger weniger Merkmale (z. B. Anzahl der Säulen, Organisation als Zentralbau u. ä.):15 „Der Erbauer einer mittelalterlichen Architekturkopie beabsichtigte nicht, das tatsächliche Aussehen des Prototyps nachzubilden; es ging ihm lediglich darum, ihn typice und flguraliter zu reproduzieren, zum Gedächtnis einer heiligen Stätte und zur gleichen Zeit als Symbol der verheißenen Erlösung." 16 KRAUTHEIMERS Befunde und Schlussfolgerungen bedürfen sicher einer Überprüfung und Differenzierung, 17 grundsätzlich aber entsprechen sie der Wahrnehmung, die auch in anderen Disziplinen hinsichtlich der Verfahrensweisen mittelalterlicher Rezipienten vorherrschen. So betont etwa ANDREAS KRASS in einem programmatischen Aufsatz zu den Spielräumen mittelalterlichen Übersetzens die Tendenz zur weitgehend funktionalen Adaptation der Vorlage; 18 FRANZ 11
12 13 14 15 16 17 18
RICHARD KRAUTHEIMER: Einführung zu einer Ikonographie der mittelalterlichen Architektur. In: Ders.: A u s g e w ä h l t e A u f s ä t z e zur Europäischen Kunstgeschichte, Köln 1988, S. 1 4 2 - 1 9 7 (Der A u f s a t z erschien bereits 1942, vgl. ders.: Introduction to an 'Iconography o f Architecture'. In: JWCI 5 [ 1 9 4 2 ] , S. 1 - 3 3 ) . Ebd., S. 146. Ebd., S. 147. Ebd., S. 150. Ebd., S. 163. Ebd., S. 161. SARAH BUCK: E x c e p t i o n s to Krautheimer's Theory o f C o p y i n g . In: Visual Resources 2 0 ( 2 0 0 4 ) , S. 1 2 3 - 1 4 2 . ANDREAS KRASS: Spielräume mittelalterlichen Übersetzens. Zu Bearbeitungen der Mariens e q u e n z Stabat maier dolorosa. In: Wolfram-Studien 14 ( 1 9 9 6 ) , S. 8 7 - 1 0 8 .
XVI
ALBRECHT HAUSMANN
hat ein Modell entworfen, das vorlagenbewusstes und -getreues ,Übersetzen' im Bereich volkssprachigen Erzählens überhaupt erst als Erscheinung der Frühen Neuzeit gelten lassen will. 19 Am radikalsten sind die Schlussfolgerungen einiger Vertreter der New Philology·. Der Eindruck, dass ,dem Mittelalter' der moderne Äquivalenzbegriff samt seiner Voraussetzungen (Vorstellungen von Autorschaft, von textueller Festigkeit usw.) noch fremd gewesen sei, wurde hier besonders deutlich formuliert. 20 Variance und mouvance wurden zu Schlagworten einer die Alterität mittelalterlicher Textreproduktion betonenden Forschung; JOACHIM B U M K E stellte dazu den Begriff der „gleichwertigen Parallelfassungen" 21 Nimmt man all dies zusammen, dann scheint der Befund eindeutig zu sein: Das Mittelalter ist das Zeitalter der .freien' Reproduktion; mittelalterliche Übertragungen sind gekennzeichnet von der Lizenz zur Abweichung vom Original, ja von einem mangelnden Bewusstsein für Vorlagentreue. Die Äquivalenz zwischen Vorlage und Reprodukt spielt für mittelalterliche Reproduzenten anscheinend eine verhältnismäßig geringe Rolle. Insofern - so könnte man die These weiterführen - sind mittelalterliche Formen und Konzepte von Übertragung Indizien für eine grundsätzliche Alterität des Mittelalters. 22 JOSEF WORSTBROCK
III War also das Mittelalter die Epoche der Varianz, adaptierte der mittelalterliche Reproduzent ohne Rücksicht auf die Äquivalenz zwischen Vorlage und Kopie, fehlte ihm das Bewusstsein fur die Verbindlichkeit oder Unverletzlichkeit der Vorlage? So nahe diese verallgemeinernde These als Zusammenfassung von Befunden und Deutungstendenzen aus den verschiedenen mediävistischen Fächern auch liegen mag, sie ist doch zu einfach gestrickt und bedarf der Differenzierung. Genau eine solche Differenzierung soll der vorliegende Band als Sammlung von Einzelstudien aus verschiedenen Disziplinen leisten. Es geht uns nicht um die Bestätigung einer möglichst .einfachen' These, auch nicht um deren Falsifizierung, sondern um das Erkenntnispotential, das in ihrer Überprüfung am Einzelfall liegt: Die mit der These vom Mittelalter als Epoche der Vari19 FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von WALTER HAUG, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea
16),
S.
128-142,
wieder abgedruckt
in: FRANZ JOSEF WORSTBROCK:
Ausgewählte
Schriften. Band 1: Schriften zur Literatur des Mittelalters, Stuttgart 2004, S. 183-196. 20
CERQUIGLINI ( A N M . 5 ) .
21
JOACHIM BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin, New York 1999. Kritisch dazu: HAUSMANN (Anm. 6). 22 Zur Frage der Alterität des Mittelalters vgl. grundsätzlich HANS ROBERT JAUSS: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956-1976, München 1977. D i e D e b a t t e u m JAUSS' A l t e r i t ä t s b e g r i f f d o k u m e n t i e r t PETER STROHSCHNEIDER: Art. .Alterität'.
In: RLW 1 (1997), S. 58-59. Vgl. auch unten Abschnitt IV dieses Beitrags.
Übertragungen
XVII
anz und mit dem Begriff Übertragung' verbundene interdisziplinäre Entdifferenzierung ermöglicht und provoziert neue Differenzierungen, die im besten Fall nicht mehr der alten Fächerstruktur folgen, sondern neue Zusammenhänge, Übereinstimmungen und Unterschiede aufzeigen. So hinterfragen etwa PETER SCHMIDT, JOHANNES KLAUS KIPF, ALMUT SCHNEIDER, REGINA TOEPFER u n d STEFAN SCHWEIZER in ihren Beiträgen aus kunsthistorischer und literaturwissenschaftlicher Sicht die Vorstellung, Reproduktionsformen und -konzepte hätten sich im Zeitalter von Renaissance und Humanismus grundlegend zugunsten größerer Vorlagentreue gewandelt. Tatsächlich, so der Tenor der Beiträge, ist ein differenzierteres Bild notwendig: Die frühe Druckgraphik ist keineswegs primär an der Wiedergabe von .Originalen' interessiert (SCHMIDT, S. 128ff), Übersetzungen in die Volkssprache sind auch noch im 15. und 16. Jahrhundert deutlich adaptierend und auf Funktionalität in der Zielgruppe und -spräche ausgerichtet (SCHNEIDER, S. 315ff.; TOEPFER, S. 329ff.), in bestimmten Bereichen lässt sich die Differenzierung zwischen .Übersetzen' und .Wiedererzählen' nicht (wie ursprünglich vorgeschlagen) auf einem historischen Epochenmodell abbilden (KLPF, S. 219ff.). Umgekehrt zeigt der Beitrag von CAROLA REDZICH (S. 259ff.), dass präzise, auf möglichst große Äquivalenz ausgerichtete Reproduktion etwa im Bereich der Bibelübersetzung auch schon in den mittelalterlichen Jahrhunderten keine Ausnahme war. Hier lassen sich weitere Beispiele anfügen: So wurden etwa rituelle Texte, bei denen es ,auf jedes Wort' ankommt, auch im Mittelalter ,genau' kopiert; bei Abschriften von Urkunden wurde in bestimmten Fällen auch das ursprüngliche Layout relativ getreu nachgebildet (SPÄTH, S. lOlff.); im Bereich der wissenschaftlichen (lateinischen) Literatur galten zweifellos höhere Äquivalenzansprüche als etwa beim Abschreiben volkssprachiger literarischer Texte (vgl. B R U N / C A V A G N A , S. 279ff.); interessant ist in diesem Zusammenhang, wie sich im wissenschaftlichen Bereich die Text-Bild-Relation gestaltete (Illustrationen von Wissensliteratur, MÜLLER, S. 415ff).
Die Beiträge dieses Bandes zeigen in ihrem Zusammenspiel, dass Übertragungen sich im Mittelalter nicht einfach .anders' - nämlich weniger ,vorlagentreu' und präzise sondern jeweils entsprechend ihrer Funktion und ihrer Einbindung in bestimmte Lebensbereiche (Schule, Liturgie, Unterweisung von Laien, Hofkultur u. a.) gestalteten. Mit Hilfe der Analyse von Übertragungen lässt sich zwar ein Epochenprofil für Mittelalter und Frühe Neuzeit konstruieren, nicht jedoch im Sinne eines einfachen Gegensatzes oder einer einsträngigen Entwicklung. Vielmehr ginge es darum zu untersuchen, in welchen Bereichen und Funktionszusammenhängen in bestimmten historischen Phasen welche Reproduktionsformen und -konzepte in Geltung waren. .Schnitte' durch solche Phasen würden die Gleichzeitigkeit verschiedener Reproduktionsformen erweisen, die in geläufigen Entwicklungsmodellen als ungleichzeitig vorgestellt werden. Die ,Alterität' des Mittelalters bestünde dann nicht darin, dass im Mittelalter grundsätzlich anders, nämlich weniger vorlagentreu, reproduziert wurde, sondern dass in anderen Bereichen als heute Vorlagen mit einer besonderen
XVIII
ALBRECHT HAUSMANN
Autorität ausgestattet waren und deshalb besondere Äquivalenzanforderungen gegolten haben - und umgekehrt. So ist etwa die profane antike Literatur erst im Humanismus zu einem Vorlagenbereich geworden, für den die Äquivalenzanforderungen grundsätzlich hoch waren und der entsprechende editorische und übersetzerische Aufmerksamkeit auf sich zog; aber auch hier kam es weiterhin auf die gewählte Zielsprache und die Gebrauchssituation an: An Übersetzungen aus dem Griechischen ins Lateinische wurden andere Anforderungen gestellt als an Übersetzungen in die Volkssprachen (vgl. den Beitrag von T O E P F E R in diesem Band, S. 329ff.). Vielleicht am deutlichsten werden solche Verschiebungen im Bereich der volkssprachigen Literatur. Während sie heute Gegenstand exakter wissenschaftlicher Bemühungen (Editionsphilologie, Übersetzungstheorie) ist, war sie im Mittelalter ein Objektbereich, bei dem auf Vorlagentreue offenbar eher wenig geachtet wurde.
IV An dieser Stelle wird ein methodisches Problem erkennbar, das bei der Einschätzung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Übertragungen von erheblicher Bedeutung ist: Die Wahrnehmung einer besonderen ,Andersartigkeit' mittelalterlicher Übertragungen beruht auch darauf, dass Wissenschaftler, die sich mit Mittelalter und Früher Neuzeit beschäftigen, selektiv vergleichen und dabei ihre eigenen exakten Reproduktionsmethoden (historisch-kritische Ausgabe, Kunstwerksbeschreibung, ,Kopie' u. a.) zum Maßstab nehmen. Dieses Problem betrifft beispielsweise auch den oben (S. XV) vorgestellten Beitrag von RICHARD KRAUTHEIMER. Sein Begriff der ,Kopie' stammt aus dem methodischen Repertoire der Kunstwissenschaft; die entsprechenden Implikationen (Äquivalenzanspruch, Genauigkeitspostulat usw.) werden von KRAUTHEIMER jedoch nicht weiter reflektiert. Es ist aber fraglich, ob die mittelalterlichen ,Nachbildungen' der Jerusalemer Grabeskirche überhaupt ,Architekturkopien' im Sinne des Kunsthistorikers sein wollen. Letztlich erzeugt der Begriff .Kopie' hier selbst den Befund mittelalterlicher Alterität. Hätte KRAUTHEIMER seine Beispiele als Architekturzitate, Repliken oder auch als Allusionen bezeichnet, dann wären ihm möglicherweise eher Übereinstimmungen als Unterschiede mit modernen Verfahrensweisen aufgefallen. Regelrechte Architekturkopien, die beispielsweise die Ausmaße eines Vorlagenbauwerks präzise zu kopieren suchen, begegnen auch in der Neuzeit äußerst selten. Häufiger sind Anspielungen durch einzelne, oft ornamentale Elemente (pars pro /oio-Anspielungen, Beispiele aus der Renaissance in diesem Band S. 362f.). Diese funktionieren zwar anders als die auf symbolische Ordnungen zielenden Allusionen bei den Nachbildungen der Grabeskirche: Sie beruhen auf visuell erfassbaren Referenzen, die bei den Grabeskirchen-Nachbildungen funktionslos gewesen wären, weil nur wenige Menschen das Jersualemer Original tatsächlich gesehen 23
Eine besondere Fallgruppe bilden Gebäude, die ein zerstörtes Vorgängerbauwerk exakt imitieren sollen (z. B. .wiederaufgebaute' Bauwerke nach Zerstörungen durch B o m b e n a n g r i f f e ) ; beachtenswert sind auch exakte M o d e l l e v o n Gebäuden im Miniaturformat, die b e i s p i e l s w e i s e als S p i e l z e u g oder Souvenirs angeboten werden.
Übertragungen
XIX
hatten und solche Elemente hätten wiedererkennen können. Aber wirklich ,ähnlicher' sind auch moderne ,Architekturkopien' ihren Vorbildern meist nicht. Das von KRAUTHEIMER eingeführte Beispiel der monumentalen Haupthalle der Pennsylvania Station in N e w York City 24 beutet durchaus auch die sakrale Bedeutung der zitierten Architekturelemente aus und nutzt sie zur Steigerung der Dignität des profanen Raumes. Insofern sollte KRAUTHEIMERS These, dass die „moderne Architekturkopie [...] mit all ihrer Präzision und ihrer Tendenz zu absolut getreuer Wiedergabe genau das Element [vernachlässigt], das im Mittelalter Relevanz besaß", nämlich die „inhaltliche Aussage und Bedeutung eines Bauwerks", 25 vor allem als interessante Anregung für weitere Differenzierungen verstanden werden.
Historiker und Philologen gehen von ihrem eigenen professionellen Wirklichkeitsbereich aus, in dem präzise Reproduktionsmethoden besonders verbreitet sind und im Verlauf der beruflichen Qualifikation eingeübt werden (z. B. genaues Zitieren u. ä.), und blicken von diesem eingeschränkten Standpunkt aus auf überlieferte Zeugnisse aus den verschiedensten mittelalterlichen Realitätssegmenten. Angemessen und methodisch plausibler wäre es dagegen, auch auf der Seite der Moderne unterschiedlichste Reproduktionsformen in den Vergleich mit einzubeziehen. Die quantitative Dominanz von mechanisch reproduzierten Objekten und ihre verfahrensbedingte Invarianz täuschen nämlich häufig darüber hinweg, dass auch in der Moderne allenthalben unpräzise, mit erheblichen Lizenzen und ohne große Rücksicht auf Äquivalenz reproduziert wird. Im Spielfilm werden literarische Vorlagen ebenso frei adaptiert wie beim mittelalterlichen' Wiederzählen, fur die Auffuhrung auf der Bühne schreibt man Theaterstücke um - und zwar selbst dann, wenn sie als Klassiker eigentlich einen unantastbaren' Status haben. Nicht nur für Jugendliche und fremdsprachige Leser werden literarische Texte in vereinfachten oder verkürzten Fassungen angeboten. Noch gar nicht berührt ist damit der weite Bereich der verfremdenden Reproduktion in der modernen Kunst (z. B. in der Pop-Art). Auch banale Alltagsreproduktionen (Exzerpte, Skizzen, Pausen u. ä.) stellen prinzipiell variierende Übertragungen dar. Mittelalterforscher nehmen diese .modernen' (und postmodernen) Formen von Varianz vor allem aus zwei Gründen kaum wahr: (1) Zum einen werden solche Arten von Reproduktion nicht zur Überlieferung eines Objekts gerechnet; Überlieferungsstatus besitzen heute im Allgemeinen nur Originale, Autographen und autorisierte technische Reproduktionen, gelegentlich und allenfalls ersatzweise (etwa bei Verlust des Originals) auch möglichst autornahe manuelle Reproduktionen. Dagegen verstehen wir letztlich alles, was uns aus dem Mittelalter erhalten ist, als .Überlieferung' - jede Abschrift eines Textes ,überliefert' diesen, ganz gleich, ob dies ursprünglich die Intention des Reproduzenten war oder nicht. So können ein mittelalterliches Exzerpt oder sogar eine Federprobe von einem Editor als Überlieferungszeugnisse für einen Text benutzt werden. 24 25
KRAUTHEIMER (ANM. 11), S. 165. Ebd.
XX
ALBRECHT HAUSMANN
Dass damit der Anteil variierender Reproduktionen im Gesichtsfeld des Wissenschaftlers erheblich zunimmt, versteht sich. (2) Zum anderen nehmen Mittelalterforscher die modernen Formen von Varianz so selten wahr, weil sie in Wirklichkeitssegmenten auftreten, die für sie außerhalb ihres zentralen professionellen Wahrnehmungsbereichs liegen; diese Segmente werden von ihnen nicht zuletzt deshalb marginalisiert, weil in ihnen andere (nämlich: unpräzise) Reproduktionsregeln gelten als in der ,Welt' der Wissenschaft. Der unbewusst selektive Vergleich zwischen mittelalterlichen und modernen Übertragungsformen und -konzepten ist methodologisch prekär, weil er sein Ergebnis zumindest teilweise selbst produziert. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Esoterik der mediävistischen Disziplinen und ihre auf Exaktheit und Präzision zielenden Reproduktionsmethoden wesentlich zum Befund mittelalterlicher Alterität in diesem Bereich beitragen. Ganz pointiert gesagt: Möglicherweise ist hier nicht das Mittelalter anders als die Gegenwart, sondern die Mediävisten und Frühneuzeitforscher sind anders als alle anderen. Mit der Verabsolutierung der eigenen Reproduktionskonzepte verbindet sich freilich ein gesellschaftlicher Anspruch: Die exakte Kopie, die präzise Abbildung, die historisch-kritische Edition sollen als die eigentlichen' Reproduktionsformen und -konzepte der Gegenwart gelten. Behauptet wird damit die Deutungshoheit des eigenen Faches darüber, was - in Bezug auf Reproduktionskonzepte - gesellschaftlich relevant und ,gültig' ist. In einer Zeit, in der im gesellschaftlichen Mainstream jedoch ganz andere Reproduktionsformen zumindest quantitativ überwiegen - nämlich jene, die Philologen und Historiker als unpräzise und damit randständig qualifizieren kann ein solcher Anspruch nur scheitern: Was im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert als Teil der Etablierung und Selbstbehauptung der historischen Geisteswissenschaften noch funktionierte, führt heute umgekehrt zur deren gesellschaftlicher Marginalisierung.
V Historische Differenzierung und der ideologiekritische Blick auf die selektiven Wahrnehmungsmuster im jeweils eigenen Fach sind nicht die einzigen erkenntnisfordernden und methodologisch produktiven Aspekte einer möglichen .Kulturgeschichte des Reproduzierens'. Ein weiterer kann hier nur angedeutet werden, denn er steht nicht im Fokus des vorliegenden Bandes: Letztlich müsste ein solches Unternehmen auch eine ,Geschichte des Verstehens' sein. Eine ihrer wesentlichen Fragestellungen bestünde darin, ob und wie sich im historischen Prozess auch Praxis und theoretische Konzepte des Verstehens verändert haben und wie sich das auf Reproduktionsvorgänge ausgewirkt hat. Auch für die Diskussion dieser Frage bieten die Beiträge dieses Bandes vielfache Anregungen, ohne sie jedoch selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Entscheidend ist aber auch hier: Nur im interdisziplinären Gespräch wird man sich einer solchen Problematik annähern können. Zu diesem Gespräch soll dieser Band beitragen.
I. Äquivalenz
2
BRITTA BUSSMANN
Unter Äquivalenz versteht man gemeinhin die Gleichwertigkeit zweier aufeinander bezogener Objekte, im Fall der hier betrachteten literarischen und medialen Übertragungs- und Vervielfältigungsvorgänge also die Gleichwertigkeit von Ausgangsobjekt bzw. Original, wie es vom Sender eines kommunikativen Aktes verantwortet wird, und Reprodukt, das der Rezipient vor Augen hat. Obwohl das Reprodukt somit als Ersatz für das Original eintritt, meint Gleichwertigkeit' dabei nicht zwangsläufig vollständige Gleichheit. Vielmehr ist der jeweilige Grad der Entsprechung abhängig von historisch und medial zu differenzierenden Erwartungshaltungen. 1 Partielle Varianz des Reprodukts gegenüber der Vorlage schließt daher nicht von vornherein die Wahrnehmung als gelungene Wiedergabe des Originals aus, im Einzelfall genügt die singulare mimetische Übertragung von Details, um das Original in ausreichender Weise als Vorlage kenntlich zu machen. Dass Äquivalenz auch innerhalb einer Epoche eine relative Größe ist, sei anhand der mittelalterlichen Textreproduktion in Handschriften exemplarisch aufgezeigt, denn hier bietet sich ein in seiner Disparatheit bezeichnendes Bild der zeitgenössischen Äquivalenzerwartungen. So deuten einige überlieferte Bemerkungen wie etwa die bekannte Klage von Jakob Püterich von Reichertshausen: woll dreiszig Titurelen / hab ich gesehn, der kheiner nit was rechte durchaus auf eine wortgetreue Übertragung der Vorlage als angestrebtes Ideal und damit auf eine Entsprechung zu modernen Äquivalenzmaßstäben hin.2 Die variantenreiche Überlieferungslage der meisten Texte und die Offenheit mancher Autoren für die nachträgliche Verbesserung des Geschrieben durch die Rezipienten widersprechen diesem Eindruck allerdings. 3 Offenbar hat man von gattungsspezifisch differierenden, zumindest partiell freieren Äquivalenz- und Authentizitäts-
1
2
3
Für die Textreproduktion in Handschriften schlägt JÜRGEN WOLF: Das .fürsorgliche' Skriptorium. Überlegungen zur literarhistorischen Relevanz von Produktionsbedingungen. In: Das Mittelalter 7/2 (2002): Der Schreiber im Mittelalter. Hrsg. von MARTIN J. SCHUBERT, S. 9 2 109, die Kategorie „Ähnlichkeit" vor (S. 92). Der Ehrenbrief des Püterich von Reichertshausen. Hrsg. von FRITZ BEHREND/RUDOLF WOLKAN, Weimar 1920, S. 17-31, 142,6f. Strategien wie Akrosticha und mahnende Paratexte lassen ebenfalls den Willen der Autoren erkennen, ihre Texte bis hinein in den exakten Wortlaut zu festigen und Äquivalenz zu gewährleisten. Der Autor als Instanz wird sichtbar. Siehe hierzu RÜDIGER SCHNELL: ,Autor' und .Werk' im deutschen Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven. In: Wolfram-Studien 15 (1998), S. 12-73, insbes. S. 5 8 - 6 2 . Vgl. auch WOLF (Anm. 1), der Beispiele für sehr sorgfältig redigierte Textfassungen gibt. Beispiele bei WOLF (Anm. 1), S. 103f. Möglicherweise müsste man in der Forschung bei der Bewertung der Äußerungen die Gattungsfrage stärker berücksichtigen. Insbesondere Chroniken und andere historische Überlieferungen sind darauf angelegt, dass der Urtext in der Überlieferung immer weiter geführt und dadurch aktualisiert wird, demgegenüber könnten die Autoren von höfischen Romanen - die ihre Texte eventuell stärker als ihr geistiges Eigentum betrachten - weit größeren Wert auf eine .unverfälschte' Tradierung legen.
Äquivalenz
3
maßstäben auszugehen, die die Einheit des Werkes insgesamt jedoch nicht in Frage stellen. Dabei ist der Paradigmenwechsel in der Reproduktionsweise von Varianz zu Äquivalenz, wie er für die Entwicklung vom Mittelalter zur Moderne behauptet wird, wohl eher als quantitative denn als qualitative Verschiebung zu werten. Auch die Moderne kennt Nacherzählungen, Kinderbuch Versionen und Filmfassungen als Reprodukt bekannter Klassiker, die - bedingt durch den Wechsel der Rezipientengruppe oder des Mediums - ebenso deutlich vom Original abweichen wie die Textfassung einer mittelalterlichen Handschrift. Vor allem durch die Methodendiskussion im Bereich der Editionsphilologie ist sich die Mediävistik der Bedeutung von Varianz als sinntragende und sinnstiftende Größe bewusst geworden. 4 Sah die Textkritik im Sinne KARL LACHMANNs in Abweichungen lediglich ein möglichst zu bereinigendes Übel, 5 stilisierte die New Philology im Zuge der Zurückdrängung des Autorbegriffes die Varianz zum wesentlichen Merkmal des mittelalterlichen Textes und betonte den Erkenntniswert des einzelnen Rezeptionszeugnisses. Als positiver Effekt dieser Debatte bleibt zu vermerken, dass erst in ihrer Folge die spezifische mediale Verfasstheit, die mit der Übertragung verbundene Intention und der Übertragungsprozess zwischen Autor und Rezipient als potenzielle Ursachen für Abweichungen nachdrücklich sichtbar wurden. 6 Gerade dass diese Debatte die Übermittlung und Reproduktion eines Originals in ihrem prozessualen Charakter ernst nimmt, macht ihre Ergebnisse für andere Disziplinen interessant. Stärker als durch ihre in der Forschungsdiskussion oftmals pauschalierte Varianz unterscheidet sich mittelalterliche Übertragung in allen Gattungen und Medien von moderner nämlich durch eine gesteigerte Komplexität, eine - metaphorisch und real zu verstehende - größere Länge des im kommunikativen Akt zu überbrückenden Wegs zwischen Sender und Empfänger, die sich schon allein aus der differierenden Lese- und Schreibfahigkeit der Rezipienten ergibt: So muss ein höfischer Roman mühsam abgeschrieben, dabei eventuell in eine andere Schreibsprache übersetzt und am Ende mündlich im performativen Akt erfahrbar gemacht, ein Brief diktiert, mit einem Boten verschickt, am Zielort vorgelesen und womöglich durch einen Botenbericht ergänzt werden. Die Vermittlung zwischen Sender und Empfanger löst sich damit bei genauerer Betrachtung in eine Vielzahl unterschiedlichster Über-
4
Vgl. etwa JOACHIM BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin, New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8/242). Siehe auch MARTIN J. SCHUBERT: Versuch einer Typologie von Schreibereingriffen. In: Ders. (Anm. 1), S. 125-144.
5
Zu
6
Florenz 1963 (dt.: Die Entstehung der Lachmannschen Methode, 2. Aufl. Hamburg 1971). Zu dieser Einschätzung vgl. MARTIN J. SCHUBERT: Der Schreiber im Mittelalter. Einleitung. In: SCHUBERT (Anm. 1), S. 3 - 8 , insbes. S. 4f. Zur Entwicklung und Kritik der Forschungs-
K A R L LACHMANN v g l . SEBASTIANO TIMPANARO: L a g e n e s i d e l m e t o d o d e l
d i s k u s s i o n v g l . SCHNELL ( A n m . 2 ) .
Lachmann,
4
BRITTA BUSSMANN
tragungsvorgänge auf, die dem Ausgangsprodukt jeweils eine eigene Lesart beifügen können. Die Potenzierung der Vermittlungshandlungen im Rahmen der Reproduktion und Vervielfältigung eines Originals bedeutet zugleich eine Potenzierung der Übermittlungsinstanzen, deren Stimme das den Rezipienten zugängliche Endprodukt nicht selten entscheidend prägt. 7 Nicht nur der Autor, auch Schreiber, Erzähler, aufführende Musikanten, Stecher und Boten beeinflussen und verantworten aufgrund ihrer Teilhabe an einer .produktiven' Überlieferung 8 und ihrer Interpretation die aktuell erfahrbare Gestalt eines Romans, einer Urkunde, einer Nachricht, eines Musikstücks oder eines Bildes. 9 Der Pluralisierung der Autorinstanzen, deren Auswirkungen auf das Original und den mit ihrer Tätigkeit verbundenen Äquivalenzerwartungen spüren die Beiträge dieser Sektion in ganz unterschiedlichen medialen Bereichen nach: in der humanistischen Editionspraxis, in mittelalterlicher Handschriftenproduktion, in musikalischer Notationstechnik und in Notationstraktaten, in Briefen, bei Urkundenübertragungen und in der Druckgraphik. Die Sektion eröffnet K L A R A V A N E K mit einem Beitrag zu Konrad Rittershausens Monitio de varietate lectionum (1597), einem Traktat über die Ursachen von Textkorruption (.Überlieferung und Textverderbnis', S. 9-27). Entstanden ist diese Schrift in unmittelbarer Verbindung zu Rittershausens praktischer editorischer Tätigkeit, der Arbeit an seiner Oppian-Ausgabe. Sie reflektiert und referiert damit ein durch den Humanismus geprägtes Verständnis von Überlieferung und philologischer Arbeit. Auffällig ist die personale Sichtweise des Altdorfer Juristen. Textveränderungen gehen für ihn ausschließlich auf die an der Texttradierung beteiligten Akteure zurück, namentlich auf Autoren, Schreiber, Philologen und Kommentatoren, wobei die Kritik an Letzteren deutlich der humanistischen Ablehnung des mittelalterlichen Glossen- und Scholiensystems geschuldet ist. Obwohl Rittershausen sich der Existenz von Autorfassungen bewusst ist, wertet er Abweichungen generell als Korruption und Zeichen von Unfähigkeit seitens der Vermittlungsinstanzen und tritt ihnen mit Kompetenzforderungen entgegen. Äquivalenz bedeutet für ihn nicht einfach sinngemäße, sondern wortgetreue Reproduktion der Vorlage.
7
8
9
Das genannte Heft der Zeitschrift Das Mittelalter (SCHUBERT [Anm. 1]) beschäftigt sich explizit mit der Person des Schreibers, wobei SCHUBERT in seiner Einleitung (Anm. 5 ), S. 5, die Untersuchung des Anteils von Sammlern, Bearbeiter und Schreibern an der Textvermittlung und Textgestalt noch als Desiderat darstellen kann. JOACHIM HEINZLE Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung, Zürich, München 1978 (MTU 62), S. 96. Wobei sich der Reproduktionsvorgang im Einzelfall - etwa bei Musik oder Malerei - zur Neuzeit hin kaum verändert. Allerdings kennt die Moderne dann oftmals einen Ersatz - Fotografie, Tonbandaufnahmen - die eben doch eine (fast) identische Reproduktion mit weniger Vermittlungsinstanzen ermöglicht.
Äquivalenz
5
Weil Varianz lediglich als Fehler denkbar ist, stellt sich weder für den humanistischen noch für die heutigen Vertreter der Textkritik die Frage nach einer Absicht und Wertdifferenzierung der konstatierten Abweichungen. Daraus resultiert allerdings eine partielle Blindheit gegenüber der historischen Verortung der Überlieferung und ihren spezifischen medialen Gegebenheiten. Wie man diese Erkenntnisse für die Diskussion von Varianz fruchtbar machen kann, demonstriert der Aufsatz von JÜRGEN WOLF (,Der Text in den Fängen der Schreiber', S. 2 9 ^ 2 ) . Anhand mehrerer Handschriftenbeispiele gelingt es ihm wahrscheinlich zu machen, dass gestörte Textüberlieferung im Extremfall der Dominanz von Layout-Anforderungen in der Reproduktionsphase geschuldet sein kann. Dies bedingt zum Teil eine so erhebliche Umstellung der Texte, dass sie zumindest nicht mehr als sinnvermittelnde Wortfolge rezipierbar sind. Auch in dieser Negation jeglicher textueller Äquivalenzerwartung sind die betroffenen Codices jedoch bedeutungstragend: Offensichtlich liegt hier ein medialer Wandel vom Lesetext zum Schaubuch vor, das bereits über sein ästhetisches Äußeres allein Wirkung entfaltet. Mit der Rolle von Varianz und Äquivalenz in musikalischer Notation und Musiktraktaten zur Notationskunde beschäftigt sich CHRISTIAN THOMAS LEITMEIR in seinem zweigeteilten Beitrag (,Klang, Zeichen, Schrift', S. 43-76). Als typische Aufführungskunst existiert Musik allein im Klang vollständig. Der Prozess ihrer schriftlichen Erfassung beruht auf der Selektion repräsentativer Parameter, bleibt also generell offener für Varianz als etwa Buchstabenschrift. Anders als bei der Textüberlieferung ist zudem nicht diese in Schriftzeichen umgesetzte Fassung Maßstab für Äquivalenz. Während die Notationsweise eines Stücks - LEITMEIR demonstriert dies am Beispiel der Chanson Susanne un jour - an die intendierte Aufführungsweise, den Aufführungsort oder die verwendeten Instrumente angepasst wird, lässt sich die Originaltreue vornehmlich aus der .richtigen' Rückübersetzung in Klang erschließen. Für ein Äquivalenzpostulat ist dann vor allem die Reproduktion der Kerngestalt der im Original vorgegebenen Melodiefolge entscheidend, d. h. die Bewahrung der relativen Tonschritte und der Tondauer. Im zweiten Teil des Aufsatzes behandelt LEITMEIR die Überlieferung des Franco von Köln zugeschriebenen Traktats Ars cantus mensurabilis musicce (Ende 13. Jh.) als Beispiel für die Interaktion von Theorie und Praxis musikalischer Notation sowie die Übertragungsweise medienübergreifender Handschriften. Dabei steht der treuen Kopie des Lehrtextes eine erstaunliche Varianz in der Tradierung der Musikbeispiele gegenüber, mit deren Hilfe LEITMEIR Aussagen über den musikwissenschaftlichen Kenntnisstand und die Übertragungsinteressen der Rezipienten und Kopisten treffen kann. Indem er differenziert den Übermittlungsvorgang eines Mahnbriefs von Bonifatius an König /Etehlbald von Mercien nachzeichnet, stellt VOLKER SCIOR die Frage nach Original und (Re)-Produktion von Botschaften im Frühmittelalter (,Stimme, Schrift und Performanz', S. 77-99). Die in Briefsammlungen
6
BRITTA BUSSMANN
überlieferten Dokumente suggerieren dabei generell eine textuelle Festigkeit, die in dieser Art in der Realität nicht gegeben ist. Wie es SCIOR anhand des BonifatiusBriefs exemplifiziert, setzt die erfolgreiche Übermittlung einer Botschaft vielmehr oftmals einen doppelten medialen Wechsel - vom mündlichen Diktat über die schriftliche Fassung zur wiederum mündlichen Wiedergabe - und eine mit diesem letzten Schritt zeitgleich vollzogene Übersetzung vom Lateinischen in die Volkssprache voraus. Äquivalenzforderungen können sich also auch bei Briefen nicht an den Wortlaut richten, da dieser erst von dem Boten in einem audiovisuellen, performativen Akt vor dem Empfänger geschaffen wird, sondern lediglich an die korrekte Übermittlung der Intention. Den hier behandelten Brief ergänzt dabei ein Begleitschreiben mit - für diese Zeit recht selten überlieferten - Anweisungen des Senders an den Boten, die mögliche Strategien zur Sicherung des Inhalts zu erkennen geben: Diese laufen vor allem auf die Wahl eines vertrauenswürdigen, kompetenten und aus einer ähnlichen Geisteshaltung heraus sprechenden Boten sowie auf dessen genaue Anleitung heraus. Während der Grad von Äquivalenz zwischen Vorlage und Reprodukt bei den bisher vorgestellten Beispielen vor allem von der Art des Mediums abhängt, beweist der Beitrag von MARKUS SPÄTH zur Übertragung von Urkunden in klösterliche Kopialbücher, dass partielle Äquivalenz bewusst strategisch eingesetzt werden kann (.Kopieren und Erinnern', S. 101-128). Ähnlich wie bei der Tradierung des musikwissenschaftlichen Traktats Francos von Köln ist bei der Abschrift von Urkunden ein doppelter Übertragungsprozess von Inhalt und (Schrift-)Bildlichkeit auszumachen, bei dem sich die Varianzanfalligkeit spezifisch auf die beteiligten Medien Bild und Text verteilt. So wird die Schriftbildlichkeit der Originalurkunde zumeist vollständig oder durch dezidiert ausgewählte Einzelelemente, etwa die subscriptio, in einer Weise übertragen, dass der Eintrag im Kopialbuch durchaus als visuelles Äquivalent zur Urkunde erfahrbar ist. Die Kopie partizipiert durch diese Visualisierungsstrategien an der Beweiskraft des Originals, sie behauptet Echtheit und Alter und überträgt diese Behauptung - hierin ist wohl eine der Ursachen für die Äquivalenz zu suchen - auf den vermittelten Urkundeninhalt. Dieser allerdings wird nicht mit derselben Exaktheit wiedergegeben: Hier sind vielmehr mit der Interpolation jüngerer Rechte Eingriffe zu beobachten, die die historische Entwicklung der über einen längeren Zeitraum aufgebauten Machtposition des jeweiligen Klosters negieren und sie als geschlossenes Ganzes in die Vergangenheit zurückprojizieren, um das Kloster im Machtkampf mit den im 11./12. Jahrhundert neu entstehenden Ordensgemeinschaften günstig zu positionieren. PETER SCHMIDT beschäftigt sich im abschließenden Aufsatz dieser Sektion mit früher Druckgraphik (,Die Anfänge des vervielfältigten Bildes im 15. Jahrhundert', S. 129-156). Druckgraphik erzeugt als eines der ersten bildkünstlerischen Medien dadurch Äquivalenz, dass sie die Verbreitung gleichartiger Bilder in hoher Auflage gestattet. Äquivalenz zwischen Original und Reprodukt ist
Äquivalenz
7
andererseits das entscheidende Kriterium fiir die Identifizierung der Vorlage, deren Kenntnis eine genaue Einschätzung des Abhängigkeitsgrades sowie der - gegebenenfalls erweiterten oder neuen - Funktion des Reprodukts ermöglicht. Indem er differenziert die jeweiligen Beziehungen zwischen Vorlage und Reprodukt darstellt, hinterfragt SCHMIDT die in der Forschung übliche Annahme von der Entstehung der Druckgraphik in Zusammenhang mit der Gnadenbildreproduktion und dem Wallfahrtswesen. Typisch fur die frühe Druckgraphik ist demnach gerade nicht die produktive' Übertragung eines bekannten Andachtsbildes in die neue Kunstform, sondern das Fehlen eines Originals außerhalb des Vervielfältigungsmediums Druckgraphik. Wie SCHMIDT anhand der Holzschnitte der Ährenkleidmaria aufzeigt, wird die Existenz des ,originalen' Kultbildes durch die Bildunterschriften womöglich lediglich fingiert, das Gnadenbild existiert wahrscheinlich nur in seinen vorgeblichen Reproduktionen, die sich selbst reproduzieren. Der Passionszyklus der so genannten Gulden puchlein-Gruppe bestätigt diese Einschätzung, denn auch hier scheinen sich die 14 bekannten Folgen selbst kopiert zu haben. Sogar großformatige und elaborierte Werke dieser Zeit erweisen sich so als Teil intramedialer Kopienketten, deren Übertragungsform sich durch größtmögliche, nämlich durch Abpausen erreichte, formale Äquivalenz auszeichnet. BRITTA B U S S M A N N
KLARA VANEK
Überlieferung und Textverderbnis Konrad Rittershausens Monitio de varietate lectionum von 1597* SimiliterPaullus MerulaIurisc. & Historicus doctissimus [,.]EnniiAnnalium membra a Grammaticis velut Penthei olim a Bacchis divolsa & foedissime admutilata rursum componere & Ennium quodammodo mortis postliminio animare ausus est.1 Paullus Merula, der hoch gelehrte Jurist und Historiker, setzte auf die gleiche Weise die Glieder der Annalen des Ennius wieder zusammen, die von den Grammatikern - wie einst Pentheius durch die Bacchantinnen - auseinander gerissen und aufs Scheußlichste zurechtgestutzt worden waren. Damit wagte er es, den Ennius so lange Zeit nach seinem Tod wieder zum Leben zu erwecken. D i e s e drastische S c h i l d e r u n g findet s i c h inmitten einer a n s o n s t e n eher nüchtern g e h a l t e n e n A u f z ä h l u n g v o n critici
recentiores,
in der textkritischen M e t h o d e n l e h r e Ars critica
von zeitgenössischen Philologen, aus d e m Jahre 1 5 9 7 . M i t ihr ver-
sucht der V e r f a s s e r dieser Z e i l e n , Kaspar S c h o p p e ( 1 5 7 6 - 1 6 4 9 ) , a u f d i e Edition e i n e s antiken T e x t e s und auf ihren H e r a u s g e b e r a u f m e r k s a m zu m a c h e n . 2 D a b e i handelt e s sich u m d e n T e x t d e s Ennius, d e n Paullus M e r u l a ( 1 5 5 8 - 1 6 0 7 ) im Jahre 1 5 9 5 h e r a u s g e g e b e n und mit einer B i o g r a p h i e , e i n e m a u s f u h r l i c h e n K o m mentar und e i n e m Index ausgestattet hatte. 3 S c h o p p e hebt d i e L e i s t u n g
* 1
2
des
Für Hilfe, kritische Lektüre und wertvolle Anregungen möchte ich Ulrich Charpa, lnken Kiupel und Klaus Maresch herzlich danken. Gasparis Scioppii Franci de arte critica, et praecipue, de altera eius parte emendatrice, quae ratio in Latinis scriptoribus ex ingenio emendandis observari debeat, commentariolus. In quo nonnulla nove emendantur, alia prius emendata conßrmantur, Nürnberg: Valentin Fuhrmann 1597 (Exemplar Herzog-August-Bibliothek: Η: Ρ 1043.8° Heimst. (1)), fol. C7v. Zu Schoppe vgl. vor allem MARIO D'ADDIO: II pensiero politico di Gaspare Scioppio e il machiavellismo del seicento, Mailand 1962; FRANK-RUTGER HAUSMANN: Zwischen Autobiographie und Biographie. Jugend und Ausbildung des Fränkisch-Oberpfälzer Philologen und Kontroverstheologen Kaspar Schoppe (1576-1649), Würzburg 1995; Ders.: Werk und Leben des Oberpfälzer Philologen Kaspar Schoppe als Forschungsaufgabe. In: Kaspar Schoppe (1576— 1649), Philologe im Dienste der Gegenreformation. Beiträge zur Gelehrtenkultur des europäischen Späthumanismus. Hrsg. von HERBERT JAUMANN, Frankfurt a. M. 1998 (Zeitsprünge 2 / 3 . 4 ) , S. 4 3 5 - 4 5 6 ; ANTHONY GRAFTON: K a s p a r S c h o p p e a n d t h e A r t o f T e x t u a l C r i t i c i s m . In: E b d . , S. 2 3 1 - 2 4 3 ; HUGO ALTMANN: A r t . , S c h o p p e ' . In: B B K 18 ( 2 0 0 1 ) , S p . 1 2 6 1 - 1 2 9 7 .
3
Q. Ennii, poetae cum primis censendi, annalium libb. XIIX Quae apud varios Auetores superant, fragmenta: conlecia, composita, inlustrata ab Paullo G. F. P. N. Merula, qui eadem fixit, dieavit, sacravit S. P. Q. Dordraceno, Leiden: Johannes Paetsius & Ludovicus Elzevir 1595 (Exemplar Herzog-August-Bibliothek: A: 65.14 Poet.).
10
KLARA VANEK
Merula hervor, indem er sie mit dem schlechten Textzustand kontrastiert. Dass der frührömische Dramatiker nur in Fragmenten überliefert wurde, stellt er als grausamen Akt der Textzerstörung dar und greift dafür den antikisierenden Stilvorlieben der Zeit gemäß auf eine Episode aus dem griechischen Mythos zurück, in dem der Körper des Thebenkönigs Pentheus von den dionysischen rasenden Bacchantinnen zerfetzt wird. Schoppe wollte damit Gelehrten wie Merula imponieren, der dem philologisch hervorragend gebildeten Juristenstand angehörte und als professor historiarum an renommierten Universitäten wie Leiden lehrte.4 Er schmeichelte Merula mit der Bewunderung seiner EnniusAusgabe und zeigte ihm mit dieser Schilderung auf, dass er seine Ansichten über Texte teilte und ähnliche methodische Zugänge bei der philologischen Arbeit wählte wie die gelehrte Elite der Zeit. Als physische Verletzung des Autors wird ein abträglicher Umgang mit Texten schon in der Satyra Menippaea von 1581 beschrieben, die auf Merulas Vorgänger auf dem Leidener Lehrstuhl, Justus Lipsius (1547-1606), zurückgeht. 5 Auch Lipsius war als Philologe tätig gewesen, hatte er doch selbst mit den Ausgaben von Tacitus (Antwerpen: Plantin 1574) und Seneca (Antwerpen: Moretus 1605) die textuellen Grundlagen für seine neostoizistische Philosophie gelegt. In seiner Satire auf die zeitgenössische Philologie ließ er antike Schriftsteller wie Cicero, Varro, Sallust oder Ovid sich vehement über den misslichen Umstand beschweren, dass sie von den Philologen im 16. Jahrhundert schlecht behandelt und verletzt würden. Textkorruption wurde mittels sprachlicher Bilder dargestellt, die auf die Renaissance-Metapher verweisen: 6 Es geht um die Wiedergeburt der Antike bzw. der antiken Autoren, die jedoch verletzt in die Welt der Frühen Neuzeit kommen - ihre Körper (die Texte) sind entstellt. Ein verdorbener Text wird in dieser Metaphorik auch als Schriftsteller beschrieben, der an einem morbus („einer Krankheit") leidet, er aegrotat („ist krank"), man vergleicht die in den Text 4
Zu Paullus Merula vgl. EYSSENHARDT: Art. ,Merula, Paul'. In: A D B 21 (1885), S. 476; JOHN EDWIN SANDYS: A History of Classical Scholarship. Bd. 11: From the Revival of Learning to the End of the Eighteenth Century (in Italy, France, England, and the Netherlands), Cambridge 1908, S. 306; HAAK: Art. ,Merula (Paullus)'. In: N N B W 2 (1912), Sp. 9 0 2 - 9 0 4 ; ELFRIEDE HULSHOFF POL: The Library. In: Leiden University in the Seventeenth Century. An Exchange of
Learning.
Hrsg.
von
THEODOOR HERMAN LUNSINGH SCHEURLEER/GUILLAUME
HENRI
MARIE POSTHUMUS MEYIES, Leiden 1975, S. 3 9 4 - 4 5 9 , hier S. 4 1 0 - 4 2 3 ; MARGREET J. A. M. AHSMANN: Collegium und Kolleg. Der juristische Unterricht an der Universität Leiden 1575— 1630 unter besonderer Berücksichtigung der Disputationen, Frankfurt a. M. 2000, S. 2 9 - 3 1 . 5
I. Lipsi Satyra Menippaea. Somnium. Lusus in nostri aevi Cri/icos, Antwerpen: Plantin 1581. Diese Schrift liegt in einer modernen Edition vor, die von CONSTANTINUS MATHEEUSSEN und CHRISTIAAN LAMBERT HEESAKKERS zusammen mit einer Einleitung herausgegeben wurde (Two Neo-Latin Menippian Satires. Justus Lipsius: Somnium - Petrus Cunaeus: Sardi venales, Leiden 1980).
6
Vgl. dazu BERTHOLD L o u i s ULLMAN: Renaissance - Das Wort und der ihm zugrundeliegende Begriff. In: Zu Begriff und Problem der Renaissance. Hrsg. von AUGUST BUCK, Darmstadt 1969, S. 2 6 3 - 2 7 9 .
Ü b e r l i e f e r u n g und Textverderbnis
11
eindringenden Fehler mit pestes („Peststoffen") oder mit hulcera („Geschwüren"), die die Körper befallen. Die Schriften sind aegra („krank"), und man differenziert locum sanum sive insanum („die gesunde und die kranke Stelle"). 7 Im Zusammenhang mit diesen beredten Beschreibungen des Unwesens der Textkorruption stehen auch die Äußerungen des Altdorfer Juristen und Philologen Konrad Rittershausen (1560-1613). Er handelte die Gründe fur Textverderbnis in einer kurzen zweiseitigen Schrift ab, in der 1597 veröffentlichten Monitio de varietate lectionum („Warnung vor der Abweichung von Lesarten"). Anhand dieses Traktats lassen sich exemplarisch einige Aspekte der Problematik von Textkorruption aufweisen, die in dieser Zeit diskutiert wurden. Rittershausen fuhrt Textkorruption ursächlich auf einzelne Handlungen der Texttradierung zurück und entwirft in seiner Monitio ein originelles Konzept von Textüberlieferung. Der vorliegende Beitrag untersucht die Monitio des Konrad Rittershausen hinsichtlich dreier Aspekte: Einleitend (I.) wird der methoden- und disziplinhistorische Rahmen der Monitio aufgewiesen, weil im 16. Jahrhundert unter den Philologen eine lebhafte Diskussion über textkritische Probleme und Methoden geführt wurde. Den Anlass dafür, dass Rittershausen seine Gedanken zur Textkritik niederschrieb, bildete sein allgemeines Interesse an der Philologie, das das Leben des Juristen durchzog, in konkreter Form seine eigene philologische Arbeit. Dementsprechend wurde die Monitio im Anhang seiner Oppian-Ausgabe veröffentlicht. Im Mittelpunkt der folgenden Ausfuhrungen (II.) steht die Darstellung von Rittershausens Monitio und des darin niedergelegten Versuchs, Textkorruption auf vier Hauptgründe zu beziehen, die jeweils unterschiedliche Aspekte von Textüberlieferung betreffen. Im anschließenden Abschnitt (III.) werden Rittershausens konzeptuelle und methodologische Vorstellungen herausgearbeitet. Rittershausen vertritt ein Verständnis von Textüberlieferung, das auf Handlungen und Kompetenzen der an der Textüberlieferung beteiligten Akteure aufbaut und aufschlussreiche Implikationen für die Methode der Textverbesserung mit sich bringt.
7
Diese Beispiele stammen aus einer Stellensammlung, die Schoppe aus Schriften von berühmten Philologen seiner Zeit in einem separaten Abschnitt der Ars critica zitiert (Anm. 1, fol. D 4 r E8r). D i e hier angeführten Ausdrücke stammen von Marc-Antoine Muret ( 1 5 2 6 - 1 5 8 5 ) , Justus Lipsius, Janus Gulielmus ( 1 5 5 5 - 1 5 8 4 ) und Bonaventura Vulcanius ( 1 5 3 8 - 1 6 1 4 ) (Muret zitiert in: Schoppe, Ars Critica (Anm. 1), fol. Er, Ev; Lipsius zit. ebd.: fol. E6v; Gulielmus zit. ebd.: fol. D6v; Vulcanius zit. ebd.: fol. E3v).
12
KLARA VANEK
I. Frühneuzeitliche Philologie, Rittershausen und die Monitio Textkritische Reflexion im 16. Jahrhundert Im historischen Kontext der Wissenschaftsgeschichte dieser Zeit ist das Ansehen der Restitution antiker Texte unumstritten. Jede Disziplin - etwa Medizin, Mathematik oder Astronomie - setzte sich mit den antiken Autoritäten intensiv auseinander. Als Grundlage für die Aneignung und Weiterverarbeitung des antiken Erbes wurden verlässliche und möglichst korrekte Textausgaben des hippokratischen Korpus, eines Euklid und Ptolemaios angesehen. Das Editionswesen war jenes Unternehmen, das sich um die Wiedergewinnung der Zeugnisse des antiken Erbes bemühte, und entsprechend bedienten sich die einzelnen Disziplinen seiner Methoden. Überlegungen über Formen der Überlieferung und Ziele der weiteren Tradierung von Texten wurden in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in einem Diskurs der Profanphilologie angestellt, also derjenigen Disziplin, die sich mit antiker Literatur und damit mit autoritativer Literatur beschäftigte. 8 Zu diesem Zeitpunkt konnte sie bereits auf eine gut eineinhalb Jahrhunderte lange Geschichte zurückblicken, in deren Verlauf sich methodologische Vorstellungen herausgebildet hatten. Philologen reflektierten ihre eigene gelehrte Praxis, an Editionen von antiken Texten zu arbeiten. Solche theoretischen Passagen finden sich in vielen philologischen Textgattungen, die sich zusammen mit den Klassikerausgaben einbürgerten, etwa in Einleitungen oder Widmungsbriefen, aber auch in der variae lectiones-Literatur. Dazu kommen eigene Abhandlungen, die speziell dem textkritischen Handwerk gewidmet sind. Solche eigenständigen Schriften sind beispielsweise die 1557 veröffentlichte Ars corrigendi des italienischen Gräzisten Francesco Robortello (1516-1567), das Syntagma de ratione emendandi (1566) des hauptsächlich in Löwen wirkenden Willem Canter (1542-1575) sowie die eingangs erwähnte Ars critica von Kaspar Schoppe. 9 In diesen Traktaten wird ausdrücklich das Ziel verfolgt, Verfahren vorzustellen, mit denen die antiken Autoren verbessert bzw. - und damit griff man wieder auf 8
9
D i e Sakralphilologie wird hier ausgeklammert, weil die Bibelkritik w e g e n e i n e s strengeren Text- und Autoritätsverständnisses s o w i e der stärkeren Politisierung in der Zeit der Glaubensspaltung mit anderen Problemen zu k ä m p f e n hatte und eine andere E n t w i c k l u n g erlebte. Zur protestantischen Bibelkritik in dieser Zeit vgl. etwa die entsprechenden Abschnitte in FRANCOIS LAPLANCHE: L'ecriture, le sacre et l'histoire. Erudits et politiques protestants devant la Bible en France au X V i r siecle, Amsterdam, Maarsen 1986. Eine systematische Darstellung der T h e m e n und M e t h o d e n der textkritischen Methodenlehren v o n Robortello, Canter und S c h o p p e bereitet die Verfasserin gerade in einer Dissertation vor. S i e h e ansonsten b e i s p i e l s w e i s e EDWARD JOHN KENNEY: The Classical Text. A s p e c t s o f Editing in the A g e o f the Printed B o o k , Berkeley u. a. 1974, S. 2 9 - 4 0 ; HERBERT JAUMANN: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik z w i s c h e n Quintilian und T h o m a s i u s , Leiden u. a. 1995, S. 1 6 0 - 1 6 4 ; GRAFTON ( A n m . 2), S. 2 3 1 - 2 4 3 .
Überlieferung und Textverderbnis
13
die Text-als-Körper-Metapher zurück - ,geheilt' werden können. Das Ziel lautet, integritatem restituere, die ursprüngliche Gesundheit und Unversehrtheit des Textes wiederherzustellen. 10 Solche rationes medendiu hießen ars oder ratio corrigendi und emendandi - „Kunstlehre des Verbesserns" oder „Unterweisung im Verbessern". Frühneuzeitliche Textkritik befand sich konzeptionell in einem Spannungsfeld: Auf der einen Seite war man der Überzeugung, dass die antiken Texte ursprünglich fehlerfrei und hinsichtlich Form, Inhalt und Stil vorbildhaft sind. Dagegen wurden die Texte aber in ihrer aktuellen Überlieferungsform hochgradig korrupt und fehlerhaft aufgefunden. Aus diesem Widerspruch leitet sich die Dringlichkeit der Textverbesserung ab. Doch neben einzelnen bildhaften Beschreibungen wie dem Eingangsszenario der zerfetzten Glieder eines antiken Dramatikers nehmen sich die konkreten methodischen Ausfuhrungen in den Abhandlungen vergleichsweise nüchtern aus. Im Allgemeinen geht man weniger von metaphorisch gefassten (Text-)Körpern als von einzelnen Fehlern aus. Neben solchen mendae, errores oder peccata spricht man auch von einzelnen Lesarten (lectiones, scripturae oder locä), die fehlerhaft sind. Auch Rittershausen warnt in de varietate lectionum in einem eher besonnenen Stil vor der Varianz von Lesarten. Der Titel seiner Abhandlung verrät ein Bemühen um Sachlichkeit, das wohl der Hochachtung geschuldet war, die der Jurist Rittershausen der Philologie entgegenbrachte. Außerdem weckt der Titel die Erwartung auf einen Beitrag zur Methodendiskussion, der auf Probleme der praktischen Arbeit ausgerichtet ist.
Konrad Rittershausen zwischen Jurisprudenz und Philologie Rittershausen bewegte sich zeit seines Lebens zwischen Rechtswissenschaft und Philologie. Die Zweigleisigkeit seines gelehrten Schaffens wird anschaulich in einer Gelehrtenvita von 1757 geschildert: er hat beyde Sprachen aus dem Grunde verstanden, und er war in den Schriffien der Alten überhaubt und der Griechen besonders ganz ungemein bewandert. Schon zu seiner Zeit hielte man ihn fur einen Haubtgelehrten, er wurde als ein Edelgestein und Schatz der Gelehrsamkeit erhoben und bewundert, und man nennte ihn den andern Scävola. Seine Arbeiten giengen nicht allein auf die Erweiterung der Rechtsgelehrsamkeit, sondern er bemühte sich auch gar glücklich, den alten griechischen und lateinischen Schrifftstellern ein Licht anzuzünden, dunkle Stelle zu erläutern, verderbte zu ergänzen, sie mit alten Handschrifften, deren er selbst verschiedene in seiner kost-
10 Vgl. SILVIA RIZZO: II lessico filologico degli umanisti, Rom 1973, S. 276-282. 11 Muret zitiert in: Schoppe, Ars critica (Anm. 1, siehe auch Anm. 7), fol. Ev.
14
KLARA VANEK
baren u n d netten B i b l i o t h e k besas, zu vergleichen, u n d sie d u r c h seine A u s l e g u n g e n z u m D i e n s t e der W i s s e n s c h a f f t e n n ü t z l i c h e r zu m a c h e n . 1 2
Doch wieso sah sich ein Jurist wie Rittershausen, der mit seinen Arbeiten zum Zwölftafelgesetz und den Institutiones lange Zeit die juristische Lehre maßgeblich beeinflusste, überhaupt dazu berufen, in der Methodendiskussion der Philologie mitzureden? Die Antwort ist in Rittershausens Biographie und in der Ausrichtung der damaligen Juristerei zu suchen. So studierte er ab 1580 in Helmstedt Latein, Griechisch und Hebräisch, bevor er auf die Rechtswissenschaften umsattelte. 13 1584 ging er an die Universität Altdorf und wurde dort Schüler des Juristen Hubertus Giphanius (1533-1604), der selbst in der Juristerei im Stile des mos gallicus ausgebildet war. In dieser vor allem in Frankreich verbreiteten rechtswissenschaftlichen Schule wurde gelehrt, den Text als historisches Zeugnis aufzufassen und bei seiner Erforschung textkritische Verfahren anzuwenden. 14 Als wichtig für diese Textarbeit galt die Erfassung anderer - auch profaner - Textkorpora, die lexikographische oder phraseologische Untersuchungen antiker juristischer Texte erst ermöglichten. More gallico war eine profunde philologische Ausbildung von Juristen unentbehrlich. Als Giphanius 1590 nach einem heftigen Gelehrtendisput einen Ruf nach Ingolstadt annahm, folgte ihm Rittershausen. In das Jahr 1591 fallen dann Rittershausens Studienabschluss bei Giphanius in Ingolstadt, eine Studienreise
12 GEORG ANDREAS WILL: Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon 3 (1757), zitiert nach: Deutsches Biographisches Archiv, Box I, Fiche-Nr. 1043, Feld 7 1 - 8 5 , hier 74f. 13 Angaben zu Person und Werk von Rittershausen finden sich unter anderem in: Schoppe, Ars critica (ANM. 1), fol. C7r; Art. .Rittershusius, C o n r a d ' . In: ZEDLER 31 (1742), Sp. 1 8 2 3 - 1 8 2 5 ; RODERICH VON STINTZING: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Bd. 1, M ü n c h e n , Leipzig 1880, S. 4 1 4 - 4 1 9 ; CONRAD BURSIAN: Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart, M ü n c h e n , Leipzig 1883, S. 248f.; A. R. v . EISENHART: Art. .Rittershausen'. In: A D B 2 8 (1889), S. 6 9 8 - 7 0 1 ; HEINRICH KUNSTMANN: Die Nürnberger Universität Altdorf und Böhmen. Beiträge zur Erforschung der Ostbeziehungen deutscher Universitäten, Köln, Graz 1963, S. 2 6 - 2 9 ; FRIEDRICH MERZBACHER: Konrad Rittershusius. In: Fränkische Lebensbilder, Bd. 7. Hrsg. von GERHARD PFEIFFER/ALFRED WENDEHORST, Neustadt a. d. Aisch 1977 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte. Reihe VII Α: Fränkische Lebensbilder. Neue Folge der Lebensläufe aus Franken 7), S. 1 0 9 - 1 2 2 ; HAUSMANN, Biographie Schoppe (Anm. 2), S. 75f.; JAN PAPY: Manus manum lavat. Die Briefkontakte zwischen Kaspar Schoppe und Justus Lipsius als Quelle für die Kenntnis der sozialen Verhältnisse in der Respublica litteraria. In: JAUMANN (Anm. 2), S. 2 7 6 - 2 9 7 , hier S. 2 7 7 - 2 7 9 ; WOLFGANG MÄHRLE: Academia Norica. Wissenschaft und Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf ( 1 5 7 5 - 1 6 2 3 ) , Stuttgart 2000, S. 4 5 1 - 4 5 4 ; THOMAS DUVE: Art. .Rittershausen, Conrad*. In: N D B 21 (2003), S. 670f. 14 Weiterfuhrend zum mos gallicus sind etwa: DONALD R. KELLEY: Foundations of Modern Historical Scholarship. Language, Law, and History in the French Renaissance, N e w York, London 1970; HANS ERICH TROJE: Graeca leguntur. Die Aneignung des byzantinischen Rechts und die Entstehung eines humanistischen Corpus iuris civilis in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, Köln, Wien 1971; IAN MACLEAN: Interpretation and Meaning in the Renaissance. The Case of Law, Cambridge u. a. 1992; GOVAERT C. J. J. VAN DEN BERGH: Die holländische elegante Schule. Ein Beitrag zur Geschichte von Humanismus und Rechtswissenschaft in den Niederlanden 1 5 0 0 - 1 8 0 0 , Frankfurt a. M. 2002.
Ü b e r l i e f e r u n g und T e x t v e r d e r b n i s
15
nach Süddeutschland, Österreich, Ungarn und Böhmen, die Promotion in Basel wie auch der Beginn seiner professoralen Karriere, als er in Altdorf den Lehrstuhl fur die Institutiones übernahm. 1598 rückte er dort auf die Pandektenprofessur auf, die er innehatte, bis er in Altdorf 1613 starb. Abgesehen von seiner juristischen Schriftstellerei betätigte sich Rittershausen auch als Herausgeber und Verbesserer antiken lateinischen und griechischen Schrifttums - es liegen uns Arbeiten zu Phaedrus, Porphyrius, Photius, Boethius, Petronius, Plinius, Salvian von Marseille, Symmachus u. a. vor. Dass Rittershausen zudem ein angesehenes Mitglied in der philologischen Gelehrtenschaft war, bezeugen beispielsweise die zahlreichen Gedichte und Briefe aus der Feder von zum Teil berühmten Philologen, die der Oppian-Ausgabe beigegeben sind. Unter ihnen findet sich auch ein Lobbrief, den Joseph Justus Scaliger (1540-1609) eigens anlässlich von Rittershausens Oppian-Ausgabe verfasst hatte. Auch später wurde Rittershausen als vollwertiges Mitglied der Gelehrtenwelt angesehen - so zeigt ihn ein Stich von 1691 einer Gruppe celeberrimorum virorum („überaus berühmter Männer") zugehörig. Das Gemeinschaftsporträt bildet ihn an der Seite von Isaac Casaubon (1559-1614), Janus Gruter (15601627), Francois Hotman (1524-1590), Lipsius und Scaliger ab, um von den 25 Gelehrten nur die berühmtesten Zeitgenossen Rittershausens zu nennen. 15 Wie auch der wegen seiner Ennius-Edition erwähnte Paullus Merula oder Rittershausens Lehrer Hubertus Giphanius war Rittershausen ein Jurist, der aus seiner humanistischen Ausbildung heraus ein reges Interesse für die Philologie entwickelte und wegen seiner entsprechenden Arbeiten als kompetenter Kollege in der philologischen Gelehrtenwelt wahrgenommen wurde. Obwohl er seinen Lebensunterhalt als Professor ftir die Rechtswissenschaften verdiente, betätigte sich Rittershausen immer auch als klassischer Philologe.
Die Monitio in Rittershausens Oppian-Ausgabe Die Monitio erschien im Anhang einer Edition der Scholia in Oppiani Halieutica. Ex tribus Codicibus Manuscriptis, in quibus partim inter lineas versuum, partim ad oram seu marginem adiecta erant, in unum collecta a C. R. („Scholien zu den Halieutika des Oppian, die aus drei Handschriften, in denen sie teils zwischen den Zeilen der Verse, teils am Rand oder an der Seite hinzugefugt waren, von C. R. in ein [Exemplar] zusammengetragen"). Dabei handelt es sich um die editio princeps byzantinischer Scholien zum Oppian, die wahrscheinlich aus der Feder des Johannes Tzetzes (12. Jh.) stammen. Rittershausen veröffentlichte die
15
Es handelt sich um einen Stich v o n A n t o n y van Zijlvelt (Leiden, A c a d e m i s c h Historisch M u s e um), abgebildet in: JAN JULIAAN WOLTJER: Foreign Professors. In: LUNSINGH SCHEURLEER/ POSTHUMUS MEYJES ( A n m . 4 ) , S. 4 6 ( M 6 5 , hier S. 4 6 0 .
KLARA VANEK
16
interlinear oder marginal verzeichnete Kommentierung des Textes separat im Anhang zu seiner Edition des Oppian, die Franciscus Raphenlengius (15391597) zusammen mit Rittershausens lateinischer Prosaübersetzung und ausführlichem Kommentar 1597 in der Plantinischen Offizin in Leiden verlegte.16 Diese Ausgabe umfasst neben den 'Αλιευτικά {De piscatu - „Über den Fischfang") (c. 177-180 n. Chr.) des Oppian aus Korykos in Kilikien allerdings auch die Κυνηγετικά {De venatione - „Über die Jagd") (c. 212-217 n. Chr.) eines nachgeborenen Oppian aus Apameia am Orontes, weil man in Rittershausens Zeit die Lehrgedichte noch beide dem ersteren Oppian zusprach. Bei der Texteinrichtung stützte sich Rittershausen auf eine Ausgabe aus dem Jahre 1549 bzw. 1555.17 Die Scholien, die ebenso wie Rittershausens Kommentar in der Plantinischen Edition eine eigene Seitenzählung haben, entnahm er drei Handschriften, die er zu Beginn der Scholien-Ausgabe in einer Art Sigelverzeichnis beschreibt:18 Es handelt sich um zwei Handschriften aus der Heidelberger Bibliotheca Palatina (noch bevor ihre Bestände in den Vatikan verschleppt wurden), nämlich P.I., der Codex Palatinus maior (heute auch Pi - Heidelbergensis Palatinus gr. 40, 14. Jh.) und P.2., der Codex Palatinus minor (heute p2 Vaticano-Palatinus gr. 96, 15. und 16. Jh.), sowie um S., eine Handschrift, die Rittershausen von seinem Kollegen und Freund Friedrich Sylburg (1536-1596) erhalten hatte (heute ζ - Dresdensis Da 27, 15. Jh.).19 Die Monitio findet sich auf den letzten beiden Seiten (fol. λλ3τ-λλ3ν) der umfangreichen ScholienAusgabe. Rittershausens kurze Abhandlung wäre vielleicht aufgrund ihres recht entlegenen Veröffentlichungsortes der Vergessenheit anheim gefallen, hätte Rittershausens Schüler Kaspar Schoppe sie nicht im gleichen Jahr in den Anhang seiner Ars critica aufgenommen.20 Allerdings gibt Schoppe dem Text hier eine neue Überschrift {Dissertatio Conradi Rittershusii 1. C. de causis variantium in auctoribus utriusque linguae lectionum, ex ipsius in OPPIANUM Commentariis descripta; „Abhandlung des Juristen Konrad Rittershausen über die Ursachen der abweichenden Lesarten in Schriftstellern beider Sprachen, die aus dessen
16
Oppiani Poetae Cilicis de venatione Lib. III! de piscatu Lib. V. Cum Interpretatione Latina, Commentariis, & Indice rerum in utroque opere memorabilium locupletissimo, Confectis studio & opera Conradi Rittershusii Brunswicensis I. V. D. Qui & recensuit hos libros denuo, & Adr. Turnebi editionem Parisiensem cum trib. Μ s s. Palatinis contulit: inde & var. Led. & Scholia Graeca excerpsit, Leiden: Franciscus Raphelengius 1597 (Exemplar Universitäts- und Stadtbibliothek Köln: GBII b 217 a ). Eine Beschreibung dieser Ausgabe liefert auch FRITZ FAJEN: Überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen zu den Halieutika des Oppian, Meisenheim am Glan 1969 (Beiträge zur klassischen Philologie 32), S. 2 4 - 2 6 und S. 32f.
17
Hier handelt es sich um den Text, den Adrien Turnebe ( 1 5 1 2 - 1 5 6 5 ) , lecteur royal für Griechisch am College de France und späterer Typographus Regium, eingerichtet hatte. Vgl. dazu
18
Rittershausen, Scholia (Anm. 16), S. 7.
19
V g l . FAJEN ( A n m . 1 6 ) , S . 11 u n d S . 1 7 .
20
Schoppe, Ars critica (Anm. 1), fol. K3r-K5r.
FAJEN ( A n m . 1 6 ) , S . 2 3 f .
Überlieferung und Textverderbnis
17
Kommentaren zu Oppian abgeschrieben wurde") und ändert den Wortlaut des Textes zum Teil erheblich ab. Es war wohl Schoppe selbst, der in den Text von Rittershausens Monitio für seine Ars critica eingriff und ihn erweiterte. Aus diesem Grunde stützen sich die folgenden Ausfuhrungen auf Rittershausens Fassung in der Oppian-Edition. Mit der umfangreichen Oppian-Edition gab Rittershausen der Monitio einen ehrwürdigen Rahmen. In dieser Ausgabe, deren Güte im modernen Urteil zwar umstritten ist, damals aber von .berühmten Männern wie Joseph Justus Scaliger dafür mit besten Wünschen und Empfehlungen begleitet wurde, bemühte sich Rittershausen um philologische Professionalität, die sich etwa in der lateinischen Übertragung, der separaten Scholienedition, den am Rand vermerkten Lesarten und in der Handschriften- und Sigelliste niederschlug. 21
II. Vier causae der Textvarianz Rittershausen thematisiert selbst in der Monitio die Herkunft seiner Gedanken aus der praktischen philologischen Arbeit. Zu Beginn der Schrift gibt er Auskunft über den Anlass der Niederschrift: 22 Quatuor sunt auctores, in quibus, dum a me vel cum libris calamo exaratis, vel cum aliis editionibus conferrentur superioribus annis, summam lectionum varietatem discrepantiamque, deprehendi. Onus est Plautus: Alter Q. Serenus Sammonicus, qui de re medica eruditum scripsit carmen: Tertius Sallustius: & Quartus is quem nunc edimus, Oppianus,23 A l s ich in den vorausgehenden Jahren handgeschriebene Bücher und andere [gedruckte] Ausgaben verglich, waren es vier Schriftsteller, in denen ich die größte Verschiedenheit und Abweichung der Lesarten vorfand. Der eine ist Plautus. Der andere jener Q. Serenus Sammonicus, der ein gelehrtes Lied über die Medizin schrieb. Der dritte ist Sallust. Und der vierte ist der, den ich gerade herausgebe, nämlich Oppian.
Der Jurist Rittershausen berichtet hier über Schwierigkeiten, auf die er während seiner philologischen Arbeit an antiken nicht-juristischen Texten stieß. In den Texten von Plautus, Serenus, Sallust und Oppian bemerkte er immer wieder Lesarten, die voneinander abweichen. So erkennt er das Grundproblem der Textkritik: Handschriften weichen im Wortlaut voneinander ab, und Ausgangspunkt textkritischer Arbeit ist somit die Korruptheit der Überlieferung. Im fol21
Regelrecht vernichtend ist FAJEN (Anm. 16), S. 25; der Brief von Scaliger ist der Scholienausgabe beigegeben: Rittershausen, Scholia (Anm. 16), fol. *5r. 22 In der Forschung blieb Rittershausens Monitio bisher im Übrigen weitgehend unbeachtet. Erwähnt wird sie wohl nur bei HERBERT JAUMANN: Iatrophilologia. Medicus philologus und analoge Konzepte in der frühen Neuzeit. In: Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher .Philologie'. Hrsg. von RALPH HAFNER, Tübingen 2001, S. 151-176, hier S. 168, und bei GRAFTON (Anm. 2), S. 237. 23 Rittershausen, Scholia (Anm. 16), fol. λλ3Γ.
KLARA VANEK
18
genden Text versucht Rittershausen nun, die Textverderbnis auf ihre Gründe zurückzufuhren. Dabei ordnet er die Abweichungen der Lesarten vier causae („Ursachen") zu. Als erste Ursache macht Rittershausen die Autoren der Texte selbst aus: Primum igitur inde earn suspicabar extitisse, quod auctores ipsi suos libros saepius ediderint (ita ut hodieque fieri videmus) &, quia δευτέραι φροντίδες σοφώτεραι esse consueverunt, ipsi quaedam mutarint. Priores autem editiones earumque scripturasplane abolere & extirpare nonpotuerunt.24 Nun vermute ich als Erstes, dass es deshalb entstanden war, weil die Schriftsteller - wie es auch heutzutage, wie wir sehen, passiert - ihre Bücher selbst mehrmals schrieben. Und weil ja die zweiten Gedanken die weiseren zu sein pflegten, veränderten sie selbst etwas, konnten aber die vorhergehenden Ausgaben und ihre Lesarten nicht vollständig vernichten und auslöschen.
Mit der Inblicknahme des Schriftstellers rekurriert Rittershausen auf das in seiner Zeit vorherrschende Textverständnis. Wie auch schon am Eingangszitat deutlich geworden sein mag, wird der Text nicht in seiner historisch überlieferten Fassung für verbindlich gehalten. Vielmehr wird angenommen, dass es ein ,Original' gegeben hat, das mit jener Fassung identifiziert wird, die der Autor geschrieben hat. Der ursprüngliche und wiederherzustellende Text ist der, den sein Verfasser autorisierte'. Rittershausen wendet sich nun also dem Schreibprozess selbst zu, bei dem ein Schriftsteller seinen Text mehrmals überarbeitet, und bemüht dafür Euripides' bekannten Spruch aus dem Hippolytos (436). Seine Annahme, die er aus der Beobachtung des zeitgenössischen Literaturschaffens ableitete, fuhrt ihn zu der Schlussfolgerung, dass immer mehrere Autorfassungen möglich sind, die der Verfasser dann nicht mehr aus dem Umlauf nehmen kann. Damit zweifelt Rittershausen zu Beginn seiner Abhandlung die Möglichkeit einer letztendlichen Wiederherstellung des .Originals' an. Er stellt nämlich ihre Grundbedingung selbst in Frage: die Existenz eines (einzigen) verbindlichen Textes. Offensichtlich hält es Rittershausen aber nicht fiir nötig, an die Möglichkeit der sicheren und vollständigen Rekonstruktion von Texten zu glauben, um Textkritik zu betreiben. Seine skeptische Haltung hindert ihn nicht daran, trotzdem an der Verbesserung von Texten mitzuwirken und über ihre Methoden nachzudenken. Im Gegenteil: Indem er in der Varianz der Autorfassung eine der vier causae ausmacht, verlegt er das Wissen über verschiedene Autortexte und über die daraus resultierende letztlich unmögliche Sicherheit von Textverbesserung selbst in den Bereich der Kompetenz des Philologen. Neben den Autoren macht Rittershausen dann in einem zweiten Schritt die Kopisten fiir Textkorruption verantwortlich:
24 Ebd.
Überlieferung und Textverderbnis
19
Altera causa posita est in librariorum seu scripturariorum inscitia ac ruditate aut incogitantia, quod saepe manus mentem (ita ut fit) praecurreret, vel haec illam destitueret, aliud inter scribendum cogitans: & quod Uli ea, quae seme! quamvis perperam scripserant, vitandae causa deformitatis delere nollent.25 Der nächste Grund liegt im Unverstand und in der Unwissenheit, aber auch in der Unbedachtheit der Schreiber und Kopisten, weil ihre Hand oftmals das Denken - so wie es nun einmal passiert - überholte, oder jenes [Denken] diese [Hand] im Stich ließ und beim Schreiben an etwas anderes dachte. Auch weil jene [Schreiber] das [Falsche], was sie einmal geschrieben hatten - auch wenn es aus Versehen war nicht löschen wollten, um den Grund für eine Missgestaltung zu vermeiden. Rittershausen charakterisiert den Kopisten (librarius oder scripturarius) mit den negativen Eigenschaften der Ungelehrtheit (inscitia und ruditas) sowie der Unbedachtheit (incogitantia). Mangelnde Geistesgegenwart mündet in mechanisches Abschreiben, bei dem viele Fehler gemacht werden. In Rittershausens Zeit wurde aber auch erkannt, dass Kopisten Fehler in den Abschriften aus ökonomischen Erwägungen wissentlich ignorierten. Diesen Grund für Textverderbnis nannte vor Rittershausen etwa Marc-Antoine Muret in seinen Variae lectiones von 1580: ne libros suos multis lituris deformatos minus vendibiles redderent, iterumve totas paginas describere cogerentur: sed iis, ut erant, omissis cetera persequi. Atque ea res innumerabilem errorum copiam in omne scriptorum genus invexit.26 Um ihre Handschriften, die mit vielen Ausstreichungen verunstaltet waren, nicht schlechter verkäuflich zu machen, waren sie gezwungen, ganze Seiten nochmal neu abzuschreiben, oder aber denjenigen, die schon bestanden, weitere [Fehler] durch Übersehen dazufolgen zu lassen. Und dadurch geriet eine unzählbare Menge an Fehlern in alle Arten von alten Schriftstellern. Das Wissen darüber, dass das Beschreibmaterial Pergament teuer war und Ausstreichungen im Text den Wert von Handschriften erheblich mindern, führt Muret hier zu der Annahme, dass Schreiber auch absichtlich Abschreibefehler übersahen. Zu den Schreibern gesellt Rittershausen eine weitere Gruppe von Personen, die er als dritte causa für die Textkorruption identifiziert: Tertiam causam confero in sciolos & criticos, qui cum ingenii sui acumen in alienis operibus elimandis ostentare vellent, saepe annotarunt quid rectius ac melius ab auctore dici potuisse videretur 21 Die dritte Ursache spreche ich den Halbgebildeten und Kritikern zu, die den Scharfsinn ihres Verstandes beim Reinigen fremder Werke zeigen wollen. Dabei merkten
25 26
Ebd. M. Antonii Mured variarum lectionum libri XV, Antwerpen: Plantin 1580. Zitiert aus: Schoppe, Ars critica (Anm. 1; siehe auch Anm. 7), fol. Ev. 27 Rittershausen, Scholia (Anm. 16), fol. λλ3Γ.
20
KLARA VANEK
sie oft an, w a s v o m Schriftsteller hätte scheinbar richtiger und besser gesagt werden können.
Die scioli und critici unterscheiden sich von den librarii in den Zielen ihrer Tätigkeit. Während die librarii die Texte abschreiben - und damit eine bestimmte Textfassung reproduzieren trachten die critici danach, die Texte zu verbessern. Mit den critici nimmt Rittershausen seine eigene Zunft in den Blick: die Textverbesserer bzw. die Philologen. Mit der Rüge der Schreiber und der Philologen greift er eine weit verbreitete Polemik gegen Schreiber und die zeitgenössische Philologie auf, wie etwa eine Bemerkung des Beatus Rhenanus (1485-1547) in seinen Annotationes in Livium von 1537 zeigt: Id postea castigator non consyderans [sic!], sed alio properans ac nimium fidens ingenio suo, vertit in sententiis. Sic accrescunt in monumentis autorum mendae. Facilius autem sit ex primis librariorum erratis sinceram lectionem reperire, quam exposterioribus nonnunquam eruditorum castigationibus.2i Ein Verbesserer, der [die Stelle] nicht eingehend prüfte, sondern anderswohin eilte und dabei zu vertrauensvoll in seine Verstandeskraft war, verdrehte später ihren Sinn. S o vermehren sich die Fehler in den Z e u g n i s s e n der Schriftsteller. Aber es ist einfacher, die echte Lesart aus den früheren Fehlern der Schreiber wiederzuerlangen, als aus den späteren Texteingriffen v o n so m a n c h e m Gelehrten.
Den polemischen Unterton erzeugt der oberrheinische Humanist mit einer Klimax, dergemäß die Fehler von Schreibern zwar schlimm, im Vergleich mit Fehlern von zeitgenössischen Philologen aber noch harmlos seien. Ähnlich wie Rhenanus richtet Rittershausen die Schelte der Philologen wie bei den Schreibern zunächst gegen ihre ungenügende Bildung und verunglimpft sie als scioli („Halbgebildete"). Hinzu kommt die Eitelkeit der Kritiker, bei der Textverbesserung ihren ganzen Einfallsreichtum unter Beweis stellen zu müssen. Schließlich lassen sie sich in ihrer Arroganz und mangelnden Wertschätzung der antiken auetores dazu verleiten, inhaltliche und stilistische Verbesserungsvorschläge zu machen. In den ersten drei causae zählt Rittershausen chronologisch die Personengruppen auf, die mit der Textarbeit beschäftigt waren: die Verfasser der Texte, die Vervielfältiger und die Verbesserer. Im Zusammenhang mit dem letzten Grund bringt Rittershausen eine besondere Form der Textverderbnis zur Sprache: hinc factum est, ut saepe Scholion seu Glossa loco extruserit, eique subrepserit.29
γνήσιον
scriptoris
ipsius
verbum
suo
28 Annotationes Beati Rhenani, ei Sigismundi Gelenii, Doctiss. virorum, in extantes T. Livii Libros, Leiden: Vincentius 1537. Zitiert nach JOHN F. D'AMICO: Theory and Practice in Renaissance Textual Criticism. Beatus Rhenanus Between Conjecture and History, Berkeley u. a. 1988, S. 130f. undS. 265, Anm. 121. 29 Rittershausen, Scholia (Anm. 16), fol. λλ3ν.
Überlieferung und Textverderbnis
21
So geschah es, dass häufig ein Scholion oder eine Glosse an dieser Stelle das echte Wort des Autors selbst herausdrängte und sich darunter legte.
Rittershausen erkennt, dass in den überlieferten Textfassungen an unzähligen Stellen das γνήσιον verbum („der echte Wortlaut") durch die Kommentierung verdrängt wurde. Die Schuld daran, dass Scholien und Glossen in den Text geraten, fuhrt Rittershausen wieder auf Personen zurück. Die (Texte der antiken) Autoren trafen nämlich im Laufe ihrer Überlieferungsgeschichte auf Personen, die sie weiter bearbeiteten: Nam cum plerique auctores classici, qui vulgo terebantur, (maxime Poetae, & in his Graeci crebrius quam Latini) hi ergo cum suos nacti essent Scholiastas atque interpretes, qui unumquodque pene verbum verbo commu- | | tarent altero, eaque interpretatio sive haec Scholia partim inter tineas versuum, partim ad oras librorum adscriberentur.30 Denn die meisten klassischen Autoren, die allgemein im Gebrauch waren (am meisten die Dichter, und unter ihnen die Griechen häufiger als die Römer), trafen also auf die Scholienschreiber und Texterklärer. Diese veränderten fast jedes einzelne Wort durch ein anderes Wort. Außerdem schrieben sie die Erklärung oder die Scholien teilweise zwischen die Zeilen der Verse und teilweise an die Ränder der Handschriften dazu.
Die eigentlichen Übeltäter, die die Textverderbnis durch das Eindringen von Glossen verschuldeten, waren die mittelalterlichen Kommentatoren (Scholiastae und interpretes), die die Texte erklärten, übersetzten und mit Anmerkungen versahen. An der skeptischen Haltung Rittershausens zur Kommentartradition lässt sich nochmals seine Zugehörigkeit zur humanistischen mos gallicus-Schule in der Jurisprudenz ablesen, deren Vertreter sich ebenfalls darum bemühen, juristische Texte aus der mittelalterlichen Kommentar- und Anmerkungstradition freizulegen. Rittershausen vertritt diese Haltung in seiner Arbeit an juristischen Texten und überträgt sie auf die Beschäftigung mit profanen antiken Schriftstellern. In der Praxis geht eine Ablösung des Kommentartextes vom eigentlichen Text aber nicht mit einer Geringschätzung oder gar Beseitigung des Kommentarapparates einher. Das Gegenteil zeigt die hier betroffene OppianEdition: Rittershausen fugt auf der Seite, die dem verbesserten Text der Lehrgedichte jeweils gegenüberliegt, seine lateinische Übersetzung hinzu, so dass der Text von der Übersetzung klar abgegrenzt, für den Leser aber praktisch zu erfassen ist. Den mittelalterlichen Kommentarapparat - die Scholien - bewahrt er in einer separaten Edition, die sich in einem eigenen Abschnitt des Bandes ohne graphischen Bezug zum Text befindet.
30 Ebd., fol. λλ3Γ-λλ3ν.
22
KLARA VANEK
III. Die Konzepte von Textüberlieferung und Textverbesserung Textüberlieferung als Abfolge von Handlungen Das Besondere an Rittershausens Monitio ist, dass er hier Textkorruption, die Überlieferung von Texten und Handlungen von Personen eng miteinander verknüpft. Rittershausen erklärt die Textkorruption mit vier causae, die auf Akteure zurückweisen, die im Zusammenhang mit der Textarbeit stehen: Autoren, Schreiber, Philologen und Kommentatoren. Damit kommen alle Personengruppen zur Sprache, die an Texttradierung beteiligt sind und durch ihre Handlungen die Texte verderben können (Textniederschrift, Kopie, Verbesserung und Kommentierung). Rittershausen fasst Textüberlieferung folglich streng personal auf, weil sie ausschließlich durch die Handlungen von Personen konstituiert wird. Fehler werden mit den personalen Ursachen pragmatisch', also mit Handlungen, erklärt. Dabei finden sich nur spärlich Bezüge auf lebensweltliche Umstände der Akteure. Das steht im Gegensatz zu modernen Beschreibungen, in denen sich Textüberlieferung üblicherweise mit den spezifisch historischen Bedingungen des mittelalterlichen Textumgangs verbindet - man denke etwa an klösterliche Skriptorien, knappe Bildungsgüter, das Verhältnis zwischen paganen und sakralen Literaturen u. Ä. Der historische Kontext bleibt außen vor - Veränderungen von Texten werden ausschließlich auf Faktoren zurückgeführt, die im Handlungsbereich der verursachenden Personen liegen. Damit stellt Rittershausen das Moment der Textüberlieferung in den Mittelpunkt seiner Konzeption, wie er auch ein spezifisches Textverständnis begründet. Aus der Feststellung der Varianz einzelner Lesarten folgert Rittershausen zum einen, dass es aktuell verschiedene Textfassungen einer Schrift gibt, und zum anderen, dass sie durch Handlungen von Personen verursacht wurden. Mit den Handlungen setzt er Texte in den Zusammenhang mit einem Bearbeitungsprozess und damit mit ihrer Überlieferungsgeschichte. Indem Rittershausen Textvarianz auf Handlungen zurückfuhrt, legt er seinen textkritischen Überlegungen Gedanken von Textüberlieferung zugrunde. Die Handlungen, die die Tradierung von Texten konstituieren, können abweichende Lesarten generieren. Vor allem die Ausführungen im Zusammenhang mit den Schreibern und Philologen machen deutlich, wovon gelungene oder missratene Handlungsergebnisse abhängig sind. Hier wird nämlich abgesehen von den Handlungen der Textreproduktion auch auf personale Attribute abgehoben. Man denke etwa an die inscitia, ruditas und incogitantia der Schreiber sowie an die Halbgebildeten, die in die Texte eingreifen, die hochmütig gegenüber den antiken Schriftstellern sind und eine abträgliche curiositas an den Tag legen. Handlungen sind bei näherer Betrachtung also in ihrem Ergebnis un-
Überlieferung und Textverderbnis
23
bestimmt und können folglich sowohl positive als auch negative Ergebnisse zeitigen. Der Erfolg oder Misserfolg ist davon abhängig, welche individuellen Eigenschaften die einzelne handelnde Person auf sich vereint. Allgemeiner formuliert wird der Textzustand als das Ergebnis von mehr oder minder guten Handlungen verstanden und die Güte bzw. die Qualität der Texte auf die Eigenschaften der handelnden Personen zurückgeführt.
Implikationen fur die Textverbesserung: Kompetenzpostulat und Bewahrung von Fehlern Rittershausen warnt seinen Leser nicht nur vor der Tatsache, dass es Textvarianz gibt. Dadurch, dass er ihm den Ursprung von Fehlern erklärt, weist er ihm zugleich auf, wie er sich selbst verhalten soll, damit er keine Fehler erzeugt und damit es ihm gelingt, Fehler zu verbessern. Aus der Abhängigkeit der Qualität des Ergebnisses einer gelehrten Handlung von den Eigenschaften des Handelnden folgen als praktische methodische Konsequenzen für die Textverbesserung Kompetenzpostulate: Um in der Verbesserung von Fehlern erfolgreich zu sein, muss der Philologe gebildet sein und sich anstrengen. Damit knüpft Rittershausen an ein methodisches Denken an, das fest in der zeitgenössischen textkritischen Methodologie verankert war. Eine besonders eindrückliche Formulierung findet sich bei Francesco Robortello. 31 Der Paduaner Professor für die humanitates diskutiert zu Anfang seiner textkritischen Methodenlehre Ars corrigendi die Eigenschaften, über die ein Philologe verfugen muss, um in seinem textkritischen Handeln erfolgreich zu sein. Er bemerkt dazu, dass diese angesehene Tätigkeit nur von einem Gebildeten ausgeführt werden kann: Praeclara igitur professio est, libros veterum [...] corrigendi. [...] Sed non quivis id praeslare potest; at ii tantum, qui multarum et maximarum rerum disciplinis fuerint instructi.1 D e s h a l b ist die A u f g a b e h o c h angesehen, die Bücher der Alten zu verbessern. [...] Aber nicht jeder kann dies leisten: D o c h nur diejenigen, die durch die Kenntnisse vieler und der größten D i n g e gebildet worden sind.
31
Zu Robortello vgl. etwa GIAN-GIUSEPPE LIRUTI: Notizie delle vite ed opere scritte da letterati del Friuli, Bd. II, Venedig 1762 (ND Bologna 1971), S. 4 1 3 ^ 8 3 ; ANTONIO CARLINI: L'attivitä filologica di Francesco Robortello. In: Atti dell'Accademia di Scienze Lettere e Arti di Udine. Reihe VII 7 (1966/1969), S. 53-84. 32 Francisco Robortelli Utinensis de convenientia supputationis Livianae ann. cum marmoribus Rom. quae in capitolio sunt. Eiusdem de arte, sive ratione corrigendi veteres Authores, disputatio. Eiusdem emendationum libri duo, Padua: Innocentius Olmus 1557. Hier wird nach dem modernen kritischen Text zitiert: Francesco Robortello: De arte sive ratione corrigendi antiquorum libros disputatio. Einleitung, kritischer Text, Übersetzung, Kommentar und Index v o n GIUSEPPE POMPELLA, N e a p e l 1 9 7 5 , S . 2 , Z . 9 .
24
KLARA VANEK
Und weiter: Primum igitur illud statuamus, in hac nostra arte requiri infinitam quondam eruditionem in eo, qui emendatorem se librorum dici cupit: multa legerit oportet, multa cogitarit, multa audierit, multa triverit usu, recentiores etiam evolverit An erster Stelle stellen wir also Folgendes fest: In unserer Kunstlehre wird von demjenigen, der es begehrt, sich als Verbesserer der Bücher zu bezeichnen, eine Gelehrsamkeit verlangt, die in einem gewissen Sinne unendlich ist. Es ist nötig, dass er vieles gelesen hat, vieles weiß, vieles gehört hat, vieles in seiner Verwendungsweise gebraucht hat und auch die jüngsten Autoren sorgfältig gelesen hat.
Jemandem, der sich emendator nennen, also erfolgreiche Textkritik machen wolle, fordert Robortello große Belesenheit und einen reichen Wissensschatz ab, personale Kompetenzen, die in Robortellos Worten einer schier unendlichen Gelehrsamkeit gleichen. Während das Kompetenzpostulat implizit im Konzept der Monitio angelegt ist, zeigt Rittershausen am Ende der Schrift auch ausdrücklich, dass er Anweisungen fur die praktische Textkritik im Blick hatte. Hier äußert er sich dazu, wie in der editorischen Arbeit mit den voneinander abweichenden Lesarten umgegangen werden sollte: Erunt fortasse qui sic dicent, Non omnem aberrantem ac hallucinantem attendi annotarive debere. [...] sed tarnen sciens prudens in hoc auctore que manifeste falsas lectiones in oras contextus contuli.34
scripturam saepe qiio-
N u n gibt es auch jene, die sagen, dass keine abweichende oder gedankenlose Lesart erfasst oder angemerkt werden darf. [...] Aber dennoch habe ich wissentlich in diesem Schriftsteller oft auch offensichtlich falsche Lesarten an den Rändern des Textes zusammengetragen.
Entgegen der üblichen Meinung, dass es nur ausgewählte Lesarten wert seien, festgehalten zu werden, meint Rittershausen, dass auch nachweislich falsche Lesarten verzeichnet werden müssen. 35 Er begründet diesen Grundsatz folgendermaßen: Qua res hanc, opinor, utilitatem habet, ut animadversa libraries usitata, facilius aliarum lectionum errata, prehendamus,36
aberrandi consuetudine quae saepe nos fugiunt,
inter de-
33 Robortello, Ars corrigendi (Anm. 32), S. 2, Z. 14-17. 34 Rittershausen, Scholia (Anm. 16), fol. λλ3ν. 35 Dieses Prinzip postuliert vor Rittershausen beispielsweise bereits Giovanni Lamola (15. Jh.), vgl. GEORG HELDMANN: Von der Wiederentdeckung der antiken Literatur zu den Anfängen methodischer Textkritik. In: Einfuhrung in die Überlieferungsgeschichte und in die Textkritik der antiken Literatur. Hrsg. von EGERT PÖHLMANN. Bd. 2: Mittelalter und Neuzeit, Darmstadt 2003, S. 97-135, S. 102. 36 Rittershausen, Scholia (Anm. 16), fol. λλ3ν.
Überlieferung und Textverderbnis
25
Ich meine, dass diese Sache Nützlichkeit besitzt: Dadurch, dass wir uns die Gewohnheit vergegenwärtigen, wie die Schreiber Fehler zu machen pflegen. So erfassen wir Fehler anderer Lesarten einfacher, die uns oftmals entgehen.
Der Philologe muss mit den Angewohnheiten der Schreiber vertraut sein, d. h. ihrer Art, Fehler zu begehen. Mit diesem Wissen ist es einfacher, weitere Fehler zu finden und sie dann auch zu verbessern. Wie schon das Kompetenzpostulat, so entwickelte Rittershausen auch die methodische Anweisung, falsche Lesarten zu verzeichnen, aus der Feststellung der Varianz der Überlieferung und aus ihrer pragmatischen Erklärung, und zwar insofern, als er hier auf die Erzeugung von Fehlern durch die spezifischen Handlungen von Schreibern abhebt. Damit zeichnet Rittershausen am Ende seiner Abhandlung den Weg auf, der von der Feststellung der Varianz über ihre Erklärung zur Beseitigung der Fehler fuhrt. Rittershausens pragmatisch konzipierte Textüberlieferung impliziert verschiedene Formen von Anweisungen, die sich auf die Textverbesserung beziehen. Dabei handelt es sich um das Postulat der Kompetenz des Philologen und um den Grundsatz, Variante Lesarten als Quellen für das vergangene Handeln von Schreibern zu bewahren. Daran koppelte Rittershausen die Aufforderung, aus den abweichenden Lesarten die Fehlerangewohnheiten der Schreiber kennenzulernen. Gemeinsam ist diesen Anweisungen, dass Fehler pragmatisch aus ihrer Entstehung erklärt werden. In den Artes corrigendi in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war der Gedanke der genetischen Fehlererklärung zentral. Eine besonders eingängige Formulierung dieses Prinzips gelang Rittershausens Schüler Kaspar Schoppe in seiner Ars critica: Emendare nihil est aliud, quam quo quidque modo depravatum fuerit, indicare („Das Verbessern ist nichts anderes als anzuzeigen, auf welche Weise etwas verdorben wurde"). 37 Dieser allgemeine Grundsatz schließt auch andere als nur personale Gründe mit ein - Schoppe fuhrt in der Ars critica Fehler beispielsweise auch auf Buchstabenähnlichkeiten und damit auf paläographische Ursachen zurück. 38 Den Ausgangspunkt des Konzepts der Textverbesserung bilden aber immer die Fehler selbst. Die grundsätzliche Varianz von Texten, die Rittershausen in seiner Abhandlung feststellt, ist die Grundlage jeder textkritischen Überlegung im 16. Jahrhundert.
IV. Zusammenfassung Von Rittershausens Monitio können Rückschlüsse auf die Philologie, auf das Textverständnis sowie auf das Konzept von Textüberlieferung und seine Konsequenzen für die textkritische Methode im ausgehenden 16. Jahrhundert gezogen
37 Schoppe, Ars critica (Anm. 1), fol. Br (Hervorhebung in der Ausgabe von 1597). 38 Etwa ebd., fol. F4v.
26
KLARA VANEK
werden. An Rittershausens Interesse an der Philologie etwa lässt sich deutlich der Einfluss ablesen, den die humanistisch-philologische Ausrichtung der mos gallicus-Schule auf die Jurisprudenz ausübte. Gleichzeitig illustriert dies das hohe Ansehen, das die Philologie in jener Zeit als eine Grundlagenwissenschaft genoss, und wie sie ihre Kenntnisse, Hilfsmittel und methodischen Zugänge anderen Fächern zur Verfügung stellte. Rittershausen theoretisierte nicht über die Verbesserung juristischer Texte, sondern näherte sich dem Problem der Textkorruption von der allgemeinen Philologie profaner schöngeistiger Literatur her. Er stellte seine Monitio dezidiert in den Rahmen einer professionellen Philologie, indem er sich in ihr explizit auf verschiedene konkrete philologische Arbeiten bezog und sie im Anhang einer aufwändigen Edition antiker Profanphilologie veröffentlichte. Rittershausen registrierte eine im Vergleich zu den textkritischen Abhandlungen der Zeit beachtliche Vielfalt von Textvarianz. 39 Dazu gehören zunächst richtige Fehler, worunter man sich etwa einzelne falsch geschriebene Silben oder Wörter vorzustellen hat. Des Weiteren stellt sich das Problem der stilistischen und inhaltlichen Umschrift einzelner Passagen sowie von Wörtern, die in den Text ergänzend eingefugt oder mit denen ursprüngliche Wörter ersetzt wurden. Als beste Textfassung galt Rittershausen der Autortext. Allerdings ist die Situation denkbar, dass es mehrere Autortexte gegeben hat. Auch wenn dies die Sicherheit von Textrekonstruktion letztlich in Frage stellt, sah sich Rittershausen deswegen nicht dazu veranlasst, die Möglichkeit einer Textverbesserung aufzugeben. Die Textverderbnis selbst wird in seiner Monitio aus der Überlieferung von Texten erklärt, wobei Rittershausen vier Handlungen unterscheidet, die die Überlieferung von Texten konstituieren: das eigentliche Verfassen von Texten, das Kopieren, das Verbessern und die Kommentierung. Das Besondere an seinen Vorstellungen liegt darin, dass er zum Ersten mit seiner konsequenten Rückführung von Textkorruption auf Texttradierung nachdrücklich die Historizität von Texten hervorhebt. Zum Zweiten konzipierte er Textüberlieferung als Abfolge von Handlungen, was ihm zum Dritten erlaubte, den Textzustand als das Ergebnis von Handlungen zu erklären und die Güte des Textes auf die individuellen Eigenschaften und Kompetenzen des einzelnen Akteurs zurückzuführen. Schließlich liegen in Rittershausens pragmatischem Verständnis von Texttradierung Implikationen für die Methode der Textverbesserung, weil daraus ein Kompetenzpostulat an die Adresse der Philologen folgt, wie auch der Grundsatz, auch falsche Lesarten zu bewahren. An vielen Einzelheiten von Rittershausens Text wird die Verankerung seines methodischen Denkens in seiner Zeit deutlich und weist ihn als Kenner der
39
Es finden sich zahlreiche Fehlertypologien in dieser Zeit, allerdings systematisierten die meisten nur verschiedene Fehlerarten nach Buchstaben, Silben und Wörtern.
Überlieferung und Textverderbnis
27
Fachliteratur sowie als kompetenten Philologen aus. Es gelingt ihm, den in der zeitgenössischen textkritischen Diskussion zentralen Problemkreis der Ursachen von Varianten in Handschriften auf systematische und konzise Weise zu behandeln, weshalb seine Abhandlung dazu herangezogen werden konnte, Grundelemente der frühneuzeitlichen Überlegungen über das Wesen der Textkorruption aufzuzeigen. Mit seiner Monitio reißt Rittershausen anschaulich ein Problemfeld auf, das durch die Einsicht entsteht, dass es sich bei einem Text um ein historisches Dokument handelt, das durch die Hände verschiedener Bearbeiter mit individuellen Eigenschaften gegangen ist.
Abstract The article examines the problems of textual transmission as addressed in early modern texts discussing philological methods. Konrad Rittershausen's Monitio de varietate lectionum (1597) serves as an example to describe the debate's basic features. After situating his treatise in the context of contemporary philology and its methods, the article presents Rittershausen's main argument: He describes textual transmission as a series of acts by authors, scribes, philologists, and commentators and systematically identifies their acts as potential sources of textual corruption. Rittershausen's pragmatical understanding of textual transmission leads him to call for philological competence as a prerequisite for the correction of corrupted passages, moreover, due to his insight into a text's historicity, he recommends that editors should preserve even corrupted text passages.
JÜRGEN WOLF
Der Text in den Fängen der Schreiber oder: Sind die Sorgen der Autoren um Textkorruption und Textzerstörung berechtigt?
Vorwort: Übertragung zwischen Authentizität und Veränderung Einmal fertig gestellte Texte unterlagen im Mittelalter meist schon vom Zeitpunkt ihrer Vollendung an einem fortwährenden Veränderungsdruck. Dies trifft selbst für die uralten antiken Klassiker und die Werke berühmter Autorpersönlichkeiten zu. Relativ geschützt vor Veränderungen waren allein die heiligen Bücher,1 aber selbst hier sind mittelalterliche und moderne Authentizitätsvorstellungen kaum vereinbar. Generell reicht die Spannbreite der Veränderungen von unbewussten Schreibfehlern bis hin zu geplanten, großflächigen Umarbeitungen, von eingeforderten Aktualisierungen und Ergänzungen bis hin zu sinnentstellenden oder sinnverändernden Fälschungen. Was den Texten im Prozess der Übertragung alles drohen konnte, lässt Konrad von Heimesfurt sein Buch im Prolog zur Urstende klagen: daz mir iemen iht dar abe mit pumz oder mit mezzer schabe und mir bezzer in dem margine dä bi des in dem blate vergezzen si (Urstende,
V. 14—18).2
Niemand sollte mit pumz („Bims") oder mit mezzer („Messer") am Text herummanipulieren. Auch vermeintliche .Verbesserungen' in dem margine („auf dem
1
2
Vgl. zur Relativität selbst in diesem Bereich exemplarisch das Psalter-Beispiel im vorliegenden Beitrag (Lichtensterner Psalter) mit einem ganz eigentümlich veränderten, verstümmelten ,heiligen Text'. Konrad von Heimesfurt: Unser vrouwen hinvart und Diu urstende. Mit Verwendung der Vorarb e i t e n v o n W E R N E R FECHTER h r s g . v o n K U R T G Ä R T N E R / W E R N E R J. H O F F M A N N ,
Tübingen
1989 (ATB 99). Die Forschungsliteratur zum Prolog fasst WERNER J. HOFFMANN: Konrad von Heimesfurt. Untersuchungen zu Quellen, Oberlieferung und Wirkung seiner beiden Werke Unser vrouwen hinvart und Urstende, Wiesbaden 2000 (Wissensliteratur im Mittelalter 37), S. 2, Anm. 4, zusammen.
30
JÜRGEN W O L F
Blattrand") verbat sich Konrad. 3 Wie berechtigt diese Sorge um das Buch gewesen sein dürfte, entnehmen wir den angsterfüllten Worten Eikes von Repgow im Prolog zum Sachsenspiegel·. Grot angest geit mek an; ek vorrchte, dat manich man dit buk wille meren unde beginne recht verkeren (Sachsenspiegel,
V. 2 2 1 - 2 2 4 ) . 4
Aber man rechnete nicht nur mit inkompetenten oder böswilligen ,Überträgern'. Walther von Rheinau5 drängt in seinem Marienleben die, die geleret sin {Marienleben, V. 165), förmlich dazu, zu verändern, sprich: zu korrigieren oder zu verbessern: Swaz si an diesem büechelin Valsches iender vinden, Daz si den widerwinden Und in ze der wärheit staben Oder von dem buoche schaben
(Marienleben,
V. 1 6 6 - 1 7 0 ) . 6
Übertragung ist hier ausdrücklich mit der Bitte um Prüfung, Korrektur und Verbesserung verbunden. Für unkorrigierbare, fehlerhafte Bücher blieb allerdings nur eine Lösung: das buoch verbrennen gar (Marienleben, V. 16127). Bitten um sachgerechte Korrektur und Verbesserung markieren ebenso wie das Verbot, Bims, Messer oder Feder anzulegen, zwei Seiten ein und derselben Erfahrung: das Wissen um kompetente, intelligente, die Textqualität verbessernde bzw. kontrollierende Schreiber/Redaktoren auf der einen und die Angst vor dilettantischen, textzerstörenden oder (ver-)fälschenden Schreibern/ Redaktoren auf der anderen Seite. Im jüngst erschienenen Schreiberband von MARTIN SCHUBERT wurde von mir in Das fürsorglichen' Skriptorium - als Institution höchster philologischer Sorge um Inhalte, Layout und Ausstattung -
3
4
5 6
Mit dem Bimsstein oder dem Federmesser ließen sich Fehler (oder Unerwünschtes) ausrasieren. In deutschen Handschriften finden sich jedoch prinzipiell eher selten Rasuren oder marginale Korrekturen; häufiger sind sie allerdings in solchen volkssprachigen Codices, die einem gelehrten Umfeld zuzurechnen sind, wie z. B. in der Vorauer Handschrift 276 (Nachweise einiger Rasur-Beispiele aus diesem Codex bei EBERHARD NELLMANN: Kontamination in der Epiküberlieferung. Mit Beispielen aus der Vorauer Kaiserchronik. In: ZfdA 130 (2001), S. 3 7 7 391, hier S. 382-388). „Große Angst überfällt mich, ich fürchte, dass viele Menschen dieses Buch erweitern werden und das Recht und die Wahrheit dabei verkehren [verfälschen]." Sachsenspiegel. Landrecht und Lehnrecht. Hrsg. von KARL AUGUST ECKHARDT, 3., durchgesehene Aufl. Göttingen u. a. 1973 (MGH Fontes iuris Germanici antiqui. N. F. 1). Das Marienleben Walthers von Rheinau. Hrsg. von EDIT PERJUS, 2. verm. Aufl. Abo 1949 (Acta Acad. Aboensis Humaniora XVII/1). „Was auch immer die Rezipienten Falsches in diesem Büchlein finden, dass sie sich dagegen stellen und es in die Wahrheit bringen oder es aus dem Buch herausschaben [d. h. ausradieren]."
Der Text in den Fängen der Schreiber
31
die glänzende Seite mittelalterlicher Buchproduktion in den Blick genommen. 7 Quintessenz der Beobachtungen war, dass man schon im ,tiefsten Mittelalter' ein Niveau der Text- und Buchbetreuung erreicht hatte, das sich vor der modernen Editionsphilologie kaum zu verstecken braucht. Aber das ist nur die eine Seite des mittelalterlichen Schreibbetriebs. Sie bleibt im Folgenden ausgespart.
I. Die dunkle Seite: Schreiber zerstören Werk und Text Lassen Sie uns zuerst das Skriptorium im altehrwürdigen zisterziensischen Ruhekloster bei Schleswig aufsuchen. Im Jahr 1434 wird in Ruue per Johannem Vicken ibidem capellanum, also vom Kaplan Johannes Vicken, eine Abschrift der Sächsischen Weltchronik vollendet. Der Kaplan kopiert seine bis ins Jahr 1235 reichende Vorlage und folgt dabei pflichtbewusst der Aufforderung in der Reimvorrede eben dieser Weltchronik, wo die zukünftigen Chronikschreiber auf Ergänzung, Fortsetzung sowie unbedingte Wahrheit eingeschworen werden: ich ne kan nicht scriven daz noch gescen sol; mir genügit hiran wol. swer so leve vorebaz, swaz dan gesche, der scrive daz, unde achtbare warheit. (Sächsische Weltchronik, 66,77-87) 8 Unser Kaplan, er hatte 1428 in Rostock studiert, ergänzte die Vorlage zunächst bis ins fortgeschrittene 14. Jahrhundert bzw. später sogar bis zum Tod Herzog Adolfs VIII. von Schleswig-Holstein (f 1459). Wir scheinen uns im .fürsorglichen Skriptorium' zu befinden. Macht man sich nun die Mühe, diese Fortsetzung zu lesen, stellt sich bald Verwunderung ein. Was folgt, sind nämlich fast ausschließlich Berichte von Kaisern, Päpsten und Ereignissen, die gerade schon einmal abgehandelt worden waren, nur dass jetzt völlig falsche Jahreszahlen dem Text die Aura einer brandaktuellen Fortsetzung geben. Das Unheil nimmt seinen Lauf, als der kurz zuvor im Chroniktext verstorbene Heinrich VII. in der Fortsetzung einen - nie geborenen - Sohn erhält. Der Kaplan vermerkt bedeutungsschwer: In deme XIF und XLII [1242] iare na godes bort hinrik des keyser hinrikes sone, de souede des namen (fol. 21 Or), quam 7
8
Das Mittelalter 7/2 (2002): Der Schreiber im Mittelalter. Hrsg. von MARTIN J. SCHUBERT (mit einem Verzeichnis wichtiger Titel zur Schreiberfrage), sowie darin JORGEN WOLF: Das ,fürsorgliche' Skriptorium. Überlegungen zur literarhistorischen Relevanz von Produktionsbedingungen, S. 92-109. „Ich kann nicht aufzeichnen, was noch geschehen wird. Mir reicht das Vorliegende. Wer aber in Zukunft lebt, was auch immer dann geschehe, der schreibe das auf, und zwar immer getreuliche Wahrheit." Sächsische Weltchronik. Hrsg. von LUDWIG WEILAND. In: MGH DC 1/2, Hannover 1 8 7 7 , S. 1 - 3 8 4 ( N D
1980).
32
JÜRGEN W O L F
an dat rike und was dar an XV iar.9 Der Kaplan spricht von einem Heinrich als Sohn Kaiser Heinrichs VII. Dieser vermeintliche Heinrich der VIII. regierte angeblich 15 Jahre. Die Berichte haben allerdings einen Schönheitsfehler: Diesen Heinrich VIII. gab es nicht. Die Angaben zum Vater und zur Regierungszeit weisen auf die Spur der Quelle, aus der unser Historiker im Ruhekloster schöpfte. Er scheint Gilberts Chronicon pontificum et imperatorum Romanorum übersetzt zu haben, 10 denn dort heißt es Henricus tempore Pascalis pape, Gelasii et aliorum imperavit annis 15 (S. 133,15f.). Dass tatsächlich dieser Heinrich die Basis der Fortsetzung war, beweisen die folgenden Papst- und Kaiserreihen in unserem Text. Sie stimmen beinahe wörtlich mit Gilbert überein. Aber Gilberts Heinrich (V.) starb bedauerlicherweise bereits 1125. Er war im Jahr 1242 also schon mehr als 100 Jahre tot. Was war geschehen? Fehlten dem studierten Kaplan vielleicht die intellektuellen Fähigkeiten, seine lateinische Vorlage adäquat zu übertragen und dann auch noch passgenau in seine Abschrift der volkssprachlichen Weltchronik einzupassen? Hatte er zuviel von dem im Kloster selbst gebrauten Bier getrunken? Oder können wir hier vielleicht sogar eine planvolle Veränderung historischer Sachverhalte zu einer neue Realität greifen? Letzteres ist wohl auszuschließen, denn jedem halbwegs gebildeten Leser musste sofort auffallen, dass er fast alle Berichte gerade eben im Chroniktext schon einmal gelesen hatte. Was bleibt, sind Rätsel - zumindest wenn man diesen Schreib- und Übertragungsvorgang mit philologischer Ratio erklären wollte. Oder wollte der gelehrte Johannes Vicken seinen vielleicht nicht so gebildeten Mitbrüdern nur einen Streich spielen? Mit Blick auf die Schreibprodukte eines Gabriel Sattler vielleicht eine gar nicht so abwegige Vorstellung, aber konnte unser Johannes Vicken im zisterziensischen Ruhekloster mit einem ebenso ambivalent-ironischen und gleichzeitig hochversierten Rezipientenkreis rechnen wie Sattler (s. u.)? Funktionierte ein solches Verfahren bei einer Chronik überhaupt und waren seine Veränderungen nicht doch einfach nur dumm, fehlerhaft, textzerstörend? Ein vierte Erklärungsvariante kam bis dato noch gar nicht zur Sprache: War das Buch vielleicht nur als Vorzeigeobjekt gedacht, dass nie gelesen werden sollte, denn ungelesen gibt der voluminöse Band ein durchaus beeindruckendes Bild ab?
9
„In dem 1242sten Jahr nach Gottes Geburt kam Heinrich, des Kaiser Heinrichs Sohn, der Siebte dieses Namens, an das Reich und regierte 15 Jahre." Kopenhagen, Det Kongelige Bibliotek, GKS 1 9 7 8 4°. 10 Gilberti Chronicon pontificum et imperatorum Romanorum. Hrsg. von OSWALD HOLDEREGGER. In: M G H S S 2 4 , H a n n o v e r 1 8 7 9 , S . 1 1 7 - 1 4 0 .
33
Der Text in den Fängen der Schreiber
II. V o m L e s e - T e x t z u m S c h a u - B u c h Bei den bekanntermaßen hohen Kosten für Bücher sollte gerade letztere Annahme eigentlich ausgeschlossen sein, aber die folgenden Beispiele werden zeigen, dass wir gerade mit dem ,Nie zum Lesen bestimmt' bei mittelalterlichen Büchern auch und vielleicht gar nicht so selten rechnen müssen. Übertragung hieße dann, einen L e s e -Text in ein S c h a u -Objekt zu überfuhren. Wie wichtig das schouwen11 bei mittelalterlichen Büchern war, belegen übrigens unzählige reich verzierte und bebilderte Prachtcodices. Man denke nur an die vielen Evangeliare und Prachtpsalterien, die im Äußeren ihre heilige Aura jedem sichtbar zeigen. „Das Wort Gottes wohnt zwischen den Buchdeckeln wie ein Heiliger in seinem Reliquienschrein. [...] Das Buch erscheint jenseits der Schrift, die es vermittelt, als materieller Gegenstand von höchster Kostbarkeit, der eine magische Bedeutung hat"12. Einige dieser Psalterien und vor allem die Marienleben scheinen sogar als Reliquien genutzt bzw. Amulette getragen worden zu sein. 13
11 Zum Bedeutungsspektrum von mhd. schouwen vgl. LEXER II, 777-779, und BMZ II, 197b und 198b. Neben der allgemeinen Bedeutung „sehen, schauen, betrachten" ist im vorliegenden Kontext auch ein mit dem Rechtsbereich verwobenes, auf das Gesehene (auch auf das Textinnere?) zielendes Verständnis im Sinn von „besichtigen, prüfen von seite der obrigkeit" von Bedeutung. Insgesamt steht das visuelle Erlebnis im Vordergrund bzw. mehr oder weniger eindeutig in Opposition zum lesen. Nur wenn buoch das Objekt des Verbs schouwen ist, scheint das kognitive Erfassen des Wortlauts (primär im meditativen Sinn) zumindest unterschwellig auch mitgedacht zu sein. So könnte beispielsweise die Passage in Thomasins Welschem Gast (V. 14695f.) zu verstehen sein, wenn es dort heißt: vrume ritr und guote vrouwen / und wise phaffen suln dich [das Buch] schouwen; Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hrsg. von HEINRICH RUCKERT, Quedlinburg, Leipzig 1852 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 30) (ND 1965). Vgl. MICHAEL CURSCHMANN: Hören - Lesen - Sehen. Buch und Schriftlichkeit im Selbstverständnis der volkssprachlichen literarischen Kultur Deutschlands um 1200. In: PBB 106 (1984), S. 218-257, hier bes. S. 243f. und S. 253f. 12 Zum auratisierten Buchkörper vgl. etwa NIKOLAUS LARGIER: Der Körper der Schrift. Bild und Text am Beispiel einer Seuse-Handschrift des 15. Jahrhunderts. In: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER/HORST WENZEL, Stuttgart, Leipzig 1999,
S.
241-271;
ROSAMOND
MCKITTERICK:
The
Carolingians
and
the
written
word,
Cambridge 1989, S. 148-164, sowie HORST WENZEL: Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 344352 und bes. S. 350 (Zitat). 13 Priester Wernher empfiehlt z. B. in seinem Marienleben in einem längeren Abschnitt zwischen dem zweiten und dritten liet sein Werk den frouwen wie eine heilkräftige Reliquie zur Aufbewahrung; vgl. dazu NIKOLAUS HENKEL: Religiöses Erzählen um 1200 im Kontext höfischer Literatur. Priester Wernher, Konrad von Fußesbrunnen, Konrad von Heimesfurt. In: Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter. Internationales Symposium, Roscrea 1 9 9 4 . H r s g . v o n T I M O T H Y R . JACKSON/NIGEL F. P A L M E R / A L M U T SUERBAUM, T ü b i n g e n
1996,
S. 1-21, hier S. 5, Anm. 18. Zum „amuletthaften Gebrauch" des Marienlebens sowie generell zur „sensorischen Aneignung des Wortes" HORST WENZEL: Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 235f.
34
JÜRGEN W O L F
Im laikal-höfischen Umfeld spielt das Buch als eigenständiges visuelles Erlebnis seit der einsetzenden Verschriftlichungswelle im ausgehenden 12. Jahrhundert eine große Rolle. So wird schon Veldekes £«ea.s-Roman einer frouwen/ ze lesene und ze schouwen (Eneas, 352,35f.; Herv. v. Verf.) gegeben. 14 Eine Reihe kostbar ausgestatteter Epen-, Lyrik- und Reimchronikhandschriften dokumentieren in der Folgezeit die wachsende Bedeutung des Buch- bzw. Textkörpers fur bestimmte repräsentative, performative sowie erbaulich-unterhaltende Rezeptionszusammenhänge. Vielleicht am offensichtlichsten wird die überragende Rolle des schouwen im Rechtskontext. Dem Visuellen kommt dabei oft mehr noch als dem Wort, dem Text, eine legitimierende Funktion zu. Auf der Suche nach den Wurzeln eines solchen auf das schouwen fokussierten Rezeptionsmodus wird man an den Gottesdienst und die Präsentation von Rechtstiteln zu denken haben: Urkunden erhielten ihre Geltung seit jeher in der Verbindung von Vorlesen bzw. Wort (Wortlaut, Arenga/Formeln, Zeugenlisten) und Schauen bzw. Bild (Urkundengestalt, Siegel, Schrift, Format), also gleichsam in einem bimedialen audio-visuellen Performanzakt. Wenn Conrad von Leiselheim in seiner 1287 fur Gregor von Falkenstein angefertigten Schwaben.v/?;ege/-Handschrift alle die anspricht, die iemer diz buch angesehen oder hören gelesen (Schwabenspiegel, La fol. 53v), ist hier offensichtlich eine gängige Praxis gespiegelt. Das angesehen steht dabei nicht zufallig an erster Stelle.15 Aber kann ein mittelalterliches Buch vollständig auf das schouwen reduziert sein? Folgen Sie mir auf der Suche nach solchen Schau-Büchern zunächst in eine klerikal-laikale Interferenzzone, in der nicht weniger als im zisterziensischen Ruhekloster Schrift und Lesefahigkeit als konstitutives Element der Alltagsbewältigung vorausgesetzt werden kann: Eine im 15. Jahrhundert für das Zisterzienserinnenkloster Lichtenstern (Kreis Heilbronn) aus mehreren Faszikeln zusammengebundene Sammelhandschrift (Stuttgart, Württ. LB, Cod. brev. 89) enthält zu Beginn einen Ende des 14. Jahrhunderts geschriebenen 29 Blätter umfassenden Faszikel mit Kalendar und Psalter.16 Ein erster Blick a u f dieses einstmals selbständige, vielleicht aus dem Besitz einer adligen Dame stammende Psalterbuch lässt keine diskreditierenden Auffälligkeiten erkennen. Ganz im
14 Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Nach dem Text von LUDWIG ETTMOLLER ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von DIETER KARTSCHOKE, Stuttgart 1986. 15 Sog. Laßbergscher Codex = Karlsruhe, Badische LB, Cod. Donaueschingen 738 (dazu gehört das Registerbruchstück Cod. Donaueschingen D 10). 16 Ausführliche Beschreibung des Codex in: Die Handschriften der ehemaligen Hofbibliothek Stuttgart. Bd. 1: Codices ascetici. Teil 1 (HB I 1-150), unter Mitarb. von WOLFGANG IRTENKAUF
hrsg.
von
JOHANNE
AUTHENRIETH/VIRGIL
ERNST
FIALA,
Wiesbaden
1968
(Die
Handschriften der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart II. 1/1), S. 113-115. Für die Hinweise auf diesen Codex danke ich ganz herzlich Dr. Felix Heinzer (Handschriftenabteilung Württ. LB Stuttgart).
Der Text in den Fängen der Schreiber
35
Gegenteil gibt sich der Codex als sauber und sehr sorgfaltig geschriebenes, mit Fleuronee-Initialen, roten Majuskeln und roten zwei- bis dreizeiligen Lombarden ausgestattetes Kleinod zu erkennen. Ein geradezu ebenmäßiges Aussehen verleihen dem Büchlein die perfekt im Blocksatz geschriebenen Spalten (Abb. 1). Auch dieses Faktum würde keine besondere Aufmerksamkeit verlangen. Entsprechende Psalterien waren für ihre Besitzer(innen) und Nutzer(innen) beinahe reliquienartige, alltägliche Begleiter (s. o. Anm. 1). Doch wieder gewahrt man beim genaueren Hineinsehen i η das Buch, beim Lesen, dass mit diesem Buch etwas nicht stimmt: Um eine optimale, ebenmäßige Spaltenfullung zu erreichen, hatte der Schreiber den Text jeweils nur bis zum Spaltenende ausgeschrieben. Mitten im Satz, mitten im Wort brach er ab, sobald der vorgegebene Spaltenrand erreicht war. Was blieb, waren verstümmelte Sätze - kaum zu lesen, kaum zu verstehen? Ob der Psalter damit unlesbar wurde, wäre allerdings kritisch zu hinterfragen, denn bei der aktiven Präsenz der Psalmen im Kloster wie am Hof reichte für das Verstehen ein anzitierter Vers, vielleicht sogar ein anzitiertes Stichwort sicher aus. Die Nutzerinnen scheinen am kryptischen Text jedenfalls keinen Anstoß genommen zu haben. Eine wichtigere Rolle spielte die Optik dieses Buchs. Es war anscheinend von so einzigartiger Schönheit, dass es die Lichtensterner Zisterzienserinnen viele Jahrzehnte nach seiner Fertigstellung an die Spitze ihrer großen Brevier-Sammlung stellten. Die Frage, ob man ein solches Buch lesen konnte bzw. ob es überhaupt zum Lesen gedacht war, stellte sich dabei anscheinend nicht. Um so deutlicher werden wir diese Frage bei dem dritten Exemplum zu stellen haben. Es ist bekannt, dass heldenepische Texte besonders anfällig für Veränderungen - oder wie JOACHIM BUMKE es umschreibt - für Fassungsbildungen waren. 17 Man mag sich nun darüber streiten, ob die Nähe zur mündlichen Aufführungssituation Grund für dieses Phänomen ist oder ob parallel kursierende Erzählstoffe permanent in die Schriftfassungen hineinwirkten. Eine Erklärungsvariante wurde allerdings bis dato noch nicht in die Diskussion eingebracht: B u c h m o d e n . Lassen sie mich am Beispiel der Virginal-Oberlieferung vorführen, wie wichtig das Äußere für das Innere werden konnte: Auch bei der Virginal erscheint die Variabilität der einzelnen Textfassungen geradezu konstitutiv. Die auffälligste Fassung bietet dabei ein Kopenhagen-Ebstorf-
17 Vgl. grundlegend JOACHIM BUMKE: Der unfeste Text. Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. In: .Aufführung' und .Schrift' in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 1994. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische Symposien Berichtsbände 17), S. 118-129, und Ders.: Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin, New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8/242).
36
JÜRGEN W O L F
Waldecker-Discissus 18 aus dem 15. Jahrhundert. 19 Der mitüberlieferte Rosengarten lässt vermuten, dass wir es hier mit dem Rest eines umfänglicheren Heldenbuchs zu tun haben. Der Virginal-Text weist durchgehend tief greifende Veränderungen auf. Getreu der von B U M K E angedachten Erklärungsmuster möchte man an ein Produkt der Auffuhrungssituationen denken. Aber erneut bringt ein genauerer Blick in den Text überraschende Ergebnisse: Die Buchseite sieht von Ferne beeindruckend aus, die Schrift ist sauber, Gliederungselemente schließen den Text vorbildlich auf (Abb. 2). Doch versucht man den Inhalt zu verstehen, scheint man schnell an das Ende der eigenen kognitiven Fähigkeiten gelangt zu sein: zu kompliziert, zu schwierig - oder? Tatsächlich erweisen sich fast alle Strophen als durchgehend unsinnig, geradezu unleserlich und auf jeden Fall als unvortragbar. Eine wahllos herausgegriffene Strophe mag den eigentümlichen Befund verdeutlichen: Abdruck nach SCHRÖDER (Anm. 16)
Str. 363
Übersetzung:
1-132"
(S)y waren trawrig vnd vnfro Vnd clagten alle ainander do Den grossen kumber strenge Die brayte vnd auch die lenge Solt ich erfaren tausent lant Sprach der getrewe hiltbrant Ich müz erfarn wo er sey Ich werde lebens frey Solt ich darumb sterben Oder aber hail erwerben Vil getrewer helfreich Gen muter helt bit ich dich Weyse mich den rentweg
1 2 3 6 4 5 7 9 8 10 11 13 12
Sie waren traurig und unfroh Und klagten alle untereinander Den großen Kummer Der Breite und auch der Länge nach Sollte ich durchsuchen tausend Länder Sprach der getreue Hildebrand Ich muß erfahren, wo er sei Ich werde des Lebens frei Sollte ich deswegen sterben Oder aber Heil erwerben Sehr getreuer Helfreich Zur Mutter, Held, ich bitte dich Weise mir den rentweg [Erfolgsweg?]
Sind wir erneut einem biertrunkenen Schreiber auf der Spur, der die Zeilen seiner Vorlage nicht adäquat aufs Pergament bringen konnte, oder war die Vorlage korrupt? Beide Thesen erweisen sich schnell als irrig. Das Problem liegt auf einer ganz anderen Ebene. Das Problem ist der strophische Text, und es sind die z. T. sehr ungleichen Langzeilen des Berner Tons. Sie erwiesen sich bei der
18
Marburg, Hess. Staatsarch., Best. 147.1.6. Aus der gleichen Handschrift stammen die Fragmente Kopenhagen, Kongelige Bibl., Fragmenter 18 I, und Ebstorf, Klosterbibl., Ms. VI 8a. Für den Hinweis auf die eigentümliche Textgestalt danke ich Uta Störmer-Caysa (Mainz) ganz herzlich. 19 Beschreibung und Abdruck in EDWARD SCHRÖDER: Waldeckische Findlinge 1-IV. In: Z f d A 54 (1913), S. 4 1 2 ^ 1 2 6 , hier S. 4 1 2 ^ 1 9 (Nr. I, mit Abdruck); vgl. auch KLAUS KLEIN: Waldecker Findlinge im Marburger Staatsarchiv. In: Z f d A 1 1 8 ( 1 9 8 9 ) , S. 4 9 - 5 6 , h i e r S . 51. Die Waldecker Fragmente liegen komplett digitalisiert vor und können im Internet unter http://www.unimarburg.de/hosting/mr/mrsa/fragm.html abgerufen werden. 20 Hier ist die korrekte Reihenfolge der Verse wiedergegeben.
Der Text in den Fängen der Schreiber
37
Anlage eines schönen, ebenmäßigen Buchs - etwa nach dem Vorbild des Lichtensterner Psalters - als unüberwindliches Hindernis. 21 Bei großformatigen Prachthandschriften, wie der vorliegenden Virginal-Wersion mit einem Blattformat von mehr als 50 χ 35 cm, spielte das äußere Erscheinungsbild aber eine zentrale Rolle, denn dem Buch kam qua Aufwand schon von selbst eine Repräsentationsfunktion zu. Um die intendierte Prachtwirkung sicherzustellen, mussten Layout, Ausstattung und Einrichtung der aktuellen Buchmode entsprechen. Das war mit einem strophischen, langzeiligen Heldenepos nicht zu machen außer man formte den Text gemäß der neuen Layout-Anforderungen zu einem Reimpaarepos um. 22 Unser Schreiber ging das Vorhaben akribisch an. Er suchte sich in den Strophen immer die entsprechenden Reimpaare, zerschlug die Strophen und montierte den Text nach diesem Muster kurzerhand neu zusammen. Da das Verfahren augenscheinlich unter rein gestaltungstechnischen Prämissen durchgeführt wurde, blieb dabei der Text - von Sinnzusammenhängen wage ich nicht zu sprechen - auf der Strecke. Was wir haben, sind optisch s c h ö n e Buchseiten, die man nur nicht lesen konnte oder sollte. Zu denken gibt, dass wir es hier weder mit manieristisch-frühneuzeitlichen Verfallserscheinungen noch mit Zufällen oder singulären Fehlleistungen einzelner Schreiber oder Skriptorien zu tun haben. Ganz im Gegenteil scheint man mit diesen Einzelbeobachtungen grundsätzlichen Begleiterscheinungen der mittelalterlichen Schriftkultur auf der Spur. Ähnliche, auf Äußerlichkeiten fokussierte Umformungsanstrengungen kann man beispielsweise schon im 13. Jahrhundert bei den Überarbeitungen der Kaiserchronik beobachten oder bei der Entstehung des Rappoltsteiner Parzifal verfolgen: Die B- und C-Versionen der Kaiserchronik scheinen bereits ganz in diesem Sinne umgestaltet: Ein erster Redaktor glättete schon um 1200 Reime und stilistische Unebenheiten. Gleichzeit wurden die ζ. T. sehr unregelmäßigen Verse auf ein gleichförmige(re)s Versmaß zurechtgeschnitten. 23 Nur so war die unbedingt gewünschte zweispaltige Einrich-
21
Seit der zweiten Hälfte des 13. Jhs. waren speziell auf Reimpaarverse und Spalten im Blocksatz zugeschnittene Gestaltungsmuster in Mode gekommen. Moderne Epencodices zeichneten sich bald flachendeckend durch ebenmäßige Zeilenblöcke in zweispaltiger Einrichtung mit Randausgleich, abgesetzten und ζ. T. ausgerückten Anfangsbuchstaben sowie alternierenden, ζ. T. farbig herausgehobenen Doppelversblöcken aus. 22 Ähnliche Versuche, die Optik den aktuellen Sehgewohnheiten (Moden) anzupassen (vgl. detailliert zu diesem optischen Problem JÜRGEN WOLF: Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachlichen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jh., Habilitationsschrift masch. Marburg 2002), sind etwa bei den jüngeren Handschriften des Rolandsliedes zu beobachten, nur dass der Schreiber im Marburger Fragment (Marburg, Staatsarchiv, Best. 340 von Dörnberg, Η 1 Nr. 2; vgl. mit Abdruck KLAUS NASS: Die Fragmentenfunde aus dem Nachlaß Martin Last. In: ZfdA 118 [1989], S. 286-318, hier S. 289-295) die Integrität des Texts nicht antasten wollte. Was dabei herauskam, war ein durch überlaufende Zeilen, Kürzungen und Verrenkungen aller Art recht merkwürdig aussehendes ,topmodernes' Exemplar in zweispaltiger Einrichtung mit abgesetzten Versen. 23 Zur Überlieferung der B-Fassung vgl.: Kaiserchronik
eines Regensburger Geistlichen. Hrsg.
v o n E D W A R D SCHRÖDER. In: M G H D C 1/1, H a n n o v e r 1 8 9 2 ( N D 1 9 6 4 ) , S. 1 - 7 8 , h i e r S . 1 9 - 2 6 ,
38
JÜRGEN WOLF
tung mit abgesetzten Versen realisierbar. Inhaltlich erfuhr der Text allerdings keine Besserung. Eher das Gegenteil war der Fall. SCHRÖDER charakterisiert den Bearbeiter des J ü n g e r e n text(es) in reinen reimen" zu recht als „roh und verständnislos, durch zahllose fortlassungen und zusammenziehungen hat er den umfang des werkes um etwa 1600 verse vermindert" 24 . Wichtig war diesem Redaktor allein das Faktum der ,Höfisierung', und zwar innen (Reim, Rhythmus) wie außen (Layout). Ähnliche Prämissen leiteten ein halbes Jahrhundert später den C-Redaktor. Noch weiter gehen schließlich die buchtechnischen Eingriffe bei der Herstellung des Rappoltsteiner Parzifal, MARTIN SCHUBERT hat gemeinsam mit DORIS OLTROGGE sehr genau nachweisen können, dass das Gros der vielen Radierungen und Überklebungen im Codex nicht dazu diente, den Text zu korrigieren oder zu ergänzen, sondern es ging fast ausschließlich darum, das Layout bzw. die Optik zu optimieren. 25 So wurden zu lange Verse gekürzt, zu kurze Verse verlängert, überlaufende Zeilen und Seiten neu gestylt. Der wesentliche Unterschied zu unserem F;>g;>ia/-Discissus ist hier allerdings, dass der mit der Layout-Aufbereitung beauftragte Schreiber durchaus kein literarischer Analphabet war und er mit einem hochmögenden, intelligenten Auftraggeber- und Leserkreis rechnen musste. Seine Veränderungen machen deshalb fast immer - auch - Sinn. Bei den stets vor Ort die Arbeiten beobachtenden Auftraggebern Wisse und Colin konnte er sich wohl nichts anderes leisten. In der K;>g/«a/-Handschrift waren diese höfischen Modeanforderungen in weit radikalerer Weise umgesetzt worden. Entstanden war ein s c h ö n e s Buch, das den neuesten höfischen Moden entsprach. Dass der Text durch die Übertragung unleserlich, unsinnig wurde, scheint dabei nicht weiter gestört zu haben. Die Handschrift war ihrer Funktion als Überlieferungsträger entkleidet, die Tradierungs- in eine Repräsentationsform übertragen. Da vergleichbare Fälle schon bei den angesprochenen Umgestaltungen der Kaiserchronik sogar als großflächige Programme faßbar werden, drängt sich unwillkürlich die Frage nach dem Nutzungskontext solcher , Bücher' auf. Waren sie im Extrem - und so wird man die K/>g;«a/-Handschrift klassifizieren wollen - nur als Zierexemplare gedacht, etwa um die Gäste eines Hoffests mit der äußeren Pracht zu beeindrucken, einen Rechtsakt mit dem Verweis auf ein herrliches Buch zu legitimieren oder die Verbindung zu Gott im auratisierten Codex zu schouwen? Und machte ein solches Buch letztlich überhaupt nur in einer vom Lesevorgang getrennten Rezeptionssituation wirklich Sinn?
und KURT GÄRTNER: Die Kaiserchronik mcere.
und ihre Bearbeitungen. In: bickelworl
und
wildiu
F S E b e r h a r d N e l l m a n n . H r s g . v o n DOROTHEE LINDEMANN/BERNDT VOLKMANN/KLAUS-
PETER WEGERA, G ö p p i n g e n 1 9 9 5 ( G A G 6 1 8 ) , S . 3 6 6 - 3 7 9 , h i e r S. 3 6 7 . 24
SCHRÖDER (ANM. 2 3 ) , S .
25
DORIS OLTROGGE/MARTIN J. SCHUBERT: V o n d e r R e f l e k t o g r a p h i e z u r L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t .
Varianzen im Rappoltsteiner
19,43^5.
Parzifal. In: Wolfram-Studien 17 (2002), S. 347-376.
Der Text in den Fängen der Schreiber
39
Fazit: Von trunkenen Schreibern und Büchern zum Nicht-Lesen Alle vorgestellten Bücher vereinigt die Tatsache, dass sie ihre Leser vor gewaltige kognitive Probleme bei dem Umgang mit ihnen gestellt haben dürften. Es fragt sich sogar, ob sie überhaupt Leser hatten, ob sie überhaupt gelesen werden wollten. Das Buch unseres studierten Kaplans Johannes Vicken führte seine Leser beispielsweise so offensichtlich in die Irre, dass eine Frage nach der Intention des Schreibers geradezu ins Leere laufen muss. Hier hatte vermutlich ein verwirrter, biertrunkener, vielleicht schon von Demenz gezeichneter Schreiber das Werk zugrunde gerichtet. Das Beispiel eines Gabriel Sattler sollte uns allerdings vor zu schnellen Pauschalurteilen aus der Sicht des modernen, ganz auf die Rationalität des geschriebenen Textes fixierten Philologen warnen. Wie OTTO NEUDECK in seinem Vortrag Der , verkehrte' Text. Zum grotesken Überlieferungsstil des Schreibers Gabriel Sattler auf der Freiburger Wolfram-Tagung beeindruckend zeigen konnte, war Sattlers , Schreibunsinn' keinesfalls ein Produkt von Dummheit, Demenz oder Alkohol, er hatte vielmehr Methode. 2 6 Sattler konterkariert mit gezielten, bewussten Eingriffen die Aussage des Texts und verkehrt ebenso zielsicher die Zeichnung der Protagonisten ins Gegenteil. Völlig gegen den Textsinn gesetzte Initialen und Cadellen, deren Fratzen den Leser schelmisch anlächeln, lassen uns etwas von der Intentionalität dieser Schreibereingriffe erahnen. NEUDECK spricht hier von „Karnevalisierung". Hinter der Fassade des .Werks' entsteht so eine für eine ganz bestimmte Rezeptionssituation rund um den literarisch hochmögenden Rottenburger Hof der Pfalzgräfin Mechthild zugeschnittene subversive Parodie von Werk, Buch und Text sowie letztlich von höfischer Literatur insgesamt. Im zisterziensischen Ruhekloster war so eine Atmosphäre freilich nicht zu finden.
Eine andere Qualität haben die Psalter- und K/rg/na/-Auffäl 1 igkeiten. Im Lichtensterner Psalter konnte die Integrität des Texts anscheinend ohne größere , Sinnverluste' bewusst zugunsten eines ebenmäßigen Layouts geopfert werden. Die Psalmen waren bei clerici und laici derart präsent, dass ein anzitierter Vers zum Funktionieren ausreichte. Das gewählte Verfahren ist dennoch bemerkenswert, denn es verleiht dem Buchkörper gegen den Text eine überragende Bedeutung. Bei der F/>giwa/-Handschrift scheint der Text bzw. die Integrität des Werks schließlich vollständig nebensächlich. Entscheidend ist allein das äußere Erscheinungsbild der Seite bzw. des Buchs. Der Codex scheint nur noch für einen Analphabeten oder zumindest allein für das schouwen Sinn zu machen so wie wir dies auch heute noch kennen, wenn man sich herrliche Buchrücken in die Vitrine des Wohnzimmerschranks stellt, diese aber nichts als geistige Getränke enthalten. Die Funktionalität des Buchs erhält damit eine ganz eigene, für einen Philologen kaum akzeptable Wendung: Übertragen werden hier nicht
26
Vgl. auch M A R T I N BAISCH: Gott lert den man daz er sy Mit truwen sinem dienner by. Gabriel Sattler: Der sprechende Schreiber. In: S C H U B E R T (Anm. 7), S. 7 4 - 9 1 .
40
JÜRGEN WOLF
Werke, Texte, Buchstaben v o n e i n e m C o d e x in einen anderen, v o n einer Sprac h e in eine andere oder v o n einer V e r s i o n in eine andere, sondern übertragen werden Textaturen in einen optischen R e i z b z w . n o c h nicht einmal das. V i e l leicht markiert das mit den Eingriffen intendierte v i s u e l l e Erlebnis auch nur die Tatsache: B u c h . 2 7 W i e bei d e m
K;>g/«a/-Beispiel auf die Spitze
getrieben,
spielte schließlich das, was z w i s c h e n den B u c h d e c k e l n an T e x t e n stand, keine R o l l e mehr. D a s B u c h scheint als Schauobjekt in eine aliterarische, vielleicht sogar analphabetische N u t z u n g s d i m e n s i o n übertragen. W a s freilich nur funktionieren konnte, w e n n das B u c h auch tatsächlich o h n e Leser blieb. M ö g l i c h e r w e i s e wurde unserem g e w a l t i g e n H e l d e n b u c h d i s c i s s u s im K ö n i g s f o r m a t genau diese Tatsache nur w e n i g e Jahre nach seiner Fertigstellung - b z w . vielleicht sogar n o c h davor 2 8 -
z u m Verhängnis: Er wurde einer
angemesseneren
V e r w e n d u n g zugeführt: zerschnitten, als Einbanddeckel fur Bücher, Akten und Urkunden. D i e Übertragung d i e s e s B u c h s in eine - textlose - N u t z u n g s d i m e n sion hatte offensichtlich nicht funktioniert. M ö g l i c h e r w e i s e war j e m a n d auf die absurde Idee g e k o m m e n , dieses B u c h lesen zu wollen.
Abstract From the very moment of their completion onwards, medieval texts - even ancient classics and works of famous authors - were exposed to forces of change. Possible changes range from unintended scribal errors to planned, large-scale revisions, from requested updates to counterfeits - every change distorting and altering the meaning of the original text. The article deals with the 'dark side' of manuscript production: scribes who, in order to produce a visually impressive manuscript, sacrifice a text's meaning. The examples discussed will show that medieval books were frequently not designed to be read: Passages were added to create a particularly voluminous book; words, lines, and passages were rearranged, added, or left out to fit a text into a certain layout. As a result, the meaning cannot be accessed and the manuscript is transferred explicitly into an aliterate, even illiterate sphere of use. Transfer thus would come to mean a process whereby a text originally intended to be read becomes a mere visual object.
27 In diesem Zusammenhang wäre auf einige besonders prachtvoll ausgestattete Rechtshandschriften wie den Lüneburger Sachsenspiegel (vgl. ULRICH-DIETER OPPITZ: Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters. Bd. I: Beschreibung der Rechtsbücher, Bd. II: Beschreibung der Handschriften, Bd. III/1.2: Abbildungen der Fragmente, Köln, Wien 1990-1992, Nr. 977, und ULRIKE LADEMESSERSCHMIED: Meene sassesch lantrecht - illuminierte Sachsenspiegelhandschriften in Lüneburger Ratsbesitz. In: Alles was Recht ist. 750 Jahre Stadtrecht in Lüneburg, Lüneburg 1997, S. 125-147) oder das Leobschützer Rechtsbuch (freundlicher Hinweis von Volker Honemann [Münster] in der anschließenden Diskussion) hinzuweisen, die keine Benutzungsspuren zeigen und/oder schlechte bzw. sogar streckenweise korrupte Rechtstexte tradieren. Alles spricht dafür, dass diese Bücher nie (?) gelesen wurden, dessen ungeachtet als ν i s u e 11 e Beglaubigungsobjekte für Rechtsvorgänge aller Art dennoch eine wichtige - textfreie - Funktion hatten. 28 Die vorgesehenen dreizeiligen Stropheninitialen kamen nicht mehr zur Ausführung (vgl. Abb. 2). Ausgeführt (vermutlich von der Schreiberhand) sind nur die Rubrizierungen.
Der Text in den Fängen der Schreiber
tätus utvwnodn iaggttjgtmMim tu l ^ d t M t j h w m Ά te r
fciiu
*
« ä t i e f i t ^ r e t e ä.
( r
fi Ott
uptuwutash ombadutv ύ Cdt& e r ijq» &itnttm lutu iuccarc [raet&wfattf tno-t t W ' t f e t t r t maete&uäi mam t l i } ' t ^ « « ö u u ß p g t a u t cwdfc
- 5 _atöte$m t m n f t c m t t ι ί ώ Γ
^ A f l ^ a f e t ^ ^ m ä
β^ j i a f i ^ t c r t i a t o y w M ^ W
s^jttiytE-iB iu| uifiom
_ ψ üuanfaatrfotnfattt m i h n e
Ij^fttttrngm-
jigaatg i f r %
Jefgittmdiaaftfrmj
f
4 (htttiTr wgcö t c m e r p n q
^
b ,
41
t
nog I m n a t ;
t j f t t u i « froraStt t u m tf o l i r f u^tuitpmiioMmäcrttr
ec-Romancn Chretiens und Hartmanns und zum Prosa-Lancelot. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler C o l l o q u i u m
1 9 9 3 . H r s g . v o n K U R T GÄRTNER/INGRID
KASTEN/FRANK
164
STEFANIE SCHMITT
kann die Suche nach einem gemeinsamen Prinzip, auf das sich die zahlreichen, in vieler Hinsicht sehr unterschiedlichen Beispiele zurückführen lassen, noch nicht als abgeschlossen gelten. Mein Ziel besteht in diesem Beitrag nicht darin, Differenzen zu beschreiben und längst bekannte Befunde auszubreiten, sondern einen Erklärungsansatz zu skizzieren. Auch das hat man, mit unterschiedlichen Ergebnissen, bereits versucht: In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts kam man dabei etwa auf den Niederschlag ,,nationale[r] Unterschiede" 2 in der Dichtung. VICTOR KLEMPERER hält so etwa 1928 zum Rolandslied fest: Dieser französische Dichter schuf aus dem germanischen Stoffe ein äußerst französisches Werk, in dem einige spezifisch französischen Charakterzüge, die leidenschaftliche Staatlichkeit, die Vermischung des religiösen Gefühls mit dem nationalen, die Freude an der heroischen Geste, schon prägnant hervortreten. Roland ist das Urbild eines französischen Offiziers, er ist ein Patriot und Nationalist, dem noch im Sterben das Vaterland vor und über dem Himmel steht. 3
Das mittelhochdeutsche Rolandslied
charakterisiert er unter dem gleichen Blick-
winkel: Diese Verdeutschung ging nicht ohne starke innerliche Veränderung vor sich. Der Deutsche wußte mit dem französischen Nationalgefühl nichts Rechtes anzufangen; bei ihm trat das christliche Element, die Kreuzzugsstimmung wesentlich mehr in den Vordergrund. 4
HEINRICH HEMPEL spricht 1 9 3 5 vom ,,rationale[n] Naturalismus" als „Grundzug
der französischen Epen", dem in den deutschsprachigen Dichtungen ein „emotionaler
Idealismus"
korrespondiere. 5
WILHELM KELLERMANN
sieht
verglei-
chende Untersuchungen zu altfranzösischen und mittelhochdeutschen Dichtungen in dieser Tradition auch nicht in erster Linie als Beitrag zur Literaturwissenschaft oder Literaturgeschichte, sondern als Beitrag zu einer „Wesensfrage"6: Die Forschungslage ist in genügend vielen Fällen so klar, daß die Frage naheliegt, ob es nicht möglich ist, in den zahlreichen Ergebnissen dieser Paarvergleichungen eine innere Bindung, eine nationale Gemeinsamkeit zu finden.7
SHAW,
Tübingen
1996,
S. 5 9 - 7 3 ;
ELISABETH SCHMID: E i n
trojanischer
Krieg
gegen
die
L a n g e w e i l e . In: M e d i ä v i s t i s c h e K o m p a r a t i s t i k . F S F r a n z J o s e f W o r s t b r o c k . Hrsg. von WOLFGANG HARMS/JAN-DIRK MÜLLER, Stuttgart, L e i p z i g 1 9 9 7 , S . 1 9 9 - 2 2 0 . 2
HEINRICH HEMPEL: F r a n z ö s i s c h e r und D e u t s c h e r Stil im h ö f i s c h e n E p o s . In: G R M 2 3 ( 1 9 3 5 ) , S . 1 - 2 4 , hier S . 2 .
3
VICTOR KLEMPERER: Art.
. R o m a n i s c h e Literaturen
( E i n f l u ß a u f die d e u t s c h e ) ' .
In: ' R L 3
( 1 9 2 8 / 1 9 2 9 ) , S . 7 3 - 1 0 7 , hier S . 7 5 f . 4
KLEMPERER ( A n m . 3 ) , S . 7 6 .
5
HEMPEL ( A n m . 2 ) , S . 2 f .
6
WILHELM KELLERMANN: A l t d e u t s c h e und a l t f r a n z ö s i s c h e Literatur II. E p i s c h e V e r g l e i c h s p r o b l e m e und V e r g l e i c h s a r b e i t e n . In: G R M 2 6 ( 1 9 3 8 ) , S . 2 9 3 - 3 1 7 , hier S . 2 9 4 .
7
Ebd.
Übertragungen in literarische Kontexte
165
Die literaturwissenschaftlichen Befunde werden hier in den Dienst eines politisch-nationalistischen Erkenntnisziels gestellt. Später folgt die von MICHEL HUBY angestoßene Diskussion um die so genannte adaptation courtoise', bei der die Unterschiede zwischen Vorlage und Übertragung unter rein erzähltechnischem Blickwinkel betrachtet werden: Laut HUBY strebten die deutschen Dichter eine unveränderte Bewahrung der Vorlage an; etwaige Veränderungen resultierten aus Übersetzungsproblemen, weil mit den ungenügenden Mitteln der deutschen Sprache die Aussage der französischen Vorlage wiedergegeben und gegebenenfalls verdeutlicht werden müsse: 8 L'histoire qu'ils racontent n ' e s t pas un pretexte ä exprimer une conception pers o n n e l s du sujet ou du monde, eile est acceptee telle q u ' e l l e se presente dans le modele et si par hasard l'auteur qui adapte prend la liberie de changer le fond d ' u n passage ou de l'autre, il le fait avec prudence, assez rarement et plutöt pour rendre encore plus net le sens dans lequel la source voulait mener ses lecteurs. [ . . . ] Enfin, etant d o n n e qu'il adapte en se tenant toujours fort pres du texte franpais, l'adapteur se debat au milieu de problemes linguistiques tres importants qui ont un role determinant ä j o u e r et q u ' i l peut resoudre ä l'aide de p r e c e d e s multiples qui sont Γ arsenal c o m m u n ä tous les poetes et qui ne font bien entendu q u e croitre et multiplier avec les annees. 9
Bei RENE PERENNEC kommt mit dem sozialgeschichtlichen Kontext der französischen und deutschen Dichtungen wieder eine außerliterarische Kategorie ins Spiel. Unterschiede zwischen Vorlage und Übertragung führt er auf eine Anpassung an ein anderes sozial- und kulturgeschichtliches Umfeld in den deutschen Dichtungen zurück. 10 In allen hier stellvertretend kurz in Erinnerung gerufenen Arbeiten kommt ein für literarische Werke entscheidender Faktor zu kurz: der literarische Kontext. Damit verbunden ist als weiteres Problem eine Einseitigkeit der Perspektive, die die mittelhochdeutschen Übertragungen fokussiert und die französischen Dichtungen hauptsächlich als Vorlagen und nicht als eigenständige, selbst in einen bestimmten (literarischen) Kontext eingebundene Werke wahrnimmt. Ansätze zur Überwindung dieser einseitigen Blickrichtung gibt es in neueren A r b e i t e n v o n VOLKER MERTENS u n d PETER KERN, d i e a m B e i s p i e l m i t t e l h o c h -
deutscher Minnelieder mit romanischen Vorlagen bzw. fur den bei Chretien
8
HUBY (Anm. 1); vgl. auch die Auseinandersetzung mit Alois WOLF: Die .adaptation courtoise'. Kritische Anmerkungen zu einem neuen Dogma. In: GRM N. F. 27 (1977), S. 257— 83, und die Erwiderung von HUBY: Zur Definition der .adaptation courtoise'. Kritische Antwort auf kritische Anmerkungen. In: GRM N. F. 33 (1983), S. 301-322, mit der Entgegnung von WOLF, ebd., S. 323f. Kritisch zu HUBYS Konzept verhält sich auch WIEBKE FREYTAG: ZU Hartmanns Methode der Adaptation im Erec. In: Euphorion 72 (1978), S. 227-239.
9
HUBY ( A n m . 1), S. 4 4 1 .
10 Vgl. die Analysen von PERENNEC (Anm. I), insbesondere die Zusammenfassung ebd., Bd. 2, S. 2 8 1 - 2 8 5 .
166
STEFANIE SCHMITT
nicht vorgebildeten Akzent auf den Themen ere und lant in Hartmanns Erec auf die Rolle der jeweiligen literarhistorischen Situation hingewiesen haben."
I
Dass die mittelhochdeutschen Übertragungen altfranzösischer Vorlagen einem modernen Übersetzungsbegriff und modernen Vorstellungen von Adäquatheit und Vorlagentreue nicht standhalten, ist bekannt und hängt mit einem anderen Verständnis von Vorlagentreue und von der Rolle des Dichters zusammen. JOACHIM B U M K E u n d F R A N Z JOSEF W O R S T B R O C K w e i s e n in d i e s e m
Zusammen-
hang auf die Trennung von materia und artificium hin: Während auf der Ebene der materia Vorlagentreue gefordert werde, liegt das artificium, die erzählerische Gestaltung, in der Hand und im Belieben des Dichters. 12 Die eigentümliche Spannung zwischen der emphatischen Beteuerung von Quellentreue und den tatsächlichen Abweichungen von der Vorlage verliert zwar unter diesem Blickwinkel das Irritierende, aber der Maßstab für Adäquatheit bleibt offen. Hier setzen meine Überlegungen an. Ich gehe davon aus, dass die Abweichungen beim Wiedererzählen sich weder ganz der Willkür des Verfassers verdanken noch ganz zufällig sind, sondern dass sie zu einem maßgeblichen Teil vom Kontext der Literatur beeinflusst werden, in die übertragen wird. Umgekehrt ist auch für die Vorlage eine solche Einschreibung in den jeweiligen literarischen Kontext anzunehmen. Das heißt konkret: die Abweichungen, die z. B. zwischen
11 Vgl. VOLKER MERTENS: Intertristanisches - Tristan-Lieder von Chretien de Troyes, Bernger von Horheim und Heinrich von Veldeke. In: Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Bd. 3: Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis. Hrsg. von JOHANNES JANOTA, Tübingen 1993, S. 3 7 - 5 5 ; Ders.: Dialog über Grenzen: Minnesänger Trobadours - Trouveres. Intertextualität in den Liebesliedern Rudolfs von Fenis. In: Kritische Fragen an die Tradition. FS Klaus Träger. Hrsg. von MARION MARQUARDT/UTA STÖRMERCAYSA/SABINE HEIMANN-SEELBACH, Stuttgart 1997 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 340), S. 15—41; PETER KERN: Text und Prätext. Zur Erklärung einiger Unterschiede von Hartmanns Iwein gegenüber Chretiens Yvain. In: Chevaliers errants, demoiselles et l'Autre. Höfische und nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. FS Xenia von Ertzdorff. Hrsg. von TRUDE EHLERT, Göppingen 1998 (GAG 644). - ANDREAS KRASS: Spielräume mittelalterlichen Obersetzens. Zu Bearbeitungen der Mariensequenz Stabat maier dolorosa. In: W o l f r a m Studien 14 (1996), S. 8 7 - 1 0 8 , zeigt die Bedeutung des literarischen Kontextes für die deutschsprachigen Übersetzungen der lateinischen Sequenz Stabat mater dolorosa auf, als weitere, hier relativ gut eruierbare Faktoren kommen in diesem Fall die jeweilige Gebrauchssituation und frömmigkeitsgeschichtliche Aspekte dazu. 12
Vgl. FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von WALTER HAUG, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128-142, hier S. 1 3 3 - 1 4 1 ; JOACHIM BUMKE: Autor und Werk. Beobachtungen und Überlegungen zur höfischen Epik (ausgehend von der Donaueschinger Parzivalhandschrift G 5 ). In: ZfdPh 116 (1997). Sonderheft: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hrsg. von HELMUT TERVOOREN/HORST WENZEL, S. 8 7 - 1 1 4 , hier S. 107-109.
Übertragungen in literarische Kontexte
167
den & e c - R o m a n e n Chretiens und Hartmanns zu verzeichnen sind, hängen nicht zuletzt mit den unterschiedlichen literarischen Kontexten zusammen, in denen beide Dichtungen stehen. 13 Das schließt andere Faktoren wie z. B . Vorlieben und Intentionen des Verfassers oder des Auftraggebers oder des Publikums nicht aus, doch diese blende ich hier aus. Dem Wiedererzählen liegen bei genauerer Betrachtung zwei Vorgänge zugrunde: 1. Der Verfasser der Übertragung rezipiert seine Vorlage - vor dem Hintergrund des ihm vertrauten literarischen Kontextes. 2. Er erzählt sie diesem Verständnis gemäß ,wieder' und berücksichtigt dabei auch den Verständnishorizont seines intendierten Publikums. Wiedererzählen hat also etwas mit Verstehen im Kontext zu tun. Die zahlreichen theoretischen Ansätze aus verschiedenen Disziplinen (z. B . philosophische Hermeneutik, Semantik, hermeneutische Semiotik und empirische Literaturwissenschaft) auf diesem Gebiet verbindet als eine Art kleinster gemeinsamer Nenner die Erkenntnis, dass Verstehen von Wörtern, Sätzen, Texten in mündlicher oder schriftlicher Kommunikation immer beeinflusst wird durch ein bestimmtes Vorwissen, durch einen Kontext, durch ,Weltwissen'. Nun ist ,Kontext' als „Menge der für die Erklärung eines Textes relevanten Bezüge" 1 4 ein weites Feld, in dem eigentlich zwischen unterschiedlichsten Kontexten eines literarischen Werks (literarisch, sozialgeschichtlich, Gebrauchssituation, Überlieferung etc.) differenziert und deren Beziehung zueinander untersucht werden müsste. Ich beschränke mich hier auf den literarischen Kontext und betrachte die Unterschiede zwischen französischen und deutschen Dichtungen des Mittelalters vorrangig als literarische Phänomene, für die es innerhalb des .Systems Literatur' Erklärungsansätze geben müsste. Dieser literarische Kontext wird in den Texten in etwas greifbar, was ich mit einem Arbeitsbegriff als ,Vorstellungswelten' bezeichne. Gemeint sind damit Stilisierungsmuster, ,Darstellungsgesten', Deutungsperspektiven etc., die, so meine Arbeitshypothese, fur bestimmte .Literaturen' spezifisch sind. Ich gehe also davon aus, dass es in jeder Literatur, in jedem literarischen Kontext einen Rahmen des Denkbaren oder Möglichen gibt, zu dem z. B . Stoffe, Gattungen, Motive, aber auch Darstellungs- und Deutungsmuster gehören. Durch positive oder negative Bezüge auf diesen Rahmen werden Werke in eine Literatur eingeschrieben, und das ist eine Voraussetzung dafür, dass sie verstanden werden können. Das soll nicht heißen, dass sie dadurch bis ins Einzelne in ihrer besonderen Gestalt festgelegt würden und dass die Relevanz anderer Parameter (Autorpersönlichkeit, literarische Interessenbildung des Auftraggebers/Mäzens, Verfügbarkeit einer Vorlage etc.) negiert werden soll. Vielleicht spielen solche ,Vorstellungswelten', die als dynamisch, Veränderungen und
13
Vgl. KERN (Anm. 11); weitere Beispiele müssten unter diesem Gesichtspunkt diskutiert werden.
14
L U T Z D A N N E B E R G : A r t . . K o n t e x t ' . I n : R L W 2 ( 2 0 0 0 ) , S. 3 3 3 - 3 3 7 , h i e r S. 3 3 3 .
168
STEFANIE S C H M I T T
Modifizierungen erlaubend, zu denken sind, sogar in mittelalterlichen Literaturen, in denen das Anknüpfen an Vorbilder, Vorlagen und Traditionen gleichsam das umfassende poetologische Prinzip bildet, eine besonders große Rolle. Meine These ist, dass sie die Übertragungsvorgänge in und zwischen mittelalterlichen Literaturen wesentlich beeinflussen: Indem die Verfasser sich an ihnen orientieren, betten sie ihr Werk in einen literarischen Kontext als Traditionszusammenhang ein.
II Um den theoretischen Horizont meiner Überlegungen zu umreißen, skizziere ich einige Ansätze aus dem Bereich .Verstehen und Kontext'. Vor der Übertragung auf die literarischen Beispiele muss dabei stets der methodische Vorbehalt mitgedacht werden, ob und unter welchen Bedingungen die Überlegungen sinnvoll auf die Analyse vormoderner Literatur übertragen werden können und in welcher Weise sich aus den Analyseergebnissen eine neue Theorie der literarischen Kontexte ergeben kann. Als , H e r m e n e u t i k ' wird die „Wissenschaft bzw. die Kunst der Auslegung" 15 bezeichnet, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vor allem Regeln für eine methodisch abgesicherte, also nicht der Willkür unterliegende Interpretation bereitstellte. 16 Ein Konzept einer philosophischen Hermeneutik, das auch die „verstehenstheoretischen Prämissen im hermeneutischen Paradigma der Literaturwissenschaft maßgeblich beeinflußt" 17 hat, legt erst GADAMER vor. Textverstehen entspricht seinem in dieser Hinsicht an Heidegger anknüpfenden Konzept zufolge in den Grundzügen einer Spirale: Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht. 18
Verstehen hängt also ganz entscheidend von den Vor-Erwartungen und SinnHypothesen ab, die der Rezipient an den Text heranträgt und im Laufe der Textrezeption modifiziert. Diese werden wiederum durch dessen Wissens- bzw. VerLS JEAN GRONDIN: Einführung in die philosophische Hermeneutik, 2., überarb. Aufl. Darmstadt 2001, S. 13. 16 Ebd. 17 SIMONE WINKO: Verstehen literarischer Texte versus literarisches Verstehen von Texten? Zur Relevanz kognitionspsychologischer Verstehensforschung für das hermeneutische Paradigma der Literaturwissenschaft. In: DVjs 69 (1995), S. 1-27, hier S. 15. 18 HANS-GEORG GADAMER: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 5., durchges. u. erw. Aufl. Tübingen 1986, S. 271.
Ü b e r t r a g u n g e n in literarische K o n t e x t e
169
ständnishorizont geprägt. Doch nicht nur der Rezipient steht in bestimmten Kontexten, zu denen z. B. auch ein bestimmter Sprachgebrauch gehört, 19 sondern auch für den Text gibt es einen ,Kontext' in Form einer „Tradition" 20 . Voraussetzung für gelungenes Verstehen ist nach dieser Konzeption eine fortschreitende Annäherung des Rezipienten an den Text in seiner historischen Bedingtheit, indem die an den Text herangetragenen Erwartungen („Vorurteile") nach Maßgabe ihrer Angemessenheit für den Text wiederholt korrigiert und modifiziert werden. Im Idealfall ergibt sich daraus eine ,Horizontverschmelzung', eine „(reflektierte^) Aufhebung der historischen Distanz im Vollzug des Verstehens" 2 '. GADAMERs Verstehenskonzeption setzt also ein historisches Bewusstsein und die Bereitschaft voraus, den eigenen Vorgang des Verstehens zu reflektieren und als historisch bedingt zu erkennen. 22 Aus diesem Grund lässt sie sich nicht auf mittelalterliche Verstehensvorgänge anwenden, denn deren Alterität liegt wesentlich darin, dass diese Voraussetzung nicht gegeben ist, weil ein historisches Bewusstsein fehlt. Das führt dazu, dass der Text nicht in seinem (historischen) Kontext aufgenommen werden kann, sondern in erster Linie nach Maßgabe des vom Rezipienten an ihn herangetragenen Verständnishorizonts. Den Ausgangspunkt der F r a m e - T h e o r y bildet die Erkenntnis, dass allen Mitgliedern einer Sprach- und Kulturgemeinschaft bestimmte „Wissenspakete" für Gegenstände und typische Umstände gemeinsam sind, dass sie also über gemeinsame „stereotype Erinnerungsmuster" verfügen, in denen Wortwissen und Weltwissen zusammengeschlossen werden. 23 Linguistisch betrachtet, erfordert also Textverstehen mehr als einerseits die bloße Kenntnis der in Wörterbüchern präsentierten Erläuterungen zu Wortbedeutungen [ . . . ] und andererseits die Kenntnis morphologischer und syntaktischer Strukturen/Regeln. Erfolgreiches Textverstehen setzt [ . . . ] insbesondere ein erhebliches Wissen über die in den jeweiligen Texten benannten Bezugsobjekte, damit ein umfangreiches , Wissen über die Welt' voraus. 24
Dieses ,Weltwissen' ist organisiert in Bezug auf „typische Bezugsobjekte" 25 und stereotype Situationen. Diese Bündelung von Wortwissen und Weltwissen wird, je nach Ansatz, als Frame, als Script, als Scene oder Schema bezeichnet. 26 Ich lege hier den Frame-Begriff von FILLMORE zugrunde, der schon von diesem auch auf die Textsemantik übertragen worden ist:
19 20 21 22 23
24 25 26
Vgl. ebd., S. 2 7 2 . Ebd., S. 2 9 6 . - Vgl. WINKO ( A n m . 17), S. 17. WINKO ( A n m . 17), S. 17. GADAMER ( A n m . 18), S. 2 9 6 - 3 0 5 ; WINKO ( A n m . 17), S. 17. KLAUS PETER KONERDRNG: Frames und lexikalisches B e d e u t u n g s w i s s e n . Untersuchungen zur linguistischen Grundlegung einer Frametheorie und zu ihrer A n w e n d u n g in der Lexikographie, T ü b i n g e n 1993 (RGL 142), S. 7f. Ebd., S. 18. Ebd., S. 47. Vgl. den Überblick bei KONERDING ( A n m . 2 3 ) , S. 21f.
170
STEFANIE SCHMITT
W h a t h o l d s s u c h w o r d g r o u p s t o g e t h e r is t h e f a c t o f t h e i r b e i n g m o t i v a t e d by, f o u n d e d on, and co-structured with, specific unified f r a m e w o r d s of k n o w l e d g e s , or coherent schematizations of experience, for which the general word f r a m e can be used. [ . . . ] B o r r o w i n g f r o m the language of gestalt p s y c h o l o g y w e could say that the assumed background of k n o w l e d g e and practices - the complex f r a m e behind this v o c a b u l a r y d o m a i n - s t a n d s as a c o m m o n g r o u n d to t h e f i g u r e r e p r e s e n t a b l e b y a n y of the individual words. Such a frame represents the particular organization of k n o w l e g d e w h i c h s t a n d s a s a p r e r e q u i s i t e t o o u r ability to u n d e r s t a n d t h e m e a n i n g s o f the associated w o r d s . 2 7
Bei der Textinterpretation kommen FILLMORE zufolge ,,[i]nterpretive frames" ins Spiel, die entweder vom Interpreten an den Text herangetragen oder von diesem evoziert werden. 28 FILLMORE expliziert das anhand des Satzes: ,We never open our presents until the morning'. Obwohl Weihnachten nicht im Satz erwähnt wird, können diejenigen, die über entsprechendes kulturelles Wissen über den Zeitpunkt des Öffnens von Weihnachtsgeschenken verfügen, den Weihnachts-Kontext an den Satz herantragen. Umgekehrt wird dieser vom Text aufgerufen, wenn das Wort presents' durch ,Christmas presents' ersetzt wird. 29 Es handelt sich bei Frames um „vom Text ausdrücklich artikulierte oder vom Interpreten suppletiv aktivierte Wissensbestände". 30 Diese sind zwar im Prinzip allen Mitgliedern einer Sprach- und Kulturgemeinschaft gemeinsam, aber sie sind gleichzeitig auch subjektiv, weil sie abhängig von individuellen Voraussetzungen (z. B. Bildungshorizont) in unterschiedlicher Weise ,verfugbar' sein und vom einzelnen Interpreten in einer konkreten Situation des Textverstehens in je unterschiedlicher Weise .aufgerufen' werden können. Kognitionspsychologische Untersuchungen zum Textverstehen aus der e m p i r i s c h e n L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t bauen auf der Frame-Theory auf. 31 Das Verstehen literarischer Texte wird hier als „ein spezieller Typ von Verstehen" angesehen. 32 Grundsätzlich geht man davon aus, dass Verstehen interaktio-
27
CHARLES J. FILLMORE: Frames and the semantics of understanding. In: Quaderni di semantica 6 (1985), S. 2 2 2 - 2 5 4 , hier S. 223. - Zur Kritik an FILLMORE vgl. KONERDING (Anm. 23), S. 4 3 49 und 7 7 - 8 0 ; HEIDI ASCHENBERG: Kontexte in Texten. Umfeldtheorie und literarischer Situationsaufbau, Tubingen 1999 (ZfromPh. Beihefte 295), S. 117f. - Der im Hinblick auf lexikologische Untersuchungen erarbeitete Frame-Begriff von KONERDING ist fur eine Übertragung auf literaturwissenschaftliche Zusammenhänge ungeeignet. Er verwendet den Frame-Begriff im Anschluß an WINOGRAD: grames sind also sprachliche Texte, die als deutende .Übersetzungen' (im Sinne Jakobsons) oder Modellbildungen (im Sinne Stachowiaks u. a.) zu verstehen sind. Mit Frames werden im folgenden also nicht die Texturtypen/Konzepte selbst bezeichnet, die in den Beschreibungen vergegenwärtigt rationaler Reflexion und deutender Kommunikation zugänglich werden!" (KONERDING [Anm. 23], S. 141); vgl. auch ebd., S. 149.
28
FILLMORE ( A n m . 2 7 ) , S. 2 3 2 .
29
Ebd.; vgl. auch das Beispiel bei CHARLES J. FILLMORE: ,U'-semantics, second round. In: Quaderni di semantica 7 (1986), S. 4 9 - 5 8 , hier S. 53.
30
ASCHENBERG ( A n m . 2 7 ) , S. 117.
31
Vgl. den Überblick bei SIEGFRIED HOPPE-GRAF: Verstehen als kognitiver Prozeß. Psychologische Ansätze und Beiträge zum Textverstehen. In: LiLi 55 (1984), S. 10-37, hier S. 16-30. WlNKO(Anm. 17), S. 10.
32
Übertragungen in literarische Kontexte
171
nistisch durch eine „Wechselwirkung von vom Text ausgehender ,bottom up'Prozesse und vom Leser ausgehender ,top down'-Prozesse" 33 ins Werk gesetzt werde, die zu einer „Erweiterung oder Veränderung der subjektiven semantischen Wissensstruktur" 34 führe. In die ,top-down'-Prozesse fließen individuelle intellektuelle, soziale und emotionale Voraussetzungen des Rezipienten sowie „Faktoren der Verstehenssituation" ein.35 Konstitutiv dafür sind, so die Auffassung der Forschung, Schemata, die das top-down an den Text herangetragene Wissen organisieren: Schemata werden heute generell betrachtet als durch Erfahrung gebildete Auffassungen von erwartbaren Eigenschaften, Handlungen, Handlungsverläufen und Ereignissen in Situationen. Sie erlauben deshalb bei der Textverarbeitung, Text-Lücken durch Ergänzungen zu überbrücken (Inferenzen) und Text-Strukturen durch vergleichende Vorerwartungen und kreative Erweiterungen (Elaborationen) sinnvoll zu verknüpfen. 3 6
Eine spezielle Gruppe solcher Schemata bilden die so genannten , story-schemata' in literarischen Texten. Sie haben den Untersuchungen zufolge maßgeblichen Einfluss auf das Verstehen: Erzähltexte, die bestimmten Konventionen gehorchen, die sich also der vom Rezipienten erwarteten Struktur gemäß entwickeln, werden am besten verstanden. 37 Der in der Frame-Theory und verwandten Modellen entwickelte Ansatz geht in der T e x t s e m i o t i k U M B E R T O Ecos in eine Theorie der Interpretation literarischer 38 Texte ein. ECO übersetzt frame mit „Szenographie" und versteht darunter einen „virtuelle[n] Text oder eine kondensierte Geschichte",39 Szenographien nehmen seiner Ansicht nach einen entscheidenden Einfluss auf das Verstehen von Texten: Wir behaupten, daß das Textverständnis weitgehend von der Einsetzung der zugehörigen Szenographie bestimmt wird, ebenso w i e die Texthypothesen, denen Mißerfolg
33 Ebd., S. 18. 34 REINHOLD VIEHOFF: Literarisches Verstehen. Neuere Ansätze und Ergebnisse empirischer Forschung. In: 1ASL 13 (1988), S. 1-39, hier S. 18 35 WlNKO(Anm. 17), S. 19. 36
VIEHOFF ( A n m . 3 4 ) , S . 11.
37 Ebd. Vgl. auch den Überblick bei HOPPE-GRAF (Anm. 31), S. 16-23. 38 ECO strebt allerdings eine Übertragbarkeit seines theoretischen Modells auf „nicht-literarische" und sogar „nicht-verbale" Texte an: „Die semiotische Konzeption eines Textes ist in jedem Fall erheblich weiter gefaßt als die nur sprachliche, und die theoretischen Überlegungen, die ich entwickeln werde, sollen sich - mit entsprechenden Modifikationen - auch auf nicht-literarische und nicht-verbale Texte anwenden lassen. Offen bleibt dabei das Problem der interpretierenden Mitarbeit in der Malerei, im Kino, im Theater." (UMBERTO Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. Aus dem Italienischen von HEINZ-GEORG HELD, München 1987, S. 13). 39 Ebd., S. 99f. (hier S. 100, Hervorhebung im Original).
172
STEFANIE SCHMITT
b e s c h i e d e n ist [ . . . ] , v o n Szenographien abhängen.40
der
falschen
und
unglücklichen'
Anwendung
der
Von „allgemeinen" 41 Szenographien, die auf Alltagswissen rekurrieren, 42 unterscheidet ECO verschiedene Arten ,,intertextuelle[r]" 43 Szenographien. Die darunter subsumierten ,,rhetorische[n] und erzählerische[n] Schemata" 44 hierarchisiert er folgendermaßen: An erster Stelle stehen „maximale Szenographien oder vorgefertigte Fabulae", denen er allgemeine Gattungsregeln von einfacheren Erzähltexten (Groschenromane, einfache Kriminalgeschichte, Märchen) zuordnet. 45 Auf der nächsten Ebene folgen so genannte „Motiv-Szenographien", die er bestimmt als „ziemlich flexible Schemata von der Art ,verfolgte Unschuld', in denen bestimmte Akteure zu unterscheiden sind [...], gewisse Handlungssequenzen [...], bestimmte Kulissen [...] und so fort; ohne dass jedoch dabei genaue und bindende Verpflichtungen hinsichtlich der Abfolge der Ereignisse auferlegt würden". 46 Die dritte Stufe bilden die ,^ituationsbezogenen Szenographien [...], welche die Entwicklung eines Teils der Geschichte zwingend festlegen, aber auf verschiedene Weise verändert werden können, so dass daraus verschiedene Geschichten entstehen" 47 . Den vierten Platz nehmen die „rhetorischen ΤοροΓ ein, die ebenfalls als Szenographien aufgefasst werden (ζ. B. die Szenographie, die die zum locus amoenus gehörigen Elemente festlegt). 48 Bei diesem Versuch, das linguistische Frame-Konzept auf die Interpretation literarischer Texte zu übertragen, erscheint mir insbesondere der weite und deshalb unspezifische Intertextualitätsbegriff bei den „intertextuellen Szenographien" problematisch. Wenn es hier, wie es sich aus Ecos Ausführungen schließen lässt, nur auf eine Abgrenzung von auf literarische (narrative) Texte bezogenen Szenographien von solchen allgemeiner Art ankommt, könnte man ebenso gut von .literarischen' Szenographien sprechen und den Begriff der Intertextualität (nun in einem engeren Sinne) für eine weitere Untergruppe reservieren. Zu überlegen wäre auch, um welche weiteren Arten literarischer' Szenographien die Liste ergänzt bzw. ob sie überhaupt modifiziert werden
40 41 42
Ebd., S. 101. Ebd., S. 98. E c o (Anm. 38), S. 100, erläutert die Funktionsweise am Beispiel der Szenographie .Supermarkt': „Die Szenographie .Supermarkt' enthält also den Begriff eines Ortes, den die Leute betreten, um Waren verschiedener Art zu kaufen, die sie sich direkt und ohne Vermittlung von Verkäufern nehmen und dann an der Kasse bezahlen. Wahrscheinlich müßte eine gute Szenographie dieses Typus auch die Art der Waren berücksichtigen, die in einem Supermarkt verkauft werden (zum Beispiel. Bürsten ja, Autos nein)."
43 44 45 46 47 48
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd.
S. 101. S. 104. S. 102. S. 103.
Ü b e r t r a g u n g e n in l i t e r a r i s c h e K o n t e x t e
173
müsste. Für mittelalterliche Texte könnten z. B. bestimmte Deutungstraditionen (Vier-Weltreiche-Lehre etc.) auch zu den Szenographien gezählt werden. Als F a z i t dieses kleinen Überblicks lässt sich also festhalten, dass die Relevanz von Kontexten für das Verstehen im Allgemeinen und für das Verstehen literarischer Texte im Besonderen außer Frage steht und aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht wird. Mein Blick richtet sich im Folgenden nicht wie in den Arbeiten von E M M O T T 4 9 und A S C H E N B E R G 5 0 vorrangig auf die einem Text/Werk immanenten Kontexte, sondern vor allem auf solche Kontexte, die einer bestimmten (volkssprachigen) mittelalterlichen Literatur eigen sind.51 Dazu gehören u. a. die unter dem Stichwort ,intertextueller Kontext' ( A S C H E N B E R G , E C O ) diskutierten Phänomene. Im Bemühen um eine klare Begrifflichkeit möchte ich von ,Intertextualität' jedoch nur in einem engeren Sinne dort sprechen, wo sie auch wirklich markiert ist,52 und benutze für die anderen Fälle zunächst den Arbeitsbegriff der ,Vorstellungswelten'. Gemeint sind damit Stilisierungsmuster, Darstellungsgesten, Deutungsperspektiven etc., in denen ähnlich wie in den Frames bzw. Schemata der Semantik bzw. der empirischen Literaturwissenschaft Wortwissen und literarisches Wissen (in das sonstiges Weltwissen eingehen kann) zusammengeschlossen werden. Diese literarischen Frames können gleichermaßen durch stereotype Situationen und Bezugsobjekte in der Vorlage beim ,Wiedererzähler' aufgerufen und von ihm an den Text herangetragen werden. Welcher Art diese stereotypen Situationen und Bezugsobjekte sein könnten, müsste im Rahmen einer größeren Untersuchung genauer bestimmt werden. Beim mittelalterlichen Wiedererzählen ist noch ein weiterer Punkt zu berücksichtigen, der die in der Übertragung greifbare Rezeption der einer anderen Literatur (Latein, Französisch) zugehörigen Vorlage beeinflusst: Solange es kein für den Verstehensvorgang produktiv gemachtes Bewusstsein einer Differenz der literarischen Kulturen gibt, werden nur die dem Rezipienten (der der Verfasser der Übertragung ist) vertrauten Frames aktualisiert, und zwar sowohl für die vom Text aufgerufenen als auch für die an ihn herangetragenen Frames. Literarische Frames lassen sich nur aus der vergleichenden Textanalyse ermitteln: zum einen aus dem Vergleich von Vorlage und Übertragung und den dabei festgestellten Differenzen (und Gemeinsamkeiten), zum anderen aus dem ,para-
49 50 51
CATHERINE EMMOTT: N a r r a t i v e C o m p r e h e n s i o n . A D i s c o u r s e P e r s p e c t i v e , O x f o r d 1997. ASCHENBERG (ANM. 2 7 ) . Z u m H i l f s b e g r i f f der . E i g e n l i t e r a t u r ' , vgl. JAN CÖLLN/SUSANNE FRIEDE/HARTMUT WULFRAM: E i n l e i t u n g : A l e x a n d e r d i c h t u n g e n im Mittelalter. K u l t u r e l l e S e l b s t b e s t i m m u n g im K o n t e x t liter a r i s c h e r B e z i e h u n g e n . In: A l e x a n d e r d i c h t u n g e n im Mittelalter. K u l t u r e l l e S e l b s t b e s t i m m u n g im K o n t e x t l i t e r a r i s c h e r B e z i e h u n g e n . H r s g . v o n JAN CÖLLN/SUSANNE FRIEDE/HARTMUT WULFRAM, G ö t t i n g e n 2 0 0 0 , S. 7 - 2 0 , h i e r S. 11.
52
V g l . ULRICH BROICH: F o r m e n d e r M a r k i e r u n g v o n Intertextualität. In: Intertextualität. F o r m e n , F u n k t i o n e n , a n g l i s t i s c h e F a l l s t u d i e n . H r s g . v o n ULRICH BROICH/MANFRED PFISTER, T ü b i n g e n 1 9 8 5 , S. 31—47.
174
STEFANIE SCHMITT
digmatischen' Vergleich von Texten einer Literatur, um Aussagen über die Verbreitung etwa von Darstellungs- und Deutungstraditionen zu erhalten.
III Konkretisieren möchte ich mein Konzept an der Herrscherdarstellung in französischen und deutschen Alexanderdichtungen des 12. und 13. Jahrhunderts. Abgesehen von Alberic und Lamprecht gibt es hier gerade keine Vorlagenbeziehungen. Die beiden literarischen Reihen konstituieren sich entweder, wie bei den französischen Texten, im Bezug aufeinander und die lateinischen Vorlagen 53 oder, wie bei den deutschen Texten mit Ausnahme von Lamprecht, im jeweils neuen Rekurs auf lateinische Vorlagen. 54 Methodisch bringt das den Vorteil eines erweiterten Blickwinkels: Die Übertragungen in literarische Kontexte können sowohl für die französischen als auch für die deutschen Dichtungen untersucht werden. Mit dem verbreiteten Schlagwort der Mediävalisierung der Antike in den mittelalterlichen Alexanderdichtungen wird nur eine grundsätzliche Haltung dem antiken Stoff gegenüber erfasst, 55 die nicht über die Differenzen zwischen den Texten hinwegtäuschen darf. Das Interessante ist nämlich, dass bestimmte Interpretamente nur in einer der beiden literarischen Reihen auftreten - und zwar unabhängig davon, ob es entstehungsgeschichtliche Bezüge zwischen deren Vertretern gibt oder nicht. Dies werde ich an jeweils einem Beispiel skizzieren.
53 PAUL MEYER: Alexandre le Grand dans la litterature fran