Antikes erzählen: Narrative Transformationen von Antike in Mittelalter und Früher Neuzeit 9783110286120, 9783110285970

How is the history of antiquity told, and what is the role of narrativity in transforming the image of antiquity? This v

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German Pages 341 [344] Year 2013

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Table of contents :
Einleitung
1. Erzählende Literatur
Alexanders Orte: Narrative ›Bewältigungen‹ und Transformationen in der lateinischen und mittelhochdeutschen Alexanderepik
Narration und Ostension im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg
2. Historiographie
1066: Als Wilhelm von der Normandie Caesar in den Schatten stellte. Zur Antikentransformation in den Gesta Guillelmi des Wilhelm von Poitiers
»Writing History in Cicero’s Shadow«
Sola historia negligitur: Historiographisches Erzählen in Andreas Althamers Scholia zur Germania des Tacitus
Eine späthumanistische Konfessionalisierung der Antike. Die Griechen in der protestantischen historia universalis
3. Bildkunst
Höfische Antike – Textile Erzählräume und re-enactment des Troja-Mythos im späten 14. und 15. Jahrhundert
Nymphe und Satyr/Venus und Satyr. Zur mythopoetischen Adaption eines antiken Motivs in der Renaissance
Die Schmiede des Vulkan in den Bildkünsten der Renaissance
Handlungen im Ornament und handelnde Ornamente. Transformationen der antiken Groteske in Vorlagestichen des 16. und 17. Jahrhunderts
5. Drama
Vergegenwärtigung der Antike. Lucretia in der Kaiserchronik und in den Römerdramen von Hans Sachs und Jacob Ayrer
Die tragédie à sujet moderne in Frankreich (1550–1715). Modernität und Aktualität als Transformationsfaktor antiker mythologischer Narrative
Autorenverzeichnis
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Antikes erzählen: Narrative Transformationen von Antike in Mittelalter und Früher Neuzeit
 9783110286120, 9783110285970

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Antikes erzählen

Transformationen der Antike

Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer

Wissenschaftlicher Beirat: Frank Fehrenbach, Niklaus Largier, Martin Mulsow, Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt

Band 27

De Gruyter

Antikes erzählen Narrative Transformationen von Antike in Mittelalter und Früher Neuzeit

Herausgegeben von

Anna Heinze, Albert Schirrmeister, Julia Weitbrecht

De Gruyter

Gedruckt mit Mitteln, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft dem Sonderforschungsbereich 644 »Transformationen der Antike« zur Verfügung gestellt hat.

ISBN 978-3-11-028597-0 e-ISBN 978-3-11-028612-0 ISSN 1864-5208 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Logo „Transformationen der Antike“: Karsten Asshauer ⫺ SEQUENZ Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt ANNA HEINZE/ALBERT SCHIRRMEISTER/JULIA WEITBRECHT Einleitung ...................................................................................................................................... 1

1. Erzählende Literatur MARKUS STOCK Alexanders Orte: Narrative ›Bewältigungen‹ und Transformationen in der lateinischen und mittelhochdeutschen Alexanderepik ............................................... 9 BENT GEBERT Narration und Ostension im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg ................................... 27

2. Historiographie MARTIN CLAUSS 1066: Als Wilhelm von der Normandie Caesar in den Schatten stellte. Zur Antikentransformation in den Gesta Guillelmi des Wilhelm von Poitiers ................... 51 PATRICK BAKER »Writing History in Cicero’s Shadow« ..................................................................................... 75 RONNY KAISER Sola historia negligitur: Historiographisches Erzählen in Andreas Althamers Scholia zur Germania des Tacitus ............................................................................ 91 ASAPH BEN-TOV Eine späthumanistische Konfessionalisierung der Antike. Die Griechen in der protestantischen historia universalis ............................................................................... 117

3. Bildkunst BIRGIT FRANKE Höfische Antike – Textile Erzählräume und re-enactment des Troja-Mythos im späten 14. und 15. Jahrhundert ........................................................................................ 145

VI

Inhalt

ANNA HEINZE Nymphe und Satyr/Venus und Satyr. Zur mythopoetischen Adaption eines antiken Motivs in der Renaissance ............................................................. 179 TATJANA BARTSCH Die Schmiede des Vulkan in den Bildkünsten der Renaissance ....................................... 197 HANS KÖRNER Handlungen im Ornament und handelnde Ornamente. Transformationen der antiken Groteske in Vorlagestichen des 16. und 17. Jahrhunderts ............................ 225

5. Drama JULIA WEITBRECHT Vergegenwärtigung der Antike. Lucretia in der Kaiserchronik und in den Römerdramen von Hans Sachs und Jacob Ayrer ............................................................... 243 KIRSTEN POSTERT Die tragédie à sujet moderne in Frankreich (1550–1715). Modernität und Aktualität als Transformationsfaktor antiker mythologischer Narrative ......................... 263

Autorenverzeichnis .................................................................................................................. 277 Register ...................................................................................................................................... 281 Abbildungen

Einleitung ANNA HEINZE/ALBERT SCHIRRMEISTER/JULIA WEITBRECHT Wie eine frische Schwertlilie soll das alte Buch von Troja wieder erblühen, wenn er es mit seinen klaren und leuchtenden Worten erniuwet, so Konrad von Würzburg im Prolog seines unvollendet gebliebenen Trojanerkrieges (Ende des 13. Jh.). Mit dieser Formulierung wird ein Programm von Erneuerung und Meisterschaft erklärt: Konrad scheint sich der Antikizität seiner Vorlage genau bewusst zu sein und setzt sich zugleich in ein selbstbewusstes Verhältnis zur Normativität seiner antiken materia: »in den Glanz deutscher Worte wird es von mir verwandelt« 1. Antike konfiguriert sich und entsteht in der Vormoderne vor allen Dingen im Wiedererzählen – sie wird erzählend modifiziert, anverwandelt und im christlich-mittelalterlichen Horizont manchmal sogar gänzlich neu erschaffen. Erzählungen über die Antike sind für die Transformation und Konstruktion von Antike in der Geschichte der europäischen Kultur offenbar ebenso zentral wie antike Erzählungen oder Erzählelemente selbst. Dass Konrad seine eigene Version des Trojanerkrieges schafft, wirkt sich auch auf die antike Vorlage aus, die durch diese Transformation erniuwet wird: Auch die antike Erzählung ist mit Konrads Bearbeitung im Bewusstsein seiner Rezipienten eine andere geworden. Die Mehrdeutigkeit von ›Geschichte‹ eröffnet in diesem Kontext ein Spannungsfeld von Ereignis und Erzählung, das auf unterschiedliche Gebrauchsformen von Narrativität in der Literatur, den bildenden Künsten und der Geschichtsschreibung verweist. Der literaturwissenschaftliche Terminus ›Narrativität‹ bezeichnet ein weites begriffliches Feld und wird insbesondere in der jüngeren Narratologie als ein Basiselement des literarischen Texts verstanden. 2 Dabei werden nicht-narrative Genres jedoch nicht notwendigerweise ausgeblendet, indem man sich etwa auf die Vermittlerinstanz poetischen Erzählens als Ausschlusskriterium beruft, sondern es können auch narrative Elemente oder Verfahrensweisen von Textsorten wie Kommentaren oder Dramen analytisch erfasst werden. 3 In der geschichtswissenschaftlichen Forschung seit Hayden White stellt Narrativität einen zentralen Begriff der Erforschung _____________ 1 2 3

»ze tiuscher worte schîne / wirt ez von mir verwandelt« Konrad von Würzburg, Der trojanische Krieg, V. 307 f. Wolf Schmids Unterscheidung in einen weiten und engen Begriff von Narrativität folgend, vgl. Schmid (2010), 4. Hilfreich gerade in der interdisziplinären Diskussion ist die Unterscheidung zwischen vermitteltem und direktem Erzählen für den vorliegenden Band dennoch, vgl. die Diskussion in: Nünning/ Nünning (2002), 6 f.

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Anna Heinze/Albert Schirrmeister/Julia Weitbrecht

geschichtlichen Denkens bzw. seiner sprachlichen Verfassung dar, 4 und in der kunstwissenschaftlichen Forschung insbesondere zur mittelalterlichen Kunst spielt Narrativität eine Rolle, wenn es um narrative Strukturierung in typologischen Bildsequenzen oder Bildräumen geht. 5 Jeweils steht die Bestimmung von Prozessen kultureller Sinnstiftung im Mittelpunkt, innerhalb derer Narrative zunächst als kognitive Schemata zu verstehen sind, die Personen, Räumen und Ereignisse ordnen, indem sie temporale und kausale Verknüpfungen herstellen. Die Konkretisationen solcher Narrative, Erzählungen oder Narrationen, werden folglich nicht lediglich als »literarische Formen« oder »Ausdrucksmedien« begriffen, sondern im Sinne eines »phänomenologische[n] und kognitive[n] Modus der Selbst- und Welterkenntnis« 6. Dem Band liegt somit ein weiter Narrativitätsbegriff zugrunde, doch ist es nicht seine Absicht, eine inter- oder transmediale Narratologie unter den Prämissen der modernen Literaturwissenschaften weiterzuentwickeln. Vielmehr soll der Blick auf unterschiedliche Phänomene von Narrativität gelenkt werden, mittels derer in der Vormoderne in Text und Bild Antike(s) transformiert wird. In diesem Zusammenhang wird Narrativität, die in den jeweiligen Artefakten mitunter auch in Spuren oder Verweisen fassbar wird, als eine Form der Kohärenzherstellung, als ein retrospektives Ordnen verstanden, das sich in jeder Aktualisierung (etwa in Erzählung, Bild oder Chronik) wieder neu auf bestehende Ordnungen beziehen lässt. Diese Formen von Narrativität stellen Sinn- und Selbstdeutungsangebote dar, die jeweils unterschiedlich aktualisiert, wiedererzählt, umgedeutet und anverwandelt, d. h. transformiert werden können. Die Frage nach narrativen Transformationen der Antike in der Vormoderne betrifft mehrere Ebenen: Epen, Romane, historiographische Texte, Kunstwerke, aber auch narrativ verfasste Weltdeutungsmodelle (wie Heils- oder Universalgeschichte) können antike Referenzen transportieren. Doch kann Narrativität auch zum Faktor von Transformation werden, wenn etwa historische Ereignisse oder Personen zum Objekt unterschiedlicher Narrativierungen werden. Hierfür können auch Medien wie Glosse, Kommentar oder Gemälde, die anderen kommunikativen Absichten verpflichtet sind oder denen eine zeitliche Struktur oder eine Erzählinstanz fehlt, in Anspruch genommen werden. Im vorliegenden Band werden die Funktionen und Funktionsweisen von Transformationen unterschiedlicher Aspekte von Narrativität verfolgt: Die Ereignisse, 7 die Erzählungen konstituieren, aber auch die spezifischen diskursiven, sozialen, kulturellen und politischen Kontexte, in denen sie (ent-)stehen. Aus dieser Perspektive voll_____________ 4 5 6 7

Vgl. z. B. Vann (1998) und Chartier (1995). Vgl. Kemp (1996). Nünning/Nünning (2002), 2. Im Rahmen des hier zugrunde gelegten Narrativitätsbegriffs fallen der historische und der narratologische Ereignisbegriffe weitgehend zusammen: Auch historische Ereignisse entstehen erst in ihrer Wahrnehmung, Ausdeutung und historiographischen Verarbeitung; als historische Ereignisse sind zudem, ebenso wie im narratologischen Verständnis, solche Geschehen aufzufassen, die (anders als wiederkehrende oder prozessuale Vorgänge) eine relevante Zustandsveränderung evozieren.

Einleitung

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ziehen sich in jedem narrativen Akt vielschichtige Konstruktionen des Erzählten, in die Erzählende und Publikum gleichermaßen einbezogen sind. Wie die sehr unterschiedlich gelagerten Beiträge zeigen, hängen die Geltungsansprüche und Funktionalisierungen von historischen Faktoren ebenso ab wie von den jeweiligen gesellschaftlichen Kontextualisierungen, den Auftraggebern und Rezipientenkreisen. Den Transformationen antiker Narrative in Text oder Bildteppich im höfischen Kontext des hohen Mittelalters liegen ganz andere Interessen zugrunde als denjenigen, die in der Bildkunst der italienischen Renaissance oder im Rahmen der Historiographie des deutschen Humanismus entstehen. Es ist daher nicht der Anspruch des vorliegenden Bandes, über die Frage nach narrativen Transformationen Epochensignaturen oder epochale Zuschreibungen in Frage zu stellen bzw. zu etablieren. Vielmehr liegt, gerade aus einer interdisziplinären Perspektive, die Produktivität der Frage nach narrativen Transformationen darin, dass Erzählungen im Verlauf der Transformation nicht nur wieder-, sondern stets auch anders weitererzählt werden, indem sie den Interessen ihrer Produzenten und Rezipienten anverwandelt und für jeweils unterschiedliche zeitgenössische Deutungsmuster in Anspruch genommen werden. Dies sind Prozesse, die in der Einzelanalyse und im Zusammenspiel von literatur- wie kunst- und geschichtswissenschaftlichen Zugängen in ihrer Komplexität genau erfasst werden sollen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes behandeln daher narrative Transformationen nicht nur aus der Perspektive der Rezeptions- oder Motivgeschichte, sondern stellen stets auch Fragen • • •





nach dem Interesse, das diese Aneignung leitet, und dem politischen, sozialen oder ästhetischen Kontext, in dem sie erfolgt auf welcher Grundlage die Auswahl von Themen, Motiven und Sequenzen, von Erzählmodi und Erzählformen jeweils vorgenommen wird nach Form und Modus dieser Aneignungen, z. B. nach den Zusammenhängen zwischen formalen Gestaltungsprinzipien und Narration (vgl. den Beitrag von HANS KÖRNER), nach dem Mythopoetischen (in den Beiträgen von TATJANA BARTSCH und ANNA HEINZE) oder im Rahmen einer Universalgeschichte danach, ob eine antike Referenz als real-historisch oder mythisch interpretiert wird (ASAPH BEN-TOV) nach den medialen Bedingungen dafür: Welche Medien sind verfügbar und überhaupt dafür geeignet, bestimmte Narrative zu transportieren, und wie wirken sie sich auf das Erzählte aus (etwa das Geschichtsdrama im Beitrag von JULIA WEITBRECHT) nach dem Verhältnis von Repräsentation und Vergegenwärtigung von Antike: Obwohl Narrativität eine Form von sprachlicher Verfasstheit und Sequenzierung voraussetzt, werden antike Erzählungen immer wieder auch zum Objekt monumentaler Vergegenwärtigung und Präsenzstiftung etwa in höfischen Repräsentationszusammenhängen, wie am trojanischen Krieg deutlich gemacht werden kann (an Konrads von Würzburg Trojanerkrieg im Beitrag von BENT GEBERT und den Troja-Tapisserien bei BIRGIT FRANKE)

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Anna Heinze/Albert Schirrmeister/Julia Weitbrecht

nach der Bedeutung ›der‹ Antike: danach, welche Antike präferiert wird (griechisch oder römisch, biblisch oder mythologisch) und welche neuen Problemhorizonte sich aus solchen Aneignungen ergeben können (vgl. die unterschiedlichen Alexanderfassungen im Beitrag von MARKUS STOCK) nach dem Beobachtungspunkt des Erzählens: wann erzählt wird und in welcher zeitlichen Distanz man sich jeweils zur Antike bzw. zu den erzählten antiken Referenzen befindet, etwa ob man sie idealisiert oder sich von ihnen distanziert (vgl. den Beitrag von KIRSTEN POSTERT). In welchen Fällen verselbständigt sich das Erzählen so weit von der Antike, dass es irrelevant wird, ob Antikereferenzen in Form von Allusionen für den Hörer oder Leser noch erkennbar sind (vgl. MARTIN CLAUSS)? nach der narrativen Qualität von Historiographie, wenn diese als Selbstdeutung begriffen wird und der Erzähler/Autor sich und sein Publikum gewissermaßen als Telos der Erzählung konstituiert (vgl. die Beiträge von RONNY KAISER und ASAPH BEN-TOV) nach den Möglichkeiten, die narrative Qualität etwa von Geschichtsschreibung auch zu reflektieren, die Antikereferenzen bieten können (vgl. den Beitrag von PATRICK BAKER)

Aus diesem Fragenspektrum wird deutlich, dass in der narrativen Aktualisierung und Rekontextualisierung von Antike(m) stets auch eine spezifische Form der Verhältnisbestimmung, von simultaner Fremd- und Selbstdeutung liegt. Schon in der Antike werden Erzählungen über die Vergangenheit wie auch ›alte‹ Erzählformen zur Konstruktion einer eigenen Vorzeit und (durchaus konkurrierender) Selbst- und Fremddeutungen nutzbar gemacht. Umgekehrt wirkt sich die Konstruktion von Antike, ihre wechselseitig konstruierende, allelopoietische Inanspruchnahme, 8 auf die Verarbeitung antiker Figuren, Themen, Erzählstrukturen und Motivkomplexe aus. Narrativität dient so auch als Mittel der Konstruktion von Geschichtsbildern: Indem Zäsuren narrativ bewältigt, Übergänge und neue Zusammenhänge hergestellt werden, können mit Hilfe von Narrativen können nicht zuletzt historische Kontinuitäten geschaffen werden. Daneben finden sich auch inszenierte Brüche, produktive Ambivalenzen und Freiräume, die erzählerisch besetzt und genutzt werden. Die Verflechtung von historischen Ereignissen und ihrer narrativen Bearbeitung, in der Verarbeitung von Geschichte in Geschichten einerseits, im Historisch-werden von Geschichten andererseits, ist deshalb ein für diesen Band zentraler Aspekt, der ins Zentrum des Problems führt, welche Bedeutung Narrativität bei der Erforschung der »Transformationen von Antike« zukommt. Wie die Beiträge belegen, stehen Kontinuität und Innovation in einem äußerst produktiven Wechselverhältnis, das in den narrativen Transformationen immer wieder modifiziert wird. Neben der narrativen Inkludierung antiker Referenzen ins christliche Weltbild und der Konstruktion von historischen Zusammenhängen finden sich stets auch Imaginationsräume des ›Neuen‹, die in der Transformation antiker _____________ 8

Böhme u. a. (2011), 9 und 39.

Einleitung

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Narrative erst geschaffen werden. So können mittelalterliche Wiedererzählungen zur Verhandlung zeitgenössischer Problemstellungen und für die Konstituierung neuer Werteordnungen genutzt werden. Antike Mythen werden in ihren frühneuzeitlichen künstlerischen Adaptionen und medialen Transformationen schließlich zu Projektionsflächen für zeitgenössische Konzepte. Oftmals sind es nur noch einzelne Motive, die zwar auf aus der Antike überlieferte Handlungszusammenhänge verweisen, in ihrer Transformation aber Imaginationsräume für neue Narrationen bieten. In diesem Spannungsfeld von Konstruktion und Modifikation erscheinen Narrative als zugleich widerständig und äußerst wandelbar. Eine Konzentration auf den Formenreichtum und das breite Spektrum unterschiedlicher Transformationsleistungen wie Rekomposition, Montage, Aktualisierung und Vereindeutigung legt so auch die (nicht notwendigerweise bewusst oder intentional zu denkende) Konstruktionsleistung offen: Die jeweils ausgewählten und aufgenommenen Deutungsangebote werden modifiziert und an die Interessen der Zeit assimiliert. Hier lassen sich spezifische Sinnstiftungsstrategien beschreiben, die einerseits auf den entsprechenden historischen Kontext, andererseits aber auch auf das darin wirksame Interesse an der Antike verweisen. Es geht folglich weniger um die Bestimmung dessen, was Narrativität ist, als darum, die historisch spezifischen Formen, in denen Antiketransformation sich auf narrativ Verfasstes beruft und bezieht, adäquat zu erfassen. Der vorliegende Band geht auf eine im Dezember 2010 an der Humboldt-Universität zu Berlin veranstaltete interdisziplinäre Tagung zurück. Die Herausgeber danken neben allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an dieser Veranstaltung insbesondere dem SFB 644, in dessen Forschungskontext die Fragestellung des Bandes steht. Besonders sei auch den studentischen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gedankt, die mit großem Engagement zur Durchführung der Tagung beigetragen haben: Janis ElBira, Christian Faust, Axel Frank, Eva Maurer, Daniel Müller, Falk Quenstedt, Cornelia Selent, Sören Wolf und insbesondere Liouba Popoff, die uns darüber hinaus maßgeblich bei der Drucklegung des Bandes half. Der Dank geht schließlich an die Herausgeber der Reihe »Transformationen der Antike« im Verlag De Gruyter und an die anonymen Gutachter, die die Beiträge mit großer Sorgfalt gelesen und uns wertvolle Hinweise gegeben haben. Berlin, im Juli 2013

Anna Heinze, Albert Schirrmeister, Julia Weitbrecht

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Anna Heinze/Albert Schirrmeister/Julia Weitbrecht

Literaturverzeichnis Konrad von Würzburg, Der trojanische Krieg. Nach den Vorarbeiten K. Frommanns und F. Roths hg. v. Adelbert von Keller, Stuttgart 1858. Böhme, Hartmut/Bergemann, Lutz/Dönike, Martin/Schirrmeister, Albert/Toepfer, Georg/ Walter, Marco/Weitbrecht, Julia (Hg.): Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011. Chartier, Roger, »L’Histoire culturelle entre ›linguistic turn‹ et retour au sujet«, in: Wege zu einer neuen Kulturgeschichte, Göttingen 1995 (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, 1), 31–58. Kemp, Wolfgang, Die Räume der Maler, München 1996. Nünning, Vera/Nünning, Ansgar, »Produktive Grenzüberschreitungen: Transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie«, in: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, hg. v. dens., Trier 2002 (= WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium, 5), 1–22. Schmid, Wolf, Narratology. An Introduction, Berlin/New York 2010 [OA Moskau 2003]. Vann, Richard T., »The Reception of Hayden White«, in: History and Theory 37, 2 (1998), 143– 161.

1. Erzählende Literatur

Alexanders Orte: Narrative ›Bewältigungen‹ und Transformationen in der lateinischen und mittelhochdeutschen Alexanderepik MARKUS STOCK

I. Erzählen, Bewahren, Transformieren Die Antike ist eine relationale Größe, definiert einerseits durch ihre materialen und diskursiven Reste, andererseits durch deren Deutung und die diese begleitenden sinn- und kohärenzstiftenden Verfahren. Es gehört zu den viel frequentierten Gemeinplätzen, dass die Antike ebenso gemacht wie gewesen sei, eine Figur, die etwa die Renaissanceforschung prägt, aber auch, wenngleich in anderer Form, für frühere Transformationen antiker Bestände Gültigkeit hat: »From the point of view of reception theorists, the Renaissance created antiquity as much as antiquity created the Renaissance. What artists and writers practised was not so much imitation as transformation.« 1 Transformation kann auch als grundlegendes Modell des hochmittelalterlichen Wiedererzählens antiker Geschichte(n) gelten, in dem die Antike in eine dynamische Produktivität gerät, zugleich modifiziert oder sogar neu entworfen wird und der modifizierenden aktuellen Selbstverständigung der aufnehmenden Kultur dient. Diese Antikenrezeption und -transformation ist vor allem an Erzählen gebunden. Schriftlich fixiertes Erzählen hebt antike Stoffe auf, und daher wird man die Rolle von Narrativität in diesem Transformationsprozess zunächst als das Bewahren der Antike in ihren Geschichten, in ihrer Erzählbarkeit wahrnehmen. Aber Wiedererzählen ist immer auch Transformation, und es zeigt sich gerade in dieser Erzählbarkeit, dass Wiedererzählen als eine der zentralen kulturellen Aktivitäten der mittelalterlichen Literatur 2 beides beinhaltet: die bewahrende Geste genauso wie die Lust an den Wandlungen, Anpassungen im und durch ein Erzählen, das alte Erzählinhalte nicht nur bewahrt und transportiert (mit allen Ambivalenzen, die diese Inhalte mit sich bringen können), sondern das diese Inhalte auch umspielt, literarisch bearbeitet, Entscheidungen trifft über Auslassungen und Erweiterungen, über Kompilationen des oft nicht homogenen Angebots an Versionen und Färbungen. Diese _____________ 1 2

Burke (1998), 7. Worstbrock (1999).

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Markus Stock

mehr oder minder bewussten Entscheidungen im Wiedererzählen können auch selbst die Sinnstiftung ambiguisieren oder aber vereindeutigen. Die erzähltechnischen Verfahren, die bei dieser Fragestellung zur Narrativität zum Tragen kommen, sind weniger solche, die man mit Methoden der klassischen (historischen) Narratologie fassen könnte, 3 sondern eher solche, die im Rahmen der Intertextualitätsforschung 4 und neuerdings unter dem Stichwort der Retextualisierung 5 besondere Aufmerksamkeit erhalten haben; gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass sie, um die ältere Formulierung Renate Lachmanns aufzugreifen, »Literatur gegen den Leistungsdruck der Innovation verstehen« 6. Hier geht es zum Beispiel um mehr oder weniger markierte Selektionen, Additionen und Kombinationen überlieferter Elemente sowie die sie begleitenden semantischen Effekte, sinnstiftenden Verbindungen und Mehrfachkodierungen. Diese werden durch ein im weiteren Sinne literarisches Erzählen erzeugt. In der mittelhochdeutschen Antikenepik etwa entsteht so eine eigentümliche Spannung zwischen der semantischen Geste einer Teilhabe oder Bewahrung auf der einen Seite und der neuen Funktionalisierung sowie diskursiven Verständigung über das Eigene im historisch Fernen auf der anderen. Die volkssprachliche Antikenepik Deutschlands im zwölften und dreizehnten Jahrhundert zeigt sich dabei nicht vordringlich an ›Antike‹ als kohärenter kultureller Bezugsgröße interessiert: Vielmehr weist sie eine auf bestimmte Erzählstoffe und Wissensbestände bezogene Rezeption auf, ohne dass sich der Renaissance ähnliche Kohärenzüberschätzungen ausmachen ließen. Das Verhältnis hochmittelalterlicher Autoren zur Antike ist dabei, dies wurde oft beobachtet, ambivalent. Diese Ambivalenz lässt sich auch am mittelalterlichen Erzählen über Alexander den Großen nachzeichnen: keineswegs nur positiv oder nur negativ gesehen, ein Heide, aber durch seine heilsgeschichtliche Funktionalisierung historisch an die Gegenwart angebunden, gleichzeitig Magnet für Faszination und für Kritik. Die Ambivalenzen der Alexanderfigur, verstärkt durch den Rahmen mittelalterlich-christlicher Deutungsschemata, bieten Herausforderungen und Chancen für die mittelalterlichen Autoren. 7 Ihre neuen Sinnkonstitutionen, so meine These, bauen auf alten Spannungen auf, welche die Alexandervita vom Moment ihrer Verschriftlichung an begleiten: die Frage nach Wert und Sinn von Alexanders Eroberungszug, nach der Zugehörigkeit Alexanders zum griechischen oder östlich-persischen Sinnrahmen, die Bewertung der Vergöttlichung oder scheinbaren Vergöttlichung Alexanders nach dem Sieg über Darius und einiges mehr. 8 Ein Modell von Literarizität, das darauf beruht, dass ein komplexer Text ambiguisierend auf einen vorgegebenen Stoff, eine materia, reagiert, _____________ 3 4 5 6 7 8

Zur Diskussion um Möglichkeiten der Historisierung der Narratologie für die Mediävistik s. den Band von Haferland/Meyer (2010). Die beste Einführung in semiotische Fragen der Intertextualität bietet Lachmann (1990); zu mittelalterlichen Zugängen Draesner (1993), 13–19; Ridder (1999), 342–345; Stock (2003), 113–121. Bumke/Peters (2007). Lachmann (1990), 67. Überblicke über die mittelhochdeutsche Alexanderepik bieten Ehlert (1989), Lienert (2001), 26–71; Schlechtweg-Jahn (2006). Zum historischen Verständnis Cartledge (2005), Barceló (2007).

Alexanders Orte

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wäre für das mittelalterliche Erzählen über Alexander daher ganz fehl am Platz. Das bereits textuell offene, fundamental ambiguisierte und mythisch aufgeladene Feld ruft vielmehr nach einem anderen hermeneutischen Konzept, das einbeziehen müsste, dass die mittelhochdeutsche Alexandertradition in allen erhaltenen Texten versucht, die Offenheit, die Ambivalenz und die mythische ›Ladung‹ des Feldes mit vereindeutigenden erzählerischen Gesten zu ›bewältigen‹. Allerdings gelingt dies nie ganz, denn das Eigengewicht der vorgängigen Informationen und Erzählungen über Alexander den Großen spielt die Offenheit und Ambivalenz immer wieder ein. Dies gilt selbst, wenn Alexander, vor allem in der deutschsprachigen mittelalterlichen Tradition, heilsgeschichtliche Rollen auszufüllen hat. Mit anderen Worten: Er läßt sich nicht einfach und im Sinne einer christlichen Perspektive bruchlos schönerzählen. Das von mittelalterlichen Poetiken angebotene Modell der materia, die im aktuellen Text zu gestalten sei (tractare, dilatare), 9 ist in diesem Fall als heuristisches Modell von sehr begrenztem Nutzen. Der plurimorphe Charakter der vorgängigen Alexandertradition beeinflusst die Text- und Sinnproduktion so stark, dass der Blick sich eher auf diese Vielfalt als auf ein kohärenzüberschätzendes Konstrukt einer materia richten sollte. Die deutschsprachige mittelalterliche Literatur zeigt hierbei eine enorme Produktivität im Wieder- und Umschreibens der Vita Alexanders des Grossen. Dabei ziehen gewisse, in der Tradition immer wieder umspielte Erzählkerne besondere narrative Energie auf sich.

II. Die Väter Alexanders Schon die für das mittelalterliche Mittel- und Westeuropa relevanten spätantiken und mittelalterlichen lateinischen Texte widersprechen einander in der Bewertung Alexanders oder bringen die Widersprüchlichkeit des Makedonen selbst zur impliziten oder expliziten Verhandlung. Die Hauptkritikpunkte sind die Gefahr der Hybris sowie die Aufgabe einer makedonisch-griechischen Identität zugunsten einer persischen nach dem Sieg über Darius, und – eng mit beiden vorgenannten verbunden – die Wahrnehmung einer Selbstdeifizierung Alexanders im Zuge dieser Modifikation. Auch wenn alle diese Punkte nicht explizit mit dem Kindheits- und Jugendleben Alexanders in Verbindung gebracht werden, ist die Ambivalenz in den meisten Texten von vornherein vorgezeichnet: Dies betrifft nicht nur Alexanders Aussehen, das bereits mit der Geburt die Exorbitanz des zukünftigen Makedonenherrschers anzeigt, sondern auch die Umstände von Alexanders Geburt und ihre weit in die Erzählungen hineinreichenden Folgen. Diese Umstände formen einen der Erzählkerne, welche die besondere narrative Energie mittelalterlicher Bearbeiter auf sich gezogen haben. Die narrative Ausgestaltung dieses Kerns geht auf den griechischen Alexanderroman zurück, den der Archipresbyter Leo im zehnten Jahrhundert ins Lateinische übersetzt, nachdem er ihn, so _____________ 9

Bumke (2005), 10 f.

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Markus Stock

die Einleitung, während einer diplomatischen Mission in Konstantinopel entdeckt hatte. 10 Dieser Text wurde zur einflussreichsten Alexandererzählung des lateinischen Westens. In seinen weitverbreiteten erweiterten Fassungen wird er im allgemeinen als Historia de preliis Alexandri Magni bezeichnet. 11 Die zweite wichtige Tradition geht auf die seit dem zwölften Jahrhundert wiederentdeckte, spätantik-lateinische und rhetorisch-historiographisch akzentuierte Historia Alexandri Magni des Quintus Curtius Rufus zurück: In ihr sind aber aufgrund eines frühen Verlustes der ersten Bücher die Herkunft und Geburt Alexanders nicht auserzählt, so dass die mittelalterlichen Autoren sich für diesen Teil zumeist der Historia de preliis bedienen. Eine folgenreiche Komplikation ist in diesem Zusammenhang das Problem der Abstammung Alexanders von Nektanabus, dem ägyptischen Magier-Pharaoh, der Alexanders Mutter Olympias täuscht, mit ihr in Gestalt des Gottes Amon, der aussieht wie eine Riesenschlange oder ein Drache, Alexander zeugt und später selbst von Alexander getötet wird. Die Behandlung oder Nicht-Behandlung dieses neuralgischen Punkts in der mittelalterlichen Alexandertradition hat zu Recht viel Aufmerksamkeit erfahren. 12 Es ist signifikant, dass wichtige Alexandertexte des zwölften Jahrhunderts diese skandalöse, dynastisch problematische Herkunft des Makedonen abweisen, obwohl sie ausnahmslos verraten, dass sie darüber Kenntnis haben: Dies gilt für die Alexandreis Walters von Châtillon, für Alberics altfranzösisches Alexanderfragment (das ich hier nicht weiter anspreche), sowie für die frühen mittelhochdeutschen Texte, den Vorauer und den Straßburger Alexander. Scheinbar wenig überraschend ist die Auslassung der Nektanabus-Episoden im lateinischen Hexameterepos Walters von Châtillon, das der spätantiken Historia Alexandri Magni des Quintus Curtius Rufus folgt. Die Alexandreis springt dementsprechend in die Handlung hinein und hat keine Elternvor- und Kindheitsgeschichte Alexanders. Nektanabus scheint also zunächst keine Rolle zu spielen, doch bereits im ersten Monolog des jungen Alexander (I. 33–47) taucht das nicht erzählte Skandalon auf: semperne putabor / Nectanabi proles (»Soll ich immer als Kind des Nektanabus gelten«, I. 46 f.), ruft Alexander hier aus. Dies ist im Textzusammenhang sehr unvermittelt und wird nicht weiter erläutert. Diese Störung wiederholt sich in anderem Zusammenhang, als der weise, kunstmächtige Ägypter Zoroas den überlegenen Alexander in der Schlacht hämisch als Kind des Nektanabus und ewige Schande seiner Mutter (III. 167 f.) anspricht. Die Szenen bleiben Anspielung, da die eigentliche Geschichte vermieden wird: Walter enthüllt und verhüllt die strittige Version der Zeugung des Helden. Die Irritation aber bleibt und spielt wohl mit dem Vorwissen der Leser; ein Spiel mit der Abwesenheit und Anwesenheit des großen Legitimationsproblems der mittelalterlichen Alexandertradition, nämlich dass Alexander nicht der _____________ 10 11 12

Historia de preliis, 2 f. Dazu Schnell (1989), 32–34 u. 58–62. Friede (2000), 88–112; Braun (2004); Kartschoke (2005); Kragl (2006); Müller (2007), 80–92; speziell zu Rudolf von Ems Cölln (2002) und Zimmermann (in Vorbereitung); zu Ulrich von Etzenbach Stock (2003). Meine Überlegungen zu Walter von Châtillon folgen einem noch unveröffentlichten Papier von David Townsend über die Figur der praeteritio in Walters Alexandreis, das er zum ersten Mal an der University of Rochester vorgetragen hat.

Alexanders Orte

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Sohn Philipps und rechtmäßige Erbe von Makedonien sein könnte. In der handschriftlichen Überlieferung der im mittelalterlichen Schulbetrieb verwendeten und daher oft stark glossierten Alexandreis bekommt allerdings Nektanabus in der mise-enpage seinen Platz an den Rändern des Textes: So trägt etwa in der Erfurter Alexandreis-Handschrift (Amplon. 8º 17) ein Glossator die sicherlich weithin bekannte Information zur unsicheren Herkunft nach. Hier wird in Abbreviatur die ganze Geschichte erzählt, so dass Nektanabus und die problematische Herkunft Alexanders paratextuell expliziert werden. 13 Auch die ersten deutschen Alexandertexte müssen sich diesem Problem stellen, bis sich im dreizehnten Jahrhundert mit Rudolf von Ems, Ulrich von Etzenbach, dem Basler Alexander und späteren Alexandertexten eine entspannt-faszinierte Haltung zu der etwas anrüchigen Zeugung des Helden durchsetzt. Der Straßburger Alexander lehnt, wie der Vorauer Alexander und deren Vorlage, der altfranzösische Alexander des Alberic 14, die Nektanabus-Version ab, wie die bekannte zornige Einlassung zwischen Prolog und eigentlicher Handlung zeigt: Noch sprechint manige lugenêre, daz er eines gouchelêres sun wêre, Alexander, dar ih û von sagen: Si liegent also bôse zagen alle di is ie gedâhten: wande er was rehte kunincslahte. sulhe lugenmêre sulen sîn unmêre, iegelîchen frumen man. 15

Das sind die Geschichten, die Lügner erzählen, sie sind auszulassen. Dies ist dem Verfahren von Walter von Châtillon ziemlich ähnlich, wobei der Autor der lateinischen Alexandreis das literarische Spiel sucht: Es ist schon fast so, als wolle Walter die Ergänzung heraufbeschwören, ohne wirklich darüber zu sprechen. Der Straßburger Alexander allerdings, dem das Lateinisch-Literarisch-Spielerische der Alexandreis abgeht, hat seine Schwierigkeiten mit einer Tradition, in der diese Herkunft und die Beziehung zum Gott Amon eine so wichtige Rolle spielen. Diese Probleme werden sichtlich dadurch noch verstärkt, dass der Straßburger Alexander in seinem späteren Teil mit Leos Roman einem Text folgt, der selber keine Berührungsängste in Bezug auf Nektanabus und Amon-Jupiter hat. Manuel Braun hat vorgeschlagen, den textuellen Effekt, den die markierte Auslassung der Nektanabus-Geschichte erzielt, als ›Narben‹ im Text zu bezeichnen, die vor allem dort sichtbar werden, wo Amon im Quellentext auftaucht und der Straßburger Bearbeiter gezwungen ist zu modifizie_____________ 13 14 15

Abgedruckt in Colkers Ausgabe von Walters Alexandreis, 306. Friede (2000), 92 f. »Immer noch sagen viele Lügner, dass Alexander, von dem ich euch erzähle, der Sohn eines Zauberers sei: alle die dies je dachten, lügen wie böse Feiglinge, denn er kam aus rechtem königlichem Geschlecht. Solche Lügengeschichten sollen jedem guten Menschen verhasst sein.« Straßburger Alexander, v. 83–91; s. a. Vorauer Alexander, v. 71–76, und die Quelle dieser Invektive, Alberics Alexander-Fragment, 591, v. 27–32.

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ren. 16 Ganz monovalent ist aber der lateinische Alexanderroman Leos in diesem Punkt auch nicht. Zwar ist klar, dass Alexander der Sohn des Nektanabus bzw. Amons ist, aber in seinen Selbstbezeichungen kommt das nicht unbedingt zum Tragen. Zunächst bezeichnet sich Alexander in Briefanfängen immer als Sohn von Philipp und Olimpiades, bis er direkt nach dem Tode des Darius ein an die Perser gerichtetes Dekret erläßt, das mit »Rex Alexander, filius Ammonis dei et Olimpiadis reginae« (Leo II. 21) überschrieben ist (im Straßburger Alexander kommt es nicht vor). Die Tatsache, dass in Leos Roman die Selbstbezeichnung als filius Ammonis dei gerade nach dem Tod des Darius auftaucht, ist sicherlich bedeutsam: Ich lese sie als einen Reflex von Archi-Ambivalenzen, die auch mit Alexanders Deifizierung (oder griechischen Misskonzeptionen davon) im Perserreich nach seiner Machtübernahme zusammenhängen. 17 Doch findet nicht nur in Deklarationen Alexanders Erwähnung, vielmehr taucht er im lateinischen Text auch auf der Handlungsebene auf: Er erscheint Alexander im Traum, redet ihn als seinen filius an und rät ihm, inkognito das Heerlager von Darius zu besuchen (Leo II. 13). An dieser Stelle lässt sich am Beispiel der Bearbeitung im Straßburger Alexander zeigen, wie sehr ein Alexandertext dem Druck der Tradition ausgesetzt sein kann. Der deutsche Text macht aus Amon in dieser Szene Philipp, das heißt, er ersetzt, seiner Linie treu bleibend, den abgewiesenen Vater durch den legitimen und gleichzeitig die göttliche Abstammung durch die dynastisch unproblematische. Doch der Straßburger Alexander überschreibt das in seiner lateinischen Vorlage so selbstverständlich präsentierte Traumbild nicht ganz. Zunächst muss erklärt werden, wie Philipp Alexander im Traum erscheinen kann, und das wird so gerechtfertigt, dass Philipp der Zauberkünste 18 fähig, aber beileibe kein Gott sei, obwohl der Erzähler selbst das so in den buochen (v. 2532) gelesen habe. Der Erzähler beeilt sich in einem bemerkenswerten Eingriff anzumerken, das sei der leien spot 19. Wohlgemerkt vermeidet der Straßburger Alexander so das Skandalon, da Alexanders Vater eindeutig als der Makedonenherrscher Philipp identifiziert wird. Doch Philipp wird dem Erzähler fast zu dem, was am Anfang so energisch bestritten wird: ein goukelære, der durch liste in der Lage ist, seinem Sohn als Traumbild zu erscheinen. Gleich darauf wird der im Traum Erschienene dann von den Makedonen, die von ihm nur aufgrund von Alexanders Erzählung wissen, als Gott bezeichnet (v. 2566), und wenig später besucht Alexander wie in der lateinischen Vorlage auch im Straßburger Alexander als sein eigener Bote inkognito das Heerlager des Darius, genau wie der schillernde Vater des Traumes es ihm geraten hatte. Wie bei Leo halten die Perser den herannahenden Alexander im Straßburger Alexander für einen Gott: »Wer ist dere? / Er glîchet sêre einem gote.« (v. 2585 f.; »Wer ist das? Er gleicht sehr einem _____________ 16 17 18 19

Braun (2004). Zu den historischen Grundlagen dieser Bewertung s. Cartledge (2005), 102–106; 152–156; Heckel (2009). So die Übersetzung von Lienert; vielleicht ist list damit zu stark übersetzt. Straßburger Alexander, v. 2535; »dummes Zeug für Ungelehrte«. Lienerts Übersetzung der Stelle (»Gegenstand des Spotts für die Ungelehrten«) trifft das Gemeinte wohl nicht.

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Gott.«) Die aus dem lateinischen Text übernommene Ähnlichkeitsunterstellung rückt Alexander nochmals näher an die abgewiesene skandalöse Herkunft heran: Das ist nicht nur eine Narbe, hier suchen die Ambivalenzen der Tradition den Text heim.

III. Alexanders Orte: Issos, Siwa, Jerusalem Eine der bestimmenden Überlagerungen alter Spannungen mit neuen Sinnstiftungen tritt in den mittelalterlichen Alexandertexten an einer entscheidenden Stelle auf, die auch schon in den antiken als ein Dreh- und Angelpunkt der Vita gelesen wurde: Alexanders Sieg über den Perserkönig Darius bei Issos und die Übernahme der Herrschaft nach dessen Tod. In den antiken Quellen hängt damit eine zentrale Problematik des Alexanderzuges zusammen, der an dieser Stelle auch dadurch einen entscheidenden Wendepunkt hat, dass Alexander persische Sitten annimmt und sich, wie Curtius Rufus und andere kritisch anmerken, als Gott verehren läßt. Die Abwendung vom makedonischen Selbstentwurf des Herrschers zum persischen hin sorgt – offenbar ist dies historisch – für Kritik unter den Makedonen, die Alexanders neuen Kosmopolitanismus und seine Idee einer Kulturfusion nicht mittragen wollen, zumal diese mit Praxen einhergeht, die entweder auf eine Deifizierung Alexanders hinauslaufen, oder aber zumindest im makedonischen Sinnrahmen als solche verstanden oder missverstanden werden können.20 Bei Curtius Rufus hat der Sieg über Darius eine zentrale Stellung. Da er, dies wohl auch historisch, in zwei Entscheidungsschlachten erfolgt, Issos und Gaugamela, entsteht in der Alexandergeschichte des Curtius und in den mittelalterlichen Texten, die ihrer Anlage folgen, eine Art Aufschub, den die mittelalterlichen Texte je anders gestalten und semantisieren. In diesem zeitlichen Dazwischen finden sich, so meine These, vor allem in Texten, die der Curtius-Rufus-Tradition folgen, entscheidende Bedeutungsanlagerungen, die auschlaggebend für eine Deutung der Alexandervita sind: Nicht nur die beiden Siege über die Perser sind im Verständnis dieser Texte entscheidend für eine Bewertung Alexanders, sondern auch was zwischen diesen beiden Siegen, herausgehoben durch die Stellung in der Erzählung, geschieht. Dabei handelt es sich um eine Semantisierung, die sich an räumlichen Marken, an Orten oder Stationen, orientiert: Hier stechen neben Issos als besonders sinnträchtige Orte Siwa mit seinem Amon-Orakel und Jerusalem heraus. Das heilsgeschichtlich, machtpolitisch und weltgeographisch wichtige Jerusalem wird nämlich im hohen Mittelalter als Station an viele Alexandergeschichten neu angelagert. Dies geschieht erzählerisch einfach dadurch, dass Alexander Jerusalem besucht. Im Kern geht dies auf antike Erzählinhalte zurück und verbindet sich im Hochmittelalter in folgenreicher Weise mit der Alexanderroman-Tradition. Besonders deutlich modelliert sind diese an Stationen orientierten Semantisierungen in zwei mittelalterlichen Alexanderepen, die direkt auf Curtius Rufus zurückgehen: die bereits angesprochene lateini_____________ 20

S. Cartledge (2005), 102 f.; Heckel (2009).

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sche Alexandreis Walters von Châtillon und Rudolfs von Ems deutsches Alexanderromanfragment aus dem dreizehnten Jahrhundert. Der zweite wichtige deutsche Alexandertext des dreizehnten Jahrhunderts, der breit überlieferte Roman von Ulrich von Etzenbach, folgt hier Walters Alexandreis sehr eng, bietet aber eigene Neuakzentuierungen, die im Folgenden mitbesprochen werden. Prägend für die Struktur und Bewertung in diesen Texten ist die Gestaltung bei Quintus Curtius Rufus. Nach der Flucht des Darius und seiner Truppen bei Issos rückt Alexanders Heer in das Feldlager der Perser ein, in dem die persischen Frauen zurückgeblieben sind. Curtius berichtet vergleichsweise sachlich, wie die Sieger das Lager plündern und die Frauen vergewaltigen. Dabei nehmen sie nur das Zelt des Darius und die Mitglieder der Königsfamilie aus (III. xi. 20–22). Alexander selbst ist nicht beteiligt; er behandelt die Mutter und Ehefrau des Darius gut. In diesem Zusammenhang wird auch in einer ikonischen Szene ein letztes Mal Alexanders Band mit den Makedonen verdeutlicht, als er zu Darius’ Mutter, die seinen Freund Hephaistion für ihn selbst hält, sagt: »Non errasti mater; nam et hic Alexander est.« (III. xii. 17; »Du hast dich nicht geirrt, Mutter, denn dies ist auch Alexander.«) Doch direkt nach der demonstrativ-gnomischen Gleichstellung seiner selbst mit dem makedonischen Gefolgsmann wird Alexander für die Entwicklung kritisiert, die er nach diesem Punkt nehmen wird. Zu großzügig begünstigt von Fortuna, werde er später Freunde vergessen, in superbia und ira verfallen, die hier gezeigten guten Eigenschaften auf dem Eroberungszug ab Hellesponto ad Oceanum (III. xii. 18) verlieren. Insgesamt geht es unter anderem um einen zentralen Vorwurf der antiken Historiographen: dass Alexander vergisst, dass seine makedonischen Gefolgsleute seinesgleichen sind. Issos ist also bei Curtius Rufus ein liminaler Ort in zweifacher Hinsicht: Aufstieg der Herrschaft Alexanders, gleichzeitig Beginn seines moralischen Niedergangs. Die folgenden Episoden, die grausame Belagerung und Eroberung von Tyrus, sind implizite Kritik. Explizit wird die Kritik etwas später, am Amonorakel in Siwa, an dem Alexander sich nicht nur zu der ihm zugeschriebenen Abstammung von JupiterAmon bekennt, humanae sortis oblitus, »sein Menschsein vergessend«, wie der Text sagt (IV. vii. 25), sondern seinen Untergebenen die Anerkennung seiner Gottesabstammung befiehlt und damit seinen Ruf ruiniert (Iovis igitur filium se non solum appelari passus est, sed etiam iussit rerumque gestarum famam, dum augere vult tali appelatione, corrupit; »Er gestattete nicht nur, Jupiters Sohn genannt zu werden, sondern befahl dies sogar, und ruinierte damit den Ruhm seiner Taten, den er eigentlich durch diese Anrede vermehren wollte.« IV. vii. 30). Walter von Châtillon spitzt die bei Curtius Rufus vorgefundene Konstellation zu, indem er, was typisch für sein episches Verfahren ist, die Dinge eng zusammenzieht (III. 215–257): Er hebt die öffentlichen Vergewaltigungen im Lager bei Issos drastisch hervor (III. 225–234); gleichzeitig gliedert er die Kritik an Alexanders zukünftiger Entwicklung enger an diese brutale Szene an. Zunächst deutet er die Möglichkeit an, Alexander im Vergleich zu seinen Männern als besser darzustellen, indem er sein Verhalten gegenüber den weiblichen Mitgliedern der persischen Herrscherfamilie positiv von den Ausschreitungen im Lager absetzt (III. 238–242). Dann aber lässt er eine so starke Alexanderkritik folgen, dass er einen starken Zusammenschluss

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zwischen der makedonischen Vergewaltigerschar und ihrem (nur scheinbar, so legt es die Gestaltung nahe) zivilisierten Herrscher erreicht. Wichtiger noch ist, dass Walter in seiner Lektüre von Curtius Rufus auch die bei diesem erst später erwähnte Jupiterkindschaft Alexanders gleich hier, an diesem entscheidenden Wendepunkt thematisiert und nicht, wie Curtius Rufus, beim Besuch des Amonorakels (wie oben zitiert, IV. vii. 30). Walter lässt Alexander einen Schritt weiter gehen: Sich wie bei Curtius Rufus als Sohn Jupiters verstehend, verachte Alexander den Menschen in sich selbst (III. 253–257). Die Siwa-Station kommt später auch bei Walter vor (III. 370–385), aber der entscheidenden, in der Alexandreis vorgezogenen Attacke entkleidet, verliert der Besuch an Signifikanz. Walter spart sich dementsprechend auch in der Gestaltung des SiwaBesuchs die Erwähnung von Alexanders Jupiterkindschaft. Als Alexander wenig später (III. 431) im Kontext des Konflikts mit Darius doch als Sohn Jupiters bezeichnet wird, geschieht dies fast nebenbei. Im Ganzen also kann es als gezielte Kompositionsentscheidung gelten, dass Walter den Sieg bei Issos, die brutalen Übergriffe von Alexanders Heer und dessen Selbstdeifizierung in engstem Konnex präsentiert. Es ist ein Konzentrat bereitliegender Sinnangebote: Die Alexandreis bietet eine vereindeutigende Lektüre, indem sie den Issos-Siwa-Komplex zusammenzieht. Narrativität realisiert sich hier als Rekomposition bereitliegender Erzählangebote. Ulrichs von Etzenbach Alexander hat dem wenig hinzuzufügen, obwohl es bemerkenswert ist, dass der Text hier, anders als sonst, der Kritik Walters an Alexander folgt. Er bringt die Selbstdeifizierung Alexanders direkt mit dem korrumpierenden Einfluss von Reichtum (guot, v. 8991) in Verbindung, der den Menschen dazu bringe, sich für unsterblich zu halten (v. 8993). Dem Erzähler bleibt angesichts diesseitiger Ruhm- und Objektsucht, für die Alexander ja immer auch Exempel ist, hier nur übrig, ein Stoßgebet in die Narration einzubauen: Hilf uns vater Jhêsu, got, wenn sô der werlde tôt, unser âs bringet ze grabe, daz vor dir die sêle ruowe habe. 21

Dass diese Alexanderkritik nicht an mittelalterlichen Rezipienten vorbeigegangen ist, zeigt uns übrigens ein Bearbeiter einer Alexander-Handschrift des fünfzehnten Jahrhunderts: Die bei weitem schönste der spärlich gesäten Merkhände dieser repräsentativen Handschrift deutet genau auf diese Passage, mit der Aufforderung merk! versehen. 22 Die mittelalterlichen Autoren also nehmen Anregungen zum Verständnis der Alexandervita auf und bringen diese in eine Sukzession, welche die Deutung entscheidender Stationen leichter macht. Das Potential zur Abqualifizierung Alexanders, das sich aus den antiken Vorgaben ergibt, kann allerdings je nach Text aufgewogen werden durch eine Operation, die Alexander für eine heilsgeschichtliche Deutung in _____________ 21 22

Ulrich von Etzenbach, Alexander, v. 8997–9000; »Hilf uns Vater Jesu, Gott, wenn der Tod der Welt unsere Leiche zu Grabe bringt, dass die Seele in deiner Gegenwart Ruhe habe.« Frankfurt, UB, Ms. germ. qu. 4, fol. 70va.

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Anspruch nimmt und ihn für christliche Zwecke rettet. Es ist daher wenig überraschend, dass so gut wie alle hochmittelalterlichen deutschen und lateinischen Texte diese Möglichkeit wahrnehmen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt (nicht schon mit dem Alexanderroman Leos des Archipresbyters, aber mit allen auf ihr beruhenden interpolierten Fassungen der Historia de Preliis, also wohl mit dem späten elften oder dem zwölften Jahrhundert) wird dies aufgenommen, und zwar signifikant durch die Einfügung einer entscheidenden Station auf Alexanders Weg: Jerusalem. Diese Episode geht letztlich auch auf die Antike zurück, 23 verbindet sich aber erst im Hochmittelalter mit der Alexanderroman-Tradition, in der sie als Station auf dem Weg Alexanders durch den Nahen Osten eingegliedert wird. Übereinstimmend wird berichtet, wie respektvoll Alexander, der Städtezerstörer oder -unterwerfer, gerade mit dieser Stadt umgeht, wie deren Hohepriester Jaddus das Buch Daniel der Bibel und dessen Deutung präsentiert, in dem Alexander im Sinne der translatio imperii eine wichtige Rolle in Gottes Geschichts- und Heilsplan erfülle. In allen interpolierten Fassungen der Historia de preliis findet sich diese Szene, an deren Höhepunkt Alexander das Buch Daniel überreicht wird: Damit wird er, der ›Heide‹, als jemand gezeigt, dem seine eigene heilsgeschichtliche Bewertung und Rolle bewusst ist. Sieht man also schon in den Bearbeitungen der Historia de preliis selbst, wie sich die Gewichtungen verändern, so wird das bei Rudolf von Ems, der sich hier der Historia de preliis bedient, noch deutlicher. Entscheidende Modifikation ist die veränderte Position der Episode in Rudolfs Alexander. Während nämlich die Ereignisse um Alexanders Besuch in Jerusalem im lateinischen Text weit entfernt von der Entscheidungsschlacht bei Issos stattfinden und eher zu Beginn des Alexanderzugs stehen (im ersten Teil der Historia de preliis, cap. 28), findet sich bei Rudolf eine entscheidende Modifikation. Dieser zieht nämlich dieses im Hochmittelalter offensichtlich besonders begierig aufgenommene Sinnangebot in ebenjene Issos-Siwa Konstellation hinein, die ich gerade umrissen habe. 24 Jerusalem wird bei Rudolf von Ems zur wichtigsten Station Alexanders in der semantisch aufgeladenen Zwischenzeit, die zwischen den Siegen bei Issos und Gaugamela entsteht. Augenfällig wird dadurch der für das mittelalterliche deutsche Publikum sicher deutliche innere Zusammenhang zwischen Alexanders Sieg über Darius und seiner heilsgeschichtlichen Rolle. 25 Alexander und seine Soldaten werden bei Rudolf nach der Schlacht bei Issos in ein gutes Licht getaucht. So ist die Vergewaltigungsszene in bezeichnender Weise umgedeutet: Hier dringen Alexanders Leute zwar immer noch in Frauenzelte ein (v. 7550; es sind, wie etwas später deutlich wird, die Zelte der Königsfamilie), aber die Trauer der Frauen um ihre Lage bringt die Männer dazu, sie trösten zu wollen _____________ 23 24 25

Pfister (1976), 319–322. Das Curtius Rufus-Supplement liefert in der zweiten Interpolation diese Passage sogar für Curtius Rufus nach; s. Smits (1987), 117 f. Die heilsgeschichtliche Rolle Alexanders bei Rudolf von Ems stand immer im Zentrum des Forschungsinteresses; s. Wisbey (1966), 19–30; Brackert (1968); 184–200; Schnell (1969), 131–135; Schmitt (2002), 293–316.

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(v. 7562: si trôsten sie dô). 26 Da die bei Curtius in direkter Nachbarschaft stehende Alexanderkritik hier fehlt, 27 sind die Voraussetzungen, unter denen die folgenden Episoden bei Rudolf zu lesen sind, völlig andere. Zwar steht im Folgenden vor allem die Tyrus-Episode unter dem Zeichen kriegerischer Brutalität, 28 aber in der dann breit ausgeführten Jerusalem-Episode erscheint Alexander friedlich, gesprächsbereit und tolerant. Die Hauptfunktion der Jerusalem-Station ist aber die, dem Helden ein Bewusstsein über seine historische Rolle zu geben (er könnte ja auch, wie etwa im Vorauer Alexander angedeutet, 29 ohne jegliches Bewusstsein instrumentum Dei sein). In dieser Funktion tritt sie zu Issos und Siwa hinzu, ja überragt die Siwa-Episode in ihrer Bedeutung bei weitem. Dadurch bekommen Alexanders Verhandlungen mit Jerusalem und die Kommunikation mit deren Hohepriester Jaddus das größte Gewicht in dieser Phase der Erzählung. »In Jerusalem, also an heilsgeschichtlich ohnehin bedeutsamem Ort, wird Alexander zum ersten Mal ausdrücklich als Teil des durch die Autorität der Bibel verbürgten göttlichen Heilsplans ausgewiesen.« 30 Die Integration der Jerusalem-Episode in Rudolfs Alexander kann daher nicht nur als »gezielte Selektionsentscheidung« 31, sondern auch als gezielte Positionsentscheidung gelesen werden. Die Jerusalem-Episode überlagert auch in ihrem prophetischen Gehalt das Amon-Orakel bei Siwa als die andere auf eine Prophetie hin zentrierte Szene in dieser Partie des Alexanderromans. Siwa erscheint dementsprechend als eine Episode unter vielen, das Orakel ist seiner göttlichen Potenz entkleidet. Bemerkenswert ist aber, dass Jerusalem als christlich-heilsgeschichtlich relevante neue Station nicht einfach den Amonorakel-Besuch in Siwa tilgt und ersetzt. Das würde auch nicht dem im volkssprachlichen Kontext unvergleichlichen Prologprogramm Rudolfs entsprechen, in dem er die Prinzipien seiner Historiographie offenlegt und sehr deutlich macht, dass er auf Vollständigkeit Wert legt. 32 Zu beobachten ist aber der erzählerische Versuch, das Amonorakel seiner göttlichen Aura zu entkleiden, indem es mit dem Teufel in Verbindung gebracht wird. Zunächst wird eher neutral Alexanders Vorhaben erwähnt: er wolde doch dar kêren sînen goten z’êren, wan Hammône und allen gotn was diu êre dô gebotn

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Stackmann (1964), 222–224. Alexander wird als in seinem Verhalten den Frauen gegenüber als zuchtvoller Musterherrscher gezeigt; dazu Stackmann (1964), 222; Wisbey (1966), 74. Wisbey (1966), 75 f., sieht in ihr eine Relativierung Alexanders. Schlechtweg-Jahn (2006), 53–56. Schmitt (2002), 301. Ebd. Zum Prologprogramm Schmitz (1999); Schmitt (2005a), 114–126; Schmitt (2005b), 189–195.

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Markus Stock daz in der vorst gewîhet was und man ir dienst dar inne las. 33

Als Markenzeichen des Waldes Hammon (schon bei Curtius Rufus trägt das Heiligtum selbst diesen Namen) wird der in der Alexander-Tradition weithin überlieferte magische Brunnen beschrieben, der zur Mittagshitze eiskaltes, um Mitternacht aber siedend heißes Wasser führt. Der Ortskult wird mit diesem Brunnen und mit dem Teufel in Verbindung gebracht: durch disen wunderlîchen site hânt sie den ouch vür einen got und durch des tiuvels gebot. 34

Die Gültigkeit des Orakels für Alexander wird aber nicht weiter angezweifelt, 35 und das Amon-Orakel weist dem Makedonenherrscher die Weltherrschaft voraus: sîn opher und sîn gebet der künec dô den goten tet, von diu wart im trôst gegebn die wîle daz er solde lebn, daz er elliu rîche alsô gewalteclîche twingen solde in sîne kraft dazs im würden zinshaft. 36

Gleichzeitig werden diejenigen Aspekte getilgt, die störend einwirken könnten: Rudolf läßt Alexander nicht den Wunsch oder die Vorstellung äußern, Amon-Jupiters Sohn zu sein und als solcher anerkannt zu werden: Das kommt in Rudolfs Alexander weder bei Issos noch beim Besuch des Amon-Orakels vor. Die Prophezeihung des Amon-Orakels wird durch die Addition und Neuanordnung der Szenen in Rudolfs Alexander zum Echo und zur Ergänzung der Alexander in Jerusalem verlesenen Weissagung aus dem Buch Daniel, dass ein Grieche Persien bezwingen würde, was Alexander in Gedanken auf sich selbst bezieht (v. 9811– 9832). Die Legitimation der jüdischen Weissagung ist im mittelalterlichen Werthorizont eine andere. Zunächst ist zu bemerken, dass sie einen anderen medialen Status als das Amon-Orakel hat, da der jüdische Priester sie Alexander in einem Buch zu sehen gibt: _____________ 33 34 35 36

Rudolf, Alexander, v. 10455–10460; »Er wollte sich dorthin begeben zur Ehre seiner Götter, denn Hammon und alle Götter wurden dort dadurch geehrt, dass ihnen der Wald geweiht war und man ihren Gottesdienst darin feierte.« Rudolf, Alexander, v. 10552–10554; »Wegen dieser merkwürdigen Eigenschaft [des Brunnens] und weil der Teufel es ihnen befiehlt, halten sie den [Hammon] für einen Gott.« Diese Ambivalenz bespricht auch Schlechtweg-Jahn (2006), 117 f. und spitzt sie zu: »Der Text bleibt hier uneindeutig und läßt den Rezipienten wieder mit der Frage allein, ob nun Gott oder der Teufel hinter Alexander stehe.« (118). Rudolf, Alexander, v. 10555–10562; »Sein Opfer und sein Gebet brachte der König da den Göttern dar; daraufhin wurde ihm versichert, dass er, solange er leben würde, alle Reiche so mächtig unter seine Herrschaft zwingen würde, dass sie ihm zinspflichtig würden.«

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der êwart lie den künec sehn ein buoch da was geschriben an waz Daniêl der wîse man, der Gotes wissag, ie gesprach. 37

Die überlieferte, durch die Heilige Schrift medial gestützte Weissagung hat mehr Gewicht als die im Kult oral vermittelte des Amon-Orakels. Sie hat auch einen anderen ideologischen Hintergrund, da der jüdische Priester in der Bitte um Religionsfreiheit, die er an Alexander richtet, den Zusammenhang der mosaischen Religion mit der christlichen impliziert, den das mittelalterliche Publikum unschwer erkannt haben wird: herre, sô lâz uns die ê die wir hân von Moysê und von des hœhsten Gotes gebote, leisten âne vorhte Gote. 38

Die Doppelung der entscheidenden Orakel-Szenen innerhalb der langen Passage zwischen Issos und Gaugamela verschiebt also die ideologischen Akzente hin zu einer positiveren Bewertung Alexanders und seiner Karriere. Gleichzeitig aber, und dies ist eine typische Entscheidung, kann das Amon-Orakel nicht einfach ausgelassen werden, obwohl es aufgrund seiner paganen Bindung und seiner bereits von antiken Autoren besorgt registrierten inneren Verknüpfung mit Alexanders Selbstüberhebung als eine besonders problematische Szene gelten konnte. 39 Die Spannungen bleiben also in der Neufunktionalisierung erhalten. 40 So bietet Rudolf eine besonders mühevolle Bewältigung, die gleichwohl nicht ganz verdecken kann oder will, was offensichtlich den mittelalterlichen Autoren, hier mit den antiken einig, ein großes Problem war: das Selbstverständnis Alexander als filius Ammonis, seine Selbstvergöttlichung und Objektgier, die aufgrund der positiven Faszination für die christlichen Autoren und ihr Publikum einer Neukontextualisierung bedurfte. Die heilsgeschichtliche Bindung kann in diesem Sinne als Legitimation für diese Faszination dienen. Gleichzeitig aber ist die Eingliederung Jerusalems in die Abfolge signifikanter Orte am Höhe- und Wendepunkt seiner Karriere als Versuch zu lesen, Alexander im hochmittelalterlichen Imaginationshaushalt neu bedeutsam zu machen: die Dialektik, die sich zwischen Siwa und Jerusalem entspannt, kann einem mittelalterlichen Publikum die Signifikanz der an Issos und Gaugamela geknüpften Ereignisse neu begreifbar machen. _____________ 37 38 39 40

Rudolf, Alexander, v. 9813–16; »Der Priester ließ den König ein Buch sehen, in dem geschrieben stand, was Daniel, der weise Mann, der Prophet Gottes, früher gesagt hatte.« Rudolf, Alexander, v. 9843–9846; »Herr, dann erlaube uns, ohne Furcht Gott das Bekenntnis zu leisten, das wir von Moses und dem Gebot des höchsten Gottes erhalten haben.« Curtius Rufus spart nicht an relativierenden und kritischen Bemerkungen in seiner Erzählung der Siwa-Episode (s. bes. IV. vii. 26–29). Keinesfalls kann man davon sprechen, dass es »letztlich unwichtig« sei, ob Amon oder der christliche Gott Alexander zu Taten auffordert; so aber Schnell (1969), 159.

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IV. Narrativität und Transformation Das mittelalterliche Wiedererzählen des Lebens Alexanders, hier exemplifiziert an zwei entscheidenden Punkten der Vita, kommentiert und re-evaluiert durch Selektion, Rekombination und Repositionierung überlieferter Textelemente die geschichtliche Bedeutung und Funktion der Hauptfigur. Die Fragen nach der Identität und Herkunft Alexanders und seiner Exorbitanz, die in einem komplexen, spannungsreichen Geflecht von Erzählungen ins Mittelalter tradiert werden, bergen erzählerische Chancen und Herausforderungen für die mittelalterlichen Autoren. Sie stellen sich diesen, indem sie ordnen und reihen sowie Angebote der Tradition abweisen oder aber aufnehmen, um den Makedonenherrscher und seine das Maß sprengende Existenz zu erklären und neu zu positionieren. In beiden analysierten Fällen wird der Versuch deutlich, Alexander auf eine monologische Deutung zuzutreiben. Für den Straßburger Alexander kann er so als rehte kunincslahte gelten, und in Rudolfs Alexander kann sein Sieg über Darius durch den Besuch in Jerusalem an strukturell signifikanter Stelle neu fundiert werden. Trotz dieser monologisierenden Tendenz kann oder soll das Erzählen über Alexander aber nicht aus seiner fundamentalen Ambivalenzspannung gelöst werden: Selbst in der Verneinung halten der Vorauer und Straßburger Alexander die abgewiesene skandalöse Herkunft Alexanders präsent. Die Abweisung seiner Abstammung vom goukelære bezeugt die Verdrängung des Skandalons und gleichzeitig die Aufhebung dieser Verdrängung, ohne aber das Verdrängte annehmen zu müssen. 41 Und selbst wenn Rudolf von Ems in der JerusalemEpisode Alexanders Anspruch auf die Weltherrschaft biblisch grundiert, übernimmt er mit der Siwa-Station auch die im Kern gleiche Weissagung der Prophetie des ›anderen‹ Kultes. Sie mag reflexhaft mit dem Teufel in Verbindung gebracht und daher nicht als ebenso gültig angenommen werden, aber in Alexanders Sieg über Darius wird sie sich genauso erfüllen wie die biblische Prophezeiung. Derart erzeugt die Mehrfachkodierung die typische Spannung, die in der Figur Alexanders nicht nur in den (spät-)-antiken Texten, sondern in veränderter Form auch im mittelalterlichen Geschichte(n)-Erzählen immer neu aufbricht.

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»Die Verneinung ist eine Art, das Verdrängte zur Kenntnis zu nehmen, eigentlich schon eine Aufhebung der Verdrängung, aber freilich keine Annahme des Verdrängten.« Freud (1925).

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Literaturverzeichnis Quellen [Alberic, Alexander] Mölk, Ulrich/Holtus, Günter, »Alberics Alexanderfragment. Neuausgabe und Kommentar«, in: Zeitschrift für romanische Philologie 115 (1999), 582–625. Quintus Curtius Rufus, History of Alexander, with an English Translation by John Rolfe, 2 vols., Cambridge, Mass. 1946 (= Loeb Classical Library, 368. 369), repr. 2006. Historia de Preliis Alexandri Magni (Der lateinische Alexanderroman des Mittelalters). Synoptische Edition der Rezensionen des Leo Archipresbyter und der interpolierten Fassungen J1, J2, J3, (Buch I und II), hg. v. Hermann-Josef Bergmeister, Meisenheim am Glan 1975 (= Beiträge zur klassischen Philologie, 65). Der Alexanderroman des Archipresbyters Leo, untersucht u. hg. v. Friedrich Pfister, Heidelberg 1913 (= Sammlung mittellateinischer Texte, 6). Rudolf von Ems, Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts, hg. v. Victor Junk, 2 Bde. Leipzig 1928/1929 (Bibliothek des litterarischen Vereins 272 und 274), ND (1 Bd.) Darmstadt 1970. [Straßburger Alexander] Pfaffe Lambrecht, Alexanderroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg. v. Elisabeth Lienert, Stuttgart 2007 (= RUB 18508). Ulrich von Eschenbach, Alexander, hg. v. Wendelin Toischer, Tübingen 1888 (= Bibliothek des litterarischen Vereins, 183). Vorauer Alexander s. Straßburger Alexander [Walter von Châtillon] Galteri de Castellione Alexandreis, hg. v. Marvin L. Colker, Padua 1978.

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Narration und Ostension im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg BENT GEBERT

I. Vorüberlegung: Zum (Un-)Sichtbarkeitsparadox von Antikentransformationen Transformationen antiker Historiographie und Literatur verdanken ihre Karriere in der alteuropäischen Tradition bemerkenswerten Paradoxien. Lässt sich ihre Evolution einerseits als Folge produktiver Konstruktionen durch spätere Aufnahmekulturen rekonstruieren, so beschreiben sich diese andererseits häufig selbst als Kontinuitäten: Konzepte wie antiquitas, renovatio oder rinascita sind nur die erfolgreichsten semantischen Varianten, die Modernisierungen als Rückkehr, innovative Vermittlungen als Wiederherstellung erscheinen lassen – und dadurch (partiell) unsichtbar machen. 1 Doch nicht erst seit der Renaissance prägen (Un-)Sichtbarkeitsparadoxien dieser Art die Zugriffe von Künstlern und Historiographen auf Geschichten der Antike – schon mittelalterliche Antikentransformationen machen von ihnen produktiven Gebrauch. So erklärt im vorletzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts Konrad von Würzburg zu Beginn seines Trojaromans, durch Montage von antiken Quellentexten und französischer Romanvorlage eigentlich nur das brüchig gewordene »alte buoch von Troye« (Tr 270) 2 reparieren zu wollen: mit worten lûter unde glanz, ich büeze im sîner brüche schranz: den kan ich wol gelîmen z’ein ander hie mit rîmen, daz er niht fürbaz spaltet (Tr 275–279)

Nicht nur Handwerksterminologie (»schranz«, »gelîmen«, »niht fürbaz spaltet«), sondern auch florale Wachstumsmetaphern bezeugen Konrads Bemühen, die innovativen Züge seines Wiedererzählens von Troja zu verdecken: Wie eine frische Schwertlilie solle das Buch von Troja nun wieder erblühen (Tr 270 f.: »schôn als ein vrischiu gloye / sol ez hie wider blüejen«). Auch im Trojanerkrieg kündigt sich Wandel somit _____________ 1 2

Vgl. hierzu die klassische Studie von Panofsky (2001), insbes. 15–117. Zur Konzeptgeschichte von Innovation als ›Wiederherstellung‹ vgl. auch Girardet (2000) und von Müller (2004), darin insbes. die Beiträge von Enno Rudolph, Dietmar Peil und Andreas Tönnesmann. Sämtliche Zitate folgen unter der Sigle »Tr« der Ausgabe Konrad von Würzburg, Der trojanische Krieg. Sämtliche Übersetzungen bzw. Paraphrasen stammen vom Verfasser.

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als Kontinuität an, genauer: als Wiederherstellung von Kontinuität. Erst in jüngerer Zeit ist die Forschung darauf aufmerksam geworden, dass ein solches Prologprogramm weniger den Innovationscharakter der kompilatorischen Arbeit betont, 3 als vielmehr die innovativen Züge seines Erneuerns der Erzähltradition von Troja mit metaphorischen Mitteln gleichsam dem Blick entzieht – ein Verfahren der Paradoxielöschung, das auf die grundlegende Ambivalenzstruktur mittelalterlichen Wiedererzählens reagiert, indem es die Differenz von innovativen Geschichten und kontinuierlicher Geschichte zum Verschwinden bringt. 4 Schon mit seinem Prolog zielt der Trojanerkrieg darauf, diese Transformation unsichtbar zu machen. Welche Möglichkeiten bieten sich, mit dem (Un-)Sichtbarkeitsparadox umzugehen? Folgt man der kulturwissenschaftlichen Diskussion zur Transformationstheorie in der »allelopoietische[n] Annahme«, in Transformationsprozessen der Antike »werde in einer reflexiven Bewegung nicht nur der Aufnahmebereich [...], sondern auch sein Referenzbereich konstruiert«,5 so vertiefen sich die Paradoxien: Wie lassen sich Transformationen beschreiben, die ihre Dynamik gerade zu verbergen suchen, sich also nicht als konstruktive Aneignung, Hybridisierung oder »Umwertung« ausstellen, 6 sondern – ungeachtet ihrer gravierenden Veränderungen – als persistent auftreten? Konrads Trojanerkrieg verweist demnach auf einen blinden Fleck von Transformationen, der für mittelalterliche Verfahrensweisen mit der Antike erst in Ansätzen aufgearbeitet ist: Wie lassen sich ›Innovationskulturen‹ der historiographisch-literarischen Antikerezeption erfassen, die sich als ›Kontinuitätskulturen‹ gebärden? 7 Für die Erkundung paradoxer Transformationen von Geschichten in Geschichte bietet der Trojanerkrieg ein paradigmatisches Objekt. Konrads Romantorso basiert auf historischen Konzepten und Praktiken, die nicht nur Referenz- und Aufnahmekultur verändern, sondern deren spezifische Leistung darin besteht, diese Konstruktionen verschwinden und als nicht-konstruierte Gegebenheiten hervortreten zu lassen. Sol_____________ 3

4

5 6 7

Die stoffgeschichtlichen Grundlagen von Konrads Quellenkompilation sind bekannt: vgl. Lienert (1996) und Pfennig (1995). Nach den innovativen Aspekten der Quellenverarbeitung zu fragen genießt in der Konradforschung traditionell den Vorzug: Schon Basler (1910) leitete der Wunsch, im vergleichenden Blick auf die »Mischung französischer und lateinischer Quellen« Konrads »dichterische Überlegenheit über den französischen Meister festzustellen« (5 f.). Monecke (1968) lenkte die Frage nach Konrads Innovationen auf stilgeschichtliche Gesichtspunkte: Als Kern des Erzählens bestimmte Monecke »ein faszinierendes, die Aufmerksamkeit, die Neugier erregendes Element« (8). Hat sich die jüngere Forschung auch gründlich von normativen Beweisführungen und einheitlichen Stilerwartungen verabschiedet, so gilt das Augenmerk dennoch weiterhin vor allem den stofflichen und ästhetischen Innovationen, weniger dem Kontinuitätsprogramm des Trojanerkriegs. Zum Prologprogramm des Erneuerns im Trojanerkrieg vgl. grundlegend Kellner (2006); auch über den Prolog hinaus sieht Hasebrink (2009) in den ästhetischen Effekten des Trojanerkriegs eine »magische Potenz« wirksam, welche »die Kluft der Differenz zur Vergangenheit der überlieferten Texte und ihrer Geschichte(n) überbrückt« (216). Zur Spannung von Kompilationsarbeit und Wiederherstellung bei Konrad vgl. auch Worstbrock (2009). Mit dieser Formulierung folge ich Schirrmeister (2010), 110. Auch Innovationstheorien legen den Akzent vornehmlich auf markierte Veränderung: vgl. z. B. zur »Umwertung« als Innovationsstrategie Groys (1992). Vgl. Marquard (1997).

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che Effekte von Unsichtbarkeit bei gleichzeitig intensivierter Sichtbarkeit, so die im Folgenden zu begründende These, werden durch spezifische Verfahren getragen, die einen Narrationstyp des Vorzeigens konstituieren. Diesen näher zu erkunden scheint mir ein lohnender Schritt, um einerseits die inhärenten Paradoxien des Transformationskonzepts auszuleuchten, andererseits aber narrative Bedingungen angeben zu können, unter denen Antikentransformationen Kontinuitätseffekte freisetzen und sich zu Traditionen verstetigen. Die folgende Lektüreskizze zum Trojanerkrieg Konrads von Würzburg gilt diesem Versuch. 8 Konrads Trojaroman könnte sich für diesen Zusammenhang in besonderer Weise als aufschlussreich erweisen, weil er wie kein anderer Text des Mittelalters Geschichten in Geschichte transformiert – und diesen Umstellungsvorgang selbst zum Thema macht. Während die erste Erzählhälfte des Trojanerkrieg-Torsos eine Vielzahl an narrativen Sinnmodellen wie Traumdeutung, Parisurteil, Genealogie, Prophetien oder Ketten von Rache und Vergeltung entfaltet, um den Doppelkrieg vor Troja zu motivieren und die syntagmatische Kohärenz des Erzählens zu sichern, stellt Konrad seine Erzählverfahren in den nachfolgenden Erzählpartien signifikant um. Mit dem Kriegsgeschehen öffnet sich das Erzählen verstärkt für Praktiken, die sich als Ostensionen fassen lassen, für Akte des Erscheinenlassens und Vorzeigens, die der Erzähler in einem bemerkenswerten metapoetischen Kommentar reflektiert. Was im ersten Teil des Romans in Glanzpunkten wie dem Apfel der Discordia, der Beschreibung Helenas oder Medeas punktuell aufschien, 9 wird nun zur Methode: Verweisungsstrukturen sinnförmiger Narration brechen in Grenzeffekten intensivierter Sichtbarkeit zusammen, die mit Stichworten wie ›Ästhetisierung‹ oder ›blümendem Stil‹ nur unzureichend beschrieben sind. 10 Vielmehr könnten Konrads Erzählverfahren ins Zentrum eines Transformationstyps führen, der religiöse wie säkulare Diskurse ab dem hohen Mittelalter gleichermaßen durchzieht. 11 Im Unterschied zu stärker sinnförmig organisierter Narration wäre ostensives Erzählen dabei als eine kulturell generalisierte Form zu untersuchen, mittels derer mittelalterliche Erzählkulturen auch Geschichten der antiken Historiographie auf Präsenz stellen. Dies möchte ich in zwei Schritten entwickeln, die zunächst zu konkreten Erzähltransformationen des Trojanerkriegs führen, bevor anschließend nach dem grundsätzlichen Paradoxiemanagement von Ostensionen zu fragen ist, das diese Transformationen leiten könnte. _____________ 8 9 10 11

Die folgenden Überlegungen beschränken sich bewusst auf eine Analyseskizze und wenige ausgewählte Literaturhinweise. Ausführlicher rekonstruiere und erörtere ich den vorgestellten Zusammenhang der Invisibilisierung in meiner Dissertation: Gebert (2013). Vgl. hierzu in der jüngeren Forschung u. a. Hasebrink (2002), Laufer (2009), Lechtermann (2008), Müller (2006) und Scheuer (2006), insbes. 60–62. Zur Ästhetisierung im Trojanerkrieg und zur Kritik des Forschungsparadigmas des ›Blümens‹ vgl. Müller (2006) und Müller (2008); vgl. auch Lienert (1996), 307–309; zu Konrads Paradoxierung von Sichtbarkeit und Erzählen vgl. insbes. Bleumer (2010). Zur Diskussion dieser Differenzlinie vgl. zuletzt Strohschneider (2009).

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II. Von der Erfüllung der Zeichen zum Erzählen mit erfüllten Zeichen: Eine Analyseskizze zum Trojanerkrieg Als sich die griechischen Kriegsschiffe der Küste Trojas nähern, unterbricht Konrads Erzähler seine Berichterstattung für eine bilanzierende Analepse: hie wart der troum bewæret und sîn bezeichenlicher schîn, der Ekubam die künegîn mit sîme glanze erlûhte. ich meine, dô si dûhte bescheidenlîche z’einer stunt ein bluotic vackel wære enzunt, diu von ir herzen brande Troiæren unde ir lande ze kumber und ze nœten, dâ von der künic tœten Pârîsen hiez die knehte sît, dem si dô liezen bî der zît sîn leben vil gehiure und in von âventiure vant ein hirte reine, der in von kindes beine zôch lange in dem gevilde. der troum von sînem bilde wart êrst z’eim ende vollebrâht, dô dirre verte was erdâht, diu von den Kriechen wart erhaben. (Tr 23640–23651)

Ausführlich rekapituliert der Kommentar nicht nur jene Vorgeschichten des Krieges, die mit der Figur des Paris verknüpft sind; auch viele weitere bislang getrennte Erzählfäden laufen bei der Ankunft der Griechen vor Troja zusammen. Wortwörtlich einzutreffen scheint zunächst das Unheil, das Hekubas Fackeltraum bei der Geburt von Paris angekündigt hatte (Tr 350–379); die Bezeichnungskraft ihres Traumes gelange mit den anlandenden Schiffen »z’eim ende«. Noch einen zweiten Ursachenkomplex sieht der Erzähler an dieser Stelle vollstreckt – den Göttinnenstreit um den Apfel der Discordia (vgl. Tr 1611–2881): der apfel guldîn unde ergraben, den Discordiâ dur strît brâht ûf der göte hôchgezît unde in warf drîn feinen vür, ich wæne, daz der nû verlür ouch alle sîne bîschaft. swaz sît bezeichenlicher craft Troiæren von im künftic wart, daz wart erfüllet von der vart,

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der sich die Kriechen flizzen. (Tr 23662–23671)

Auch mit dem goldenen Apfel wird das Ende eines Zeichenpotentials betont: durch die Ankunft der Griechen am Konfliktort Troja verliere dieser seine »bîschaft«, seinen deutungsträchtigen Charakter als Vorzeichen. Doch dieser Ausdruck bündelt mehr, wie schon Matthias Lexer festhielt: »bîschaft« meint nicht nur Narrative, die Deutung stiften, d. h. Narrative zweiter Ordnung zu konstruieren erlauben, sondern zugleich diese Deutung selbst. 12 Wenn Konrads Erzähler anlässlich der Kriegsfahrt den Untergang von »bîschaft« proklamiert, lässt sich dies als Schließung von Verweiskraft, kurz: als Erfüllung von Sinn verstehen. 13 Als Zeichen werden Hekubas Zerstörungsvision oder der Apfel der Discordia damit funktionslos. Solche narrativen Verweissysteme begegnen im Trojanerkrieg in vielfältiger Form. Denn auf die drohende Katastrophe vorverwiesen hatten zu Beginn nicht nur Frauentraum und mythologischer Zankapfel, wie der Erzähler im Blick auf die Prophezeiung des Proteus nochmals rekapituliert: ouch sult ir alle wizzen, swaz Prôtheus der wîssage geseite bî dem selben tage, dô man sêr umb den apfel streit, daz sich dâ mit bezeichenheit nâch dirre vart bewârte. (Tr 23672–23677)

Auf der Hochzeit von Peleus und Thetis hatte der Wahrsager Proteus nicht nur die Geburt Achills angekündigt, sondern auch dessen Gefährdung im Trojanischen Krieg (vgl. insgesamt Tr 4496–4667): Würde man jedoch verhindern, dass Achill in den Krieg zöge, »sô möhte er sînen lebetagen / behalten und gefristen« (Tr 4610 f.) – andernfalls sei er dem Untergang geweiht. Nun aber, knapp 20000 Verse später, antizipiert der Erzähler bereits in seiner Zwischenbilanz den künftigen Tod Achills: von dannen [= aus der Obhut Schyrons] wart der jungelinc brâht ûf der megde palas, in dem er noch beliben was und sît vor Troie ein ende kôs. (Tr 23691–23693)

Auch die »bezeichenunge« durch Proteus (Tr 4507; Tr 23676: »bezeichenheit«) gelangt somit an ihr Ende: Handlungsoptionen, die zum gegenwärtigen Handlungszeitpunkt zumindest auf Figurenebene für Achill bestehen, werden jäh zusammengekürzt und finalisiert. _____________ 12

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Vgl. Lexer (1872–1878), Bd. 1, 283, s. v. ›bîschaft‹. Vgl. auch das Göttinger Mittelhochdeutsche Wörterbuch, das für ›bîschaft‹ vier Grundbedeutungen ansetzt: »belehrendes Beispiel«, »belehrende Geschichte«, »Lehre« und »Zeichen«; Mittelhochdeutsches Wörterbuch, online abgerufen am 28.07.2011 unter www.mhdwb-online.de, s. v. ›bîschaft‹. Ich stütze mich mit dieser Fassung des Sinnbegriffs auf Luhmann (1987), 92–147 und Luhmann (1998), Bd. 1, 44–59.

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Auch die übrigen prominenten Sinnmodelle, mit denen Konrads Erzähler die wiederholte Zerstörung Trojas motiviert hatte, werden nun gleichsam gelöscht. Jasons Reise nach Kolchis wird kurzerhand zum Grund für die erste Zerstörung Trojas erklärt, der sich erfüllt habe (Tr 23696–23709). Mit der nahenden griechischen Flotte erfülle sich nun auch die zweite Zerstörung als Rachefolge des Helenaraubs durch Paris: daz Pâris durch Helênen bleich von herzeliebe dicke wart und er die veigen übervart nâch ir zuo den Kriechen tete, daz wart ze Troie vor der stete von dirre vart gerochen ouch. sus nam diu vackel unde ir rouch mit grôzer missewende bezeichenlîche ein ende. Swaz von ir schînes crefte lac hôher bîschefte, daz wart erfüllet schiere (Tr 23710–23721)

Kein Wort erinnert mehr daran, dass Parisurteil und Argonautenfahrt, Prophetien und Helenaraub komplexe Begründungsdynamiken boten, die sich eher kontingent überlappten, als lückenlos ineinanderzugreifen. Wie nirgends sonst im Trojanerkrieg zieht der Erzähler Geschichten um Machtkonkurrenz, Politik und Treuebeziehungen zur bloßen Grundsteinlegung eines Kriegs zusammen, der nun zu sich selbst kommt. Und konzentriert wie nirgends sonst reihen sich dabei Leitvokabeln des Deutens und Verweisens aneinander: Mit großem Unglück vollende sich die Zeichenkraft der Fackel (Tr 23718: »bezeichenlîche«, 23641: »bezeichenlicher schîn«, 23668: »bezeichenlicher craft«, 23676: »bezeichenheit«); Sinn (Tr 23720: »hôher bîschefte«, 23667: »bîschaft«) und Erscheinung (Tr 23719: »schînes crefte«, 23641: »schîn«) gelangten zur Deckung. Treffen auf der Handlungsebene sämtliche Weltteile aufeinander – vor Troja sammeln sich Krieger aus Europa, Afrika und Asien (Tr 23772–24004) –, so versammelt die Erzählerreflexion mithin sämtliche Deutungs- und Begründungsmodelle. Die Erfüllung von »bîschaft« steuert dabei geradewegs in eine Paradoxie: Was sind Zeichen, die sich erfüllt haben? Welche Funktion hat Sinn, der präsent ist, anstatt weitere narrative Verweisung zu strukturieren? Aus Konrads Kommentareinschub lassen sich mindestens vier Parameter für eine Antwort gewinnen: (1.) Der Erzählerkommentar entfaltet erstens eine Zeichenreflexion des Erzählens, welche das Vokabular der Sinnverweisung bündelt. Leitbegriffe wie »bezeichenheit« oder »bîschaft« reihen die bislang disparaten Motivations- und Deutungsmodelle des Trojanerkriegs in dichter Folge aneinander. (2.) Zweitens markiert der Erzähler Sinngrenzen. Denn die Erfüllung der Zeichen erscheint nicht nur als Bewährung von Voraussagen, sondern geradezu als Verlust von Verweisung. So betont der Erzähler etwa im Hinblick auf den Apfel der Discordia: »ich wæne, daz der nû verlür / ouch

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alle sîne bîschaft« (Tr 23666 f.). Auch die Bezeichnungskraft der Fackel komme an ihr »ende« (Tr 23718). (3.) An die Stelle narrativer Strukturierung tritt – drittens – eine Ästhetik des Erscheinens: 14 die Kriegsschiffe brechen mit phänomenaler Sichtbarkeit in das trojanische Herrschaftsgebiet herein. Die Kriegsfahrt vergegenwärtigt Sinn, indem sie Vorzeichen und Erscheinung sichtbar zur Deckung bringt; sie setzt damit den Auftakt zu einer Kriegsdarstellung intensivierter Sichtbarkeit, die förmlich ›sinnlos‹ wird. 15 (4.) Doch die Szene markiert viertens auch Transformationen des Erzählens, das sich für Verfahren nicht-sinnförmiger Darstellung öffnet. Auf der histoireEbene des Textes leitet die Überfahrt so zum zweiten Krieg vor Troja, auf der discours-Ebene aber zu einer Erzählweise, für die Sinnverweisung (»bîschaft«) tendenziell dysfunktional wird. Welche Formen eine solche Kriegsdarstellung in der zweiten Erzählhälfte annimmt, möchte ich zumindest exemplarisch andeuten. Unterschiedliche Verfahren lassen sich dabei greifen: (a) Multisensorische Präsenzeffekte. Wie verschiedentlich beobachtet wurde, entwirft Konrads Krieg vor Troja eindrückliche Bilder des Glänzens und Schillerns: 16 Es gleißen edelsteinverzierte Rüstungen und Waffenröcke, Banner und Zeltlager der Griechen erleuchten die Nacht, als wäre es Tag (Tr 26220–26249); Funken fliegen von den Rüstungen, in den Schilden der Kämpfenden spiegelt sich die Sonne (Tr 36892–36895), während unter Posaunenschall Rosse und Reiter krepieren und das trojanische Vorland in dampfende Seen von Rot und Weiß tauchen. Dass Konrad »Pracht und Vernichtung im Krieg« metaphorisch »[zusammen]laufen« lässt, ist in der Forschung wiederholt betont, 17 allerdings bisher eher punktuell untersucht worden. Weder erschöpfen sich Konrads Verfahren im heldenepischen Register der Massenschlacht, noch etwa in artifizieller Selbstreferenz. Vielmehr etablieren sie einen multisensorischen Wahrnehmungsraum des Sehens, Hörens, Riechens und Fühlens, in dem klassische Sinnformen wie z. B. Rüstungs- und Wappenschilderungen vor allem als Präsentifikationen von Formen, Farben und Materialität erscheinen. 18 Inmitten dieses konzentrisch organisierten Wahrnehmungsraums blendet He_____________ 14 15 16 17 18

Vgl. Seel (2003). Vgl. Bleumer (2010), 127–140. Vgl. u. a. Bleumer (2010); Green (1949), 14, 63, 79f.; Lechtermann (2008); Lienert (1996), 277–281; Müller (2006); zusammenfassend spricht bereits Basler (1910) von der »blendende[n] Darstellung« des Romans (68). Lienert (1996), 281; vgl. auch Lienert (2000), insbes. 47; Müller (2006). Als Präsentifikation fasse ich hier und im Folgenden Modi des Erscheinens, die grundsätzlich durch den Ausfall von Optionalität des Wahrnehmens oder Handelns charakterisiert sind. Präsentifikationen dieser Art werden im Trojanerkrieg unterschiedlich codiert: als kriegerische Gewalt, als Überwältigtsein durch Bilder, als ästhetische Evidenz, als epistemische Gewissheit u. a. m. Keineswegs zwingend scheint es daher, Präsenzeffekte ausschließlich an die Kategorie des Raumes zu binden, sofern damit primär der konkrete Körperraum angepeilt ist: vgl. Gumbrecht (2004), 10 f. und 33; dazu kritisch Kiening (2007), 17. Präsentifizierend fungieren Wappenschilderungen des Trojanerkriegs, die den aktualen Wahrnehmungsprozess stimulieren: Den Schild des Patroclus ziert ein mit Drachenblut gemalter Greif auf arabischem Goldgrund, der unter seiner hauchdünn geschliffenen Beryllschicht so intensiv hervorleuchtet, dass er das Auge des Betrachters schmerzt (Tr 30888–30916); der Adler auf dem Schild Agamemnons erleuchtet den Kampfplatz mit seinem roten

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lena wie die Sonne von den Mauern Trojas herab und reizt Kämpfende wie Rezipienten als synästhetische Stimulationsfigur (Tr 33954–34140). 19 (b) Fokalisierungsverfahren: Zooming und panoramatisches Kriegserzählen. Noch kaum erschlossen ist dagegen Konrads perspektivische Erzählregie des dynamischen Naheholens und Entfernens, die sich in Anlehnung an die frühe Erzähltheorie als camera eye-Technik charakterisieren ließe. 20 Konrad vergegenwärtigt den Krieg mithilfe von Verfahren der externen Fokalisierung, die zunächst die Aufritte einzelner Heerführer und ihrer Rotten fokussieren, bevor sich die Erzählinstanz auf Übersichten zurückzieht, um von dort wieder zurückzuschwingen. Das Erzählen beginnt somit zwischen der Nahsicht von Kampfdetails und Übersichten zu oszillieren, in denen das Schlachtgeschehen panoramatische Dimensionen gewinnt. Die zweite Kampfbegegnung von Hektor und Achill mag dies exemplarisch illustrieren. Den Schlagabtausch der tobenden Heroen verfolgt der Erzähler zunächst in Nahsicht auf Körper und Rüstungsdetails (Tr 36410–36417). Dies unterbricht eine Interjektion, die einen Fokuswechsel markiert. Von der Nahsicht auf den Zweikampf weitet sich die Einstellung daraufhin zur Gesamtaufnahme, die zwar Aktionen und Dinge des Kriegsgeschehens im Blick behält, diese jedoch entkonkretisiert: Hey, waz verlüste dô geschach! dô vlôz von bluote manic bach erbermeclichen ûf daz grien. der eine schôz, der ander spien, der dritte stach, der vierde sluoc. (Tr 36433–36437) die blicke von dem fiure dâ sprungen ûz dem îsen. man sach vil ringe rîsen

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Schein (Tr 33820 f.); visuale Kontrasteffekte von schwarz, weiß, rot und grün bestimmen zahlreiche weitere Wappen (vgl. z. B. Tr 31524–31527; 31666–31669; 32718 f.; 33818–33821; 34594–34597). Ästhetische Präsenzeffekte können dabei heraldische Referenzen ablösen, wie nicht zuletzt Mehrfachzuordnungen von Wappen an unterschiedliche Figuren (z. B. Tr 31789–31795) oder unterschiedliche Wappenzuweisungen an dieselbe Figur unterstreichen (vgl. Tr 25740–25747, 33818– 33825, 34594–34597). Selbst Schilde ohne identifizierbare Träger (vgl. z. B. 31338–31341) präsentiert Konrad eindrücklich. Statt auf heraldische Realreferenz – so der Tenor von Stuckmann (2003) – zielen solche Beschreibungen auf Wahrnehmungsaktivierung und Bildpräsenz. Anders als Lienert (1988/89) scheint mir Konrads Helena nicht nur ein argumentatives, sondern ein primär ästhetisch-affektives Zentrum zu besetzen: Helena erleuchtet die Wiese (Tr 34012), ihr Anblick bewirkt, dass sich Menelaus grün und gelb färbt (Tr 34315–34317), den anderen Griechen aber »diu wilde tobesuht« packt (Tr 34134) – auch hierfür sorgen nicht Gründe und Argumente, sondern Helenas »glanze« (Tr 34557). Die Wahrnehmung des Rezipienten reizt unter anderem die hyperbolische Beschreibung Helenas, vor der sämtliche Leuchtkraft des Krieges mit seinen Edelsteinen und Rüstungen verlösche (Tr 34073–34079). Vgl. zu Helenas paradoxer Bildwirkung Bleumer (2010), 118 f. und passim sowie Müller (2006), 298–300. Vgl. Pouillon (1946), der diese Erzählsituation des Außenblicks als »vision du dehors« fasst. Vgl. zum Kameramodell der Perspektive auch Genette (2010), 120 sowie speziell zur Verwendung in mittelalterlichem Erzählen kritisch Hübner (2003), 30 f., 42–44 und 402. Zur Aufnahme des Kameramodells speziell in der Forschung zu Antikenromanen vgl. Lienert (2000), insbes. 35–37.

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ûz halspergen unde ûz hosen. wer dâ geschreies wolte losen, der mohte sîn vil hœren. got in den himelkœren den möhte hân erbarmet die nôt [...]. (Tr 36462–36470)

Die Präferenz von Außensichten des Kampfes gegenüber Innenweltdarstellungen ist in der Heldenepik wie im Antikenroman geläufig. Doch führt das Beispiel eindrücklich vor Augen, wie Konrad darüber hinaus Aktionen und Dinge von ihren Trägern ablöst, die syntaktisch bzw. pragmatisch als leere Subjekte bzw. Aktanten mitgeführt werden. 21 Schießen und Spannen der Bögen, Lanzenstechen und Schwertschläge, Juwelen und Schweiß treten dadurch als absolute Eindrücke in eigentümlich entkontextualisierter Präsenz hervor. Krieg gewinnt dadurch Kontur als phänomenaler Widerstreit von Konkretion und Abstraktion, das Größte wird zum Erscheinungsraum des Kleinsten: »gesteine luhte enwiderstrît / über tal und über berc« (Tr 30788 f.). Immer wieder gleitet der Beobachtungspunkt im Trojanerkrieg zwischen Nah und Fern, Unten und Oben, hinauf bis zu solchen Höhen, dass sogar Gott der Weltschlacht zusehen kann. 22 Verstand die ältere Erzähltheorie die Kamera als Modell einer Beobachtungsinstanz, die prinzipiell in der beobachteten Welt lokalisierbar sei, so stößt diese Analogie hier an ihre Grenzen: Konrads Panoramen mit absoluter Detailschärfe erzeugen eine unablässig mobile, unbeobachtbare Beobachtungsinstanz, deren Relation zur erzählten Welt nicht zu bestimmen ist – nicht zufällig bringt der Trojanerkrieg dafür mehrfach den Namen Gottes ins Spiel. Umgekehrt formuliert hat eine solche Wahrnehmungsregie zur Konsequenz, das erzählte Geschehen als Konstruktion eines Wahrnehmungssubjekts zu verbergen – der Krieg erscheint. (c) Performativität: Formularisierungen und Erzählmodule. Nur summarisch möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass auch performative Strukturen und Elemente den präsentifizierenden Charakter des Kriegserzählens steigern. Dazu gehören auf discours-Ebene zum einen modulare Wiederholungstechniken: Den rekursiv wiederkehrenden Schlachtschilderungen entsprechen wiederholte Erzählmodule für Aufritte, für Detailaufnahmen herausragender Krieger, für Zweikämpfe und für Kampfmischungen, die jeweils mit festen Fokalisierungstypen gekoppelt sind. Zum anderen begegnen Modularisierungen selbst auf der Mikroebene der Redegestaltung: in festen Formeln und Kollokationen, mit denen Konrad einen performativen Erzählstil simuliert. Das Massenschlachterzählen des Trojanerkriegs stellt damit eher auf schematische Autologie und ritualhafte Wiederholung als auf sinnförmige Narrativität ab. _____________ 21 22

Häufig in Formulierungen wie »der eine« / »der ander«, »man«, »si« u. a. Auch Konrads Panoramaformeln (»dô huop sich«, »man sach / hôrte« etc.) dienen der Erzeugung von leeren Subjekten der Handlung bzw. der Wahrnehmung. Vgl. auch Tr 34584–34587: »ob got von himele solte sehen / von zwein kemphen einen strît, / er möhte ir vehten bî der zît / beschouwet hân mit êren«.

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(d) Entrelacement. Andere Formen der Kohärenzbildung treten an ihre Stelle. Verdichtet wird der multisensorische Wahrnehmungsraum unter anderem durch Verfahren, die sich im Anschluss an Ferdinand Lot als entrelacement zusammenfassen lassen: 23 Konrad überlappt Gruppenaufritte mit Einzel- und Massenkämpfen, so dass Ensembles wechselseitig verflochtener Handlungssituationen entstehen. Dieses Verbindungsverfahren spiegelt etwa die Konfrontation von Menelaus und Paris, die Konrad seiner Hauptvorlage, dem Roman de Troie Benoîts de Sainte-Maure, weitestgehend frei hinzufügt. Konrad erzählt die Begegnung der beiden Ehemänner zunächst als Zweikampf unter den Augen Helenas (Tr 34310–34605), um dann jedoch die Zweierkonstellation auf den Gruppenkampf hin zu öffnen: nû daz die künge beide sus phlâgen starker biusche dô kam ein grôz geriusche von liuten ûf si zwêne dar. fuozgengel wart ein michel schar ûf si gedrücket alzehant, dar ûz ein sneller sarjant mit eime scharphen spieze trat, der tet sîn ors Pârîse mat. (Tr 34606–34614)

Nicht nur namenlose »fuozgengel« mischen sich hinzu, sondern auch Castor, Pollux und Achill fallen daraufhin über Paris her (ab Tr 34782). Hatte Benoîts Roman die Passage als Gruppenkampf zwischen Troilus, Menelaus und Paris mit ihren jeweiligen Scharen geordnet, 24 so mischt Konrad dagegen den Zweikampf unversehens zum Fünfkampf inmitten flottierender Fußsoldaten. Als neben Hektor auch mit drei Admiralen hinzustößt (ab Tr 35200), tauchen Paris und Hektor gänzlich im Kampfkollektiv unter: iedoch sô wurdens’ in daz her vertüschet und vermischet, daz si von den gewischet dâ wâren, die si triben dar. (Tr 35314–35317)

Figurenkonstellationen und Kampfsequenzen flechten sich auf diese Weise ineinander, ohne scharfe Zäsuren auszubilden. Statt narrativer Sequentialität nimmt Konrads Schlachtdarstellung dadurch Züge eines Simultanbildes an, das allenfalls unterschiedliche Handlungszonen vorführt. (e) Sinnbegrenzungen. Sinnkonstruktionen mit ausgeprägter sequentieller Verweisungskraft werden dagegen im zweiten Teil des Trojanerkrieg-Torsos wiederholt ausoder eingelagert. Ausgelagert werden etwa Handlungsstränge wie die Herbeiholung _____________ 23

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Vgl. Lot (1918), 17–28. Während Lot am Beispiel des Prosa-Lancelot mit diesem Begriff weiträumige Vor- und Rückverweisungen bezeichnete, kennzeichnet Konrads Verflechtungsverfahren hingegen eine entgegengesetzte Tendenz: statt durch sinnförmige Verweisungssysteme werden Kriegssequenzen durch Ineinanderschieben verflochten. Vgl. Benoît de Sainte-Maure, Roman de Troie, V. 10793–10805.

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Achills (Tr 26936–29649), die nicht nur nach den Vorgaben von Statius’ Achilleis in andere Erzählräume hinausführt, sondern gegen die Vorgaben von Konrads französischer Romanvorlage hinter die Landungsschlacht verlegt wird: Während Achill bei Benoît von Anfang an im griechischen Heer kämpft, lässt Konrad erst in der Schlachtpause die Expedition aufbrechen, die Achill auf Skyros enttarnt und für den Kriegszug gewinnt (Tr 26936–29649). Eine im Romankontext weitverzweigte Episode wird dadurch aus dem Kriegsraum entfernt. Einlagerungen vollziehen dagegen unter anderem metadiegetische Redesituationen, die Erzählungen mit erhöhtem Verweisungspotential in die Erzählung einlagern: Leben und Sterben des Herkules werden so beispielsweise als ein Binnenmythos nacherzählt, der zwar die Abendunterhaltung der Griechen während der zweiten Schlachtpause hebt, indes die Einheit von narrativer Inszenierung und ethischer Reflexion des Gründungsheros des griechischtrojanischen Konflikts auflöst (Tr 37866–38744). 25 Auch in diesem Fall werden Verwiesungen blockiert, die gerade von der Leitfigur des Hercules ausgehen könnten. Und selbst explizite Deutungspotentiale werden im Trojanerkrieg eingelagert, wie das Beispiel Kassandras demonstriert: Um das Ansteckungspotential ihrer prophetischen Wahnsinnsrede zu bändigen und die trojanische Truppenmoral gegenüber Kassandras Zerstörungsvisionen zu sichern, lässt Priamus seine Tochter unmittelbar vor Kriegsbeginn in einen Turm sperren (Tr 23378–23385). Auf Handlungsebene vollzieht Priamus’ Internierung an dieser Stelle, worauf auch das Kriegserzählen zielt: die Begrenzung von narrativer Verweisung. Ich darf diese – notwendig skizzenhaften – Beobachtungen zusammenfassen. Konrads Erzählereinschub auf dem Scheitelpunkt des Trojanerkrieg-Torsos teilt den Text in zwei Erzählfelder, die mit signifikant unterschiedlichen Verfahren operieren – wenn diese Differenz auch keineswegs kategorisch aufgebaut wird, so lassen sich gleichwohl gegenläufige Schwerpunkte der Erzählpartien feststellen. Der Pluralisierung von Sinnmodellen vor Beginn des Trojanischen Kriegs steht ein Kriegserzählen mit präsentifizierenden Reduktionseffekten gegenüber: Krieg wird als Produkt von narrativen Optionen und Selektionen unsichtbar und tritt gleichsam selbst in Erscheinung. Es braucht kaum betont zu werden, dass solches Erzählen in seiner sequentiellen Gliederung von Veränderung natürlich weiterhin den Minimalkriterien von Narrativität entspricht. 26 Doch ist es nicht primär sinnförmig strukturiert: Verweisungsfunktionen, mit denen Narrationen ihre Binnenkohärenz sicherstellen, werden radikal reduziert. Konrad überführt damit Erzählverfahren verweisungsoffener Zeichen in ein Erzählen mit erfüllten Zeichen. Diese Transformation – so zeigte die in der Forschung bislang wenig beachtete Erzählerreflexion – artikuliert der Trojanerkrieg ausdrücklich als Ende des Sinns.

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Vgl. Worstbrock (1996). Vgl. zu dieser Minimalfassung von Narrativität Schmid (2008), 4.

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III. Ostension und ostensives Erzählen: Vorschlag zur theoretischen Rekonstruktion Wie keine andere Trojaerzählung des Mittelalters entwickelt Konrad sein Erzählprofil entlang der Unterscheidung von Verweisen und Zeigen. Welche Bedeutung hat diese Unterscheidung – um an die Ausgangsfrage zu erinnern – für die Entparadoxierung von Transformation und Kontinuität? Die Bildproduktion des Kriegserzählens, so zeigte sich, vollzieht sich als multisensorische Praxis des Vor-dieSinne-Führens. Erkenntnistheorien, Logik und diverse Disziplinen der historischen Kulturwissenschaften kennen ein Konzept, das solche Praktiken zusammenfasst und daher einen aufschlussreichen Modellbegriff liefern könnte: die Ostension bzw. Ostenta-tion. 27 Wissen von einem Gegenstand bzw. Evidenz kann nicht nur durch Angabe expliziter Definitionen, durch Merkmalsbeschreibungen oder by acquaintance erzeugt werden, sondern auch durch Hinweisen auf den betreffenden Gegenstand bzw. Vorzeigen, durch ›ostensive Akte‹. Ostensionen wirken an der Erzeugung von Wissen mit, jedoch auf eigentümlich präsentische und aisthetische Weise. Studien der Bildwissenschaft und Medialitätsforschung haben in den vergangenen Jahren argumentiert, dass Ostensionen Zeichen mit verhältnismäßig ›flachen Sinnpotentialen‹ produzieren: »Vorzeigen [...] ist weitgehend mit der kommunikativen Verwendung unkodierter Signale deckungsgleich«, 28 was einerseits enge Bezugsmöglichkeiten zum gezeigten Gegenstand im Nahraum voraussetzt, andererseits aber externe Rahmen wie Sprecherintentionen und Zeichenumgebungen, um Sinnzuschreibungen zu regulieren, die auf Ostensionen aufbauen. Zugespitzt formuliert: In ostensiven Akten lernt man strenggenommen genommen nicht diskursiv, und doch erzeugen Vorzeigepraktiken höchste Gewissheiten. Dies liegt vor allem daran, dass Ostensionen weniger sinnfunktional als vielmehr präsentifizierend sind, sieht man von jenem minimalen Vorweisungsakt ab, den jede Deixis erfordert. Ostensionen zeigen, (nahezu) ohne zu verweisen. Gleichwohl besitzen ostensive Praktiken eine enorme kulturelle Signifikanz, und das Mittelalter institutionalisiert ein reiches Spektrum: Es reicht von logischen Verfahren der Wissensbildung durch Vorzeigen (ostensive demonstratio) 29 über die Elevation von Kelch und Hostie und deren Ausstellung in Ostensorien und Monstran-

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Vgl. zur ostensiven Definition Russell (2009), 61–68, Wittgenstein (2004), § 6, 28–30, 38 (»hinweisendes Lehren« bzw. »hinweisende Definition«), Quine (2003) und Eco (1987), 300–303. Zu Konzepten und Phänomenen der Ostension/Ostentation speziell im Mittelalter vgl. u. a. Kiening (2007) und Prica (2010). Blanke (2003), 128, insgesamt 124–130; zur internen Unbestimmtheit von ostensiven Akten vgl. auch Wittgenstein (2004), § 28: »Das heißt, die hinweisende Definition kann in jedem Fall so und anders gedeutet werden.« Belege für den ostensiven Beweis bei Thomas von Aquin stellt exemplarisch das Thomas-Lexikon zusammen: Thomas-Lexikon, unter , abgerufen am 28. Juli 2011, s. v. ›demonstratio‹ (c, Nr. 4). Zu Thomas vgl. auch Prica (2010).

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zen 30 bis hin zum Vorzeigen von Reliquien oder zu ikonographischen Mustern wie dem Wundenzeigen, der ostensio vulnerum. Sie bilden Elemente einer gemeinsamen Ostensionskultur, die Evidenzerzeugung durch Vorzeigen generalisiert. Verbindendes Merkmal solcher und anderer Beispiele ist, dass Ostensionen in Wissenskulturen des Mittelalters nicht bloße Hinweise oder Verweise sind, sondern Praktiken des vergegenwärtigenden Vorzeigens. Als Gründungsort feudaler Genealogien gilt auch der Schauplatz des Trojanischen Krieges im Mittelalter als Vorzeigestadt im ostensiven Sinne: Troja ist ein »Schauwunder« 31. Besonders eindrücklich führt dies beispielsweise um 1300 die Ebstorfer Weltkarte vor Augen. »Nunc seges est ubi trita fuit«, »jetzt ist Acker, was früher begangen war« 32 – diesen Vers nach Ovids Episteln notierte der Kartenzeichner auf einer kleinen Halbinsel in Vorderasien, auf die er den Namen Trojas (»Ilium«) setzte. 33 Doch was heißt hier Acker? Ganz im Gegenteil zeigt die Karte die Stadt in unzerstörter Pracht: 34 Sie lässt ein konzentrisch gekrümmtes Attraktionszentrum erscheinen, auf das die umliegenden Mittelmeerstädte zuweisen. Auch Konrads Trojanerkrieg entfaltet Troja und das umgebende Schlachtfeld als Zeigeraum, den ostensive Erzählformen bestimmen: 35 Vorzeigen, sinnliche Intensivierung und performative Wiederholungsstrukturen gehören zu den basalen Operationen. Attraktiv erweisen sich Ostensionen für Wissenskulturen des Erneuerns, weil sie die Paradoxie verarbeiten, dass etwas sich (wieder) zeigt, ohne dass sein ›woher‹ belangt werden könnte. 36 Ostensionen vollziehen so gesehen die Invisibilisierung ihrer Paradoxien: 37 _____________ 30 31 32 33

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Die Exposition der Hostie ist ab 1287 im Zusammenhang von Fronleichnamsprozessionen für Lüttich bezeugt; vgl. Elbern (1984). So Bleumer (2010), 34 mit Hinblick auf den Trojanerkrieg. Zu Troja als Bildraum des kulturellen Gedächtnisses im Mittelalter vgl. allgemein Wandhoff (2003), 183–225 sowie den Beitrag von Birgit Franke in diesem Band. Übersetzung: Kugler (2001), 229. Ebstorfer Weltkarte, Bd. 1, Nr. 37. Vgl. Ovid, Heroides, S. 8 f. (1,53, Brief Penelopes an Odysseus): »iam seges est, ubi Troia fuit« (»Schon reift das Getreide, wo einst Troia stand«). Diese Zerstörungsperspektive stellt auch die berühmte Hecubaklage des Carmen buranum 101 vor Augen: »Ve, ve, Troia, peris, sed iam non Troia uideris; / Iam iam bubus eris pascua, lustra feris!« (»Weh, weh, Troja, du gehst zugrunde – aber du bist ja gar nicht mehr Troja; / du bist jetzt ein Jagdgebiet für Eulen und das Revier wilder Tiere!«); Carmina burana, 376 f. (101,32). Dies zum Erstaunen von Kugler (2001), hier 229: Troia sei als geographischer Ort im Mittelalter nicht Stadt der »Vergegenwärtigung«, sondern des »Erinnerns«. – »Es hatte seine Geschichte gehabt, hatte sie aber nicht mehr, die Troiaflüchtlinge hatten sie mitgenommen und andernorts weitergeführt.« Im Hinblick auf Troja-Repräsentationen unter anderem in Pilgerreiseberichten des 15. Jahrhunderts verweist dagegen Lienert (1990), 201 auf die »gleichsam ›realgeographische‹ Präsenz« Trojas; auch Borgolte (2001), insbes. 191 mit Abb. 200 und 201 mit Abb. 212 belegt, dass Troja auf Weltkarten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit regelmäßig unzerstört eingezeichnet wird. Vgl. zum ostensiven Charakter von Gegenstandsdarstellungen im Trojanerkrieg auch Lechtermann (2008), 61. Ostensionen sind auf Entparadoxierungen spezialisiert, die gelegentlich der Deixis im Allgemeinen zugesprochen werden, so z. B. bei Boehm (1995), 39: »Die Erkenntnis öffnende Kraft der Deixis wird am deutlichsten daran, daß der gezeigte Gegenstand sich zeigt.« Dies lässt allerdings die Möglich-

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Unverfügbares zeigt sich, Entzogenes wird gezeigt, ohne dass sich Wahrnehmen und Handeln in der Form der Paradoxie blockieren. An der Konstitution von Evidenz sind Invisibilisierungspraktiken beteiligt, indem sie nicht nur Kontingenz absorbieren, sondern die Selektionsprozesse und ihre Optionalität unsichtbar machen, denen sich solches Wissen verdankt. Die Paradoxie wird so in die Form von Erscheinungen gebracht, die ihre Erzeugungsbedingungen verdecken, Sichtbarkeit auf dem Rücken von Unsichtbarkeit gewähren. Ostensionen erweisen sich im 13. Jahrhundert als besonders erfolgreicher Typ solcher Invisibilisierungspraktiken. Das Konzept der Ostension könnte also nicht nur methodisch fruchtbar sein, weil es mittelalterliche und moderne Wissenskulturen und ihre Stabilisierungspraktiken begriffsgeschichtlich verbindet und somit Objekt- und Beobachtungsebene historischer Wissensforschung aufeinander beziehbar macht. Speziell im Hinblick auf Konrads Trojanerkrieg ließe sich die viel diskutierte Ambivalenz von Kontinuitätsprogramm und Innovationspoetik des Romans mithilfe des zeitgenössischen Leitkonzepts der Ostension als historische Praktik der Evidenzerzeugung beschreiben: als Entparadoxierung von Transformation und Kontinuität durch präsentifizierende Vorzeigepraktiken, die von literarischen Verfahren generiert werden.

IV. Ein Trojanischer Krieg gegen das trûren: Ostension als (Selbst-)Affizierungsprogramm Das Konzept der Ostension könnte den Blick dafür schärfen, dass solche Entparadoxierungsversuche des Vorzeigens nicht erst mit Konrads Kriegserzählen oder der vorangehenden Erzählerreflexion ansetzen, sondern von Anfang an im Trojanerkrieg präsent sind, wenngleich sie erst deutlich später Erzählgewicht gewinnen. Schon der Prolog entwickelt ein Erzählmodell der Ostension, das mit einem eindrücklichen Bild die paradoxe Spannung von Fremdbezüglichkeit und Selbstbezüglichkeit literarischer Rede invisibilisiert: das Bild der Nachtigall (Tr 188–211), mit der sich der Erzähler vergleicht. Selbst wenn kein Mensch außer ihm lebte, wolle er wie die Nachtigall doch niemals vom Singen ablassen: _____________ 37

keit offen, auf den Zeigenden zurückzukommen (mit Rückfragen, Einwänden, Zustimmung und anderer Kommunikation) – diese Möglichkeit wird von Ostensionen zurück-gedrängt. Dass dieses Paradoxiemanagement im Mittelalter erst allmählich akzeptabel wird, zeigt bekanntlich die Eucharistiediskussion. Kann man mit geweihten Hostien einen Acker düngen? Was frisst eine Maus, die eine geweihte Hostie anknabbert? Wirken Hostien auch im Traum Wunder? Spitzfindig anmutende ›Hostienprobleme‹ dieser Art, wie sie etwa Caesarius von Heisterbach anführt, veranschaulichen reale Kontroversen des 12. und 13. Jahrhunderts zur Abendmahlstheologie und zur Realpräsenz Christi im Sakrament. Prominent wird die Auffassung, die Transsubstantiation könne sich nur für denjenigen vollziehen, der die Wandlung sinnlich und geistig wahrnehme; dies setzt Wissen um den Konsekrationsprozess und seine Begrenzung voraus. Hier gewinnen »Präsenzmarkierungen« wie Läuten oder Ostensionen funktionale Bedeutung: als Markierungen, die Fragen, Erwartungen und Zweifel kanalisieren und so die Reichweite der Eucharistie regulieren. Vgl. dazu Aris (2007), insbes. 188–190.

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ich tæte alsam diu nahtegal, diu mit ir sanges dône ir selben dicke schône die langen stunde kürzet. swenn über si gestürzet wirt ein gezelt von loube, sô wirt von ir daz toube gevilde lûte erschellet. ir dôn ir wol gevellet, dur daz er trûren stœret. ob si dâ nieman hœret, daz ist ir alsô mære, als ob ieman dâ wære, der si vernemen künde wol. (Tr 192–205)

Das Bild der einsam singenden Nachtigall unter dem Blättersturz, ein variiertes Selbstzitat aus Konrads Partonopier und Meliur, 38 dient kaum dem konventionellen »Zweck der captatio benevolentiae« 39 gegenüber einem impliziten Publikum. Konrads Nachtigall provoziert vielmehr mit ihrem Selbstfaszinationspotential, das Zuhörer und Adressaten systematisch ausschließt: Der Trojanerkrieg-Erzähler, so die Analogie, singt vor allem zu sich selbst. 40 Dieses Selbstfaszinationspotential artikuliert sich zunächst als Gattungsinterferenz: Zählt das kürzen langer Stunden (vgl. Tr 195) zu den klassischen Wirkungszielen epischer Exordialtopik, so greift das Argument, Gesang helfe gegen einsames trûren (Tr 201), auf ein Leitkonzept der Minnelyrik zurück. 41 Konrads Nachtigall trägt somit sowohl epische als auch lyrische Züge, wird sie doch gleichermaßen auf die Suspensionswirkungen fiktionalen Erzählens wie auf die Affektparadoxie des beglückenden Singens bei gleichzeitigem intimem Leiden rückbezogen. Obgleich der Trojanerkrieg sinnträchtige Geschichten in Aussicht stellt (Tr 285: »edel bîschaft«), modelliert Konrads Nachtigall eine Erzählsituation der Selbstreferenz, die gleichermaßen hermeneutische Darstellungsansprüche der »rede« wie transhermeneutische Selbstaffektion durch »mîner stimme schal« verfolgt (Tr 191). Doch demonstriert das Nachtigallenbild ebenso, dass schon der Prolog diese Spannung in einer ostensiven Form zu entparadoxieren versucht. Denn Konrad inszeniert die Nachtigall nicht einfach als Autologie ohne Publikum, 42 sondern als Modell einer paradoxen, nur verdeckten Quasi-Einsamkeit: ob si [= diu nahtegal] dâ nieman hœret, daz ist ir alsô mære,

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Vgl. zu diesem Vergleich Kellner (2006), 253 f. und Haug (1992), 359 f. So Ehlert (1988/89), 92. Auf dem Problempotential dieses Modells für die Kommunikationsbeziehung insistiert mit Hinblick auf Konrads Partonopier vor allem Haug (1992). Vgl. Müller (1999); Köbele (2012), 10 f. identifiziert dasselbe Argument auch in Konrads PantaleonLegende, womit Gattungsinterferenzen über den Minnesang hinaus sichtbar werden. Vgl. Kellner (2006), 254.

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Bent Gebert als ob ieman dâ wære, der si vernemen künde wol. (Tr 202–205)

Nicht »Singen, auch wenn niemand zuhört«, 43 sondern Singen, als ob niemand zuhörte, lautet genau genommen die Kurzformel von Konrads Erzählmodell. Damit fasst das Bild der unermüdlich singenden Nachtigall statt reiner Selbstreferenz eher einen Prozess der Selbstreferentialisierung, der weiterhin an die Möglichkeit fremdreferentiellen (Zu-)Hörens gebunden bleibt. Ihr Gesang verwandelt das über die Nachtigall gestülpte Laubdach in ein Resonanzmedium, das den eigenen Klang zurückwirft. Erzählen wird für die Erzähler-Nachtigall als Echokammer entworfen, in der sich der eigene Gesang gleichsam als anderer genießen kann (Tr 200), denn Echos – darin liegt ihre epistemologische Attraktion – machen Selbstbezüge als Fremdbezüge vernehmbar. Selbstbezug erweist sich als Vermittlung von sich auf sich, wie Konrads singend-hörende Nachtigall beweist: »sô wirt von ir daz toube / gevilde lûte erschellet. / ir dôn ir wol gevellet« (Tr 198–200, Herv. B. G.). Noch die exklusivste Einsamkeit braucht also Zuhörer; noch die extremste Selbstaffizierung verspricht nur unter den Bedingungen von fremdreferentieller Bezüglichkeit Genuss. Schon der Romanauftakt kündigt damit in symbolischer Verdichtung die Invisibilisierungsleistung der Ostension an: Poetisches Erzählen wird nicht bloß als Vorzeigen, sondern förmlich als Sich-selbst-Zeigen entworfen, an dem sich – verborgen hinter der Blätterwand des Erzählens – gleichwohl partizipieren lässt.

IV. Resümee: Geschichten und Geschichte Konrads Trojanerkrieg nutzt die kulturell etablierte Invisibilisierungspraktik der Ostension, um ein Sinnfeld und ein Zeigefeld mit unterschiedlichen Referenzmodi zu erzeugen. 44 Während das narrative Sinnfeld der ersten Erzählhälfte vielfältige Montagen von Trojanarrativen sowie den Aufbau von komplexen textinternen Verweisungssystemen erlaubt, sorgt das Zeigefeld der Kriegsdarstellung für Abbruchprozeduren und Präsenzeffekte durch ostensives Erzählen. Folgt man dieser Perspektive, so erschließen sich zentrale Paradoxien von Transformation und Kontinuität, die Reiz und Beschreibungsschwierigkeit von Konrads Trojaroman begründen. So irritiert etwa die Motivationsstruktur des Romans darin, dass Konrads Helenafigur im Laufe der Erzählung zum absoluten Zentrum des Kriegsgeschehens wird, obgleich dessen Vorgeschichte eine vielsträngige Kriegsmotivation entfaltet hatte. Helena ist darin zunächst jedoch allenfalls schöne Mitspielerin – neben zahlreichen weiteren Begründungsketten, die wie beispielsweise die Argonautenreise dem Helenaraub unabhängig vorausliegen. Auch an Helena vollzieht sich somit ein Transformationsvorgang, der narrative Komplexität mit ostensiven Mitteln reduziert, das heißt: überzeugend alternativlos werden lässt. Angesichts der Massenschlacht bezich_____________ 43 44

Haug (1992), 352. In Anlehnung an Bühler (1999), 121–140.

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tigt sich Helena in einem ostensiven Klagemonolog, das gesamte Kriegsleid ausgelöst zu haben: [...] ouwê mir, armez wîp, daz alsô manic hôher lîp von mîner schulde wirt verlorn! daz ich zer welte ie wart geborn, daz ist ein übel mære, wan ez vil bezzer wære, daz man mich hæte nie getragen, denn ieman hiute würde erslagen von hôher und von reiner art. [...] daz Pârîs ie den Kriechen gezuhte mich vil armez wîp, daz garnet hiute manic lîp, der sîn vil hôchgebornez leben muoz eime grimmen tôde geben. (Tr 33959–33967; 33990–33994)

Ohne die Komplexität der Vorgeschichte mit nur einem Wort in Erinnerung zu rufen, versucht Helenas Anklagerede damit, die Erzählorganisation auf ein einfaches Muster zu reduzieren – weibliche Schönheit führt auf direktem Weg zur Massenschlacht: ach got, daz ich ie schœne wart und ie sô clâren lîp gewan! des muoz engelten manic man, der mîn genozzen wênic hât. (Tr 33968–33971)

Konrads »schœne« Helena invisibilisiert gleichsam in den Kriegspartien sämtliche Motivationsalternativen, die in der ersten Romanhälfte differenziert wurden, indem sie sich selbst als durchgängigen Kriegsgrund setzt und durch ostensive Erzählstrategien präsent wird. Dass Konrad die Wirkung Helenas dabei als blendendes Gleißen herausstellt, das die Kämpfenden vor den Mauern Trojas ebenso anzieht wie betäubt, fasst diese Invisibilisierung durch Ostension in ein eindrückliches Bild. 45 Zu Recht hat die Forschung am Beispiel Helenas die intertextuellen Spiegelungen betont, die Konrads Beschreibungen an dieser und anderen Stellen mit Gottfrieds Tristan verbinden – besonders prominent etwa mit der absorbierenden Schönheit Isoldes. 46 Doch scheinen mir vor allem die epistemischen Implikationen entschei_____________ 45

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Dies eröffnet interpretative Anschlussmöglichkeiten. So scheint mir das Konzept des ostensiven Erzählens geeignet, um die Ambivalenz zu beschreiben, die Konrads Darstellungen von Sichtbarkeitsphänomenen (Schillern, Mixturen, Glänzen) vielfach eignet; vgl. Müller (2006), 300–302. Ostensionen bringen zur Darstellung, was dem Zugriff entzogen erscheint. Gegenüber dem rhetorischen Konzept der evidentia – vgl. z. B. Hübner (2010) – bietet der Begriff der Ostension somit den deskriptiven Vorzug, solche Schnittstellen von Präsenz und Entzug zu fassen, gegenüber dem modernen Konzept der Ästhetisierung hingegen den Vorzug der stärkeren Historisierbarkeit. Zu diesen und weiteren Bezügen zu Gottfrieds Poetik vgl. zuerst grundlegend Green (1949).

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dend, die solcher produktiven Überblendung antiker Mythologie mit paradigmatischen Figurationen höfischer Epik innewohnen. Statt intertextuelle Dialogik und damit Sinnverweisung zu Gottfrieds Roman zu stiften, beschränkt sich Konrad darauf, in den Beschreibungen Helenas, Paris’ oder Medeas vergleichsweise isolierte Bilder Gottfrieds wiedererscheinen zu lassen, die sich über zuvor komplex entwickelte Figurenzeichnungen legen und deren Komplexität (in unterschiedlichem Maße) absorbieren. Wie ausführlicher zu zeigen wäre, trägt somit noch die Form der poetischen Überblendung bei Konrad einen ostensiven Zug. Grundsätzlich kann ostensives Erzählen als Beispiel eines Transformationstyps betrachtet werden, der das Zugleich von Wandel und Kontinuität als zentrale Paradoxie (nicht nur) mittelalterlicher Antikentransformation verarbeitet. Unter dem Titel Geschichte und Erzählen hatte Elisabeth Lienert das Quellenuniversum aufgedeckt, das Konrads Roman birgt; 47 dieser Befund hat die Forschung nachhaltig angeregt, den Trojanerkrieg als »riesig[e] Collage« antiker und mittelalterlicher Geschichten zum Trojakomplex zu betrachten. 48 Ein historisches Transformationskonzept wie die Ostension hilft umgekehrt, die schwierige Frage zu beantworten, wie eine solche Vielfalt von Geschichten sich dennoch als Geschichte des Trojanischen Kriegs geben kann – pointiert hat Franz Josef Worstbrock vor Kurzem von der »Wiederherstellung der Trojageschichte« als »wahre[r] Geschichte« gesprochen. 49 Das Konzept des ostensiven Erzählens, das ich ausgehend von der zentralen Erzählerreflexion zur ›Erfüllung der Zeichen‹ zu rekonstruieren versuchte, mag den Blick für Verfahren im Trojanerkrieg schärfen, die solche ›Wiederherstellung‹ als komplexen Invisibilisierungseffekt erzeugen: Erst durch narrative Transformationen verbirgt sich die Pluralität der Geschichten zur Geschichte. Erzählfunktionale Leistung der viel beachteten Glanzeffekte des Krieges ist nicht zuletzt, diese Transformation unsichtbar werden zu lassen. Dass Konrads Quellenkompilation ungeachtet ihres fragmentarischen Status gerade mit dieser Strategie zum erfolgreichsten Bezugspunkt für die deutschsprachige Trojaüberlieferung in Literatur und Historiographie des Spätmittelalters wurde, könnte ostensives Erzählen zu einem paradigmatischen Modellfall machen.

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Vgl. Lienert (1996). So z. B. Sieber (2002), 53. Worstbrock (2009), 172. Die Spannung von Quellenkompilation und Integrationsfunktionen im Trojanerkrieg beschäftigt die Forschung seit geraumer Zeit – vgl. z. B. Cormeau (1979).

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2. Historiographie

1066: Als Wilhelm von der Normandie Caesar in den Schatten stellte. Zur Antikentransformation in den Gesta Guillelmi des Wilhelm von Poitiers MARTIN CLAUSS

Wilhelm der Eroberer als zweiter Caesar Im Carmen de Hastingae Proelio bezeichnet Bischof Gui von Amiens Herzog Wilhelm von der Normandie als »zweiten Caesar«: »Iulius alter, enim, cuius renovando triumphum / Effrenem gentem cogis amare iugum.« 1 Hier wird aus normannischer Perspektive und mit positiver Sicht auf die Taten Caesars geschrieben. Durch die Eroberung Englands im Jahr 1066 erneuert Herzog Wilhelm den Triumph des antiken Feldherrn und zwingt die Engländer unter sein Joch. Dieser Vergleich basiert auf einem bestimmten Verständnis von Caesar und seinen Taten: Es soll dem persönlich angesprochenen Wilhelm schmeicheln, mit Caesar verglichen und gleichgesetzt zu werden; dessen Aktionen werden als Triumph gedeutet und verklärt. Dies bedarf keiner weiteren Erklärung: Weder werden die Person ›Julius‹ oder seine Taten näher umschrieben, noch muss hier eigens betont werden, dass ein Vergleich mit Caesar für Wilhelm als Kompliment gemeint ist. Der Autor kann offensichtlich Kenntnis der antiken Person und positive Assoziation voraussetzen. Anders gestaltet sich der Vergleich mit Caesar in einem etwas später entstanden Gedicht: Plus tibi fama. 2 Dieser Text ist wahrscheinlich um 1070 entstanden; auch hier wird Wilhelm zu Caesar in Verbindung gesetzt. 3 Anders als im Carmen fällt der Vergleich aber zu Ungunsten Caesars aus. Das Lob für Herzog Wilhelm besteht hier nicht darin, Caesar gleich, sondern ihm überlegen zu sein. Wilhelm ist Caesar an Kräften und Mut voraus, weil er aus eigener Kraft zum Erfolg gekommen ist und _____________ 1 2 3

Carmen De Hastingae Proelio, 4, V. 32–33. Vgl. zur Debatte um den Autor des Carmen Van Houts (1989), 39–62 und Gransden (1974), 97–99. Das Carmen wird in dieser Deutung auf spätestens 1067 datiert. Zu Text und Autor vgl. Van Houts (1989), 40–42, 48 und den Appendix. Van Houts (1989) Appendix, V. 3–7, 57: »Si bene prosequitur qui de te singula querit, / Viribus, ingenio, Cesare maior eris. / Hunc opibus largis, hunc milite Roma iuuabat, / Roma potens opibus, que caput orbis erat. / At uirtus animi, non ampla potentia rerum, / Te vocat in regnum, te facit esse ducem.«

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ihm nicht – wie Caesar – die Ressourcen des römischen Reiches zur Verfügung standen. Auch diesem Vergleich liegt die Annahme zu Grunde, dass Caesar ein erfolgreicher Eroberer Britanniens war; die Eroberung ist das Tertium Comparationis zwischen dem Römer und dem Herzog. Es sind die individuellen Voraussetzungen, welche die beiden unterscheiden. Im September 1066 setzte Herzog Wilhelm von der Normandie mit einem Heer nach England über und schlug in der Schlacht von Hastings den englischen König Harald II. Damit wurde Wilhelm zum ›Eroberer‹ und zum König von England: Am Weihnachtstag fand in Westminster die Krönung zum König statt. 4 Dieses Ereignis hat in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung breiten Widerhall gefunden, 5 und auch die moderne Geschichtswissenschaft hat sich immer wieder mit ihm befasst. 6 Die Eroberung Englands steht im Zentrum etlicher zeitgenössischer Lobpreisungen Wilhelms; die Königswürde auf dem Schlachtfeld errungen zu haben, wird dabei als seine herausragende Lebensleistung verstanden. In diesem Kontext wird der Herzog mehrfach mit dem römischen Feldherren Gaius Julius Caesar in Verbindung gebracht. Die Feldzüge Caesars nach Britannien in den Jahren 55 und 54 v. Chr. dienen als Vergleichspunkt und Referenzgröße. 7

Wilhelm der Eroberer bei Wilhelm von Poitiers Die beiden eingangs genannten Beispiele bilden gleichsam das Praeludium für den Text, der im Zentrum dieser Ausführungen stehen soll: die Gesta Guillelmi des Wilhelm von Poitiers. 8 Im Sinne des Konzepts von ›Antikentransformation‹ will dieser Aufsatz der Frage nachgehen, wie Verweise auf antike Autoren und Protagonisten genutzt wurden, um von der Eroberung Englands zu erzählen. 9 _____________ 4 5 6

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8

9

Zum historischen Hintergrund vgl. Chibnall (2004), 191–216 (mit weiterer Literatur); Jäschke (1977) und Douglas (1966). Berichte zur Eroberung Englands finden sich gesammelt in Morillo (1996); vgl. auch Gransden (1974), 92–104: »Historians of the Norman Conquest««; Van Houts (1995). Die Ereignisse den Jahren 1066 sind unter verschiedenen Fragestellungen behandelt worden: Zur politischen Geschichte vgl. Anm. 4, zur Militärgeschichte etwa Schwinges (2003) mit weiterer Literatur. Jüngst hat Michael Borgolte (2009) die Folgen der Eroberung unter dem Aspekt der transkulturellen Verflechtung untersucht. Zur Caesar-Rezeption im Mittelalter vgl. Brunhölzl (1983) und zu England Sauer (1983); Leeker (1986), zu den Britannienzügen 172–189; Wyke (2006). Zur Rezeption des Bellum Gallicum und zu caesarkritischen Legendenbildung im Mittelalter vgl. Nearing (1949). Die Caesar-Rezeption Wilhelms von Poitiers findet hier keine Erwähnung. Dieser Text ist mehrfach ediert worden. Die meist zitierten wissenschaftlichen Editionen sind: Foreville (1952) und Davis/Chibnall (1998). Im Folgenden wird mit der Abkürzung GG nach der jüngeren Ausgabe von Davis/Chibnall zitiert. Zu den Gesta Guillelmi und Wilhelm von Poitiers vgl. Chibnall (2002); Davis (1981); Bouet (1981); Gransden (1974), 97–102; Foreville (1952). Vgl. zum Konzept der Antikentransformation etwa Böhme (2007), V–IX und vor allem Bergemann u. a. (2011). Im vorliegenden Aufsatz kann es nicht darum gehen, den Verweisen auf die Antike nur

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An etlichen Stellen vergleicht der Autor seinen Protagonisten mit antiken Persönlichkeiten und deren Taten: Wilhelm schneidet regelmäßig besser ab und stellt etliche Helden der Antike in den Schatten. So übertrifft Wilhelm etwa den König von Mykene Agamemnon und den persischen Großkönig Xerxes. Allen drei ist gemein, dass sie eine militärische Eroberung mit einer Flotte durchgeführt haben. Agamemnon führte 1000 Schiffe an, um die Schmach seines Bruders zu sühnen; Wilhelm hingegen erlangt sein Königtum mit mehr Schiffen. 10 Auch die Flotte des Xerxes kann mit der Wilhelms nicht mithalten: Der Perser hat mit seinen Schiffen die Städte Sestos und Abydos verbunden, der Normanne hingegen die Länder Normandie und England. 11 Die Anzahl der Schiffe ist es hier, die Wilhelm als den überlegenen Eroberer dastehen lässt. Die römischen Feldherren Marius und Pompeius übertrifft Herzog Wilhelm in Sachen Tapferkeit und durch seinen persönlichen Einsatz. 12 Als Vergleichspunkt dienen Wilhelm von Poitiers hier die Art der militärischen Aufklärung und das damit verbundene Engagement der Heerführer. Marius und Pompeius wagten sich nur mit mindestens einer Legion auf Erkundung, weil sie um ihr Leben fürchteten und ihr Überleben über das Wohl der Truppe stellten. Ganz anders Herzog Wilhelm: Nach der Landung in England erkundete er persönlich und nur von 25 Reitern begleitet die Umgebung. Wilhelm übertrifft also griechische und persische Könige an Schiffen und ist römischen Feldherrn durch seinen Mut und seine Einsatzbereitschaft überlegen. Zu Caesar kommen wir weiter unten. Der Text Wilhelms von Poitiers soll im Folgenden daraufhin analysiert werden, wie solche Anspielungen und Vergleiche funktionieren. Im Sinne des Konzepts der Antikentransformation stehen dabei die Verweise im Fokus, die sich auf Personen, Phänomene oder Ereignisse aus der griechisch-römischen Antike beziehen. Wilhelm ist dabei als Agent der Transformation, sein Wissen um antike Autoren und Texte als Referenz- und die Gesta und ihr Publikum als Aufnahmebereich zu verstehen. 13 Wilhelm von Poitiers hat ein bestimmtes Wissen über antike Geschichte und ihre Autoren und nutzt dieses Wissen als Referenz, um seine Version der Eroberung Englands zu gestalten. Die entsprechenden Textpassagen lösen eine ganze Reihe von Fragen aus: Warum wird auf antike Beispiele verwiesen? Wie sind die Verweise kon_____________ 10 11 12

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im Sinne von Zitaten nachzugehen. So wichtig die Suche nach den antiken Vorlagen und -bildern ist, sie kann doch nur einen ersten Schritt im Verständnis der mittelalterlichen Texte sein. GG II, 7, 110: »Memorat antique Graecia Atridem Agamemnona fraternos thalamus ultum iuisse mille nauibus: protestamur nos Guillelmum diadema regium requisisse pluribus.« GG II, 7, 110–112: »Xerxem fabulatur illa Seston et Abidon ponto disiunctas urbes nauium ponte coniunxisse. Guillelmum nos reuera propagamus, uno clauo suae potestatis Normannici soli et Anglici amplitudienem copulauisse.« GG II, 9, 114: »Marius, aut Pompeius, uterque eximis calliditate atque industria meritus triumphum, hic adducto Romam in vinculis Iugurtha, ille coacto Mithridate ad venenum, sic in hostium fines delatus formidaret agens militem universum, se in periculum seorsim ab agmine cum legion segniter daret. Fuit illorum, et est ducum consuetudinis, dirigere non ire exploratores: magis ad uitam sibi, quam ut exercitui prouidentiam suam conseruarent. Guillelmus uero cum uiginti quinque, non amplius militum comitatu promptus ipse loca et incolas explorauit.« Vgl. Bergemann u. a. (2011), 39.

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struiert, und welche Rückschlüsse lässt dies auf ihre Funktion zu? Wie sind sie in den Text eingebettet und welchen Beitrag leisten sie zu dessen Konzeption? Und nicht zuletzt: Welches Verständnis von dem jeweils benutzten Ausschnitt der Antike liegt den Verweisen zu Grunde, und lässt sich eine gemeinsame Wertung hinter allen Antikenbezügen erkennen? Um diese Fragen zu beantworten und die Ausgestaltung des Textes besser verstehen zu können, sollen die Gesta Guillelmi im Sinne der Narratologie als Erzählung verstanden und interpretiert werden. 14 Wilhelm von Poitiers beschreibt nicht, wie Wilhelm von der Normandie England eroberte, er erzählt davon. 15 Die Gesta sollen also im Sinne von Antikentransformation auf ihre narrative Struktur hin untersucht werden: Die Verweise auf Antikes werden als Bausteine der Erzählung verstanden, die es narratologisch zu deuten gilt. Unter diesem Gesichtspunkt ist Wilhelms Erzählung noch nicht betrachtet worden. Die Forschung zu den Gesta konzentriert sich bislang auf zwei Themenkomplexe, nämlich den Autor und den Wert des Textes zur Rekonstruktion der geschilderten Ereignisse. Für beide Fragestellungen ist der Rückgriff des Autors auf antike Texte von Belang, aber nicht zentral. Vor allem im Umfeld der Editionen der Gesta wurden mehrfach Leben und Wirken des Autors untersucht. 16 Die wichtigsten Informationen verdanken wir Ordericus Vitalis (1075–1142), einem Kollegen Wilhelms und Zeitgenossen seiner letzten Jahre; 17 in seiner Kirchengeschichte nimmt Ordericus in drei Passagen Bezug auf Wilhelm von Poitiers. 18 Hier erfahren wir, dass dieser Archidiakon von Lisieux und für viele Jahre Hofkapellan König Wilhelms war. 19 Geboren in Préaux in der Normandie, erhielt er seinen Beinamen ›von Poitiers‹, weil er ebendort wohl zwischen 1045 und 1050 studiert hatte. »Er nahm einen großen Schluck aus der Quelle der Philosophie in Poitiers«, so drückt es Ordericus Vitalis aus. 20 Vor seiner geistlichen Laufbahn war Wilhelm als Ritter auf dem Schlachtfeld aktiv. Ein Umstand, der ihn – so betont Ordericus ausdrücklich – in die Lage versetzte, Schlachten kompetent zu beschreiben. 21 Wir haben hier also einen klassisch geschulten und kriegskompetenten Autor vor uns, der in seinem Tatenbericht die _____________ 14 15 16 17 18 19 20 21

Vgl. zu diesem Ansatz Clauss (2010), 49–79. Die Erzählung des Historiographen ist damit das Medium des Transformationsprozesses. Eine Erzählung definiert sich als Repräsentation von Ereignissen. So etwa Abbott (2002), 12. Vgl. die Vorworte zu den Editionen von Foreville (1952) und in GG; außerdem Davis (1981) und Gransden (1974), 99–102. Leeker (1986) bezieht sich nicht auf Wilhelm von Poitiers. Zu Ordericus Vitalis vgl. Chibnall (1984) und Orderic Vitalis, Ecclesiastical History, Bd. 1, 1–44. Die Kirchengeschichte wird nach dieser Ausgabe zitiert (Ordericus, Historia). Vgl. dazu mit Zitationen Davis (1981), 84 f. Diese Passagen entstanden wahrscheinlich 1114–15 und 1125, also nach dem Tod Wilhelms. Außer der Erwähnung bei Ordericus Vitalis findet sich – etwa in den Urkunden der königlichen Kanzlei – kein Hinweis auf Wilhelm von Poitiers als Hofkapellan. Vgl. Davis (1981) 88–89. Ordericus, Historia, IV, Bd. 2, 258: »Pictauinus autem dictus est, quia Pictauis fonte phylosophico ubertim imbutus est.« Ordericus, Historia, IV, Bd. 2, 258: »In rebus bellicis ante clericatum asper extitit, et militaribus armis protectus terreno principi militauit. Et tanto certius referre uisa discrimina potuit, quanto periculosius inter arma diris conflictibus interfuit.«

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Kriege seiner Zeit beschreibt – scheinbar ideale Voraussetzungen für die Rekonstruktion der Wirklichkeit. Dem steht aber, wie die modernen Kommentatoren immer wieder betonen, die Kenntnis des Autors um antike Schriften gleichsam im Wege. Das Wissen um Antikes, das Wilhelm während seiner Ausbildung in Poitiers erworben hat, ist sowohl bezüglich der Vielfalt der Texte, als auch der Gründlichkeit ihrer Erschließung beeindruckend. In den Gesta finden sich Anleihen bei folgenden antiken Autoren: Augustinus, Caesar, Cicero, Justin, Juvenal, Lucan, Sallust, Statius, Sueton, Vegetius und Vergil. 22 Imitationen des Stils und detaillierte Zitate belegen dabei eine profunde Kenntnis der Texte. 23 Marjorie Chibnall stellt hierzu fest: »He enjoyed imitating Caesar, Cicero, Sallust and Vergil.« 24 Raymonde Foreville spricht von »plusieurs modèles«, derer sich Wilhelm bedient habe. 25 Sie hat durch Textvergleiche verschiedene Arten der Textadaption identifiziert: Dabei geht es nicht um die einfache Übernahme ganzer Passagen, sondern ein Nachempfinden von Gedankenund Argumentationsgängen unter Rückgriff auf einzelne Ausdrücke. 26 So identifiziert sie inhaltliche Anleihen bei Caesar und Sallust; die Ausdrücke zur Beschreibung des Krieges stammen von Caesar, juristisch-philosophische Argumentationen von Cicero und poetische Ausdrücke rund um die Überquerung des Meeres von Vergil. Darüber hinaus hat Wilhelm von Poitiers Kenntnis von: der Thebais des Statius, den Satiren des Juvenal, dem Agricola des Tacitus, den Lebensbeschreibungen Suetons und den übersetzten Auszügen der Parallelbiographien des Plutarch. So entsteht ein Text, dessen literarische Qualität gelobt, dessen Relevanz als Quelle aber in Abrede gestellt wird. Es entsteht der Eindruck, dass der Historiograph immer dort, wo er als Literat brilliert, als Historiker versagt. Ralph Davis unterscheidet etwa explizit zwischen narrativen und rhetorischen Passagen: »[He is] often interrupting his narrative for a passage of pure rhetoric.« 27 Das für den Historiker Interessante und Verwertbare ist hier nicht der narrative Leitfaden, sondern die ›eigentliche Geschichte‹, welche durch als rein rhetorisch abqualifizierte Einschübe unterbrochen wird. Für die Rekonstruktion der Wirklichkeit – hier verstanden als die Taten Wilhelms des Eroberers – haben diese Einschübe offenbar keinen Wert. 28 _____________ 22 23

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Vgl. GG, S. 189 f.: Index der Zitationen. Vgl. hierzu GG, XIX–XXVII. Die Imitation besteht dabei in der Übernahme von Vokabeln und Satzstrukturen. Chibnall (2002), 140–143 verweist auf verschiedene Autoren, benennt aber auch die Schwierigkeiten bei der genauen Bestimmung der Vorlage und der Art der sprachlichen Nachahmung. GG, XXI–XXII. Vgl. Foreville, »Introduction«, in: Guillaume de Poitiers, Histoire, XXXVIII–XLIII (Zitat S. XXXIX) und auch Davis (1981), 72. Vgl. Foreville, »Introduction«, in: Guillaume de Poitiers, Histoire, XXXIX: »Deux exemples suffiront à montrer comment il utilise son modèle, lui empruntant une idée ici, un ou deux mots là, un simple movement de phrase ou une demarche de la pensée, enfin.« Davis (1981), 72. Dies wird auch in einer oftmals summarischen Abhandlung der Antikenbezüge deutlich. Diese werden als eigene Textebene verstanden, auch wenn sie sich durch die gesamte Erzählung ziehen und keineswegs in jedem Fall sprachlich markiert werden. So etwa Foreville, »Introduction«, in: Guil-

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Antikenbezüge bei Wilhelm von Poitiers Wenden wir uns nun unserer Fragestellung nach der Funktion der Antikenbezüge für die Erzählung zu. Zunächst sind zwei Arten von Bezügen zu unterscheiden. Solche, die deutlich markiert sind und explizit auf antike Vorbilder abzielen – etwa indem das Verhalten der Normannen mit dem einer römischen Armee verglichen wird: Selbst die Armee des römischen Reiches sei mitunter geflohen, wenn sie ihren Anführer tot glaubte; daher sei es nicht zu ehrabschneidend, dass auch die Normannen geflohen seien, als sie dachten, Herzog Wilhelm wäre gefallen. 29 Dem gegenüber sind implizite Verweise deutlich subtiler und in gewisser Hinsicht auch kunstvoller. Hierzu zählen Adaptionen des Stils und nicht gekennzeichnete Zitate. So erzählt Wilhelm von Poitiers, dass Wilhelm nach der Eroberung unter weißen Segeln in die Normandie zurückgekehrt sei; 30 man habe dies »nach der Sitte der Alten« für passend empfunden. Damit wird wohl auf Theseus’ Rückkehr nach Athen verwiesen; die weißen Segel stehen für den Sieg – und Wilhelm hat dies nicht vergessen. 31 Die Episode mit den weißen Segeln kontrastiert Wilhelm gleichzeitig mit seinem Widersacher Harald; von diesem hatte Wilhelm von Poitiers berichtet, er sei unter schwarzen Segeln aus der Normandie nach England zurückgekehrt. 32 Im Kontext des Wortbruches Haralds gegenüber Wilhelm fügen sich die schwarzen Segel hier als Vorzeichen der kommenden Niederlage in die Erzählung ein. In beiden Fällen fehlt aber ein expliziter Hinweis auf Theseus – es ist nur allgemein von den »Alten« die Rede –, so dass die Farbsymbolik der Segel in Verbindung zu Theseus sicher nur dem kundigen Leser auffällt. Explizite Verweise erschließen sich unmittelbar, implizite bedürfen der Analyse. Implizite Verweise setzen immer gewisse Vorkenntnis bei den Adressaten voraus, wenn sie denn erkannt werden sollen. Explizite Verweise können auf ein bestimmtes Vorwissen über die antiken Vergleichspunkte rekurrieren, müssen dies aber nicht. Offensichtlich funktionieren explizite und implizite Verweise unterschiedlich im Kontext der narrativen Struktur des Textes. Es ist zu fragen, welches Verständnis der jeweils angesprochenen antiken Phänomene den Verweisen zu Grunde liegt. Welche Assoziationen lassen sich aus den Antikenverweisen erschließen und in welcher Form wird überhaupt auf Antikes rekurriert? 33 Es erscheint hier zunächst naheliegend, verallgemeinernd von ›der Antike‹ zu sprechen und nicht auf einzelne _____________ 29 30 31 32 33

laume de Poitiers, Histoire, XXXVIII–XLIII. Sie spricht auch davon, dass die Gesta nicht als »oeuvre purement historique« verstanden werden sollten (XLVII). Vgl. GG II, 17, 128: »Romanae maiestatis exercitus, copias regum continens, uincere solitus terra marique, fugit aliquando, cum ducem suum sciret aut crederet occisum. Credidere Normanni ducem ac dominum suum cecidisse. Non ergo nimis pudenda fuga cessere.« Vgl. GG II, 38, 166: »Stabant naues ad transmittendum paratissimae, quas uere decuerat albis uelis more ueterum adornatas esse.« Vorlage für diese Episode ist die Vita des Theseus von Plutarch. Vgl. Plutarch, Theseus, 17, 4. Vgl. GG I, 46, 76–78. Hier beschränke ich mich auf die expliziten Verweise aus dem zweiten Buch der Gesta, welches sich mit der Eroberung Englands befasst. Allein hier finden sich über 20 solcher Bezüge.

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Autoren oder Autoritäten abzuheben. Dafür spricht vor allem die große Bandbreite an Autoren, Personen und Institutionen aus der Antike, welche Wilhelm anführt. Diese umfasst: Helden aus dem griechisch-persischen Kulturkreis (Agamemnon, Achill, Hektor, Tydeus und Xerxes); 34 Helden aus dem römischen Kulturkreis (Aeneas, Turnus, Pyrrhus, Scipio, Marius, Pompeius, Caesar und Augustus);35 antike Autoren (Cicero und Vergil); 36 antik-römische Institutionen (die römische Republik, Senatoren, ein römischer Kaiser, Generale). 37 Darüber hinaus verweist der Autor mitunter in einem ganz allgemeinen Sinne auf ›das Alte‹. So führt er Agamemnon und Xerxes mit einem »wie die alten Griechen erzählen« ein. 38 An anderer Stelle schreibt Wilhelm davon, was »einer der Alten« geschrieben hätte, um den Anmarsch Haralds auf Hastings zu beschreiben. 39 Schließlich führt er »die (Buch-)Seite des Alters« als Kronzeugen an. 40 Hier wird also das Alte, die antike Vergangenheit in einem sehr allgemeinen Sinne bemüht. Dennoch erscheint die Antike in den Gesta nicht im Sinne einer historischen Epoche oder eines abgeschlossenen Bereiches. Es ist unser moderner Blick, der Verweise auf die römisch-griechische Antike bündelt, nicht die Darstellungslogik Wilhelms von Poitiers. 41 Diese Antike ist zwar der am häufigsten eingesetzte Bezugsrahmen, aber nicht der einzige Themenkomplex, auf den die Erzählung verweist. Neben Bibelzitaten und -anspielungen werden auch aus anderen Bereichen Vergleiche herangezogen. 42 Die Lebensführung Papst Alexanders II. wird mit dem Lauf der Sonne verglichen; 43 als Ausweis von Reichtum dient ein Vergleich mit Arabien. 44 Den Angriff der normannischen Truppen bei Hastings begründet Wilhelm damit, dass vor Gericht schließlich auch derjenige zuerst spricht, der ein Verbrechen verfolgt. 45 Durch diesen Gerichtsvergleich wird Wilhelm der Eroberer gleichsam zum Ankläger, der Harald zur Rechenschaft zieht. Die Vergleiche mit verschiedenen Referenzbereichen – griechisch-römische Antike, Bibel, Orient, Gerichtswesen – sind in den Gesta narrativ oder funktional nicht voneinander abgesondert. _____________ 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

Vgl. GG II, 7, 110 (Agamemnon, Xerxes); II, 22, 134 (Achill, Hector); II, 22, 136 (Tydeus); II, 26, 142 (Agamemnon). Vgl. GG II, 7, 112 (Aeneas); II, 9, 114 (Marius, Pompeius); II, 22, 134 (Aeneas, Turnus); II, 32, 154 (Augustus); II, 32, 156 (Pyrrhus); II, 33, 160 (Scipio); II, 39–40, 168–174 (Caesar). Vgl. GG II, 7, 112 (Vergil); II, 12, 122 (Cicero). Vgl. GG II, 1, 102 (römische Republik, Senatoren); II, 4, 106 (römischer Kaiser); II, 17, 128 (römische Armee); II, 22, 134 (Generale). Vgl. oben Anm. 10. GG II, 16, 126: »scribens Heraldi agmen illud ueterum aliquis […].« GG II, 37, 164: »attestante pagina uetustatis.« Wenn im Folgenden von ›Antike‹ die Rede ist, dann im Sinne des modernen Verständnisses des Transformationsprozesses. Wilhelm verweist sehr selten auf die Bibel oder die Kirchenväter, vgl. Chibnall (2002), 138. Vgl. GG II, 3, 104. Vgl. GG II, 32, 154 und 42, 176. Vgl. GG II, 17, 128.

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Die hohe Anzahl und breite thematische Streuung der Antikenverweise sind nicht dahingehend misszudeuten, dass Wilhelm auf die Antike als geschlossene Einheit verweist; Referenzrahmen für die Antikentransformation ist das Wissen des Autors um bestimmte antike Texte, und dieses Wissen steht neben anderen Bezugsgrößen und konstituiert keine kohärente Entität. Dennoch ist diesen Verweisen einiges gemein: Den Antikenverweisen haftet immer etwas Autoritatives oder Gewichtiges an, das keiner Erklärung bedarf. So will Wilhelm von Poitiers es etwa eindeutig als ehrenvoll verstanden wissen, wenn er den Reichtum Wilhelms des Eroberers mit dem eines antiken Kaisers vergleicht. 46 Antike Personen sind geschätzte Autoritäten, egal ob individuell benannt oder nicht. Das Alte wird zwar nicht immer als das unübertroffene Ideal präsentiert, immer aber als Bezugsrahmen von großer Autorität. Die Verweise auf das Antike sind also in der Gesta sehr zahlreich; betrachtet man deren Gesamtheit, so fällt zunächst auf, dass diese Verweise Wilhelm dem Eroberer und seinen Normannen vorbehalten sind. Nur an einer Stelle wird Harald mit antiken Persönlichkeiten in Verbindung gebracht, wenn es heißt, Wilhelm habe gegen ihn gekämpft wie Achill gegen Hektor oder Aeneas gegen Turnus. 47 Hier ist der Bezug des Antagonisten zur Antike nur der Belobigung des Protagonisten geschuldet. Generell dienen die Vergleiche der Normannen mit antiken Persönlichkeiten dazu, Wilhelm und seine Landsleute in ein gutes Licht zu rücken. Manche Verweise basieren auf der Konzeption, dass das Antike gleichsam adelt. Die Rede, die Wilhelm an Harald übermitteln lässt, wäre auch von einem nicht zu übertreffen gewesen, das Festmahl auf dem Kanal der Beschreibung durch Vergil würdig. 48 Besonders kunst- und wirkungsvoll ist ein Bezug auf Vergil und Statius gestaltet. 49 Wilhelm von Poitiers räsoniert hier, wie sich die beiden Dichter über den Eroberer hätten äußern können. Als Dichter besingen sie große Ereignisse und übertreiben diese nach den Gesetzen der Dichtkunst; die Taten Wilhelms waren aber so großartig, dass es fraglich erscheint, ob die Schönheit ihrer Dichtung diesen angemessen wäre. Wenn ja, dann hätten die beiden heidnischen Autoren Wilhelm unter ihre Götter gereiht. Die Erzählung Wilhelms von Poitiers bringt den König hingegen in Beziehung zu dem einzig wahren Gott, indem sie auf die Frömmigkeit des Königs abhebt. Man gewinnt hier den Eindruck, dass der Erzähler Wilhelm seinem Helden jede denkbare Ehrung zuteilwerden lassen will und dass der Bezugspunkt dafür die antiken Dichter sind. Diesen ist nämlich die Möglichkeit gegeben, ihre Helden zu vergöttlichen. Über die spekulative Vorstellung, der Held des 11. Jahrhunderts könne in den Dichtungen der Antike auftauchen, wird die Möglichkeit geschaffen, Wilhelm dem Eroberer auch diese antik-heidnische Ehrung zukommen zu lassen. Soweit ist das Lob der antiken Dichter das Maß aller Dinge; als christlicher Autor muss Wil_____________ 46 47 48 49

Vgl. GG II, 4, 106. Hier geht es darum, dass auch die Reichtümer eines römischen Kaisers kaum für das Vorhaben Wilhelms ausgereicht hätten. Vgl. GG II, 22, 134. Vgl. Jäschke (1977), 47 f. Vgl. GG II, 12, 122 und II, 7, 112. Vgl. GG II, 22, 136.

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helm die Dinge aber sogleich gerade rücken und den Bezug zu seinem wahren Gott herstellen und sich so von der heidnischen Antike distanzieren.

Narrative Funktion der Antikenverweise Welche narrative Funktion haben die Antikenverweise in der Erzählung Wilhelms von Poitiers? Die nächstliegende Funktion ist der Vergleich: Wilhelm agiert – abstrakt – wie ein römischer Kaiser oder – konkret – wie Caesar. Die Taten Wilhelms werden hier zu denen antiker Vorläufer in Beziehung gesetzt. Grundlage für den Vergleich ist jeweils ein Tertium Comparationis, das bei den expliziten Verweisen auch konkret benannt wird. Wilhelm ist reich wie ein Kaiser, die Normannen fliehen wie die römische Armee, über die Rückkehr Wilhelms in die Normandie freuen sich die Normannen, wie die Italiker über Titus, und Rouen applaudiert Wilhelm wie Rom dem Pompeius.50 Oftmals bleibt unklar oder unausgesprochen, was gerade für den gewählten spezifischen Bezug sprach. Warum wird auf die Triumphe des Pompeius verwiesen und nicht die eines anderen Triumphators? 51 Der Verweis auf Titus passt dann gut in das Gesamtkonzept der Gesta, wenn man die Intention der Vorlage zu Grunde legt; Wilhelm stützt sich offenbar auf Sueton und seine TitusVita. 52 Hier wird Titus als sehr gerechtigkeitsliebend beschrieben. Das passt zum Bild des gerechten Eroberers, das Wilhelm von Poitiers zeichnen will. Bei Agamemnon und Xerxes ist es – wie oben gesehen – der Angriff mit einer Flotte, welche sie zu geeigneten Vergleichspunkten macht. Verweise auf Xerxes finden sich auch in anderen historiographischen Texten des Mittelalters. 53 Otto von Freising berichtet in seiner Chronik von der Geschichte des antiken Griechenlands und damit von Xerxes: »Damals also stellte sich dem Xerxes mit seinem unzählbaren, unglaublich starken Heer – es soll aus etwa einer Million Bewaffneter, etwa zwölfhundert Kriegsschiffen mit Schnäbeln und fast dreitausend Transportschiffen bestanden haben – der Spartanerkönig Leonidas mit ganz wenigen, nämlich 4000 Mann, im Engpass von Thermopyla entgegen.« 54 Otto von Freising stützt sich hier _____________ 50 51 52 53

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Vgl. oben Anm. 46 (Kaiser), Anm. 29 (Flucht), GG II, 41, 174 (Titus) und GG II, 41, 176 (Rouen). Die Begründung mag in der Vorlage und damit der selektiven Kenntnis des Wilhelms von Poitiers liegen. Zu Pompeius vgl. Lucan, Pharsalia, VIII, 794–815. Vgl. Sueton, Titus, etwa I, 1 (Liebling des Menschengeschlechts) und VII, 3 (keine Übergriffe auf das Eigentum der Bürger). Xerxes taucht in historiographischen Werken des Mittelalters vor allem in zwei Kontexten auf: als Gegner der Griechen im Kontext der antiken Geschichte – etwa bei Iordanis Romana et Getica, X, 64, 72; Ottonis Episcopi Frisingensis Chronica, II, 17, 87, von diesem abhängig: Österreichische Chronik von 95 Herrschaften, I, 20 und Thomas Ebendorfer, Chronica Austriae, II, 45 – oder als rhetorisches Motiv für einen Angriff mit vielen Schiffen – etwa bei Landolfs Sagacis Addimenta, XIII, 357 und Adam von Bremen, Gesta, III, 28, 172. Ottonis Episcopi Frisingensis Chronica, II, 17, 87. Zitiert wurde die Übersetzung von Adolf Schmidt in: Otto Bischof von Freising, Chronik, 135.

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auf Orosius. 55 Die gewaltigen Dimensionen der persischen Flotte machen Xerxes zu einem geeigneten Vergleichspunkt für maritime Operationen. Adam von Bremen erzählt in seinen Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum über die Pläne Erzbischof Adalberts von Bremen: »Und als er das alles unter zweifelhaften Rechtstiteln besaß, glaubte der Erzbischof, er können über das Meer wandeln und seine Schiffe über Land führen, wie es so treffend von Xerxes heißt.« 56 Vorbild hierfür ist Cicero, der in De finibus bonorum et malorum ähnlich formuliert. 57 Die Macht des Xerxes wird durch seine Verfügungsgewalt über die Schiffe, das Land und das Meer zum Ausdruck gebracht. Auf die vielen Schiffe des Xerxes verweist auch Landolfus Sagax in seiner Historia Romana aus dem späten 10. oder frühen 11. Jahrhundert – eine Bearbeitung des gleichnamigen Werkes des Paulus Diaconus –, als er vom Angriff des Heraclianus im Jahre 413 auf Rom berichtet. 58 Er gibt hier Orosius wieder, der die Größe der Flotte durch den Vergleich mit Xerxes illustrieren will. Xerxes fungiert also als ein rhetorisches Motiv, als gleichsam topischer Verweis für jemanden, der mit sehr vielen Schiffen unterwegs ist. In diesem Sinne rekurriert auch Wilhelm von Poitiers auf ihn, ohne freilich in direkter Tradition der genannten mittelalterlicher Autoren zu stehen. Mit Xerxes sind wir bei den Antikenverweisen angekommen, die nicht dazu dienen, Wilhelm durch die Gleichsetzung mit antiken Persönlichkeiten zu adeln; hier will der Erzähler mehr: Wilhelm übertrifft die antiken Vorbilder. Er reiht sich nicht ein unter den Großen der Antike, er stellt sie in den Schatten. Dies wird besonders augenfällig am Vergleich mit Caesar, der zwei Kapitel im zweiten Buch der Gesta einnimmt und die ganze Eroberungserzählung bilanziert. 59 Hierzu werden zunächst in Kapitel 39 Caesars Aktionen beschrieben. 60 Schon in dieser Darstellung wird deutlich, dass Caesar sich nicht mit Wilhelm messen können wird: Der römische Feldherr erhielt nur von einigen Städten Geiseln, entfernte sich nicht weit von der Küste, und seine Legionen waren von großer Furcht erfasst, als einige Schiffe Schaden nahmen. Das Kapitel schließt mit der Frage: »Was also hat er [Caesar] erreicht, das neben den Taten des Mannes, über den ich schreibe, des Lobes wert wäre?« 61 Wilhelm fragt also nicht, was Caesar mit König Wilhelm gemein hat, sondern macht seinen Protagonisten zum Maßstab für Caesar. _____________ 55 56 57 58

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Vgl. Orosius III, 9, 1. § 7, 42, 12. Adam von Bremen, Gesta, III, 28, 172: »sicut bene dicitur de Xerse, aut per mare ambulaturum, aut per terram navigaturum.« Die Übersetzung von Werner Trillmich in Adam von Bremen, Bischofsgeschichte, 365. Vgl. Cicero, De finibus bonorum et malorum II, 34, 112. Vgl. Landolfs Sagacis Addimenta, 357: »Quem numerum ne apud Xerxen quidem preclarum illum Persarum regem […] fuisse historie ferunt.« Heraclianus war Comes Africae unter Kaiser Honorius und wurde für seinen Aufstand gegen diesen 413 hingerichtet. Vgl. Heraclianus 3, in: The Prosopography of the Later Roman Empire 2 (1980), 539 f. Vgl. GG II, 39 und 40, 168–174. Um den Vergleich plausibel zu machen, führt Wilhelm von Poitiers an, das England früher Britannien hieß. Vgl. GG II, 39, 168: »nam Angliae nomen antiquius est Britanniae.« GG II 39, 170: »Quid igitur huius uiri, quem scribimus, conferendum laudibus hac vice patrauit?«

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Es folgt das Kapitel 40, welches den Vergleich Punkt für Punkt durchexerziert und Wilhelm in jedem Punkt Caesar ausstechen lässt. Wilhelm von Poitiers legt eine sehr detaillierte Kenntnis des Bellum Gallicum zu Grunde, dem er die Details für den Vergleich entnimmt. 62 Dieser ist zum einem militärisch: Die Briten kämpften gegen Caesar in der Ebene, während die Engländer es nur auf einem Hügel stehend wagten, Wilhelm entgegenzutreten; Caesar schlug viele Schlachten gegen die Briten, während Wilhelm die Engländer in einer besiegte; die Römer fochten im Sommer, die Normannen im Winter. Aus anderen Vergleichen bekannte Lobpreisungen tauchen hier erneut auf: Caesar führt seine Truppen von hinten, Wilhelm ist Feldherr und Krieger zugleich. Auch politisch ist Wilhelm erfolgreicher als Caesar: Wilhelm bringt allen Engländern Frieden, Caesar hingegen muss in den inner-britischen Auseinandersetzungen Position beziehen und hilft nur einer Seite, derjenigen des Mandrubatius. Wilhelm beendet die Streitigkeiten und die Tyrannei, Caesar befördert die Zwietracht. So kehrt Caesar denn auch mit nur wenigen unbedeutenden Gefangenen nach Gallien zurück, Wilhelm hingegen mit einer Entourage, die eines Königs würdig ist. Wilhelm von Poitiers betont auch strukturelle Unterschiede zwischen dem Vorgehen des Normannen und dem des Römers. Dieser setzte auf gute Planung, jener verließ sich auf sein Glück. In Buch 40 der Gesta können wir das Ineinandergreifen von impliziten und expliziten Verweisen beobachten: Wilhelm von Poitiers vergleicht den Reichtum Galliens, welches von Caesar erobert wurde, mit dem Englands, welches Wilhelm sich Untertan machte. Wilhelm hat seinen Reichtum rechtmäßig erworben, nicht nur irgendwelche Abgaben oder Beute, sondern so viel Gold und Silber, wie man kaum aus der Unterwerfung »der drei Gallien« hätte zusammentragen können. 63 Hier klingt deutlich das wohlbekannte ›Gallia est omnis divisa in partes tres‹ (De bello gallico, I, 1) an. Dabei muss freilich offen bleiben, ob Wilhelm von Poitiers hier bewusst einen Anklang an dieses Zitat setzten wollte, etwa um zu zeigen, wie belesen er war; das dreigeteilte Gallien liest sich auch als Beschreibung der antiken Zustände, die dann freilich ebenfalls von Caesar stammt. Zum Abschluss dieser zahlreichen Verweise auf Caesar und Vergleiche mit Wilhelm schreitet der Autor zur Ehrenrettung Caesars. Weitere Kommentare zu Caesar werde er unterlassen, da diese vielleicht als »geringschätzend« verstanden werden könnten. 64 Caesar sei in der Tat ein ausgezeichneter Feldherr, der das Kriegshandwerk aus den Büchern der Griechen gelernt und von Jugend an ausgeübt habe; er wurde Konsul, gewann viele Kriege und machte Afrika, Europa und Asien Rom Untertan. Mit anderen Worten: Er bezwang die ganze Welt. Diese Volte am Ende des Vergleiches wirkt zunächst etwas aufgesetzt und scheint nicht zum Vorhergehenden zu passen. Sie ist aber nicht nur eine Verbeugung vor dem antiken General und Staatsmann, sondern auch für das Funktionieren der Erzählung notwendig. Der _____________ 62 63 64

Vgl. dazu die Einzelnachweise in den Anmerkungen bei Foreville (1952), 246–255. GG II, 40, 174: »ex ditione trium Galliarum«. Vgl. GG II, 40, 174: »Mentionem super Iulio Caesare, quae forte notetur quasi derogans, omittamus.«

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Autor muss hier deutlich machen, warum ein Vergleich mit Caesar Wilhelm dem Eroberer zur Ehre gereicht. In Verlauf von Kapitel 39 und 40 hatte man ja den Eindruck gewonnen, Caesar sei in allen Belangen Wilhelm unterlegen. Dies muss in der Logik der Gesta aber der Größe Wilhelms und nicht der Bedeutungslosigkeit Caesars geschuldet sein. Es muss gleichsam ein würdiger Gegenpart zum Eroberer gefunden werden, damit dessen gutes Abschneiden eine Leistung ist. Die Antike fungiert in den Gesta also in verschiedener Funktion als Bezugsrahmen für eine panegyrische Erzählung von der Eroberung Englands: als Vergleichspunkt, dem die Taten Wilhelms gleichkommen, als rhetorisches Motiv oder als Vergleichspunkt, der übertroffen wird. Allen verschiedenen Verwendungen ist eine positiv-autoritative Grundhaltung gegenüber dem Antiken gemein. Dabei erscheint es unerheblich zu sein, in welchem konkreten historischen Kontext die antiken Protagonisten tätig wurden. Xerxes, der Gegner des klassischen Athen, kann hier ebenso benannt werden wie Pyrrhus, einer der Feinde Roms. 65 Beide werden nicht als Akteure in einem bestimmten historischen Kontext, sondern als ›Könige‹ beschrieben. So scheint es in erster Linie das Alte oder Historische an einem Protagonisten und in zweiter Linie ein zu konstruierendes Tertium Comparationis zu sein, welche den Vergleichen zu Grunde liegen. In diesem Sinne gilt hier, dass gut ist, was alt ist, und somit alles Antike als Vergleichsrahmen dienen kann. Entscheidend für den Transformationsprozess ist nicht die Bedeutung des jeweiligen Details der Antike in unserem modernen Verständnis der Epoche.

Erzählen mit Hilfe der Antike Wie sind die Antikenverweise narrativ ausgestaltet? Betrachten wir ein Beispiel aus dem zweiten Buch der Gesta Guillelmi. Herzog Wilhelm hatte befohlen, dass alle Schiffe über Nacht auf dem Kanal in der Nähe seines Schiffes ankern sollten, um am nächsten Morgen auf sein Signal hin gemeinsam zur feindlichen Küste zu segeln. So sollte sichergestellt werden, dass die Invasionsflotte möglichst geschlossen anlanden konnte. Als der Ausguck des herzoglichen Schiffes am Morgen nach der Flotte suchte, meldete er, ringsum sei nur Himmel und Wasser zu sehen. 66 Man ging sofort vor Anker, und Herzog Wilhelm versuchte, den Sorgen und Ängsten seiner Begleiter durch eine symbolische Handlung vorzubeugen: Auf dass sie nicht durch das Ausbleiben der Flotte verunsichert würden, setzte er sich voller Fröhlichkeit zu einem üppigen Mahl nieder und tafelte. Es fehlte nicht am gewürzten Wein, und Wilhelm benahm sich ganz so, als ob er zu Hause in seiner Halle säße. 67 Gott werde die ande_____________ 65 66 67

Vgl. Zu Xerxes oben Anm. 11 und GG II, 32, 156 (Phyrrus): »valentissimus vir, rex Pyrrhus.« Vgl. GG II, 7, 112. Vgl. GG II, 7, 112: »Confestim anchora iacta, ne metus atque moeror comitem turbam confundaret, abundans prandium nec baccho pigmentato carens, animosissimus dux, acsi in coenaculo domestic, memorabili cum hilaritate accepit; cunctos actutum affore promittens, Deo, cuius eos tutelae credidit, adducente.«

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ren schon herbeiführen, versicherte er seinem Gefolge. Als der Ausguck zum zweiten Mal gefragt wurde, sah er vier Schiffe, beim dritten Mal einen Wald, dessen Bäume Segel trugen. 68 Kaltblütig, mutig und voller Gottvertrauen meistert Herzog Wilhelm diese kritische Situation. Diese Episode funktioniert durch den Gegensatz zwischen dem herzoglichen Festmahl und der Bedrohlichkeit der Lage: Je prunkvoller Wilhelm frühstückt, desto tapferer erscheint er. Um diesen Effekt zu erreichen, verweist Wilhelm von Poitiers auf den Wein und vergleicht das Mahl auf dem Schiff mit einem Mahl in der heimatlichen Halle. Er geht aber noch weiter: »Der Fürst der Dichter aus Mantua hätte es nicht für unwürdig gehalten, einen Bericht über die Sicherheit, die von dem Mahl ausging, und dessen Absicht in sein Lob des Troianers Aeneas einzufügen; dieser war der Ruhm und der Vorfahr des alten Rom.« 69 Die Tat Wilhelms des Eroberers wäre des Berichtes eines Vergils würdig, der Eroberer erscheint auf einer Stufe mit Aeneas, seine Herrschaft gleicht der Roms. Der namentlich nicht genannte Vergil wird explizit als Dichterfürst bezeichnet, Aeneas als der Ursprung des römischen Ruhms glorifiziert. In der Aeneis finden sich einige Beschreibungen von Festmählern. 70 Als Aeneas schiffbrüchig an der Küste Afrikas strandet, hält er ein Festmahl, um seine Gefährten zu beruhigen; auch hier dient das Mahl der symbolischen Kommunikation mit dem Gefolge. Aeneas tafelt freilich an Land, nicht auf dem Schiff, und die Situation des Schiffsbruchs ist auch nur bedingt mit der Wilhelms des Eroberers vergleichbar. Dennoch verdeutlicht der Hinweis auf Vergil, wo Wilhelm von Poitiers sich inspirieren ließ. 71 Es geht hier aber nicht darum, einer impliziten Zitation nachzuspüren, sondern das Funktionieren des expliziten Verweises auf Vergil und Aeneas zu analysieren. Ungeklärt ist dabei zunächst die Relation der Episode zur historischen Wirklichkeit. Gab es ein Mahl auf dem Schiff oder nicht? Anders gewendet: Wo genau beginnt der Verweis auf Vergil? Dient er dazu, ein historisches Verhalten des Herzogs ins darstellerisch rechte Licht zu rücken? Oder: Stilisiert Wilhelm von Poitiers hier das Verhalten seines Helden nach dem antiken Vorbild? Wenn die Beschreibungen eines Mahles bei Vergil dem Historiographen dazu dienen, seine Beschreibung eines Mahles Wilhelms zu gestalten, dann ist dies dem Einsatz eines Stilmittels vergleichbar. Wenn aber Vergil insofern das Vorbild für diese Episode war, als dem Herzog, der in der Wirklichkeit gar nicht getafelt hat, ein aeneas-taugliches Verhalten unterstellt wird, dann modelliert der Antikenbezug den Inhalt der Erzählung. _____________ 68 69 70 71

GG II, 7, 112: »Inquisitus denuo speculator, naues quatuor aduenire, tertio tantas exclamat, ut arborum ueliferarum uberrima densitas nemoris praestet similitudinem.« GG II, 7, 112: »Non indignum duceret Mantuanus poetarum princeps laudibus Aeneae Troiani, qui priscae Romae ut parens Gloria fuit, securitatem atque intentionem huius mensae inserere.« Vgl. Vergil, Aeneis, I, 194–215, I, 695–747; VII, 107–134; VIII, 175–183. Die Aeneis dient hier als motivisches, nicht als sprachliches Vorbild. Die Beschreibung des Mahles bei Wilhelm von Poitiers ähnelt sprachlich nicht den Beschreibungen des Vergil; sie ist für ein umfangreiches Zitat auch deutlich zu kurz.

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Wilhelm von Poitiers berichtet als einziger von diesem Mahl, so dass eine Überprüfung durch Parallelquellen entfallen muss. So hängt die Beurteilung dieser Szene zunächst davon ab, wie man das Verhältnis von Gesta Guillelmi und Aeneis hier einschätzt. Davis geht davon aus, dass Wilhelm von Poitiers die ganze Szene nach Vergil modelliert hat und spricht von einem »literary topos« 72; andere Autoren folgen der Darstellung der Gesta und nehmen an, dass Wilhelm mit einem Frühstück Mut bewiesen hat. 73 Die Anlehnung an Vergil diskutieren sie in diesem Kontext freilich nicht. Letztlich ist die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug dieser Episode an die Wertung der narrativen Dimension des Textes und seines literarischen Anspruches gebunden; es lässt sich nicht schlüssig belegen, ob Wilhelm der Eroberer tatsächlich getafelt hat oder nicht. Entscheidend erscheint hier aber weniger die Ratlosigkeit des Historikers, als die Erkenntnis, dass Bezüge auf die Antike in einer Geschichtserzählung des Mittelalters ganz unterschiedliche Bedeutung haben können. Diese liegt nicht nur auf der Ebene der Präsentation; Bezüge auf die Antike dienen etwas überspitzt formuliert nicht nur dazu, die Geschichte ›aufzuhübschen‹. Sie können auch in die Struktur der Erzählung einwirken und so Teil der Geschichte und nicht nur ihrer Präsentation werden. Wenn Aeneas zum Rollenmodell für einen tapferen Helden wird, dann führt dies dazu, dass Wilhelm im Angesicht der Gefahr tafelt. Hier schließt sich die Frage an, wen der Autor mit diesen Episoden erreichen wollte. Wie jeder Erzähler hat Wilhelm von Poitiers ein Publikum vor Augen. So beteuert er, sich in einfacher Sprache ausdrücken zu wollen, damit sein Buch möglichst viele Leser finden möge, und weil dies nach der Art großer Redner sei. 74 König Wilhelms Taten, die in seinem Buch weiterleben, sollen so möglichst vielen zugänglich sein. Dies ist zweifelsohne ein Topos der affektierten Bescheidenheit und ein Sichanlehnen an antike Vorbilder; darüber hinaus wird hier aber auch deutlich, was sich jeder Autor, jeder Erzähler wünscht: viel Publikum. Auch die Auswahl des Stoffes und die Kürze seines Buches begründet Wilhelm mit einem Hinweis auf seine Leserschaft. 75 Die Taten Wilhelms des Eroberers würden natürlich viele Bände füllen; ein zu langer Text könnte aber Leser verschrecken, weswegen er eine Auswahl treffen müsse. Es ist also zu fragen, wer hier wem was erzählen möchte. Wer sind Autor und Adressat, welche Wirkung soll entfaltet werden? Die Frage nach dem Autor ist hier eindeutig zu beantworten, Wilhelm von Poitiers wurde schon vorgestellt. Wer aber ist der Adressat, sind die Adressaten? Eine explizite Antwort hierauf kann der Text selber nicht liefern. Die Gesta sind nur in einer unvollständigen Abschrift auf uns gekommen, die nach der ersten Edition im Jahre 1619 von André Duchesne verlo_____________ 72 73 74 75

Davis (1981), 73. So etwa – ohne jeden Bezug auf Vergil – Douglas (1966), 375. Vgl. GG II, 32, 158: »et in pagis nostris, quas tenui orationis figura scribere placet, ut res pulcherrimas dilucide plures intelligent, praesertim cum praecipui oratores, quibus dicendi grauiter copia magna fuit, humili sermone, dum historias scribunt, usi reperiantur.« Vgl. GG I, 20, 28.

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ren ging. 76 Falls Wilhelm seinem Werk eine Widmung vorangestellt haben sollte, ist diese verloren. 77 Ordericus Vitalis berichtet, dass Wilhelm von Poitiers die Gesta König Wilhelm überreicht habe, »um dessen Gunst zu erringen« 78. Dies passt sehr gut zum panegyrischen Charakter des Werkes; Wilhelm der Eroberer und seine Taten stehen im Zentrum der Erzählung, eine angestrebte Wirkung besteht ganz offensichtlich im Herrscherlob. Man hat Wilhelm von Poitiers schon als »Goebbels des Eroberers« bezeichnet. 79 Der Autor betont die Rechtmäßigkeit von Wilhelms Königtum und spart jeden Hinweis auf dessen Grausamkeit, wie sie andere Quellen berichten, aus. 80 Auch wenn der Eroberer nicht explizit angesprochen wird, erscheint es also sehr plausibel, in ihm einen Adressaten der Gesta Guillelmi zu sehen. Davis hat allerdings mit guten Argumenten darauf hingewiesen, dass das Verhältnis zwischen Autor und Eroberer nicht gänzlich ungetrübt gewesen sein könnte. 81 So will der panegyrische Hymnus der Gesta nicht ganz zur Karriere seines Autors passen. Hätte man als Belohnung für die Gesta mehr erwarten können als das Archidiakonat in Lisieux? Es ist sicherlich schwierig, hier so etwas wie den Tariflohn für eine panegyrische Schrift festzumachen. In eine ähnliche Richtung könnte aber auch ein Hinweis des Ordericus Vitalis zielen, nach dem Wilhelm von Poitiers sein Werk nicht wie vorgesehen beenden konnte. 82 Dies könnte auf Spannungen zwischen Autor und Protagonist hinweisen. Davis vermutet, dass Wilhelm von Poitiers in den Auseinandersetzungen zwischen König Wilhelm und seinem Halbbruder Bischof Odo von Bayeux auf der Seite des Bischofs gestanden habe und so in die Ungnade des Eroberers gefallen sei. Dies könnte das Ausbleiben einer wohlwollenden Resonanz auf die Gesta erklären, welche dann politisch und nicht literarisch-inhaltlich begründet wäre. An dieser Stelle ist es allerdings notwendig, zwischen tatsächlicher Rezeption und der ursprünglichen Konzeption des Autors zu unterscheiden. Die Adressaten einer Erzählung müssen nicht mit deren Rezipienten identisch sein. 83 So wichtig Fragen nach der Rezeption und der abschriftlichen Verbreitung eines Werkes sind, um dessen Strahlkraft einschätzen zu können, so sind sie im Sinne eines narratologischen Verständnisses zunächst ohne Belang. Der Autor hat bei _____________ 76 77 78 79 80 81 82 83

Vgl. GG, »Einleitung«, XLV; Foreville, »Introduction«, in: Guillaume de Poitiers, Histoire, L–LIII und Davis (1981), 93–98. Davis (1981), 98–100, hat versucht, die verlorenen Inhalte der Gesta zumindest thematisch zu rekonstruieren. Vgl. Ordericus, Historia, III, 72, Bd. 2, 78: »Willelmo iam regi Anglorum fauere cupientes praesentauerunt.« Vgl. den entsprechenden Hinweis bei Jäschke (1977), 32 mit Anm. 199. Hier wird auf die Äußerung von Charles H. Gibbs-Smith in der Times von 8. Oktober 1966 verwiesen, vgl. auch Engels (1967), 32. Wilhelms von Poitiers betont mehrfach den Erbanspruch Wilhelms des Eroberers auf die englische Krone vgl. etwa GG I, 14, S, 18. Außerdem betont er ausdrücklich, dass keinem Engländer Unrecht widerfahren sei, vgl. etwa GG II, 33, 158–160. Vgl. Davis (1981), 92 f. Vgl. Ordericus, Historia, III, 158, Bd. 2, 184: »aduersaris casibus impeditus«. Vgl. hierzu Schmid (2008), 43.

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der Ausgestaltung seiner Erzählung den Adressaten im Blick, nicht die Rezipienten. Die avisierte Wirkung muss nicht mit der erzielten identisch sein. Folgt man Davis, dann wäre Wilhelm von Poitiers hierfür ein Beispiel. Diese Annahmen werfen uns bei der Suche nach den Adressaten zunächst auf den Text zurück und auf Wilhelm den Eroberer und seine Umgebung. Geht man von einer engen Bindung Wilhelms von Poitiers an Odo von Bayeux aus, kann man auch diesen zum Adressatenkreis zählen. Auch er wird lobend erwähnt, wenn auch keineswegs in der Deutlichkeit und Häufigkeit wie sein erobernder Halbbruder. 84 Somit wären als Adressaten eine Personengruppe um König Wilhelm auszumachen, mit dem Eroberer im Zentrum und ergänzt um Odo von Bayeux. Bleibt die Frage nach der Wirkung, die Wilhelm von Poitiers erzielen möchte. Überdeutlich steht hier das Lob des Herrschers im Zentrum des Textes. Hinzu kommt offenbar der Wunsch, auch sich selbst als versierten Literaten und kundigen Kenner antiker Texte darzustellen. 85 Die zahlreichen Verweise auf antike Autoren gehen zu deutlich über ein für das Herrscherlob notwendiges Maß hinaus, um nicht auch auf den Autor selbst verweisen zu sollen. Auch scheinen sie nicht einem ökonomischen Pragmatismus geschuldet zu sein, der den Autor auf schon vorhandene Erzählbausteine zurückgreifen und so Neukompositionen einsparen lässt. Die Antike ist deutlich mehr als eine Fundgrube guter Formulierungen, und wird daher – gleichsam ganz unökonomisch – mitunter sehr aufwendig in die Erzählung eingebaut. Dies dient zweifellos auch dem Lob des Erzählers selbst. So wird im oben zitierten Aeneis-Vergleich ja nicht nur Wilhelm der Eroberer mit Aeneas verglichen, sondern Wilhelm von Poitiers sieht sich als neuen Vergil. Für beide Wirkungen – Herrscher- und Autorenlob – sind die Verweise auf die Antike zentral; diese dient als Vergleichsrahmen und als Wissensfundus, den der Erzähler zu erschließen in der Lage ist. Wie aber sollten diese Wirkungen erzielt werden und welche Funktion kam den Antikenverweisen dabei zu? Konzentriert man sich auf Wilhelm den Eroberer als Adressaten, wird ein Dilemma des Erzählers schnell klar. In modernen Biographien werden dem Eroberer zahlreiche Talente beschieden: 86 Diese reichen von außergewöhnlicher Körperkraft und Ausdauer über militärisches Genie bis zu charakterlichen Tugenden. Mit anderen Worten: Wilhelm hatte alles, was ein guter König brauchte; ein Gelehrter war er aber nicht. Seine Herkunft als uneheliches Kind des nachgeborenen Sohnes des Herzogs von der Normandie, Robert – später als Herzog Robert I. – mit Herleve, einer Frau von niederem Stand, war nicht dazu angetan, ihm eine umfangreiche Bildung zuteil werden zu lassen. Seine Zeit als minderjähriger Herzog war von Intrigen und Gewalt geprägt, als Erwachsener führte er zahlreiche Kriege. All das scheint wenig Raum für das Studium der Klassiker geboten zu haben. Wir haben keinen Hinweis darauf, dass _____________ 84 85 86

Zu Odo von Bayeux in den Gesta vgl. GG, 196 (General Index). Davis (1981), 72 formuliert hierzu pointiert: »Some commentators have emphasized that WP’s prime aim was to flatter the Conqueror, but this is only half of the truth; he was also flattering himself […].« Vgl. Bates (1989); Boüard (1984); Zumthor (1978); Douglas (1966).

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Wilhelm lesen konnte. 87 An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wie die Erzählung des gebildeten Autors Wilhelm vom ungebildeten König Wilhelm verstanden werden sollte. Zunächst erscheint es verwunderlich, dass in das Lob eines Herrschers, der wahrscheinlich keinen der antiken Vorbildtexte gelesen hatte, so viele Verweise auf die Antike vorkommen. Die Unterscheidung in explizite und implizite Verweise scheint mir hier weiterzuführen. Kehren wir unter diesen Vorzeichen noch einmal zur Episode um das Festmahl auf dem Schiff zurück. Zwei Eigenheiten des Verweises fallen auf, die für viele Antikenbezüge bei Wilhelm von Poitiers typisch sind: Die Verweise auf die Antike werden kommentiert; und: Sie sind für das Verständnis der Handlung ohne Belang. Wilhelm von Poitiers rekurriert hier auf zwei Persönlichkeiten der Antike: Vergil und Aeneas. Beide werden durch knappe Zuschreibungen charakterisiert, und so ihre Bedeutung für die Erzählung deutlich gemacht. Vergil wird als »Fürst der Dichter aus Mantua« bezeichnet. 88 Mit dem Hinweis auf Mantua wird kommuniziert, dass Vergil gemeint ist; die Attribuierung als Dichterfürst macht deutlich, dass es sich um einen bedeutenden Dichter handelt. Von Aeneas heißt es, dass er Troianer, der Begründer Roms und der Ruhm Roms gewesen sei. 89 Auch hier reicht der bloße Hinweis auf den antiken Helden dem Autor nicht, er fügt Informationen hinzu, welche dessen Bedeutung hervorheben und kommunizieren. Damit erreicht Wilhelm von Poitiers, dass die Tragweite des Vergleiches deutlicher konturiert wird; gleichzeitig stellt er sicher, dass seine Adressaten ihm auch folgen können, auch wenn sie nicht wissen, wer der Dichter aus Mantua und Aeneas waren. Von den Bezügen auf die Antike bleiben nur die Städtenamen Troia und Rom unkommentiert. Es geht bei dieser Interpretation weniger darum, Troia und Rom als kleinsten gemeinsamen Wissensnenner des normannischen Hofes zu identifizieren. Vielmehr fällt auf, dass sich der Erzähler nicht damit begnügt, die Namen Aeneas zu nennen und den Hinweis auf Vergil aus Mantua zu geben. Damit kommt er unkundigen Adressaten entgegen. In die gleiche Richtung weist die Konzeption der ganzen Episode und die Stellung des Antikenvergleiches. Für den Fortgang der Handlung und das allgemeine Verständnis des Motivs vom mutig tafelnden Herzog ist der Verweis auf die Aeneis nicht erforderlich. Selbst wenn man den entsprechenden Satz aus der Erzählung eliminierte, bliebe diese verständlich und der Hinweis auf Wilhelm als Herrscherlob bestehen. Der Verweis auf die Antike ist nicht so eng in die Umgebungserzählung geflochten, dass diese ohne sein Verstehen unverständlich würde. Setzt man diese Beobachtungen in Bezug zur Wirkung des Herrscherlobes und den Adressaten Wilhelm, lässt sich diese Art der Erzählung mit ihren Adressaten erklären. _____________ 87

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Vgl. Bates (1989), 29: »There is no evidence from William’s later life to suggest any acquaintance with letters, and it is unlikely that he received much of a formal education.« Zur Erziehung Wilhelms vgl. auch Zumthor (1978), 152: »Son instruction reste médiocre, les circonstances ne favorisent guère l’apprentissage des disciplines intellectuelles.« GG II, 7, 112: »Mantuanus poetarum princeps«. Vgl. GG II, 7, 112: »Aeneae Troiani, qui priscae Romae ut parens gloria fuit.«

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Das gleiche Muster fassen wir auch bei den oben angeführten Vergleichen zwischen Wilhelm und Agamemnon, Xerxes, Marius und Pompeius. Agamemnon und Xerxes werden mit dem Auftakt »das alte Griechenland erinnert sich« eingeführt und damit einem bestimmten Erinnerungskontext zugeordnet. 90 Von Xerxes heißt es, er habe die Distanz zwischen zwei Städten, Sestos und Abydos, überbrückt, wohingegen Wilhelm der Eroberer ganze Länder durch Schiffe verbunden habe. Dieser Hinweis funktioniert auch, wenn die Adressaten nicht wissen, wo diese Städte liegen. Von Marius und Pompeius wird explizit gesagt, dass sie durch zahlreiche Triumphe ausgezeichnet waren, bevor ihre wesentlichen Verdienste benannt werden: die Bezwingung Jugurthas und Mithridates’. Erst dann folgt der Vergleich bezüglich der individuellen Risikobereitschaft, der zu Gunsten Herzog Wilhelms ausfällt. Unbestritten funktionieren diese Vergleiche besser, wenn die Adressaten mit den Namen etwas verbinden. Manche Anspielungen sind ohne Vorkenntnisse auch gar nicht zu dekodieren. So wird von Agamemnon gesagt, er habe sich aufgemacht, die Schmach an seines Bruders Bett zu rächen. 91 Das erhellt dem Unkundigen gar nichts und lässt den Kundigen an den Ursprung des troianischen Krieges denken. Hier beruht die Wirkung der Antikentransformation als Erzählbaustein auf dem gemeinsamen Wissen von Autor und Adressat. Entscheidend aber bleibt, dass die Episode auch ohne dieses Wissen verständlich ist. Dann hat Wilhelm einfach nur mehr Schiffe als irgendein Herrscher aus dem alten Griechenland. Es fällt also auf, dass etliche der expliziten Verweise auf die Antike so gestaltet sind, dass sie ohne Kenntnis der Antike verständlich und für den Fortgang der Erzählhandlung sogar völlig verzichtbar sind. Damit erfüllen sie eine gleichsam doppelte Funktion für die Erzählung. Dem Adressaten, der mit der Antike, ihren Dichtern, Texten und Helden vertraut ist, zeigen sie die Belesenheit des Autors und verweisen erzählerisch anspruchsvoll auf die Größe Wilhelms des Eroberers. Denjenigen ohne Wissen über Sestos und Abydos erschließt sich nicht die ganze literarische Dimension des Vergleiches, sehr wohl aber dessen narrative Intention. In der speziellen Art der Erzählung wird für uns der Bezug auf eine inhomogene Adressatengruppe greifbar. Wir sehen hier die darstellerische Reaktion auf ein Problem, das sich bei jeder textlichen Antikentransformation stellt. Wenn der Bezug auf die Antike Bestandteil der Erzählung sein soll, bedarf es der Kenntnis der Adressaten. Anders gewendet: Wenn wir heute – mit Hilfe eines Philologiestudiums, Wortkonkordanzen und Datenbanken – erkennen, dass ein mittelalterlicher Autor auf antike Texte rekurriert, bedeutet dies nicht, dass dies auch von seinen zeitgenössischen Adressaten erkannt wurde. Kennerschaft erschließt sich unkommentiert nur dem Kenner. Dieser Tatsache eingedenk hat Wilhelm von Poitiers seine expliziten Antikenverweise entsprechend sprachlich markiert und so die zur Rezeption notwendige Kenntnis ein Stück weit mitgeliefert. Dies funktioniert nicht bei den impliziten Verweisen. Wenn die Adressaten nicht wissen, dass und warum Theseus unter weißen Segeln hätte fahren sollen, dann ist _____________ 90 91

GG II 7, 110: »memorat antique Graecia.« Vgl. GG II, 7, 110.

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das entsprechende Detail in den Gesta eine Information ohne Sinn; die Farbsymbolik bleibt davon freilich unberührt. Wenn der Autor den Sprachduktus eines antiken Dichters nachempfindet, ohne diesen zu erwähnen, dann erschließt sich dies nur demjenigen, der diesen antiken Autoren gut genug kennt, um seinen Stil wiederzuerkennen. Wenn Wilhelm von Poitiers also Sallust, Cicero, Caesar und Vergil imitiert, macht er das sicherlich nicht für Wilhelm den Eroberer. Dieser kommt als Adressat für die impliziten Verweise und die damit verbundene Wirkung, des Autors Kompetenz zu betonen, nur indirekt in Frage. Hier werden Überlegungen entscheidend, die sich mit der konkreten Rezeptionssituation des Textes befassen. Wilhelm von Poitiers spricht davon, dass sein Buch viele Leser haben möge. 92 Sollen wir folglich davon ausgehen, dass Wilhelm der Eroberer das Buch gelesen hat? Wohl kaum; eher wurde es ihm vorgelesen und übersetzt, wahrscheinlich in einem größeren Kreis von Mitgliedern seines Hofes. Somit standen hier eventuell Antikenkenner zur Verfügung, welche die Verweise der Erzählung identifizieren und kommentieren konnten. Das wäre dann eine Art von indirekter Rezeption, bei welcher der König das Grundmuster der Handlung selbst, literarische Finessen aber nur mit Hilfe verstanden hätte. Wie gut das bei Stilimitationen funktionieren kann, sei ebenso dahingestellt, wie die Frage, ob man diese überhaupt sicher erkennen kann. Auf Grund mangelnder Quellenbelege zur Rezeptionssituation des Wilhelm von Poitiers müssen diese Überlegungen letztlich Spekulation bleiben. Dennoch scheint es bei der Beschäftigung mit der Transformation der Antike in Erzählungen durchaus geboten zu sein, nach der Wirkung und den Adressaten der entsprechenden Verweise zu fragen. Im Falle der Gesta Guillelmi können wir immerhin ein Schlaglicht auf diese Frage werfen, wenn auch nicht für Wilhelm den Eroberer, sondern für Ordericus Vitalis. Mit ihm greifen wir einen der gebildeten Rezipienten Wilhelms von Poitiers. Odericus war Priester und Mönch im Kloster Saint Évroul in der Normandie. 93 Wir wissen sicher, dass er die Gesta gekannt und auch als Quelle für sein eigenes Geschichtswerk benutzt hat. Vom ihm stammen – wie gesehen – die Informationen zum Leben Wilhelms von Poitiers, er hat sich mit Autor und Werk auseinandergesetzt. Er ist voll des Lobes für die Gesta: Wilhelm von Poitiers habe sein Thema »verschwenderisch« behandelt und ein »sehr berühmtes Buch herausgebracht, in geschliffener Sprache und sehr fundiert im Urteil«. 94 An an-

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Vgl. GG I, 20, 28 und II, 32, 158. Vgl. Schmale (1993), 1432–1433; die Einleitung von Chibnall in Ordericus, Historia, 1–44 und Chibnall (1984). Zu Ordericus’ Verhältnis zu Wilhelm von Poitiers vgl. Ray (1972); hier werden die unterschiedlichen Adressatenkreise (höfische Welt versus Kloster) betont und damit die Änderungen erklärt, die Ordericus gegenüber seiner Vorlage vorgenommen hat. Ordericus, Historia, III, 158, Bd. 2, 184: »Guillelmus Pictauinus Lexouiensis archidiaconus affluenter tractavit, et librum polito sermon et magni sensus profunditate praeclarum edidit.« Vgl. Davis (1981), 84 und Ray (1972), 1120.

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derer Stelle konkretisiert Ordericus sein Urteil und vermerkt, Wilhelm von Poitiers habe »den Stil Sallusts imitiert« und »sehr beredt geschrieben«. 95 Wie lässt sich dieser Befund interpretieren? Wenn wir davon ausgehen, dass der Autor Wilhelm den Adressaten Ordericus mit seinem Wissen um verschiedene antike Autoren – Vergil, Sallust und andere – durch die impliziten Stil-Imitationen beeindrucken wollte, dann hat er diese Wirkung nicht erreicht, da Ordericus nicht bemerkt hat, was Wilhelm konstruiert hatte. Dass dies nicht ausschließlich am beschränkten Wissen Ordericus’ lag, macht dessen Verweis auf das Carmen de Hastingae Proelio deutlich: Dies, so führt er an, sei als Imitation der Stile von Vergil und Statius geschrieben. 96 Ordericus war also sehr wohl in der Lage, antike Vorbilder zu identifizieren. 97 In diesem Sinne hat er in den Gesta Guillelmi zwar den Stil Sallusts wiedererkannt, nicht aber Caesar, Vergil und Cicero. Möglich ist, dass Ordericus hier durch die Verweise auf die unterschiedlichen Autoren eine Art Gattungsunterschied zwischen einem epischen Gedicht und historiographischer Prosa verdeutlichen wollte. 98 Dagegen spricht, dass die beiden Verweise in unterschiedlichen Abschnitten des Textes stehen und nicht direkt aufeinander bezogen sind. Wenn es nicht einmal einem Ordericus Vitalis möglich war, die mannigfachen Antikenbezüge Wilhelms von Poitiers zu erkennen und anzuerkennen, darf man die erzählerischen Bemühungen des Autors in diesem Punkte dann für gescheitert erklären? Oder wird gerade vor diesem Hintergrund verständlich, warum sich so viele explizite Bezüge finden, die deutlich markieren, was der Autor weiß und dabei auf Vorkenntnisse verzichten? Eine andere Interpretationsmöglichkeit des Lektüreeindrucks des Ordericus besteht darin, nicht die Bemühungen Wilhelms um seine Erzählung, sondern unser modernes Verständnis von Antikenverweisen in den Blick zu nehmen. Vielleicht ist die Tatsache, dass Wilhelm von Poitiers sein Kriegsvokabular bei Caesar entlehnt, nicht als bewusste Imitation, sondern als Ausdruck einer selbstverständlichen Vertrautheit mit den antiken Texten zu verstehen. Gleiches wäre dann von den Anleihen bei und Vergil zu vermuten. Dann ginge nicht der Kommentar des Ordericus an der Kommunikationsabsicht vorbei, sondern wir säßen einem unzeitgemäßen Verständnis von Antikenverweisen auf. Antikentransformation ist dann nicht das bewusste Bezugnehmen auf Wissen um die Antike, sondern Folge von Bildung an antiken Texten. _____________ 95 96 97

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Vgl. Ordericus, Historia, IV, 217, Bd. 2, 258: »Huc usque Guillelmus Pictauinus historiam suam textuit. in qua Guillelmi gesta Crispi Salustii stilum imitates subtiliter et eloquenter enucleauit.« Vgl. Davis (1981), 85. Vgl. Ordericus, Historia, III, 158, Bd. 2, 184–186: »quo Maronem et Papinium gesta heroum pagentes imitates«. Vgl. Jäschke (1977), 80 und Van Houts (1989), 39. In seinen eigenen Werken finden sich Zitate etwa aus Vergil, Ovid oder Lukan. Vgl. etwa Ordericus, Historia, Bd. 3, 370: Index of Quotations and Allusions. Zu den literarischen Vorbildern des Ordericus vgl. auch die Einleitung von Chibnall in Ordericus, Historia, Bd. 1, 48–63. Oftmals gehen Ordericus Zitate auf Beispielsammlungen zurück. Vgl. Ray (1972), 1120. In diesem Falle ginge es ihm gar nicht um Stilimitationen oder Wortanleihen bei Sallust, sondern nur um eine Werkcharakterisierung durch Analogie. In diese Richtung äußert sich Chibnall; vgl. Ordericus, Historia, Bd. 1, 63 und erneut Chibnall (2002), 137.

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Ergebnisse Die Überlegungen zur narrativen Dimension der Antikentransformation bei Wilhelm von Poitiers machen verschiedene Aspekte deutlich. Die Quellenlage für diese Fragestellungen ist sehr schwierig; für vieles sind wir auf die Erzählung selbst zurückgeworfen, konkrete Aussagen zur Rezeptionslogik fehlen weitgehend. Auch für die Frage nach den Adressaten fehlen uns für Wilhelm von Poitiers konkrete Angaben. Dennoch scheint es mir für das Verständnis der Rückbezüge unerlässlich, sich mit diesen Fragen zu befassen. Antikentransformation muss, gerade wenn man sie als Teil einer narrativen Strategie versteht, auf ihre Wirkung hinterfragt werden. Die Gesta Guillelmi bieten uns ein vielschichtiges Beispiel für mittelalterliche Antikentransformation in Form einer Erzählung. Die Analyse der narrativen Struktur und Funktionsweise dieses Textes erhellt die Facetten des Transformationsprozesses. Ausgangspunkt ist dabei zunächst das Wissen des Autors um die Antike; auf Grund verschiedener Tertia Comparationis wird dieses Wissen in die Erzählung eingebaut. Hierbei dienen die Antikenverweise mal der kunstvolleren und eindrucksvolleren Repräsentation der Erzählung; an anderen Stellen greifen sie in das Geschehen der Erzählung ein und verändern den Ablauf der Handlung. Immer sind die Verweise den Wirkungen der Erzählung zugeordnet. Gerade die panegyrische Dimension der Antikentransformation macht das Autoritative deutlich, das den Verweisen anhaftet. ›Wie die Alten‹ diente hier als Ausweis von Qualität – und wurde offensichtlich auch in diesem Sinne verstanden. Durch die Adressaten erklärt sich der narrative Aufbau etlicher Verweise auf die Antike; er lässt sich als Antwort auf das Dilemma deuten, das im Kompetenzgefälle zwischen Autor und Adressat begründet liegt. Verweise auf die Antike erschließen sich nicht jedem Adressaten der höfischen Gesellschaft des 11. Jahrhunderts ohne zusätzliche Kommentierung. Man kann vermuten, dass diese im Kontext des Hofes mündlich erfolgte, man also über den Text und seine Bedeutung gesprochen hat. Aber auch im Text selber lassen sich narrative Mittel erkennen, mit denen der Autor auf einen inhomogenen Adressatenkreis reagierte. Explizite Kommentierungen und eine narrative Struktur, die auf Detailwissen um die Antike verzichten kann, ermöglichen es dem gebildeten Autor, seine Geschichte auch einem weniger gebildeten Adressaten zu erzählen.

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»Writing History in Cicero’s Shadow«1 PATRICK BAKER

I. Introduction It is now generally agreed that modern, scientific historiography began in the Renaissance. 2 The vernacular histories of Florence and Italy penned by Machiavelli and Guicciardini in the sixteenth century have long been recognized as monuments of critical thought and penetrating accuracy. 3 More recently, the Latin works of the previous century written by Leonardo Bruni, Lorenzo Valla, and Biondo Flavio have also been credited with a modern impulse. Valla would seem to be the first to make considerations on source criticism, Biondo the first to truly put them into practice. Bruni has also been praised for his critical approach, and in addition he is now recognized as a pioneer in having secularized the understanding of historical forces. Moreover, he has been acknowledged as the first historian to employ the paradigmatic division of Western history into ancient, medieval, and modern periods, and he has even been identified as the first modern to assimilate elements of Polybian historiography. 4 With these accolades in mind, it might seem strange that these very same writers are implicitly criticized in the late fifteenth century – and thus only a few decades after their deaths – for not knowing how to write history at all. In his dialogue De hominibus doctis (On Learned Men, c. 1489), the Roman humanist Paolo Cortesi lamented: I am profoundly saddened by the fact that we moderns do not know the precepts of history. For the works of history written by the ancients clearly show that they knew the precepts of this art. We, on the other hand, lack these tools altogether and, particularly in this genre, have achieved no great praise unless by chance or accident. 5

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I would like to thank Albert Schirrmeister and Peter Bell for their suggestions for improving this essay. For this view, see Cochrane (1981), ch. 1. Gilbert (1965). See Ianziti (1991), esp. 63–77; Idem (2006); Idem (2011); Hankins (2001), esp. xvii–xviii; Regoliosi (1981), esp. liii–lxvii. Cortesi, De hominibis doctis, 137.8–13: »angebar intimis sensibus, quod a nostris hominibus historiae praecepta ignorarentur: nam priscos illos, ut ex eorum historiis apparet, praeclare intelligebam huius

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Although Cortesi (1465–1510) is a relatively unknown figure by today’s standards, his opinion is not to be taken lightly. 6 A student of Pomponio Leto and a protégé of Platina, by the turn of the sixteenth century he was entrenched in the papal court and had become one of the foremost humanists in Rome. For several years he was the leading exponent of the Latin stylistic movement known as Ciceronianism, and he was recognized by many of his contemporaries as the nearest modern approximation to the ancient Roman orator. He was, in short, the elegantiae arbiter of his time and place. Interestingly, Cortesi’s judgment of fifteenth-century historians has nothing to do with the qualities that make humanist historiography so important to modern scholars. That is, he is not interested in questions of historical method in the modern sense. Instead, he is concerned first and foremost with what we might call matters of style – or, in accord with the theme of this volume, he is concerned with how history, or the story, should be told: wie man Geschichte erzählen soll. In this article I would like to take a closer look at this narrative and historiographical problem as it is identified by Cortesi in De hominibus doctis, as well as to investigate a possible solution to it embodied in the dialogue itself. In a brief, first section I will summarize Cortesi’s arguments and show how they are both indebted to and in tension with the position outlined by Cicero more than fifteen centuries earlier. The lion’s share of the text will then be devoted to exploring the extent to which De hominibus doctis can itself be seen as a work of history, indeed as a pioneering effort in the direction of what could now be considered cultural or intellectual history.

II. The Missing ars historica The passage quoted previously leads to the following considerations on how the story of history should be told: I see that many have thought history should be written without any rhetorical ornament whatsoever and, extolling truth and trustworthiness, have insisted that it should contain no lies. For my part, I would neither readily endorse nor in any way reject such a view. It matters a great deal, of course, when one is only looking for the truth about what has happened, if a work of history is considered mendacious or fabulous. But what is the point of recording the truth, on the other hand, if everything is set down in a confused and unclear manner? Considering the principle of this question, it seems to me that a work of history – and history is composed wholly of deeds (res) and their telling (verba) – is generally laid out to be both pleasing and useful. The deeds, to be of benefit, require their proper place and a chronological order; the words should preserve stylistic elegance,

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artis praecepta tenuisse, nostros autem his instrumentis omnino carere atque eosdem in hoc praesertim scribendi genere nihil admodum laudis consequi posse, nisi quando temere aut casu.« Bruni (121.1–12) and Biondo (148.4–149.2) are also criticized explicitly as historians; Valla’s historical writing earns the criticism of oblivion. All translations of Cortesi are my own. The most important sources for Cortesi’s biography are Ricciardi (1973), D’Amico (1973), and Ferraù (1979). Further bibliography and observations in Baker (2009), 133 n. 1.

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but otherwise they must never be in the service of pleasure. Therefore the opinion mentioned above [viz. that history should be written without any rhetorical ornament whatsoever] must be rejected, and some artistry must be applied in order that we may provide something that is equally useful and pleasing. 7

The »rhetorical ornament« and »artistry« mentioned here are the very precepts of historiography, or what we might call the ars historica, whose absence Cortesi lamented in the first quotation. These rules are of paramount importance; they are much more urgent than considerations of truth and mendacity, utility and pleasure, or, as modern scholars might stress, source criticism and a grasp of historical forces. For the most important thing regarding a work of history is that it be understandable to readers, and this, as far as Cortesi is concerned, is impossible without the ars historica, i. e. without the precepts that instruct the historian how to tell (verba) the deeds (res). As he says, »what is the point ... if everything is set down in a confused and unclear manner?« Cortesi’s discussion of historiography is largely based on Cicero’s De oratore. 8 In Book II, paragraphs 41–70 of that work, history is classified as a genre of panegyric, or demonstrative rhetoric, which appears as a third, »less essential« category after forensic and deliberative rhetoric. 9 If the job of the genus iudiciale is to argue in a court of law, and that of the genus deliberativum is to persuade in a political assembly, that of the genus demonstrativum is to mete out praise and blame. In this sense, the central purpose of historiography is not simply to record the past but to judge it as well. This notion will offend modern sensibilities, of course, which require that the historian not only be impartial but also withhold his own personal judgment. Yet it was precisely by turning past events into a moral teaching that history could be, as Cicero says in his famous formulation, magistra vitae. 10 Another consequence of history’s classification as a species of demonstrative rhetoric is, in Cicero’s eyes, that although it is a »truly great task,« the historian requires no specific rules for writing it. 11 The reason is not that such precepts do not exist per se, but rather that they are so »obvious« as to be unworthy of explication. 12 For the matter is already covered by rhetoric’s general principles. Just as a lawyer needs no specific rules for introducing evidence or answering objections, so too the historian needs none for the presentation _____________ 7

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Ibid., 137.14–27: »Video plerisque visum esse historiam sine ullis oratoriis ornamentis scribi oportere, quod tollerent veritatem et fidem, multum referre non esse mendacem. Ego vero, ut opinionem istorum non libenter laudarim ita certe non repudiaverim. Et profecto magni interest, ubi tantummodo rerum gestarum veritas quaeritur, mendacem et fabulosum putari. Sed tamen, quid attinet vere scribere, si omnia obscure perturbaveris? Ac mihi quidem, huius rei principuim cogitanti, ad delectationem et utilatem adinventa historia videri solet quae omnino rebus et verbis continetur. Res, ut prosint, spatia et temporum ordinem desiderant; verba vero nunquam voluptati inservient nisi concinnitatem retineant. Repudianda erit igitur horum opinio et adhibendum artificium quoddam ut prodesse pariter et delectare possimus.« The discussion as a whole spans De hominibus 136.4–139.16. Cicero, De oratore, II.x.43: »opus minus necessarium.« Ibid., II.ix.36. Ibid., II.xv.62: »maximum munus.« Ibid., II.xv.62: »sita sunt enim ante oculos.«

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of his subject. 13 In a nutshell, Cicero’s stance is that the good historian, like the good lawyer, will be the one who skillfully applies the general principles of rhetoric to the specific case at hand. Nevertheless, Cicero is willing to outline a few general guidelines – guidelines that would go on to be a key component not only of Cortesi’s but also of every theoretical discussion of historiography in the fifteenth century 14: For who does not know history’s first law to be that an author must not dare to tell anything but the truth? And its second that he must make bold to tell the whole truth? That there must be no suggestion of partiality anywhere in his writings? Nor of malice? This groundwork of course is familiar to every one; the completed structure however rests upon the story (res) and the diction (verba). The nature of the subject needs chronological arrangement and geographical representation: and since, in reading of important affairs worth recording, the plans of campaign, the executive actions and the results are successively looked for, it calls also, as regards such plans, for some intimation of what the writer approves, and, in the narrative of achievement, not only for a statement of what was done or said, but also of the manner of doing or saying it; and, in the estimate of consequences, for an exposition of all contributory causes, whether originating in accident, discretion or foolhardiness; and, as for the individual actors, besides an account of their exploits, it demands particulars of the lives and characters of such as are outstanding in renown and dignity. Then again the kind of language and type of style to be followed are the easy and the flowing, which run their course with unvarying current and a certain placidity, avoiding alike the rough speech we use in court and the advocate’s stinging epigrams. 15

Cortesi’s debt to this passage of De oratore is plain to see, but it was insufficient for his needs (otherwise he would not have lamented the missing ars historica). 16 If for the ancient Roman orator the rules of historiography were so obvious as to be practically non-existent, for Cortesi they were a paramount desideratum of humanism. To understand the reason for this divergence, one need look no further than De _____________ 13 14 15

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Ibid., II.xi.48–50. Cf. Kessler (1983), passim. Cicero, De oratore, II.xv.62–64: »Nam quis nescit, primam esse historiam legem, ne quid falsi dicere audeat? Deinde ne quid veri non audeat? Ne qua suspicio gratiae sit in scribendo? Ne qua simultatis? Haec scilicet fundamenta nota sunt omnibus; ipsa autem exaedificatio posita est in rebus et verbis. Rerum ratio ordinem temporum desiderat, regionum descriptionem; vult etiam, quoniam in rebus magnis memoriaque dignis consilia primum, deinde acta, postea eventus expectentur, et de consiliis significari quid scriptor probet, et in rebus gestis declarari non solum quid actum aut dictum sit, sed etiam quomodo; et cum de eventu dicatur, ut causae explicentur omnes, vel casus, vel sapientiae, vel temeritatis, hominumque ipsorum non solum res gestae, sed etiam, qui fama ac nomine excellant, de cuiusque vita atque natura. Verborum autem ratio et genus orationis fusum atque tractum, et cum lenitate quadam aequabili profluens, sine hac iudiciali asperitate, et sine sententiarum forensium aculeis persequendum est.« All translations of Cicero are those of Sutton and Rackham. He adopts Cicero’s division of the subject (e.g., saying that history is composed of res and verba), assimilates his terminology, and incorporates whole phrases of Cicero’s text into his own (e.g., rerum ratio ordinem temporum desiderat). For a fuller demonstration of Cortesi’s reliance on Cicero, see Baker (forthcoming).

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hominibus doctis itself. It is a dialogue modeled on another work of Cicero, the Brutus, which traces the development of Roman and Greek oratory in antiquity. In like manner, Cortesi provides an account of the humanist revival of classical eloquence in the fifteenth century. In Cortesi’s view – which was standard among humanists – proper Latin language had been lost in the wake of the translatio imperii and the barbarian invasions of the fifth century, and it was utterly absent in the Middle Ages. The job of humanism was then to restore classical Latin and its literary genres, such as funeral oratory, metrical poetry, and, of course, its peculiar form of historiography. 17 Thus things that for Cicero would have been obvious, such as how to write history, constituted the very object of humanist striving. There was a further difficulty. Cortesi undoubtedly finds the historians of his own day wanting in comparison to the principes of Roman historiography, Livy and Sallust. 18 He seeks a set of precepts, an ars, that will teach his contemporaries how to imitate them. De oratore, however, takes only Latin annalists such as Cato the Elder, Fabius Pictor, and Lucius Calpurnius Piso into its purview. 19 Whether Cicero intended his prescriptions for historiography to move the Roman tradition more in the direction of its Greek counterpart, whose great exponents he unsurprisingly names as Herodotus and Thucydides, is an open question. 20 But the fact remains that neither Livy, whose Ab urbe condita postdates his death, nor Sallust, whose work he either did not know or chose deliberately to ignore, informs his treatment of the topic. 21 Thus it could not but disappoint Cortesi. From his point of view, the whole passage of De oratore must have seemed cruelly inadequate. Looking to the master for assistance, all he found was a commonplace about truth, some brief comments regarding contents (res), and paltry, meta-linguistic hints on style (verba). That history should flow like a river and avoid the vehemence of forensic oratory are doubtless important points, but knowing them alone will not help anyone to write in a way that is not »confused and unclear.« Hence Cortesi’s complaint about the missing ars historica. For his own part, however, he appears to do little more than complain. Indeed, he ends his discussion of historiography with a clear refusal to formulate any rules himself, instead posing a rhetorical question: »what then, do you think I will dare to say what was left unsaid by the ancients?« 22 I wonder, though, whether Cortesi might not have provided an _____________ 17 18

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Baker (2009), ch. 3. Livy and Sallust (especially the former) tend to be recognized as the best models of ancient historiography in the fifteenth century. Other historians, such as Tacitus or Curtius, are either not mentioned or are assigned a decidedly inferior place. See, e.g., George of Trebizond, Rhetoricorum libri V, 623–635, esp. 633–635; Lorenzo Valla, Gesta Ferdinandi regis, »Proemium,« 6.14–15; Giovanni Pontano, Actius, 231.18–24 and passim. Cicero, De oratore, II.xii.51–54. See ibid., II.xiii.55–56. Pontano, Actius, 200.3–6 thinks Cicero desired the Hellenization of Roman historiography, but Cortesi seems to disagree. For the view that Cicero deliberately ignored Sallust, see Pontano, Actius, 200.6–9. De hominibus, 139.8–9: »Quid ergo? Credisne me modo ea ausurum dicere quae sint a priscis illis viris relicta?«

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answer to his own question, or rather, whether he might not have proposed an alternative to the grand tradition of historiography embodied by Livy and Sallust. Specifically, I wonder whether his own dialogue does not function as a kind of work of history, thereby serving as a solution to the conundrum he has highlighted.

III. An Alternative Model for Historiography? As mentioned earlier, De hominibus doctis gives an account of the humanist revival of classical Latin eloquence in the fifteenth century. And like its model, Cicero’s Brutus, it provides this account by reviewing a large number of the most important authors and judging their style. Each humanist discussed in Cortesi’s work receives his own entry, as it were, in which his works are listed and critiqued, the reason for his fame is explained, and, sometimes, details of his personal life are provided. Thus De hominibus doctis is not only a vehicle for literary criticism but also a genre of collective biography, similar, for example, to Jerome’s De viris illustribus – only in the form of a dialogue as opposed to that of an encyclopedia. But can it be considered a work of history? The greatest objection is obviously its form. We expect history to be narrative, as did Cortesi’s contemporaries, for whom historia est narratio rerum gestarum, that is, a written account of past deeds. Yet the form of De hominibus doctis is dramatic, not narrative. That is, it is fully equipped with dramatic elements: three-dimensional characters, lively discussion, digressions, interjections, and so forth. Like any good Ciceronian dialogue, it could be convincingly staged in a theater. It is performed, not told, on paper. Little more does it seem to be an account of deeds or events (res gestae), nor does it contain much in the way of story-telling. This element was as essential to premodern as it is to modern historiography, albeit for different reasons. If in modern historiography the recoun-ting of events serves primarily to fabricate a narrative through which history ›unfolds‹, or which constitutes the means by which an historical account moves from the beginning to middle to end, in premodern historiography it functions at least equally as much as a vehicle for moral exempla, i.e. as a way to illustrate proper or improper action or behavior in a given context. 23 A third stumbling block is that the dialogue does not treat a subject that would have been typical of historiography in Cortesi’s time, such as war, a city, or a ruler. Indeed, it is largely for this reason that it has not been counted as a work of history by modern scholars. 24 Finally, De hominibus doctis’ status as a work of history is undermined by the judgment of its own author. For it is unclear whether Cortesi himself thought of it as such. As we have already seen, he claims to offer no solution to the problem of the ars historica. Humanists were not known for modesty, and it would be strange, to say the least, if he truly intended his own work as a solution but did not announce it. _____________ 23 24

On story-telling in modern historiography, cf. White (1973), 5–7. Cf. Cochrane (1981), 393; Ferguson (1948), 3.

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To resolve this difficulty, I think it would be useful to return to Cicero, and precisely to the same section of De oratore on which Cortesi based his discussion of the nature of historiography and the ars historica.25 For although Cortesi clearly considers Cicero’s treatment of the verba, or the telling, of history, to be insufficient, he would seem to be in full agreement with regard to the res, that is to the things a work of history should contain. By analyzing the extent to which De hominibus doctis fulfills these criteria, it would seem possible to judge whether it functions as a work of history. 1. Cicero’s first guideline for historiography is that it be truthful, impartial, and complete. Cortesi vouches for all these qualities in his own dialogue at its very end, where the minor character Alexander tries unsuccessfully to convince the protagonist, Antonius, to render judgment on living humanists as well as dead ones. Alexander goads him: I understand perfectly why you do not want to name anyone alive today, namely lest you say anything out of partiality or seem to diminish the glory of those you have already listed by comparing them with the living. 26

The implication would seem to be that what has been said so far, i.e. the combined judgment of dead humanists, has been (1) impartial, because one need not be partial to the dead, and (2) truthful, because, as no comparison with living humanists has been undertaken (who in Alexander’s opinion excel their forerunners), it has not been necessary to lie (in order to keep the good reputation of the dead intact). As for completeness, Antonius claims to include those humanists whose writings are still read, and especially those who are reported to have been praised by their contemporaries or who earned some glory for poetry. 27

And indeed, in line with his program, Cortesi seems to omit none of the prominent names among the deceased; from the vantage point of a modern scholar, he lists just about all the major humanists of the fifteenth century and then some. 28 2. Returning to Cicero, the second requirement for a work of history is that it have a chronological arrangement (ordo temporum). De hominibus doctis achieves this in two different ways. First, its discussion of humanists follows and delineates a loose but clear chronological order beginning in the early fourteenth century and continuing down to individuals directly preceding Cortesi’s own time. That absolutely perfect chronological order will not be maintained is announced near the beginning, where Antonius says: _____________ 25 26 27 28

See n. 15 above. De hominibus, 186.2–5: »Praeclare intelligo cur neminem ex his, qui hodie sunt, velis ipse nominare: ne quid scilicet ad gratiam diceres aut ne forte minuere eorum, quos collegisti, gloriam videris, si eos cum his qui vivunt conferres.« Ibid., 111.2–7: »de his tantummodo hoc loco dicendum erit quorum scripta in manibus hominum versentur; et hi etiam nimirum, quos a maioribus aut laudatos accepimus, aut qui poetica aliqua gloria praestiterunt, in hunc sermonem referendi videntur.« It is of course possible to find lacunae, such as the poets Tito Strozzi and Giovanni Marrasio (who are listed as excellent poets in Bartolomeo Facio’s kindred De viris illustribus, c. 1456), but there is no guarantee that their poetry was still being read in Cortesi’s day. All in all, Cortesi’s account is remarkably complete.

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Patrick Baker Since all lived in one age and were more or less contemporaries, and since the lives of many overlapped with those of many others, you will understand if I do not maintain a strict chronology. 29

Actually, the chronology is astoundingly strict, especially if one considers that Cortesi lacked the reference materials on which we rely, such as the Dizionario biografico degli italiani or the Lexicon des Mittelalters, not to mention Wikipedia. Furthermore, even the modern scholar blessed with these aids will have difficulty putting all individuals into a coherent order; for what should be respected – birth date, death date, or floruit? In addition to observing a general chronological order, Cortesi also constructs a rather precise periodization of humanism’s development. 30 He groups humanists into four distinct periods corresponding to particular spans of years and progress in the quality of Latin language and literature. The first period begins in the early- to mid-fourteenth century and goes to the turn of the fifteenth, including figures like Dante, Petrarca, Boccaccio, and the Florentine chancellor Coluccio Salutati. Although characterized by a zeal for antiquity and attempts at a higher style, it was, according to Cortesi, the »dregs of all time,« a period when the »ornaments of writing were absent« and »eloquence had utterly lost its voice.« 31 The second period, roughly spanning 1400 to the 1460s, begins with the coming of the Greek teacher Manuel Chrysoloras to Florence and the strides made by his students, especially Leonardo Bruni. The latter »was the first to reform the uncouth method of writing, giving it a rhythmic kind of sound, and he provided humanists with something really quite brilliant.« 32 Along with Bruni, humanists like Guarino of Verona, Lorenzo Valla, and George of Trebizond continued to refine the Latin language until midcentury, when a new height was reached in Aeneas Sylvius Piccolomini and others. Thereafter begins a third period of even greater eloquence, one composed primarily of Roman humanists and especially of those connected to the school of Pomponio Leto; it continues down to the late 1480s, the time of the composition of De hominibus doctis. 33 The final period of humanism is Cortesi’s own. Compared to the preceding generations, it has »cultivated the light and flower of Latin speech in a more refined manner and increased it with greater art.« 34 The dialogue as a whole

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Cortesi, De hominibus, p. 116.14–117.4: »Nunc autem octaginta fere annorum memoriam hoc sermone complectemur. Sed quoniam uno tempore omnes ac prope aequales fuerunt multique sunt multorum aetatibus implicati, dabatis veniam si minus aetatum ordines servabuntur.« For a more detailed treatment of Cortesi’s periodization, see Baker (2009), 141–143. Cortesi, De hominibus, 114.20–115.1: »in faece omnium saeculorum ... illa scribendi ornamenta defuerunt«; 107.11: »ita reperiam eloquentiam obmutuisse.« Ibid., 117.8–118.2: »hic primus inconditam scribendi consuetudinem ad numerosum quendam sonum inflexit et attulit hominibus nostris aliquid certe splendidius.« This break is explicitly signaled in the text: 167.11–12: »Sed iam ad inferiorem, si placet, aetatem veniamus.« Ibid., 186.7–9: »lumen et florem Latinae orationis ... ab huius aetatis hominibus et excultam esse politius and maiori artificio amplificatam.«

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would seem to imply that ancient Latin eloquence has finally been fully revived by Cortesi and his friends. 35 3. Apart from truth and chronological arrangement, Cicero also calls for geographical description (regionum descriptio). Here Cortesi would seem to fail, as he does not describe the places where humanism flourished. He does, however, make a point of saying in which cities humanists operated, and it is clear that he sees the movement as situated in Italy. This emerges from his attribution of the true beginnings of humanism to the Byzantine émigré Manuel Chrysoloras, who »brought the teaching of the greatest arts to Italy from beyond the sea.« 36 Furthermore, humanists are consistently referred to as nostri, i.e. as »our fellow Italians« – as opposed to Byzantine Greeks like Chrysoloras and Theodore Gaza, who are called Graeci, and the lone northern humanist mentioned, Janus Pannonius (Jan the Hungarian), who is styled an externus and a barbarus.37 4. Cicero’s next requirement for historiography is that it describe the consilia, acta, and eventus of res magnae memoriaeque dignae, i.e. the plans, execution, and outcome of great events worth recording. There is no doubt that, in Cortesi’s mind, the restoration of classical Latin is such a great event. The individual acta would then be the works produced by humanists, the consilia the stylistic criteria according to which they were produced, and the eventus the relative success or failure of those works of literature. Let us consider a few examples. One is the review of the Venetian humanist Leonardo Giustinian’s renowned funeral oration for Carlo Zeno: it is »good but not noble enough in its language and relies more on a certain kind of copia than on an understanding of the rules of rhetoric.« 38 Another example is the criticism of Maffeo Vegio’s attempt to write a thirteenth book of the Aeneid: »it was undertaken with true greatness of soul – if only it had been undertaken with greater skill!« What had gone wrong? It is known that poets think no one is better than themselves and that their work is pleasing to all. For when the poet is inflamed by inspiration, he never doubts that he is the greatest; and on that account the flattering, self-promoting muse of Vergil deceives many, since, although they are smeared with a sweet sound, they lack knowledge of the hidden art [of poetry]. 39

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See Baker (2009), pp. 157–161. Cortesi, De hominibus, 111.8–11: »Nam posteaquam maximarum artium studia tam diu in sordibus aegra desertaque iacuerunt, satis constat Grisoloram Misantium transmarinam illam disciplinam in Italiam advexisse« (emphasis mine). For nostri, cf. ibid., passim, but esp. 172.7, where they are contrasted with northern barbari like Janus, and 131.14, where they are contrasted with Graeci like Chrysoloras; for Graeci, cf. 131.13; and for externi and barbari, cf. 171.18–19 and 172.4. Ibid., 129.3–5: »Extat eius quaedam funebris laudatio, bona illa quidem sed non satis splendida verbis et quae magis copiam quandam quam oratorium artificium prae se ferat.« Ibid., 127.6–8: »Audax iste quidem fuisse videtur et animi maximi (utinam maioris facultatis!) qui Maroni voluerit vicarius succedere«; 127.10–14: »Nam, cum poeta vi naturae inflammetur, numquam desperat quod optimum est; et propterea multos decipit illa P. Maronis blanda sui conciliatrix musa, cum, dulci tantummodo sono deliniti, reconditum artificium non agnoscant.«

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Beyond a judgment on quality, there is another way in which the eventus of the humanists’ works are assessed, namely in their influence on others. For example, as we saw above, Bruni’s writings are said to have »provided humanists with something really quite brilliant«; that is, they were an example for others to follow. A different case is the famed educator Guarino of Verona, where the acta would be his teaching activity, not his writings: »his home was like a kind of workshop of the bonae artes,« and »just about everyone who achieved some fame for writing in that age acknowledged himself a product of his school.« 40 5–7. Closely related to the requirement that consilia, acta, and eventus be described are three further stipulations: that the historian say what he approves with regard to the consilia, that he say not only what was done (res gestae) but also in what manner (quomodo), and that he explain the causes (causae) for the outcomes of events. 5. As for approval and disapproval, there is of course no shortage of judgments in De hominibus doctis. Most are literary, for example regarding Petrarca: his style is not really Latin and is sometimes downright frightful. [...] As strong medicines are taken not because they are sweet but because they are healthy, thus his work is not to be enjoyed for pleasure but read for utility. And yet all his writings please somehow despite their inelegance.« 41

As for the Friulian humanist Pier Paolo Vergerio, his De ingenuis moribus »smells good, as they say, because it doesn’t smell at all.« 42 Faring much better is Aeneas Sylvius Piccolomini: who is a more animated speaker? Who a more accurate historian? Who a sweeter poet? Who a more instructive teacher? 43

Other judgments, however, relate to conduct. In a criticism of attempts (specifically by Giannozzo Manetti) to combine the contemplative life of scholarship with the active life of political involvement, Cortesi notes: sure ability in one activity is worth more for fame and reputation than combining several different activities in which one is not the best. 44

And in condemnation of republican agitation (with regard to Cola Montano’s scheming against Galeazzo Sforza of Milan): _____________ 40

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Ibid., 122.4–5: »huius domus quasi officina quaedam fuit bonarum artium«; 122.12–15: »ut omnes fere illius aetatis, qui aliquam sunt scribendi laudem consequuti, sese omnino faterentur ex huius hominis umbraculis ... profectos« (the line numbers are incorrect on this page of Ferraù’s ed., which gives 3–4 and 11–14, respectively, for these quotations). Ibid., 114.11–12, 115.1–4: »huius sermo nec est Latinus et aliquando horridior«; »ut saluberrimae potiones non suavitatis sed sanitatis causa dantur, sic ab eo non est delectatio petenda sed transferenda utilitas, quanquam omnia eius, nescio quo pacto, sic inornata delectant.« Ibid., 126.5–6: »bene olet, ut dicitur, quod nihil olet.« Ibid., 153.12–14: »quis in dicendo vehementior? quis in historia pressior? quis in poematis dulcior? quis in docendo copiosior?« Ibid., 134.3–6: »Ex quo profecto intelligi potest plus valere ad famam et celebritatem nominis unius simplicis generis virtutem absolutam quam multa annexa genera virtutum non perfectarum.« It is worth noting that this passage undermines Burckhardt’s notion of the ›Renaissance man.‹

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nothing is more unsuitable than turning literature, which is nourished by leisure and which requires free time for practice, to ruinous civil discord. 45

6. Probably the best known aspect of Cicero’s theory of historiography is that it should say not only what was done or said but also in what manner – non solum quid actum aut dictum sit, sed etiam quomodo. Cortesi can be thought to adhere to this prescription, too, in that he assiduously explains the mechanisms behind key aspects of the development of humanism. The initial loss of eloquence he attributes to the translatio imperii and to the barbarian invasions. 46 The reappearance of eloquence is then explained by the arrival of Byzantine émigrés in Italy, who restored the lost art of rhetoric. 47 Cortesi also elaborates a general theory to explain how the humanists ultimately effected a full-scale revival of classical Latin style. In his view, it depends on a dynamic interchange between natural ability (ingenium), imitation (imitatio), and knowledge of ars in which each component relies on the others to produce something truly great. Thus men such as Dante and Petrarca, although blessed with astounding ingenium, were kept from properly imitating the great Latin literature of antiquity by their ignorance of the ars of rhetoric. As Cortesi puts it: without theoretical knowledge (artificium) we just as easily strive after vice as virtue in our imitation.... For no one is so full of natural ability and so diligent in imitation as to be able to compose well without knowledge of the ars of speech. 48

Only with Chrysoloras’ reintroduction of the ancient ars rhetorica to Italy could humanism truly begin with its enterprise. It allowed humanists to imitate ancient literature more discriminatingly, i.e. to judge what was worth imitating and in what contexts. Thereafter, each generation of humanists attained better results than the preceding one by building on previous advances. The application of ingenium to imitation in the light of an increasing understanding of ars ultimately resulted, now in Cortesi’s own generation, in the achievement of renewed classical eloquence. It might be objected, however, that what Cicero really has in mind with his famous quomodo is not the explanation of historical mechanisms but rather the insertion into the narrative of direct speeches, which have the effect of vividly illustrating the manner in which something was said. Cortesi might seem lacking on this count, for he never lets the humanists speak for themselves, nor does he quote from any of their works. In another sense, however, he can be thought to fulfill this criterion consummately. Being a dialogue, De hominibus doctis is made up entirely of speeches. And these speeches have the effect of illustrating the level of eloquence achieved in the fourth and final period of humanism as proposed in Cortesi’s chronological scheme – that of his contemporaries. Thus whereas it seemed that Cortesi remained _____________ 45 46 47 48

Ibid., 175.10–12: »Nihil est enim, ut opinor, incongruentius quam litteras, quae aluntur ocio et usui commodoque parantur, ad perniciem hominum seditionemque convertere.« Ibid., 108.12–109.1. Ibid., 111.8–13. Ibid., 120, 3–9: »sine artificio tam facile possumus vitia quam virtutes imitando consectari.... Nulli est enim tanta ubertas ingenii, nulli tam diligens imitandi industria quam sine huius [sc. disserendi] artis ratione bene disposita ac praeclare inventa possit effingere.«

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silent about his own generation (by refusing to discuss his contemporaries explicitly 49), it turns out that the manner in which (quomodo) previous humanists are judged – the language used by the characters Paulus, Alexander, and Antonius in their review – served all along to exemplify that generation. The first three periods of humanism are depicted by means of narration, the fourth by means of exemplification. 7. Once the consilia have been judged and the manner in which the acta occurred has been illustrated, it remains for the historian to explain the reasons why things turned out as they did, specifically to say whether it was on account of chance (casus), on account of forethought or knowledge (sapientia), or on account of accident (temeritas, ›accident‹ in the sense of ›without knowledge or consideration‹). And in fact, Cortesi normally takes care to say whether the achievements or failures of humanists result from one of these three. Many examples could be adduced here, but let it suffice, in the name of brevitas, to recall that Cortesi renders his judgment of humanist historiography entirely along these lines: »we moderns do not know the precepts of history« – thus we lack sapientia – and »we have achieved no great praise in this genre unless by chance (casus) or accident (temeritas).« 50 8. Cicero’s final requirement of the historian is that he record the fame and reputation, way of life and moral character of individuals. Cortesi obliges on nearly every page. As for fame and reputation, Petrarca is »held in high honor for his broad knowledge and his reputation for native intelligence«; Carlo Marsuppini was »honored in his time«; »Francesco Barbaro is said to have been highly eloquent«; the poet Porcelio »rose from a humble birth to the highest reputation«; and the Greek émigré Theodore Gaza »was rightly judged the leading man (princeps) by the common consent of Italy.« 51 Cortesi’s judgments are apt to be more entertaining when they regard way of life and character. Francesco Filelfo »was a mercenary writer and one who preferred to attain money rather than praise for his writing,« and Lorenzo Valla »was annoying and abusive.« 52 Finally, to end on a positive note, Palla Strozzi is said to have been wise both by nature and through study. This one man excelled in every kind of virtue: no one was more obliging or cheerful in private affairs, no one more steadfast, earnest, or braver in public ones. 53

_____________ 49 50 51

52 53

See n. 26 above. See n. 5 above. Petrarca: Cortesi, De hominibus, 115.4–6: »Huic ob multarum rerum doctrinam et ingenii famam honores amplissimi habiti sunt«; Marsuppini: ibid., 129.14–15: »Carolus Arretinus illis etiam temporibus honratus«; Barbaro: ibid., 132.5–6: »multum eloquentiae habuisse dicitur Franciscus Barbarus«; Porcelio: ibid., 151.5–152.2: »is sive doctrina, homo ignotus, sive ingenio ad summam nominis famam pervenerat«; Gaza: ibid., 161.15–162.1: »Iure igitur totius Italiae consensu est princeps iudicatus.« Filelfo: ibid., 150.3–5: »Sed erat vendibilis sane scriptor et is qui opes quam scribendi laudem consequi malebat«; Valla: ibid., 142.9–10: »molestus erat et stomachosus.« Ibid., 134.7–11: Pallas Stroza, quem cum natura tum etiam studio doctrinae sapientem ferunt. Excelluit enim is unus in omni genere virtutis: nemo domi comior fuit, nemo iucundior, nemo foris constantior nec gravior nec fortior.«

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IV. Conclusion It would appear from this review that Cortesi fulfills all or nearly all of Cicero’s criteria for historiography with regard to contents, or res. And it seems to me that in so doing he also provides a solution to the historian’s conundrum. For those who wanted to write a work of history but were unsure how to »tell the story«, i. e., were uncertain how to dispose the verba of historiography without the lost ars historica, De hominibus doctis pointed the way to an alternative. It substituted the Livian narrative of war and politics with a Ciceronian, dialogic-dramatic presentation of cultural res gestae. If humanists did yet not know how to coherently string events together into a historical narratio, they could opt instead to embed the story to be told into a dialogue – a form at which they had been adept for about a century. 54 Furthermore, the dialogic model (as exemplified by Cicero’s Brutus) allowed for the traditional understanding of res to be expanded, viz. from referring primarily to wars, rulers, politics, cities, and the like to including men of culture and their works. 55 Ultimately, verba cease being a mere vehicle for explaining the res and, in the form of the literary creations of humanism, become res themselves. To use Cicero’s formulation, verba achieve the status of res magnae memoriaque dignae. 56 History can now be cultural or intellectual history. Consequently, the individuals constituting the collective biography become a kind of event, each one representing a step in the historical process being described. At the same time, they can also be thought of as making up a cultural or intellectual landscape. When Cicero calls for geographical description in historical writing – a category in which Cortesi seemed to be found wanting – its function is to place the theme of the work of history in physical space, on the one hand providing the context for understanding military activity, and on the other describing distinctive attributes of cities and peoples. In a work of cultural or intellectual history, however, such attributes and context consist not of a physical locus but of a conceptual, ideational one, whose terrain is dotted not with hills and valleys but with individuals and their cultural contributions. In the case of De hominibus doctis, whose theme is the humanist revival of classical eloquence, the contextual landscape is the state of Latinity in the age of Dante and Petrarca, whereas the distinctive contours and features to be described are the humanists themselves and their contributions to that revival in the form of writings and teaching. According to the criteria outlined by Cicero, it would seem fully justified to consider De hominibus doctis a work of history. The question remains, however, whether or not Cortesi himself saw it that way. Although it is impossible to know for sure, there are two considerations that support this hypothesis. The first is that the protagonist of the dialogue, Antonius, twice calls the discussion it contains a memoria. 57 _____________ 54 55 56 57

See Marsh (1980). Cf. Pontano, Actius, 218.17–18. Cicero, De oratore II.xv.63: »important affairs worth recording.« Cf. Cortesi, De hominibus, 116.14–117.1 (»nunc autem octaginta fere annorum memoriam hoc sermone complectemur) and 152.16 (»modo enim hoc scribendi genus magnificentius renovatum est et

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The primary significance of this term is memory or reminiscence, but it can also mean ‘an historical account.’ And indeed, Cicero uses it in this very way in the Brutus (iii.14) when referring to Atticus’ Liber annalis, which he says contains a memoria omnium rerum, a universal history. The second reason for thinking that Cortesi considered De hominibus doctis a work of history is related to his critique of Leonardo Bruni’s History of the Florentine People. After complimenting Bruni for »writing carefully« and »wisely explaining the consilia, initia (beginnings), and eventus of wars,« Cortesi claims, »he strived after something Livian in his history, I wouldn’t dare call it Ciceronian.« 58 How is this statement to be understood? It sounds like censure, and yet Livy was considered the prince of historians, whereas Cicero is not generally thought of as belonging to their number. One possibility is that quiddam Livianum refers to Bruni’s written style, thus meaning he approximated Livy’s style instead of trying to imitate Cicero’s; but another possibility is that it refers to a genre of historiography. For Cicero actually did write several works of history – only in the form of dialogues of the kind described above, not of historical narratives. One such dialogue is Cortesi’s model, the Brutus, which traces the history of Greek and Roman oratory. 59 Another example is the Tusculan Disputations, which provides an historical account of Greek philosophy. In this sense, quiddam Livianum would be a narrative history of a city’s rise to greatness, such as Bruni’s History of the Florentine People, whereas quiddam Ciceronianum would be a dialogue encapsulating an historical account of what we today would call cultural phenomena – in Cicero’s case oratory and philosophy, in Cortesi’s case Renaissance humanism’s revival of classical Latin eloquence. Cortesi was not the only modern to adopt this model from antiquity. At about the same time, the Venetian humanist Marcantonio Sabellico wrote his own dialogue on the fifteenth-century restoration of classical Latin, De latinae linguae reparatione (1489). The early sixteenth century also witnessed three such works: Pierio Valeriano’s De infelicitate litteratorum (1529–1556), which gives an account of Italian humanism from about 1470 to 1540; Paolo Giovio’s Dialogus de viris et foeminis aetate nostra florentibus (c. 1530), a review of great men and women of culture of his time; and Lilio Giraldi’s De poetis nostrorum temporum (1545), which paints the landscape of Latin po_____________ 58 59

cognita primm numerorum varietas a Pontano principe huius memoriae doctissimorum hominum«) [emphasis mine]. Ibid., 121.1–5: »Historiam vero scripsit accurate: conciones aliquot sunt graves, consilia et bellorum initia atque eventus explicantur valde prudenter. Consectatur in historia quiddam Livianum, non ausim dicere Ciceronianum.« It is worth noting that the French political philosopher and theorist of history, Jean Bodin, certainly considered the Brutus a work of history. Cf. Methodus, 59: »sane vix est ut qui praesentium rerum historias in vulgus manare patiuntur, veri scribant, ne cuiusquam nomen historia laesura, aut fama violatura sit. ac propterea Cicero neminem eorum qui viverent inter claros oratores enumeravit, ne qui ab eo praeteriri essent, ut ipse ait, succenserent« (Reynolds tr.: »For those who permit histories of present-day affairs to circulate publicly, it is really difficult to write the truth, lest the report should injure the name of someone or damage his reputation. On this account Cicero did not mention any famous orator who was living, fearing, as he himself said, the anger of those who had been overlooked«). The reference is unmistakably to the Brutus. For Cicero’s avowed reasons for passing over his contemporaries, cf. Brutus, lxxii.251.

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etry in Italy in the fifteenth and early sixteenth centuries. Nor did the genre die out thereafter; it suffices to think of Thomas Hobbes’ Behemoth, or the Long Parliament (1668), which also circulated under the title History of the Civil Wars, to see that the dialogic memoria, although it has not survived into our own times, endured as a valid mode of capturing a given cultural or historical moment.

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Sola historia negligitur: Historiographisches Erzählen in Andreas Althamers Scholia zur Germania des Tacitus RONNY KAISER

I. In Geschichtserzählungen werden kulturelle Wandlungs- und Konstituierungsprozesse besonders gut greifbar, weil hier bestimmte Umgangs- und Zugriffsformen auf einen oder auch mehrere Referenzbereiche sichtbar werden, die als gruppenspezifisch gekennzeichnet werden können. Die Geschichtsschreibung, in der ›Vergangenheit‹ textuell fixiert, bestätigt oder abgelehnt und dadurch bewältigt wird, zeichnet sich dabei im Grunde durch eine retrospektive Sinnkonstituierung aus, die durch eine jeweilige interessensgesteuerte Logik und das Geschichtsbild des Aufnahmebereichs reguliert wird und daher gruppenspezifischen Argumentationsstrategien unterliegt. Besonders beispielhaft zeigt sich das in der humanistischen Geschichtsschreibung des frühen 15. bis 16. Jahrhunderts: Diese ist durch die intensive sowie produktive Auseinandersetzung mit der Antike als kultureller Projektionsfläche gekennzeichnet. Dabei wird der antike Referenzbestand immer wieder neu verhandelt und in eigenen Erzählmustern, die zeitgenössischen Interessen folgen, sinnstiftend instrumentalisiert. Im Umgang mit der Antike spielen vor allem textuelle Strategien und Mechanismen wie Fragmentierung, Selektion, Ignoranz, Negation und Rekombination eine entscheidende Rolle. Der konstruktive Umgang mit der Antike hat seinerseits auch Auswirkungen auf die Konstituierung und Selbstwahrnehmung des Aufnahmebereichs: Letzterer wird dabei in ein kausallogisches Verhältnis zum Referenzbereich ›Antike‹ gerückt und gewissermaßen aus ihr heraus ebenso mitkonstruiert. In und durch Geschichtsschreibungen werden demnach immer Transformationen vollzogen, da im Akt des ›Geschichte-Schreibens‹ bzw. ›-Erzählens‹ Referenz- und Aufnahmebereich in ein allelopoietisches Verhältnis treten. Die sich aus den spezifischen argumentativen, textuellen sowie medialen Strategien ergebende Narrativität ist dabei der Faktor, der die Transformation entscheidend bestimmt und gestaltet, aber auch graduell nachvollziehbar werden lässt. Diese produktive Wechselseitigkeit lässt sich auch und besonders für die humanistische Kommentarliteratur feststellen, in der antike Texte nach bestimmten, an sie

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und die Autoren herangetragenen Fragestellungen und Erkenntnisinteressen des Aufnahmebereichs kommentiert und dadurch transformiert werden. Zugleich folgt sie freilich ihren eigenen gattungsspezifischen Regeln, durch die sie sich von der Historiographie und auch anderen Textgattungen abhebt: So ist die Struktur des Kommentars im Wesentlichen nach dem zu kommentierenden Text organisiert und wird durch Lemmata disponiert, in denen die vom Referenztext vorgegebenen Inhalte in unterschiedlicher Intensität thematisiert, verhandelt und auch weiterentwickelt werden. Innerhalb der Lemmata besitzt der Kommentator daher eine gewisse Freiheit in der Gestaltung und Kommentierung der jeweiligen Inhalte, die zwischen Textnähe und assoziativ entwickelten Digressionen changieren kann. Für die Frage nach der Narrativität als einem entscheidenden Transformationsfaktor für das Erzählen von Geschichte gewinnt die Kommentarliteratur des Renaissance-Humanismus in dem Moment eine besondere Dynamik, wenn ein historiographischer Fokus auf die Kommentierung des antiken Textes gewählt wird: Die Lemmata können dabei einen deskriptiven, argumentativen oder narrativen Charakter annehmen.

II. Ein sehr prägnantes Beispiel hierfür sind die von Andreas Althamer 1529 veröffentlichten Scholia zur Germania des Tacitus. 1 Zu Andreas Althamer (ca. 1500–1539) sind nur einige biographische Eckdaten bekannt. 2 Nach seinem Schulbesuch in Augsburg studierte er an den Universitäten in Leipzig und Tübingen und war nach seinem Studium kurzzeitig als Lehrer u. a. in Halle/Saale tätig. Insbesondere durch seine reformatorische Tätigkeit erwarb Althamer einen gewissen Bekanntheitsgrad: Seit 1524 war er Priester in Schwäbisch-Gmünd, wo er die Reformation durchzusetzen versuchte und infolgedessen bereits 1525 wieder abgesetzt wurde und zur Universität Wittenberg floh; dort immatrikulierte er sich am 18. Oktober 1525. 1527 wurde er Pfarrer in Eltersdorf, Anfang des Jahres 1528 kam er als Diakon nach Nürnberg und wurde auf Empfehlung Lazarus Spenglers, der seit 1516 Nürnberger Ratsherr war und bereits seit 1519 die Reformation in Nürnberg stark vorantrieb,3 vom Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, Georg dem Frommen (1484–1543) zum Stadtpfarrer _____________ 1

2 3

[Andreas Althamer:] Andreae Althameri Brenzii Scholia in Cornelium Tacitum Romanum historicum, De situ, moribus, populisque Germaniae, ad Illustrissimum Principem D. Georgium Marchionem Brandenburgensem, etc. Ansbach 1529 (im Folgenden zitiert als: Althamer, Scholia). Althamers Scholia, auf die ich mich im Folgenden beziehen werde, sind nicht mit seinen 1536 veröffentlichten Commentaria zur Germania des Tacitus gleichzusetzen. Letztere sind als Überarbeitung der Scholia angelegt (vgl. Althamer, »Epilogus ad Lectorem«, in: Commentaria (1536), 339/V ijr–341/V iijr, hier: 339/V ijr) und weichen mitunter gravierend von den Scholia ab – was nicht zuletzt auch daran liegt, dass sie vom Umfang her die Scholia bei Weitem übertreffen: die Scholia umfassen 110 Druckseiten (B [i]r–P iijv), die Commentaria 334 Druckseiten (1/b [1]r–339/V ijr). Die folgenden biographischen Punkte stützen sich im Wesentlichen auf Kolde (1896) und Ehmer (1978). Darüber hinaus sei auch verwiesen auf Kolde (1895), 1–76. Vgl. Fillies-Reuter (1995).

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in Ansbach berufen. In dieser Funktion wirkte er als wichtiger Berater des Fürsten bei der Umgestaltung des Kirchenwesens im protestantischen Sinne entscheidend mit. Markgraf Georg übte seit 1527 am Ansbacher Hof die Regierung über die hoch verschuldeten Markgrafentümer aus und bekannte sich als »eifriger Förderer der Reformation« 4 schon früh zum Luthertum. Bis 1529 verfasste Althamer allem Anschein nach zehn eigenständige Werke, welche theologischen Inhalts und entweder in Deutsch oder Latein abgefasst sind. 5 Auch die späteren Werke, mit Ausnahme der Commentaria von 1536, weisen einen theologischen Schwerpunkt auf: Insofern stellen sowohl die Scholia als auch später die Commentaria zur Germania des Tacitus im Œuvre Althamers eine gewisse Besonderheit dar. 6 Hermann Ehmer stellt in diesem Zusammenhang fest: »Humanist ist Althamer stets geblieben, auch als er sich der Reformation zugewandt hatte; die humanistischen Studien wurden für ihn neben seinem Kirchenamt zur Liebhaberei […].« 7 Althamer gab seine Scholia wohl in der zweiten Hälfte des Jahres 1529 – der dem Kommentar vorangestellte Widmungsbrief an Georg den Frommen ist auf den 13. August datiert 8 – heraus. In der ersten Hälfte desselben Jahres fand auch der Reichs_____________ 4 5

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Pfeiffer (1964), 204. Johann Arnold Ballenstedt zählt in seiner Biographie über Althamer zehn Werke. Darunter Von dem Hochwirdigen Sacrament des Leibes und Bluts unsers Herrn J. C. wider die irrigen Geister, so uns das Nachtmahl des Herrn zunichtigen, Nürnberg 1527, mit einer Widmung an Georg Vogler; seine Diallage, hoc est conciliatio locorum scripturae qui prima facie inter se pugnare videntur, Nürnberg (Friedrich Peypus) Pars I 1527 und Pars II 1528, gefolgt vom Catechismus. Das ist Vnterricht zum Christlichen Glauben/ wie man die jugent leren vnd ziehen sol/ in Frag weyß vnd antwort gestellt, Nürnberg (Friedrich Peypus) 1528 (vgl. Ballenstedt [1740], 10–16). Für die Entstehung der Scholia 1529 und später auch für die der Commentaria 1536 ist relevant, dass Althamer bereits im Februar 1521 in einem Brief an Joachim Vadian berichtet, er habe begonnen, einen Tacitus-Kommentar abzufassen (vgl. Althamers Brief an Vadian vom 18. Februar 1521, Leipzig, in: Vadian, Briefsammlung, 340 [= Brief 241]). Ursprünglich gedenkt er diesen bei Schumann in Leipzig drucken zu lassen, wovon er aber letztlich durch Melanchthon aufgrund qualitativer Mängel des Kommentars abgehalten wird (vgl. Joachimsen [1910], 147). Dazu rät auch Christoph Hegendorf in einem Brief an Althamer, welcher offensichtlich ausschließlich bei Ballenstedt überliefert ist (vgl. Ballenstedt [1740], 77 f.). Joachimsen verweist zudem darauf, dass Althamer den Widmungsbrief zu diesen stromata an seinen Onkel Johannes Kürschner geschickt habe (vgl. Joachimsen [1910], 147). Diese auf 1520 datierte Vorrede ist uns durch Ballenstedt überliefert (vgl. Ballenstedt [1740], 46–51). Erich Schmidt, allerdings ohne irgendeinen Verweis auf Ballenstedt, Kolde oder eine andere Referenzquelle, weiß offenbar noch von einem Werk, in welchem der junge Althamer die Schwaben/Sueben thematisiert habe, wenn er schreibt: »Bohemus gab die Anregung zu dem Erstlingswerk Althamers ›Ueber die 100 Gaue Schwabens‹: ein kleines Schriftchen, das der Student seinem Oheim, auf dessen Kosten er studierte, zum Beweise seines Fleisses 1521 übersandte« (Schmidt [1904], 72). Zum jungen Althamer als Altertumsforscher bietet Joseph Zeller einen knappen Überblick, indem er sowohl die beiden erschienenen Kommentare zur Germania als auch die wenigen, von Althamer gesammelten Inschriften vorstellt (vgl. Zeller [1910]). Ehmer (1978), 48. Vgl. Althamer, Andreas, »Illustrissimo Principi ac Domino Georgio Marchioni Brandenburgensi, Stetinensi, Pomeraniae, Cassuborum, Vandalorum, atque Slesiae Ratibariae, & Iegersdorfe & ceterorum Duci, Burggravio Norimbergensi, & principi Rugorum, domino suo omnium

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tag zu Speyer statt, an dem auch Markgraf Georg teilnahm und die ›Protestation zu Speyer‹ mit unterschrieb, worin die Unterzeichner gegen die Verhängung der Reichsacht gegen Martin Luther sowie die Ächtung seiner Schriften und Lehre eintreten und die ungehinderte Ausbreitung des evangelischen Glaubens fordern. In seinen Scholia kommentiert Althamer die Germania des Tacitus besonders in Hinsicht auf die in ihr vermittelten und für die germanisch-deutsche antiquitas relevanten Inhalte. Dabei wird der Referenztext abschnittsweise abgedruckt und anschließend kommentiert, so dass letztlich die vollständige Germania in die Scholia integriert ist: Insofern handelt es sich bei ihnen gewissermaßen um eine kommentierte Gesamtedition der Germania. Umrahmt werden die Scholia vom Widmungsbrief 9 und dem Epilog, 10 in denen Althamer die inhaltliche Stoßrichtung seines Kommentars und der Germania programmatisch fasst (Widmungsbrief) und affirmativ bestätigt (Epilog). Es ist der historiographische Zugriff auf die Germania des Tacitus, den Althamer in seinen Scholia wählt und explizit hervorhebt. Er versteht seinen Kommentar offensichtlich vor allem als historiographischen Beitrag unter nationalen Vorzeichen und diagnostiziert die momentane Situation, in der sich die nationale Historiographie befindet, als defizitär: Pereunt literae & literarum amor. Intermoriuntur rursus Germanorum sacra studia, & praeclara facta. Scribunt quidam insanos amores, alii ridiculas nugas, & inutiles libellos: Sola historia negligitur. 11

Althamer beklagt in seinem Widmungsbrief den Mangel an deutschen Historiographen und die daraus resultierenden Defizite im Bereich der historiographischen Aufarbeitung der germanisch-deutschen Geschichte und rückt damit seine Scholia sowie die taciteische Germania bereits von Beginn an in einen historiographischen Diskurs. Er begibt sich mit seiner Klage in prominente Gesellschaft, da bereits andere deutsche Humanisten – wie Jakob Wimpfeling (1450–1528) in seinen Epitome Rerum Germanicarum (1505), 12 Conrad Celtis (1459–1508), der in seiner Oratio in gymnasio Ingolstadio (1492) den Zusammenhang zwischen kultureller Macht und nationaler Größe am Beispiel des römischen Reiches skizziert und damit implizit gleiches _____________ 9 10 11

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clementissimo, foelicitatem«, in: Althamer, Scholia, A iv–A iiiiv (im Folgenden zitiert als: Althamer, »Widmungsbrief«). Die Datierung befindet sich A iiiiv. Vgl. Althamer, »Widmungsbrief«, A iv–A iiiiv. Vgl. Althamer, »Ad lectorem Epilogus«, in: Althamer, Scholia, P iiiv–P iiiir. Althamer, »Widmungsbrief«, Aiiv: »Die Literatur und die Liebe zur Literatur gehen unter. Die heiligen Studien der Germanen sterben erneut ab und die hochberühmten Taten. Gewisse Leute schreiben unsinnige Liebesgedichte, andere lächerliche Possen und unnütze Büchlein: Allein die Geschichtsschreibung wird vernachlässigt.« Zu Jakob Wimpfeling vgl. Geiger (1898), Mertens (1993), Kaller (1998). Zu den Epitome vgl. Mertens (1997b). Sie erschienen erstmals in einer Ausgabe des Nepos und Aurelius Sextus: vgl. Wimpfeling, Epitome. Die Klage über die defizitäre historiographische Situation in Deutschland wird vor allem am Anfang des den Epitome unmittelbar vorangestellten Widmungsbriefes an Thomas Wolphius Iunior formuliert, der bereits in einer modernen Edition vorliegt (vgl. Wimpfeling, »An Thomas Wolf d. J.«, 468).

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für den deutschen Sprachraum einfordert, 13 Heinrich Bebel (1472–1518) etwa in seiner Oratio ad regem Maximilianum (1504) oder seinen Epitome laudum Sueuorum (1509), 14 Johannes Cochlaeus (1479–1552) in seiner Brevis Germaniae Descriptio (1512) 15 oder Franciscus Irenicus (1495–1559/65) in seiner Germaniae Exegesis (1518) 16 – ähnliche Gedankengänge mal mehr, mal weniger explizit äußerten. Althamer fokussiert im Widmungsbrief sehr deutlich die Funktion sowie die Bedeutung nationaler Historiographie: Dabei greift er immer wieder die Klage über die mangelhafte Situation der Geschichtsschreibung im germanisch-deutschen Sprachraum auf und formuliert im Zuge dessen das unbedingte Desiderat, die eigene antiquitas endlich aufzuarbeiten und ihr dadurch den Ruhm zukommen zu lassen, den sie verdient. Das ist im Grunde nicht neu; allerdings führt er die Überlegungen seiner Vorgänger enger zusammen und arbeitet die taciteische Germania explizit als Möglichkeit heraus, die Leerstellen, die sich aus dem Mangel an alten germanischen Historiographen ergibt, zu kompensieren. Mit der Beobachtung historiographischer Leerstellen schafft Althamer die Voraussetzung für die Scholia, denn seine Klage über das historische Unwissen seiner Zeitgenossen fordert gewissermaßen eine entsprechende Aufarbeitung ein. Sein Desiderat bildet insofern die Grundlage seines historiographisch eingefärbten Kommentarvorhabens, das seiner Funktion nach eine textuelle Bewältigungsstrategie darstellt, um die festgestellten Defizite auszugleichen. Im Zuge dessen inszeniert er sich selbst damit implizit auch als Historiograph. _____________ 13 14

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Vgl. Krebs (2005), 192. Zu Celtis sei exemplarisch verwiesen auf Huemer (1876), Bautz (1975), Mertens (1997a), Robert (2003), Arnold (2004), Mertens (2004a) und Jaumann (2004) mit weiteren grundlegenden Literaturhinweisen. Vgl. v. a. Krebs (2005), 241–243, der weitere nützliche Literaturhinweise gibt. Zu Bebel generell vgl. Geiger (1875), Grimm (1953), Mertens (1983). Krebs betont, dass Bebel in seinen Werken des Öfteren den Mangel an germanischer Geschichtsschreibung hervorhebt (vgl. Krebs [2005], 241, Anm. 514). Exemplarisch sei daher verwiesen auf Bebel, Oratio ad regem Maximilianum, a vv und Bebel, Epitome laudum Sueuorum, a iiijv. Zu Johannes Cochlaeus vgl. Brecher (1876), Kolde (1898), Grimm (1957), Bäumer (1981), SamuelSchneyder (2009); die Brevis Germaniae Descriptio liegt in einer modernen Ausgabe mit einer Einleitung zu Werk und Autor vor (vgl. Langosch [1976], 7–35); Cochlaeus äußert sich insgesamt zurückhaltender: er stellt insbesondere Tacitus als testis evidens der germanisch-deutschen Antike heraus (vgl. Cochlaeus, Descriptio I, 8, S. 46 und 48) und erwähnt auch nur am Rande, dass die von Deutschen erfundene Druckkunst der gesamten, im Aussterben begriffenen Literatur zu neuem Leben verholfen hat (vgl. ebd. II, 5, S. 64). Eine deutliche und explizite Kritik wird dabei freilich nicht formuliert. Zu Irenicus vgl. Horawitz (1881), Csáky (1974) mit weiterführender Literatur; zur Germaniae Exegesis vgl. Cordes (1966). Willibald Pirckheimer wählt in dem der Exegesis vorangestellten Brief an Irenicus, der bereits in einer modernen Ausgabe vorliegt, eine andere Perspektive auf die historiographischen Defizite im nationalen Sprachraum und führt aus, dass es nicht generell an deutschen scriptores mangele, sondern an denen, die die deutsche Geschichte adäquat und würdig niederschrieben, ohne sie sogleich a Nili ortu herzuleiten (vgl. Pirckheimer, »P. an Franciscus Irenicus«, 368). Irenicus selbst behandelt das Problem sehr vielschichtig in den ersten neun Kapiteln des ersten Buches seiner Germaniae Exegesis und lotet dabei auch antike, in Bezug auf die deutsche Geschichte vertrauenswürdige Autoren aus (vgl. Irenicus, Germaniae Exegesis, Ir–VIr).

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Der Aufnahmebereich wird dadurch bereits im Widmungsbrief in einen direkten Bezug zum nationalen Referenzbereich gerückt: Dadurch wird der Anspruch auf die nationale antiquitas sowie auf die nationale Kontinuität sowohl unausgesprochen vorausgesetzt als auch konstruiert. Bereits hier wird die allelopoietische Wechselwirkung dieser Transformation deutlich: Die postulierte Fokussierung des Nationalen zielt nämlich insbesondere darauf ab, die sich aus dem Anspruch auf die nationale antiquitas ableitende nationale Kontinuität zu rekonstruieren. Der Aufnahmebereich wird als nationales Erbe des eigenen Referenzbereichs begriffen, indem Letzterer – allerdings in Vermittlung durch die römische Antike – selbst als Projektionsfläche einer eigenen nationalen Antike fungiert und dadurch auch in eine Konkurrenzkonstellation zur ›klassischen‹ Antike gerät. Der Widmungsbrief ist in seiner argumentativen Struktur darauf angelegt, Tacitus’ Germania als die entscheidende antike Referenzquelle zu etablieren, die relevante Aussagen über die eigene nationale Antike zulässt. Althamer bemängelt dabei ihre bisherige Verarbeitung – wohl im Sinne einer produktiven Aneignung – und formuliert damit auch die causa scribendi, die sein Kommentarwerk nicht nur rechtfertigt, sondern als geradezu notwendig erscheinen lässt: Hunc […] libellum festiuum, raraque eruditione respersum, non admodum frequentem in Germanorum manibus velut comperi, interpretari coepi, gentes explicare, situm, ritus, mores enarrare collato diligentissime Cornelio cum Berosi, Caesaris, Plinii, Melae, Strabonis, Solini, Ptolemei, Flori, Vellei, Suetonii, aliorumque quos sequutus [sic] sum scriptis […]. 17

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Althamer, »Widmungsbrief«, A iiiv: »Dieses […] nette und mit seltener Bildung besprengte Büchlein, sowie ich erfuhr, dass die Deutschen es überhaupt nicht häufig in die Hände nehmen, begann ich zu interpretieren, die Stämme zu erklären, die Lage, die Kulte, die Sitten ausgiebig zu erzählen, nachdem ich Cornelius [Tacitus] sehr sorgfältig mit den Schriften des Berosus, des Caesar, des Plinius, des [Pomponius] Mela, des Strabo, des Solinus, des Ptolemaeus, des Florus, des Velleius [Paterculus], des Sueton und anderer, die ich durchgegangen bin, verglichen hatte […].« Althamers Beobachtung lässt sich in gewisser Weise nachvollziehen, wenn man seine Aussage auf die Textsorten Edition, Kommentar und Übersetzung der Germania bezieht. Im deutschsprachigen Gebiet sind nur wenige Germania-Editionen bis 1529 nachzuweisen. Die erste wurde 1473 bei Friedrich Kreußner in Nürnberg gedruckt (vgl. Krebs [2005], 194, Anm. 322; Müller [2010], 258, Anm. 89); weitere sind erschienen in Wien (1498–1502; auf Initiative von Conrad Celtis), Leipzig (1502), Erfurt (1509), Leipzig (1509), Wien (1515), Basel (1519). Zur Editionsgeschichte der taciteischen Germania generell vgl. Ulery (1986), 93 f. und Mertens (2004b), bes. 37–58. Hinsichtlich der gedruckten Kommentarliteratur fällt die geringe Beschäftigung mit der Germania noch deutlicher auf: Allein der 1519 von Beatus Rhenanus verfasste Commentariolus, welcher der von Johannes Froben in Basel besorgten Edition nachgestellt ist (s. o.), lässt sich nachweisen. Im Hinblick auf die Übersetzungen sieht es bis 1529 noch dürftiger aus: Erst 1526 wird die Germania als erstes Werk aus den Opera des Tacitus von Johann Eberlin von Günzburg ins Deutsche übersetzt, und erst 1535 folgen dann die Übersetzungen der Annales und Historiae von Jakob Micyllus (vgl. Worstbrock [1976], 147; Ulery, [1986], 96). Allerdings wurde Eberlins Übersetzung nicht gedruckt und blieb der weiteren Öffentlichkeit damit vorenthalten (vgl. Münkler/Grünberger/Mayer [1998], 258). Ob Althamer von ihr wusste oder sie gar kannte, lässt sich nur mutmaßen. Immerhin waren beide sowohl im reformatorischen Lager als auch in derselben Region tätig.

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Althamer benennt mit interpretari, explicare, enarrare und conferre vier Parameter, die seinen Kommentar prägen und die er in eine gewisse Relation zueinander setzt, indem er sie unterschiedlichen Feldern zuordnet. In erster Linie beschreibt er damit seine methodischen Paradigmen: 18 interpretari scheint das gesamte Prozedere zu umfassen (hunc libellum festiuum interpretari), welches durch explicare und enarrare näher konturiert wird. In diesem Sinne lassen sich diese beiden als Modi zu interpretari verstehen. Er stellt demnach als methodische Ansätze seiner Scholia das Erklären von (germanischen) Volksstämmen (gentes explicare) sowie das geographische und ethnographische Nacherzählen (situm, ritus, mores enarrare) heraus, die zugleich den referenztextverarbeitenden und historiographischen Charakter des Kommentars unterstreichen. Auch das sorgfältige Vergleichen der Germania mit den Schriften anderer (pseudo-)antiker Autoren (collato diligentissime Cornelio cum […] scriptis) verdeutlicht die historiographische Prägung und dient darüber hinaus einer transparenten Verifizierung der in der Germania transportierten Wissensbestände, denen ohnehin von vornherein ein Wahrheitsanspruch unausgesprochen zugeschrieben wird. In eine ähnliche Richtung zielt auch die Profilierung der Autorität des Tacitus als Autor der Germania, denn Althamer fundiert damit den historiographischen Gehalt der Schrift und ihre Aussagekraft für die germanisch-deutsche antiquitas. 19 Tacitus besitzt nach Althamer ein Alleinstellungsmerkmal für die bisher vernachlässigte historiographische Aufarbeitung der nationalen Antike; sein Unternehmen präzisiert er, indem er Tacitus’ Germania mit celebrare markiert: Die von ihm als Desiderat eingeforderte Geschichtsschreibung soll sich demnach in der nationalen Glorifizierung äußern. Der Germania wird dieser Charakter zugeschrieben, so dass sie die ideale Vorlage darstellt, die es zu bearbeiten gilt, um das diagnostizierte historiographische Defizit angemessen zu kompensieren. Während Tacitus’ Alleinstellungsmerkmal die Scholia rekursiv nobilitiert, verleiht der der taciteischen Germania zugewiesene panegyrische Charakter dem Kommentarwerk Althamers eine zusätzliche Ausrichtung, welche die Kommentierung der Germania ideologisch konfiguriert. Diese zusätzliche ideologische Einfärbung, um welche die national ausgerichtete Kommentierung als _____________ 18

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Die Anordnung der Begriffe, die Althamer hier vornimmt (interpretari, explicare, enarrare und conferre), ist wohl nicht im Sinne einer selbstauferlegten Reihenfolge auf die Kommentarpraxis innerhalb der Lemmata o. ä. zu beziehen, wie ein Blick in die Scholia schnell zeigt, sondern bezeichnet offenbar vielmehr das methodische Instrumentarium und sein inneres Bezugssystem, dessen er sich in seiner Gesamtkommentierung der Germania als Referenzwerk zur germanisch-deutschen Antike bedient und wodurch er die Scholia in den historiographischen Diskurs einschreibt. Vgl. Althamer, »Widmungsbrief«, A iiir–v: Solum Tacitum extare video, qui non sinistre nos celebrauit: vetustum authorem, attemen dissertissimum, Romanum quidem equitem, sed Germanis conuersatum […]. Et admiratus gentis Theutonicae fortitudinem, infractum robur, summam constantiam, & praeclarissimas virtutes, arripuit ansam scribendi de Germanorum situ, moribus, de gentis exordio, auctu: de studiis, religione, atque iusticia. – »Ich sehe, dass allein Tacitus existiert, welcher uns nicht nachteilig gefeiert hat: ein alter Autor, aber dennoch ein sehr beredter, zwar ein römischer Ritter, aber einer, der sich bei den Germanen aufgehalten hat […]. Und indem er die Tapferkeit des teutonischen Stammes bewunderte, die ungebrochene Kraft, die höchste Standhaftigkeit und die hochberühmten Tugenden, nahm er sofort die Gelegenheit wahr, über die Lage der Germanen, über die Sitten, über den Beginn des Stammes und seine Vergrößerung, über seine Studien, Religion und Gerechtigkeit zu schreiben.«

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Akt historiographischer Aufarbeitung erweitert wird, lässt auch Rückschlüsse auf Althamers Verständnis von Geschichtsschreibung zu: So ist es für ihn offenbar erst durch einen national-panegyrischen Ansatz möglich, (die eigene) Geschichte ›richtig‹ zu deuten, so dass Historiographie folglich auch durch celebrare geprägt sein muss. Die Konstruktion der taciteischen Autorität selbst stabilisiert er mit zwei Parametern, die den historisch-faktischen Gehalt der zu kommentierenden Schrift a priori konstatieren sollen und im humanistischen Feld jeweils zum Grundinventar von Präsentationsformen gehören: Zum einen weist er Tacitus als dissertissimus aus und apostrophiert dadurch die Gelehrsamkeit des zu kommentierenden Autors überhaupt. Damit lässt sich zumindest implizit auch ein Wahrheitsanspruch für Tacitus verknüpfen, der zudem auf die Germania übertragbar wird. Mit dem Aspekt der Bildung korreliert zum anderen der Tacitus zugeschriebene (persönliche) Umgang mit den Germanen: Der Autor der Germania verfügt laut Althamer demnach über faktisch selbst erworbenes Wissen. Die Autopsie als eigentlich eher humanistisch geprägte wissenschaftliche Methode bestätigt den der Germania und ihrem Autor zugeschriebenen Wahrheitsanspruch. Der direkte Kontakt zwischen dem Autor und seinem Darstellungsobjekt, nämlich den antiken Germanen, bildet in Althamers Argumentation eine wichtige Scharnierstelle zwischen Referenz- und Aufnahmebereich: die auf den Referenzbereich bezogene Unmittelbarkeit als Form faktischer Präsenz bildet gewissermaßen das Fundament dafür, die taciteische Germania auch historiographisch und damit geschichtsdeutend zu kommentieren. Erst durch die postulierte Präsenz des Tacitus bei den antiken Germanen kann der Germania eine historisch-faktische Aussagekraft attestiert und sie als germanisch-deutsches ›Urzeugnis‹ apostrophiert werden. Aus dem Anspruch auf Autopsie ergibt sich Althamers Feststellung, dass Tacitus die fortitudo, das infractum robur, die summa constantia und die praeclarissimae virtutes 20 der gens Theutonica 21 bewundert habe. Im Wesentlichen lassen sich zwar in der Germania _____________ 20

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Nur einmal verwendet Tacitus das Substantiv fortitudo (vgl. Germ. 7,2) und viermal sein Adjektiv fortis (vgl. Germ. 3,1; 14,1; 15,1; 31,2) im Sinne germanischer Tugenden; robur verwendet er allein einmal als Substantiv und das im militärischen Diskurs, bezogen auf die Fußtruppen der Germanen (vgl. Germ. 30,3) und zweimal adjektivisch in Hinsicht auf die physische Kraft der Germanen (vgl. Germ. 13,2; 24,2). Da Tacitus an keiner Stelle eine Form von infractus verwendet, kann auch keine Kombination aus robur und infractum vorliegen, wie Althamer es suggeriert. Constantia wird von Tacitus nur zweimal verwendet: zum einen bezogen auf die Bittklagen germanischer Frauen in der Schlacht (vgl. Germ. 8,1), zum anderen als Ausdruck militärischer Tugend der Germanen (vgl. Germ. 30,3). Eine Form des Adjektivs summus wird allein auf Julius Caesar, den Tacitus als Referenzautor für bestimmte Aussagen heranzieht, bezogen (vgl. Germ. 28,1), so dass auch die von Althamer verwendete semantische Verknüpfung summa constantia nicht in der Germania auftritt. Allein virtus wird mehrfach und dabei stets als Ausdruck germanischer Tugendhaftigkeit von Tacitus verwendet (vgl. Germ. 3,1; 7,1; 13,3; zweimal 14,1; 20,1; 29,1; 30,2; 31,1; 31,3; 35,2; 42,1), aber nur einmal im Plural wie Althamer es tut (vgl. Germ. 18,3). Eine Form von praeclarus wird an keiner Stelle verwendet. Allein aus diesen Beobachtungen wird ersichtlich, dass die Germania des Tacitus von Althamer im Horizont eines germanisch-deutschen Geschichtsbildes transformiert wird und die von ihm herausgestellten Inhalte der Germania im Wesentlichen auf dem eigenen Textverständnis beruhen. Dass keine Form von Teuthonicus bei Tacitus auftaucht, überrascht sicher wenig, da der Begriff wohl erst ab dem frühen 11. Jahrhundert geprägt wurde (vgl. Haubrichs [2004], bes. 209).

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bestimmte Passagen finden, die ein solches Textverständnis zumindest assoziativ nahelegen, explizit allerdings werden diese Begriffe in diesen Konstellationen nicht verwendet. Können einzelne Tugenden wie fortitudo, robur, constantia und die virtutes aus dem Referenztext substantiell zumindest noch herausgelesen und erst in einem zweiten Schritt geschichtsdeutend instrumentalisiert werden, zeigt sich der vielleicht deutlichste Bruch mit dem überlieferten Textmaterial der Germania im Zusatz infractum, da dieser die gens Theutonica der nationalen Antike als unbezwungene Nation herausstellt. 22 Althamer konstruiert ein semantisch aufgeladenes Geschichtsbild von der germanisch-deutschen Antike und projiziert es a priori auf den zu kommentierenden Referenztext, obwohl Tacitus in seiner Germania diese Begriffe nur vereinzelt so verwendet, wie Althamer es suggeriert, und sie keineswegs in eine semantische Relation zueinander setzt. Einerseits wird dadurch eine retrospektive Glorifizierung der antiken Germanen vorgenommen, andererseits wird der antike Referenzbereich mit dem Begriff der gens Teuthonica semantisch verknüpft und dadurch mit dem gegenwärtigen Aufnahmebereich in eins gesetzt: infolge dieses transformativen Eingriffs entsprechen also die antiken Germanen der (gegenwärtigen) gens Teuthonica und umgekehrt werden den gegenwärtigen Deutschen die antiken Germanen als ihre nationalen Vorfahren zugewiesen. Althamer verankert also die Deutschen und ihre Geschichte bereits im Vorfeld seiner Kommentierung der taciteischen Germania in der Antike, die er damit implizit als ›germanische‹ Antike ausweist. Zugleich vereinheitlicht er diese eigene Antike in ethnographischer Hinsicht: die Ignoranz germanischer Stammesvielfalt, die sich eigentlich in der Germania abzeichnet, ist damit nicht nur Ausdruck eines bestimmten Geschichtsverständnisses, welches bereits hier in Ansätzen evident und im Kommentar ausgearbeitet wird, sondern auch ein retroaktiver Eingriff in den Referenzbereich, der die antiken Germanen als ›nationale‹ Gemeinschaft etabliert.

III. Vor dem Hintergrund der im Widmungsbrief formulierten historiographietheoretischen Erwägungen und des präkonfigurierten nationalen Geschichtsbildes, das er auf die eigene Antike bezieht, überrascht es kaum, dass Althamer in seinen Scholia den Fokus auf die historiographische Kommentierung der Germania legt. Exemplarisch lässt sich das an dem Ereignis zeigen, welches sowohl in der Antike 23 als auch im _____________ 22

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Tacitus beschreibt die Germanen zwar als sehr kriegstüchtiges und nur schwer bezwingbares (vgl. bspw. Germ. 14), aber eben nicht als unbezwingbares Volk (vgl. bspw. Germ. 23; 37,5). Der in die Scholia integrierte Text der Germania weicht von dem einer modernen Textausgabe nicht wesentlich ab und weist diesbezüglich daher keine anderen Ergebnisse auf. Eine Zusammenstellung der wichtigsten antiken Autoren, die von der clades Variana berichten, bietet die von Lutz Walther (2008) herausgegebene Textausgabe Varus, Varus.

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Geschichtsdiskurs deutscher Humanisten 24 einen deutlichen Niederschlag findet: die Varusschlacht des Jahres 9 n. Chr., 25 von der Tacitus in seiner Germania allein an einer Stelle (cap. 37) und auch nur sehr knapp berichtet und an deren Kommentierung Althamer offenbar ein großes Interesse hat: AT Germani a Carbone & Cassio, & Scauro Aurelio, & Seruilio Caepione, M. quoque Manlio fusis uel captis, quinque simul consularis exercitus populi Romani b Varum, tresque cum eo legiones etiam c Caesari abstulerunt: nec impune, C. Marius in d Italia, diuus Iulius in e Gallia f Drusus ac g Nero & h Germanicus in suis eos sedibus perculerunt. Mox ingentes C. i Caesaris minae in ludibrium versae. Inde otium donec occasione discordiae nostrae, & k ciuilium armorum, expugnatis legionum l hybernis etiam Gallias affectauere, ac rursus pulsi, inde proximis temporibus m triumphati magis quam victi sunt. 26

Die im Referenztext hochgestellten Minuskeln kennzeichnen die Schlagworte oder Sinneinheiten, die Althamer im Begriff ist zu kommentieren: Varum versieht er mit einem »b«. In dem dazugehörigen Lemma, welches im Wesentlichen drei Aspekte umfasst, berichtet Althamer unter Bezugnahme auf andere Autoren von der Varusschlacht: 27 Im ersten Abschnitt wird von der für die Germanen siegreichen und für die Römer verheerenden Schlacht mit einem auffälligen Hang zum Detail erzählt. Anschließend wird die Reaktion des Augustus auf die Nachricht der clades Variana referiert. Im letzten Abschnitt, der eher argumentativ gestaltet ist, widmet sich der Kommentator der Frage nach der Verortung der Varusschlacht. Bereits im Einleitungssatz des Lemmas streicht Althamer die wesentlichen Eckpunkte der folgenden Erzählung summarisch zusammen: QVintilius Varus Romanae militiae in Germania, sub Augusto Caesare princeps, a maioribus nostris, duce Arminio trucidatus cum tribus: uelut copiosißime Florus explicat, cuius uerba quia seruiunt intellectui Germanorum facinorum subijtiam […]. 28

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Einen knappen Überblick über die Autoren- und Verarbeitungsvielfalt bieten Münkler/Grünberger/Mayer (1998), bes. 263–308; vgl. auch Bemman (2002). Für einen knappen Überblick zu den Ereignissen um Varus und Arminius sei verwiesen auf Dreyer (2009), bes. 119–148; vgl. auch Kösters (2009). Althamer, Scholia, L iiiiv: »Die Germanen aber, indem sie Carbo, Cassius, Servilius Caepio und auch M. Mallius geschlagen oder gefangen genommen hatten, haben zugleich fünf konsularische Heere des Römischen Volkes, den Varus und mit ihm drei Legionen sogar dem Kaiser Augustus entrissen; nicht ungestraft warfen C. Marius in Italien, der göttliche Julius Caesar in Gallien, Drusus und Nero sowie Germanicus diese in ihren eigenen Gebieten nieder. Bald darauf wandten sich die ungeheuren Drohungen des Kaisers Caligula in Gespött. Seitdem war es ruhig, bis sie [= die Germanen], indem sie die Gelegenheit unserer Zwietracht und unseres Bürgerkrieges ausnutzten und die Winterlager unserer Legionen erobert hatten, sogar Gallien sich anzueignen suchten, und nachdem sie wieder zurückgedrängt waren, wurden seitdem in letzter Zeit mehr Siege über sie gefeiert, als dass sie wirklich besiegt wurden.« Auch Wimpfeling und Cochlaeus zitieren aus dieser Stelle der Germania des Tacitus, wenn auch nicht vollständig und mit leichten Abweichungen: vgl. Wimpfeling, Epitome, Fol. IIIIv, Cap. IIII und Cochlaeus, Descriptio I, 8, S. 46 und 48; zu Cochlaeus, der des Öfteren aus Wimpfeling zitiert, vgl. ebd. S. 47, Anm. 25. Vgl. Althamer, Scholia, Mr–v. Althamer, Scholia, Mr: »Quintilius Varus, der Vorgesetzte der römischen Armee in Germanien unter Kaiser Augustus, wurde zusammen mit drei Legionen von unseren Vorfahren unter der Führung

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Diese Passage leitet das Lemma ein und ist damit der Schlachtdarstellung vorangestellt; es fasst im Prinzip die noch zu schildernden Ereignisse synthesenhaft zusammen: Varus und seine drei Legionen werden von den maiores nostri unter der Führung des Arminius vernichtend geschlagen. Die von Althamer bemühte Semantik der Begrifflichkeiten princeps Romanae militiae, maiores nostri, trucidare sowie intellectus Germanorum facinorum evoziert beim Leser eine bestimmte Erwartungshaltung für die Erzählung von der Schlacht, die, wie Althamer selbst formuliert, im Wesentlichen auf dem antiken Historiker Florus und seinen Epitome 29 basiert. Es fällt auf, dass keiner der hier genannten Begriffe in Florus’ Darstellung von der Varusschlacht in den von Althamer verwendeten Konstellationen auftaucht, 30 und darüber hinaus, dass Althamer princeps auf Varus bezieht, was von keinem antiken Autor so überliefert ist und in dieser Form wohl einzigartig sein dürfte. 31 Indem Althamer princeps und Varus miteinander kombiniert, wertet er die römische Position erheblich auf: Varus wird als ein von Augustus entsandter Oberbefehlshaber der römischen Truppen in Germanien apostrophiert und handelt somit stellvertretend für das Imperium Romanum. Die Attribuierung Varus’ als princeps Romanae militiae in Germania markiert aber zugleich auch die Fallhöhe seiner künftigen Niederlage und die des römischen Reiches. Umgekehrt wird dadurch bereits im Voraus der ›eigene‹ Sieg zusätzlich aufgewertet: Die Germanen konnten damit eben nicht nur gegen Varus und drei Legionen einen Sieg erringen, wie es bei Tacitus überliefert wird, sondern – als Pars pro toto gedacht – dem römischen Reich eine empfindliche Niederlage zufügen. Auch trucidare wird von Florus im Zusammenhang mit der Varusschlacht nicht verwendet. Stattdessen scheint Althamer den römischen Historiker Velleius Paterculus darum bemüht zu haben, da allein er diese drastische Formulierung auf die clades Variana 32 anwendet. Der Sieg der Germanen über die Römer wird durch die Semantik von trucidare daher nicht nur als bloße militärische Überlegenheit charakterisiert, sondern gewinnt auch eine physisch greifbare Komponente, indem auf das ›Niedermetzeln‹ der Feinde rekurriert wird. Auf diese Weise konfiguriert er die _____________ 29

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des Arminius hingeschlachtet: wie besonders ausführlich Florus dargelegt, dessen Worte, weil sie zum Verständnis der germanischen Taten dienlich sind, ich anfügen möchte […].« Zu Florus und seinen Epitome sei auf den sehr kenntnisreichen Artikel von Klaus Sallman im HLL verwiesen: Sallmann (1997a). Bis 1529 lassen sich mindestens 16 verschiedene Texteditionen ausfindig machen. Welche Althamer herangezogen hat, lässt sich nicht mit letzter Gewissheit feststellen. Florus berichtet im zweiten Buch seiner Epitome von der Varusschlacht: vgl. Florus, Epit. II, 30. Im Grunde kann wohl ausgeschlossen werden, dass es sich bei princeps um einen Druckfehler handeln könnte, der vermeintlich in sub Augusto Caesare principe geändert werden müsste, denn mit der Kasusänderung vom Nominativ zum Ablativ – was ja als solches erst einmal denkbar wäre – bliebe das Genitivattribut Romanae militiae zu princeps zunächst ohne syntaktischen Bezug. Diese Genitivkonstruktion ließe sich dann nicht nicht ohne gehörigen Argumentationsaufwand erklären. Zudem spricht auch dagegen, dass Althamer Augustus in einem zusätzlichen Lemma, das mit »c« gekennzeichnet ist und dem b-Lemma zur Varusschlacht unmittelbar folgt, allein mit »Caesari Augusto« kommentiert (vgl. Althamer, Scholia, Mv) und keine Form von princeps anführt. Vgl. Velleius Paterculus, Hist. Rom. II, 117, 1.

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Varusschlacht geradezu als historisches Zeugnis für die chancenlose Unterlegenheit der Römer, die dem Rezipienten vermittelt werden soll. Die Semantik von trucidare korreliert mit der am Textrand befindlichen Marginalie, 33 die darauf ausgerichtet ist, den Leserblick zu lenken und die wesentlichen, vom Text zur Verfügung gestellten Informationen zu kondensieren. Insofern zielen die Verbalaussagen des Einleitungssatzes und der sich auf ihn beziehenden Marginalie wohl in erster Linie darauf ab, das von Althamer im Folgenden angebrachte Florus-Zitat bereits im Vorfeld summarisch zusammenzustreichen und die (physische) Überlegenheit der Germanen gegenüber den Römern als dessen Grundmotiv herauszustellen. Dass die Formulierung maiores nostri ebenso keiner antiken Referenzquelle entstammt, ist wenig überraschend. Dafür verdeutlicht sie die Erzählperspektive, die Althamer wählt und durch die er auch die Rezipientenebene miteinschließt: durch die Profilierung der ›gemeinsamen Vorfahren‹ als Sieger über Varus wählt Althamer eine Erzählposition, in der er sich ostentativ in den Kreis seiner intendierten Rezipienten einreiht. Durch diese Kennzeichnung der Sieger über Varus als maiores nostri wird retroaktiv die eigene nationale antiquitas postuliert: Die Formulierung transportiert also den Gedanken eines nationalen Geschichtsbewusstseins und ist damit Ausdruck eines nationalen Kontinuitätsgedankens. Dabei ist es für Althamers Bericht von Vorteil, dass die taciteische Passage von der Varusschlacht, die er kommentiert, von den Germani als den Gegnern des Varus spricht und keinerlei Stammesvielfalt thematisiert. Auf diese Weise kann der Darstellung eine nationale Dynamik und Bedeutung zugeschrieben werden, in der die Varus-Gegner als nationale Gemeinschaft konstituiert werden. 34 Dadurch verankert Althamer die Varusschlacht im Horizont der germanisch-deutschen Geschichte: die clades Variana avanciert regelrecht zur ›Germanenschlacht‹. Der einer Sinnverdichtung dienenden Einleitung folgt eine auf bestimmte Aspekte reduzierte Beschreibung der Varusschlacht: 35 Aus welchen Gründen und unter welchen Umständen es zu ihr kam und wie sie verlief. Die Darstellung der Ereignisse fußt auf Florus und stellt ein zusammenhängendes Zitat dar. Entscheidend sind hierbei insbesondere die Selektionsmechanismen, die sich in Althamers Zitation von Florus zeigen, sowie die dadurch vermittelten Inhalte: Er ›frisiert‹ Florus nämlich insofern, als er ihn erst ab dem Punkt zitiert, wo dieser die germanische Perspektive endgültig in die Handlungsebene einführt und die einsetzende Rebellion der Germanen gegen die Römer schildert. 36 _____________ 33 34 35 36

Vgl. Althamer, Scholia, Mr: Quintilius Varus a Germanis occisus (= »Quintilius Varus von den Germanen erschlagen«). Die Beobachtung wird auch gestützt durch die am Rand befindliche Marginalie, welche die Germanen als gegnerisches Kollektiv auftreten lässt (vgl. Althamer, Scholia, Mr). Vgl. Althamer, Scholia, Mr. Bis dahin beschreibt Florus eher die römische Perspektive und formuliert, wenngleich etwas verhalten, dass die Germanen Drusus und die römische Herrschaft zumindest ein Stück weit respektierten. Vgl. Florus, Epitome II, 30: Sed difficilius est provincias optinere quam facere; viribus parantur, iure retinerentur. Igitur breve id gaudium. Quippe Germani victi magis quam domiti erant, moresque nostros magis quam arma sub imperatore Druso suspiciebant; postquam ille defunctus est, Vari Quintili libidinem ac superbiam haud

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Im direkten Vergleich mit Florus wird deutlich, dass es für Althamer darüber hinaus mindestens aber noch zwei weitere Gründe gegeben haben wird, das Florus-Zitat erst dort beginnen zu lassen, wo er es tut. Zum einen werden unmittelbar zuvor die Germanen von Florus als Germani victi magis quam domiti bezeichnet: Unabhängig davon, dass Florus die Germanen dadurch eher als permanente Bedrohung für das Imperium Romanum ausweist und ihnen daher gewissermaßen sogar Bewunderung zu zollen scheint, wäre diese Formulierung für Althamer im Hinblick auf den Einleitungssatz des Lemmas, die dazugehörige Marginalie sowie im Hinblick auf das sich in den Scholia manifestierende Geschichtsbild sehr missverständlich und wohl auch kontraproduktiv, da die antiken Germanen damit eben als Germani victi – und das noch von den Römern! – stigmatisiert wären. Der zweite Grund dürfte möglicherweise darin bestehen, dass Florus schreibt, die Germanen hätten unter Drusus sogar die mores der Römer respektiert, auch wenn sie die römische Waffenmacht weniger anerkannt hätten. Diese Formulierung ist sicher zum einen als Lob auf Drusus’ vorausschauende Provinzverwaltung – die implizit auch im Kontrast zur anschließenden Varus-Passage steht – zu lesen, zum anderen werden die Germanen aber auch hier als potentiell gefährliches Volk herausgestellt, da es sich vor den Römern als Militärmacht nicht fürchtet. Problematisch jedoch für Althamer ist sicher Florus’ Hinweis auf die Respektierung der römischen mores seitens der Germanen, da es vielleicht auch unklar wäre, wieso die eigenen Vorfahren Sympathien für die römische und im Folgenden auch als dekadent (libido) apostrophierte Lebensweise gehegt und aus welchem Grund sie die eigenen mores zugunsten anderer, nicht-germanischer offenbar aufgegeben hätten. Aus der Perspektive eines deutschen Humanisten ist das sicher keine Stelle, die zur (historiographischen) Konstruktion eines nationalen Selbstverständnisses, das die Nobilitierung der eigenen nationalen Antike fest im Blick hat, besonders geeignet wäre. Insofern ist es nur konsequent, dass Althamer die seinem Zitat aus Florus vorausgehende Textpassage ausblendet. Die durch das Florus-Zitat gestaltete Erzählung lässt er mit dem Hinweis auf die sittliche und moralische Verkommenheit des Varus beginnen, die dafür ausschlaggebend ist, dass sich die Germanen erheben: Vari Quintilij [...] libidinem ac superbiam haud secus quam saeuitiam odisse coeperunt Germani […].37 Für den Beginn der eigentlichen Erzählung wählt Althamer eine deutliche Stellungnahme: Die Römer sind an ihrem Verderben selbst schuld. Ihre moralische _____________

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secus quam saevitiam odisse coeperunt. – »Aber es ist schwieriger, Provinzen zu halten als einzurichten; mit Streitkräften werden sie eingerichtet, durch Recht in Besitz gehalten. Diese Freude war also kurzfristig. Denn die Germanen waren eher besiegt als bezwungen, und unter dem Feldherrn Drusus empfanden sie größere Hochachtung gegenüber unseren Sitten als gegenüber unseren Waffen; nachdem jener verstorben war, fingen sie an, die Ausschweifung und den Hochmut des Quintilius Varus ebenso zu hassen wie seine Grausamkeit« (Übersetzung von Lutz Walther, in: Varus, Varus, 85 und 87). Althamer zitiert Florus von Vari Quintilij libidinem ac superiam bis zum Ende von Kap. 30. Althamer, Scholia, Mr: »Des Varus Quintilius […] Ausschweifung und Hochmut begannen die Germanen ebenso zu hassen wie seine Grausamkeit.«

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Verkommenheit und Dekadenz, die sich besonders in der Person des Varus als Repräsentanten des Imperium Romanum (militiae Romanae in Germania sub Augusto Caesare princeps) manifestieren, werden zum zündenden Funken für die Auseinandersetzung, die in die Varusschlacht mündet, und damit zum Initiator der Erzählung. Zugleich wird dadurch auch das rebellierende Vorgehen der Germanen gegen die Römer retrospektiv begründet. Indem Althamer die Römer in ihrer Lasterhaftigkeit exponiert, schreibt er den als maiores nostri gekennzeichneten Germanen eine sittlich-moralische Überlegenheit zu. Die Varusschlacht wird zum Kampf der Germanen gegen das dekadente Rom stilisiert, der für die intendierten Rezipienten der Scholia auch zeitgenössische Assoziationsmöglichkeiten transportiert. 38 Die Schlachtbeschreibung selbst ist nicht sonderlich ausführlich, dafür aber umso intensiver in ihrer sprachlichen und inhaltlichen Ausgestaltung. Hierbei fällt insbesondere die Darstellung der Germanen ins Auge, in der Althamer Florus als antikem Referenzautor, der die Grausamkeit und Wildheit der Germanen explizit hervorhebt, folgt. Nihil illa caede per paludes perque sylvas cruentius, nihil insultatione Barbarum intolerantius, praecipue tamen in causarum patronos, aliis oculos, aliis manus amputabant, unius os sutum, recisa prius lingua, quam in manu tenens barbarus, tandem inquit, Vipera sibilare desiste. 39

Florus bezeichnet die Germanen als barbari und weist ihnen darüber im kulturtheoretischen Diskurs der Antike eine feste Position zu. 40 Dass Althamer diese Bezeichnung übernimmt und nicht etwa ignoriert, ist insofern überraschend, 41 als er damit die als nationale Vorfahren herausgestellten Germanen zumindest kulturell degradiert. Sie scheint aber kontrastiv zu der dem Imperium Romanum zugeschriebenen Dekadenz gedacht zu sein, denn Varus wird zuvor als sittlich-moralisch verkommen _____________ 38

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Da Althamer dem reformatorischen Lager zuzurechnen ist, kann die Textstelle zur Varusschlacht mit einer reformatorischen Einfärbung gelesen werden, die ihr zusätzliche Dynamik verleiht. Vgl. hierzu Münkler/Grünberger/Mayer (1998), 288: »Im protestantischen Kontext wird Arminius […] zu einem Vorläufer Luthers, und die Reformation wird in die Tradition der germanischen Kämpfe gegen die römische Expansion zu Beginn der Kaiserzeit gestellt.« Letztlich bleibt die Assoziation an dieser Stelle nur implizit, weshalb hier auch nicht weiter darauf eingegangen werden soll. Althamer, Scholia, Mr: »Nichts war grausamer als jenes Morden in den Sümpfen und Wäldern, nichts war unerträglicher als der Hohn der Barbaren, besonders bei alledem gegenüber ihren rechtlichen Vertretern: Den einen entfernten sie die Augen, den anderen die Hände, einem wurde der Mund zugenäht, nachdem ihm zuvor die Zunge herausgeschnitten wurde; diese hielt ein Barbar in der Hand und sagte: ›Hör endlich auf zu zischen, Du Schlange.‹« Vgl. dazu Krierer (2004), v. a. S. 63–72. Zum Vergleich: Wimpfeling bringt die antiken Germanen nur bedingt mit ›barbarisch‹ in Beziehung und zwar in Bezug auf die Langobarden, über die er klagt, dass sie die barbaries verborum nicht abgelegt hätten (vgl. Wimpfeling, Epitome, cap. VIII, Fol. VIr). Cochlaeus, der in den ersten zwei Capitula seiner Descriptio die germanisch-deutsche Antike behandelt, bezieht sich allein im Nachwort auf die barbaries der eigenen Vorfahren, die erst durch das Christentum überwunden worden sei (vgl. Cochlaeus, Peroratio in Germaniam, in: Descriptio, 162–164, hier: 164); damit orientieren sie sich offenbar an dem Germanen-Bild Enea Silvio Piccolominis (vgl. Krebs [2005], 143–152). Eine positive Wendung des Barbarischen wie bei Althamer, der sich damit wohl an Giannantonio Campano orientiert (vgl. Krebs [2005], 184189), bleibt bei ihnen aus.

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charakterisiert (libido, superbia, saevitia). Althamer übernimmt diese Stelle und versteht sie dabei offenbar auch als historische Wahrheit: Die ›barbarischen Germanen‹ sind damit nicht mehr in erster Linie ›barbarisch‹, sondern ›frei von Dekadenz‹. Die bildhafte Inszenierung der Varusschlacht wird durch weitere Begriffe angereichert (caedes, cruentius, insultatio, intolerantius), deren Semantik gerade das Barbarische der Germanen exemplifiziert, aber darüber hinaus auch das vollständige Scheitern der Römer in Germanien dokumentiert. 42 Althamers von Florus übernommene Darstellung lässt sich als patriotisches Selbstbewusstsein begreifen. Dabei geht es offenbar weniger um religiöse oder theologische Aspekte, als vielmehr um den nationalen und überaus erfolgreichen Kampf der Germanen als Gemeinschaft gegen das Imperium Romanum. Der Erfolg manifestiert sich besonders deutlich in den von Florus referierten und von Althamer ebenfalls zitierten Ergebnissen, dass die Römer ihrer Feldzeichen verlustig gegangen seien und die Germanen die Expansion des römischen Reiches zum Stillstand gebracht hätten, 43 sowie in der römischen Reaktion auf die clades Variana: Er belässt es demnach nicht dabei, allein die Varusschlacht zu referieren und einzelne Aspekte gesondert aufzuführen, sondern lässt auch die römische Perspektiven mit einfließen und rundet auf diese Weise seine Darstellung mit der Schilderung der Reaktion Kaiser Augustus’ ab, indem er aus der Augustus-Vita des Sueton 44 zitiert: Hac clade Romanorum adeo consternatum Augustum scribit Suetonius in vita eius, ut per continuos menses barba capilloque summisso caput interdum foribus illideret, vociferans, Quintili Vare redde legiones, diemque cladis quottannis maestum habuerit atque lugubrem. 45

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Ein weiterer Grund dafür, weshalb Althamer die Germanen als ›barbarisch‹ markiert stehen lässt, dürfte wohl darin liegen, dass er in seinen Scholia ein Geschichtsbild konstruiert, welches in sich nicht geschlossen, sondern in seiner Motivwahl sehr facettenreich angelegt ist. Eins dieser Motive ist das der Germani invicti als Konsequenz ihrer barbarischen, also unverdorbenen Sitten: Wohl in Anlehnung an Campano avanciert das Barbarische dabei zum positiv besetzten Merkmal der Germanen. Diese Beobachtung deckt sich mit der Art und Weise, wie Althamer Florus zitiert und wo er ihn einsetzen lässt. Vgl. Althamer, Scholia, Mr: […] signa & aquilas duas adhuc, & barbari possident, tertiam signifer priusquam in manus hostium veniret euulsit, mersamque intra baltei sui latebras gerens in cruenta palude sic latuit. Hac clade factum ut imperium quod in littore Oceani non steterat in ripa Rheni fluminis staret […]. – »[…] die Barbaren besitzen die Feldzeichen sowie zwei Legionsadler noch heute, den dritten Legionsadler, bevor er in die Hände der Feinde käme, riss der Feldzeichenträger herab und, indem er ihn in den Falten seines Gürtels verborgen hielt, versteckte sich so im blutigen Sumpf. Durch diese Niederlage geschah es, dass das Reich, welches an der Küste des Ozeans nicht Halt gemacht hatte, am Ufer des Rheins zum Stehen kam […].« Zu Sueton sei exemplarisch verwiesen auf Sallmanns sehr detaillierten Artikel im Handbuch der Lateinischen Literatur der Antike: vgl. Sallmann (1997b). Althamer, Scholia, Mr: »Durch diese Niederlage der Römer ist Augustus so sehr aus der Fassung gebracht worden, wie Sueton in seiner Biographie über ihn schreibt, dass er über Monate hinweg Bart und Haare hat wachsen lassen und manchmal seinen Kopf gegen die Tür schlug, wobei er laut ausrief: ›Quintilius Varus, gib mir meine Legionen zurück!‹ Und den Tag der Niederlage soll er jährlich sehr schwermütig und traurig verbracht haben.« Hierbei handelt es sich nach moderner Zählung um einen Ausschnitt aus Kapitel XXIII in Suetons Augustus-Biographie. Dass Wimpfeling

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Während das Florus-Zitat die Varusschlacht aus germanischer Perspektive darstellt, wird hier die Perspektive gewechselt, um die unmittelbare Reaktion auf Seiten der Verlierer zu illustrieren. Durch diesen Perspektivwechsel gelingt es Althamer, die Besiegten selbst zu einer Stellungnahme zu zwingen und die verheerende Niederlage einzugestehen. Er inszeniert mit Hilfe des römischen Historikers Sueton die Verzweiflung des Augustus als Oberhaupt des Imperium Romanum, dessen Reaktion wohl auch als Pars pro toto zu verstehen ist: ist Augustus consternatus, 46 gilt das auch für Rom. Dass diese Reaktion als ein Eingeständnis der eigenen Niederlage und des Sieges der Germanen über die Römer zu werten ist, muss Althamer nicht mehr explizit hervorheben: vielmehr transportiert die Darstellung von den Ereignissen selbst bereits die Überlegenheit der Germanen als nationale Gemeinschaft. Auch im Umgang mit Sueton zeigt sich der appropriative Charakter der Geschichtsdarstellung bei Althamer: Während nämlich Sueton in seiner Augustus-Vita selbst nur Tradiertes überliefert und darauf auch explizit hinweist, 47 ignoriert Althamer offenbar diese Zwischenstufe und schreibt den Inhalt Sueton selbst zu. Auf diese Weise berichtet Sueton bei Althamer nicht Überliefertes, sondern formuliert seine eigene Meinung dazu, wie Augustus auf die Nachricht von der clades Variana reagiert habe. Althamer nimmt somit die Sueton (implizit) zugeschriebene Autorität dadurch in Anspruch, dass er ihn die relevanten Aussagen treffen lässt. Für die Nacherzählung der Varusschlacht zeigt sich, dass der Umgang mit den antiken Autoren, die sich Althamer als Autoritäten aneignet, von einem selektiven Charakter geprägt ist: Er verwendet ausschließlich die Passagen der in Anspruch genommenen Referenzautoren für die Kommentierung, welche das Ausmaß der Schlacht am besten illustrieren: »[…] uelut copiosißime Florus explicat, cuius uerba quia seruiunt intellectui Germanorum facinorum subijtiam […].« 48 Ein wichtiges Kriterium für die Auswahl der Textpassagen und Autoren besteht offenbar darin, die ›eigenen Vorfahren‹ und ihre Taten zu glorifizieren, nicht in einer schlichten Abhandlung der von der taciteischen Germania zur Verfügung gestellten Inhalte. Es geht nicht nur um historische Fakten und deren verbale Wiedergabe, sondern auch um die rhetorische und eindrucksvolle Ausgestaltung der eigenen Vergangenheit, welche sowohl die eigene als auch die römische Perspektive miteinschließt. Althamer begreift Florus und Sueton als antike Gewährsmänner und lässt sie gewissermaßen _____________

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und Cochlaeus möglicherweise wichtige Quellen für Althamer darstellen, zeigt sich auch daran, dass die beiden ebenso auf die Sueton-Passage zugreifen, auch wenn sich jeweils kleinere Unterschiede in den Formulierungen feststellen lassen, die nahelegen, dass eine wörtliche Zitation nicht vorgenommen wurde (vgl. Wimpfeling, Epitome, cap. VII, Fol. Vv; vgl. Cochlaeus, Descriptio, I, 6, S. 46 und 48). Diese Formulierung wird durch die zweite Marginalie zu diesem Lemma aufgegriffen (vgl. Althamer, Scholia, Mr: Augustus consternatus), in den Nominativ gerückt und damit ihres Referenzcharakters entledigt: Der referierte Quelleninhalt wird als historische Wahrheit wiedergegeben. Vgl. Sueton, Vita Divi Augusti, cap. XXIII: »Adeo denique consternatum ferunt […].« – »Man berichtet, dass er derart entsetzt war […].« (Hervorh. R. K.). Althamer, Scholia, Mr: »[…] wie Florus besonders reichhaltig ausführt, dessen Worte, weil sie zum Verstehen der germanischen Taten dienlich sind, ich einführen möchte […].« (Hervorh. R. K.).

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Zeugnis vom Erfolg der Germanen gegen die Römer ablegen. Er liest die antiken Autoren als Wiedergabe historischer Wirklichkeit, die dadurch als Autoritäten erst geltend gemacht werden. Ihre Namensnennung unterstreicht hierbei den von Althamer erhobenen Wahrheitsanspruch. 49 Er eignet sich – ganz in humanistischer Manier – die antiken Quellen in ihrer Aussagefähigkeit produktiv an und lässt sie selbst sprechen. Für das Verhältnis von kommentiertem Text und Kommentar bedeutet das, dass die von ihm herangezogenen antiken Autoren Tacitus kommentieren und in seiner Aussagekraft grundlegend bestätigen. In einem zweiten Schritt, der argumentativ angelegt ist und nicht auf Erzählen abzielt, wendet sich Althamer der Frage nach der Verortung der Schlacht zu und postuliert dadurch zugleich ihre historische Faktizität. Hierbei stellt er antike und nicht-antike Schriftsteller kontrastiv gegenüber und bietet zwei Möglichkeiten zur Lokalisierung an: den Teutoburger Wald (antike Autoren) und das südlich von Augsburg gelegene Lechfeld (nicht-antike Autoren).50 Althamer bezieht selbst für keine _____________ 49

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Unterstrichen wird dieser Wahrheitsanspruch auch dadurch, dass Althamer nicht nur auf die antiken Autoren hinweist, sondern auch verhältnismäßig präzise Angaben macht, woher er die Textpassagen hat. Innerhalb der Darstellung: Hactenus Florus libro Gestorum Romanorum 4. ca. 12, und scribit Suetonius in vita eius (beide vgl. Althamer, Scholia, Mr). Vor allem aufgrund des von Althamer angegebenen Werktitels ist mit einiger Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er wohl die 1528 in Straßburg erschienene Florus-Ausgabe verwendet hat (vgl. Florus, Gestorum Romanorum libri). Für den Umgang mit Sueton dagegen lässt sich bisher nicht mit letzter Gewissheit feststellen, welche Ausgabe Althamer heranzog, denn die Kapitel in den Sueton-Ausgaben unterliegen offenbar bis mindestens 1529 keiner Zählung (exemplarisch sei verwiesen auf Sueton, De vita Caesarum [1520]). Welcher Ausgabe Althamer in der Kapitelangabe folgt, die er am Ende des Lemmas vornimmt, lässt sich somit nicht feststellen. Die antiken und nicht-antiken Belegstellen für die Varusschlacht fasst er dort noch einmal zusammen: De hac pugna scribit Suetonius in uita Augusti ca. 23. Orosius l. 6 ca. ultimo, Florus in 4, Velleius paterculus li. 2. Volater lib. 38 Paralippomenorum, Heinricus Bebelius in Epitomate laudum Sueuorum (Althamer, Scholia, Mv). Althamer unterscheidet sich von anderen humanistischen Bearbeitern der Varusschlacht offenbar vor allem im Umgang mit den antiken Quellen (Fragmentierung, Kombinierung) sowie in der Benennung der Autoren und Belegstellen. Beispielsweise greifen Wimpfeling und Cochlaeus in ihren Ausführungen zur Varusschlacht allein auf Sueton zurück, geben ihn aber nicht als Quelle an und profilieren ihn folglich auch nicht als Autorität, um daraus einen Wahrheitsanspruch abzuleiten (vgl. Wimpfeling, Epitome, cap. VII, Fol. Vv; und Cochlaeus, Descriptio, I, 6, S. 44 und 46). Allein an einer Stelle führt Cochlaeus Tacitus als evidens testis ein und zitiert die entsprechende Germania-Passage (Germ. 37), die bei Althamer erst die Auseinandersetzung mit der Varusschlacht einleitet (vgl. Cochlaeus, Descriptio, I, 8, S. 46 und 48). Konrad Peutinger (1465–1547) dagegen verweist in seinen Sermones convivales für die Varusschlacht ausschließlich auf Florus, den er auch ausgiebig zitiert (vgl. Peutinger, Sermones, c [i]v–c ijr). Böcking weist im Übrigen darauf hin, dass Peutinger darüber hinaus auch aus Otto von Freising und Konrad Celtis zitiert (vgl. dazu Hutten, Panegyrikus, 377 f., Anm. 757). Althamer, Scholia, Mr–v: Hanc cladem apud Cheruscos editam asserit Strabo li. 7 & Cornelius tacitus li. 1 histo. Augustae. Teutoburgensem saltum uocat, in quo Varus cum legionibus a Germanis fuit interfectus. Alii tamen ex recentioribus apud Vindelicorum Augustam, ubi adhuc uestigia apparent commißam caedem in campo Lici (im Lechfeld) affirmant, cuius sententiae sunt Ottho Frisingenus li. 3. ca. 4., Chronica Vrspergensis. Ioannes Nauclerus, et Chunradus Peuttinger, Henricus Bebelius, Picus in staurostycho, & Huttenus in Panegyrico […]. – »Strabo bekräftigt im siebenten Buch, dass diese Schlacht bei den Cheruskern stattgefunden habe,

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der beiden Varianten explizit Stellung, sondern sieht sich offenbar lediglich mit der Aufgabe konfrontiert, sie anzuführen und mit den entsprechenden Autoren zu belegen. Dennoch ist es möglich, Althamers Kommentierung auch als Positionierung zugunsten der nicht-antiken Autoren zu lesen, da er auf sie erst als zweites verweist und ihnen mehr Platz einräumt. Darüber hinaus zitiert er fünf Verse aus Ulrich von Huttens (1488–1523) Panegyricus zur Thematik der Varusschlacht, von denen der letzte ebenfalls das Lechfeld als Ort der Schlacht ausweist. 51 Der Inhalt dieses letzten Verses wird von Althamer durch zwei angeblich überlieferte Distichen, die er als bekannt angibt, bestätigt: Aiunt inde turrim in publico foro urbis Augustae, a perdita Legione uocita tam, Perlachthurn, de qua sunt uersus diuulgati sequentes, ›Cur me Perlegiam dicant si forte requiris, Iam tibi repsonsum perbreue siste dabo, Non unum uerbum est, duo sed mea nomina sunto, Quod perijt legio hic, Perlegiam uocitant.‹ 52

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und Cornelius Tacitus benennt in seinem ersten Buch seiner Geschichtswerk zu Augustus den Teutoburger Wald, in dem Varus mit seinen Legionen von den Germanen getötet wurde. Dennoch bekräftigen andere von den neueren Schriftstellern, dass das Morden bei Augsburg auf dem Lechfeld, wo noch heute Spuren sichtbar sind, begangen wurde; dieser Meinung sind Otto von Freising im dritten Buch Kapitel 4, das Chronicon Urspergensis, Johannes Naukler, Konrad Peutinger, Heinrich Bebel, Pico [della Mirandola] in seinem Staurostichon sowie Hutten in seinem Panegyrikus […].« Die Verifizierung und genaue Auflistung der hier herausgestellten Autoren und Belegstellen kann und soll hier nicht geleistet werden. Vgl. ebd. sowie Ulrich von Hutten, Panegyrikus, 378, V. 767: »Signa canunt campoque Lyci concurritur armis.« (Hervorhebung R. K.) – »Sie geben das Signal und auf dem Lechfeld läuft man unter Waffen zusammen.« Von Hutten stützt sich in seiner Bearbeitung der Varusschlacht auf Peutinger (vgl. ebd., 377 f., Anm. 757). Althamer, Scholia, Mv: »Man sagt daher, dass der Turm auf dem öffentlichen Platz der Stadt Augsburg nach einer vernichteten Legion benannt worden ist, der Perlachthurn, über den folgende Verse bekannt sind: ›Wenn du zufällig zu wissen verlangst, warum man mich ›Perlegia‹ nennt, / so bleibe stehen, ich will dir eine ganz kurze Antwort geben, / Nicht ein einziges Wort ist es, sondern meine Bezeichnungen sind zwei, / weil eine Legion hier zu Grunde ging [periit legio –> per-legia], pflegt man mich Perlegia zu nennen.‹« Darüber, woher Althamer diese Verse hat bzw. ob er möglicherweise sogar selbst als Schöpfer dieser Verse anzusehen ist, lässt sich nur schwer Sicheres sagen; zumindest scheint er aber der einzige zu sein, der sie in dieser Form überliefert. Otto von Freising scheint einer der ersten zu sein, der diese Etymologie überliefert und prägnant formuliert (vgl. Otto von Freising, Chronica sive historia de duabus civitatibus, lib. III, cap. 3, 140: […] in vulgari Perleich, eo quod legio ibi perierit; Böcking gibt statt dem dritten fälschlicherweise das vierte Kapitel der Chronica Ottos an). Eine weitere mögliche direkte Vorlage stellt Konrad Peutinger dar, der im Anschluss an seinen Bericht über die Varusschlacht (vgl. Peutinger, Sermones, c [i]v–c ijr) ähnliche Verse überliefert, sie allerdings nicht auf den Turm, sondern auf das Schlachtfeld selbst zu beziehen scheint. Die Etymologie freilich wird davon nicht beeinträchtigt: Vgl. Peutinger, Sermones, c ijr: […] tunc ea Vari Clade sive Titi Ennij praetoris / legione etiam Marcia amissa / Civitas nostra plurimum nobilitata / forum publicum apud nos Perlauem / a perdita legione cognominant: vbi aliquando inscriptum fuit. Indicat hic collis Romanam nomine cladem Martia quoque legio simul perijt. (Hervorh.: R. K.) Während für Peutinger kein zeitgenössischer Druck der Chronica Otto von Freisings verzeichnet ist, wird Althamer wohl die Straßburger Ausgabe von 1515 verwendet haben.

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Die Verse illustrieren nicht nur das Hutten-Zitat und die übrigen nicht-antiken Autoren, die Althamer für die Lokalisierung der Varusschlacht in der Umgebung von Augsburg heranzieht, sie verleihen der historiographisch-literarischen Diskussion über die Frage der Verortung eine lebensweltliche Faktizität, indem auf ein real existierendes Monument, den Perlachturm, hingewiesen und sein Name etymologisch mit der Schlacht verknüpft wird. Althamer führt damit nicht mehr nur eine weitere Quelle zur Verortung der Varusschlacht an, sondern verifiziert auch die bisher angeführten Autoren, von denen Augsburg präferiert wird, mit dem Hinweis auf die Existenz eines Monuments, das die Erinnerung an die für die Germanen erfolgreiche Varusschlacht in seinem eigenen Namen noch immer trägt. Archäologisches und etymologisches Wissen über die eigene Erfahrungswelt und Quellenkritik werden hier also zusammengeführt und bestätigen sich gegenseitig. Die eigentliche Substanz des Turms spielt für die Argumentation allerdings keine entscheidende Rolle, sondern in erster Linie das Wissen um dessen namentliche Rückführung auf seine lateinischen Wurzeln. Die Möglichkeit zur Autopsie des Turms ist also nur insofern relevant, als sie die tatsächliche Existenz des Namens belegt. Es zeigt sich deutlich, dass es in der Etymologie der Bezeichnung im Grunde nicht um den materiellen Bestand des Turms geht, sondern um Formen von ›Perlach‹ oder ›Lech‹, die die Bedeutung von perijt legio konservieren. Dass die Bezeichnung ›Perlach‹ sich ausgerechnet davon herleiten soll, weist noch einmal ausdrücklich auf die Niederlage der Römer in diesem Gebiet hin, die damit als dauerhaft fixiert vorliegt. Der Augsburger Turm avanciert durch seinen Namen zum noch immer präsenten und erfahrbaren Monument germanischdeutscher Überlegenheit über die Römer. Insofern scheint die Anspielung auf den Perlachturm in erster Linie darauf abzuzielen, die Diskussion um die Verortung der Schlacht in ihren Deutungsmöglichkeiten zu Gunsten der nicht-antiken Autoren einzuschränken und der Schlacht einen festen, topographisch lokalisierbaren Platz innerhalb der eigenen Erfahrungswelt sowie im nationalen Bewusstsein zuzuschreiben.

IV. Althamer zeichnet in seinen Scholia ein sehr facettenreiches Geschichtsbild von der Ur- und Frühgeschichte der ›antiken‹ Germanen, die er als Nation begreift. Dieses Geschichtsbild konstruiert er mithilfe unterschiedlicher Diskurse, die mal mehr oder weniger eng an den Referenztext, die Germania des Tacitus, gebunden sind. Dabei thematisiert er ganz unterschiedliche Aspekte, die argumentativ nicht darauf angelegt zu sein scheinen, nahtlos ineinander zu greifen. Auf diese Weise ist es Althamer möglich, ein breites Themenspektrum zu bedienen, ohne auf eine konzeptionelle Geschlossenheit abzuzielen. Die Germania des Tacitus als Referenztext bietet bestimmte thematische oder semantische Anschlussstellen, die im Kommentartext durch Lemmata historiographisch aufgeladen und auserzählt werden können. Die

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textgenerischen Spezifika des Kommentars bieten Althamer als historiographisch interessiertem Kommentator bestimmte, zur Historiographie komplementäre Deutungsräume, in welchem er bestimmte Freiheiten für die Ausgestaltung seines Geschichtsbildes hat. Die Darstellung der Varusschlacht in seinen Scholia ist quantitativ eher gering, inhaltlich dagegen sehr komprimiert und zeigt deutliche Positionierungsstrategien an: Es geht Althamer offenbar um eine narrative Momentaufnahme vom Sieg der Germanen als Nation gegen die Römer und das Imperium Romanum. Die Zitate fungieren als Bausteine einer größeren Sinnkonstitution, die durch ein von Althamer breit angelegtes semantisches Netz, durch das die Rollen der an der Schlacht teilnehmenden Akteure klar verteilt werden, bereits von Anfang an brennglasartig konfiguriert wird. Im Umgang mit den antiken Zitaten zeigt sich Althamer sehr frei, da er ihre ursprünglichen Kontexte ignoriert und sie in eine von ihm gewählte Anordnung bringt. Er eignet sich die antiken Narrative an, indem er sie versatzstückartig kombiniert, zueinander in Relation setzt und sinnkonstitutiv einbettet: erst durch Selektion und Rekombination der Zitate erzeugt er eine eigene Narrativierung des geschichtlichen Ereignisses und eine sinnverdichtende Dynamik, welche die Aussage des von Althamer formulierten Eingangssatzes zu diesem Lemma 53 bestätigt. Die Geschichtserzählung wird formal über Zitat-Kombinationen und inhaltlich über die Reinterpretation sowie Resemantisierung der antiken Referenztexte gewährleistet, deren Autoren als Autoritäten kenntlich und geltend gemacht werden. Durch die Perspektive, die sich aus der Zitatanordnung für die Erzählung ergibt, sowie über die Semantik wird die Wahrnehmung des Rezipienten grundsätzlich bestimmt. Insofern verfolgt die Erzählung selbst also weder einen Spannungsaufbau, noch ist im Laufe der Erzählung ein sukzessiver Erkenntnisgewinn für den Leser zu erwarten bzw. wohl beabsichtigt, nicht zuletzt deshalb, weil die Varusschlacht als bekannt vorausgesetzt werden kann. Das narrative Modell scheint darauf angelegt, die beim Leser durch den Eingangssatz geweckte und die durch die Marginalien bestätigte Erwartungshaltung durch eine pointierte Nacherzählung zu erfüllen oder aber das bereits bestehende Wissen um den Ausgang der Schlacht aus germanischer Perspektive zu inszenieren. Dafür spricht auch, dass die gesamte Schlacht nicht auf ein regionales Scharmützel zwischen germanischen Stämmen und Varus reduziert, sondern in einen nationalen Horizont eingebettet wird: als Schlacht zwischen den Germanen als Nation und Varus als Stellvertreter des Imperium Romanum. Zu diesem historiographischen Abschnitt tritt ein argumentativer hinzu, der mit der in ihm behandelten Frage über die Verortung der clades Variana einen deutlichen Gegenwartsbezug aufweist. Die Auseinandersetzung mit der Lokalisierung der Schlacht rundet das Lemma zugleich ab und stützt den Anspruch auf die historische Faktizität, die diesem Ereignis beigemessen wird. Die Gegenwart wird zum noch immer präsenten Erinnerungsort der Antike stilisiert und bestätigt den nationalen Sieg der Germanen über die Römer und damit die kommentierte Passage aus der Germania des Tacitus. Althamers Anmerkungen zur Verortung der Schlacht und _____________ 53

Vgl. Anm. 28.

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seine Tendenz zu den nicht-antiken Schriftstellern, die das Lechfeld bei Augsburg favorisieren, führen archäologisches Wissen, das seinerseits Produkt einer Transformation der Antike ist, über die es Zeugnis ablegen soll, und schriftliche Überlieferung antiker Texte zusammen, so dass sie sich in Bezug auf ihre historische Kernaussage – den Sieg der Germanen über die Römer – gegenseitig bestätigen; allein in der Verortung weichen sie voneinander ab: dahingehend wird die Antike auf Grund schlagender etymologischer Beweise, die sich aus der eigenen Erfahrungswelt ableiten lassen und in ihr zugleich in Form entsprechender Monumente bestätigt sind, korrigiert. Die implizit in Aussicht gestellte Möglichkeit zur Wahrnehmung dieses Sieges anhand eines derartigen Monuments entfaltet erst über die etymologische Rückführung der Bezeichnung des Turms ihre Geltungskraft und bestätigt so die in den entsprechenden antiken Texten enthaltenen Wissensbestände zur Varusschlacht: Dem Anspruch nach wird die eigene Erfahrungswelt damit zur erfahrbaren Manifestationen der eigenen Geschichte. Im Spannungsfeld von Referenztext und Kommentar wird die Narrativität transgenerisch erzeugt und durch die vom Referenztext vermittelten Inhalte sowie durch die für die Kommentierung zusätzlich herangezogenen Autoren sinnkonstitutiv instrumentalisiert: das im Referenztext transportierte Antikewissen wird im Kommentar verhandelt, bestätigt und dadurch stabilisiert. Dabei zeigt sich auch ein Hang zur Amplifikation: Während Tacitus von der Varusschlacht denkbar knapp berichtet, sieht Althamer sein vornehmliches Ziel offenbar gerade darin, die von Tacitus in seiner Germania vermittelten Inhalte sowohl qualitativ als auch quantitativ auszugestalten. Hinsichtlich des im Widmungsbrief formulierten Postulats, die taciteische Germania für die historiographische Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit produktiv in Beschlag zu nehmen, zeigt sich, dass der kommentierte Text durch den Kommentar insbesondere in seiner Gültigkeit bestätigt werden soll. Dadurch werden die in der Germania transportierten Inhalte retrospektiv fixiert, so dass sie als historisches Zeugnis immer wieder abgerufen werden können. In der durch die Kombination der Zitate erzeugten historiographischen Narration deutet Althamer die von ihm in Anspruch genommenen antiken Geschichtsschreiber Florus und Sueton im eigenen Sinne um und lässt sie als antike Autoritäten die historische Faktizität der Varusschlacht bestätigen: Transformationstheoretisch handelt es sich um einen produktiven Akt der Aneignung, eine Form der identifizierenden Appropriation. Die durch die selektive Aneignung erzeugte Narrativität ist hierbei der wesentliche Transformationsfaktor, durch dessen Gerüst die textuell verhandelten und appropriierten Inhalte erst ihre Geltungskraft bekommen. Die Allelopoiese als produktive Wechselseitigkeit zwischen Referenz- und Aufnahmebereich äußert sich in dem hier skizzierten Fallbeispiel insbesondere darin, dass die germanischen Sieger über Varus als nationale Gemeinschaft konstituiert werden, und so ein nationaler Kontinuitätsgedanke implizit formuliert wird. Eine unmittelbare Rückwirkung von der konstruierten Antike auf die eigene Gegenwart findet sich auch in der Lokalisierung der Schlacht: Der eigene Aufnahmebereich ist wesentlicher Bestandteil der konstruierten, nationalen antiquitas, weil er als ihr Erbe begriffen wird.

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Die Transformation der Antike dient hier der partiellen Konstruktion eines nationalen Geschichtsbildes, welches sich durch den Anspruch auf Tradition, Kontinuität sowie auf eine nationale Gemeinschaft auszeichnet. Es zielt auf die Profilierung und Bestätigung eines nationalen Selbstverständnisses in ostentativer Abgrenzung zu Rom ab und flankiert auf diese Weise auch reformatorische Tendenzen und Aspekte, die in den Scholia mal mehr, mal weniger deutlich zu Tage treten. Althamer erfüllt damit in seinem Kommentar zur Germania des Tacitus das von ihm selbst in seinem Widmungsbrief formulierte Desiderat einer Beschäftigung mit der Germania als produktivem Beitrag zur Historiographie der eigenen antiquitas und kompensiert damit auch das diagnostizierte historiographische Defizit.

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Eine späthumanistische Konfessionalisierung der Antike. Die Griechen in der protestantischen historia universalis ASAPH BEN-TOV

Vorspiel. Ein lutherischer Professor liest Homer Keiner kann Geschichten erzählen wie Homer und kein fiktiver Erzähler kann es besser als Odysseus. Im Laufe seiner Irrfahrten nach der Verwüstung Ilions erreicht Odysseus das Reich der Phaiaken, wo er seinen Gastgebern von seinen Abenteuern erzählt, darunter, im elften Buch der Odyssee, von seiner Reise ins Reich der Toten. Dieses Bild vom Hades, wo auch den tapfersten Helden der Ilias eine blutlos blasse Existenz als flüchtiger Schatten erwartet, muss auf Generationen homerischer Zuhörer wenigstens düster, wenn nicht schauderhaft gewirkt haben. Nicht einmal der mächtige Agamemnon und der fast göttliche Achilleus werden von diesem posthumen Schicksal verschont. Fast am Ende seines Aufenthaltes in der Unterwelt begegnet Odysseus eine kerngesunde Ausnahme (hier in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß): [...] erblickt’ ich die hohe Kraft Herakles, Sein Gebild; denn er selber, im Kreis der unsterblichen Götter, Freut sich der festlichen Wonn’, und umarmt die blühende Hebe, Tochter des mächtigen Zeus und der goldgeschuheten Here. Diesen umscholl von Todten Geräusch rings, wie von Gevögel, Wild durch einander gescheucht; er selbst, der düsteren Macht gleich, Stand, den Bogen entblößt, und hielt den Pfeil auf der Senne, Schrecklichen Blicks umschauend, dem stets Abschnellenden ähnlich. [...] Jener erkannte mich gleich, sobald sein Auge mich wahrnahm; Und mit jammerndem Laut die geflügelten Worte begann er: [...] 1

Der Gegensatz zu den anderen posthumen Erscheinungen könnte kaum krasser sein. Herakles – oder besser gesagt: sein Erscheinungsbild, denn er selbst wandelt droben im göttlichen Bereich –, steht in prachtvoller Rüstung und trägt eine ehrfurchtgebietende Miene. Als der verstorbene und vergöttlichte Held Odysseus erkennt, bedauert er höflich das harte Schicksal des Odysseus und erzählt ihm von _____________ 1

Odyssee, xi. 601–616.

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seinem eigenen Los bevor er zur olympischen Wonne gelangt ist – vielleicht ist es als Trost für Odysseus gemeint, der auf seinem Weg nach Ithaka noch lange umherirren muss. Am 16. Juli 1600, mehr als dreiundzwanzig Jahrhunderte nach der Entstehung des homerischen Epos, liest Martin Crusius (1526–1607), ein betagter Tübinger Professor der Gräzistik, diese Stelle in der Odyssee mit seinen Studenten und berichtet darüber in seinem Tagebuch. 2 Die imposante Erscheinung des Herakles erinnert den lutherischen Gelehrten an keinen anderen als Martin Luther und bringt ihn dazu, seine Studenten dazu anzuhalten, Johann Sleidans (1506–1556) Reformationsgeschichte zu lesen. 3 Dort könnten sie laut Crusius lernen, wie ein geringer Anlass wie Tetzels Ablassverkauf den schüchternen Luther zur Reformation bewegte, was als Wunder zu verstehen sei. Die Anmerkung im Tagebuch beendet Crusius mit dem Jubel: »Hui Katz, hui Pfaff. Veritas erupit. Des Gott gelobt sei in ewigkeit. Amen.« Die Identifizierung Luthers als eines Hercules Germanicus war im Jahr 1600 nichts Neues und ist heutzutage vor allem durch einen Holzschnitt von Hans Holbein d. J. (ca. 1520) mit demselben Titel bekannt. Diese Nebenbemerkung eines frommen lutherischen Professors während einer Homer-Vorlesung in Tübingen mag deshalb als eine bloße Anekdote erscheinen. Um ihrer Bedeutung gerecht zu werden, muss Crusius’ Bemerkung in ihrem Kontext betrachtet und bewertet werden – eine Bewertung, die, wie ich hier argumentieren werde, in einer konfessionalisierten Narration des 16. Jahrhunderts ihren Sinn und ihre Bedeutung findet. Bevor wir den breiteren Zusammenhang betrachten, wird sich eine kurze Darstellung des unmittelbaren Crusius-Homer Zusammenhangs lohnen. Crusius’ Exemplar der Ilias und der Odyssee, das er sechzig Jahre benutzte und aus dem er seine Homer-Vorlesungen in Tübingen hielt, ist erhalten. Die Seiten des Buches sind mit unzähligen Randbemerkungen von Crusius’ eigener Hand versehen. 4 Viele von ihnen verraten eine Beschäftigung mit Homer und mit der Antike, die einem modernen Leser etwas seltsam vorkommen mag. Zum Beispiel ließ der Drucker zwischen der Ilias und der Odyssee eine Seite leer, die Crusius mit drei längeren Notizen ausfüllte: Ganz oben eine Zusammenfassung des vermeintlichen Augenzeugenberichts eines phrygischen Bundesgenossen der Trojaner namens Dares Phrygius, der eine ›entzauberte‹ Version der Zerstörung Ilions darstellt. Ganz unten auf derselben Seite _____________ 2

3 4

Crusius, Diarium III, 126: »In lectione mea Odyss. XI. Graeca, occasione Herculis (.in fine fere libri.) gravissime hortatus sum multos Auditores meos: ut legant Sleidanum, de Relig. Et Repub. Quomodo ex paruis initiis (Tetzelianis.) Lutherus, quanquam timidus, postea magis magisque coortus, tantam stragem dedit Papatui, etc. Illum plurimum profecisse qui quam maxime Papatum oderit. Legendum esse Lutherum 1. Vermanung an seine lieben Teutschen 2. Das das Bapstumb vomm Teufel gestifft. Hanc Lutheri (.qui libenter tacuisset initio: sed irritatus semper a Papistis fuit.) magis magisque increscentis, Religionis reformationem, esse maximum (.iam inde a 15 seculis.) Miraculum. Hui Katz, hui Pfaff. Veritas erupit. Des Gott gelobt sei in ewigkeit. Amen.« Johannes Sleidan, De statu religionis et rei publicae Carolo V. Caesare commentarii. Homer, Opus utrumque Homeri Iliados et Odysseae (Basel 1541). Das annotierte Exemplar befindet sich in der Universitätsbibliothek Princeton. Ich habe einen Mikrofilm dieses Exemplars in der Universitätsbibliothek Tübingen benutzt. Für eine allgemeine Betrachtung dieser Quelle siehe: Grafton (2002/3).

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warnt Crusius seine Schüler vor einer christlich-allegorischen Interpretation Homers, der zufolge die verschiedenen Charaktere im Epos entsprechende Aspekte des christlichen Glaubens symbolisieren sollten: »Talia Paptus monstra genuit!« – Solche Monstrositäten hat das Papsttum erdichtet! In der Mitte derselben Seite zitiert Crusius einen Brief, den ein osmanischer Machthaber, Morbisanus der Große, an Papst Pius II. geschickt haben soll, die sogenannte Epistula Morbisani. In diesem Brief wundert sich Morbisanus über den abendländischen Hass gegen die Türken. Die Eroberung Konstantinopels 1453, fährt der imaginäre Osmane fort, sei eine vollkommen legitime Rache gewesen. Die Griechen hätten Troja zweieinhalb Jahrtausende vorher verwüstet, und jetzt hätten sich die Türken, die späte Nachkommenschaft der Trojaner, gerächt. Dass dieser Brief angeblich an Pius II. (Enea Silvio Piccolomini) geschrieben worden sei, also an einen der prominentesten Befürworter eines Kreuzzuges gegen die Osmanen, ist eine schöpferische, wenn auch skurrile Fiktion, da Pius II. in seinen Schriften die antikisierende Ableitung der Herkunft der Türken (Turci) von den Trojaner (Teucri), als wissenschaftlich fragwürdig und als ein Hindernis des erwünschten Kreuzzugs gegen die Osmanen abgelehnt hatte. Den Morbisanus-Brief als einen Brief an den gelehrten Papst des 15. Jahrhunderts auszugeben, stellt an sich schon eine gewisse Respektlosigkeit dar. Eine solche Ahnentafel für die Türken hat allerdings zu Crusius’ Zeit schon an Respektabilität verloren. 5 Diese Erwähnung von Konstantinopel ist jedoch kein vereinzeltes Auftauchen byzantinischer Anliegen in Crusius’ Randbemerkungen zu Homer. Unter vielen Beispielen kann man z. B. die Titelseite der Odyssee zitieren, auf der Crusius eine Ähnlichkeit zwischen dem Schicksal der treuen Penelope und demjenigen der Witwe des hingerichteten byzantinischen Feldherrn Alexios Vranas am Ende des 12. Jahrhunderts konstatiert – und zwar durch einen Hinweis auf eine Stelle in der Geschichte des byzantinischen Historikers Niketas Choniates in der editio princeps von Hieronymus Wolf aus dem Jahre 1557. 6 Ob Crusius, der Piccolomini in seinem HomerExemplar zitiert, den Morbisanus-Brief ernst nimmt oder spielerisch als Kuriosität zitiert, ist nicht klar. Das Wichtige hier ist m. E. aber nicht, wie weit Dares Phrygius und Morbisanus für Crusius glaubwürdig waren, sondern eher die Tatsache, dass eine anti-katholische Invektive, der Brief eines imaginären Osmanen über den Fall Konstantinopels, der Augenzeugenbericht eines phrygischen Adeligen, der bei Homer erwähnt wird, und schließlich ein Hinweis auf das Schicksal einer byzantinischen Frau aus einer gerade edierten byzantinischen Geschichte zur späthumanistischen Homer-Lektüre gehörten und keinesfalls vereinzelten Kuriositäten sind. Sie mögen in modernen Geschichten der klassischen Philologie keinen Platz haben, verraten aber breitere Entwicklungen im späthumanistischen und hier durchaus auch konfessionalisierten Antikenbild. Martin Crusius war Zeuge dieser späthumanistischen Entwicklungen und trug zu einigen von ihnen bei. Wie in diesem Aufsatz gezeigt werden wird, sind diese Entwicklungen in einen uralten, aber im Laufe des 16. Jahr_____________ 5 6

Meserve (2008), 22–64. Über den Brief des Morbisanus vgl. ebd. 34–47. »Plures iniurias a tyrannis suis passum Imperium Graecum (sicut nobilissima matrona, a turpibus amatoribus) quam Penelope a procis. Niceta Choniata, 248.« Siehe Anm. 4.

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hunderts neu verstandenen Erzählmodus eingebettet – dem konfessionell neu modellierten Erzählmodus der Universalgeschichte. Im Folgenden werden anhand von Themen aus der griechischen Antike einige Grundzüge dieses konfessionellen Erzählmodus skizziert. Eine erschöpfende Untersuchung kann hier natürlich nicht angeboten werden. Stattdessen werden durch ausgewählte Fälle einige Grundzüge dieser konfessionellen Transformation antiker Erzählungen und ihrer Einbettung in einen neuen protestantischen Kontext in Betracht gezogen. Zunächst wird die lutherische Universalgeschichte des 16. Jahrhunderts in Kürze dargestellt, nicht nur als historiographische Gattung, sondern als geistiger Rahmen, in dem viele Kulturgüter der Antike kontextualisiert und bewertet wurden. Danach folgen, konkreter, die Griechen in der Universalgeschichte Philipp Melanchthons und einiger seiner Schüler sowie die melanchthonische Bewertung des kulturellen Erbes der Griechen durch das Prisma von lex und evangelium. Der Fall der Sibyllen und der 1543 zum ersten Mal gedruckten sibyllinischen Weissagungen bieten einen aufschlussreichen Fall für die möglichen (und häufig ambivalenten) Folgerungen dieses Prisma im 16. Jahrhundert. In den Schlussbemerkungen und in weiteren Randbemerkungen Crusius’ zum homerischen Epos werden einige historische Konsequenzen dieser konfessionellen Transformation der Antike angedeutet.

historia universalis Die universalhistorische Auffassung im Abendland hat ihre Wurzeln im griechischen Denken über allumgreifende Vorgänge der Menschheit und den Aufstieg und Niedergang der Weltreiche. 7 Ein bekanntes Beispiel bieten die metallischen Zeitalter der Menschheit in Hesiods Werke und Tage, die eine abgestufte Veränderung oder Degeneration des Menschengeschlechts darstellen. 8 Das Schema der vier Weltreiche im Buch Daniel, 9 das später für das christliche Verständnis der Weltgeschichte von zentraler Bedeutung war, ist eine jüdische Entwicklung dieses griechischen Gedankenguts aus dem hellenistischen Zeitalter. Das jüdische, wie auch später das christliche universalhistorische Schema fügte dem griechischen Modell ein entscheidendes Element bei: ein Ende der Geschichte. In ihren mittelalterlichen sowie frühneuzeitlichen Varianten stellt die christliche Universalgeschichte ein riesiges, jedoch geschlossenes Ganzes dar. Die Universalgeschichte hat mit der Schöpfung einen Anfang und ein definitives Ende, den bevorstehenden Jüngsten Tag. Unterschiedlich wie die Ereignisse und Protagonisten erscheinen mögen, bilden sie – wenn auch meistens unbewusst – Teile eines geschlossenen Systems, dessen Entfaltung und eventuelles Ende die Vervollkommnung des göttlichen Willens manifestieren. Das grundsätzliche Modell der christlichen Universalgeschichte vollzieht eine allumfassende Integra_____________ 7

8 9

Dazu siehe z. B. Momigliano (1987), wo Momigliano die griechische universalhistorische Auffassung als Quelle für Daniels Vier-Weltreiche-Schema postuliert. Vgl. auch Momigliano (1994). Hesiod, Werke und Tage, 109–173. Daniel 2. 31–45; 7. 2–27.

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tion der vielfältigen Elemente der heiligen und profanen Vergangenheit in ein kohärentes Ganzes, dessen Kern die christliche Offenbarung bildet. Diese Art, die (Welt)Geschichte zu erzählen, florierte unter protestantischen Gelehrten des 16. Jahrhunderts. 10 Arno Seifert hat die protestantische Universalgeschichte als eine Art Geschichtsschreibung definiert, die nicht durch einen bestimmten Inhalt, sondern durch einen revelatorischen Erzählmodus bestimmt sei, dessen schematischen und narrativen Schwerpunkt die Heilige Schrift bilde. Dieser protestantische Erzählmodus sei im Laufe der Frühen Neuzeit zunehmend in Frage gestellt worden, dies vor allem durch die Ausgrenzung der frühesten Geschichte der Menschheit im Buch Mose zugunsten von Theorien des Naturzustandes und durch die sich verbreitende präteristische Ablehnung der Relevanz biblischer Prophezeiungen, insbesondere Daniels vier Weltreiche, für die Zukunft. Die Universalgeschichte wurde allmählich durch eine Reihe von historiae particulares ersetzt. 11 Die narrative Transformation der Antike, die hier betrachtet wird, betrifft die Entstehung und Blüte dieser historiographischen Tradition unter lutherischen Gelehrten des 16. Jahrhunderts. Darüber hinaus möchte ich betonen, dass es sich bei der Universalgeschichte nicht nur um eine historiographische Gattung, sondern um eine christlichhumanistische Weltanschauung handelt, deren Merkmale auch außerhalb der Historiographie stricto sensu zu finden sind. Des Weiteren reicht eine Betrachtung von Beschreibungen der griechischen Geschichte aus dem 16. Jahrhundert nicht aus, um die Transformation der griechischen Antike in diesem universalhistorischen narrativen Zusammenhang gerecht zu werden. Weil die Weltgeschichte als Ganzes begriffen wurde, muss man auch die griechische Antike in der Universalgeschichte erörtern. Anders gesagt, die Transformation der Antike, in dieser Fallstudie die Transformation der griechischen Antike, ist mit ihrer Rolle innerhalb der Universalgeschichte verbunden.

Die Griechen in der Melanchthonischen Universalgeschichte Einen lehrreichen Ansatzpunkt für diese Erörterung bietet die wohl bekannteste lutherische Universalgeschichte des 16. Jahrhunderts, das Chronicon Carionis Philipp Melanchthons (1497–1560). Die Entstehungsgeschichte dieses Werkes spannt über fast drei Jahrzehnte und kann hier nicht ausführlich behandelt werden. Kurz gefasst hat es seinen Ursprung in einem kurzen Werk des Mathematikers und Brandenburger Hof-Astrologen Johann Nägelis (Carion; 1499–1537), 12 der 1532 Melanchthon, seinem ehemaligen Heidelberger Kommilitonen, die Handschrift einer von ihm verfassten Weltchronik schickte. Diese wurde von Melanchthon bearbeitet und im _____________ 10 11 12

Eine kurze und aufschlussreiche Betrachtung der protestantischen Universalhistorie der Frühen Neuzeit bietet Völkel (2001); vgl. auch Dann (2001). Vgl. Seifert (1986), Seifert (1990) und Völkel (2001). Zu Nägelin (Carion) vgl. Benning (2000).

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selben Jahr unter Carions Namen veröffentlicht. 13 Weil Carions Handschrift nicht erhalten ist, wissen wir nicht, wie weitgehend Melanchthons Bearbeitung des Originals war. Eine vom Lübecker Superintendenten Hermann Bonnus (1504–1548) verfasste lateinische Übersetzung dieser Chronik wurde 1537 gedruckt und von Melanchthon für seinen Unterricht in Wittenberg benutzt. 14 Die Fassung des Chronicon Carionis, die sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einer breiten Rezeption erfreute, war die weit elaboriertere Fassung, welche Melanchthon in zwei Teilen 1558 bzw. 1560 veröffentlichte. Diese neue und erweiterte Fassung des Werkes, die Carions Namen immer noch in ihrem Titel behielt, darf als die herauskristallisierte Positionierung Melanchthons zur Universalgeschichte gelten. 15 Das in drei Bücher geteilte Werk beginnt mit der Schöpfung und endet mit der kaiserlichen Krönung Karl des Großen im Jahre 800. Nach Melanchthons Tod 1560 verfasste sein Schüler Caspar Peucer (1525–1602) eine Fortsetzung des Werkes bis zur Krönung Karls V. im Jahre 1519. 16 Dieses Werk war, neben Johann Sleidans Abhandlung über die vier Weltreiche aus Daniels Prophezeiung (1556), 17 eine grundlegende Leistung universalhistorischer Geschichtsschreibung, deren Resonanz weit über den evangelischen deutschsprachigen Raum ihrer Zeit widerhallte. Daneben sind auch deutsche Fassungen dieses Werkes erschienen, die es Lesern, die des Lateinischen nicht mächtig waren, zugänglich machten. 18 Nach einer programmatischen Einführung, die den säkularen und theologischen Nutzen von Historien aufzeigt, bietet Melanchthon einen Überblick über den chronologischen (und eschatologischen) Aufbau seines Werkes. 19 Das Auffällige daran ist seine Entscheidung, sein Werk nach zwei chronologischen Mustern zu formen. Das erste Muster, das seine Leser erwartet haben werden, ist Daniels Prophezeiung von den vier Weltreichen, der zufolge die Universalgeschichte den aufeinanderfolgenden Phasen von Entstehung, Verfall und Ersetzung der vier Weltmonarchien als Bühne dient, dem babylonischen, dem persischen, dem hellenistischen, und schließlich dem römischen Reich. Mit dem bevorstehenden Fall des Letzteren werde die Weltgeschichte ihr gottgewolltes Ende finden. Das römische Reich war für Melanchthon (wie auch für Johann Sleidan) weder mit der Entthronung des letzten weströmischen Kaisers in Rom im Jahre 476 noch mit dem Tod des letzten byzantinischen Kaisers 1453 zugrundegegangen. Das römische Reich lebte seit der kaiserlichen Krönung Karls des Großen im Heiligen Römischen Reich fort. Eine solche Interpretation der Prophezeiung Daniels konnte sich natürlich außerhalb des Reiches keines allgemeinen Beifalls erfreuen, ist aber im 16. Jahrhundert zu einem Merkmal lutherischer historischer Vorstellungen geworden. Diese schematische Einteilung der _____________

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Chronica durch Magistrum Johan Carion vleissig zusamen gezogen meniglich nützlich zu lesen (Wittenberg 1532). Bauer (2000). Melanchthon, Chronicon Carionis. Caspar Peucer, Chronicon Carionis Tertia Pars und Chronicon Carionis. Liber Quintus Chronici Carionis. Sleidan, De quatuor summis imperiis. Vgl. Pohlig (2007). Z. B. Chronica Carionis von Anfang der Welt bis off Keiser Carolum den Funfften : auffs newe in lateinischer Sprach beschrieben und mit vielen alten und newen Historien, Wittenberg 1573. Melanchthon, »De ordine libri«, in: Chronicon Carionis, 717–721.

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Weltgeschichte hatte, wie wir sehen werden, einen prägenden Einfluss auf das Verständnis der griechischen Antike. Dass Melanchthon seine Universalgeschichte nach den vier Weltreichen ordnete, war gang und gäbe, und es kann durchaus sein, dass er diese weitverbreitete Einteilung der Weltgeschichte schon in Carions Urfassung fand. Es soll hier betont werden, dass es Melanchthon wie auch Sleidan und ihren historiographischen Nachfolgern klar war, dass sie eine umstrittene Interpretation von Daniels Prophezeiung vertraten. Dies ist also keine Erzählung, die sich in geistiger Ruhe und in der Gelassenheit eines Konsenses entwickelte – ihre Entstehung hat ihren Sitz in einer Umgebung, die von ständigem Konflikt um Deutung und Autorität geprägt war. Das zweite Ordnungsprinzip des Werkes ist eine Teilung der Weltgeschichte in drei Epochen von jeweils zweitausend Jahren. Sie erscheint schon in der ersten Fassung des Werkes (1532) und wird 1531 in einem Brief Melanchthons an Johann Carion als sein eigener Beitrag erwähnt. 20 Dieses Schema der Weltgeschichte, die Traditio domus Eliae stammt aus dem babylonischen Talmud. 21 Das talmudische Dictum lautet (Sanhedrin xcvii, 1): »[Es sprach] ein Schüler der Schule Elias: Sechs tausend sind die Jahre der Welt: zweitausend Chaos, zweitausend Gesetz, und zweitausend sind die Tage des Messias. Wegen unserer vielen Sünden sind von diesen schon einige ausgelaufen.« 22 Laut Melanchthon bedeutet dieses Diktum eine Einteilung der Weltgeschichte in drei aufeinanderfolgende Epochen: Chaos (saeculum inane 23), Gesetz (lex) und Messias. Dementsprechend ist das Chronicon Carionis in drei Bücher geteilt statt in vier nach den jeweiligen Weltmonarchien. Das Interessante daran sind zwei interpretative Äußerungen. Die talmudische Quelle erwartet dem jüdischen Glauben gemäß die Ankunft des Messias, im Gegensatz zu christlichen apokalyptischen Erwartungen, die seine Rückkehr erwarten. Für die Talmudisten in der Spätantike war die Tatsache, dass der Messias noch nicht gekommen ist, obwohl nach ihrer Rechnung die dritte Periode (d. h. nach annus mundi 4000) schon vor einigen Jahrhunderten begonnen hatte, als eine strafende göttliche Verzögerung wegen der menschlichen Sündhaftigkeit zu verstehen. Für Melanchthon, der natürlich die Ankunft des Messias mit der Geburt Jesu ca. anno mundi 4000 identifiziert, bedeutet das Ende des Diktums eine Verkürzung der letzen Periode der Weltgeschichte – d. h. wegen der menschlichen Sündhaftigkeit soll die Welt ihr Ende schon vor annus mundi 6000 finden. Der interessanteste interpretative Schritt Melanchthons betrifft die erste Periode der talmudischen Weissagung − die ersten zwei Jahrtausende nach der Schöpfung, die das Hebräische als tohu bezeichnet und die lateinische Übersetzung als inane. Trotzt ihrer Unterschiede könnten sowohl die jüdische als auch die christli_____________ 20 21 22 23

Warburg (2000[1920]). Aboda Sara ix. 1 und Sanhedrin xcvii. 1. Dazu siehe z. B. Klempt (1960), 136–139, und Leppin (2005). Dieses Diktum muss Melanchthon nicht direkt aus dem Talmud kennengelernt haben. Eine mögliche vermittelnde Quelle wäre Pico della Mirandolas Heptaplus. Vgl. Grafton, (1993), 126. ‫ שני אלפים ימות המשיח ובעוונותינו‬,‫ שני אלפים תורה‬,‫ שני אלפים תוהו‬,‫ ששת אלפים שנה הוי עלמא‬:‫תנא דבי אליהו‬ .‫שרבו – יצאו מהם מה שיצאו‬ Inane ist die lateinische Übersetzung des hebräischen tohu, wie in Genesis 1. 2.

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che Interpretation der Weltgeschichte die ersten zwei Jahrtausende als verwerflich oder zumindest als fragwürdig bezeichnen. Christlich definiert, ist dieses saeculum inane die Zeitspanne nach dem Sündenfall, aber noch vor dem göttlichen Gesetz (lex) und noch weiter entfernt von der Ankunft des Seelenheils durch Christus. Für Melanchthon schließt der Begriff saeculum inane in sich kein negatives Urteil ein. Inane bedeutet hier entweder die materielle Einfachheit, die die frühe Menschheit kennzeichnete, oder die Tatsache, dass die Weltreiche noch nicht gegründet waren. Eine andere Möglichkeit, die er in Erwägung zieht, ist, dass die Kirche (d. h. die Nachkommen Adams und Evas, die von der göttlichen Verheißung über die Ankunft Christi die richtige offenbarte doctrina besaßen) noch keinen festen Sitz in einem bestimmten Volk hatte – wie es nach Abraham der Fall war. 24 Diesem an sich überraschenden Urteil folgt eine erstaunliche Ankündigung: Was auch immer die genaue Bedeutung von inane in der traditio domus Eliae sein mag, die ersten zwei Jahrtausende nach der Schöpfung waren die aetas florentissima (das blühendste Zeitalter) des Menschengeschlechtes. Die menschliche Natur (nach dem Sündenfall!) war noch nicht träge, und die Langlebigkeit jener Zeiten bedeutete, dass viele alte ur-weise Männer Gott und die Schöpfung bezeugten und neue Künste erfanden. 25 Diese Interpretation der traditio domus Eliae, wie auch die Erzählung im ersten Buch des Chronicon Carionis kontrastieren Melanchthons eigene Bewertung dieser Epoche nach dem Sündenfall in seinem früheren Kommentar zur Genesis (1523), in dem der verfallene Zustand des Menschengeschlechts nach der Erbsünde reichlich bezeugt wird. 26 Diese Bewertung der frühesten Antike wird durch eine weitere Dreiteilung der Weltgeschichte verstärkt. Die drei Perioden der talmudischen Prophezeiung entsprechen einer dreiteiligen Abstufung der Menschengeschichte nach den drei platonischen Aspekten der menschlichen Seele, die der metallischen Dekadenz Hesiods ähnlich ist: das saeculum ἡγεμονικόν, d. h. das erste Zeitalter, wird durch Weisheit und eine patriarchalische Herrschaft der Gerechtigkeit charakterisiert. Darauf folgt das mindere saeculum θυμικόν. 27 Dies ist das Zeitalter tapferer Heroen wie Achilleus und Samson. Obwohl nicht ohne martialische Exzellenz, stellt dieses zweite Zeitalter doch eine Dekadenz im Vergleich zum ersten Zeitalter dar. Die dritte Epoche, die chronologisch mit der aetas Messiae der traditio domus Eliae übereinstimmt, ist das eiserne Zeitalter des für Melanchthon gemeinsten Elements der menschlichen Verfassung, nämlich das Zeitalter der Begierde (saeculum ἐπιθυμητικόν) – ein düsteres, verfallenes Zeitalter. 28 In der ersten Epoche ursprünglicher Exzellenz liegen für Melanchthon die Wurzeln der griechischen Geschichte. _____________ 24

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Eine ähnliche Interpretation finden wir drei Jahrzehnte später in der Universalgeschichte des Melanchthon-Schülers Matthäus Dresser, Isagoge Historica, 4. Melanchthon, Chronicon Carionis, 717. Melanchthon, Commentarius in Genesin. Siehe Platon, Politeia, 439e. Eine auf dieser platonischen Terminologie basierte Einteilung der Seele befindet sich in Melanchthon, Liber de anima, 10 f. Ein Zeitalter, das chronologisch mit der Geburt Christi und der Verbreitung des Christentums übereinstimmt. Dass beide für Melanchthon grundsätzliche und unentbehrliche Ereignisse der Heilsgeschichte sind, ist selbstverständlich. Die christliche Offenbarung, als (wichtigste) historische

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Im letzten Kapitel des ersten Buches des Chronicon Carionis, d. h. am Ende der kurzen Beschreibung des saeculum inane, wendet sich Melanchthon an die Nachkommenschaft Noahs in Genesis 10, wo er, traditionsgemäß, die Entstehung aller bekannten Völker identifiziert. Die verschiedenen nördlichen Völker haben Japheth, Noahs mittleren Sohn, als Stammvater. Sein Sohn Jawan ist der Stammvater der Griechen, und dessen Söhne sind die Stammväter der verschiedenen griechischen Stämme. 29 Diese Identifizierung ist an sich nichts Neues; Melanchthon und seine Leser kannten diese Interpretation der alttestamentlichen Völkertafel u. a. von Josephus und von einer Reihe christlicher Historiker. 30 Neu allerdings ist die Tragweite dieser für das Verständnis der Griechen innerhalb der protestantischen Universalgeschichte wichtigen Identifizierung. Sie ist mit Melanchthons Verständnis von Kirche und ihrer Geschichte verbunden. Die Kirche im doktrinären, nicht im institutionellen Sinn (ecclesia invisibilis) hat ihren Anfang bei Adam und Eva und nicht bei den Aposteln. Die grundsätzliche protestantische Unterscheidung zwischen dem Bereich des Gesetzes (lex) und dem der Offenbarung (evangelium) ist ein zentraler Maßstab u. a. auch für die Interpretation der Weltgeschichte. Kurz zusammengefasst bedeutet dies in diesem historiographischen Kontext, dass es einen Unterschied zwischen zwei Arten von Wissen gibt: Auf der einen Seite stehen die kognitiven Errungenschaften, die der menschliche Verstand auch nach der Korruption durch den Sündenfall erreichen kann. Das gilt sowohl für gelehrtes Wissen über die Natur als auch für moralisches Wissen, das als objektives Wissen gilt. Auf der anderen Seite steht das Wissen von der allein heilbringenden christlichen Lehre. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden beruht auf ihren unterschiedlichen Quellen und Geltungsbereichen. Das Naturgesetz ist laut Melanchthon mit Hilfe der menschlichen Vernunft erkennbar. Diese Vernunft ist zwar nach dem Sündenfall lediglich ein korrumpierter Überrest der ursprünglichen, aber immerhin eine prächtige göttliche Gabe, die es erlaubt, durch diszipliniertes Studium wertvolle Erkenntnisse über die Natur, deren Schöpfer und die Moral zu erwerben. Dieses Wissen ist für die Entstehung und die Aufrechthaltung menschlicher Gesellschaften und politischer Gemeinwesen unentbehrlich und zudem eine Voraussetzung für eine in der Geschichte agierende Kirche und christliche Gesellschaft. 31 Zugleich betrifft dieses Wissen das Seelenheil nicht und bedarf demensprechend keines Bezugs zu der Offenbarung, um seine Entstehung zu erklären. Immer wieder betrachtet Melanchthon mit Verachtung die Versuche christlicher Apologeten, aufrichtige moralische Vorschriften bei heidnischen Autoren als Anleihen aus christlichen Quellen zu identifizieren. Ein solches Argument übersieht laut Melanchthon die grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem Bereich des Evangeliums und dem des Gesetzes. 32 _____________ 29 30 31 32

Tatsache ist eine Voraussetzung für das Seelenheil, aber keine Gewähr für eine verbesserte Profangeschichte. Melanchthon, Chronicon Carionis, 732–737. Josephus, Antiquitates, I. 6. Vgl. Kusukawa (1995). Siehe z. B. Melanchthon, Explicatio Sententiarum Theognidis, insb. 57 f.

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Adam und Eva sind für Melanchthon Christen in dem Sinn, dass sie an dem offenbarten Wissen über die künftige Erlösung durch Gottes Sohn teilhaftig waren. Dieses Wissen, das nur in der göttlichen Offenbarung seine Quelle hat, haben sie weiter an ihre Nachkommen vermittelt. Für Melanchthon teilt das offenbarte Wissen dieselbe prekäre Existenz in der Welt wie die profanen Errungenschaften des menschlichen Verstandes: Nach der Offenbarung wird es überliefert, dokumentiert und propagiert, aber, wie es häufig der Fall ist, auch korrumpiert und gerät in Vergessenheit. Noah und seine Nachkommen waren dieser offenbarten doctrina patrum teilhaftig. Dasselbe gilt auch für Japheth und seinen Sohn Jawan (oder Ion in der griechischen Variante seines Namens), den Stammvater der Griechen. Dies beweist für Melanchton auch die historiographische Überlegenheit der Heiligen Schrift gegenüber anderen antiken Quellen. Während die alten Griechen mit einer vermeintlichen Herkunft von Ion, dem Sohn Kreusas und dem Enkelkind des athenischen Königs Erechtheus (beides Figuren, deren Historizität Melanchthon akzeptiert) zufrieden waren, hätten sie sich ihrer mit Abstand früheren Herkunft erfreuen können. 33 Die Annahme eines Christentums vor Christus findet man auch bei Melanchthons Schüler Caspar Peucer, der in seiner Abhandlung über die verschiedenen Arten der Weissagung eine kurze Religionsgeschichte skizziert, in der erklärt wird, wie die verschiedenen antiken Völker die christliche Lehre, die ihnen durch Noahs Nachkommen erteilt wurde, korrumpierten – die Chaldäer durch Philosophie, die Ägypter durch Aberglaube, die Römer durch Machtgier, und die Griechen durch ein unendliches Disputieren und unersättliche Rechthaberei (Peucer bezeichnet sie als φιλόνεικοι). 34 Wie Melanchthon sieht auch Peucer in den heidnischen Religionen der Antike eine Korruption des christlichen Originals (d. h. eine Korruption der Lehre der alttestamentlichen Patriarchen). Im Gegensatz zu Melanchthon argumentiert er aber, dass etliche heidnische Zeremonien, die eine markante Affinität mit christlichen Zeremonien aufweisen, als externe Überbleibsel der ur-christlichen Religion zu verstehen seien – der doktrinäre Inhalt sei in Vergessenheit geraten und eine leere zeremonielle Schale als antiquarisches Relikt erhalten geblieben. 35 Die Sintflut fand nach Melanchthon ungefähr ein Jahrtausend vor dem trojanischen Krieg statt. Als die ersten Figuren in der Geschichte erscheinen, die Melanchthon als historische Personen beschreibt, hatten die Griechen schon ihre christliche Lehre verloren. Die Erklärung dafür ist auffallend profan. Weder die Bosheit sündhafter Menschen, noch die Machenschaften des Teufels sind dafür verantwortlich. Die christliche Wahrheit ist einfach durch die Wanderungen und Kriege jener Zeiten in Vergessenheit geraten. 36 Mit anderen Worten: Wenn Melanchthon im _____________ 33 34 35 36

Melanchthon, Chronicon Carionis, 732 f. Peucer, De divinationum generibus (2. Aufl. 1560), 108r. Ebd., 87r–88r. Ebd., 774. »Cum a diluvio Noae sint anni ad Troianum bellum circiter mille, consentaneum est, filium Noae Iaphet et eius posteros aliquandiu retinuisse doctrinam a patre traditam, quam et Sem retinuit, praesertim ante longinquas peregrinationes et bella. Occubavit autem posteritas Iavan Ioniam, ubi extincta doctrina patrum de filio Dei, tamen plus fuit literarum, disciplinae civilis, et artium, quam alibi.«

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zweiten Buch des Chronicon Carionis (das dritte und vierte Jahrtausend der traditio domus Eliae) Themen der griechischen Antike behandelt, gehören die Errungenschaften dieser Kultur trotz ihrer noachitischen Herkunft zum Bereich des Gesetzes. Ein auffallendes Merkmal dieser Universalgeschichte ist im Vergleich zu früheren universalhistorischen Chroniken, die u. a. griechische Themen behandelten (wie z. B. Schedels Liber Chronicarum/Weltchronik), die Konzeption der res graecae als eines historischen Themas, das eine eigene Behandlung rechtfertigt. Im zweiten Buch findet sich nach einem Bericht über die Gründung des babylonischen Reiches, der Geschichte Israels und der Zerstörung Sodoms die erste (relativ) eingehende Behandlung der Griechen unter dem Titel »Von der alten Lehre der Ionen, der Attiker und ihrer Nachbarn. Von den Sibyllen, Atlas, Orion, Linos, Orpheus, Musaeos, Homer und Hesiod«. 37 Dass die griechische Geschichte im Chronicon Carionis ihr Debüt mit diesem unwahrscheinlichen Katalog von (mit der Ausnahme Homers und Hesiods) phantastischen Figuren macht, ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Zuerst bietet das kurze Kapitel ein typisches Beispiel für Melanchthons Herangehensweise mit den frühsten außerbiblischen (Pseudo-)Ereignissen und Personen der mythologischen Antike. In der Regel versucht er, sie in seine Geschichte zu integrieren. Dass ein Gelehrter im 16. Jahrhundert den trojanischen Krieg ernst nahm, ist an sich keine Besonderheit. 38 Das Bedeutende ist die Aufnahme dieser Gegenstände in seine Geschichte. Diese historiographische Entscheidung ist alles andere als selbstverständlich. So hat z. B. sein Schüler David Chyträus (1531–1600), der Rostocker Professor für Griechisch und Theologie, der das Chronicon Carionis in Rostock als Grundlage für seine Geschichtsvorlesungen benutzte, 39 in seinem De lectione historiarum (1563) die historische Nützlichkeit von prä-herodotischen außerbiblischen Quellen abgelehnt. Der trojanische Krieg steht, wie auch zweifelhafte Figuren wie Atlas oder Orpheus, für Chyträus außerhalb der Geschichte. Die alten Berichte, die sie bezeugen, lehnt er als historische Quellen grundsätzlich ab, u. a. weil sie keine feste chronologische Verankerung haben. Wie Melanchthon ist auch Chyträus von der historischen Überlegenheit des Alten Testaments überzeugt. Die kohärente ›großzügige‹ Inklusion von mythologischen Figuren und Ereignissen war nicht selbstverständlich, sie wurde aber von anderen seiner Schüler, wie dem Ilfelder Pädagogen Michael Neander übernommen. 40 Ebenfalls bemerkenswert ist die Art und Weise, in der Melanchthon diese Materien behandelt. Die mythologischen Figuren wie Atlas und Orpheus werden ›entzaubert‹ und dadurch verharmlost. Von dem Katalog griechischer Ur-Weisen sind es _____________ 37 38

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Melanchthon, Chronicon Carionis, 774: »De veteri doctrina Ionum, Atticorum et Vicinorum. De Sibyllis, Atlante, Orione, Lino, Orpheo, Musaeo, Homero et Hesiodo.« Die Grenze zwischen Geschichte und Mythologie war im 16. Jahrhundert häufig durchlässig. Auch wenn der homerische Bericht mit fantastischen Eingriffen der Götter nicht als historischer Bericht ernst genommen konnte, scheint dies für viele Gelehrte der Zeit kein Grund gewesen zu sein, die Historizität des trojanischen Krieges wie auch der Abenteuer der Argonauten anzuzweifeln. Vgl. z. B. Bietenholz (1994), insbes. 21–46. Vgl. Völkel (2000). Neander, Chronicon.

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nur Homer und Hesiod, die Melanchthon interessieren: 41 Sie sind die einzigen Autoren überlieferter Texte. 42 So wird Atlas zu einem uralten, aber ansonsten unauffälligen Weisen – von dem Himmelsgewölbe stützenden Titanen ist keine Spur zu finden, 43 Orion wird zu seinem Schüler, weit entfernt vom mythologischen Tier- und Schürzenjäger. Linos und Orpheus werden gleichfalls von ihren sagenhaften Elementen gereinigt. Linos wird zwar als Herakles’ unglücklicher Musiklehrer genannt, biographische Details aber wie die Muse, die angeblich seine Mutter gewesen sein sollte, werden taktvoll verschwiegen. Orpheus erscheint als ehrwürdiger antiker Gelehrter ohne den Hintergrund seines mythologischen Lebenslaufes, der sowohl Melanchthon als auch seinen Lesern wohlbekannt war. 44 Auch die Argonautensage, die später im zweiten Buch des Chronicon Carionis behandelt wird, erfreut sich einer ähnlichen Behandlung. Sie wird historisch akzeptiert und in die Universalgeschichte eingegliedert, muss aber für diesen Eintritt mit einer ernüchternden Entzauberung bezahlen: Die Reise der Argo auf der Suche nach dem goldenen Vlies war eigentlich eine Expedition nach Kolchis auf der Suche nach wertvollen Metallen in den dortigen Minen, wird aber nichtsdestoweniger als ein Merkmal des tapferen saeculum θυμικόν gesehen. 45 Der brutale Tod des Orpheus durch thrakische Frauen, den Ovid der Homosexualität Orpheus’ zuschrieb, 46 wird bei Melanchthon, etwas rätselhaft, als Folge eines gewissen Aberglaubens (aliqua superstitio) gedeutet. Bevor wir die Rolle der Sibyllen in Melanchthons Universalgeschichte und bei anderen Protestanten betrachten, lohnt sich ein kurzer Exkurs zu seinem oben erwähnten Schüler, Michael Neander, und seiner universalhistorischen Darstellung der Anfänge der griechischen Geschichte. 1586 erschien Michael Neanders kompendiöse Universalgeschichte Chronicon sive synopsis historiarum. Seine Neigung zur universalhistorischen Auffassung zeigte sich schon drei Jahre vorher in seinem Handbuch zur universalen Geographie. 47 Die konzeptionelle Abhängigkeit von Melanchthons Chronicon Carionis wird im Vorwort bekannt gemacht. Die Universalgeschichte seines ehemaligen Lehrers sei die beste historiographische Leistung seiner Zeit, aber für Schulkinder zu kompliziert. Deshalb habe er sich entschieden, sein Werk als ein vereinfachtes Chronicon Carionis herauszugeben. 48 In der Tat ist Neanders Werk origineller als das schüchterne Vorwort verrät, und eindeutig für zwei Leserschaften geschrieben, nämlich einerseits für Schüler und junge Studenten, die ein zugängliches Kompendium der protestantischen Weltgeschichte suchen, zugleich aber für Gelehrte, die mehrere Nuancen und gelehrte Betrachtungen sowie Hinweise auf wenig _____________ 41 42 43 44 45 46 47 48

Siehe Melanchthon, Praefatio in Homerum und Enarratio Hesiodi Poematis inscripti Opera et Dies. Die spätere Debatte über die Historizität Homers ist für Melanchthon irrelevant. Außerdem darf man annehmen, dass er, auch wenn er von dieser späteren Debatte Kenntnis gehabt hätte, wahrscheinlich die These von einem Text ohne einen bestimmten Verfasser rätselhaft gefunden hätte. Wie z. B. in Hesiod, Theogonia 517–519. Vor allem durch Vergil, Georgicon iv. 453–527 und Ovid, Metamorphosen x. 1–71. Melanchthon, Chronicon Carionis, 772. Ovid, Metamorphosen x. 83–85. Neander, Orbis Terrae Partium succincta Explicatio. Ebd., a2v–a3r.

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bekannten Werke wahrnehmen konnten, darunter auf einige, die zu dieser Zeit nur handschriftlich vorhanden waren. Wie Melanchthon nimmt Neander die Völkertafel in Genesis 10 als Ansatzpunkt, und auch er sieht Noah und seine Nachkommen als Träger einer christlichen Lehre, also als einer offenbarten Lehre, die (protestantisch formuliert) dem Bereich des Evangeliums angehört. Im seinem Werk Historia Ecclesiae sive Populi Dei, das gleichfalls 1586 erschien, definierte Neander den Inhalt dieser Lehre noch deutlicher: 49 »[Japheth] verkündete die Lehre von Christus, dem ewigen Leben, dem Wechsel der Reiche und der Kirche.« Wie Melanchthon meinte auch Neander, dass diese christliche Lehre mit der Zeit in Vergessenheit geraten sei. Ein drittes Charaktermerkmal melanchthonischer historischer Bewertung der griechischen Antike betrifft eine inhärente Spannung, die durch den universalhistorischen Rahmen von Daniels vier Weltreichen verursacht wird. Alle Ereignisse der griechischen Geschichte vor Alexander dem Großen fanden in den Perioden des babylonischen und persischen Reichs aus Daniels Prophezeiung statt. Das bedeutet, dass bis zum Auftreten des dritten Weltreiches nach der Schlacht bei Issos, 333 v. Chr., die Ereignisse der griechischen Geschichte lediglich von marginaler Bedeutung sind. Dies gilt für den Trojanischen ebenso wie auch für den Persischen oder den Peloponnesischen Krieg. Epochen- und Epos-machend wie sie waren, spielen sie dennoch eine geringe Rolle in der Meistererzählung über die Abfolge der vier Weltreiche. Interessanterweise ist auch der Aufstieg des dritten Weltreiches, das die griechische Ökumene schuf, für Melanchthon und seine Nachfolger zwar eine Phase der Daniel-Prophezeiung, aber kein aus sich heraus bevorzugtes Weltreich. Das griechische Reich war weder besser noch schlechter als diejenigen der Babylonier oder Perser. Die Vorliebe für die griechische Kultur findet keinen Widerhall in der Beschreibung ihrer politischen Geschichte. So findet sich bei Melanchthon nur ein trockener und knapper Bericht über den Perserkrieg und den Peloponnesischen Krieg – letzterer ist durch einen ausgeprägten Moralismus gekennzeichnet. Melanchthon, Chyträus und Neander, die eine gründliche Kenntnis von Herodot und Thukydides besaßen, erzählen dennoch sehr wenig über diese großen Kriege und verraten kaum ein Interesse für die politischen Entwicklungen in den griechischen Poleis. Die Beiträge von Solon und Kleisthenes zur Entstehung der athenischen Demokratie wie auch das Ringen zwischen Athen und Sparta um Dominanz spielen in diesem narrativen Rahmen keine bedeutende Rolle. So ist z. B. Neanders Beschreibung des persischen Krieges knapp. Diese Knappheit wird betont durch den Exkurs über das Schicksal des athenischen Politikers Themistokles, eines der Helden der Athener im Perserkrieg: Dieser wurde kurz nach dem Krieg von seiner Polis verbannt – eine Verbannung, die als Beispiel antiker Undankbarkeit zu einem Gemeinplatz wurde. Einem moralistischen Bericht über diese Verbannung als Beispiel für die Veränderlichkeit des menschlichen Schicksals widmet Neander mehr Platz als der Schlacht von Marathon und der Schlacht bei den Thermopylen. 50 In ähnlicher _____________ 49 50

Neander, Historia Ecclesiae sive Populi Dei, 2r: »doctrinam sparsit [Japheth] de Christo, de vita aeterna, de regnorum mutatione & Ecclesia.« Neander, Chronicon, 53r–v.

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Weise ist weder bei Neander noch bei Melanchthon in ihren knappen Beschreibungen des Perserkrieges wahrnehmbare Freude über den griechischen Sieg zu finden, geschweige denn eine Interpretation des Kriegsergebnisses als einem Sieg des zivilisierten Griechenland über die Barbaren. Die historische Marginalisierung der politischen Geschichte der Griechen vor Alexander durch Gelehrte, die sich begeistert und intensiv mit den griechischen Historikern beschäftigten, kann nicht als die Folge von Unwissen gelten. Die historiographischen Folgen der Annahme der Daniel-Prophezeiung als universalgeschichtlichen Erzählrahmen werden in dem Werk eines anderen ehemaligen Schüler Melanchtons deutlich, Johann Funck (1518–1566), der 1547 nach Königsberg zog und sich dort als Mitstreiter Andreas Osianders in theologische und politische Streitigkeiten verwickelte, die zu seiner Hinrichtung 1566 führten. Nach seinem Studium in Wittenberg und vor seinem verunglückten Aufenthalt in Königsberg wirkte Funck als Prediger in Nürnberg. Sein Interesse für Universalgeschichte zeigt sich schon durch eine Fortsetzung, die er zu Carion und Melanchthons deutscher Fassung des Chronicon Carionis von 1532 verfasste. 51 1544 veröffentlichte Funck seine Chronologia, eine tabellierte Chronologie der Weltgeschichte, zu der er 1552 einen ausführlichen in zehn Bücher geteilten Kommentar beifügte. 52 Bis 1600 erfreute sich Funcks Werk fünf Auflagen – und überlebte seinen umstrittenen Autor. 53 Die ersten vier Bücher seines Kommentars sind den vier Weltreichen Daniels gewidmet. Das Format eines Kommentars zu einer chronologischen Tabelle zwingt den Autor dazu, sich mit kurzen Anmerkungen zu begnügen, deshalb muss sich Funck auf die Erläuterungen beschränken, die er für wesentlich hält. Das Hauptanliegen der ersten vier Bücher seines Kommentar liegt darin, die Abfolge der vier Monarchien zu erklären, und ebenso wie bei Melanchthon und Neander sind die vormakedonischen Ereignisse der griechischen Geschichte eine marginale Affäre unter der Ägide des Perserreichs, obwohl Funcks Erkenntnisquellen über dieses Reich die griechischen Historiker sind. Den detailliertesten Bericht über eine vormakedonische griechische Figur widmet Funck in seinem Kommentar Themistokles. Im Gegensatz zu Neander wird er nicht moralisierend behandelt, der Bericht über den Tod des berühmten Staatsmannes bei Thukydides wird von Funck benutzt, um den genauen Regierungsanfang von Artaxerxes festzustellen. 54 Wie schon gesagt verrät dies keinesfalls ein Desinteresse für die politische Geschichte Griechenlands, sondern die Einschränkungen dieser Art von Universalgeschichte. Eine Andeutung dafür, wie sonst mit der griechischen Geschichte umgegangen werden kann, finden wir in einer späteren lutherischen Universalgeschichte eines späteren Schülers Melanchthons, Matthäus Dresser (1536–1607), der in seiner 1589 erschienenen Isagoge historica den politischen Ereignissen in Griechenland vor _____________ 51

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Chronica durch Magistrum Johan Carion […] Durch Johan Funcken zusamen getragen (1546). Dazu siehe Bauer (2000), 208 f. Funck, Commentarius (2. Aufl. 1554). Siehe dazu Pohlig (2007), 211–216 und Wegele (1885), 195. Funck, Commentarius (2. Aufl. 1554), 43.

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dem Auftreten der Makedonier mit Abstand mehr Aufmerksamkeit widmet. Der Grund dafür ist m. E. nicht in einem größeren Interesse für das Thema zu finden, sondern in der entscheidenden Tatsache, dass er nicht die Daniel-Prophezeiung für seine Weltgeschichte benutzt. Stattdessen bedient sich Dresser einer Elaboration der traditio domus Eliae als chronologischem Erzählungsgitternetz. 55 Sobald sich sein historisches Narrativ nicht um die Abfolge der Weltreiche dreht, gewinnt die politische Geschichte Griechenlands einen Platz, der ihrer Prominenz in den vorhandenen Quellen näher steht.

Griechischer Geist zwischen lex und evangelium Melanchthons Entscheidung, die griechische Geschichte mit einer Reihe griechischer Gelehrter zu beginnen, markiert seine Strukturierung für das ganze Werk – eine klare (wenn auch nicht thematisierte) Trennung zwischen kirchlicher, politischer und kultureller Geschichte. 56 Das Resultat der Spannung zwischen kultureller Prominenz und politischer Geringfügigkeit in der universalgeschichtlichen Erzählung ist die Entstehung von kulturhistorischen Rubriken in den historiae universales, die weder der göttlichen Offenbarung noch den Weltreichen gewidmet sind. Die Griechen vor dem makedonischen Reich sind von marginaler Bedeutung im Rahmen einer Erzählung, deren Ziel die Beschreibung einer Abfolge von Weltmonarchien ist. Gleichzeitig sind die kulturellen Errungenschaften der Griechen in dieser Periode des politischen Provinzialismus von zentraler Bedeutung für Melanchthon. Die spätere Nachkommenschaft Jawans mag die christliche Lehre seiner Ahnen längst vergessen haben, dagegen verkörpert diese Kultur eine geistige Blüte, die protestantische (wie auch katholische) Gelehrte des 16. Jahrhunderts bewunderten. Diese Leistungen der Griechen gehören, wie schon gesagt, dem Bereich des Gesetzes an und sind von der christlichen Offenbarung unabhängig. Immer wieder betont Melanchthon diese Unabhängigkeit wissenschaftlicher (und darunter auch moralischer) Exzellenz von der christlichen Offenbarung und hält es für lächerlich, in apologetischer Absicht die kulturellen Errungenschaften zu christlichen Quellen zurückzuverfolgen: Wenn man dies für nötig hielte, werde die Unterscheidung zwischen lex und evangelium übersehen. Die Völker der griechischen Antike sind keinesfalls die einzigen, die als Noachiten (im Sinne der oben erwähnten Völkertafel aus Genesis 10) und damit im protestantischen Verständnis als Träger christlicher Lehren angesehen werden. Dies gilt für jedes antike oder weiter existierende Volk – Melanchthons universalhistorischer Erzählung zufolge sind alle Völker Nachkommen der Noachiten und deshalb auch die Nachkommen von Ur-Ahnen, die in der ältesten Vergangenheit der christlichen Offenbarung teilhaftig waren. Diese vermeintli_____________ 55 56

Dresser, Isagoge Historica, 361–404. »Res sive historiae Graecorum in millennario 4« ist ein relativ detaillierter Bericht von den Kriegen, an denen die Poleis teilnahmen. Adalbert Klempt sieht hierin Melanchthons Beitrag zu diesem Prozess in der protestantischen Unterscheidung zwischen dem Heils- und Erhaltungsorden. Vgl. Klempt (1960), Kap. 1.

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che Herkunft soll nichts mit den späteren kulturellen Leistungen zu tun haben, da die letzteren dem weltlichen Bereich des Gesetzes zugehören: Sie bilden keinen Beitrag zum Seelenheil und sind von der Offenbarung unabhängig. Trotzdem bieten lutherische Darstellungen der griechischen Antike eine faszinierende Ambivalenz, die rein logisch betrachtet nicht zu finden sein sollte. Denn obwohl eine noachitische Herkunft allen Völkern gemein sein soll, sind die Griechen, soweit ich sehe, die einzigen Nicht-Christen der Antike, deren christliche Herkunft bei Melanchthon und seinen Schülern hervorgehoben wird. So schreibt Melanchthon z. B. in einem Vorwort zu Veit Oertels Homer-Ausgabe von 1583, dass die hervorragende moralische Lehre im homerischen Epos von den »heiligen Vätern überliefert wurden« 57. Anders gesagt meint , etwas inkonsequent angesichts seiner normalerweise vehementen Betonung der Unterscheidung zwischen lex und evangelium, dass die würdigen moralischen Lehren, die er bei Homer findet, ein profanes Überbleibsel der in Vergessenheit geratenen christlichen Herkunft der Griechen seien. Das bedeutet allerdings nicht, dass eine Lektüre von Homer mit dem Seelenheil auch nur im Geringsten etwas zu tun hat. Lutherische Gelehrte sind bemüht, den Geltungsbereich profanen Wissens deutlich zu definieren. Es unterstreicht aber die Faszination an der Möglichkeit einer (theologisch unverbindlichen) Beziehung zwischen den Griechen der Antike, die als vollkommene Blüte weltlicher Weisheit betrachtet werden, und der Geschichte des Urchristentums. Diese universalhistorischen Spekulationen erreichen einen kreativen Höhepunkt in lutherischen Betrachtungen über die Sibyllen und die sibyllinischen Weissagungen. Ihre Bedeutung für die protestantische Universalgeschichte mag nicht entscheidend sein, sie bieten aber ein aufschlussreiches Beispiel für eine späthumanistische Transformation der Antike im Kontext eines neuen konfessionalisierten Erzählmodus.

Ein lutherischer Blick auf die Sibyllen Die antiken Sibyllen waren den Gelehrten des 16. Jahrhunderts durch verschiedene griechische und römische Autoren bekannt, vor allem durch Varros Abhandlung über die Sibyllen in Antiquitates rerum humanarum et divinarum, die durch längere Zitate in den Divinae institutiones von Laktanz bewahrt wurde. Die verschiedenen antiken Sammlungen sibyllinischer Weissagungen sind nicht erhalten. Seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. wurden sibyllinische Fälschungen von hellenistischen Juden verfasst, die ihre Religion und ihre überlegenen Altertumsanspruch durch diese (gefälschten) externen Zeugen zu beweisen suchten. Später wurden diesen gefälschten sibyllinischen Weissagungen christliche Elemente hinzugefügt, darunter auch neue christ_____________ 57

Melanchthon, Praefatio in Homerum, 402 f.: »Neque dubium est, quin hoc genus sententiae primum a sanctis patribus proditae, et ad posteros propagatae sint; deinde ab aliis ad alios successu temporum, velut per manus traditae, ad tales tandem viros permanaverint, a quibus his monumentis insertae sunt, ut velut in illustri et praecipuo positae loco, ad omnem posteritatis memoriam retineri, et cum admiratione spectari possent.«

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liche Fälschungen. 58 Diese Geschichte pietätvoller Fälschungen gewann an Prominenz, als spätere Kirchenväter, vor allem Laktanz (ca. 250 – ca. 320), dieses Korpus jüdisch-christlicher Fälschungen als antike Wahrheitszeugen ernst nahmen. Das heute vorhandene Korpus sibyllinischer Weissagungen ist eine Kompilation solcher jüdisch-christlicher Fälschungen aus dem 6. Jahrhundert. Für eine lange Reihe gelehrter Leser von der Spätantike bis zum Ende des 16. Jahrhunderts galten sie jedoch als uralte sibyllinische Weissagungen und so zugleich als Zeugen der christlichen Wahrheit aus der tiefsten Vergangenheit. Ein interessantes Merkmal der abendländischen Faszination für die Sibyllen ist die Tatsache, dass nur ein kleiner Teil dieses Korpus ps.-sibyllinischer Weissagungen vor 1545 bekannt war. Die mittelalterliche Faszination war von einer konkreten Kenntnis der vermeintlich uralten Weissagungen unabhängig. Es scheint eher die Figur der Sibylle bzw. der Sibyllen selbst zu sein, die einen bewegenden Widerhall in der gelehrten Phantasie fand. Das Auftreten der Sibylla im Dies irae-Hymnus aus dem 13. Jahrhundert, in dem sie Hand in Hand mit König David das Jüngste Gericht weissagt, hat mit seiner Aufnahme in die RequiemMesse den weitesten Bekanntheitsgrad gefunden. 59 Unter vielen weniger berühmten Beispielen für die langanhaltende Faszination der Sibylla-Figur kann hier ein 1516 anonym veröffentlichter Dialog zwischen der Sibylla und dem König Salomon dienen. 60 Das Werk zeigt weder Kenntnisse der antiken (und darunter patristischen) Tradition noch Interesse an ihnen. Der kreative Autor bedient sich des Potenzials einer gesprächigen uralten Prophetin und lässt sie dem weisen König die Geburt Christi vorhersagen sowie den Christen zu Anfang des 16. Jahrhunderts Vorwürfe machen. Eine besser informierte, wenn auch wenig kreative Behandlung der Sibyllen finden wir in Hartmann Schedels Weltchronik. Hier wird, im Gegensatz zum Dies iraeHymnus und dem Sibylla-Salomon-Dialog, Sibylla richtig als eine generische Bezeichnung für eine Reihe prophezeiender Frauen anerkannt und nicht als Eigenname. Schedel bietet eine vereinfachte Version von Varros Sibyllen-Katalog, den er bei Laktanz finden konnte, und akzeptiert sie problemlos als uralte Prophetinnen, die die Ankunft Christi vorhergesagt haben sollten. 61 Eine Wende im frühneuzeitlichen Nachleben der Sibyllen kam 1545 mit dem ersten Druck von acht (der zwölf) sogenannten sibyllinischen Weissagungen 62 im griechischen Original und mit Kommentar versehen durch den Augsburger Bibliothekar und Rektor des St. Anna Gymnasiums Xist Birk (1501–1554). 63 Birks Vorwort zu seiner Edition ist eine Mischung aus Begeisterung für die prophetische Wahrheit der antiken Sibyllen auf der einen Seite und der Vorsicht auf der anderen, _____________

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Vgl. dazu Momigliano (1988), (1994). »Dies irae, die illa / solvet saeclum in favilla / teste David cum Sibylla.« [Anon.] Von Sibilla Weyssagung und von König Salomonis weysheyt. Schedel, Liber Chronicarum, 35r–v. Einige Teile des Korpus wurden vorher als Anhang zu anderen Werken gedruckt. Dazu Hieronymus, Katalog der frühen griechischen Drucke aus Basel, Nr. 460. Birk, Sibyllinorum oraculorum libri octo. Zu Birk (alias Xistus Betuleius und Sixt Birck) vgl. Schmidbauer (1963), 18–29.

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den antiken heidnischen Prophetinnen nicht die volle prophetische Majestät der alttestamentlichen Propheten zuzuschreiben. Trotz dieser Vorsicht ist es dem Augsburger Bibliothekar und Pädagogen klar, der zu jener Zeit mit seinen Schülern Laktanz las, dass, auch wenn sie nur als Prophetinnen zweiten Ranges gelten dürfen, ihre prophetische Gabe doch vom selben göttlichen Geist inspiriert wurde, wie z. B. bei Jesaja und Jeremias, und dass sie das Medium waren, durch das Gott seinen Willen den Heiden offenbarte. 64 Im folgenden Jahr veröffentlichte Sebastian Castellio (1515–1563) 65 eine Bearbeitung von Birks griechischer Edition zusammen mit einer lateinischen Übersetzung. Im Gegensatz zu Birks unbeirrter Annahme der Authentizität des sibyllinischen Korpus zählt Castellio im Vorwort eine Reihe gewichtiger Anfechtungen auf, die er dann vehement zu widerlegen versucht. 66 Eine detaillierte Widerlegung ihrer Authentizität kam mit der posthumen Veröffentlichung in Johann Opsopoaeus’ Edition des sibyllinischen Korpus (1599). 67 In seinem Vorwort mischen sich treffende historisch-philologische Argumente mit reformierter Empörung: Hätte Gott heidnischen Frauen eine klarere Botschaft über die Ankunft Christi mitgeteilt als den frommen Propheten des Alten Testaments, die im Gegensatz zu den vermeintlichen Prophezeiungen der Sibyllen die Inkarnation nur andeuten konnten? Ein historisch-philologisches Argument und eine theologische Empörung, die der Entlarvung des Corpus Hermeticum durch Isaac Casaubon fünfzehn Jahre später in mancher Hinsicht ähnlich ist. 68 Doch sogar nach dieser vernichtenden Widerlegung ihrer Authentizität war die Versuchung, sich auf diese Quellen zu beziehen, zu groß. So finden wir am Anfang des 17. Jahrhunderts mit Lorenz Rhodomann (1546–1606) einen prominenten Vertreter des lutherischen Späthumanismus, der Opsopoaeus’ Widerlegung kannte und dennoch die sibyllinischen Orakel weiter als uralte Spuren der christlichen Lehre bei den Griechen zitiert. 69 Aus der Perspektive der lutherischen Universalgeschichte betrachtet wird den Sibyllen, oder besser gesagt, den sibyllinischen Weissagungen, eine interessante und fast _____________ 64

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Birk, Sibyllinorum oraculorum libri octo, 5: »Sic prorsus sentio, Deum totius universatis opificem & administratorem, aeternam suam, & totam illam fatorum seriem, praesertim ad salutem mortalium spectantem, sicut Israëlitis per Prophetas, ita gentibus per Sibyllas ostendere uoluisse, per idem numen fatidicum.« Vgl. zu Castellio und insbesondere zur Toleranzdebatte seiner Zeit, in der er eine wichtige Rolle spielt, Guggisberg (1997). Ich habe eine Ausgabe von 1555 benutzt: Castellio, Sibyllinorum Oraculorum Libri viii, 11–16. Johannes Opsopoaeus (alias Koch) (1556–1596) war Professor für Medizin an der Universität Heidelberg. Einen großen Teil seiner gelehrten Tätigkeit widmete er philologischen Editionen griechischer Texte, darunter eine der sibyllinischen Weissagungen, die drei Jahre nach seinem Tod erschien. Vgl. Kühlmann/Telle (1985). Opsopoaeus, Sibyllina Oracula, aiiijv–biijv. Vgl. auch Buitenwerf (2003), 5–14; zu Casaubons Angriff auf die Authentizität des hermetischen Korpus vgl. Grafton (1983). Rhodomann, Oratio de lingua graeca, A8–A9r: »Sibylla igitur omnium primae Graecarum magistrae & propagatrices existere. De quibus et si alia aliorum iudicia esse, me non latet, hoc tamen salua pietate me affirmare posse confido, eas, licet sanctißimis Dei Prophetis aequiparandae non sint, coelestis tamen aurae, seu diuini Spiritus particulam haud exiguam habuisse, & maiestatem Propheticam quam proxime attigisse.«

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einzigartige Rolle zugesprochen. Wie wir schon gesehen haben, ist für Melanchthon die Unterscheidung der Zwei-Reiche-Lehre von zentraler Bedeutung in seiner Interpretation der Weltgeschichte. Die Griechen gehören als Nachkommen der Noachiten zur Kirche, aber sie haben die offenbarte Lehre, die ihre Ahnen als Christen definierte, mit der Zeit verloren. Homer, oder Orpheus und Atlas vor ihm, mögen eine kulturelle Exzellenz bewiesen haben, sie gehören aber dem irdischen Bereich des Gesetzes an. Wenn Quelle und Gültigkeitsbereich der Lehren des Atlas oder des Orpheus rein spekulativ bleibt, so spielen sie im Versuch, ihren Nutzen als Gegenstände protestantischer Pädagogik zu begründen, dennoch eine wichtige Rolle für die Rezeption Homers und Hesiods. Ohne die tatsächliche Bedeutung des sibyllinischen Korpus für Melanchthon und andere lutherische Gelehrte übertreiben zu wollen, bieten die Sibyllen eine lehrreiche Fallstudie, anhand der sich eine mögliche Ambivalenz in dieser Weltanschauung, und damit auch eine subtile Transformation eines antiken Motivs (und eines neu entdeckten Textes), unter der Ägide eines konfessionalisierten Humanismus beschreiben lässt. Während abendländische Gelehrte, die vor 1545 über die Sibyllen schrieben, nur eine begrenzte Kenntnis des sibyllinischen Korpus besaßen, änderte sich die Lage mit Birks editio princeps und den darauf folgenden Ausgaben. Die neu veröffentlichten Weissagungen stellten eine Herausforderung für Melanchthon oder sogar eine Verlegenheit dar: Die moralische Aufrichtigkeit ihrer Lehre mit ihren Mahnungen gegen Götzendienst, Ehebruch, Mord und Sittenverfall im Allgemeinen ist problemlos der allgemeinen lex naturae zuzuschreiben und bietet als solches kein Problem. Das Schwierige für Melanchthon sind diejenigen Stellen, die einen christlichen Inhalt proklamieren. Obwohl an sich keine theologische Unmöglichkeit, erregt ein ausgesprochen christlicher Inhalt bei schwärmerischen heidnischen Frauen ein gewisses Unbehagen. Dieses Unbehagen geht über Melanchthons Erfahrung mit Schwärmern und ein misogynes Misstrauen gegenüber (prophezeienden) Frauen hinaus. Es fordert die Annahme der Möglichkeit einer göttlichen Offenbarung außerhalb der Kirche. Gleichzeitig scheint die Möglichkeit einer uralten, die christliche Wahrheit bestätigenden Prophezeiung zu attraktiv zu sein, um einfach widerlegt oder ignoriert zu werden. Melanchthons Lösung ist zugleich subtil und aufschlussreich. Ganz untypisch formuliert er seine Aussagen über die sibyllinischen Weissagungen als Wahrscheinlichkeiten statt mit der gewohnten Sicherheit. Wenn Laktanz recht habe, eine Annahme, die von Melanchthon nicht garantiert wird, dann sind die sibyllinischen Weissagungen wahrscheinlich das Erbe der noachitischen Lehre (doctrina patrum). Anders gesagt: Wenn die Weissagungen echt sind, sind sie als Überbleibsel christlicher Lehre zu betrachten. Das Auffallende ist auf den ersten Blick der untypisch zögernde Ton dieser Äußerung. Das Transformierende liegt m. E. in der tendenziellen Identifizierung des Korpus als einer tradierten Lehre statt einer inspirierten Divination. Die inspirierten Frauen der Antike, welche frühere Gelehrte fasziniert hatten, die selbst im besten Fall nur eine vage Ahnung vom Inhalt dieser Prophezeiungen besaßen, werden als Figuren irrelevant. Das potenziell Wichtige ist für Melanchthon der Inhalt eines tradierten Korpus, der nicht als die Frucht einer prophetischen In-

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spiration zu verstehen sein soll, sondern als ein tradiertes Wissen. 70 Caspar Peucer macht in seinem oben erwähnten Werk über die verschiedenen Arten von Divination einen weiteren kühnen Schritt in dieselbe Richtung. Während die Echtheit der sibyllinischen Weissagungen nur zögernd als Möglichkeit anerkannte, ist ihre Authentizität für Peucer ausgemacht. Für sein Argument ist die Sybilla im dritten Buch des Korpus, angeblich die Schwiegertochter Noahs namens Sambethe, von zentraler Bedeutung. Laut Peucer ist Sambethe nicht als Eigenname einer antiken Frau zu verstehen, sondern eine Kombination zweier männlicher Namen, Sam und Japheth. Die beiden frommen Söhne Noahs hätten demnach, der Vergesslichkeit der Menschheit bewusst, ihren prophetisch-lehrenden Text aufgeschrieben, der inhaltlich, wenn nicht wörtlich, mit dem des dritten sibyllinischen Buches identisch gewesen sei. Diese weise Lehre sei das Werk Sams und Japheths und später unter dem verkürzten Titel Sambethe verbreitet worden. 71 Diese Erklärung löst nicht alle Fragen über Herkunft und Geltung des sibyllinischen Korpus, denn, wie Peucer selber schreibt, gab es eine Reihe vermeintlicher Sibyllen, die angeblich christliche Weissagungen aussprachen, die mit dem Inhalt des dritten Buches nicht identisch sind. Das Wichtige ist hier zum einen Peucers Annahme, die Prophezeiungen seien echt, und zum anderen, dass es sich nicht um inspirierte Frauen gehandelt habe, sondern um von Männern verfasste tradierte Texte. So erwarben die sibyllinischen Weissagungen eine erneute Respektabilität, derer sie sich noch einige Jahrzehnte erfreuen durften. Denn selbst wenn diese neue protestantische Vorstellung der Antike solche Prophezeiungen gebrauchen konnte, so hatte sie doch keinen Platz für schwärmerische Prophetinnen. Anders als im Dies-irae-Hymnus des 13. Jahrhunderts oder in Michelangelos Sixtinischer Kapelle waren für Melanchthon und Peucer die ihnen bekannten sibyllinischen Weissagungen von Interesse, nicht mehr die rätselhaften antiken Prophetinnen. Auch Michael Neander, der wie Peucer ein Schüler Melanchthons war und mit Peucer eine vertraute Korrespondenz führte, zögert nicht, die sibyllinischen Weissagungen anzunehmen. Im Gegensatz zu Peucer akzeptiert er sie als uralte Personen und ist sogar bereit, ihre tradierte noachitische Lehre als Quelle für alle späteren heidnischen Äußerungen über göttliche Gegenstände und Geschichte zu akzeptieren. _____________ 70

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Melanchthon, Chronicon Carionis, 774: »Sed Ethnici nihil recitant vetustius Sibyllis, quas fuisse multas credibile est. Nomen autem significat Vatidicam, Σίος Deus, βουλή Consilium sic appellatae fuerunt muliebres, quae habuerunt sua quaedam vaticinia, sive accpeta a piis maioribus, sive quoquo modo Daemonum praestigiis sparsa. Citatntur carmina Sibyllarum, quorum aliqua existimo retenta esse ex doctrina patrum, ut sunt quae congruunt cum Decalogo, de fugiendis idolis, homicidiis, adulteriis, incestis libidinibus, furtis et mendaciis. Haec carmina cum posterior aetas negligeret, rursus dicuntur a Phocylide aliqua ex parte collecta esse, et eius nomine in populo deinde repetita. Sciant autem iuniores, aliquid doctrinae genus esse Legem, aliud Evangelium, id est, promissionem de filio Dei. Ac gentes amantes disciplinam, quia lex naturae nota est, ex naturali iudicio multas honestas sententias de moribus tradiderunt. Sed credibile est, has quoque multa legis dicta a patribus accepta retinuisse. At doctrina de filio Dei apud Ethnicos extincta fuit. Quod autem Lactantius citat quosdam Sibyllinos versus de Christo, si non falso tribuuntur Sibyllis, consentaneum est, acceptos esse a patribus tunc, cum adhuc doctrina de filio Dei nota esset.« Peucer, De divinationum generibus, 107r–v.

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Aber auch bei Neander, der in Bezug auf die Sibyllen viel großzügiger als Melanchthon war, sind die Sibyllen quasi zu Texten geworden, die ein noch älteres Wissen tradieren. 72

Schluss Die lutherische Universalgeschichte des 16. Jahrhunderts war ein sich selbst erschaffendes oder wenigstens ein sich verteidigendes Erzählen. Anders gesagt war die universalhistorische Erzählung kein Selbstzweck. Sie diente dazu, ein neues historisches Bewusstsein zu schaffen, eine neue Erzählung für eine neue Kirche zu konstruieren – eine Kirche jedoch, die sich als uralt verstand und sich einer Geschichte bediente, die als eine uralte Wahrheit galt. Novitas war im 16. Jahrhundert kein Kompliment. Wer ernst genommen werden wollte, musste eine respektable antike Genealogie nachweisen. Das hauptsächliche historische Anliegen Melanchthons und seiner Schüler war es, die Identität und das Schicksal der wahren Kirche zu jeder Epoche zu identifizieren. Eine Geschichte, die weder mit Petrus noch mit der Inkarnation ansetzte, sondern mit Adam und Eva. Die Geschichte, die hier erzählt wurde, war im Gegensatz zu katholischen Kirchengeschichten keine Geschichte einer geheiligten Institution, sondern die Geschichte der Offenbarung, der Propagierung, Erhaltung und des häufigen Vergessens ihres doktrinären Inhalts. Ein protestantisches Anliegen, das diese historische Erzählung durchdringt, ist die Unterscheidung zwischen lex und evangelium, d. h. zwischen den historischen Manifestationen allgemeiner menschlicher Fähigkeiten und Leistungen einerseits, die eine funktionierende Gesellschaft ermöglichen, und dem exklusiv christlichen Wissen, das aus der Offenbarung stammt, andererseits. Die Folgen dieser theologischhistorischen Voraussetzungen für das lutherische Verständnis der Kirchengeschichte sind gründlich und mit großem Gewinn erforscht worden. Die hier vorgelegte Fallstudie versucht die Frage aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Die Relevanz dieses Feldes entsteht nicht allein durch den bekannten humanistischen Hintergrund vieler Reformatoren, sondern auch durch die weitere protestantische Beschäftigung mit der vorchristlichen Antike. Melanchthon selbst unterrichtete trotz seiner theologischen Beschäftigungen bis zu seinem Tod als Professor für Griechisch an Wittenbergs philosophischer Fakultät. Wie sah denn die Geschichte des antiken Griechenlands in einer lutherischen Universalgeschichte aus, und noch wichtiger: Welche Rolle hatte diese Antike in der Geschichte? Wie oben skizziert wurde, hat die theologische Revolution des 16. Jahrhunderts, von einem historiographischen Standpunkt betrachtet, eine umfassende Bedeutung für das Verständnis der Vergangenheit und _____________ 72

Neander, Chronicon, C4v. Für Neander dienten die sibyllinischen Texte auch als eine Quelle für erbauliche Zitate. So erscheinen sie mit anderen frommen Apokryphen in seiner griechischlateinischen Edition von Luthers kleinem Katechismus. Dazu Backus (2006).

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nicht ausschließlich für Kirchengeschichten des 16. Jahrhunderts – wie zentral ihre Bedeutung auch war. 73 Wie im Fall des sibyllinischen Korpus erlebte die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts eine thematische Erweiterung des vorhandenen Korpus griechischer Texte. Das oben erwähnte Auftreten von Niketas Choniates, einem byzantinischen Historiker des frühen 13. Jahrhunderts, in Martin Crusius’ kommentiertem Exemplar des homerischen Epos ist kein Zufall. So gilt Hieronymus Wolf (1516–1580), ein ehemaliger Schüler Melanchthons in Wittenberg und Nachfolger Xist Birks als Bibliothekar und Rektor des St Anna Gymnasiums in Augsburg, als der Gründer der Byzantinistik. 74 Inwieweit ihm dieser Titel zugeschrieben werden kann, soll hier nicht debattiert werden. Eines aber ist unbestritten: Seine philologischen Leistung als Herausgeber und Übersetzer einer Reihe von byzantinischen Quellen, darunter auch Choniates, war für die Verbreitung byzantinischen Wissens in Europa von enormer Bedeutung. 75 Das Wichtige in diesem Kontext ist die Tatsache, die schon in Crusius’ Marginalien angedeutet wird, dass die neu entdeckten byzantinischen Quellen zuerst nicht als ein separater Wissensbereich konzipiert wurden, sondern als ein Teil der griechischen Antike. 76 Im Laufe der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entdeckten lutherische Humanisten (zuerst mit dankbarem Erstaunen) die Weiterexistenz von Griechen und ihrer Kirche ›unter dem türkischen Joch‹. Obwohl Crusius selbst nie nach Griechenland reiste, taten dies einige seiner Tübinger Schüler, und als lutherische Kapläne bei kaiserlichen Gesandtschaften an der Hohen Pforte bahnten sie (letztlich misslungene) ökumenische Kontakte zwischen lutherischen Theologen und dem Patriarchen von Konstantinopel, Jeremias II. an. 77 Dass diese ökumenischen Versuche scheiterten, überrascht nicht, wie auch die Tatsache, dass die meisten lutherischen Reisenden des 16. Jahrhunderts ihre zeitgenössischen Griechen sympathielos im Rahmen eines Verfallsnarrativs beschrieben. Aufschlussreich ist m. E. die Tatsache, dass solche Verfallsbeschreibungen das Jahr 1453 als Wasserscheide nehmen. Sowohl Melanchthon als auch Neander und Dresser beschreiben die Zeitspanne zwischen Solon und Mehmet II. (!) als einen einheitlichen Zeitabschnitt der griechischen Geschichte. 78 Der oben erwähnte David Chyträus verfasste 1569 die erste ausführliche Beschreibung der post-byzantinischen griechischen Kirche, 79 und Martin Crusius nahm an dem ökumenischen Briefwechsel mit dem griechischen Patriarchen teil. Nicht nur änderte sich die Interpretation der res graecae im Laufe des Jahrhunderts der Reformation – vielmehr erweiterte sich das Betrachtungsfeld von res graecae unter der Ägide konfessioneller Interessen rasch. Dieser Aufsatz will nicht _____________ 73 74 75 76 77 78 79

Vgl. Ben-Tov (2009), passim, insbesondere 14–19, 31–33. Beck (1958), Beck (1966) sowie Beck (1984). Über Wolf und den Beitrag anderer deutschen Humanisten für die Kenntnis byzantinischer Quellen und der Geschichte Ostroms siehe Beck (1958) und Reinsch (1994). Vgl. Ben-Tov (2009), Kap. 2: »Lutheran Humanists and Byzantium: The Scope of Greek Antiquity«, 83–132. Vgl. Wendebourg (1986). Melanchthon, De capta Constantinopoli, 155. Neander, Chronicon, 162r. Dresser, Isagoge historica, 207 f. Chyträus, De statu Ecclesiarum hoc tempore in Graecia [...].

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behaupten, dass alle Aspekte dieser späthumanistischen Betrachtung der und Auseinandersetzung mit der griechischen Antike konfessionell motiviert waren. Doch lässt sich m. E. mit Sicherheit bestätigen, dass bedeutende Aspekte dieser gelehrten Beschäftigung konfessionalisiert wurden, und dass der universalhistorische Rahmen sie weitgehend prägte.

Ein lutherischer Professor liest Homer weiter Kehren wir zum Schluss zurück zu Martin Crusius und seinem Exemplar der Ilias und der Odyssee. Auf der Titelseite der Odyssee fügte Crusius 1570 eine Liste griechischer Inseln ein, die noch immer unter venezianischer Herrschaft standen und von den Osmanen noch nicht erobert worden waren: Kreta, Zypern (das kurz darauf, wie Crusius später hinzufügte, doch erobert wurde), Kefalonia usw. Versuchte Crusius, die Reisen des Odysseus durch das Ägäische Meer des 16. Jahrhunderts nachzuzeichnen? Vielleicht. Eines ist klar: Er betrachtete die zeitgenössischen Entwicklungen im ehemaligen byzantinischen Reich mit der Antike im Hinterkopf und las Homer mit einem gelegentlichen Blick auf das osmanische Reich. Dies, wie auch Martin Luther als Hercules Germanicus oder Zitate aus alexandrinischen Kommentaren zu Homer, Parallelen aus Vergil oder Anekdoten aus der Geschichte Konstantinopels im 12. Jahrhundert, passten natürlich zum handschriftlichen Apparat eines HomerExemplars eines Tübinger Gelehrten aus dem späten 16. Jahrhundert. Sie gehörten alle derselben universalhistorischen Erzählung an, die den vielfältigen Ereignissen einer verworrenen Welt ihre Bedeutung verlieh.

Literaturverzeichnis Quellen Anonymus, Von Sibilla Weyssagung und von König Salomonis weysheyt, Leipzig 1516. Babylonischer Talmud (Talmud Bavli), Vilnius 1880–1886. Birk, Xist, Sibyllinorum oraculorum libri octo multis hucusque seculis abstrusi, nuncque primum in lucem editi. Adjecta quoque sunt Lactantij excerptade his testimonia, cum annotationibus, Basel 1545. Chronica Carionis von Anfang der Welt bis off Keiser Carolum den Funfften : auffs newe in lateinischer Sprach beschrieben und mit vielen alten und newen Historien, Wittenberg 1573. Castellio, Sebastian, Sibyllinorum Oraculorum Libri viii, Basel 1555. Chyträus, David, De statu Ecclesiarum hoc tempore in Graecia, Asia, Austria, Vngaria, Boemia & c., Rostock 1569. Crusius, Martin, Diarium, Bd. 3, hg. v. Wilhelm Göz/Ernst Conrad, Tübingen 1958. »Dies-irae-Hymnus«, in: Missale Romanum, Mechelen 1840, lxxvii.

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Eine späthumanistische Konfessionalisierung der Antike

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3. Bildkunst

Höfische Antike – Textile Erzählräume und re-enactment des Troja-Mythos im späten 14. und 15. Jahrhundert BIRGIT FRANKE

I. Vorspiel Im August 1389 fand anlässlich der Krönung Isabeaus von Bayern, Gemahlin Karls VI. von Frankreich, in der zweischiffigen Grande Salle des Königspalastes in Paris ein magnifizentes Festbankett statt, während dessen zur Unterhaltung der Gäste ein großartiges Schauspiel seinen Anfang nahm. In der Mitte des riesigen Raumes – erhalten ist nur das Untergeschoss, das allerdings die immensen Dimensionen des ehemaligen Festsaales eindrücklich vermittelt – hatte man eine große Burg platziert, das mit den Wappen der edlen Trojaner geschmückte Ilion. Zum Bühnenbild gehörten weiterhin ein Angriffsturm und das Modell eines – wie es in den Chroniques de France von Jean Froissart heißt – schönen, wohl mit 100 Mann besetzten Schiffes. Durch einen kunstvollen Mechanismus ließen sich alle drei Installationen im Raum bewegen. 1 An eben jenem Ort hatte bereits im Jahre 1378 Karl V. eine ähnlich grandiose Darbietung zu Ehren Kaiser Karls IV. und dessen Sohn Wenzel bei einem Bankett aufführen lassen: die Eroberung Jerusalems durch Gottfried von Bouillon. Eine der Miniaturen in den Chroniques de France zeigt dieses entremets (Zwischenspiel) mit dem Schiff des Kreuzritters Gottfried von Bouillon und die Installation der umkämpften Stadt Jerusalem. 2 Vielleicht konnte man für die Inszenierung 1389 einen Teil der älteren Theaterdekorationen wiederverwenden oder auf die grundlegende Szenenkonzeption zurückgreifen. Froissart berichtet ferner, dass im Saal ein mit Feuer und Rauch dramatisch inszenierter Kampf zwischen Trojanern und Griechen entbrannte. Doch das grandiose Spektakel musste bedauerlicherweise abgebrochen werden, denn in dem ohnehin überfüllten Raum wurden einige Bänke und Festtafeln umgeworfen; auch fielen Damen in Ohnmacht, zumal die Hitze und der Rauch so unerträglich wurden, dass man Fenster einschlagen musste. Der Trojanische Krieg galt im ausgehenden 14. wie im 15. Jahrhundert an den Höfen Europas als herausragendes Weltereignis und war fest verankert im kulturellen Gedächtnis der Eliten. Der Untergang Iliums wurde als Vorgeschichte des Imperium _____________ 1 2

Froissart, Chroniques, 4. Buch (1872), Bd. 14, 15–16. Vgl. u. a.: Franke (1996); Franke (2003); Belozerskaya (2005), 227 f.

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Romanum erachtet – auch das Deutsche Reich leitete sich bekanntlich im Sinne der translatio imperii vom Römischen Reich ab – und nahezu alle bedeutenden Dynastien argumentierten mit Abstammungsmythen bis hin zu Aeneas und anderen Trojanern, die nachdrücklich Autorität und Reputation garantierten. 3 Die prominente, zuweilen gezielt manipulierte Position Trojas auf den mappae mundi, etwa der Ebstorfer Weltkarte, untermauerte diesen Herkunftsanspruch. 4 Der antike Mythos bot ein immenses inhaltliches und interpretatorisches Potenzial. Neben anderen Historien stellte er die Referenz für eine zeitgenössische Deutung von Welt und Geschichte. Seine Helden und Heldinnen dienten der Legitimation von Herrschaft, sie fanden als Rollenmodelle Anwendung und fungierten als Vergleichsgrößen der Selbst- und Fremdwahrnehmung. So schreibt etwa Jean Molinet in seiner panegyrischen Charakterisierung Karls des Kühnen: Et le très renommé duc Charles […] est le IIIIe. piller (des ›throne d’honneur‹) qui ceste maison [d. i. Haus Burgund, Anm. B. F.] clarifiie et embellist de très admirables hystoires […]. C’est, par figure similitudinaire, la tour de Barris, le throne de Salomon, l’arche du Testament, le palais Assuère, le fort Ylion, le temple de Mars et le romain Capitole où les senateurs et consules armigères tiennent parlement et consaulx pour bien regir et gouverner le bien de la chose publique. 5

Der Untergang Trojas wurde wieder und wieder erzählt, aufgeschrieben und seit dem späten 15. Jahrhundert ebenfalls im Buchdruck verbreitet sowie in diversen, vorrangig höfischen Bildmedien zur Anschauung gebracht und in theatralischen Aufführungen vergegenwärtigt. Die gesellschaftspolitischen, intellektuellen und affektiven Aspekte der höfischen Künste sind von der Kunstgeschichte noch lange nicht ausreichend untersucht. Seit dem 19. Jahrhundert wurden und werden entgegen jedem historischen Befund – Marina Belozerskaya spricht treffend vom »period eye« – Tapisserien, Prunkkleidung und andere textile Künste sowie Goldschmiedekunst und Rüstungen noch allzu häufig als sogenanntes Kunsthandwerk marginalisiert; ebenso bleiben die performativen Künste aus der allgemeinen Kunstgeschichte weitgehend ausgeklammert. 6 Zu den besonders wirksamen, da zumeist monumentalen Kunstwerken zählten seit etwa Mitte des 14. Jahrhunderts gewirkte Tapisserien. Die beiden möglicherweise ältesten textilen Troja-Historien mit der Zerstörung Trojas und dem Parisurteil sind 1364 für Ludwig von Anjou dokumentiert. Weitere Teppiche sind in den folgenden Jahrzehnten für nahezu alle Mitglieder des Königshauses Valois, aber auch für den _____________ 3 4 5 6

Vgl. stellvertretend Graus (1989); Brunner (1990); Brückle (2000); Borgolte (2001); Brunner (2001); Suckale-Redlefsen (2007). So ist Troja wegen der genealogischen Ableitung europäischer Dynastien auf der Ebstorfer Weltkarte dichter an Europa platziert. Kugler (2001); Ebstorfer Weltkarte, Bd. 1, Nr. 37; Bd. 2, Nr. 37/11 sowie Nr. 23/3 und Nr. 23/8. Vgl. hierzu auch Bent Gebert in diesem Band. Molinet, Chroniques, Bd. 1, 26. Zur Diskussion um den Rang der höfischen Künste exemplarisch Freigang/Schmitt (2005); Franke (2007); Franke/Welzel (1997a); Franke/Welzel (2005); die Einleitung zur letzten Edition von Huizingas Herbst des Mittelalters mit neuer Bebilderung (Franke/Welzel [2006]); Franke/Welzel (2008); Franke/Welzel (2010); Belozerskaya (2005), 13–45, hier 44.

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englischen Hof bezeugt. 7 Die um 1413–1416 datierte Januar-Miniatur der Très Riches Heures (Stundenbuch), die Johann von Berry in Auftrag gab, ist das älteste überlieferte Bildzeugnis von Troja-Tapisserien (Abb. 1). 8 Die Miniatur zeigt den Herzog bei einem magnifizenten Neujahrsbankett an Epiphanie (6. Januar) in einem intermedialen Erzählraum, in dem standesgemäß weitere Schätze auf der Tafel und dem mehrstufigen Dressoir prunken. Die Darstellung vermittelt anschaulich, wie fließend der Übergang von der Bildwelt der Tapisserien zum belebten Raum war. Die gewirkten Figuren ergänzen gewissermaßen die tatsächlich anwesenden Personen. Immer wieder vervollständigten auch narrative Goldschmiedearbeiten den jeweiligen Ereignisraum. So wurden offenbar aus dem Schatz Ludwigs von Anjou zwei thiphanies am Festtag der Heiligen Drei Könige verwendet. 9 Die 16 emaillierten Medaillons auf einer der Prunkschalen präsentierten trojanische und griechische Heroen einschließlich Penthesilea sowie Herkules und Jason (die Helden der vorgeblich ersten Zerstörung Trojas); das Zentrum zeigte Hektors Abschied von Andromache, Priamus und Polyxena. Die andere Schale zierten hingegen sechzehn ›moderne‹ ritterliche Helden, darunter Karl der Große, König Artus und Lanzelot; das zentrale Motiv bildete hier der Kampf von Herkules und Antaeus. Somit wurden die Heiligen Drei Könige, die als Erste Jesus als Herrscher der Welt erkannten, in Relation zu antiken Heroen und christlichen Helden gesehen. Das aber hieße für die Januar-Miniatur, dass TrojaTeppiche für die Darstellung eines Neujahrsfestes bewusst gewählt wurden. Offenbar ging das Interesse am Trojanischen Krieg in den folgenden Jahrzehnten zunächst etwas zurück. Mit der Eroberung von Konstantinopel durch Sultan Mehmet II. 1453 rückte das Thema jedoch wieder stärker in den Blick. Wohl nicht nur die breit rezipierten (mental imaginierten) Reisen des Ritters John Mandeville statuierten die räumliche Nähe zwischen Troja und Konstantinopel. 10 Beide Orte wurden wiederholt in einem engeren Zusammenhang gesehen. Auch galten die Türken mindestens bis zum Fall der byzantinischen Stadt nahezu unwidersprochen ebenfalls als Nachkommen der Trojaner. 11

_____________ 7

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Philipp der Kühne erwarb 1384–1385 und 1386 zwei entsprechende Bildteppiche. 1386–1387 und 1396–1397 folgten zwei golddurchwirkte, jeweils elf Meter lange Behänge mit den Geschichten Hektors und Penthesileas. Im Jahre 1396 verzeichnen auch die Schatzsammlungen Karls VI. und seines Bruders Ludwig von Orléans jeweils eine Historie Penthesileas. Isabella von Bayern kaufte 1399–1400 wiederum eine Tapisserie mit der Zerstörung Troias. In England sind fünf Teppiche mit der Geschichte der Griechen und Troianer im Inventar Richards II. von 1399 verzeichnet. Die Liste ließe sich fortsetzen; vgl. bes. Asselberghs (1972); McKendrick (1991), 43–55; zur Hofkunst des späten 14. und 15. Jahrhundert stellvertretend Ausst.-Kat. Age of Chivalry (1987); Ausst.-Kat. Paris 1400 (2004). Ausführlich Franke (2010a); Meiss (1974); Cazelles/Rathöfer (1988); Ausst.-Kat. Les Très Riches Heures (2004); Rapp Buri/Stucky-Schürer (2001). Zu den beiden verlorenen Artefakten siehe u. a. Lightbown (1978), 71 f. Reisen des John Mandeville, 65 f. Hierzu u. a. Ausst.-Kat. Troia (2001), bes. die Beiträge von Michael Borgolte, Horst Brunner, Hartmut Kugler und Ch. Brian Rose; Harper (2005).

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II. Einige Anmerkungen zum textilen Bildmedium Tapisserien, die über Jahrhunderte einen wesentlichen Teil herrscherlicher und adeliger Schatzsammlungen ausmachten, gehörten bis mindestens gegen 1700 zum Instrumentarium der Macht. 12 Ihr immenser materieller Wert und ihre Bedeutung als dynastische Zeugnisse sowie ihre Mobilität prädestinierten die textilen Bilder als repräsentatives Ausstattungsmedium von Innen- und Außenräumen wie von spezifischen Ereignissen und Interaktionen. Die Überbietung im Prachtaufwand in der Formulierung der Nikomachischen Ethik des Aristoteles galt im 15. Jahrhundert gleichermaßen nördlich wie südlich der Alpen als Herrschertugend und als Synonym für politische Überlegenheit. 13 Der Wert dieses luxuriösen portable grandeur lag zudem in seinen sozial-politischen und ethischen Funktionen sowie in seiner Bedeutung für die Selbstvergewisserung des Adels und das kulturelle Gedächtnis einzelner Gruppierungen. Insbesondere die monumentalen Bildteppiche erlaubten ein räumliches und körperliches Erleben sowie einen kollektiven Anschauungsunterricht. Sie eigneten sich daher in einem hohen Maße für die Einbindung narrativer Botschaften in nonverbale Kommunikation und performative Akte. Im Alltag und bei besonderen Anlässen gewannen diese Kunstwerke neben ihrer bildimmanenten Kernaussage immer wieder zusätzliche ephemere, also zeitweise gültige, Sinngehalte. Gleichwohl konnte die Konstitution von Handlungsräumen – zumal wenn sie Formen des re-enactments einschloss – durchaus über den Augenblick hinaus Wirkung und Nachhaltigkeit entfalten. Die Tapisserien wurden in diesen Koordinaten selbst zu Produzenten kultureller Bedeutung.

III. Der Troja-Zyklus des späten 15. Jahrhunderts: Narrativ, Bildregie und Stilmittel Gegenstand der vorliegenden Studie ist derjenige Troja-Zyklus, den der Tapisseriehändler und burgundische Hoftapissier Pasquier Grenier und sein Sohn Jean zwischen circa 1471/1472 und 1503 in mindestens neun Serien produzierten (Abb. 2–10, 12, 13a, 13b). 14 Dabei handelte es sich keineswegs ausschließlich um _____________ 12 13

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Stellvertretend Brassat (1992); Delmarcel (1999), Joubert (2000); Franke (1997a); Franke (2000b); Franke (2005); Franke (2006); Ausst.-Kat. Tapestry in the Renaissance (2002); Rapp Bury/StuckySchürer (2001); Belozerskaya (2005), 89–133; Borkopp-Restle (2007). Aristoteles, Nikomachische Ethik, IV,4; zur Rezeption nördlich der Alpen ausführlich Franke (1998); Franke (2000b); Franke (2005); Franke/Welzel (2008); siehe jetzt auch die Ausführungen von Lorne Campbell, Einleitung in: Ausst.-Kat. Tapestry in the Renaissance (2002); Belozerskaya (2005), 2– 5, 13–17. Grundlegend Asselberghs (1972), mit allen Inschriften, und McKendrick (1991); weiterhin Reynaud (1973), 6–21; Brassat (1992), Nr. 32; Cavallo (1993), Nr. 13; Sedlacek (1997), 109–117; Delmarcel (1999), 36 f.; Ausst.-Kat. Tapestry in the Renaissance (2002), Kat. Nr. 2 u. 3; Rapp Buri/Stucky-Schürer (2001), 313–325, 453–456; Franke (1997b), 127–138; Franke (2000b), 210–212; Franke (2001);

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Repliken, sondern auch um variierte Editionen. Zu den Besitzern zählten der Burgunderherzog Karl der Kühne (1472, Geschenk der Stadt Brügge), Federigo da Montefeltro, Herzog von Urbino (Ankauf 1476), Heinrich VII. von England (Erwerb 1488) und Karl VIII. von Frankreich (erster Beleg 1494) sowie Matthias Corvinus von Ungarn (Nachweis 1495, erst fünf Jahre nach dessen Tod), der Mailänder Herzog Lodovico Sforza, il Moro (1496 dokumentiert) und Herzog Philibert von Savoyen (1498). Zu nennen sind weiterhin König Jakob IV. von Schottland (1503) und schließlich noch Ferdinand I. von Aragon, König von Neapel, dessen Troja-Serie in den Besitz diverser spanischer Adeliger gelangte. Vier Tapisserien dieser Edition befinden sich heute im Museum der Kathedrale von Zamora. Von den überlieferten Kunstwerken lässt sich ansonsten nur noch ein weiterer Behang einem konkreten Besitzer zuweisen: Der Penthesilea-Teppich im Victoria and Albert Museum in London gehörte einst Karl VIII. (dieser hatte 1495/96 eigene heraldische Embleme ergänzen lassen). Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Troja-Zyklus tatsächlich um eine spektakuläre Geschäftsidee und durchaus riskante Investition des marchent-enterpreneur Pasquier Grenier. Der burgundische Hoftapissier muss in jedem Fall profunde Berater herangezogen haben, denn die Produktion einer solchen monumentalen und ambitionierten Folge war mit immensen Kosten, konkret einem hohen personellen, zeitlichen und materiellen Aufwand, verbunden. Einige der petits patrons wurden nachweislich nicht in allen Szenen und Details umgesetzt. Es muss Korrekturen und teilweise neue Entwürfe gegeben haben. Die Annahme eines hochrangigen französischen Auftraggebers, die sich auf die Zuschreibung der Entwürfe an einen ebenfalls französischen Künstler stützt, überzeugt nur bedingt. Fakt bleibt, dass die Stadt Brügge 1471 »certaines belles et grandes tapisseries comprenant l’histoire de Troye« Karl dem Kühnen zum Geschenk machte, die sie zwischen 1471 und 1476 finanzierte. 15 Es liegt nahe, dass es sich um die editio princeps (Erstauflage) handelte. Könige und Fürsten verpflichteten Freunde und Verbündete, aber auch potentielle Gegner, durch kostbare, zuweilen inhaltlich beziehungsreiche Tapisserien oder kauften sich und andere damit frei. 16 Die zweite Troja-Edition erwarb 1476 Federigo da Montefeltro, zu dem Karl der Kühne enge Beziehungen unterhielt. Erst zwölf Jahre später folgten weitere Editionen. Der Burgunderherzog jedenfalls wusste die Troja-Folge in seinen Herrschaftsaufführungen gekonnt zu instrumentalisieren. Der elfteilige Troja-Zyklus, dessen einzelne Behänge durchschnittlich 4,75 Meter hoch und 9,50 Meter lang waren bzw. sind, umfasste ursprünglich einen Erzählfries von ca. 105 Metern Länge bzw. etwa 500 Quadratmetern. Bild- und Schriftquellen gestatten eine weitgehende Rekonstruktion der gesamten Narration. Sie umfassen erhaltene Tapisserien bzw. Teppichfragmente aus Seide und Wolle in Zamora, London, New York, Glasgow und Worcester und zehn, um 1465–1470 datierte petits _____________

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Franke (2006), 268–270, 268–270; Franke/Welzel (2008), 55–57; Franke/Welzel (2010), 86–94; Davies/Kennedy (2009), 136–138. Asselberghs (1972), 74–78, hier 74; McKendrick (1991), 49–51. So löste Philipp der Kühne 1396 nach dem misslungenen Kreuzzug seinen Sohn Johann Ohnefurcht von Sultan Bajazet I. unter anderem mit Alexander-Teppichen aus. Franke (1997a), 121.

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patrons oder modelli sowie deren Überreste in Paris (Henry Vulcop oder dem Meister von Coëvity bzw. dessen Umkreis zugeschrieben); weiterhin kolorierte Nachzeichnungen von der Ausstattung der Painted Chamber des Westminster Palastes aus den Jahren 1788–1800 in London sowie Notationen von Inschriften. Sowohl die Bilderzählung als auch die Tituli (oben in Französisch, am unteren Rand in Latein) gehen insgesamt auf keine konkrete Dichtung zurück und setzen keine solche wortgetreu um. Ein Urtext im Sinne eines medienunabhängigen Narratives, mit dem man sich – im Idealfall über Jahrhunderte – immer wieder aufs Neue auseinandersetzte, existierte also nicht. 17 Bei der Teppichfolge handelt es sich vielmehr um eine Bilderzählung eigenen Rechts. Den Ausgangspunkt bildete sicherlich ein bekannter Erzählkern, der sich in der Regel aus mehreren Schriftquellen und oral tradierten Komponenten sowie materiellen und mentalen Imaginationen zusammensetzte. 18 Homers Ilias spielte dabei kaum eine Rolle, denn gerade sie galt bis gegen 1500 als literarische Fiktion. Als Hauptquellen für den Trojanischen Krieg wurden vielmehr zwei spätantike Kriegsberichte angeblicher Kriegsteilnehmer aus dem 2. und 6. Jahrhundert verwendet, die zunächst Benoît de Sainte-Maure in seinem Roman de Troie im späten 12. Jahrhundert zu einem veritablen Werk mit pseudohistorischem Anspruch ausformulierte. Der Kriegsruhm der antiken Heroen überdeckte nun die Niederlage, Troja wurde zur Wiege des Rittertums und der Höfischheit stilisiert. Die lateinische Übersetzung des Romans und die Übertragung der Versform in Prosa besorgte Guido delle Colonne zwischen 1280 und 1287. Seine Historiae destructionis Troiae wurden bis ins 15. Jahrhundert in illuminierten Ausgaben rezipiert. 19 Beide Werke lieferten zudem die Grundlage weiterer volkssprachlicher Dichtungen. Auch Raoul Lefèvres Recueil des histoires de Troie bot letztlich eine Kompilation der literarischen Tradition. Die ersten beiden Bände mit der ersten Zerstörung Trojas durch Herkules verfasste Lefèvre bereits 1464 für den Burgunderherzog Philipp den Guten, der allein 17 Troja-Handschriften besaß. Der dritte Band mit dem endgültigen Niedergang Trojas wurde 1468 abgeschlossen. 1474 dedizierte John Caxton seine englische Übersetzung der Burgunderherzogin Margarete von York. 20 Gegenüber literarischen Fixierungen einer Historie bedingte ihre bildliche Darstellung eine striktere Auswahl von Episoden, die je nach Zielkontext ihre künstlerische Transformation wie rezeptive Interpretation erfuhren. Die bildliche Re-Lektüre eines Stoffes und deren kollektive wie individuelle Aneignung konnten also den _____________ 17 18

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McKendrick (1991) und Sedlacek (1997) konnten zumindest einige Szenen und Motive auf den Roman de Troie Benoîts de Sainte-Maure und die Historiae destructionis Troiae von Guido de Collon zurückführen. Diese Parameter gelten auch für andere Teppichserien, z. B. die Historie von Esther und Assuerus sowie die textile Geschichte Alexanders des Großen und Herkules-Tapisserien, aber auch für Jason-Historien; Franke (1997b); Franke (1998); Franke (2000a) und (2007); Ausst.-Kat. Karl der Kühne (2008), Kat. Nr. 117, Taf. 66, jeweils mit der älteren Literatur; weiterhin Rapp Buri/Stucky-Schürer (2003), 259–265. Siehe etwa zur deutschen Rezeption Suckale-Redlefsen (2007). Ich danke Gude Suckale-Redlefsen für den Hinweis auf den Codex 2773 in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, der zur Sammlung Kaiser Maximilians I. gehörte. Diese im 15. Jahrhundert gedruckte Edition habe ich hier vorrangig herangezogen; vgl. Lefèvre, The Recuyell.

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Rezipienten immer wieder Neues und Anderes bieten. Wie wurde nun im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts das inhaltliche Potential des über Jahrhunderte tradierten Troja-Mythos genutzt und künstlerisch umgesetzt? Welche Episoden, Szenen und Motive sind ausgewählt bzw. ausgespart, welche wie hervorgehoben und was wurde ergänzt? Welche Erzählprinzipien, künstlerischen Stilmittel und visuellen Codes kamen zum Einsatz? Wie funktionierte die Teilhabe der Adressaten, und auf welche Bedürfnisse antworteten die Artefakte? Hier sei zunächst der Erzählverlauf mit einigen Bemerkungen zur medialen Ästhetik und Bildregie vorgestellt. Der Zyklus setzt ein mit der Mission Antenors, der im Auftrag seines Vaters Priamus vergeblich seine Tante Hesione von den Griechen zurückfordert. Angespielt wird damit auf die bereits in den mittelalterlichen Texten hinzuerfundene erste Zerstörung Trojas, in die Jason und Herkules involviert waren – beide Helden, die der Burgunderhof ebenfalls bevorzugte. Bemerkenswert mag auf den ersten Blick die Integration des Parisurteils in eine Nebenszene im rechten oberen Drittel des Behangs als eigentliche Ursache des Trojanischen Krieges (Abb. 3) erscheinen, zeigen doch die Troja-Romane eine Welt ohne Einwirkung der antiken Götter. Offensichtlich interessierte dieses Sujet besonders, denn neben Ludwig von Anjou verfügte seit 1386 auch der Burgunderherzog Philipp der Kühne über eine von Goldfäden durchzogene Tapisserie vom Pomme d’or. Im Inventar seiner Gemahlin Margarete von Mâle 1405 ist der Behang als la tapis du Dieu d’Amour, de Juno, Palas et Venus verzeichnet. 21 Das Thema fügte sich also in das Konzept des ritterlichen amour courtois. 22 Im Troja-Zyklus liegt Paris an einem Brunnen auf dem Berg Ida und – so der Titulus – Im Traum sah er eine liebreizende Erscheinung / von drei Göttinnen in erhabener Schönheit. / Merkur überreichte ihm einen Apfel aus purem Gold / auf dass er erwäge / wer von den dreien die Schönste: Venus oder Juno oder Pallas.

Die feingliedrigen Aktfiguren in der Zeichnung entsprachen, wie auch das übrige Bildpersonal im Zyklus, dem Schönheitsideal der Nördlichen Renaissance bzw. der Burgundischen Antike (Aby Warburg). 23 Der zweite Behang (siehe Abb. 2) veranschaulicht im linken Drittel zunächst die Entsendung von Paris nach Griechenland, um die der Held König Priamus aufgrund seines Traumes bat, in dessen Palast und weiterhin die Überfahrt. Doch statt Hesione zurückzubringen, entführt der Held in der zentralen Episode Helena von der Insel Kythera. Ihren Abschluss findet diese narrative Sequenz im Empfang Helenas durch König Priamus vor der Stadtburg Troja. Die mittlere Episode (Abb. 4) wirft ein Schlaglicht auf die Transformationsleistungen des Kunstwerkes. Hätte man wie Homer das Parisurteil als reales Ereignis und nicht nur als Traum verstanden, wäre die dargestellte Szene als Teil des TrojaMythos schlechterdings unmöglich gewesen. So aber können (ausgerechnet!) die Trojaner den Tempel der Venus plündern – immerhin der Ort, an dem Paris und _____________ 21 22 23

McKendrick (1991), 45 und 47. Siehe Anm. 27. Warburg (1932); siehe auch Anm. 38.

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Helena füreinander entbrannten –, während der Held die Gemahlin des Griechen Menelaos auf sein Schiff geleitet. Kleinformatige Reproduktionen von spätmittelalterlichen Tapisserien erzeugen in der Regel den Eindruck eines horror vacui. Entsprechend wird solchen Kunstwerken oftmals eine vorrangig dekorative Funktion zugeschrieben – die sie durchaus auch hatten, aber eben nicht nur. Befindet man sich im Raum vor den textilen Bildern mit ihren großformatigen Figuren, fällt die Orientierung deutlich leichter. Gleichwohl kommen mediale Eigengesetzlichkeiten hinsichtlich Materialität, narrativer Muster und künstlerischer Darstellungsstrategien sowie inhaltliche und ästhetische Kategorien zum Tragen, die einen signifikant anders geschulten Blick und andere Rezeptionsformen als die der heutigen Zeit voraussetzten. 24 Zunächst einmal wurden gewirkte Bilder in der Regel nicht als Einzelstücke isoliert, sondern auf Stoß gehängt (sei es in einem größeren Saal oder in Folge in mehreren Gemächern, zuweilen auch an Außenmauern von Palästen), so dass sie einen längeren Bilderfries ergaben. Die Betrachterposition war demzufolge nicht statisch. Vielmehr setzte die Rezeption der gesamten Historie Bewegungen im Raum und verschiedene Distanzen und Blickwinkel voraus. Entsprechend ist für den textilen Troja-Mythos ein kontinuierendes Erzählverfahren gewählt, das bereits die antike Trajanssäule in Rom, antike Sarkophage und frühe Bibelillustrationen aufweisen. In einem einheitlichen Bildraum wechseln figurenreiche, oftmals dynamisch bewegte Episoden mit Handlungen in oder vor bühnenartigen Architekturen oder Prunkzelten, die sich zum Betrachter hin öffnen, mit reduziertem Personal (siehe auch Abb. 6, 10, 12). Mittels dieser narrativen Struktur wird der Erzählfluss des gesamten Frieses rhythmisiert, er kommt immer wieder zur Ruhe oder bietet fokussierte Höhepunkte. Die Ereignisorte scheinen oftmals ineinander überzugehen. So trennen auch die drei Szenarien im zweiten Teppich eher zeichenhafte Bildmotive: den Palast des Priamus und Kythera trennen Meereswellen, Kythera und Troja ein schmaler, üppig bewachsener Streifen Erde. Die zeitlich organisierte lineare Struktur wird jedoch wiederholt durch simultane Nebenszenen im oberen Drittel ergänzt, sogar konterkariert. Eine raum- und geschehenslogische Komposition stand bei diesen Darstellungen nicht im Vordergrund. Die auffällig hohe Figurenanzahl ist ebenfalls dem textilen Medium und dessen Funktionen sowie den historischen Sehgewohnheiten geschuldet. Die Prachtentfaltung des Bildpersonals unterstrich aber nicht nur die intendierte Magnifizenz, die den Betrachtern stets bewusst war. Der hohe Stilmodus der Darstellung entsprach auch hier dem Rang der Historie. Die Protagonisten sind durch Namenszüge am, über und neben dem Körper gekennzeichnet, die den Betrachtern die Orientierung erleichterten. Analog zur Lebenswirklichkeit erwartete das Publikum eine Spielbreite _____________ 24

Vgl. die grundlegende Studie von Michael Baxandall (1999) zu diesem Thema. In Erweiterung des Konzeptes vom »kognitiven Stil« gehört in diesen Zusammenhang auch das weite Feld der Realienkunde, die Beobachtung, dass Bilder anders lesbar werden, sobald man eine Vorstellung von den Funktionen und von der Materialität, der Dinge, welche dargestellt sind, hat. Ich möchte in diesem Zusammenhang Barbara Welzel für die jahrelangen, kontinuierlichen Gespräche und Dispute über die Kontextualisierungen von Kunstwerken in ihren diversen Varianten danken.

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von Roben und Rüstungen mit eloquenter Detailgenauigkeit, die gleichermaßen den ästhetischen Paradigmen der repräsentativen Schatzkunst entsprach wie der damals herausragenden gesellschaftlichen Bedeutung von Kleidung. So nehmen in Festberichten, Chroniken und Gesandtenberichten die vestimentären Künste einen ähnlich prominenten Raum ein. 25 Inzwischen dominieren eher die Rot-, Blau- und Gelbbzw. Goldtöne den Gesamteindruck der Tapisserien. Viele Farben sind jedoch über die Jahrhunderte verblasst oder haben sich verändert. Vorzustellen hat man sich differenzierte Farbnuancen und -schattierungen (wie sie viele Teppichrückseiten immer noch aufweisen), ein präzises Gestaltungsmittel auch zur Hervorhebung des Bildpersonals und einzelner Handlungen. Das diesem Medium eigene prächtige Kolorit und das Schimmern der vielfarbigen Seidenfäden boten sich insbesondere für die fast sinnlich-taktile Wiedergabe von Gewändern und Rüstungen mitsamt den Juwelen geradezu an (Abb. 5). Die Wirkung der Tapisserien des 15. und 16. Jahrhunderts wurde zuweilen gesteigert durch den Glanz zusätzlich verarbeiteter Edelmetallfäden (denkbar ist das auch bei einigen der Troja-Editionen). In Humanistenkreisen scheint man sogar davon ausgegangen zu sein, dass antike Behänge ebenfalls mit Goldfäden nobilitiert wurden. 26 Geradezu lustvoll schildern die Teppiche immer wieder luxuriöse Kleidung selbst bei einer Reihe von anonymen Figuren (Abb. 5). Der prononcierte, durchaus pittoreske Kostümstil des Troja-Zyklus ist aus etwas älterer und zeitgleicher (vor allem französisch-burgundischer) Hofmode, orientalischen Motiven und Elementen all’antiqua kompiliert. Die luxuriöse vestimentäre Aufmachung mit ihren multisensorischen Präsenzeffekten potenzierte nicht nur die Wirkmacht einzelner Akteure und Szenen, sondern gleichermaßen die gesamte Narration. Zweifelsohne bedienten die gewirkten Bilder mit ihrer Opulenz auch die Augenlust des Publikums. Gerade die großformatigen, nahsichtigen Figuren boten sich als im Wortsinn ›Reiz-volle‹ Schauobjekte an, darunter fremdartig gekleidete Orientalen und Afrikaner (siehe weiter unten Abb. 5, 9, 13a und 13b). Grundsätzlich ist von anderen kognitiven und visuellsinnlichen Fähigkeiten sowie Ansprüchen der Adressaten, die mit solchen Bilderwelten aufwuchsen, auszugehen. Im dritten Teppich befragt Achill das Orakel von Delphi, ob ein Feldzug gegen Troja erfolgreich sein könne. Es folgen die Eroberung der Stadt Tenedon und der gescheiterte Versuch von Odysseus und Diomedes, in Troja die Herausgabe Helenas zu erwirken. Die vierte Tapisserie thematisiert die Abfahrt der Griechen und die erste Schlacht gegen die Trojaner mit dem Kampf zwischen Patroklos und Hektor. Der fünfte Bildteppich (Abb. 6) führt analog zu heldenepischen Verfahren nahezu in seiner gesamten Breite die vierte Schlacht mit den Kämpfen Agamemnons und Achills gegen Hektor vor Augen. Hekuba und Helena wohnen dem Geschehen auf den Festungsmauern Trojas bei – ein visueller Code, der an die Turnierkultur erinnern sollte. Die Entwurfszeichnung verdeutlicht noch einmal grundlegende Erzählprinzipien der textilen Bilder: Aus dem Schlachtenpanorama mit seinem wogen_____________ 25 26

Siehe Anm. 63. So etwa Papst Pius II. zur Villa Hadrian bei Tivoli; Belozerskaya (2009), 141 f.

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den Kampfgetümmel lösen sich immer wieder dramatische Zweikämpfe heraus; die Namenszüge der Protagonisten befinden sich hier oftmals auf den Schwertern. Solche Aktionszentren lenk(t)en ebenso die Aufmerksamkeit der Betrachter, wie einzelne Figuren im Vordergrund, die stets ohne Überschneidungen dargestellt sind. Auch beim Bildpersonal dieses Teppichs handelt es sich dabei nicht nur um Hauptpersonen. So ist unmittelbar vor der Stadtburg ein orientalisch gekleideter Reiter in Rückenansicht zu sehen, der an mongolische Krieger erinnert. Schließlich werden die siegreichen Trojaner – ganz dem höfisch-ritterlichen Ideal entsprechend – von Hekuba, Helena und Andromache freudig und huldvoll empfangen und beglückwünscht. Das Identifikationsangebot war bei solchen zeitgenössischen Assimilierungen des antiken Stoffes besonders hoch. Bereits Benoît de Sainte-Maure hatte Troja nicht nur als Wiege des Rittertums und der Olympischen Spiele deklariert, sondern ebenfalls als Ursprung der curialitas (Höfischheit) und des amour courtois stilisiert; dieses Selbstverständnis berief sich zudem auf Ovids Ars Amatoria.27 Die Darstellung aller Schlachten hätte offensichtlich auch Adressaten des 15. Jahrhunderts ermüdet, präsentiert werden denn auch vorrangig Höhepunkte. Im sechsten Teppich mit der fünften Schlacht ist ein Kentaur beteiligt, wie ihn bereits mittelalterliche Texte integrieren. Auf zwei Teppichfragmenten in New York und Worcester treibt das antike Wunderwesen die Griechen zurück zu ihren Zelten, bis Achill es mit einem Speer tötet. Der Kentaur wurde beidseits der Alpen ähnlich visualisiert. Verwiesen sei exemplarisch auf das Kentauren-Aquamanile aus Bronze für zeremoniale Handwaschungen in New York (aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts) oder das bekannte Gemälde Sandro Botticellis (um 1482) in Florenz. 28 Als Geschöpfe Gottes fanden einige der Mirabilia bis ins frühe 17. Jahrhundert weitgehende Akzeptanz, zumal weiterhin gültig erachtete antike Texte (vorrangig von Plinius d. Ä.) ihre Existenz gewissermaßen bezeugten. Ob mit der Darstellung des Sagittarius im Troja-Zyklus ein gezielter Verweis auf die antike Welt intendiert war, oder sich hier einfach die Lust am ›fabelhaften Erzählen‹ Bahn brach, sei an dieser Stelle offen gelassen. Der ebenfalls auf Seiten der Trojaner kämpfende Riese Hupon le Grand, den Achill schließlich besiegt, ist hingegen eine genuin mittelalterliche Zutat. Veranschaulicht ist weiterhin das Zelt des Achill, vor dem der Grieche und Hektor während einer Waffenpause einen Zweikampf beschließen. Die nächste Episode gibt die Einkleidung des trojanischen Heros ganz nach zeitgenössischen ritterlichen Idealen wieder. Allen Unheil verheißenden Traumbildern und Warnungen seiner Gemahlin Andromache zum Trotz zieht Hektor schlussendlich in den Kampf (siehe Abb. 15). Die siebte Tapisserie zeigt die zehnte Schlacht, in der der oberste Kriegsheld der trojanischen Linie wie vorausgesehen durch die Hand Achills fällt. Die mittlere Epi_____________ 27

28

Die Publikationen zu diesen Aspekten sind nahezu uferlos. Exemplarisch seien genannt: Huizinga (2006); Bumke (1992); Bumke (1994); Paravicini (1999); Camille (2000); Fleckenstein (2002); Zotz (1990); Zotz (2002); Lutz (2005); Müller (1996); Müller (1998); Neumeyer (1998); Bartz/Karnein/ Lange (2001); Oschema (2005); Franke (2007); Franke (2010b); Franke (2010c); Franke 2012; Franke/Welzel (2010b). Ausst.-Kat. Bild und Bestie (2008), Kat. Nr. 33.

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sode imaginiert die Gedenkfeier zum ersten Jahrestag seines Todes (Abb. 7). Das Grabmal mit der Effigie Hektors und den aufgestellten Wachskerzen bot den Adressaten zugleich eine, wenn auch teilweise verfremdete, visuelle Bestandsaufnahme der realen Welt – konkret der christlichen Totenfeiern bzw. Anniversarien. 29 Solche Spiegelungen unter-stützten die Identifikation der Betrachter mit ihren Heroen. Hektor vertrat bei den Neuf Preux, die mindestens bis ins frühe 16. Jahrhundert verehrt wurden, zusammen mit Julius Caesar und Alexander dem Großen die heidnische Antike. 30 Er wurde als ritterliches alter ego und Vorbild kämpferischen Mutes in Anspruch genommen. 1388 kaufte zum Beispiel Philipp der Kühne eine textile Histoire des Dix Preux et des IX Preuses, zu denen Penthesilea und acht weitere Amazonen zählten. Die Panzerhemden und Harnische der großen männlichen Standfiguren sowie die Waffen und Schilde der Heroinnen waren aus Gold- und Silberfäden gewirkt. 31 Das, wenn auch nicht so prachtaufwendige, Fragment eines Preux-Teppichs mit den Wappen des Herzogs von Berry (1385) in New York vermittelt einen Eindruck von solchen Darstellungen. 32 Zu den gewirkten Erzählungen der beiden berühmten Trojanischen Akteure vom Ende des 14. Jahrhunderts kamen wiederum entsprechende Goldschmiedearbeiten. 33 Der siebte Behang zeichnet sich durch weitere prägnante Umformungen des antiken Stoffes aus: Bei der Totenfeier ist – im Sinne des period eye – Achill anwesend, der dem ritterlichen Ideal folgend den ehemals unterlegenen Gegner mit seiner Anwesenheit ehrt. Reale performative Akte spiegeln die Bedeutung solcher Visualisierungen. So trat der Herzog René von Lothringen 1477, der zusammen mit den Schweizer Eidgenossen Karl den Kühnen bei Nancy besiegte, bei dessen Totenfeier in einem Trauergewand all’antiqua und einem goldenen, bis zum Gürtel reichenden Bart auf und betete in dieser Identität eine Viertelstunde lang. 34 Als Caesar, mithin als einer der Neuf Preux, ehrte er damit nicht nur den unterlegenen Burgunderherzog, sondern feierte zugleich seinen eigenen Triumph. Rittertum und Höfischheit waren zudem nicht vollständig ohne die höfische Liebe. Daher implementierte man in den Mythos noch eine zweite tragische Liebesgeschichte: Bei der Gedenkfeier für Hektor verlieben sich Achill und Polyxena unsterblich ineinander. Analog zu den literarischen Fassungen bot auch diese dem ursprünglichen Mythos fremde Episode eine weitere angemessene Projektionsfläche für die zeitgenössischen Rezipienten. Die narrative Sequenz endet mit der zwölften, wiederum für die Griechen siegreichen Schlacht und der Werbung Achills um Polyxena. _____________ 29 30 31 32 33 34

Die Szene folgt weitgehend Lefèvre, Recueil; ausführlich Franke (1997b), 132 f.; Franke/Welzel (2010). Schroeder (1971), 84–89 zu Teppichen; Sedlacek (1997), 11–15 und 113–117. Zuweilen wurden die Neuf Preux um einen zeitgenössischen zehnten Helden ergänzt. Zu den Preuses: Schroeder (1971), 185 f., 217 (Teppiche); grundlegende Sedlacek (1997), zu Tapisserien 109–117, hier bes. 113 f. Cavallo (1993), Nr. 2. Vgl. u. a. Lightbown (1978), 72. Huizinga (2006), 475; Ehm-Schnocks (2005), 29.

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Die achte Tapisserie – das Kunstwerk in Zamora misst 4,81 x 9,42 Meter – visualisiert gleich drei grandios inszenierte Schlachten mit Einzel- und Gruppenkämpfen vor den Toren Trojas. In der linken Partie sind die achtzehnte und neunzehnte Schlacht zusammengefasst (Abb. 8). Im wilden Kampfgetümmel verliert unter anderem Menelaos den ritterlichen Zweikampf gegen Paris. In der neunzehnten Schlacht köpft Achill nicht nur Troilus (in der linken oberen Ecke), sondern schleift den Leichnam von Polyxenas Bruder auch noch ehrlos am Schweif seines Pferdes über das Schlachtfeld (unten links). Der griechische Heros stirbt dann auch selbst keinen ehrenhaften Tod. Hekuba, die Mutter Hektors, lockt den Verliebten mit dem Versprechen, er könne Polyxena treffen, in die Falle. Im zentralen Bildfeld trifft Paris, der Achill im Tempel des Apollon mit Gefährten aufgelauert hatte, nicht nur die sprichwörtlich gewordene Achillesferse seines verhassten Gegners (Abb. 9). Von Pfeilen durchbohrt sinkt der modisch-elegant gekleidete Held zu Boden, neben ihm am Boden, in effektvollen Verkürzungen, sein ermordeter Freund Antilochos und einige Trojaner, die sie in den Tod mitnahmen. Unter den quasi hindrapierten, in kunstvollen Verkürzungen präsentierten Kriegern befinden sich auch ein Schwarzer mit Turban und ein Orientale mit türkischem Turbanhelm. In der zwanzigsten Schlacht im rechten Drittel des textilen Bildes unterliegt Paris schlussendlich Ajax. Wie in diesem Artefakt sind Kämpfe immer wieder in körpersprachlich dramatische Figurationen umgesetzt, die auch aus heutiger Sicht Brutalität nicht aussparen. Jedoch zielte der Affektgehalt solcher Szenen, stets kombiniert mit einer luxuriösen – sprich großartigen – vestimentären Aufmachung der Protagonisten und der ihnen zur Seite gestellten anonymen Stimulationsfiguren, zunächst einmal auf die Bewunderung der ruhmreichen, vorbildlichen ›antiken Ritter‹. Die nächsten beiden Sequenzen erzählen von Penthesilea, die den Trojanern mit 1000 tugendhaften Kriegerinnen, so der Titulus, zu Hilfe eilt. Der petit patron in Paris (Abb. 10) und der heute unvollständige, 4,16 x 7,37 Meter große neunte Teppich in London zeigen als erste Handlung den Empfang der Amazonenkönigin durch König Priamus und sein Gefolge an einem der mächtigen Stadttore Trojas. Vor Augen geführt werden dann die kriegerischen Heldentaten Penthesileas und ihrer ›Ritterinnen‹. Anders als bei den kunstvoll dargebotenen Massenszenen mit ihren diversen Aktionszentren scheinen hier Einzelkämpfe ›herangezoomt‹ zu sein. Hinterfangen von vielen gesichtslosen Kriegern, von denen man nur die Helme sieht, erhält die Königin der Amazonen eine Vorrangstellung und besondere Präsenz, die ihrem zeitgenössischen Ruhm entsprach. Die Komposition suggeriert zudem die Beteiligung großer Heerscharen. Im Anschluss bildet wiederum ein Zelt den Schauplatz: In Anwesenheit Agamemnons wird Pyrrhus die Rüstung seines Vaters Achill angelegt. Bereits das modello kennzeichnet das Material des Zeltes als einen Stoff mit pseudoarabischen Schriftzügen; in der Tapisserie sind arabische, griechische und lateinische Buchstaben kombiniert. Ähnliche Textilien finden sich auch bei einigen Gewändern, darunter Kaftane (siehe unter anderem Abb. 2). Solche reich mit Goldfäden durchwirkten panni tartarici (Seidenstoffe), die man im 13. und 14. Jahrhundert aus dem mongolischen Großreich importierte, wiesen zuweilen lesbare arabische Schriftzüge

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auf. 35 So sind in einem zentralasiatischen Gewebe aus dem 14. Jahrhundert, das in Danzig für ein liturgisches Gewand verarbeitet wurde, zwischen den farbenprächtigen Ornamentstreifen Schriftreihen platziert: »as-sultan-alalim« – »der weiseste Sultan« (Abb. 11). 36 Gegen 1400 übernahmen dann die italienischen Seidenweber das Monopol (siehe etwa das Manteltuch Achills in Abb. 9 oder Polyxenas Robe in Abb. 13b). Der hier nur skizzierte Dialog der Welt in den Bildern mit der Wirklichkeit vor den Bildern ist eines der Charakteristika der Kunst des 15. Jahrhunderts. 37 In der darauffolgenden Schlacht gelingt Penthesilea ein weiterer Triumph. Sie stößt Pyrrhus mit einem Lanzenhieb vom Pferd; der junge Ritter vermag jedoch zu entkommen. In der zehnten Tapisserie fällt die zunächst Unbesiegbare gleichwohl von Pyrrhus’ Hand. Die Helme von Griechen, Trojanern und Amazonen – nur wenige Arme oder Oberkörper ragen aus der Menge hervor – bilden auch hier die Folie für die in Nahsicht fokussierte heldenhafte Szenerie. Im oberen Drittel sind erneut Nebenschauplätze ergänzt: weiteres Kampfgetümmel und der Verrat Ilions durch die Trojaner Aeneas und Antenor. Die rechte Hälfte des Behangs veranschaulicht den betrügerischen Friedensschluss von Odysseus und Diomedes mit Priamus und die schlechten Vorzeichen beim Friedensopfer im Tempel. Die elfte Tapisserie (Abb. 12) bringt den End- und Höhepunkt der Narration: das Hereinholen des Verderben bringenden monumentalen Holzpferdes, das durch eine Schabracke aus einem zeitgenössischen italienischen Seidenstoff nobilitiert ist, in die Stadt; weiterhin das Eindringen der Griechen, die die Stadtmauern niederlegen, sowie die endgültige Zerstörung Trojas durch Brandschatzung. Zunächst wird Priamus im Apollon-Tempel von Pyrrhus ermordet, dann rächt der Grieche den Tod Achills, indem er Polyxena auf dem Grab seines Vaters vor den Mauern der Stadt tötet (Abb. 13a u. 13b). Währenddessen verhindert Ajax die Flucht von Hekuba und Kassandra. Den Abschluss bildet ein Autorenbild, wie es auch die zeitgleiche Buchmalerei kennt. Der Schriftsteller in seiner Studierkammer bezeugt gewissermaßen die Authentizität der (Bild-)Erzählung und unterstreicht dadurch die auctoritas des vergangenen Weltereignisses für die zeitgenössischen Adressaten. Die Identität des Autors gibt der Titulus nicht preis. 38 Diese Offenheit ermöglichte den unterschiedlichen Adressatenkreisen einen individuellen, variierten Zugriff auf die Narration. Der Autor unterstreicht nicht nur den historiographischen Charakter des Zyklus, er verkündet auch die ethische Botschaft des Mythos: »Die Griechen machten grausame und unmenschliche / Gemetzel und zerstörten die Stadt. / Sie rissen die berühmte Stadt nieder / und haben so Ylion zerstört.« Man verurteilte also die Griechen, die _____________ 35 36

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Zu Seidenstoffen bes. von Fircks (2008) und der Beitrag von Kristin Kennedy, »Ornament«, in: Davies/Kennedy (2009), 157–183 (zum Troia-Teppich 173 und 188 f.); vgl. ebenfalls Anm. 50. Luxustextilien, orientalische Kleidungsstücke und kostbare Zelte lassen sich immer wieder in europäischen Schatzsammlungen nachweisen. Vgl. von Fircks (2008); Franke/Welzel, Morisken; siehe auch Anm. 50. Ich danke Birgitt Borkopp-Restle (Bern), die einen Katalog des Danziger Paramentenschatzes vorbereitet, für die Bereitstellung der Vorlage. Siehe auch die prägnanten Studien von Welzel (2002); Welzel (2004a); Welzel (2004b). Homer, wie Belozerskaya (2005), 116, annimmt, kann allerdings keineswegs gemeint sein, siehe oben.

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nur durch eine List und nicht in einem fairen, ehrenvollen Kampf gesiegt hätten. Die unterlegenen Trojaner hingegen wurden für ihre vertu (ritterliche und kriegerische Vollkommenheit) gepriesen, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts zumindest idealiter ein entscheidendes Kriterium für das Selbstbild und die Lebensführung der aristokratischen Eliten bildete.

IV. Die ›höfische Antike‹: Konstruktion einer Imaginationswelt im Dialog von Fiktion und Wirklichkeit Seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist an den Höfen Europas (erneut) eine Intensivierung des Interesses an antiker Literatur und historischen Persönlichkeiten des Altertums sowie an Modellen für Herrschaft und Kriegsführung zu verzeichnen. In den Blick gerieten ebenso antike Gemmen, Medaillen, Münzen und andere Artefakte sowie schließlich Architektur und Skulptur. Eine Schlüsselfigur, vorrangig in Italien, stellte Cyriacus Pizzecolli (1391–1452) dar. 39 Der italienische Kaufmannssohn, der sich selbst Latein und Griechisch beibrachte und u. a. Vergil, Homer und Aristoteles las, studierte nicht nur die antiken Monumente in Rom, die Villa Kaiser Hadrians bei Tivoli und weitere italienische Stätten des Altertums. Auf seinen vielen Handelsreisen nach Konstantinopel und zu anderen Orten in Kleinasien (er besuchte u. a. Didyma und Milet), nach Athen, auf die Peloponnes und zu den griechischen Inseln sowie nach Ägypten und Syrien erforschte Cyriacus – zuweilen als erster und letzter Archäologe – weitere griechische und römische Orte. Er notierte, was er sah, dokumentierte Inschriften und zeichnete Monumente, architektonische Stilphänomene und einzelne Bauteile, Skulpturen, Steinreliefs und andere antike Überreste. Ob in Rom, Konstantinopel, Athen, Alexandria oder Damaskus, stets hatte er vor allem die Schriften von Plinius d. Ä. und Strabo im Gepäck, um zu überprüfen und zu analysieren. Der Kaufmann stand bald nicht nur im Dialog mit Künstlern wie Filippo Brunelleschi, Lorenzo Ghiberti und Donatello, er war ebenso bei Cosimo d’ Medici und in Florentiner Humanistenkreisen sowie bei Kardinälen oder etwa in Ferrara bei Leonello d’Este willkommen. erlangte außerdem das Vertrauen von Papst Eugen IV., Kaiser Sigismund und Johannes VIII. Palaeologus, bekam Audienzen bei Sultan Murad Bey. Von seinen Reisen brachte er zudem Gemmen, Medaillen und Münzen mit, überaus begehrte Sammlerobjekte. So schenkte Cyriacus Sigismund anlässlich von dessen Kaiserkrönung in Rom 1433 in einer anspielungsreichen Geste eine Goldmünze von Kaiser Trajan.40 Doch zunächst waren die Kenntnisse von antiquitas wohl weitgehend ein Insiderwissen, das erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts stärker zu zirkulieren begann. Bis dahin war der antike Stilmodus noch keineswegs das allgegenwärtige und allgemeingültige Bezugssystem für die Künste. Die Vorstellung einer gewissermaßen _____________ 39 40

Grundlegend Belozerskaya (2009). Belozerskaya (2005), 147 f. Bei der Prozession des Kaisers durch Rom trat im Übrigen der Magistrat der Stadt in goldenen Gewändern nach antikem Vorbild auf.

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korrekten, sprich antiken Formensprache in Italien im Gegensatz zu einer in mittelalterlichen Stilprinzipien verharrenden Formensprache nördlich der Alpen lässt sich ebenfalls nicht aufrechterhalten. Das Gesamtbild der Antikenrezeption stellt sich vielmehr deutlich komplexer dar. 41 Es existierte ein reger Austausch von Artefakten, aber auch von handwerklichem Können, ästhetischen Prinzipien und konkreten Bildmotiven. Die italienischen Potentaten schätzten südniederländische Tapisserien ebenso wie die nordalpinen Fürsten italienische Seidenstoffe und Rüstungen. Letztendlich war die Antike bis gegen 1500 für Eliten wie Künstler ein Experimentierfeld, d’ancienne facon oder all’antiqua konnte Vieles bedeuten. Zunächst existierten denn auch diverse Darstellungsparameter in den Kunstgattungen (zuweilen sogar in einer Gattung) und differierende Formen der Antikenrezeption nebeneinander: »past as a playground« 42 mit variablen Stilmitteln. Nur so konnte Karl der Kühne textile Bilder wie den Troja-Zyklus schätzen und zugleich Giovanni Candida mit einer Medaille all’antiqua beauftragen, die ihn – wenn ich richtig sehe – als ersten Fürsten nördlich der Alpen in der Manier eines antiken Herrschers veranschaulichte. 43 Die »höfische Antike«, wie ich die Antikenrezeption und die Transformationsleistung der Troja-Tapisserien ausgehend von Aby Warburg bezeichnen möchte – fand bis ins frühe 16. Jahrhundert in allen europäischen Machtzentren Akzeptanz. Aufgrund der dynastischen und politischen Beziehungen sowie der weitgehend gemeinsamen Mythenwelt, Erzählmuster und Bildcodierungen wird sich der textile Bilderfries den eingangs genannten Fürsten und ihrem Hofstaat im inner- wie interhöfischen Dialog sicher weitestgehend ohne Missverständnisse vermittelt haben. Der Troja-Zyklus wurde gleichermaßen am burgundischen, französischen und englischen Hof wie an italienischen Höfen wiederholt bei hochrangigen Ereignissen verwendet. Die elfteilige Edition Federigos da Montefeltro beispielsweise, die bereits nach dem Ankauf 1476 große Wertschätzung gefunden hatte, lieh sich Herzog Francesco II. Gonzaga 1490 für seine Hochzeit mit Isabella d’Este in Mantua aus. Kurz vor 1503 entwendete Cesare Borgio diese Teppichserie für einige Zeit, und sogar noch 1566 bewunderte man das Kunstwerk in Urbino. 44 Für narrative Inszenierungen jedweder Art ist seit alters her die Wahl der Schauplätze und Kostüme von ausschlaggebender Bedeutung. Das gilt auch für den TrojaZyklus, der deutlich mehr als eine orientalisierende Phantasiewelt visualisiert. Zu den prominenten Handlungsorten zählen gleich drei heidnisch-sakrale Orte: der Venus_____________ 41

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Aus der Fülle der Literatur seien hier stellvertretend genannt Warburg (1932; verfasst bereits 1913); Baltrusaitis (1994, in Russisch bereits 1955); Heitmann (1981); Vanderjagt (1995); Vanderjagt (2001); Haskell/Penny (1982); Ausst.-Kat. Heroic Armor (1998); Pfaffenbichler (1996); Dunkerton/Foister/Gordon (1991); Ehm-Schnocks (2005); Carque (2004); Ausst.-Kat. Troia (2001); Ausst.-Kat. Karl der Kühne (2008); Franke (1995); Franke (1997b); Franke (1999); Franke (2000a); Franke (2007); Franke/Welzel (2010); Belozerskaya (2002); Belozerskaya (2009); Hoppe (2008); Hoppe (2009); Hoppe/Nussbaum/Müller (2008); Boschung/Wittekind (2008); Davies/Kennedy (2009); Davies (2009). Davies (2009), 136. Franke (1997b); zuletzt die diversen Beiträge in Ausst.-Kat. Karl der Kühne (2008). McKendrick (1991), 51, 55–58; Belozerskaya (2005), 116.

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Tempel im zweiten Behang (Abb. 4), der Apollon-Tempel im siebten Teppich (Abb. 7) und noch einmal der Apollon-Tempel in der elften Tapisserie (Abb. 12). Exemplarisch sei hier der Tempel Apolls genauer in den Blick genommen. Eine Kuppel aus weissem Stein (Marmor?) ruht auf einem Unterbau mit schlanken, tendenziell polychromen Marmorsäulen mit Akanthuskapitellen all’antiqua. Die Säulenschäfte sind mit sich überkreuzenden, von Rosetten verzierten Bändern aus edlem Metall versehen. Den Eingang akzentuieren zudem zwei kostbare, artifizielle Fenstergitter, während den Tambour Laibungen mit Maßwerk und zwei Filialen mit kleinen stehenden Skulpturen auszeichnen, die auf edelsteinbesetzten Konsolen ruhen. Im Tempel selbst scheint die (bronzene oder goldene) Statue des hier gerüsteten Apoll auf einem großen, hohen Altar platziert, wobei in die runde Marmorbasis wiederum gotische Maßwerkelemente und Rosetten sowie eine pseudo-arabische Schrift geschnitten sind. Große Kerzen und ein abschrankendes Gitter mit Spitzen in Form von fleurs-delis (Emblem des französischen Königshauses, d. h. auch der Burgunderherzöge), also einer zeitgenössischen Hoheitsformel, vollenden das Ensemble. Die Architektursprache der Tapisserien war insgesamt weder in der zeitgleichen, noch in der weiter zurückliegenden Baukunst geläufig. Allerdings wurden antike Stätten über Jahrhunderte als Steinbruch für zeitgenössische Bauwerke genutzt. An manchen Orten setzte man zudem antike Spolien – seien es Säulen und Kapitelle aus luxuriösen Steinarten wie Porphyr und Marmor oder aber Gemmen und andere Objekte – auch als inhaltlich aufgeladene Elemente ein. Der burgundische Hofkünstler Jan van Eyck integrierte in seine gemalten Architekturfiktionen wohl als erster Künstler akribisch genaue Baudetails spätantiker bzw. frühmittelalterlicher Herkunft als historisierende Codes für altehrwürdige Zeiten. 45 Doch nie ging es um die visuelle Rekonstruktion vergangener Monumente. Die antiken Tempel, die man damals kannte bzw. die Cyriacus auf seinen Expeditionen erkundete, sahen deutlich anders aus als alle gemalten und textilen Architekturerfindungen. Ähnlichkeiten mit dem ersten Apollon-Tempel weist allerdings – zumindest in der architektonischen Grundstruktur – erstaunlicherweise das Mausoleum eines syrischen Noblen aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr. in der Nähe der Athener Akropolis aus. 46 Es kann jedoch nicht Aufgabe dieser Studie sein, mögliche Wege der Wissensvermittlung nachzuzeichnen. Im 15. Jahrhundert wurde der Zentralbau durchgängig als die antike Bauform gedacht. Man bewunderte das Pantheon in Rom und die überkuppelte Hagia Sophia in Konstantinopel mit ihren polychromen Säulen und Wänden ebenso wie türkischosmanische Zentralbauten. Bekanntlich interpretierte man auch das Baptisterium in Florenz noch im 15. Jahrhunderts als alt-römisches Bauwerk. Ebenso legt die Kuppel des Domes in Florenz von Brunelleschi von dieser historischen Sichtweise Zeugnis ab. Mit-hin verwendete(n) der/die Entwerfer des Troja-Zyklus bei den drei _____________ 45 46

Dabei wurde die Romanik offenbar als stilistische Stellvertreterin der Antike interpretiert; Hoppe (2008); Hoppe (2009). Ich danke Stephan Hoppe für die Bereitstellung des Manuskriptes. Belozerskaya (2005), 194–196 (mit Abbildung). Zwei Jahrhunderte, nachdem Cyriacus das antike Monument aufgesucht hatte, existierte es bereits nicht mehr.

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überkuppelten Zentralbauten eine allgemein tradierte, aussagekräftige Bildformel mit Versatzstücken all’antiqua. 47 Stephan Hoppe hat in seinen grundlegenden Studien zur nordalpinen Antikenrezeption aufgezeigt, dass dieses Motiv ebenfalls bei den flämischen Caesaren-Tapisserien (Bern) eingesetzt ist. 48 Ergänzen ließe sich der um 1450 dargestellte, edelsteinbesetzte Palast in der textilen Historie vom Heiligen Kreuz (Zaragossa), den König Kosrau der Legende zufolge in Byzanz bauen ließ. 49 Die Aufstellung der Götterstatuen auf freistehenden Säulen oder Steinbasen – die Venusskulptur ist vor dem Tempel auf einer runden Steinbasis platziert, während im Apoll-Tempel des elften Teppichs die nun sitzende, profan gekleidete Figur auf einem altarähnlichen Aufbau an die Wand gerückt ist – signalisierte den Rezipienten ebenfalls, dass es sich um heidnische, sprich antike Bildwerke handelt. Die für die Antike untypische Aufmachung der Skulpturen spielte dabei nur eine sekundäre Rolle, trug doch das alttestamentliche Bildpersonal dieser Epoche tendenziell ähnliche zeitlose Gewänder. Die deutlichen Unterschiede in der Gestaltung der beiden Apollon-Tempel und die Differenz der Figuren erklären sich wahrscheinlich aus dem Prinzip einer kunstvollen, von der höfischen Öffentlichkeit geforderten variatio (beide Behänge gehören zu ein- und derselben Edition in Zamora). Lassen wir an diesem Punkt die Frage nach dem potentiellen Wissen der historischen Künstler und Rezipienten um die antike materielle Kultur und nach möglichen Realerfahrungen einmal außer Acht und fragen nach anderen Quellen für die Imagination einer ehrwürdigen Vergangenheit. Ins Auge fällt der überbordende Bauschmuck der Architekturkulissen im Troja-Zyklus. So suggerieren die phantasievollen freistehenden Säulen um den polygonalen Venus-Tempel (Abb. 4) oder die einfallsreich übereinander gesetzten Säulen und der verzierte, durchfensterte Tambour des Apollon-Tempels im letzten Behang (Abb. 13a) einen opulenten Besatz mit Gold, Edelsteinen und/oder Perlen. An den Höfen zirkulierte ein über Jahrhunderte ausfabuliertes Wissen über den Fernen Osten und seine Wunder in naturkundlichen Werken, Bestiarien, Historien des Alten Testaments, Heiligenlegenden und höfischen Ritterromanen sowie Weltchroniken und realen wie fiktiven Reiseberichten, das für »Erfindungen des Fremden« zur Verfügung stand. Eine Referenz für (Stadt-) Burgen und Schlösser stellten immer wieder der magnifizente Palast des Königs Assuerus/Ahasverus mitsamt der Hofhaltung und der wundersame Palastturm Kosraus sowie die Berichte John Mandevilles und Marco Polos von der Prachtentfaltung byzantinischer Herrscher und Kublai Khans dar. 50 Sie prägten die Topoi von _____________ 47

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Die Entstehung von franko-flämischen Bildteppichen verdankte sich in der Regel einer »pluralen Autorschaft«: dem Künstler (Maler), der die petits patrons (ersten Entwürfe) lieferte, dem zumeist beteiligten Kartonmaler, der die großformatigen Vorlagen im Maßstab 1:1 für die Teppichwirker schuf, und den künstlerisch eigenverantwortlich arbeitenden Tapissiers. Vgl. Franke (1997a). Hoppe (2008). Torra de Arana/Tortajada/Pérez (1985), Serie 2; Delmarcel (1999), 40 f., 43; Franke (1994). Buch Esther, s. Franke (1998); zu Kosrau Anm. 49; Polo, Das Buch der Wunder; Polo, Il Milione; John Mandeville, Reisen des John Mandeville; dazu ausführlich Franke/Welzel, Morisken (voraussichtlich 2013). Zur Orientrezeption aus kunsthistorischer Sicht noch immer grundlegend Baltrusaitis (1994); Franke (1994); Franke (2000a); Ausst.-Kat. Europa und der Orient (1989); Ausst.-Kat. Im Lichte des

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dem unglaublichen Luxus ferner, ehrenvoller Vorzeiten wesentlich mit. Zeitliche und räumliche Ferne bedeutete mithin immer auch Orientrezeption. Darüber hinaus galt Troja mindestens bis gegen 1500 als schönste, mächtigste und edelste Stadt der Welt. 51 Im bilanzierenden Titulus der elften Tapisserie des Troja-Zyklus heißt es entsprechend: So endet die unglückliche Geschichte / der großer Berühmtheit würdigen Stadt, / Troia die große, so edel und ehrbar / Von so großem Ruf, von so ausgezeichnetem Namen, / von so großem Lob, von so großer ehrenvoller Erwähnung, / so reich und gewaltig erbaut, / machtvoll durch Herrschaft / einst blühend, gegenwärtig nun aber zerstört.

Der Ruhm Trojas bezog sich auch auf den Palast, dessen Idealbild vermutlich erstmals Benoît de Sainte-Maure in seinem Roman de Troie entwarf: Der Festsaal besteht aus Marmor, edlen Hölzern und wertvollen farbigen Steinen. Dort befinden sich ein Thron an der Stirnseite und gegenüber, auf zwanzig Stufen, ein Altar mit dem goldenen Standbild Jupiters sowie eine Ehrentafel aus Ebenholz und Elfenbein. Hingewiesen sei in diesem Kontext auf die monumentale herrscherliche Tafel aus schwarzem Marmor in der Grande Salle des Königspalastes in Paris, der Ende des 13. Jahrhunderts errichtet wurde. Im Schloss Ilion existierte weiterhin die nahezu magische chambre des beautés, ein tagheller Prunkraum aus arabischem Gold, Alabaster und den zwölf schönsten Edelsteinsorten mit vier wundersamen Automaten. Hinzu kamen andernorts unzählige Skulpturen, Statuen, Reliefs und Bilder. Die Prachtentfaltung vergangener Epochen hatte nicht nur literarische Spuren hinterlassen. Cyriacus meinte bei den mächtigen Ruinen des Jupitertempels von Cyzicus, den Kaiser Hadrian 139 v. Chr. errichten ließ, sogar noch Marmorwände mit Spuren von Goldbändern zu entdecken. Und er führt als Beleg Plinius d. Ä. an, der in seiner Historia naturalis berichtet, der Architekt habe in den polierten Marmor goldene Bänder eingelegt. 52 Darüber hinaus ist mittelalterliche Automatenkunst für den Orient und in Teilen auch für den Okzident dokumentiert. 53 Die bühnenartigen Architekturen der Troja-Tapisserien sind weiter durch Skulpturen, darunter Fabelwesen, Löwen und menschliche Figuren, geschmückt. Der Palast des Priamus im zweiten Behang zeigt außer den obligatorischen Geschlechterwappen drei große Herrschermedaillons all’antiqua. Solche Bildformeln wurden mindestens seit dem 14. Jahrhundert als Antikenverweise in andere Kunstwerke integriert; im 16. Jahrhundert sollten Herrschermedaillons dann in der Architektur weite Verbreitung finden. Beispielsweise glaubte sich der Herzog von Berry gleichermaßen in Besitz von vier antiken Medaillen von Oktavian, Tiberius, Konstantin und Heraklius _____________

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Halbmonds (1995); Ausst.-Kat. Venice and the Islamic World (2007); Belozerskaya (2005); von Fircks (2008); Franke/Welzel (2012); weiterhin Le Goff (1999); Greenblatt (1994); Bitterli (1992); Engels/ Schreiner (1993); Jankrift (2007); Spufford (2004). Hierzu u. a. Brunner (2001); Sullivan (1985); Belozerskaya (2005), 69 f.; Suckale-Redlefsen (2007), 18 f. Belozerskaya (2009), 115 f. Ein prominentes Beispiel ist das burgundische Schloss Hesdin mit seinem gemalten Jason-Zyklus, der mit einer Wettermaschinerie inszeniert werden konnte, und anderer Automatenkunst. Hierzu Franke (1994).

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wie von zwei Pokalen d’ancienne facon; eine der vorgeblich antiken Trophäen wies in ihrem komplexen humanistischen Programm vier Herrschermedaillons nach antiken Vorbildern auf. 54 Selbst bei dem Figürchen des offenbar pinkelnden Knaben, das auf dem oberen Spitzbogen der Studierklause des Autors im letzten Troja-Teppich thront, könnte es sich um ein Antikenzitat handeln. 55 Statuen, narrative Reliefs und anderer Bauschmuck gehörten auch zur Nobilitierung mittelalterlicher Herrschaftsarchitektur. Hingewiesen sei auf das Programm der farbig gefassten Figuren französischer Könige in der Pariser Grande Salle. Ein dezidiertes Übermaß an Skulptur brachte man jedoch – wenn ich recht sehe – vorrangig mit der Antike in Zusammenhang. In der Miniatur einer verlorenen Hystoire de Troie von Jean Colombe (nach 1490) ist die Vorstellung antiker Stadtbaukunst, Architektur und Skulptur geradezu auf die Spitze getrieben worden (Abb. 14). 56 Das Blatt mit den Maßen 50,9 x 32,9 Zentimeter veranschaulicht den Wiederaufbau Trojas nach dessen erster Zerstörung. Die Vordergrundszene zeigt König Priamus im Gespräch mit einem Bildhauer, der an einem Grabmal für einen Ritter arbeitet. Das noch freistehende Stadttor im Mittelgrund (mit Baukran) kennzeichnen neben beachtlichen Einlagen aus Porphyr und anderen edlen Gesteinen vielfältige Skulpturen und Reliefs. Die Bildfelder dieser Architekturfiktion thematisieren vorrangig Ritterspiele, auch häufen sich architektonische Zierelemente jedweder Art, darunter ebenso gotische Versatzstücke. Die Palastanlage im Hintergrund geht auf die September-Miniatur der Très Riches Heures zurück, die den herzoglichen Adelssitz Saumur wiedergibt. Das Stundenbuch war nach dem Tod Johanns von Berry und der Brüder Limburg über Jahrzehnte unvollendet geblieben. Erst zwischen 1485 und 1489 fügte Colombe dem fertig gemalten Schloss eine Weinernte hinzu und gestaltete damit die Miniatur zu einer weiteren prägnanten Domänedarstellung der Très Riches Heures aus. 57 Den trojanischen Palast ›antikisierte‹ Colombe durch unzählige Türmchen und Bilderfriese; der mächtige blaue Eckturm erinnert vage an die Trajanssäule. Einen analogen kreativen Prozess im Sinne einer ›höfischen Antike‹ habe ich für das Bildpersonal antiker Sujets bereits ausführlich nachgezeichnet. 58 Daher seien an dieser Stelle meine Forschungsergebnisse nur knapp referiert und um einige neue Aspekte ergänzt. Im Gegensatz zum vierteiligen Caesaren-Zyklus in Bern (ca. 1450– 1460), 59 der den Protagonisten und das römische Heer vorrangig in zeitgenössischen Rüstungen, deren Feinde hingegen in phantastisch-fremdartiger Kleidung mit antikisierenden Details auftreten lässt, präsentieren sich die Kostüme im Troja-Zyklus komplexer. Zunächst einmal führen Trojaner wie Griechen Standeskleider aus Stoff _____________ 54 55 56 57 58 59

Vgl. Lightbown (1978), 61; Franke/Welzel (2010). Franke (1994). Deckfarben auf Pergament; Berlin, Staatliche Museen zu Berlin Kupferstichkabinett, Inv. Nr. Min 4645; Meiss in: Longon/Gazelles(1989), 14, 24 f. und 178. Franke (1999); Franke (2000c); zu den Très Riches Heures Anm. 8. Franke (1997b); Franke (2000a); Franke (2007). Zu den Caesaren-Tapisserien Franke (1997a), 122–127; Delmarcel (1999), 56–59; Rapp Buri/ Stucky-Schürer (2001), 77–133; Ehm-Schmocks (2005); Ausst.-Kat. Karl der Kühne (2008), Kat. Nr. 129a–d, Fig. 70–72, 74 (Birgit Franke/Peter Jezler); Franke/Welzel (2010).

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und Metall vor, die aus Versatzstücken damals aktueller Rüstungen und (wohl vorrangig burgundischer) Hofmode sowie Elementen all’antiqua kompiliert sind. Durch die Einspielung von vestimentären Charakteristika des Orients in den Dialog von Phantasie und Realität sind außerdem andere kulturelle Schichten über die Narration gelegt. So tragen das Fußvolk und andere Nebenfiguren wiederholt exotisch anmutende militärische Schutzkleidung und Gewänder (darunter auch Kaftane), Turbane und byzantinische Hüte (wie sie auch die Medaille des Palaeologos von Pisanello zeigt) sowie türkisch-osmanische Turbanhelme und Sturmhauben einschließlich Krummschwertern. ›Sarazenisch‹ erschienen den Rezipienten sicher auch die Bärte. 60 Dieses Motivrepertoire kennt bereits die niederländische Miniatur- und Tafelmalerei der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Der Fall von Konstantinopel 1453, der zahlreiche Flüchtlinge mit ihrem Hab und Gut nach Europa brachte, steigerte gleichermaßen ein ohnehin vorhandenes Interesse am Orient sowie die Kenntnisse von orientalischen Gewändern, Kopfbedeckungen und Juwelen sowie Bart- und Haartrachten. Gleichwohl bieten die Troja-Teppiche nicht präzise Porträts arabischer bzw. osmanischer Kleidung. Vielmehr zielte die personelle ›Verfremdung‹ der Historie mit ihrer Steigerung von ›sarazenischer‹ Pracht dezidiert auch auf Verwunderung und Staunen, die bereits die antike Philosophie als Grundlage jedweder Erkenntnis sah. 61 In keinem Fall lässt die Integration von Orientalen und Schwarzafrikanern – wenn auch vorrangig auf Seiten der Trojaner – die Trojaner als Türken erscheinen. 62 Diese Interpretation lässt außer Acht, dass Identität in der Vormoderne am Körper vorgetragen wurde. Kleidung signalisierte nicht nur den sozialen Stand sowie den realen oder behaupteten gesellschaftlichen Rang, sie war vielmehr wesentlicher Teil der Identität und des self-fashioning. 63 Die personelle Prominenz Ilions (Trojaner und Griechen) präsentiert(e) sich in den textilen Bildern – ebenso wie in deren Nachfolgern im 15. Jahrhundert – in luxuriösen, tendenziell zeitgenössischen Kostümen (die dem Sujet entsprechend idealisiert sind) und/oder in reich ornamentierten Rüstungen all’antiqua. 64 Bemerkenswerterweise handelt es sich zudem bei den ritterlichen Kostümen, anders als bei den Architekturimaginationen, nicht durchgängig um fiktive Referenzen an die Antike bzw. die zeitgenössische Gegenwart. Zumindest einige Rüstungen spiegeln reale Artefakte. _____________ 60 61 62 63 64

So die zeitgenössische Bezeichnung derartiger Gewandung, aber auch vieler fremdartiger Objekte in fürstlichen Sammlungen. Zur Orientmode und deren Darstellung vom 14. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts Scott (1980); von Fircks (2008); Franke/Welzel, Morisken (voraussichtlich 2013). Ausführlich Franke (1994). Zu dieser These Harper (2005). Grundlegend Groebner (2004), siehe stellvertretend auch die Einleitungen zu Kleidung und Rüstungen in: Kühnel (1992), XXVI–LIX; Bumke (1994); Crane (2002); Franke (2007); Franke (2010a); Franke (2010b); Schorta/Schwinges (2009); Zitzlsperger (2010); Keupp (2011). Einzig König Priamus bildet mit seinem kaftanähnlichen Gewand und der Turban-Krone eine Ausnahme. Er war jedoch nie ein bedeutendes Rollenbild des 15. Jahrhunderts; abgesehen davon trug auch der europäische Hochadel immer wieder prächtige bodenlange Prunkroben. Hierzu u. a. Scott (1980); Scott (2009); Franke (2010b).

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Wie die Tapisserien gehörten auch die Rüstungen zu den fürstlichen Schatzsammlungen. 65 Herausragende Harnischmacher lieferten luxuriöse Roben aus Stahl für Herrschaftsinszenierungen nach Ferrara, Mantua, Florenz, Sevilla oder Madrid, Paris, Brügge, London, Budapest oder Innsbruck etc. Im 15. Jahrhundert stellten insbesondere die Missaglia in Mailand und ihren Filialen in Rom, Neapel, Barcelona und Tours ebenso Parade- und Prunkrüstungen in italienischem Stil wie armature alla tedescha und alla francese und wohl bereits mehr und mehr all’antiqua für alle bedeutenden Fürsten Europas her. 66 So reiste etwa 1464 Francesco Missaglia selbst aus Mailand an, um bei Philipp dem Guten in den Niederlanden Maß für eine Prunkrüstung zu nehmen. Wie zahlreiche andere Künstler beidseits der Alpen schufen auch die Entwerfer und Tapissiers des Troja-Zyklus antikisierende Körpererzählungen. 67 Sie elaborierten und verfremdeten aktuelle Harnische und Rüstungsteile – etwa die Brigantine (militärische Jacke mit innen eingenieteten Metallschuppen, die mit Brokatstoffen überzogen und mit vergoldeten Nieten, Metallringen etc. versehen war), Brustpanzer oder das Beinzeug – und verbanden diese mit faktischen römisch-antiken Merkmalen oder/und vorgeblich antiken Elementen. An vielen Orten standen antike Sarkophage als Ideengeber bereit. So schmückt Penthesileas Helm ein Drache, der sich bereits bei römischen Standarten u. a. auf der Trajanssäule findet (siehe Abb. 10). Gleichzeitig findet sich die Drachen-Zimier der Amazonenkönigin in einem Helmaufsatz in Madrid (ca. 1400), der von den Königen und Prinzen des Hauses Aragon getragen wurde, sowie in einer ledernen Helmzier in Florenz (15. Jahrhundert). 68 Insbesondere antike Pteryges (Lederlaschen) sind im Troja-Zyklus in nahezu allen Varianten durchgespielt. Leonine Schulterstücke und analoger Knieschutz oder vielfältig applizierte Löwenköpfe, die in den textilen Bildern mehrfach verwendet wurden (siehe Abb. 2, 4, 8, 12 und 15), gehörten hingegen nie zur antiken Schutzbekleidung. 69 Gleichwohl wurden gerade sie mindestens bis ins 16. Jahrhundert als prominentes, vordergründig ablesbares Merkmal einer Rüstung all’antiqua erachtet und – trotz aller Kenntnisse – weiter verwendet. Für Italien sind – aus heutiger Sicht – pseudo-antike Festkostüme in Schrift- und Bildquellen dokumentiert. 70 Doch auch die ›courtoisen Turniertheater‹ der französisch-burgundischen Höfe kannten ephemere Ausstattungsstücke, darunter das sin_____________ 65

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Hierzu stellvertretend Thomas/Gamber/Schedelmann (1963); Thomas/Gamber (1976); Ausst.Kat. Heroic Armor (1998); Lanzardo (1990); Kühnel (1991); Pfaffenbichler (1992); Ausst.-Kat. Roberto Capucci (1991); Barber/Barker (2001); Welzel (1998); Spufford (2002), 193–200; Beaufort/Pfaffenbichler (2005); Belozerskaya (2005), 135–170. Grundlegend Ausst.-Kat. Heroic Armor (1998); Belozerskaya (2005), 170. Zur Antikenrezeption u. a. Ausst.-Kat. Heroic Armor (1998); Pfaffenbichler (1996); Franke (1997b); Franke (2000a); Franke (2007); Franke/Welzel (2008); Franke/Welzel (2010); siehe auch Anm. 65 und 70. Lanzardo (1990), Nr. 79; Franke (1997b); Franke (2000a). Zu antiken Rüstungen u. a. Robinson (1975); Stemmer (1978); Garbsch (1978). Ausst.-Kat. Heroic Armor (1998), 12 f. Vermutlich wurden diese Festkostüme und Rüstungen zunächst aus Leder, Stoffen, Papiermasse und anderen Materialien gefertigt.

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guläre narrative Turnierschild in London. 71 Herausragende Maler, darunter nachweislich Leonardo da Vinci, Andrea Mantegna und Albrecht Dürer entwarfen immer wieder auch Rüstungen. 72 Eine exquisite Aufmachung im Stilmodus der ›höfischen Antike‹ für einen pas d’armes (szenisch gestaltetes Turnier) hätten zweifelsohne auch die Rüstung des heiligen Georg in der Paele-Madonna von Jan van Eyck (Brügge) und die vestimentäre Fiktion des Mars aus dem Umkreis des burgundischen Hofkünstlers (Dresden) abgegeben. 73 Wie dicht visuelle Transformationen zuweilen der Antike kamen, zeigt der Vergleich von Hektors Helm im petit patron (Abb. 15) mit dem Helm der Roma auf einer antiken Münze aus dem 3. bis 2. Jahrhundert v. Chr. (Abb. 16) und dem Entwurf eines alten Kriegers in ausdrucksstarker Prunkrüstung von Leonardo da Vinci (ca. 1480–1490). 74 Alle diese Kopfbedeckungen weisen ähnliche flügelförmige Seitenteile auf; Hektors Helm ist zusätzlich mit einem spitzen Schnabel akzentuiert. Im gewirkten Bild sind die Vogelflügel stark vereinfacht und ähneln eher dem Prunkhelm, den Achill in der neunzehnten Schlacht trägt (siehe Abb. 8). Die Mehrzahl der Helme auf Seiten der Protagonisten in der Troja-Folge verfügt über seitlich fixierte, runde Scheiben und ein abgewandeltes Spangenvisier. Doch handelt es sich bei den visualisierten Rüstungen tatsächlich stets um Fiktionen, die realen antikisierenden Parade- oder Maskenhelmen des frühen 16. Jahrhunderts vorausgingen? Der Bestand an erhaltenen noblen Rüstungen, figürlichen Helmen und hochwertiger Bewaffnung des 15. Jahrhunderts ist verschwindend gering. Überliefert ist ein wiederum singulärer, vermutlich in Italien entstandener Paradehelm in New York, der auf den Kampf des Herkules mit dem Nemäischen Löwen anspielt. 75 Über einem geläufigen Kampfhelm ist eine Löwenmaske aus vergoldetem Kupfer mit Augen aus roten Halbedelsteinen und silbernen Fangzähnen gearbeitet. Der Helm kommt allerdings kaum antiken Maskenhelmen, konkret den Paradehelmen mit aufklappbarer Gesichtsmaske, nahe. 76 Aufgerufen sei daher weiterhin eine phantastische Schaller aus dunkel gebläutem Stahl mit vergoldeten Schmuckteilen (Abb. 17) aus dem Besitz des Hauses Burgund-Habsburg-Spanien in Madrid (ca. 1515–1525). Sie wird dem Harnischmacher Kolman Helmschmidt, der für Kaiser _____________ 71

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Zum Turnierschild Franke (1997b); Franke (2007); Franke/Welzel (2008). Zur Turnierkultur u. a. die Aufsätze von Philippe Contamine, Thomas Zotz, Werner Meyer und Ortwin Gamber in: Fleckenstein (1985); Melville (1996); Neumeyer (1998); Barber/Barker (2001); Fleckenstein 2002; Franke (2007); Franke, »Ritterspiele«, in: Ausst.-Kat. Karl der Kühne (2008), 296 f. Die Aufgaben eines Hofkünstlers hat erstmals Martin Warnke (1985) ausführlich in den Blick gerückt. Ausst.-Kat. Karl der Kühne (2008), 292–293 (Birgit Franke); Franke/Welzel (2010), 81–82 u. 96–98; zu Jan van Eyck und Umkreis Belting/Kruse (1994), Nr. 44–45, 47, 51c, und Ausst.-Kat. Das Geheimnis (2005), Kat. Nr. 1–3. Ausst.-Kat. Heroic Armor (1998), 9 und 13, Fig. 28, 15. Thomas/Gamber/Schedelmann (1963), Nr. 15; Ausst.-Kat. Heroic Armor (1998), Kat. Nr. 8; Franke (1997b), 131; Franke (2007), 85 f.; Franke/Welzel (2010), 97–100; Ausst.-Kat. Karl der Kühne (2008), 231, Fig. 86. Garbsch (1978), 4–7 mit entsprechenden Abbildungen.

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Maximilian I. arbeitete, zugeschrieben. 77 Dieser Helm besitzt nun tatsächlich ein drehbares bzw. klappbares Visier, hier in einer kuriosen Mischung aus Drachenkopf und Hundeschnauze. Die seitlich montierten Adlerflügel, die am Visier in einer plastischen Volute ansetzen, beweg(t)en sich also beim Auf- und Zuklappen der Gesichtsmaske mit. Zwei weitere dekorative Schneckenformen und ein schmaler Drachenkamm auf dem Scheitel des Helmes fassen Schaller und Visier motivisch zusammen. Die Ähnlichkeiten mit der antiken Münze sind frappierend. Dieser Befund legt nahe, dass zumindest manche Helme und Rüstungsteile im Troja-Zyklus Vorlagen antike oder/und reale Kunstwerke reflektier(t)en oder diesen nachempfunden sind. Alles in allem stellte das Anlegen derartiger Harnische und Helme keine Maskerade im heutigen Sinne dar, sondern implizierte vielmehr einen zeitweiligen Identitätswechsel und die am Körper vorgetragene Behauptung, wie der Andere – eben ein »zweiter Herkules«, ein »anderer Hektor«, »neuer Caesar« oder »letzter Alexander« – zu sein. In jedem Fall forcierten die Körpererzählungen der TrojaTapisserien in einem hohen Maße die Identifikation der Adressaten mit den Figuren.

V. Zur Rezeption des textilen Mythos Im Dialog von Gehörtem und Gelesenem, von mentalen Vorstellungsbildern und visuellen Imaginationen bildeten die Mitglieder des Hochadels ihre Persönlichkeit und ihr Verständnis von Welt und Geschichte aus. Monumentale Tapisserien waren nicht zum einmaligen Betrachten da, man lebte mit ihnen über längere Zeiträume. Die Kunstwerke waren stets aufs Neue Projektionsflächen für individuelles Handeln und Erinnern, waren Verhandlungsorte und Knotenpunkte im Erzählfluss der vormodernen Welt. Ihre Protagonisten wurden immer wieder anders assimiliert und interpretiert. Diesen fluiden Charakter von Kultur übersehen werkimmanente Analysen, wenn sie Bildern vorrangig fest eingeschriebene Bedeutungen zuweisen, wenn sie die dauernden Re-Lektüren der Stoffe und Topoi ausblenden und den ausagierten Umgang mit den Artefakten ignorieren. Denn die eigentliche Adaption und Transformation von Historien – die Arbeit am Mythos – vollzog sich bei den Rezipienten in ganz konkreten personellen, lokalen und situativen Kontexten, in ritualisierten und zeremonialisierten Interaktionen wie in symbolischen Kommunikationen. 78 _____________ 77

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Franke (1997b), 131; zu Masken- und Groteskenhelmen auch Franke/Welzel, Morisken (vorauss. 2013); Schnitzer (1999), 130–135. Genannt sei in diesem Zusammenhang ebenfalls die italienische Adlerkopf-Zimier aus vergoldetem Kupfer von einem italienischen Turnierhelm (ca. 1450–1475), die auf eine Karussell-Sturmhaube von ca. 1570 montiert und der sog. Orca-Flügel beigefügt wurden; Lanzardo (1990), Nr. 82. Hierzu und den folgenden Ausführungen stellvertretend Schmitt (1992); Oexle/von Hülsen-Esch (1998); Althoff (2001); Althoff (2003); Stollberg-Rilinger (2004); Stollberg-Rilinger/Weißbrich (2010); Oschema 2005; Oschema (2006); Hahn/Melville/Röcke (2007); zu Performanz u. a. Martschukat/Patzold (2003); Fischer-Lichte (2004); Kolesch (2006); Fouquet/von Seegern/ Zeilinger (2003); weiterhin Franke (2010a); Franke (2010b); Franke (2010c); Franke/Welzel (2005); Franke/ Welzel (2008); Franke/Welzel (2010); Welzel (2004a); Welzel (2004b).

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Das visuelle Erzählprofil des Troja-Zyklus mit seinen vielfigurigen, heldenepischen Schlachtenpanoramen, dramatischen Verdichtungen und Simultanszenen bedingte bei aller Vertrautheit mit Mythen und Medien eine wiederholte, ereignishafte, vorrangig audiovisuelle Rezeption. Denn auch die Inschriften lieferten nicht durchgängig Erläuterungen der Episoden; zuweilen ergänzten die Tituli auch die Darstellungen. Je nach Kenntnis und Temperament wird ein agierender Erzähler/eine Erzählerin oder ein/e ›Spielleiter/in‹ – sicher immer wieder unter Mitwirkung weiterer kundiger BetrachterInnen – jeweils eine spezifische, aktuelle Interpretation der Historie mitsamt Rückblenden und Exkursen auf- und vorgeführt haben. 79 Mythen und inhaltliche Botschaften blieben umso eindrücklicher in der Erinnerung respektive im kollektiven Gedächtnis, wenn sie affektiv und mit allen Sinnen rezipiert wurden. Ästhetische Choreographien der Macht mit ihren performativen Medien und ephemeren Kunstwerken schufen intermediale und interaktive Gesamtkunstwerke mit besonderen Erlebnisdimensionen. Solche Ereignisräume prägten sowohl die ästhetisch-inhaltliche Rezeption einzelner Kunstobjekte und das Verständnis der Handlungsakte, als auch den geteilten Geschichten- und Bilderkosmos der Anwesenden. Durch präzise Bildprogramme und kalkulierte Auftritte ließen sich die Gleichsetzung eines Fürsten oder einer Fürstin mit den von ihm oder ihr bevorzugten Helden und Heldinnen ebenso initiieren wie die individuelle oder kollektive Identifikation einer Hofgesellschaft mit den dargestellten bzw. angesprochenen Tugenden und Werten. Manchmal genügte sicher das gezielte Aufrufen eines Namens, um Eigenschaften und Fähigkeiten sowie Handlungen ins Gedächtnis zu bringen und Assoziationen zu evozieren. Beispielsweise überquerte Margarete von York 1468 auf ihrem Weg zur Hochzeit mit Karl dem Kühnen den Ärmelkanal auf einem Schiff mit dem Namen New Ellen. Das Brautgemach im Prinsenhof in Brügge war mit Lukrezia-Teppichen ausgestattet, einem Exemplum für die Tugendhaftigkeit, Treue und Opferbereitschaft der frisch vermählten Gattin. 80 Da monumentale Wandbehänge mit ihrem oftmals lebensgroßen Bildpersonal in der Regel bis zum Boden reichten, sah sich die Hofgesellschaft zumeist auf Augenhöhe mit ihren Helden und Heldinnen. Zuweilen schienen die Figuren sogar aus den textilen Bildern herauszutreten (siehe Abb. 1). So ließ Philipp der Gute 1454 in Nevers in Anwesenheit Karls von Orléans und dessen Gemahlin die Complainte d’Hector von Georges Chastellain mit drei joueurs de mistère in Szene setzen – eine Inszenierung mit politisch-symbolischem Kalkül, die den Burgunderherzog mit Hektor und den Herzog von Orléans mit Achill gleichsetzte und auf die jahrzehntelange Feindschaft dieser Fürstenhäuser einschließlich Ermordungen anspielte. 81 Dabei werden im Raum sicher gezielt ausgesuchte Tapisserien präsent gewesen sein. Das in _____________ 79 80 81

Hierzu exemplarische Studien von Franke (1995); Franke (2010a); Franke (2010b); Franke (2010c); Franke 2012. Zur Burgunderhochzeit und ihrer intermedialen Inszenierung ausführlich Franke (1997b); jetzt auch Belozerskaya (2005), 229–232. Zur literarischen Lucretia-Rezeption vgl. den Beitrag von Julia Weitbrecht in diesem Band. Chastellain, Complainte d’Hector, in: Œuvres, Bd. 6, 167–202; zu den Quellen Laborde, Les Ducs, Bd. 1, Nr. 1500, 1502, 1503.

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Dialogform verfasste Mimodrama erzählt von einer Art Pilgerreise Alexanders des Großen zu den Grabmälern Hektors und Achills. An der Stätte des untergegangenen Ilions klagt der trojanische Heros seinen Gegner Achill als Mörder an. Denn nicht ein Mangel an prouesse (Tapferkeit), sondern der Verrat Achills habe ihm den Tod gebracht. Der griechische Held wiederum wirft Hektors Familie gemeinen Verrat vor, denn auch er starb ja nicht ruhmvoll auf dem Schlachtfeld. Alexander gelingt es schließlich, nach ausführlichem Argumentieren, die erbitterten Gegner zu versöhnen. Die offenbar vom Text etwas abweichende Inszenierung wurde vom Autor Chastellain, dem burgundischen Oberhofmeister Olivier de la Marche und weiteren Persönlichkeiten aufgeführt. Die Akteure trugen prächtige Kostüme, die der Hofsticker Simon de Briele zudem reich verziert hatte. Die Kostüme der entremets und mommeries (theatralische Zwischenspiele bei den Banketten) fielen nachweislich immer wieder überaus luxuriös aus. 82 Die Rüstungen dürften auf die eine oder andere Art Jan van Eycks heiligem Georg oder der Figur des Mars nahegekommen sein. Möglicherweise hat man außerdem von Künstlern gefertigte (Bühnen-)Dekorationen oder Staffagen eingesetzt, etwa zwei repräsentative Grabmäler (siehe Abb. 7, 12 und 14). Entsprechende burgundische Rechnungen fehlen allerdings. Insgesamt stellt der Troja-Zyklus ein formidables visuelles Geschichtswerk von heroischem Charakter im höchsten Stilmodus dar, der das Repertoire der ›höfischen Antike‹ in allen Facetten nutzte. Die Transformation des antiken Mythos zeichnet sich gleichermaßen durch eine zurückhaltende Aktualisierung wie durch die Konstruktion eines antikisierenden Idealbildes von Ilion aus, das Orient-Topoi reflektiert. Die textilen Architekturfiktionen signalisierten den Adressaten eine räumliche und zeitliche Ferne und ermöglichten ihnen, die im Wortsinn merk-würdigen, das heißt ruhmreichen Schauplätze als antike Orte zu verstehen. Die Körpererzählungen hingegen bewegten sich deutlicher im Spannungsfeld des Eigenen und Anderen und boten daher den Betrachtern eine Projektionsfläche mit einem vielfältigen inhaltlichen Potential. Der Troja-Zyklus etablierte und bestätigte ein vorgeblich bis in die Antike zurückreichendes, also profan formuliertes ehrenvolles Ritterideal. Die behauptete Geschichtskontinuität stellte im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts einen wesentlichen Teil des höfisch-aristokratischen Selbstverständnisses und des kollektiven Gedächtnisses dar. Tradition beinhaltete auctoritas und hatte großes Prestige: Antike adelte. Historisches Wissen um die Geschichte Trojas, das sich visuell, interaktiv und performativ vermittelte, garantierte die Qualifikation zur Herrschaft im allgemeinen wie im ganz konkreten Sinne und nährte zugleich die Hoffnung auf einen zumindest annähernd ruhmvollen Platz in der Weltgeschichte.

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Hierzu auch Franke/Welzel, Morisken (voraussichtlich 2013).

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Birgit Franke

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Abbildungsnachweis Abb. 1, 17: Archiv der Autorin – Abb. 2, 4, 5, 12, 13a, 13b: IRPA-KIK, Brüssel – Abb. 3, 6, 10, 15: Paris, Musée du Louvre, Cabinet des Dessins – Abb. 7: The Burrell Collection, Glasgow – Abb. 8, 9: Ausst.-Kat. Tapestries in the Renaissance (2002), 56 u. 61 – Abb. 11: Birgitt Borkopp-Restle, Bern – Abb. 14: bpk/Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Berlin – Abb. 16: Ausst.-Kat. Heroic Armor (1998), Fig. 18.

Nymphe und Satyr/Venus und Satyr. Zur mythopoetischen Adaption eines antiken Motivs in der Renaissance ANNA HEINZE Ein wiederholt vorkommendes Motiv 1 in Kunstwerken der Renaissance ist das des schlafenden, meist auf dem Boden ausgestreckten Frauenaktes mit einem die Liegende betrachtenden Satyr. In zahlreichen Variationen wird dieses Motiv in Gemälden und in der Druckgraphik aufgegriffen, und es stellt sich die Frage, was es wie erzählt. Der eindeutig als mythologische Figur zu erkennende Satyr weise auch auf eine mythologische Handlung hin, die diesem Motiv zugrunde liege – so lautet zumindest die allgemeine Annahme, die im Folgenden diskutiert werden soll. In der Tat existierte besagtes Motiv bereits in der Antike, und zwar sowohl in bildlichen als auch in schriftlichen Quellen. 2 Es werden – wie sich noch zeigen wird – in den frühneuzeitlichen Adaptionen des Motivs zwar mythologische Elemente dargestellt, dies bedeutet aber nicht, dass auch ein antiker Mythos erzählt wird. Stattdessen unterliegen das Motiv und seine narrative Struktur einem Transformationsprozess, der nicht zwangsläufig wieder eine antike Erzählung hervorbringt, sondern in mythopoetischen Adaptionen zu neuen Bildfindungen und visuellen Konzepten führt. Da die Identität der männlichen Gestalt als Satyr aufgrund seiner äußeren Erscheinung als eindeutig angenommen werden darf, wird der schlafende Frauenakt meist als eine Nymphe oder auch als Venus gedeutet. Der Versuch, einen antiken Text bzw. eine mythologische Narration zu finden, die die Grundlage für solch eine Bildformel gebildet haben könnte, scheitert jedoch meist schon an der eindeutigen Benennung des Bildthemas. Dies gilt auch für Dosso Dossis Gemälde im J. Paul Getty Museum in Los Angeles (Abb. 1). 3 Ganz allgemein als Mythologische Szene wird das Ölgemälde dort aufgeführt, doch seit seiner ersten Nennung in den Quellen

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Das Motiv kann hier analog zum literaturwissenschaftlichen Motiv- bzw. Ereignis-Begriff als »kleinste elementare Einheit der Handlung« (Martinez/Scheffel [72007], 108) verstanden werden. Das gilt auch für die Unterscheidung in dynamische (Figurenhandlungen und Geschehnisse) und statische (Zustände und Eigenschaften) Motive. Mehrere aufeinander folgende Ereignisse bilden ein Geschehen und mehrere, kausal abfolgende Geschehen erzeugen schließlich die Geschichte. Hierzu siehe weiter unten. Öl auf Leinwand, 163,8 x 144,8 cm (links beschnitten). Als Auftraggeber wird Alfonso d’Este vermutet, als Anlass die Hochzeit seines Sohnes Ercole II. mit Renée de France im Jahr 1528. Für beide Annahmen jedoch gibt es keine schriftlichen Belege (vgl. hierzu Humfrey [1998], 208).

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1859 in London 4 wurden ihm die unterschiedlichsten Titel gegeben, die auf konkrete mythologische fabulae hinweisen: »Allegorie mit Pan«, »Pan und Echo«, »Pan und Syrinx«, »Pan und Pitys«, »Jupiter und Antiope« oder »Vertumnos und Pomona«. 5 Was ist auf Dossos Gemälde dargestellt? In einer Landschaft befindet sich eine Gruppe von vier Figuren unter Schatten spendenden Zitronenbäumen. Im linken Bildhintergrund öffnet sich der Blick auf ein Gewässer, eine Stadt und Berge, darüber sind fünf Amoretten, die von einer Wolke aus Pfeile auf die Gruppe im Bildvordergrund schießen, zu erkennen. Mittelpunkt jener Gruppe bildet der liegende weibliche Akt: Die schlafende Nackte, die ihren linken Arm und den Kopf etwas erhöht aufstützt, ist auf ein dunkelblaues Tuch sowie auf Rosen, Anemonen und Lilien gebettet. Auffällig ist neben den Blumen das weitere Beiwerk: der umgefallene, blaue Krug in der rechten unteren Bildecke und die Notenblätter, die sich unter dem dunkelblauen Tuch befinden. Hinter der Aktfigur sitzt eine alte Frau, deren loses, gelbes Gewand den Blick auf ihre dunkle Haut freigibt und eine Brust unbedeckt lässt. In einem schützenden oder auch abwehrenden Gestus hält die Alte ihre Arme über die Liegende. Zur Rechten der Alten befindet sich eine jüngere Frau, sie ist in ein grünes Gewand und ein rotes Tuch gekleidet und trägt zudem einen Brustpanzer. Ihr gegenüber, auf der anderen Seite des Baumes, sitzt eine bocksfüßige Gestalt, die aufgrund der Flöte in ihrer Linken nicht nur als Satyr, sondern noch spezifischer als Pan identifiziert werden kann. Für die ikonographische Analyse des Bildes müssen die Ergebnisse von technischen Untersuchungen berücksichtigt werden, die einige pentimenti offengelegt und ergeben haben, dass noch Dosso selbst die weibliche Figur im grünen Gewand mit einer Landschaft übermalte und sie erst während einer Restaurierung im 19. Jahrhundert wieder freigelegt wurde. 6 Als das Gemälde die Werkstatt Dossos verließ, waren somit nur die drei Figuren des Pan, der Alten und der Schlafenden vorhanden. Für die folgenden Überlegungen, das Thema des Bildes betreffend, wird daher davon ausgegangen, dass in der letztgültigen Version Dossos die Figur im grünen Gewand nicht existierte, und sie wird demnach nicht weiter in die Deutung des Bildes mit einbezogen. 7 _____________ 4 5 6

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Zur Provenienz des Bildes, die nur bis Robert P. Nichols ins Jahr 1859 zurückverfolgt werden kann, siehe Humfrey (1998), 203. Eine Übersicht über die in der Literatur geäußerten Vorschläge findet sich bei Gibbons (1968), 170, Anm. 22. Einige weitere Details wurden verändert: Am linken Bildrand hat sich noch eine männliche Figur mit einer Mandoline befunden, am Zitronenbaum hingen eine Rüstung und ein Schwert, die Frau im grünen Gewand hielt ein Cello, und die Aktfigur trug einen Lorbeerkranz auf dem Kopf (siehe Humfrey [1998], 204 u. 208 f.). Erschwerend kommt hinzu, dass die technischen Untersuchungen auch ergeben haben, dass der Pan von Dosso in einem späteren Malgang hinzugefügt wurde: Er wurde in einer etwas lockereren Weise gemalt, außerdem wurde mit seinem Kopf eine am Baum hängende Zitrone verdeckt (siehe Humfrey [1998], 204 u. 208 f.). Man kann also davon ausgehen, dass sich die Frau im grünen Gewand und der Pan jeweils in einer anderen Version des Bildes befunden haben, niemals aber gemeinsam in dem Gemälde abgebildet sein sollten.

Nymphe und Satyr/Venus und Satyr

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Da sich in dem Bild mythologische Figuren wie die geflügelten Amoretten in den Wolken und der bocksfüßige Pan mit der Flöte (Syrinx) befinden, ist es naheliegend, für die Suche nach dem Bildthema zunächst die antike Literatur heranzuziehen und die fabulae von Pan und denjenigen weiblichen Figuren, mit denen er in Verbindung steht, zu betrachten sowie nach Mythen zu suchen, in denen eine Schlafende in Verbindung mit Satyrn oder eine alte Frau eine Rolle spielen. Die somit in Frage kommende Auswahl umfasst die Pan-Episoden mit Syrinx, Echo, Pitys sowie die fabulae von Vertumnus und Pomona, Jupiter und Antiope sowie Picus und Canens. All diese Themen sind für die Komposition vorgeschlagen worden, doch keines liefert eine ausreichende Erklärung für das Bildkonzept. So lässt sich Syrinx, die vor Pan flüchtet, bekanntlich in Schilfrohr verwandeln, das Pan zu einer Flöte macht, wie Ovid berichtet. 8 Das Notenbuch und die Panflöte scheinen im Kontext dieser Metamorphose zwar passend, doch bleibt problematisch, welcher Moment der Handlung dann eigentlich dargestellt sein soll. Ist Syrinx schon verwandelt (warum sieht man sie dann aber in dem Frauenakt verkörpert?) oder wird sie noch verwandelt (die Flöte ist jedoch schon da)? Und welche Rolle soll die alte Frau in dem Mythos spielen? Eine Identifizierung der alten Frau böte eventuell der Mythos von Pan und Echo. 9 Nach Longos war Pan neidisch auf das Musikspiel und den Gesang der Echo, woraufhin er Schäfern und Ziegenhirten Raserei einflößte, die – wie Tiere – Echo verfolgten, ihren Körper zerrissen und deren Glieder überall auf der Welt verstreuten, wo sie noch immer singen. Man könnte nun annehmen, die alte Frau in der Mitte der Gruppe sei die Erde, Terra, die über Echo wacht: […] Die Erde bedeckte den Nymphen zuliebe sämtliche Glieder; und sie bewahrt die Tonkunst und sendet, nach dem Willen der Musen, Stimmen aus und ahmt alles nach. 10

Auch die Verbindung zur Musik wäre mit dem Notenbuch gegeben. Doch der Körper der schönen Echo befindet sich in einem intakten Zustand, von der Grausamkeit der Schilderung ist in Dossos Gemälde nichts zu sehen. Die Frage ist also wiederum, welcher Moment der Narration hier abgebildet wäre, sollte es sich tatsächlich um den Mythos von Pan und Echo handeln. Eine weitere Liebe des Pan, die Nymphe Pitys, wird ebenfalls mit der Terra in Verbindung gebracht. So heißt es bei Nonnos: Doch singe auch von der spröden Pitys, die windschnell über die Berge floh, dem verhassten Liebesbunde mit Pan zu entgehen, sterbend im Erdreich dann Wurzeln schlug – ja, tadle die Erde! 11

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Ovid, Met., I, 689–712. Gibbons (1968). Longos, Daphnis und Chloe, III, 23. Auch bei Conti, Cartari und Giraldi wird die Episode beschrieben. Beachtet werden muss, ab welchem Zeitpunkt die jeweiligen Texte überhaupt bekannt waren. So ist die Erzählung von Daphnis und Chloe des Longos 1559 ins Französische übersetzt und erst 39 Jahre später in Florenz erstmals gedruckt worden. Nonnos, Dion., XLII, 259–264. Die Dionysiaka erschienen in gedruckter Form erstmals 1569.

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Doch die Wurzeln, die Pitys schlug, um den Nachstellungen durch Pan zu entgehen, sind im Bild genausowenig visualisiert wie ihre Flucht. Umgekehrt fehlen in dieser fabula die im Bild vorhandenen Anspielungen auf die Musik. Eine andere antike Erzählung, die die Figur einer alten Frau thematisiert, ist die Episode von Vertumnus und Pomona, wie sie Ovid in den Metamorphosen beschreibt: Der verwandlungsfähige Vegetationsgott Vertumnus liebt die Obst- und Baumnymphe Pomona, die jedoch all ihre Verehrer abweist. Vertumnus verschafft sich als alte Frau verkleidet Zugang zum Garten der Pomona: Um das Haupt ein gesticktes Kopftuch geschlungen, auf einen Stab gestützt, graues Haar an den Schläfen – so stellte er gar ein altes Mütterchen vor, trat in den zierlichen Garten, bestaunte das Obst und rief: ›So viel mehr kannst du!‹ Nach solchem Lob gab er Pomona einige Küsse, wie sie ihr nie eine wirkliche Greisin gegeben hätte. 12

Anschließend erzählt er ihr eine Geschichte über die Sinnlosigkeit eines einsam geführten Lebens und gibt sich als Gott zu erkennen, woraufhin Pomona seinem Liebeswerben nachgibt. Mit dieser Schilderung wären aber weder die Darstellung der vermeintlichen Pomona als liegender Akt oder ihr Schlaf, noch die Bedeutung der Notenblätter und vor allem nicht die Anwesenheit des Pan sinnfällig. 13 Keiner dieser antiken Mythen vermag somit die gesamte Bildkomposition zufriedenstellend zu erklären, allenfalls einzelne Figuren oder Bildelemente können auf literarische Quellen zurückgeführt werden. Dennoch scheint kaum jemand daran zu _____________ 12 13

Ovid, Met., XIV, 654–659: »Ille etiam picta redimitus tempora mitra, innitens baculo, positis per tempora canis, adsimulavit anum: cultosque intravit in hortos pomaque mirata est ›tanto‹ que ›potentior!‹ inquit paucaque laudatae dedit oscula, qualia numquam vera dedisset anus.« In den Metamorphosen wird an anderer Stelle beschrieben, wie Arachne im Wettstreit mit Athene ein Netz webt, das unter anderem zeigt, »wie Jupiter, unter der Gestalt eines Satyrs verborgen, Antiope, die schöne Tochter des Nykteus, mit Zwillingen beschenkt.« (»[…] addidit, ut satyri celatus imagine pulchram Iuppiter inplerit gemino Nycteida fetu«, Ovid, Met., VI, 110 f.). Die Gestalt des Satyrs hat dazu veranlasst, auch diesen Mythos als Grundlage für das Bild anzunehmen, was allerdings nicht sehr überzeugend ist. Eine letzte Spur könnte über die Ansiedlung der Szene an einem Gewässer verfolgt werden. Das Bild muss links um mindestens 20 cm beschnitten worden sein (vgl. den abgeschnittenen Putto oben links). Es ist somit gut möglich, dass sich das Gewässer ursprünglich näher an der Figurengruppe befunden hat (vielleicht ähnlich Dossos Gemälde mit der mythologischen Szene in der Galleria Borghese in Rom). So berichtet die Metamorphose des König Picus von ihm und seiner Frau, der Nymphe Canens (Ovid, Met., XIV, 332–434). Nachdem Picus gestorben bzw. in einen Specht verwandelt worden ist, trauert die Nymphe: »Als letzter sah sie der Tiber, wie sie, von der kummervollen Wanderung erschöpft, an seinem Ufersaum hinsank. Dort sang sie unter Tränen mit leiser Stimme und traurig eine Weise, aus deren Tönen ihr ganzer Schmerz sprach, gleich dem sterbenden Schwan, der seit jeher seinen eigenen Leichengesang anstimmt. Endlich verzehrte sich in Betrübnis ihr zartes Herz, sie schwand dahin und verging allgemach in den leichten Lüften.« (»Ultimus adspexit Thybris luctuque viaque fessam et iam longa ponentem corpora ripa. Illic cum lacrimis ipso modulata dolore verba sono tenui maerens fundebat, ut olim carmina iam moriens canit exequialia cycnus; luctibus extremum tenues liquefacta medullas tabuit inque leves paulatim evanuit auras.« Ovid, Met., XIV, 426–432.) Abgesehen davon, dass ein Specht nicht zu erkennen ist, wären auch die Figur der Alten und des Pan hiermit nicht erklärt. Lediglich die am Fluss hingesunkene Nymphe wäre mit dem weiblichen Akt visualisiert. Schließlich wurde – allerdings nicht sehr überzeugend – wegen der Darstellung der Notenblätter auch der Orpheus und EurydikeMythos vorgeschlagen (Gentili [1980], 81).

Nymphe und Satyr/Venus und Satyr

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zweifeln, dass es sich bei der Darstellung um ein antikes Sujet handelt. Es wird ein Handlungszusammenhang suggeriert, für den es keine überlieferte (antike) Narration gibt. Vielmehr scheint es sich um die kreative Anordnung von literarischen und bildlichen Anspielungen durch den Künstler bzw. seinen Auftraggeber zu handeln, die ein neues Bildthema hervorbringt. Die tiefgreifenden Veränderungen im Bild, die noch Dosso selbst vornahm, sind ein weiteres Indiz dafür, dass hier nicht die Darstellung einer bestimmten Episode aus der klassischen Mythologie intendiert war, sondern dass es offenbar ein flexibles Potential in der Zusammenstellung und Anordnung von Figuren und attributivem Beiwerk gab, das zu neuen Bildfindungen führte. Ist das Thema des Bildes mit der arkadischen Landschaft, den üppigen Früchten, dem liegenden Akt und den Notenblättern demnach eher die Visualisierung eines Abstraktum, beispielsweise von ›Liebe‹, ›Erotik‹, ›voluptas‹ oder auch von ›Musik‹? Für eine allegorische Deutung sprechen die vermeintlich dekorativen Elemente – die Zitronenbäume, die Blüten unter der Liegenden, der umgefallene Krug – sprechen, die zu prominent sind, als dass sie lediglich als formale Ausschmückungen einer Narration subsumiert werden könnten. Und auch die mythologischen Figuren müssen nicht zwingend im Kontext einer Handlung, sondern können ebenso als Personifikationen verstanden werden, die zwar nicht die antiken Erzählungen im Bild reproduzieren, dennoch aber auf sie verweisen und zugleich einer spezifischen, zeitgenössischen Deutung unterliegen. Dosso bzw. seine humanistischen Berater mögen also durchaus Texte mit antiken Stoffen zu Rate gezogen haben, auch wenn es um die Darstellung eines abstrakten und nicht narrativen Bildthemas ging. Für die Bildanalyse sind daher (kommentierte) Übersetzungen und andere Texte interessant, die auch eine allegorische Lesart der Mythen enthielten. 14 So wird z. B. in Leone Ebreos Dialoghi d’Amore 15 der Mythos von Pan allegorisch gedeutet und zwar als Sinnbild der voluptas. Der umgefallene Krug, die Musik, die Blumen, die Zitronenfrüchte und die Beziehung zwischen Pan und der Schlafenden könnten demnach als Symbole der Sinnlichkeit und Wollust verstanden werden, während die alte Frau die Vergänglichkeit der körperlichen Begierden darstellt, die sich zwischen den Satyr und sein begehrtes Objekt stellt. 16 Der gezielte Einsatz des Beiwerks erfordert eine Deutung seiner Symbolik und mag Hinweise zum Verständnis des Bildes liefern. So kann die sehr auffällig, nämlich direkt unter dem Geschlecht der Liegenden platzierte rote _____________ 14

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Guthmüller (1977), 37. Dabei gilt es zu beachten, in welcher Form die klassischen Quellen überhaupt verfügbar waren. Bodo Guthmüller hat in seinen Forschungen darauf hingewiesen, dass es die komplexe Rezeptionsgeschichte der antiken Texte in der Renaissance – gerade im volkssprachlichen Bereich – erfordert, auch die zeitgenössischen Übersetzungen und Ausgaben der antiken Vorlagen zu konsultieren. Denn es war durchaus nicht unüblich, bei der Übertragung lateinischer Texte ins volgare formale und inhaltliche Veränderungen vorzunehmen. Von den Metamorphosen erschienen erst um die Mitte des Cinquecento Gesamtübersetzungen, die direkt auf dem ovidischen Text basierten. Für Dosso sind entweder die 1497 von Bonsignori in Venedig oder die 1522 ebenfalls in Venedig von Agostini gedruckten volgare-Versionen relevant gewesen. Erst einige Jahre nach Ebreos Tod gedruckt in Venedig 1535, entstanden aber schon um 1500 (Gebhardt [1929], 19–35). Gentili (1980), 80 f.

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Lilie im Kontext einer poetischen bzw. priapeischen Lesart des Gemäldes als Metapher für das männliche Geschlechtsteil gelesen werden. 17 In einem Gedicht des am Ferrareser Hof tätigen Humanisten Celio Calcagnini (1479–1541), das das antike literarische Genre der Priapea 18 imitiert, wird das männliche Glied mit einer Lilie gleichgesetzt: »mentula crinos erit« 19. Das Wort crinos bezeichnet bei Plinius explizit die rote Lilie: »est et rubens lilium, quod Graeci crinon vocant.« 20 Die Anemone verweist auf den ovidischen Mythos von Venus und Adonis und als Blüte, die sich »nur schlecht hält und allzu zart und vergänglich ist« 21, auf die Vergänglichkeit. Die Vermutung, dass es sich bei dem Auftraggeber des Gemäldes um Alfonso d’Este handelt, 22 wird durch die Schwertlilie gestützt, die Teil des Familienwappens der Este ist. Die Rose als Blume der Aphrodite verweist auf die Liebe und mit ihren Stacheln gleichzeitig auf den Schmerz, der mit ihr verbunden sein kann. 23 Ähnliches gilt für den Zitronenbaum, dessen Früchte als Symbole der bittersüßen Liebe verstanden werden können. 24 Und schließlich passen zu der Sinnlichkeit der Liebesthematik auch die Pfeile schießenden Cupidi in den Wolken und der Krug als Hinweis auf Nymphen 25 oder auf Bacchus. Die auf die Musik verweisenden Notenblätter können im Kontext einer erweiterten Liebestheorie gedeutet werden, die auch die Kategorie der Schönheit berücksichtigt: Während die Aktfigur die sichtbare Schönheit verkörpert, ist die hörbare Schönheit durch die Notenblätter angedeutet. 26 _____________ 17 18

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Fiorenza (2008), 87–92. Die Priapea sind eine Sammlung von 80 lateinischen Epigrammen, die dem ithyphallischen, übelabwehrenden Fruchtbarkeitsgott Priapos gewidmet und wohl im 1. Jh. n. Chr. entstanden sind. Ist der Inhalt auch derb-erotisch, sind die Epigramme stilistisch witzig-geistreich im Ton und technisch anspruchsvoll. Sie wurden erstmals wieder in Rom 1469 gedruckt, eine Handschrift existierte schon von Boccaccio. Calcagnini, Carm., 221. Plinius, Nat. Hist., 21, 11, 24. »Brevis est tamen usus in illo: namque male haerentem et nimia levitate caducum excutiunt idem, qui praestant nomina, venti«, Ovid, Met., X, 737–739. Aus den Blutstropfen, die Adonis verliert, werden Anemonen. Siehe Anm. 3. Die Rose als Blume der Liebesgöttin wird in zahlreichen Quellen genannt (z. B. Pausanias, Beschreibung Griechenlands, 6, 24, 7; Nonnos, Dion., XXXII, 29). So bei dem allerdings erst nach Dossos Gemälde erschienenen Alciati (siehe Henkel/Schöne, Emblemata, 237/238). Giovanni Pontano beschreibt in seinem De hortis Hesperidum (Venedig 1505) den Zitronenbaum als Baum der Liebe. Darüberhinaus verfügte Alfonso selbst über einen prachtvollen Garten mit Zitronenbäumen in der Nähe der Porta San Benedetto (Fiorenza [2008], 85), und Celio Calcagnini schrieb sogar eine Abhandlung über die Herkunft des Zitronenbaums (De citrio, cedro et citro, commentatio, gedruckt posthum 1544 in Basel). Krüge in der Grotte der Nymphen werden z.B. bei Homer in der Odyssee beschrieben (13, 105). Bei antiken Monumenten kann man liegende Nymphenfiguren auf einen Krug abgestützt finden (siehe z.B. die Nymphenskulptur im Vatikan, abgebildet bei Amelung [1903–08], Bd. II, 82, Nr. 30). Nach neoplatonischem Verständnis gehört neben dem Sehen nur das Hören zu den ›höheren‹ Sinnen, während Schmecken, Riechen und Fühlen als ›nieder‹ eingestuft werden. Siehe dazu auch

Nymphe und Satyr/Venus und Satyr

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Eine symbolisch-allegorische Interpretation des Bildes, die die attributiven Elemente berücksichtigt, ohne dass sie zu einer bestimmten Narration gehören, muss als Deutungsmöglichkeit mit in Erwägung gezogen werden. Dosso Dossi verbrachte – wie eingangs erwähnt – die meiste Zeit seiner Tätigkeit als Künstler am Hof der Este in Ferrara, 27 wo er sicherlich im Austausch mit den ebenfalls dort ansässigen Gelehrten und Humanisten stand. Entsprechend mögen in das Bild verschiedene zeitgenössische und antike Ideen eingeflossen sein, die ein heutiger Betrachter im Einzelnen nur noch schwer nachvollziehen kann. Eine Kombination von narrativen und symbolisch-allegorischen Elementen in einem Gemälde war für den Künstler bzw. seinen gelehrten Berater offenbar gut denkbar. Durch das Hinzufügen oder auch Weglassen von Bildelementen, wie Dosso selbst es vornahm, zeigen sich die flexible Einsetzbarkeit und die Vieldeutigkeit, die bereits den antiken Stoffen innewohnen. Dass ein solches Bild Auftragskunst 28 ist und in diesem Fall wohl eine ikonographische Einzellösung darstellt, erschwert die heutige Interpretation und macht das Finden einer endgültigen Antwort auf die Frage nach dem Bildthema fast unmöglich. 29 Hier zeigen sich die Qualitäten des Motivs der Schlafenden mit dem Satyr, das in verschiedene Kontexte integrierbar war, wie die folgenden Beispiele verdeutlichen sollen. Dass das Motiv tatsächlich für allegorische Darstellungen genutzt wurde, und zwar als negativ konnotiertes Bild des Lasters, demonstriert ein Sinnbild aus der Nachfolge Lorenzo Lottos (Taf 2). 30 Der Satyr, der die wehrlos Schlafende entblößt, wird hier zur Lasterallegorie schlechthin. Das Paar befindet sich mit einem weiteren Satyr, der einen Krug hält, auf der rechten, durch einen Rasen und Bäume gekennzeichneten Seite einer Bildtafel. Ein Baumstamm, an den ein Schild mit Wappen gelehnt ist, teilt das Bild in zwei Hälften. Links steht ein kleiner Knabe in deutlich kärgerer Umgebung und zieht mit einem Zirkel Kreise in den Sand. Vor ihm liegen ein Buch, eine Papierrolle und eine lira da braccio. Es gibt eine weitere, sehr ähnliche Version dieser Tugend und Laster-Darstellung – allerdings ohne die nackte Schlafende –, die die Gegenüberstellung von tugend- und lasterhaften Tätigkeiten noch verdeutlicht (Abb. 3). 31 Lorenzo Lotto (1480–1557) malte das letztgenannte Bild 1505 für Bernardo de’ Rossi, der seit 1499 Bischof von Treviso war, als Deckelbild für ein Porträt des Geistlichen. Dieselbe Zweiteilung wie auf dem Bild des unbekannten Künstlers erzeugt auch eine ähnliche Bildaussage: Links führt das mühselige, disziplinierte und intellektuelle Leben zu himmlischem Aufstieg, während der Weg der sinnlichen Freuden – wie er rechts zu erkennen ist – am Ende verurteilt _____________ 27 28 29 30 31

Erwin Panofskys Ausführungen zu Tizians Serie der Veneres mit den Musikanten (Panofsky [1969], 119-129). Seit 1514 war er Hofkünstler bei den Este und lebte am Hof in Ferrara. Siehe Anm. 3. Die Nymphe in Dossis Gemälde wäre nicht die einzige nackte Liegende, die Alfonso I. in Auftrag gab. Zu seiner Sammlung gehörten auch Bellinis Götterfest und Tizians Bacchanal der Andrier. Zuletzt schlug Pastore (2008) vor, das Gemälde sei die bildliche Umsetzung von Ideen aus der Hypnerotomachia Poliphili. Um 1530, Öl auf Holz, 43 x 39,2 cm, Washington, National Gallery of Art. 1505, Öl auf Holz, 56,5 x 42,2 cm, Washington, National Gallery of Art.

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werden wird, versinnbildlicht durch ein brennendes, untergehendes Schiff. Auch das Bild des unbekannten Meisters mit dem Motiv der Nymphe, des Satyr und der moralisierten Landschaft ist wohl für einen Geistlichen entstanden – es handelt sich bei dem Wappen um dasjenige des Venezianer Kardinals Gasparo Contarini (1483– 1542), das wie bei Lottos Tafelbild selbstverständlich zur tugendhaften Seite hin gewendet ist. Für diese an Herkules am Scheideweg-Darstellungen erinnernde Ikonographie bot sich das Motiv des Satyrs und der Nymphe offenbar an, obwohl oder gerade weil es unabhängig von einer narrativen Struktur funktioniert. Dieses Deutungspotential offenbart sich ebenso in einer Szene aus der Hypnerotomachia Poliphili (Abb. 4). In der 1499 in Venedig gedruckten Erzählung von Francesco Colonna zeigt ein Holzschnitt, wie eine nackte Schlafende von einem sichtbar erregten Satyr beobachtet wird. Die entsprechende Textstelle dazu lautet: Der Satyr hatte mit der linken Hand mit viel Kraft die Äste des starken Baumes ergriffen und indem er sich bemühte, ihn über die schlafende Nymphe zu neigen, sah man, dass er ihr großzügig Schatten verschaffte. Und mit der anderen Hand hielt er das Ende eines Vorhangs, das an die Zweige eines benachbarten Baumes geschnürt war. 32

Interessant ist die doppeldeutige Bewertung seiner Geste. Zum einen ist das Halten des Vorhangs (von dem auch nicht klar ist, ob es sich um ein Aufziehen oder ein Zuziehen handelt) voyeuristisch und wolllüstig motiviert, was durch das erigierte Geschlecht des Satyrs bestätigt wird. Doch zum anderen spendet – wie es der Text in der Hypnerotomachia selbst beschreibt – das Neigen der Zweige der Schlafenden Schatten und verleiht der Handlung des Satyrs somit auch eine positive Konnotation. Hier offenbaren sich wiederum die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten, die das Motiv birgt, wenn es nicht auf einen konkreten antiken Mythos zurückgeführt wird. Diese Deutungsmöglichkeiten müssen sich keineswegs ausschließen (die Geste des Satyrs kann sowohl wollüstig und zugleich hilfsbereit sein) und reichen bis zur Interpretation des Holzschnitts als bildlicher Umschreibung von zentralen Gedanken der aristotelischen Naturphilosophie, 33 in denen Gegensätze – wie sie der Satyr und die Nymphe verkörpern – und Sexualität als Triebkraft des Naturgeschehens sowie Venus 34 als Lebensspenderin und Naturlenkerin verstanden werden. Unabhängig von den Deutungsmöglichkeiten zeigt sich in der Verbreitung der Bildformel ihre Beliebtheit. Beispiele aus der zeitgenössischen, italienischen Malerei und Druckgraphik, wie der Stich, der Marco Dente oder Marcantonio Raimondi zugeschrieben wird, sind zahlreich. Der Druck aus dem New Yorker Metropolitan Museum zeigt dieselbe Handlung wie die Hypnerotomachia: einen Satyr, der eine schlafende Nymphe enthüllt (Abb. 5). 35 Doch greift der Satyr hier direkt nach dem Tuch, _____________ 32

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Colonna, Hypnerotomachia Poliphili, D8r: »Il dicto Satyro havea l’arboro Arbuto per gli rami cum la sinistra mano violente rapto, et al suo valore sopra la soporata Nympha flectendolo, indicava di farli gratiosa umbra. Et cum l’altro brachio traheva lo extremo di una cortinetta, che era negli rami al tronco proximi innodata.« Blume (1985), 180. In Anlehnung an Lukrez, bei dem gleich zu Beginn seines Buches De rerum natura die Göttin mit »alma Venus« angesprochen wird (Lukrez, De rerum natura, I, 2). 1515–1527, 10,7 x 17,5 cm, New York, Metropolitan Museum.

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das die Nymphe eigentlich bedecken soll und hält nicht den Vorhang, der auch hier – wie in der Hypnerotomachia – an Baumstämmen befestigt ist. Zudem unterstreicht eine Priapus-Herme, die als ein Schaden abwehrender Wächter und Beschützer, aber auch als Gott der Sexualität verstanden werden kann, die erotische und voyeuristische Komponente der Szene. Ähnliches gilt für die Krebse, denen eine apotropäische Wirkung zugeschrieben wird. Es ist eine große Zahl von antiken Gemmen-, Münz- und Schildzeichen überliefert, die Krebse als Apotropäen abbilden. 36 Auch in der antiken Medizin hielt man sie für ein wirksames Giftmittel. 37 Zudem hat man Krebsen, besonders denjenigen mit langstieligen Augen, das »schärfste Gesicht« 38 unter allen lebenden Wesen zugesprochen und ebenso die sonderbare Starrheit der Krebsaugen thematisiert. 39 Insgesamt gilt der Krebs in den antiken Fabeln als schlaues, aber auch als heimtückisches Tier. 40 Man erzählte sich, er sei ein großer Liebhaber von Austern. Wenn eine Auster sich niederlasse, um sich zu sonnen, und daher die Schalen auseinanderbreite, würde sich der Krebs heranschleichen und ein Steinchen zwischen die Schalen der Austern werfen, damit diese sich nicht mehr schließen könnten. 41 Die Arglist sowie die Thematisierung der Augen und des Blickes spielen für voyeuristische Szenen eine wichtige Rolle und mögen hier mit dem Krebs angedeutet werden. Ähnliche Szenen, auch mit dem Vorhang-Motiv eines Tuches, das an Bäumen befestigt ist, finden sich schon auf antiken Sarkophagreliefs. Auf einem Relieffragment, das sich heute in Wien befindet, nähert sich ein Satyr einer Schlafenden, von links kommt eine weitere Person heran (Abb. 6). Auch finden sich die Überreste einer Herme am linken Bildrand. Ob es sich einstmals um eine Priapus-Herme – wie sie auch auf dem Druck erscheint – gehandelt hat, kann nicht mehr rekonstruiert werden. Die Frage nach der dargestellten Narration stellt sich auch bei diesem antiken Stück. Formal gleicht die Schlafende der Vatikanischen Ariadne (Abb. 7), doch muss aufgrund des fragmentarischen Zustandes offen bleiben, ob auf dem Wiener Sarkophag tatsächlich Ariadne oder vielmehr eine namenlose Mänade oder Nymphe gemeint ist. 42 Das führt zu der Frage, was die Kombination von Schlafender und Satyr in der Antike überhaupt bedeuten konnte und mit welchen Mythen sie in Verbindung stand. In der Tat findet sich in der antiken Kunst das Motiv vor allem auf zahlreichen römischen Sarkophagreliefs, die den Ariadne auf Naxos-Mythos zeigen, wie auf einem Dionysos-Sarkophag aus dem Walters Art Museum in Baltimore (Abb. 8). 43 _____________ 36 37 38 39 40 41 42 43

Keller (1913), Bd. II, 486. Aristophanes Byzantium, II, §491L. Keller (1913), Bd. II, 486. Herodas 4, 44. Keller (1913), Bd. II, 498. Basil., Hexaem. VII, 3. Obwohl das Stück im Corpus der antiken Sarkophage (Matz [1969], Bd. 4, Teil 3, Nr. 176A) von Friedrich Matz unter den dionysischen Sarkophagen aufgeführt wird, handelt es sich laut Matz weder um die Darstellung der Ariadne noch um eine schlafende Mänade. Matz (1969), Bd. 4, Teil 3, Nr. 216.

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Zwar ist in den Überlieferungen des Ariadne-Mythos nirgends die Rede davon, dass Ariadne, nachdem sie von Theseus auf Naxos zurückgelassen wurde und eingeschlafen ist, von einem Satyr entblößt wird. Bacchus ist es, der sie findet, im Schlaf beobachtet, sich in sie verliebt und sie schließlich heiratet. 44 Die Satyrn sind hier aber dargestellt, weil sie zum Gefolge des Weingottes gehören. Mit dem Enthüllen wird Ariadne dem Bacchus gleichsam präsentiert; das Motiv ist hier also eingebettet in den narrativen Kontext des Ariadne-Mythos. Doch so konkret das Motiv an dieser Stelle zuzuordnen ist, so flexibel konnte es bereits in der Antike verwendet werden. Sowohl in bildlichen als auch in schriftlichen Zeugnissen gibt es neben dem AriadneMythos auch andere Beispiele für die Verwendungen des Motivs, die von Voyeurismus- bis zu Vergewaltigungsszenen reichen können. Dazu gehören auch Mars und Rhea Silvia, wie beispielsweise auf einem Gemälde aus den Titus-Thermen 45 oder die vermeintliche Chloris auf einem Bild aus Pompej 46. Nicht immer muss es ein Satyr sein, der sich der Schlafenden nähert, und im Fall von Selene, die nachts den schlafenden Endymion betrachtet, ist sogar das Geschlechterverhältnis zwischen schlafender und betrachtender Figur umgekehrt. 47 Somit wird die Vielfalt der Verwendungen des Motivs in der Antike deutlich. Was Michael Koortbojian für spätantike Endymion-Sarkophage feststellt – eine »isolation of the central motif […] from its narrative context« 48 – lässt sich auf das Paar von Ariadne und dem Satyr übertragen: »The imagery has relinquished narrative and adopted the mode of the symbol, as the ›abbreviation‹ of mythological content transformed that imagery from literal illustration to a visual form of illusion.« 49 In der neuzeitlichen Transformation des Motivs wird dies dann noch gesteigert, indem es nicht nur zu einer »Abbreviation« 50 bzw. zu »abgekürzten« Bildern des Mythos 51 oder zu einer Isolierung bestimmter Figuren sowie Gruppen kommt, sondern indem diese mit völlig neuen Elementen kombiniert und somit in neue Kontexte eingebunden werden. _____________ 44 45 46

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Ovid, Met., VIII, 177–187; Homer, Od., 11, 321–325; Philostrat, Eik., 1, 15; Hygin, Fab., 43; Nonnos, Dion., XLVII, 265–335. Sichtermann (1984), 297. Rizzo (1929), Tf. 111. Bei Rizzo auch weitere Beispiele für das Paar von Schlafender und Satyr aus der antiken Kunst. Seltener findet man das Motiv auch mit Mänaden und Satyrn (siehe LIMC, Bd. VIII/1, Suppl., 786–789); in der schriftlichen Überlieferung z.B. in den favole von Jupiter und Antiope oder von Priapus und Lotis, schließlich auch die Beschreibung des Properz seiner schlafenden Geliebten Cynthia, die er u.a. mit Ariadne vergleicht (Properz, Eleg., I, 3, 1). Zu denken wäre auch an Venus und den sterbenden Adonis. Auf Sarkophagen mit diesem Mythos wird das ursprünglich erotische Potential der stehend/liegend-, aktiv/passiv-, wach/schlafendGruppe zu einem tragischen (Koortbojian [1995], 102). Eine weitere männliche Figur, die diese Pose einnehmen kann, ist der schlafende Ganymed (siehe Sichtermann [1976]). Koortbojian (1995), 135. Sichtermann (1966), 68 u. 72 meint sogar, die Stellung der EndymionFigur sei von derjenigen der schlafenden Ariadne übernommen worden. Koortbojian (1995), 138. Dieser Prozess wurde von Archäologen als »Entmythologisierung« (Gerke [1940]), »Verflüchtigung« (Matz [1958]) oder auch als »Abkehr vom Mythos« (Sichtermann [1966], 85) beschrieben. Sichtermann (1966), 82 f. »Abbreviated images of the myth« (Koortbojian [1995], 137).

Nymphe und Satyr/Venus und Satyr

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Die Schlafende mit der charakteristischen Armhaltung – ein Arm ist über den Kopf gelegt, der sich wiederum auf dem anderen Arm abstützt –, die formal den Typus der antiken Ariadne rezipiert, wurde in der neuzeitlichen Druckgraphik vielfach aufgenommen und transformiert (Abb. 9). Der Stich, 52 der dem Künstler mit dem Notnamen »Meister von 1515« 53 zugeschrieben wird, ist vor allem deshalb interessant, weil sich neben der Schlafenden ein ebenfalls schlafender kleiner Putto befindet, der die Frage nach der Identifikation der Dargestellten und damit nach einer eventuellen Narration in ein neues Licht rückt. Zwar sind die Putti auch schon bei den erwähnten antiken Ariadne-Darstellungen anzutreffen, doch erklärt dies nicht zwingend ihre Rolle bei der nachantiken Transformation des Ariadne-Motivs – denn auch für sie gibt es keine explizite, narrative Funktion. Die Beschreibung des Illustrated Bartsch 54 geht davon aus, dass auf dem Stich zu sehen ist, wie ein Satyr auf einer ghironda (Drehleier) für seine Frau und sein Kind spielt. Die Darstellung von Satyrfamilien im Cinquecento ist nicht ungewöhnlich, doch lässt sich beobachten, dass bei diesem Bildthema Frau und Kind auch deutlich als Satyrfrau und Satyrkind zu erkennen sind 55 – was hier nicht der Fall ist. Es könnte sich ebensogut um einen Satyrn und die schlafenden Venus und Amor handeln, eine Konstellation, für die es auch in der Malerei Beispiele gibt. So existiert von Correggio ein Gemälde im Louvre, das seit es in einem Inventar von 1709 unter diesem Titel aufgeführt wurde, als Jupiter und Antiope bezeichnet wird (Abb. 10). 56 Unter Bäumen auf einem erdigen Boden liegen jedoch Venus und der geflügelte Amor – letzerer ist eindeutig zu identifizieren aufgrund des Köchers mit den Pfeilen, des Bogens und der Fackel. Zudem kommt Amor in der fabula von Jupiter und Antiope gar nicht vor, und Antiope ist an keiner Stelle als schlafend überliefert. 57 Hier jedoch schläft nicht nur die weibliche Figur, sondern auch der Amor, so dass beide nicht merken, dass sie von einem Satyr beobachtet werden, der sich ihnen von links nähert und das blaue Tuch, auf dem Venus gebettet ist, mit beiden Händen ergriffen hat. Diese Geste kann – man erinnere sich an die Hypnerotomachia – als entblößend, aber ebenso als Schatten bzw. Schutz spendend verstanden werden. Die Beigabe des Amor zu dem Motiv des Satyrs mit einer Schlafenden kann demnach Auswirkungen auf die Identifizierung der weiblichen Figur haben – anstatt einer der vielen möglichen oder auch namenlosen Nymphen handelt es sich nun um die Lie_____________ 52 53 54 55 56 57

23,8 x 18,1 cm, New York, Metropolitan Museum of Art. Im Illustrated Bartsch, Bd. 25 (13,2), 571 wird er mit dem lombardischen Bildhauer Il Bambaia identifiziert. Simon (1929), 136 hingegen ist der Meinung, der Meister von 1515 sei ein Deutscher. Bd. 25 (13,2), 580, Nr. 016. Siehe dazu Kaufmann (²1984). 1520er Jahre, Öl auf Leinwand, 188 x 125 cm, Paris, Musée du Louvre. Einst im Besitz der Gonzaga. Ob Federigo II. auch der Auftraggeber ist, ist nicht klar. Zur Benennung siehe Gould (1976), 238. Ovid, Met., VI, 111 f.; Nonnos, Dion. VII, 123; XVI, 242; XXXIII, 301–303; Pseudoklementinen/ Rekognitionen 10, 22.

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besgöttin selbst –, doch das Problem der zugrunde liegenden Narratio bleibt dasselbe: Es gibt keine, zumindest keine antike. 58 Es ließen sich zahlreiche weitere Beispiele für die Erweiterung des Motivs von Schlafender und Satyr um den Amorknaben anführen, 59 doch soll hier noch auf eine andere Verwendung des thematisierten Motivs eingegangen werden. Tizian nämlich kombiniert das Motiv der Schlafenden mit dem Satyr nun wieder mit zusätzlichem Bildpersonal und integriert es in einen größeren narrativen Kontext – so scheint es zumindest auf den ersten Blick. Zentrales Motiv der sogenannten Pardo-Venus 60 ist die schlafende Liegende in der Landschaft nach dem Vorbild Giorgiones, die von einem Satyr entblößt bzw. bedeckt wird (Abb. 11). Zu ihrer Linken, durch einen Baumstamm, auf dem der Pfeile schießende Amor steht, getrennt, sitzt am Boden ein Paar, das aus einem lorbeerbekränzten Satyr und einer Frau, die Blumen in ihrem Schoß hält, besteht. Ein junger Mann mit zwei Hunden scheint auf das Signal des in ein Horn blasenden Mannes am linken Bildrand zu reagieren. Er weist mit seiner ausgestreckten Linken in den Bildhintergrund, wo ein See mit einigen Badenden und eine Jagdszene, in der Hunde ein Wild reißen, zu erkennen sind. Deutet die Einheit des Ortes, in der die einzelnen Szenen zusammengefasst sind, auch eine Erzählung an – das Bildthema jedoch ist völlig unklar. Es gibt keinen antiken Stoff, der Schlafende, Amor, Satyr und die Jagd miteinander verbindet. Möglicherweise lässt sich das Bild, das sich bis 1623 im Palazzo del Pardo in Madrid, dem Jagdschloss der spanischen Könige, befand, mit demjenigen identifizieren, das Tizian in einem Brief als »la nuda con il paese con il Satiro« bezeichnete, das er 1564 an Philip II. von Spanien geschickt hatte. 61 Es ist bemerkenswert, dass Tizian hier kein spezifisches, mythologisches Thema nennt. Denn die übrigen nach Spanien gesandten Bilder, die er in jenem Brief auflistet, werden mit ihren mythologischen Sujets aufgezählt. 62 Nach Tizians Tod muss sich ein weiteres Bild mit diesem _____________ 58

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Correggios Gemälde Venus mit Merkur und Cupido (Die Erziehung des Amor) in der Londoner National Gallery ist als Pendant zu dem Bild aus dem Louvre angenommen und eine neoplatonische Deutung vorgeschlagen worden (Soth [1964], 543): Während das Pariser Bild vor allem in der Pose der Venus und mit dem lüsternen Satyr die Irdische Liebe symbolisiere, sei auf dem Londoner Gemälde mit der geflügelten Venus die Himmlische Liebe thematisiert. So z.B. das Bordone zugeschriebene Bild in der Galleria Borghese (1560er Jahre [?], 122 x 148 cm, Öl auf Leinwand) oder Peterzanos Gemälde aus der Pinacoteca di Brera in Mailand (um 1570, 135,2 x 206,9 cm, Öl auf Leinwand). Nicht immer ist der Frauenakt schlafend dargestellt, siehe z.B. Sodomas Fresko in der Vatikanischen Stanza della Segnatura oder Bronzinos Gemälde in der Galleria Colonna in Rom. Um 1535–40, 196 x 385 cm (ca. 60 cm der linken Seite sind angestückt), Öl auf Leinwand, Paris, Musée du Louvre. 1623 nahm Prinz Carl von England, der in diesem Jahr zu einer Brautfahrt nach Spanien aufgebrochen war, das Bild mit in seine Heimat. Zu der Brautfahrt siehe Justi (1908 [1882]), 2, 323–327). Im Anhang eines Briefes vom 22. Dezember 1574 stellt Tizian vierzehn Gemälde zusammen, die in den vergangenen 25 Jahren an den Hof in Madrid gesendet wurden (der memoriale ist abgedruckt bei Crowe/Cavalcaselle [1877], Bd. II, 539 f.). Siehe Crowe/Cavalcaselle (1877), Bd. II, 539 f.: Venere con Adonis, Calisto graueda da Gioue, Ateon sopragionge al bagno, Andromeda ligada al saso etc.

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Motiv in seiner Werkstatt befunden haben: Giovanni Paolo Lomazzo berichtet von einer Venus,

die schläft, mit zwei Satyrn, die ihre geheimsten Stellen entblößen; sowie andere Satyrn in der Umgebung, die Trauben essen und in Trunkenheit lachen und in der Ferne Adonis in einer Landschaft, der der Jagd folgt. 63

Die Deutung der Schlafenden als Venus und der Jagdszene als Adonis-Mythos in dem von Lomazzo genannten Gemälde ließe sich vielleicht auch auf die Pardo-Venus übertragen. 64 Der aufgebrachte Jäger auf der linken Seite mit den beiden Hunden wäre somit Adonis, der dem Ruf des Jagdhorns folgt und auf die Jagdszene im Bildhintergrund weist. Für den Vorgang, dass Adonis Venus schlafend zurück- und somit den Nachstellungen des Satyrs überlässt, gibt es zwar keine antike Textgrundlage, denkbar wäre an dieser Stelle jedoch eine mythopoetische Innovation Tizians, der das Motiv der Schlafenden mit dem Satyr mit dem Venus und Adonis-Mythos kombiniert. Problematisch in ihrer Deutung bleiben aber das Paar im linken Bildvordergrund und die badenden Frauen an dem Gewässer. Ihre Funktion erschließt sich in keinem mythologischen Kontext. Mit der langen Dauer des Entstehungsprozesses – Tizian hat wohl von ca. 1515 bis 1564 immer wieder an dem Gemälde gearbeitet 65 – lassen sich womöglich ikonographische Brüche und die im Laufe der Zeit immer wieder vorgenommenen Änderungen in der Komposition begründen. Panofsky schlägt vor, im Bildpersonal der Pardo-Venus die drei Formen des menschlichen Lebens zu sehen, wie sie im Neoplatonismus beschrieben werden: Die vita activa in den Jägern, die vita contemplativa in dem Paar von Satyr und Blumenmädchen und die vita voluptaria im Motiv der Nymphe mit Satyr. 66 Diese Deutung, die nicht in allen Punkten überzeugend ist (warum beispielsweise sollte die männliche Figur in der vita contemplativa-Gruppe ein Satyr sein?), würde dennoch bekräftigen, dass mythologische Narrative dekonstruiert und ihre Motive zugunsten einer theoretisch-allegorischen Aussage neu kombiniert werden können. Es muss allerdings nicht zwingend ein derart komplexer theoretisch-philosophischer Hintergrund angenommen werden. Vielmehr geben – wie bei Dosso – auch die Eigenschaften der einzelnen Bildelemente Aufschluss über das Bildkonzept. So findet sich in Lodovico Dolces Dialog über die Farben 67 eine Passage, die über die zeitgenössische Auffassung von Satyrn informiert. Die beiden Gesprächsteilnehmer Mario und Cornelio unterhalten sich darüber, was verschiedene Figuren auf Gemälden bedeuten können. So möchte Mario wissen, wofür ein Satyr steht. Cornelio erklärt ihm, dass ein Satyr, ähnlich wie _____________ 63 64 65 66 67

Lomazzo, Idea, 116: »Una Venere che dorme, con satiri chi gli scropono le parti più occulte, ed altri satiri intorno che mangiano uva e ridono come imbriachi, e lontano Adone in un paese che segue la caccia.« Panofsky (1969), 191. Zur Datierung siehe Hofer (1961), 350–354. Panofsky (1969), 192. Dialogo di M. Lodovico Dolce nel quale si raggiona delle qualità e proprietà de i colori, Venedig 1565. Dolce hat diesen Dialog zwar unter seinem Namen herausgegeben, es handelt sich jedoch um die italienische Übersetzung und Umarbeitung des lateinischen Textes Libellus de coloribus von Antonio Tilesio aus dem Jahr 1528.

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der Kentaur, für »la lascivia«, für das Wollüstige, stehe, und dass die Nymphen daher vor ihm fliehen. Anschließend führt er ein Gemälde Tizians an, in dem der Maler ebenjene Lüsternheit der Satyrn dargestellt habe: Diese Sache hat Tizian ganz wunderbar in seiner Landschaft zum Ausdruck gebracht, in der einer sitzenden Nymphe von zwei Satyrn nachgestellt wird. In dieser Landschaft sieht man nichts anderes als Satyrn, womit er zeigt, dass er sie als eine Landschaft der Wollüstigkeit (paese della Lascivia) gemacht hat: und in solcher Weise vielleicht nachahmend oder eher anspielend auf das Bild, das Sannazaro in seiner Arcadia beschreibt. 68

Die Ekphrasis aus Sannazaros Arcadia, die Cornelio hier erwähnt, schildert ein Relief an einem Tempel, das eine bukolische Landschaft mit Hügeln, Wäldern und Wiesen und einer grasenden, von Hunden bewachte Herde zeigt sowie nackte Nymphen, denen vier Satyrn nachstellen. Die Nymphen fliehen, können schließlich entkommen, schwimmen durch einen Fluss und setzen sich an der anderen Uferseite nieder, um zu malen und ihr Haar zu trocken. 69 Diese Ekphrasis verdeutlicht zwei Aspekte, die den Transformationsprozess, den das Motiv der schlafenden Aktfigur in seiner nachantiken Verwendung durchläuft, charakterisieren. Zum einen veranschaulicht sie die medialen Interferenzen zwischen Bild und Text, die auch in der Überlieferung des antiken Motivs von Schlafender und Satyr eine Rolle spielen, auch wenn nicht mehr im Einzelnen nachvollzogen werden kann, wie und an welchen Punkten sich schriftliche und bildliche Überlieferungsstränge kreuzen oder überlagern. Und zum anderen beschreibt die Ekphrasis im Text implizit denjenigen Vorgang, der auch im bildlichen Motiv der Schlafenden mit dem Satyr feststellbar ist – das Verschwinden der narrativen Elemente des Mythos: Es wird zwar eine Handlung dargestellt und _____________ 68

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»La qual cosa ha espresso mirabilmente Tiziano in un suo paese, nel quale v’è una Ninfa che si siede insidiata da due Satiri; né in quel paese vi si vede altro che Satiri, mostrando di averlo fatto per il paese della lascivia, e forse imitando a un cotal modo o più tosto alludendo alla pittura che descrive il Sannazaro nella sua Arcadia.« (Dolce, Dialogo dei colori, 92). »Ma per potermo divotamente offrire i voti fatti ne le necessità passate sovra i fumanti altari, tutti inseme di compagnia ne andammo al santo tempio. Al quale per non molti gradi poggiati, vedemmo in su la porta dipinte alcune selve e colli bellissimi e copiosi di alberi fronzuti e di mille varietà di fiori; tra i quali si vedeano molti armenti che andavano pascendo e spaziandosi per li verdi prati, con forse dieci cani dintorno che li guardavano; le pedate dei quali in su la polvere naturalissime si discernevano. De' pastori alcuni mungevano, alcuni tondavano lane, altri sonavano sampogne, e tali vi erano, che pareva che cantando si ingegnasseno di accordarsi col suono di quelle. Ma quel che più intentamente mi piacque di mirare, erano certe Ninfe ignude, le quali dietro un tronco di castagno stavano quasi mezze nascose, ridendo di un montone, che per intendere a rodere una ghirlanda di quercia che dinanzi agli occhi gli pendea, non si ricordava di pascere le erbe che dintorno gli stavano. In questo venivano quattro Satiri con le corna in testa e i piedi caprini per una macchia di lentischi pian piano, per prenderle dopo le spalle; di che elle avedendosi, si mettevano in fuga per lo folto bosco, non schivando né pruni né cosa che li potesse nocere. De le quali una più che le altre presta, era poggiata sovra un càrpino, e quindi con un ramo lungo in mano si difendea; le altre si erano per paura gittate dentro un fiume, e per quello fuggivano notando, e le chiare onde poco o niente gli nascondevano de le bianche carni. Ma poi che si vedevano campate dal pericolo, stavano assise da l'altra riva affannate et anelanti, asciugandosi i bagnati capelli; e quindi con gesti e con parole pareva che increpare volessono coloro che giungere non le avevano potuto.« (Sannazaro, Arcadia, III, 12–18).

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aufgrund der mythologischen Figuren auch ein mythologischer Kontext suggeriert, aber nichts wird expliziert, sondern alles behält – auf eine mögliche Erzählung bezogen – einen allgemeinen Charakter. Dies mag dem Anliegen des Genre der Pastorale entsprechen, in das man Tizians Bild einordnen kann: keine Geschichte zu erzählen, sondern vielmehr eine in diesem Fall bukolisch-sinnliche Stimmung vermitteln zu wollen. Daher kann man ein Motiv wie das der Schlafenden und des Satyrs im Grenzbereich von narrativen und nicht-narrativen Bildern 70 verorten, da es eine Erzählung transportieren kann, aber in seiner Transformation eben auch die Möglichkeit einer reinen Form für andere Inhalte, völlig losgelöst vom antiken Mythos, bereithält. Es mag vielleicht »[…] mit der Unmöglichkeit einer klaren Identifizierung des dargestellten Mythos […] auch jede Möglichkeit, seine Auslegung, seine Sinnerfüllung zu erblicken« 71 entfallen. Doch dies gilt nur für seinen narrativen Kern. Indem die Künstler auf ein etabliertes Repertoire von »abgekürzten« Mythenbildern, die lediglich Allusionen erzeugen, zurückgriffen und sie rekombinierten, ergaben sich neue Sinngehalte. Die antithetischen Paare von schlafend-wach, weiblich-männlich, nackt-bekleidet und passiv-aktiv, die das Motiv in sich vereint, bieten dabei die Projektionsfläche für jeweils zeitgenössische Konzepte etwa von Liebe oder Erotik und Identifikationspotential für den Betrachter. Eine festgelegte Erzählung könnte dabei störend sein. Die Transformation des antiken Mythos geht im Fall der Schlafenden so weit, dass sich die Narration völlig auflöst oder zumindest nicht mehr eindeutig zu benennen ist, was gerade für den Bereich der erotischen Bilder zu gelten scheint. Es wird nur noch das aus jeglichem Kontext gerissene Motiv einer mythologischen Erzählung – womöglich der Ariadne auf Naxos 72 – aufgegriffen, um eine Rahmenhandlung zu suggerieren, die es so gar nicht gibt, die aber die Darstellung einer Liebes- oder Voyeurszene ermöglicht und dann in einem weiteren Schritt auch als allegorische Komposition angelegt werden kann. Diese Beobachtungen bedeuten dabei keineswegs, dass es sich bei den Darstellungen der Schlafenden mit Satyr zwingend um nicht-erzählende Bilder handelt. Indem zu bekanntem, mythologischem Bildpersonal gegriffen und eine Einheit von Zeit und Ort suggeriert wird, werden für den Betrachter gleichzeitig neue, mythopoetische Welten – arkadische Gegenwelten – erschaffen, die sich als Imaginationsräume darstellen. Diese Imaginationsräume, die aus mythologischen Anspielungen und Motiven bestehen und die in ihrer Struktur offen sind, ermöglichen es dem Betrachter, hierein neue oder eigene Erzählungen zu projizieren. Aus transformationstheoretischer Sicht zeigt sich hier die Wechselseitigkeit und der Konstruktionscharakter von antikem Referenz- und _____________ 70 71 72

Vorausgesetzt, dass eine bildliche Narration grundsätzlich auf einen konkreten Mythos oder eine Historie Bezug nimmt. Sichtermann (1966), 84. Ein Renaissance-Gemälde, das mit dem Schlafende-Satyr-Motiv tatsächlich Ariadne auf Naxos zeigen würde, ist mir nicht bekannt. Für die Visualisierung dieses Mythos wurden andere Darstellungsformeln gewählt, siehe z. B. Cima da Coneglianos Tafel im Mailänder Museo Poldi Pezzoli, Giulio Romanos Fresko in der Sala di Psiche im Palazzo Te in Mantua oder Tizians Bacchus und Ariadne in der Londoner National Gallery.

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frühneuzeitlichen Aufnahmebereich: Durch den transformativen Prozess der Verkürzung des Mythos auf ein Motiv verfügen die frühneuzeitlichen Adaptionen über die Möglichkeit, mithilfe von mythopoetischen Verfahren in einer Rückprojektion den antiken Mythos verändert zu imaginieren.

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Die Schmiede des Vulkan in den Bildkünsten der Renaissance TATJANA BARTSCH In Lodovico Dolces kunsttheoretischem Traktat Der Dialog über die Malerei von 1557 unterhalten sich die fiktiven Personen Aretino und Fabriano über den Entwurf Raffaels für die Darstellung der Hochzeit des Alexander und der Roxane, der sowohl in der Fassung einer eigenhändigen Rötelstudie von ca. 1517 als auch als Kupferstich von Jacopo Caraglio überliefert ist (Abb. 1). 1 Ein entsprechendes Gemälde dieses Themas von Hand des antiken Malers Aëtion beschrieb bereits der spätantike Dichter Lukian (Lukian., Herod. 5). Aretino schließt seine Ausführungen mit der Bemerkung, Raffaels Geschichte sei so schön ausgedrückt, dass man Zweifel bekommen könnte, ob Raffael sie den Büchern Lukians, oder Lukian sie den Malereien Raffaels entnommen hat, wenn es nicht so wäre, dass Lukian einige Jahrhunderte früher geboren ist. Aber was bedeutet das? […] Es ist eine wechselseitige Sache, dass die Maler ihre Erfindungen häufig bei den Dichtern holen, und die Dichter bei den Malern. 2

Dichtung und Malerei teilen sich nach Dolce nicht nur dasselbe Repertoire an Themen, schöpfen aus denselben Quellen und haben dieselben invenzioni, sondern sie profitieren auch voneinander. Indem die Malerei dichterischen Texten Themen entnehmen kann, illustriert sie entweder diese und gibt sie der Schrift getreu wieder, oder aber sie lässt sich bei der Findung der Themen zumindest von den Texten inspirieren. Die Dichtung hingegen wird in dem Sinne als Malerei aufgefasst, dass Worte, wenn sie lebensnah erzählen, Bilder in der Vorstellung entstehen lassen. Mit der bekannten antiken Formel ut pictura poesis sprach einst Horaz die malerischen

_____________ Für Hinweise danke ich Ursula Rombach, Peter Cornelius Claussen, Julian Kliemann, Martin Raspe, Peter Seiler und Anka Ziefer sehr herzlich. 1 Zeichnung: Wien, Grafische Sammlung Albertina, Inv. 17634; Ausst.-Kat. Roma e lo stile classico di Raffaello, 140–141, Kat. 81. Die lavierte und weiß gehöhte Federzeichnung, die Aretino beschreibt und sich in der Sammlung Dolces befand, ist heute verschollen. Sie stellte eine Weiterentwicklung der Wiener Rötelstudie dar. Die Federzeichnung wiederum diente Jacopo Caraglio als Vorlage für seinen Kupferstich: Bartsch (1843–1876), Bd. XV, 95, Nr. 62. 2 Dolce, Dialogo, fol. 47 r: »[…] ella è espressa cosi bene, che potrebbe uenire in dubbio, se Raffaello l’hauesse tolta da libri di Luciano; o Luciano dalle Pitture di Rafaello: se non fosse, che Luciano nacque piu secoli auanti. Ma che è perciò? […] Et è cosa iscambieuole, che i Pittori cauino spesso le loro inuentioni da i Poeti, & i Poeti da i Pittori.« Deutsche Übersetzung nach Rhein (2008), 297.

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Elemente in der Dichtung an (Hor. ars 361–362). 3 In der Neuzeit kehrte Dolce die Lesart um und bezeichnete damit die dichterischen, narrativen Elemente in der Malerei. 4 Der Vergleich zwischen den beiden Gattungen war in der italienischen Kunsttheorie seit Alberti gängig, der in De Pictura von 1435 mit der Forderung, die Künstler sollten sich nach den Erfindungen (inventiones) der antiken Dichter orientieren, eine Aufwertung der Malerei anstrebte und den Künstlern empfahl, sie mögen sich mit den Dichtern und Rhetorikern vertraut machen, weil diese ihnen für eine schöne Komposition des Bildes förderlich seien. 5 Jacopo de’Barberi etwa bemerkte in seiner Schrift De ecelentia della pittura von 1501, dass die Maler nicht nur in der Philosophie und der Musik geschult sein sollten, sondern auch in der »poesia per la invention de la hopere« 6. Mit poesie waren, im Unterschied zu den Texten der vergangenen Geschichte (historie) und der Zeitgeschichte (commentarii), die literarischen Aufbereitungen mythisch-fiktiver Vorzeit gemeint. Darüber hinaus wurde der Begriff auf die Bilderfindungen selbst ausgeweitet, in denen die mythologischen Geschichten umgesetzt wurden – ein weiterer Beleg für die Auffassung, dass Malerei und Dichtkunst in enger verwandtschaftlicher Beziehung stehen. 7 So bezeichnete etwa Vasari die Malerei als stumme Poesie – »poesia muta«: gemeinsam würden die beiden Künste einander ergänzen und beflügeln. 8 Einer solchen poesia sollen die folgenden Ausführungen gelten, oder besser gesagt, einem Thema, das als zentrales Motiv in einer Vielzahl mythologischer Erzählungen erscheint und in den Bildkünsten südlich wie nördlich der Alpen seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts große Popularität genoss – der Schmiede des Vulkan. Es begegnet in unterschiedlichen künstlerischen Gattungen und Medien: im Fresko, in der Tafel- und Leinwandmalerei, auf Majolika, in Zeichnung und Druckgrapfik, auf Medaillen, Cameen und in der Reliefplastik. Der Zeitraum der Untersuchung wird auf das 15. und 16. Jahrhundert begrenzt, da in dieser Zeitspanne sowohl die ikonografische Ausdifferenzierung des Themas als auch eine bemerkenswerte quantitative Verbreitung im Bild erfolgte. Die Vulkanschmiede ist Schauplatz unterschiedlicher antiker Mythen und Historien, da Hephaistos oder Volcanus, wie der Olympier in der griechischen bzw. römi_____________ 3 4 5

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»ut pictura poesis: erit quae, si proprius stes, te capiat magis, et quaedam, si longius abstest.« Aus der umfangreichen Literatur zu dem einflussreichen Diktum des Horaz, das eine Schlüsselstelle in der Kunsttheorie der Renaissance einnahm, vgl. Lee (1940), Warncke (1987). Rhein (2008), 73–75, 152–156. Alberti, De pictura III, 53, 92: »E farassi per loro dilettarsi de’ poeti e degli oratori. Questi hanno molti ornamenti comuni col pittore; e copiosi di notizia di molte cose, molto gioveranno a bello componere l’istoria, di cui ogni laude consiste in la invenzione, quale suole avere questa forza, quanto vediamo, che sola senza pittura per sé la bella invenzione sta grata.« Vgl. auch Kohle (1989), 7. Zitiert nach Kemp (1977), 357. Pfisterer (2003), 140. Vasari, vite red. 1568, Bd. 4, 419: »Benché il Cielo desse forma alla pittura nelle linee e la facesse conoscere per poesia muta, non restò egli però per tempo alcuno di congiugnere insieme la pittura e la poesia, a ciò che, se l’una stesse muta, l’altra ragionasse, et il pennello con l'artifizio e co’ gesti maravigliosi mostrasse quello che gli dettasse la penna e formasse nella pittura le invenzioni che se le convengono.«

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schen Mythologie genannt wird, für mehrere Götter und Helden tätig war. 9 In seiner Schmiede fertigte er die Blitze des Jupiter, die Flügelschuhe Merkurs, die Rüstung Alexanders, den Schild des Achill, die Waffen für Aeneas, das unsichtbare Netz für Venus und Mars sowie die Pandora, um nur die bekanntesten Werke zu nennen. Der Gott wird daher seit Homer für seinen Erfindungsreichtum und seine hohe Kunstfertigkeit gerühmt. In den Homerischen Hymnen (Hom. h. XX) heißt es etwa: Singe, o tönende Muse, den weisheitsberühmten Hephaistos, der auf Erden zugleich mit der augenleuchtenden Pallas herrliche Werke die Menschen gelehrt. Sie lebten vor Zeiten gleich dem wilden Getier in Klüften und Höhlen der Berge. Nun, da sie Werke gelernt vom rühmlichen Künstler Hephaistos, bringen ihr Leben sie leicht in der rollenden Jahre Vollendung ruhevoll und glücklich dahin in ihrer Behausung. 10

Im Folgenden soll zunächst ein Überblick über die bildlichen Ausformungen des Themas in der Renaissance gegeben werden. Im Anschluss daran werden damals bekannte antike bildliche und literarische Quellen vor- und den zeitgenössischen Bildfindungen gegenübergestellt. Dadurch wird deutlich, auf welchen Wegen und Umwegen die künstlerische und mythologische Transformation der Formen und Inhalte erfolgte. Besonderes Augenmerk soll der Frage gelten, inwiefern das an und für sich eher handlungsarme Motiv im Kontext eines Mythos, einer Historie oder einer Allegorie in der Lage ist, neue ikonografische Varianten sowie eigenes narratives Potential zu entwickeln.

Varianten der Vulkanschmiede in der Renaissance Als einer der zwölf olympischen Götter ist Vulkan regelmäßig Bestandteil entsprechender Serien und wird in diesem Zusammenhang stehend oder sitzend, allein mit seinen Schmiedewerkzeugen als Attributen dargestellt. 11 Solche Einzeldarstellungen begegnen indes eher selten, in den meisten Fällen ist Vulkan mit Assistenzfiguren in einer vielfigurigen Szenerie in seiner Werkstatt zu sehen. _____________ 9

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Vgl. die umfangreichen Aufzählungen in den einschlägigen mythologischen Lexika: s. v. »Hephaistos« (Rapp), in: Roscher (1884–1937), Bd. 1, Abt. 2, 1886/1890, Sp. 2036–2074; s. v. »Hephaestos«, in: Reid (1993), Bd. 1, 505; s. v. »Volcanus« (Wissowa), in: Roscher (1884–1937), Bd. 6, 1924/1937, Sp. 356–369; s. v. »Hephaistos« (Fritz Graf, Anne Ley) und s. v. »Volcanus« (Andreas Bendlin), in: Der Neue Pauly (2003 ff.). Deutsche Übersetzung nach Homer (2006), 134. Zu sehen etwa auf einer der Tafeln Jacopo Caraglios aus seiner Stichserie mythologischer Götter und Göttinnen von 1525 (Cirillo Archer [1995], Nr. 2802.042 S1), auf dem Fresko Giulio Romanos um 1526 in der Sala dei Cavalli im Palazzo del Te in Mantua (Kliemann/Rohlmann [2004], 294– 315) oder auf einem Kupferstich Hendrick Goltzius’ von 1592, der auf ein verlorenes Fresko Polidoro da Caravaggios zurückgeht, das ebenfalls Teil einer Götterserie war (Strauss [1980], Bd. 3, Nr. 0301.252 S2). Vgl. den Überblick bei Freedman (2003), 170–173.

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Dies kann ebenfalls im Kontext mehrteiliger Serien geschehen, die sowohl einen kosmologischen, als auch historischen oder mythologisch-allegorischen Charakter haben können. Als Personifikation des Feuers kommt Vulkan in seiner Schmiede beispielsweise in Zyklen der vier Elemente zum Einsatz (Quint. 8, 6, 24. Verg. Aen. 9, 76). 12 Genannt seien hier das Bildfeld Sodomas von ca. 1509 im Vatikanpalast an der Decke der Decke der Stanza della Segnatura (Abb. 2) sowie das Fresko Giorgio Vasaris von ca. 1555 in der Sala degli Elementi des Palazzo Vecchio in Florenz. 13 Während Sodoma das Bildpersonal wohl aufgrund der geringen Größe des Deckenfelds auf Vulkan selbst und einen herbeifliegenden Amor reduzierte, weitete Vasari die Szenerie auf der breiten Wandfläche beträchtlich aus und integrierte die Schmiede in eine pittoreske Ruinenlandschaft. Er zeigt eine große Werkstatt mit zwei Ambossen, drei Kyklopen, Venus als Begleiterin, die ein großes Bündel fertiggestellter Pfeile hält, sowie vierzehn Eroten, die bei allen Arbeitsvorgängen helfend zur Hand gehen. Da sie je nach der Art des Schmiedeguts im Mythos sowohl des Jupiter, als auch der Venus und des Mars und gleichermaßen in antiken Historien verankert ist, kann die Vulkanschmiede auch in deren narrativen Bildprogrammen als Teilszene erscheinen. Dies ist etwa bei dem Freskenzyklus der Sala di Troia im Palazzo Ducale in Mantua der Fall, die Giulio Romano zwischen 1536 und 1539 ausführte. Hier bildet die Szene mit Vulkan, der auf Bitten von Thetis den Schild des Achill schmiedet, eine Episode der Troja-Sage, die den gesamten Raum ausschmückt (Hom. Il. 18,370–617. Ov. Met. 13, 288–295). 14 Auch in Darstellungen des Ehebruchs von Venus und Mars kommt die Schmiede vor, denn der betrogene Gott wurde an ebendiesem Ort von Sol über das Vergehen seiner Frau in Kenntnis gesetzt (Hom. Od. 8, 267–363. Ov. Met. 4, 171–189. Lukian. dial. deor. 15). 15 Das Thema wurde gern auf Brauttruhen dargestellt, genannt sei hier eines der frühesten Beispiele in Gestalt einer Cassonetafel, wohl aus der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts. 16 Die Vulkanschmiede bildet entweder eine Szene in einem Zyklus, der auf mehrere Seiten der Truhe verteilt ist, oder erscheint mit den anderen Episoden in einem Bildfeld kombiniert. Analog ist sie im Kontext der Venus-Mars-Geschichte in den Holzschnittillustrationen der gedruckten VolgareAusgaben der Metamorphosen Ovids zu sehen, die bis zum Aufkommen der mythographischen Sammelschriften um die Mitte des 16. Jahrhundert und darüber hinaus die wichtigste mythologische Quelle für die Künstler bildeten. 17 1497 wurde die erste Ausgabe auf der Basis des kommentierenden Textes Giovanni Bonsignoris von ca. 1375 in Venedig verlegt. 18 Bis zum Erscheinen der Neuübersetzung der Metamorpho_____________ 12 13 14 15 16 17 18

Zur Metonymie Vulkan = »Feuer« vgl. s. v. »Volcanus« (Andreas Bendlin), Anm. 9. Zu Sodoma: Wind (1938); Pfeiffer (1975), 28–31. Bartalini (2001), 549. Zu Vasari: Allegri/Cecchi (1980), 68; Kliemann/Rohlmann (2004), 33. Talvacchia (1988), 239–240. De Jong (1995); Cieri Via (1997); Ziefer (2010). Sienesisch, um 1375. Paris, Privatsammlung. Schubring (1932). Zur Rolle der Vermittlertexte in der Tradition klassischer Texte vgl. Guthmüller (1981), 7–14. Neu aufgelegt in Bonsignori (2001).

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sen durch Lodovico Dolce im Jahre 1553 mit den neu geschaffenen Illustrationen Antonio Rusconis blieben die Holzschnitte der ersten Buonsignori-Ausgabe das ikonografische Vorbild für alle weiteren Metamorphosenillustrationen in der ersten Hälfte des Cinquecento. 19 Die Vulkanschmiede ist gemeinsam mit der Fesselung von Mars und Venus und deren Bloßstellung vor den Göttern auf fol. XXVIIIr abgebildet. 20 Der narrative Charakter der Episode äußert sich auch hier in der Simultandarstellung der einzelnen Sequenzen (Vulkan erfährt in der Schmiede vom Ehebruch seiner Frau – Neptun beschwört Vulkan, Venus und Mars zu befreien – Venus und Mars liegen vor den Augen der Götter unter dem Netz gefangen) in einem Bildraum. Diese Bilderfindung wird gestützt durch Homers Odyssee, nach der das Haus Vulkans der Ort des heimlichen Treffens der beiden Liebenden gewesen sein soll. Unter den etwa neunzig von mir zusammengetragenen bildlichen Darstellungen des 15. und 16. Jahrhunderts überwiegen indes eindeutig die Fälle, bei denen die Szene der Vulkanschmiede separat auf einem autonomen Bildwerk zu sehen ist. Dabei zeigt sich, dass die Einbindung in einen übergeordneten, mehrteiligen Kontext wie die oben genannten keine Auswirkungen auf die formale und die ikonografische Gestaltung der Szene selbst hat. So kommen etwa die von Sodoma und Vasari gewählten Varianten des schmiedenden Gottes mit einer oder mehreren Begleitpersonen auch auf Einzeldarstellungen vor, wie zum Beispiel auf der Radierung von Battista Agnolo Moro und dem Kupferstich Giorgio Ghisis aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. 21 In beiden Fällen schmiedet Vulkan einen Pfeil für Amor. Auf Moros Entwurf macht sich dieser in der linken Bildhälfte an seinem Bogen zu schaffen, wobei er versucht, die Körperhaltung des Schmieds zu imitieren (Abb. 3). Bei Ghisi sind Venus und drei Eroten zugegen, von denen einer eifrig den Blasebalg bedient. Die Kombination von Schmiede und Aufdeckung der Liebschaft zwischen Venus und Mars begegnet einem in vergleichbarer formaler Gestaltung in ebenso unterschiedlichen Medien wieder, so etwa auf einem Kupferstich nach einem Entwurf Girolamo da Carpis oder dem Relief Guglielmo della Portas, beide sind in die Mitte des 16. Jahrhunderts zu datieren. 22 Nicht immer ist die konkrete Ikonografie auf diesen autonomen Werken jedoch klar zu deuten, da ohne die Einbindung in einen Zyklus oder eine entsprechende subscriptio manchmal nicht eindeutig zu erkennen ist, ob hier nun die Waffen des Aeneas, die des Mars oder des Achill gefertigt werden. So wird ein Kupferstich Nicoletto da Modenas von ca. 1507 im British Museum London unter dem Titel »Vulcan forging the arms of Achilles, assisted by Mars and a winged Venus who hold his shield« geführt, so dass die verschiedenen Mythentraditionen gleichsam mitei_____________ 19 20 21 22

Guthmüller (1981), 182–185; Huber-Rebenich (2002) mit einer »Genealogie der Kopienserien«. Vgl. Huber-Rebenich (1995), 50–51, Taf. 12a; Blattner (1998), Abb. V 12. Moro: Zerner (1979), Nr. 21 (189); Ghisi: Boorsch/Spike (1986), Nr. 54 (405). Kupferstich nach einem Entwurf Girolamo da Carpis, publiziert 1553 von Hieronymus Cock: Riggs (1971), 375, Nr. 254; Ziefer (2010), 211 f. Guglielmo della Porta: Bronzeplakette vergoldet, 3. Viertel des 16. Jahrhunderts, New York, Metropolitan Museum of Art, Inv. 41.109.

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nander verschmolzen werden (Abb. 4). 23 Auf den Schild des Achill verweisen die beiden Pferde im Vordergrund, bei denen es sich um Xanthos und Balios handeln könnte, die beiden unsterblichen Rösser des Achill, der sie im Krieg gegen Troja seinen Wagen ziehen ließ. Die Anwesenheit von Venus und Mars deutet dagegen eher darauf hin, dass die von Vulkan angefertigten Waffen für den Kriegsgott selbst bestimmt sind oder aber für den Sohn der Göttin, den trojanischen Helden Aeneas. Die zuletzt genannte Geschichte, die Vergil in der Aeneis überliefert, wird im 15. und 16. Jahrhundert selten im Bild rezipiert; als Beispiel sei ein Gemälde des Niederländers Frans Floris von ca. 1567 genannt. 24 Eine weitere Montage verschiedener Mythenkontexte stellt ein bislang unbekanntes Kaminfresko von ca. 1560 aus römischem Privatbesitz dar (Abb. 5). 25 Es zeigt Vulkan in der Gegenwart zweier Eroten beim Drahtziehen, einer Tätigkeit, die ebenfalls in den Kontext der Venus und Mars-Geschichte gedeutet werden kann. Alternativ könnte sie aber auch auf die gezackten Blitze des Jupiter bezogen werden, mit denen einer der beiden Knaben am Boden hockend spielt. Der zweite stemmt sein eigenes Attribut in Form eines riesigen Pfeils in die Höhe und hält in der anderen Hand ein Steckenpferd. Die übermütig spielenden Cupidi verweisen auf die Kraft und Unabhängigkeit der diesseitigen, nur schwer zu bändigenden Liebe. In diesem allgemein gefassten Kontext der bekannten Vergilschen Ekloge »Omnia vincit Amor« (Verg. ecl. 10, 69) stehen die allermeisten Bildfindungen der Vulkanschmiede in der Renaissance. 26 Für den kleinen Amor schmiedet der Feuergott die Waffen weitaus häufiger als für Jupiter, Thetis oder Mars. 27 In der Regel haben Vulkan und seine Gehilfen in der Werkstatt Besuch: Oft sind Venus und ihr kleiner Sohn zugegen, bisweilen auch nur dieser allein, oder aber sie werden von weiteren kleinen Eroten begleitet. Schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts legen die Kupferstiche von Nicoletto da Modena und Marcantonio Raimondi davon Zeugnis ab – auf dem einen sieht man Vulkan, der dem kleinen Amor einen Flügel schmiedet (Abb. 6), auf dem anderen bearbeitet er ein Werkstück, während Venus ihren Sohn mit einem seiner Pfeile neckt. 28 Solche druckgraphischen Blätter sicherten den auf die Schmiedeszene konzentrierten Kompositionen einen hohen Verbreitungsgrad und zeitigten weitere Variati_____________ 23 24 25 26 27 28

Cabinet of Prints and Drawings, Inv. 1870-1008-2402. Zucker (1984), Nr. 2508.036. Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, Inv. 1567. Velde (1975), Bd. 1, 275, Kat. 134; Bd. 2, Abb. 68. Es stammt ursprünglich aus dem Castello dei Rossi in San Secondo (Parmense) und kann Orazio Sammacchini zugeschrieben werden. Zu dem Kastell und seiner Ausstattung vgl. Basteri u. a. (1995). So lautet auch die Inschrift auf einer um 1500 datierten Paduaner Bronzeplakette, die Vulkan beim Schmieden der Pfeile Cupidos zeigt: National Gallery Washington, Samuel H. Kress Collection, Inv. 1957.14.416; Wilson (1983), 93, Nr. 12. Vgl. die Tabelle im Anhang, die den derzeitigen Stand meiner Recherche wiedergibt. Eine recht umfangreiche Aufstellung findet sich bei Reid (1993), 505–507. Ebenfalls materialreich: Cieri Via (2003). Nicoletto da Modena: Zucker (1984), Nr. 52 (283). Raimondi: Oberhuber (1978b), Nr. 326 (247).

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onen des Themas in anderen Gattungen und Medien. Ein Kupferstich des Marco Dente da Ravenna, der zur Werkstatt Raimondis gehörte, in der eine Vielzahl von graphischen Entwürfen Raffaels verarbeitet wurden, hatte eine besonders reiche Nachfolge (Abb. 7).29 Zu sehen ist Vulkan beim Schmieden der Pfeile Amors, der mit seiner Mutter Venus und zwei weiteren geflügelten Eroten zugegen ist. Zwischen ca. 1515 und 1527 entstanden, diente er unter anderem als Vorlage für zwei Majolikateller des Urbineser Künstlers Francesco Xanto Avellis um 1540, die zu Geburten und Hochzeiten verschenkt wurden (Abb. 8), sowie für den Steinschnitt von Fingerringen, wohl zu einem ähnlichen Zweck gefertigt. 30 Der in gekrümmter Haltung auf einem Baumstumpf sitzende Schmied und die neben ihm stehende Göttin, an der sich ihr kleiner Sohn festklammert, sind deutlich wiederzuerkennen. Die beiden Majolikateller nehmen auch das Standmotiv der Göttin mit voreinander gekreuzten Beinen und die restlichen Erotenfiguren auf und integrieren sie in neue räumliche Kontexte. Der nur 105 x 160 mm messende Kupferstich des Marco Dente weist einen dunkel schraffierten, neutralen Hintergrund auf, durch den der Eindruck entsteht, hier werde eine Reliefarbeit nachgeahmt. So ist in der Forschung auch die Auffassung vertreten, Marco Dente habe nach einem antiken Relief gearbeitet. 31 Daher sei im Folgenden der Blick auf die überlieferten antiken Bildentwürfe gerichtet, um mögliche Quellen und Wege der Bezugnahme für die inhaltliche wie formalästhetische Gestaltung des Themas herauszufinden.

Antike Bildwerke mit der Schmiede des Vulkan Ein dem Kupferstich Marco Dentes vollständig entsprechendes antikes Relief ist unter den zu Beginn des 16. Jahrhunderts bekannten Stücken mit entsprechender Ikonografie nicht oder nicht mehr nachweisbar. Überhaupt sind nur äußerst wenige antike Bildwerke überliefert, die den Künstlern der Renaissance das Thema der Vulkanschmiede hätten vermitteln können. Die Datenbank des Census of Antique Works of Art and Architecture Known in the Renaissance etwa verzeichnet lediglich drei Beispiele. 32 Zum einen handelt es sich um eine Buchillustration aus dem Vergilius Vaticanus, der wohl bekanntesten erhaltenen spätantiken Handschrift, die Vulkan mit den Ky_____________ 29 30

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Oberhuber (1978a), Nr. 227-I (184). Majolikateller: The British Museum London, Inv. 1878-1230-373: Ausst.-Kat. Art and Love in Renaissance Italy, Kat. 81; Bestandskatalog London 2009, Bd. 1, 286 f., Kat. 169. Sankt Petersburg, Staatliche Eremitage, Inv. Sammlung M. P. Botkin, Petrograd, 1920. Fingerringe: The British Museum London, Inv. Sloane Coll. 1753 und Blacas Coll. 1872 (1913-0307-30): Bestandskatalog London 1915, 14, Nr. 83, 91, Nr. 642. Ebda, 14: »This subject occours not infrequently on Renaissance gems.« Wilson (1996), 131. Oberhuber (1978a), Nr. 227-I (184): »From Ancient Bas-Reliefs«. [1.11.2011].

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klopen vor dem Eingang der Höhle zeigt. 33 Der Pergamentcodex, der sich seit dem frühen 16. Jahrhundert im Besitz des humanistischen Gelehrten Pietro Bembo befand, wurde in den 1510er Jahren zwar einmal von einem unbekannten Zeichner komplett auf Papier umkopiert, die antiken picturae übten ansonsten jedoch keinen Einfluss auf andere Künstler dieser Zeit aus. 34 Die anderen beiden antiken Darstellungen der Vulkanschmiede, die die Künstler und Gelehrten der Renaissance kannten und studierten, sind Marmorreliefs, die heute in den Kapitolinischen Museen und im Louvre aufbewahrt werden. 35 Sicher nachgewiesen sind sie erst seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, als in die Codices Coburgensis und Pighianus detailgetreue zeichnerische Kopien von ihnen aufgenommen wurden. 36 Auf dem heute in Rom befindlichen Sarkophagdeckelfragment sind friesartig drei von rechts nach links zu lesende Szenen nebeneinander angeordnet, die die Neubewaffnung Achills erzählen (Abb. 9). Rechts ist Vulkan zu ergänzen, der von Thetis gebeten wird, eine neue Rüstung für ihren Sohn zu schmieden, der zusammen mit Antilochos im Mantel neben ihr steht. Die mittlere Szene zeigt Vulkan und die Kyklopen, wie sie mit voller Kraft auf den neuen Schild des Achill einschlagen. Links überreichen Athene und Vulkan dem Helden die neuen Waffen. Das zweite Stück ist ein Schmuckrelief, das die äußerst seltene Ikonografie des Vulkan in Begleitung von Satyrn zeigt, die ihm beim Schmieden der Rüstung des Dionysos für dessen Indienzug helfen. Der rechts am Boden sitzende Satyr, der eine Beinschiene bearbeitet, ist in der Pose des Dornausziehers wiedergegeben. Von den drei genannten antiken Werken ist nur das kapitolinische Sarkophagrelief für neuzeitliche Darstellungen der Vulkanschmiede fruchtbar geworden. 37 Es erscheint in dem Fresko Baldassare Peruzzis von 1519 in der Sala delle Prospettive der Villa Farnesina, das seinerseits folgenreich für die weitere Verbreitung der Ikonografie im 16. Jahrhundert wurde (Abb. 10). 38 Die Platzierung der Szene auf dem pyramidenförmigen Kaminmantel bewirkte ihren trapezoiden Umriss und unter-strich sinnfällig Vulkans Rolle als Feuergott. Peruzzis Fresko ist eines der _____________ 33 34 35

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38

Biblioteca Apostolica Vaticana, Inv. Vat. lat. 3225, fol. 8 v, pictura 7: Vergilius Vaticanus, Bd. 1, fol. 8 v, Bd. 2, 52 f. Princeton, University Library, Inv. MS. 104, fol. 44 r: Vergilius Vaticanus, Bd. 2, 14. Paris, Musée National du Louvre, Inv. MA 661: Bestandskatalog Paris 1922, 38; Rom, Musei Capitolini, Stanza del Fauno, Inv. S 1959, Inventario Albani, C 49: Bestandskatalog Rom 1912, 332–333, Nr. 30, Taf. 83; Helbig (1963–1972), Bd. 2, 224–225, Nr. 1418; Schefold (1976), 777; Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (1981–2009), Bd. 6, 158, Nr. 38. Kunstsammlungen der Veste Coburg, Kupferstichkabinett, Inv. Hz 2, Nr. 18, 78; Staatsbibliothek zu Berlin, Stiftung Preussischer Kulturbesitz, Inv. Ms. lat. fol. 61, folia 267 v, 268 r. Bestandskatalog Coburg 1986, 14, Nr. 5; 31, Nr. 24. Das in der Literatur (so Markx-Veldman [1973], 108, Abb. 12; Schwarzenberg [2005], 302, Abb. 11) als Vergleichsbeispiel gern herangezogene Sarkophagrelief aus dem Konservatorenpalast, das Vulkan und die Kyklopen beim Schmieden des Schildes von Achill zeigt, wurde erst 1877 in Rom ausgegraben: Roma, Musei Capitolini, Inv. S 1262, vgl. Bestandskatalog Rom 1912, 281, Nr. 3, Taf. 112. Frommel (1967/68), 13–14, 87–90, Nr. 51; Ewering (1993), 54–56; Luchterhandt (1996), 214.

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frühesten Beispiele neuzeitlicher Vulkanschmieden, in denen neben dem Gott auch die Kyklopen zu sehen sind. Nicht nur die kreisförmige Anordnung der Schmiedenden um den Amboss herum, sondern auch der rechts hinten stehende nackte Kyklop rekurrieren auf das antike Relief. Hier wie da ist der bärtige Geselle breitbeinige stehend und mit hoch über dem Kopf erhobenen Armen zu sehen, die den Schmiedehammer raumgreifend schwingen und den Blick auf seinen muskulösen Oberkörper freigeben. Vulkan selbst ist zwar nicht mehr in sitzender Position, aber mit vergleichbar gebeugtem Rücken und in strengem Profil dargestellt. Das nach vorn und auf die Zehen ausgestellte linke Bein deutet evtl. auf seine im Mythos überlieferte Lahmheit hin. Hinter ihm schaut Amor mit dem Köcher in den Armen dem Geschehen zu. Eine Adaption des Freskos und vielleicht auch seines Vorbildes selbst stellt eine Zeichnung des Holländers Maarten van Heemskerck dar, die in Rom zu Anfang der 1530er Jahre entstand (Abb. 11). 39 Van Heemskerck hat nachweislich in der Villa Farnesina gezeichnet, ob er auch Zugang zu dem kapitolinischen Relief hatte, dessen Überlieferungsumstände in der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert ungewiss sind, bleibt offen. Der Holländer übernahm gleichfalls den nackten, hinter dem Amboss stehenden Kyklop, der analog zu dem Relief und zu Peruzzis Fresko mit erhobenen Armen den Hammer schwingt. Der kleine Amor fehlt, dafür betätigt der Kyklop ganz links einen Blasebalg. Der Vergleich der bislang gezeigten und beschriebenen frühneuzeitlichen Darstellungen der Vulkanschmiede mit den im 16. Jahrhundert bekannten antiken Reliefs sowie weiteren antiken Bildwerken gleichen Themas, die wir heute kennen, bringt auffällig zu Tage, dass wesentliche Merkmale der antiken Vulkanschmieden auf den neuzeitlichen nicht rezipiert werden, wohingegen aber andere, neue Elemente hinzugekommen sind. Zunächst ist auf die Kleidung des Schmiedegottes hinzuweisen, die auf den antiken Darstellungen aus der typischen Handwerkertracht besteht, nämlich der kegelförmigen Filzkappe, dem Pilos, und der Exomis, dem kurzen, über der linken Schulter geschlossenen Chiton, der die rechte Brustseite frei ließ. Seine Werkzeuge sind Hammer, Zange oder Doppelaxt. Die Kyklopen tragen als Arbeitsgewand zumeist einen einfachen Schurz. Vulkan ist auf den antiken Schmiededarstellungen im Normalfall sitzend dargestellt, eine Anspielung auf seine Lahmheit infolge des Sturzes vom Olymp in seiner Kindheit. Thetis, Achill oder Jupiter schauen ihnen bei der Arbeit zu. 40 Die Schmiedenden der Renaissance indes sind in der Regel vollständig nackt zu sehen. Insbesondere die Kyklopen haben durchtrainierte, idealisierte Körper, die sie in ihrem Reigen rund um den Amboss von verschiedenen Ansichtsseiten präsentieren. Wenn Venus und Amor zugegen sind, sind diese ebenfalls unbekleidet. Somit _____________ 39 40

Kopenhagen, Statens Museum for Kunst, Inv. 5543 recto: Markx-Veldman (1973), 105–106, Abb. 10; Kolind Paulsen (2008), 25, 96, Abb. 16. S. v. »Vulcanus« (Erika Simon), in: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae, Bd. 8.1, 283–293, Bd. 8.2, 204–214.

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stellt die Vulkanschmiede auch ein Schaubild der menschlichen Geschlechter, Körper und Lebensalter dar. Besonders evident wird dies in der einzigen mir bekannten erhaltenen vollplastischen Version von Vulkan, Venus, Amor und den Kyklopen in der Schmiede, installiert am Ende des 16. Jahrhunderts im Auftrag Clemens VIII. in einer Grotte unterhalb der Fontana dell’Organo in den Gärten des Quirinal. 41 So gut wie nie trägt Vulkan auf Renaissancedarstellungen einen Hut, nur manchmal einen Mantel oder ein Tuch, das seine Lenden verhüllt. Das Sitzmotiv ist nicht verbindlich, der Olympier kann ebenso vor seinem Amboss stehen. Keine antike Entsprechung hat jedoch die in der Renaissance so beliebte Anwesenheit von Venus und Amor in Vulkans Werkstatt. Zudem kommt das Schmieden von Pfeilen und Flügeln für Amor auf den antiken Bildern nicht vor. Unter formalen Aspekten scheinen Kompositionen wie diejenige eines Raffaelschülers aus der Loggetta des Kardinals Bibbiena, die Vulkan umgeben von einer lustigen Schar kleiner Eroten zeigt, 42 eine neuzeitliche Verschmelzung oder Montage zweier in der Antike getrennter Ikonografien darzustellen, nämlich der Schmiede Vulkans und der Waffen schmiedenden Amoretti, wie sie an stadtrömischen Kindersarkophagen anzutreffen sind. 43 Ein solcher war etwa zu Beginn des 16. Jahrhunderts bei S. Cecilia zu sehen, wie eine Zeichnung aus dem Codex Escurialensis verrät (Abb. 12). 44 Die Erscheinungsform solcher Erotensarkophage war vielfältig: Die Knaben kommen ebenso als kleine Krieger, Jäger, Seefahrer oder Wagenlenker vor, des gleichen beim Spielen, bei der Weinlese und vielen anderen Aktivitäten.

Die Vulkanschmiede in der literarischen Tradition Von der ohnehin nur schmalen antiken bildlichen Überlieferung der Vulkanschmiede lässt sich die neuartige Ikonografie, die der Episode in Italien seit ca. 1500 eigen ist, nur bedingt herleiten. Dies wirft die Frage auf, inwieweit sie auch aus poetischen und allegorischen Beschreibungen des Mythos Gestalt und Gehalt bezogen haben könnte, ob diese Werke also, um mit den Worten Vasaris zu sprechen, als »poesie mute« anzusprechen sind. Erst die Gegenüberstellung mit der antiken literarischen Überlieferung ermöglicht es, den Anteil des imaginativen Potentials an diesen Darstellungen einzuschätzen. Wie eingangs gesagt, ist die Vulkanschmiede Schauplatz einer großen Zahl antiker Mythen und Historien. Dementsprechend findet sie in vielen Schriften griechischer und römischer Autoren Erwähnung: Mit Homer, Hesiod, Apollodor, Vergil, Ovid, Quintilian, Lukian und Pausanias seien nur einige von ihnen genannt. In den meisten Fällen liefern sie allerdings keine tatsächliche Beschreibung dieser Werkstatt _____________ 41 42 43 44

Donelli (1995). Oberhuber (1999), 182, 186, Abb. 163. Robert (1919), 232; Schauenburg (1976), H. 3, 39; Koch/Sichtermann (1982), 209, 212, Abb. 250. Post 1506 – ante 1508, Real Monasterio El Escorial, Codex Escurialensis, fol. 44 v: Egger (1905– 1906), Bd. 1, 118; Bd. 2, fol. 44 v.

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und der in ihr tätigen Personen, die den Künstlern als Anregung gedient haben könnte. Dies wird von jenen auch selten versucht, denn abgesehen von den genannten Episoden rund um Venus und Mars, Achill und Aeneas wird bei den Schmiededarstellungen auf die Einbettung in einen narrativen Kontext verzichtet. Diese Geschichten wiederum werden in der Ilias und der Odyssee Homers, der Aeneis Vergils und den Metamorphosen Ovids überliefert, denjenigen Stoffen also, die das gesamte Mittelalter hindurch rezipiert und tradiert wurden und seit Boccaccio auch in den mythographischen Schriften ihren festen Platz haben. 45 Eine wirkliche Beschreibung der Wirkungsstätte des Schmiedegottes findet sich nur in zwei Texten, nämlich im 18. Gesang der Ilias im Kontext der Erzählung von Thetis, die bei Vulkan den Schild des Achill in Auftrag gibt, sowie im 8. Buch der Aeneis, als Venus um Waffen für ihren Sohn Aeneas bittet. Homer schildert die Schmiede im Palast des Gottes auf dem Olymp als sternenhell, unvergänglich und von strahlender Pracht, mit 20 Blasebälgen, die zugleich die Glut anfachen. Vergil hingegen verortet die Schmiede in eine Höhle in dem von Kaminen durchklüfteten Ätna, wo Vulkan und die Kyklopen Brontes, Steropes und Pyracmon, der als nackter Riese bezeichnet wird, in großer Hitze- und Lärmkulisse arbeiten. Vergil folgend, verlegten die Künstler den Ort des Geschehens zumeist in eine Ruine, eine Felshöhle oder in andere unspezifische Innenräume. Dies ist insbesondere bei den autonomen, nicht in narrative Kontexte eingebundenen Darstellungen wie denjenigen von Penni und Peruzzi der Fall. So stellt sich die Frage, ob die neuen Elemente wie die Anwesenheit von Eroten oder das Herstellen von Pfeilen und Flügeln für Amor, die die Vulkanschmieden der Renaissance auszeichnen, aus anderen literarischen Quellen jenseits des engeren Mythenkontextes entlehnt wurden, oder ob sie das Resultat imaginativ-kreativer Neuschöpfungen sind. An dieser Stelle lohnt der Blick zurück auf Raffaels Komposition der Hochzeit von Alexander und Roxane, die von Lodovico Dolce alias Aretino als vorzügliches Beispiel für eine Rekonstruktion der berühmten Bildbeschreibungen des Lukian gelobt wird (Abb. 1). Lukians Ekphrasis des Aëtion-Gemäldes aus dem 4. Jh. v. Chr. sei hier ausschnittweise zitiert: Es stellt ein äußerst prächtiges Schlafgemach mit einem Brautbette vor. An diesem sitzt Roxane, das schönste Mädchen, das man sich denken kann. […] Der König selbst reicht dem Mädchen eine Krone dar, und neben ihm steht Hephästion als Brautführer mit einer brennenden Fackel in der Hand, auf einen wunderschönen Knaben gestützt, der vermuthlich den Gott der Ehen vorstellt: denn der Name steht nicht dabei. Auf einer anderen Seite des Gemäldes sieht man einige Liebesgötter, die mit Alexanders Waffen

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Eine bereits in der Antike eher selten dargestellte Szene wie die der Geburt der Athena aus dem von Hephaistos gespaltenen Haupt des Zeus begegnet im gesamten Cinquecento ein einziges Mal in dem großartigen Marmorrelief Antonio Lombardos von 1508–1511, das den Göttervater in Laokoonpose auf dem Amboss zwischen dem Kamin und den staunenden Kyklopen zeigt. Es war dafür bestimmt, im camerino d’alabastro im Ferrareser Palast Alfonso d’Estes Teil eines komplexen Bildprogramms zu sein und konnte als solches ausschließlich von den Angehörigen und Vertrauten des Herzogs besichtigt werden: Ceriana (2004), Kat. 2.

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Tatjana Bartsch spielen, ihrer zwei schleppen seinen Spieß, und scheinen unter der Last desselben beinahe zu erliegen. Ein paar andere bringen einen dritten, der den König selbst vorstellt, auf einem Schilde getragen, den sie an den beiden Handhaben gefasst halten. Noch ein anderer ist in den rückwärts liegenden Panzer hinein gekrochen, wo er zu lauern scheint, um jene Träger, wenn sie vorbei kommen werden, zu erschrecken. Diese Nebensachen sind nichts anderes als müßig und bloßes Spiel der Phantasie des Künstlers. 46

Jedes einzelne Element der Beschreibung wurde von Raffael im Bild umgesetzt. Besonderes Augenmerk und Phantasie aber hat offensichtlich auch er auf die »Nebensachen«, die spielenden und waffentragenden Eroten, gelegt. Als deren antike bildliche Vorlagen waren die Reliefdarstellungen der Erotensarkophage greifbar; aber erst in der Ekphrasis Lukians waren sie auch inhaltlich an Hephaistos / Vulkan gekoppelt und konnten über diesen Weg von den Künstlern der Renaissance in dessen Mythenkontext integriert und narrativ erschlossen werden. Raffaels auf Lukian beruhende poesia ist demnach nicht nur ein exemplum für das Konzept der Parallelisierung, ja Rivalität zwischen Malerei und Dichtkunst, sie liefert zugleich auch ein renommiertes Vorbild für die den Schmiedegott begleitenden Eroten, die auf den neuzeitlichen Vulkanschmieden bald zum Standardpersonal avancierten. Die Werke Lukians wurden ab circa 1470 in vielen Ausgaben gedruckt; die Kompositionszeichnung Raffaels seit 1520 durch einen Kupferstich des Jacopo Caraglio allgemein zugänglich gemacht. Die Transformation der die Waffen herbeitragenden Cupidi aus der Komposition Aëtions zu den die Waffen schmiedenden Amoretten in den Vulkanschmieden von Raffael, Vasari, Primaticcio usw. war daher nur ein kleiner Schritt. Mit ihm wurden die Künstler zugleich der Forderung nach einer intellektuellen Eigenleistung gerecht, indem sie ihre eigene Erfindungsgabe über die bloße Nacherzählung der literarischen Vorlage hinaus bewiesen. Indes war noch eine zweite antike Ekphrasis für die Künstler der Renaissance von zentraler Bedeutung im Hinblick auf die Verwendung von Eroten, Cupidi oder Putti im Bild. Diese hatten von etwa 1500 an eine regelrechte Konjunktur – als bekannteste gemalte poesia dieser Art sei lediglich das sogenannte Venusfest Tizians von 1518 genannt. 47 Seine literarische Grundlage stellt die Bildbeschreibung Erotes aus den 1503 erstmal veröffentlichten Eikones des Philostrat dar (Philostr., im. I, 6), in der sich unzählige nackte Liebesgötter in einen Apfelgarten um eine Grotte und ein Venusstandbild tummeln. Auch hier gibt es einen konkreten Bezug zwischen den Eroten und dem Gott Vulkan, denn: Ihre Flügel, dunkelblau, purpurn, auch golden bei einigen, schlagen beinahe wirklich die Luft in melodischem Klang. Und erst die Körbchen, worin sie die Äpfel sammeln! Wie reich sind sie mit Sardonyx eingefasst, wie reich mit Smaragd! Und echte Perlen! Ihre Ordnung und Fassung muss als Werk des Hephaistos gelten. 48

So ist anzunehmen, dass sich die neuen Elemente in den Vulkanschmieden der Renaissance, die in den antiken Mythen und Historien nicht konkret formuliert sind, _____________ 46 47 48

Deutsche Übersetzung von C. M. Wieland, in: Lucians von Samosata Sämtliche Werke, Bd. 3, 415 f. Madrid, Museo del Prado, Inv. P00419. Deutsche Übersetzung von O. Schönberger, in: Philostratos, Die Bilder, 99.

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von Texten wie den stark beachteten Ekphrasen Lukians und Philostrats, wahrscheinlich sogar direkt von diesen, herleiten lassen. Zugleich stellten sie eine Variation oder Amplifikation des Themas »Vulkan schmiedet die Waffen seines Stiefsohnes« von Aeneas auf Amor dar. Der Akt der Herstellung der folgenreichen Pfeile sowie die Einbeziehung von Venus in diesen Herstellungsprozess bringen das Vergilsche Liebeslob »omnia vincit amor« (Verg. ecl. 10, 69) sinnfällig zum Ausdruck und verweisen auf den privaten Rahmen, in dem solche profanen Bilder anzutreffen waren. Dieser häusliche Kontext wird durch die äußere Form als Teller, Ring, Plakette, Medaille, oder als druckgraphisches Blatt und schließlich auch durch die Savonarola zugeschriebene kritische Äußerung bestätigt: Und die Häuser der Bürger – was soll ich von ihnen sagen? Keines Händlers Tochter macht Hochzeit, ohne ihre Aussteuer in einer Truhe zu verwahren, die nicht mit heidnischen Geschichten bemalt wäre; so lernt die neuvermählte Christin den Trug des Mars und Vulcanus Listen eher kennen als die berühmten Taten heiliger Frauen in beiden Testamenten […]. 49

Dass Vulkan und Venus trotz der schwierigen Kindschaftsverhältnisse um Amor auch als sich liebendes Ehepaar interpretiert werden konnten, belegt ein Entwurf Raffaels, der in einem Gemälde von Giulio Romano und im Stich von Agostino Veneziano überliefert ist. 50 Andererseits ist das Thema der für Amor geschmiedeten Flügel, das auf dem Kupferstich des Nicoletto da Modena kurz nach 1500 zum ersten Mal belegt ist (Abb. 6) und bis zur Mitte des Jahrhunderts verschiedene Male wieder aufgegriffen wird, auch mit der Platonischen Auffassung der beflügelten Liebe in Zusammenhang gebracht worden. 51 Von ihr spricht Sokrates im Phaidros: »Ihn benennen die Sterblinge zwar geflügelten Eros, Götter aber nennen ihn Flügler, weil er die Schwingen heraustreibt.« (Platon, Phaedr. 32) 52 Sokrates unterscheidet bei der Liebe zwischen der irdischen Begierde und der höheren, von der Sehnsucht nach dem Schönen getriebenen Leidenschaft. Diese zweite Liebe, Eros genannt, ist für die Bildung der Seele förderlich, wobei diese selbst gefiedert wird und zum wahrhaften und wesentlichen Sein aufsteigen kann. 53 Der Neoplatonismus des Marsilio Ficino interpretiert das Wachsen des Seelengefieders als entscheidenden Moment bei der Rückkehr der

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Deutsche Übersetzung zitiert nach Schäffer (1913), 8. Oberhuber (1978b), Nr. 349–I (261). Jacobsen (1972). Deutsche Übersetzung von K. Hildebrandt, in: Platons Phaidros, 132. »Wenn nämlich ein Mensch beim Anblick der irdischen Schönheit sich der wahren erinnert, so dass ihm die Flügel wachsen und er die Flügel regt in der Sehnsucht, sich aufzuschwingen – er aber hat nicht die Kraft dazu und blickt gleich wie ein Vogel nach oben, ohne des Unteren zu achten, so gibt er Anlass, dass man ihn wahnsinnig nennt. Diese aber ist unter allen Gott-Begeisterungen die edelste und von edelstem Ursprung für ihren Träger und ihren Genossen, weil um der Teilnahme willen an diesem Rausch der die Schönen Liebende ein Verliebter genannt wird.« (Platon, Phaedr. 32), zitiert nach Platons Phaidros, 127.

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Seele zu Gott. 54 Ficino zufolge hat die Seele zwei Flügel, mit denen sie dem Überirdischen zufliegen soll: Von diesen ist nach unserer Meinung der eine die Forschung, mittels welcher sich der Geist ohne Unterlass zur Wahrheit zu erheben sucht, der andere das Verlangen nach dem Guten, in welchem unaufhörlich unser Wille entbrennt. 55

Dass das Schmieden der Flügel für Amor nicht per se im neuplatonischen Sinne gedeutet werden kann, bezeugt die Beschreibung zweier (nicht abgebildeter) Triumphbogenreliefs, die zusammen betrachtet die Erziehung Cupidos darstellen, in der Hypnerotomachia Poliphili, dem vielbeachteten Liebestraumroman Francesco Colonnas von 1499. 56 Hier wird Cupido, nachdem er von Vulkan mit Flügeln ausgestattet wurde, nicht etwa von Merkur ein Buch zur Unterweisung im mäßigen Gebrauch der unheilbringenden Pfeile überreicht, wie auf dem etwa zeitgleich oder kurz zuvor entstandenen Bronzerelief Camelios zu sehen ist. 57 Auf den Reliefs der Magna Porta erhält der Liebesgott vielmehr von Merkur selbst drei Pfeile ausgehändigt. 58 Das Flügel- wie das Pfeileschmieden stehen hier im Dienst der ›Liebesanarchie‹ des Cupidos und befördern diese eher, als dass sie sie mäßigen. 59 Neben dem konkreten diesseitigen Liebesbezug und einer möglicherweise neuplatonischen, auf das Seelenleben ausgerichteten Deutung wird in anderen Schmiededarstellungen aber auch ein dezidierter moralischer Gehalt spürbar, der sich in der Warnung vor den Folgen des Ehebruchs äußert. Das interessanteste Beispiel hierfür ist sicherlich das heute nur noch in Bruchstücken erhaltene mythologische Triptychon des bereits erwähnten holländischen Künstlers Maarten van Heemskerck aus den 1540er Jahren, dessen Seitenflügel im unteren Bereich beschnitten sind und dessen originale Mitteltafel verloren ist. 60 Der Holländer hatte bereits während seines Romaufenthaltes in den 1530er Jahren einen Prototyp für diese Komposition geschaffen (Abb. 13). 61 In geradezu enzyklopädischer Fülle verwebt van Heemskerck die wichtigsten Fäden der antiken Überlieferung zu einem kohärenten Netz narrativer Strukturen. _____________ 54 55 56 57 58 59 60 61

Vgl. Summerell (2002). »Alas animo tribuit, per quas in sublime feratur, quarum alteram putamus esse indagationem illam qua mens assidue ad veritatem adnititur, alteram boni desiderium, quo nostra voluntas semper afficitur.« Ficino, Über die Liebe, 356 f. Die Illustration dieser modernen Ekphrasis holt die französische Ausgabe von 1546 auf S. 13 v nach. London, Victoria and Albert Museum, Inv. 67-1865. Ausst.-Kat. In the Light of Apollo, 390, Kat. VIII.47. »al puerulo già allato […] tre sagitte accortamente gli mostrava, per tale acto che facilmente si coniecturava amaestrarlo per quale arte lui le dovesse usando adoperare.« Colonna, Hypnerotomachia Polyphili, Bd. 1, 41. Bredekamp (2001). Seitenflügel: Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv. GG_6395 und GG_6785. Preibisz (1911), 19– 21, Nr. 41; Markx-Veldman (1973), 96–101; Grosshans (1980), 22, 119–124, Kat. 21; Harrison (1987), Bd. 1, 313–320, Nr. 20. Am rechten Bildrand an der Schmiede signiert: »MARTINVS / HEMSKERIC / 1536«. Prag, Národní Galerie, Inv. DO 4290.

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Die Vulkanschmiede steht im Zentrum der Komposition. Auf dem Amboss werden, wie die Inschrift auf dem Löschtrog bezeugt, die Blitze des Jupiter geschmiedet. 62 Am Boden verstreut liegen Arbeitsgeräte und Werkstücke: eine Sichel, Neptuns Dreizack, Amors Pfeile, einer seiner Flügel sowie ein weiteres Blitzbündel. Die im Kreis stehenden Figuren der Kyklopen und der sitzende Vulkan zeigen starke Anleihen bei den genannten italienischen Vorbildern, insbesondere das Kaminbild Peruzzis in der Villa Farnesina und das Fresko der Raffaelschule in der Loggetta des Kardinals Bibbiena im Vatikanpalast sind hier zu nennen. Venus und Amor stammen von Marco Dentes Kupferstich ab. Die beiden Seitenflügel zeigen die Ereignisse um Thetis und Achill sowie Venus und Mars, so dass das geöffnete Triptychon wie eine Zusammenfassung aller mit der Schmiede als zentralem Ort verbundenen Geschichten wirkt, die in dieser Form die Möglichkeit bot, eine vielschichtige allegorische Aussage mit moralisierenden Anspielungen ins Bild zu setzen (Abb. 14 und 15). In geschlossenem Zustand zeigte das Triptychon auf den Außenseiten die Personifikationen dreier weltlicher und einer christlichen Tugend, von denen die Tafel mit Prudentia und Justitia erhalten und die andere mit Caritas und Temperantia verschollen ist. Prudentia und Justitia ermahnen die Menschen, ein Leben in Klugheit und Gerechtigkeit zu führen, da törichte Gedanken und böse Taten nicht verborgen bleiben und bestraft werden. Das beigegebene Zitat aus den salomonischen Sprüchen unterstreicht diesen Aspekt: »Eine falsche Waage ist ein Greuel vor dem Herrn, aber ein volles Gewicht gefällt ihm wohl.« 63 Der Ehebruch von Venus und Mars sowie die Bestrafung durch Vulkan werden auf diese Weise moralisierend ausgedeutet. Mit demselben Impetus wiesen Caritas und Temperantia auf dem anderen Flügel auf die Szenen der Innenseite hin. Mäßigung und Nächstenliebe, die in der Liebe der Thetis zu ihrem Sohn Achill zum Ausdruck kommen, stehen in Kontrast zu der körperlichen Liebe zwischen Venus und Mars.

Schluss Die Schmiede Vulkans in den antiken Mythen und Historien kann für sich betrachtet nicht als Narrativ mit klar definiertem Erzählschema bezeichnet werden. Sie ist vielmehr ein wiederkehrendes Motiv, ein variabler Durchgangsort, an dem sich verschiedene Personen und Handlungsstränge kreuzen. Wie die den Amboss umringenden Kyklopen abwechselnd den Hammer schwingen, treffen die Geschichten in der Schmiede zusammen, um sich in verschiedene Richtungen weiter zu verbreiten. Die Schmiede ist dabei weder Start- noch Zielpunkt; das sich ebenda vollziehende Ereignis aber wirkt handlungsgenerierend für den weiteren Verlauf der Geschichten. _____________ 62 63

»FVLMINIS HIC / MASSAM / VVLCANO / PRESIDE CVDVNT / CYCLOPES / VALIDI SPECTAT / OPVSQUE / VENVS«. »EEN VALSCE WAGHE IS DEN HEERE EEN AFGRICELIKHEIT MAER EEN VOLLE GEWICHTE IS SYN WEL BEHAGEN. PROV. XI.«

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Der ambivalente Charakter der Vulkanschmiede in der antiken Überlieferung prädestinierte sie in besonderer Weise für die Bildkünste der Renaissance. Für diese ist es fast unerheblich, aus welchen konkreten literarischen oder bildlichen Quellen das Thema entlehnt wurde, da jene in der Regel von geringer Ausführlichkeit sind. Der bildlichen Ausgestaltung der Handlung eröffnen sich dadurch umso größere Spielräume, so dass die neuzeitlichen Umsetzungen der Vulkanschmiede von großer ikonografischer Variabilität gekennzeichnet sind. Die antiken Mythen und Historien dienen hier lediglich als Stichwortgeber und Angebot für einzelne Erzählstränge und setzen somit ein gelehrtes Anwendungswissen des neuzeitlichen Betrachters voraus. Indem sich die hybriden Varianten der Vulkanschmiede der Renaissance von ihrer Einbindung in die traditionellen Handlungszusammenhänge lösen, agieren sie zugleich mit neuem narrativem Potential als Allegorien der erotischen, konjugalen oder neuplatonischen Liebe. Je verknappter, zeichenhafter die Bilder dabei vorgehen, desto mehr Deutungsangebote erhält zugleich der Betrachter. Die Narration als Antike transformierender Faktor ist mithin nicht abgeschlossen. Ein letztes Beispiel der kreativen Weiterentwicklung und Verschmelzung der antiken Mythenkontexte soll nochmals die enorme Variabilität der neuzeitlichen Ikonografie von Vulkan, Venus und Amor in der Schmiede vor Augen führen, die je nach Entstehungskontext und unter Hinzunahme weiteren Personals auch jenseits des privaten- und Liebeskontextes narrativ wirksam werden konnte. Das im Rahmen der hier zu betrachtenden Bildauswahl chronologisch am Ende stehende kleine, aber umso programmatischere Gemälde auf Kupfer wurde von Giorgio Vasari zwischen 1565 und 1567 für die Accademia del Disegno in Florenz geschaffen (Abb. 16). 64 Vulkan gilt hier als Künstler und Kulturbringer schlechthin und seine Schmiede als die Urform der Künstlerwerkstatt. Zu sehen ist er als Bildhauer und Inhaber eines großen Ateliers, in dem eine Vielzahl von Mitarbeitern sowohl mit der traditionellen Anfertigung von Waffen und Rüstungen als auch mit dem Zeichenstudium, offensichtlich nach Musterblättern und antiken Vorbildern, beschäftigt ist. Vulkan selbst widmet sich im Vordergrund dem Schild des Achill, an dessen Rand er im Begriff ist, ein Motto rund um die Imprese des Auftraggebers Francesco de’ Medici, einzuschlagen. Er wird von einer Schar Eroten umringt, die weitere Teile der Rüstung des trojanischen Helden herbeitragen. Ein Knabe weist mit einem langen Speer senkrecht nach oben zu einem herabschwebenden Genius hin, der einen Lorbeerkranz für Vulkan in den Händen hält. Diesem gegenüber steht jedoch nicht Thetis, sondern Minerva, die Patronin der Wissenschaften und Künste, und überreicht dem Schmiedegott ein leeres Blatt, das wohl den ersten, idealen Entwurf für die Imprese auf dem Schild verkörpern soll. Entsprechend wurde das Bild von den Zeitgenossen auch als »Ingegno e Arte« bezeichnet. 65 Für Vasaris kunsttheoretisches Programmbild der Minerva in der Schmiede des Vulkan hat sich aus der Feder Vincenzo Borghinis, eines der intellektuellen Köpfe _____________ 64 65

Florenz, Galleria degli Uffizi, Inv. 1890, N. 1558; Kliemann (1978), 166–167; Deiters (2002), 153– 188; Cheney (2007), 139–145; Ausst.-Kat. Giorgio Vasari, 156–159, Kat. 34. Winner (1962), 159–160.

Die Schmiede des Vulkan in den Bildkünsten der Renaissance

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der Florentiner Akademie, die Regieanweisung für das Bildprogramm erhalten – gewissermaßen der Zettel, den Vulkan von Athena erhält. Beschrieben wird darin die Methode der kreativen Dekonstruktion und Rekombination, nach der die Künstler ihre textlichen und bildlichen Vorlagen verarbeiteten: Von Thetis gebeten fertigte Vulkan die Waffen Achills. Ich möchte dasselbe Konzept malen, aber für unsere Zwecke angepasst, wie wir es gemeinsam erörtert haben, indem aus den Beschreibungen Homers (und Vergils zusammen) das, was uns nützlich ist, herausgegriffen wird, und der Rest angepasst. In erster Linie möchte ich Pallas anstelle von Thetis haben und den Aufbau des Bildes dementsprechend. 66

Durch den Austausch von Thetis und Pallas veränderte Borghini die Handlung im Hinblick auf die Akademie, für die das Bild bestimmt war. Zugleich beweist er indirekt Kenntnis vom Lobpreis des homerischen Hymnus an Vulkan und Pallas. Vasari wiederum hat Borghinis Vorgaben detailliert umgesetzt und durch die Visualisierung der unterschiedlichen literarischen Überlieferungen eine neue Variante der alten Erzählung, und somit eine eigenständige und neue poesia muta hervorgebracht.

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_____________ 66

»Vulcano fabbricò l’arme ad Achille, pregatone da Thetide. Io vorrei dipingere il medesimo concetto, ma accomodato al proposito nostro, come habbiamo ragionato insieme, pigliando della descrittione d’Homero [et di Virgilio insieme] quel che fa a propsito nostro, ma variando il resto, et prima in luogo di Thetide vorrei Pallade et l’ordine della pittura in questo modo.« Zitiert nach ScotiBertinelli (1905), 95, Anm. 1, dt. Übersetzung durch die Verf.

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Tatjana Bartsch

Abbildungsnachweis Abb. 1, 3, 4, 6, 7, 8: © Trustees of the British Museum – Abb. 2, 9: Verfasserin – Abb. 5, 10: Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom – Abb. 11: © SMK Photo – Abb. 12: nach Egger (1906), Bd. 2, fol. 44 v – Abb. 13: nach Ausst.-Kat. Fiamminghi a Roma, 219 – Abb. 14, 15: Kunsthistorisches Museum, Wien – Abb. 16: nach Ausst.-Kat. Giorgio Vasari, 157.

Anhang: Literarische und bildliche Quellen der Schmiede des Hephaistos / Vulkan in der Renaissance Episode

Antiker Mythos Hom. h. 20

Nachantiker Mythos

V. als Gott des Feuers

Quint. 8, 6, 24 Verg. Aen. 9, 76

Isid. I, 37, 9 Boccaccio Gen. Deor. Giraldi 1548

H. schmiedet den goldenen Thron für Hera, an den sie gefesselt ist H. schmiedet die Blitze des Zeus H. schmiedet für Zeus die Pandora H. hilft Zeus bei der Geburt der Athena mit der Doppelaxt Prometheus stiehlt aus H.s Schmiede das Feuer

Paus. 1, 20, 3

Cartari 1556

H. ist Künstler und Kulturbringer

Athen. 11, 470 a–b Hes. Theog. 569–572 Hyg. Fab. 142 Apollod. 1, 3, 6 Lukian., dial. deor. 8 Apollod.1, 7, 1 Aischyl. Prom.

Renaissancedarstellung ca. 1490: Piero di Cosimo, Öl auf Leinwand, Ottawa, National Gallery of Canada ca. 1565: Giorgio Vasari, Zeichnung, Plymouth City Museum and Art Gallery 1565–1567: Giorgio Vasari, Öl auf Kupfer, Florenz, Galleria degli Uffizi 1508: Giovanni Antonio Bazzi, gen. Sodoma, Fresko, Palazzo Vaticano, Stanza della Segnatura 1552–1556: Anselmo Canera, Fresko, Vicenza, Palazzo Thiene, Sala degli Dei 1555–1556: Giorgio Vasari und Christofano Gherardi, Fresko, Florenz, Palazzo Vecchio, Sala degli Elementi

2. Drittel 16. Jh.: Umkreis van Heemskerck, Zeichnung, Helmond, Museum voor Moderne Kunst Arnhem

Giraldi 1548

Conti 1551

1508: Antonio Lombardo, Marmorrelief, Sankt Petersburg, Staatliche Eremitage

Die Schmiede des Vulkan in den Bildkünsten der Renaissance Episode H. schmiedet Netz und überrascht Aphrodite und Ares

Antiker Mythos Hom. Od. 8, 267–363 Ov. Met. 4, 171–189 Lukian. dial. deor. 15

Nachantiker Mythos Boccaccio Gen. Deor. Conti 1551 Cartari 1556

219

Renaissancedarstellung 1187/89: Heinrich von Veldeke, Eneide, Staatsbibliothek Berlin ca. 1375: sienesisch (Cassone), Tempera auf Holz, Paris, Privatsammlung 1469–1470: Cosimo Tura und Ercole de Roberti, Fresko, Ferrara, Palazzo Schifanoia 1497: Andrea Mantegna, Tempera auf Leinwand, Paris, Musée du Louvre 1497: Giovanni Buonsignori: Holzschnitt, in: Ovidio metamorphoseos vulgare, Venedig, Nr. 12 Ca. 1500: Venezianisch, Öl auf Holz, London, Christies Sale 6979, 7.7.2004 1505–1507: Sodoma, Öl auf Leinwand, Mailand, Privatsammlung Ca. 1510: Baldassare Peruzzi, Fassadenfresko, Villa Farnesina, Rom (zerstört) 1532–1537: Maarten van Heemskerck, Öl auf Leinwand (?), Mailand, Privatsammlung 1534: Meister Andreoli, Teller, Majolika, London, The British Museum 1538: Maarten van Heemskerck, Zeichnung, London, The British Museum ca. 1540: Maarten van Heemskerck, Öl auf Holz, Wien, Kunsthistorisches Museum 1523–1567: Enea Vico (Entwurf: Francesco Mazzola, gen. Parmigianino), Kupferstich 1545: Maarten van Heemskerck, Öl auf Holz, Köln, Wallraf-Richartz-Museum 1. H. 16. Jh.: Girolamo da Carpi, Zeichnung, Paris, Musée du Louvre Ca. 1550: Urbino, Majolika, Sankt Petersburg, Staatliche Eremitage 1553 Hieronymus Cock, Kupferstich (Entwurf Girolamo da Carpi oder Francesco Primaticcio, nach Baldassare Peruzzi) 1561: Maarten van Heemskerck, Öl auf Holz, Pavlovsk, Palast-Museum 2. H. 16. Jh.: Cristoforo Roncalli, Zeichnung, Paris, Musée du Louvre (nach Baldassare Peruzzi) 16. Jh.: Kopie nach Baldassare Peruzzi, Zeichnung, Wien, Graphische Sammlung Albertina

220 Episode V. schmiedet die Waffen des Mars

Tatjana Bartsch Antiker Mythos Verg. Aen. 8, 433

Nachantiker Mythos

V. schmiedet die Flügelschuhe von Merkur

Lukian., dial. deor. 7

H. schmiedet für Thetis den Schild des Achill

Hom. Il. 18, 370–617 Ov. Met. 13, 288–295

Trojaromane Boccaccio Gen. Deor. Cartari 1556

V. schmiedet den Schild für Aeneas

Verg. Aen. 8, 416–453 Ov., Ars Amatoria II, 741

1187/89 Heinrich von Veldeke Boccaccio Gen. Deor. Giraldi 1548 Cartari 1556

V. schmiedet die Rüstung Alexanders V. schmiedet einen Menschen V. allein oder mit Kyklopen

Lukian., Herod. 5 Lukian., Herm. Hom. Il. 18, 370–374 Vergil Aen. 8, 415–432

Boccaccio Gen. Deor. Giraldi 1548 Conti 1551

Renaissancedarstellung 1480–1500: Mantuanisch, Bronzeplakette, vergoldet, London, Christies sale 6839, 11.12.2003 1481: Bernardo Prevedari, Kupferstich (nach Donato Bramante) ca. 1521: Bernardino Luini, Kaminfresko auf Leinwand übertragen, Paris, Musée du Louvre (ehemals San Sepolcro, Casa Rabia) 1500–1510: Meister IB mit dem Vogel (Giovanni Battista Palumba), Kupferstich 1562–1570: Jacopo Zanguidi gen. Il Bertoia, Fresko, Parma, Galleria Nazionale (ehemals Parma, Palazzo del Giardino) 1570–1580: Lelio Orsi, Zeichnung, Paris, Musée du Louvre 16. Jh.: venezianisch, Öl auf Holz, AO unbekannt (Foto: Fondazione Zeri) 1530: Domenicoo Beccafumi zugeschr., Öl auf Lindenholz, New Orleans, Delgado Museum of Art 1. H. 16. Jh.: Benedetto Montagna, Kupferstich 1500–1510: Nicoletto da Modena, Kupferstich 1536–1540: Giulio Romano, Fresko, Mantua, Palazzo del Tè 1540: Maarten van Heemskerck, Öl auf Holz, Wien, Kunsthistorisches Museum 1520–1525: Bernardino Luini, Kaminfresko auf Leinwand übertragen, Mailand, Pinacoteca di Brera ca. 1530: Aeneismeister, Emaille, Paris, Musée du Louvre 1567: Frans Floris, Öl auf Holz, Berlin, Gemäldegalerie 1530–1550: Gherardi, Gemälde, AO unbekannt (Foto: Fondazione Zeri)

1561: Maarten van Heemskerck, Öl auf Holz, Berlin, Gemäldegalerie 1490–1510: Peregrino da Cesena, Fingerring, Gold und Niello, Wien, Kunsthistorisches Museum 1532–1536: Maarten van Heemskerck,

Die Schmiede des Vulkan in den Bildkünsten der Renaissance Episode

V., Venus und Amor und evtl. weitere Eroten

Antiker Mythos

Nachantiker Mythos

Colonna 1499

221

Renaissancedarstellung Zeichnung, Kopenhagen, Statens Museum for Kunst 1. H. 16. Jh: Piero Bonaccorsi, Zeichnung, Paris, Musée du Louvre ca. 1550: Domenico Campagnola, Zeichnung, Paris, Musée du Louvre 1577–1578: Jacopo Tintoretto, Öl auf Leinwand, Venedig, Palazzo Ducale 1576–1615, Deckenfresko, Florenz, Palazzo Pazzi 1490–1500: Gambello, Vittore gen. Camelio, Bronzerelief, London, Victoria and Albert Museum 1507–1512: Benvenuto Tisi, gen. Garofalo, Fresko, Ferrara, Palazzo Costabili 1508: Giovanni Antonio Bazzi, gen. Sodoma, Fresko, Palazzo Vaticano, Stanza della Segnatura 1510–1527: Marco Dente da Ravenna, Kupferstich 1510–1530: Andrea Briosco, gen. Riccio, Bronzerelief, Washington, National Gallery 1510–1527: Marcantonio Raimondi, Kupferstich 1525: Giovanfrancesco Penni, Zeichnung, Paris, Musée du Louvre 1508–1509: Benvenuto Tisi, gen. Il Garofalo, Fresko, Ferrara, Palazzo Costabili, Sala del Tesoro ca. 1530: Silvio Cosini, Kaminrelief, Genua, Palazzo Doria Pamphilij, Sala del Naufragio (Entwurf Perino del Paga) 1536: Maarten van Heemskerck, Öl auf Leinwand, Prag, Narodni Galerie 1537–1554: Cristoforo Gherardi, gen. Il Doceno, Fresko, San Giustino, Castello Bufalini, Stanza degli dei pagani 1539: Francesco Xanto Avelli, Teller, Majolika, London, The British Museum (nach Marco Dente) 1542: Francesco Xanto Avelli, Teller, Majolika, Sankt Petersburg, Staatliche Eremitage (nach Marco Dente) ca. 1545: Pesaro?, Teller, Majolika, Braunschweig, Herzog Anton UlrichMuseum 1546: Hypnerotomachie, ov Discours du songe de Poliphile, Paris 1546, S. 24 1546: Cornelis Bos, Kupferstich (nach

222 Episode

Tatjana Bartsch Antiker Mythos

Nachantiker Mythos

Renaissancedarstellung Maarten van Heemskerck) 1549: Dirck Volkertsz. Coornhert, Kupferstich (Entwurf: Maarten van Heemskerck) 1540–1556: Léon Davent, Kupferstich (Entwurf Luca Penni) 2. Viertel 16. Jh.: Baccio Bandinelli, Zeichnung, Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, 1. H. 16. Jh.: Amico Aspertini, Zeichnung, Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi ca. 1550: Fontana-Familie, Pilgerflasche, Majolika, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum ca. 1550: Biagio Pupini, Zeichnung, Paris, Musée du Louvre Mitte 16. Jahrhundert: Giorgio Vasari, Zeichnung, Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi 1552–1553: Gulatiero Padovano: Kaminfresko, Lonedo di Lugo, Villa Godi, Stanza di Venere 1555–1558: Giorgio Vasari, Fresko, Florenz, Palazzo Vecchio, Sala degli Elementi ca. 1550–1560: Giorgio Ghisi, Kupferstich (Entwurf Perino del Vaga) ca. 1550–1565: Andrea da Negroponte (Werkstatt), Buckelschale, Majolika, Braunschweig, Herzog Anton UlrichMuseum ca. 1560: Orazio Sammacchini, Kaminfresko, auf Leinwand übertragen, Rom, Privatsammlung (ehemals Castello Rossi, San Secondo) 3. Viertel 16. Jh.: Nicolo dell’Abate, Fresko, Musée national du château de Fontainebleau 1570–1580: Hans Jamnitzer, Bronzeplakette, Stuttgart, Württembergisches Landesmuseum (nach Maarten van Heemskerck) ca. 1577: Francesco Bassano, Öl auf Leinwand, Paris, Musée du Louvre sowie weitere Varianten in Burgos, Genua, Liverpool, Poznan, Sarasota, Warschau, Wien ca. 1580: Jacopo Negretti, gen. Palma il Giovane, Öl auf Leinwand, Kassel,

Die Schmiede des Vulkan in den Bildkünsten der Renaissance Episode

V. ohne Venus allein mit Amor und evt. weitere Eroten

Antiker Mythos

Nachantiker Mythos

223

Renaissancedarstellung Staatliche Kunstsammlungen, Schloss Wilhelmshöhe 1576–1600, Bleiplakette, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum ca. 1595–1598: anonym, vollplastische Skulpturengruppe, Rom, Palazzo del Quirinale, Giardino, Fontana dell’Organo 16. Jh: anonym, 2 Rötelzeichnungen, Paris, Musée du Louvre 16. Jh: 2 Fingerringe, Steinschnitt, London, The British Museum (nach Marco Dente) 16. Jh: Steinrelief, Bad Pyrmont, Schloss, Durchfahrt 1500–1510: Nicoletto da Modena, Kupferstich 1516: Raffaelschule, Fresko, Vatikanischer Palast, Loggetta des Kardinals Bibbiena 1519: Baldassare Peruzzi, Fresko, Rom, Villa Farnesina 1509: Giovanni Antonio Bazzi, gen. Sodoma, Fresko, Rom, Villa Farnesina ca. 1550: Battista Agnolo Moro, Radierung ca. 1550: Biagio Pupini, Zeichnung, Paris, Musée du Louvre ca. 1523–1567: Francesco Primaticcio, Zeichnung, Paris, Musée du Louvre ca. 1523–1567: Enea Vico, Kupferstich (Entwurf: Francesco Primaticcio) 1586–1615: Deckenfreso, Rom, Palazzo Albani del Drago, Piano Nobile 16. Jh.: anonym (ehem. Francesco Primaticcio zugeschr.), AO unbekannt (Foto: Fondazione Zeri)

Handlungen im Ornament und handelnde Ornamente. Transformationen der antiken Groteske in Vorlagestichen des 16. und 17. Jahrhunderts HANS KÖRNER

Löffel und Monstren 1450 verfasste der Brixener Bischof Nicolaus Cusanus den Dialog Idiota de mente (Der Laie über den Geist). 1 In der Rahmenhandlung des Dialogs stattet der Philosoph in Begleitung des Rhetors dem Laien einen Besuch ab. Er findet ihn bei einer Tätigkeit, die ihn in Erstaunen setzt. Der für seine Klugheit bekannte Laie schnitzt einen hölzernen Löffel. Weshalb er sich nicht zu schade sei, so geringe Dinge wie einen Löffel zu fertigen, darüber belehrt der Laie den Philosophen so: Das Löffelschnitzen sei keineswegs eine mindere Tätigkeit, sondern rühre an das Höchste, was Menschen zu tun in der Lage seien. Maler und Bildhauer schüfen ein Spiegel-Bild der sichtbaren Wirklichkeit. Die sichtbare Wirklichkeit sei aber selbst wieder eine abgeleitete. Der wahre Künstler sei somit nicht derjenige, der die gewordene Natur verdoppelt, sondern derjenige, der mit seiner Nachahmungskraft auf die göttliche Schöpferkraft selbst, also auf die »unendliche Kunst (als) das Urbild aller Künste« sich beziehe. 2 Der Löffel hat außer der Idee unseres Geistes kein Urbild. Ein Bildhauer oder Maler entnimmt seine Urbilder den Dingen, die nachzubilden er bemüht ist. Ich hingegen, der ich aus Holzstücken Löffel und aus Ton Schüsseln und Töpfe mache, tue das nicht. Denn bei dieser Tätigkeit bilde ich nicht die Gestalt irgend eines natürlichen Dinges nach. Formen von Löffeln, Schüsseln und Töpfen werden allein durch menschliche Kunst zur Vollendung gebracht. Demzufolge ist meine Kunst vollkommener als diejenige, welche geschaffene Figuren nachahmt; darin ist sie der unendlichen Kunst ähnlicher. 3

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Leicht verändert erscheint dieser Beitrag auch in: Wilhelm G. Busse (Hrsg.): Schöpfung: Varianten einer Weltsicht, Düsseldorf 2013. 1 Das folgende wiederholt leicht verändert eine Passage aus Körner (1995), 123. 2 »Sicque necesse erit infinitam artem omnium artium exemplar esse principium, medium, finem, metrum, mensuram, veritatem, praecisionem et perfectionem.« Nikolaus von Kues, Idiota, 490–493. 3 »Coclear extra mentis nostrae ideam aliud non habet exemplar. Nam etsi statuarius aut pictor trahat exemplaria a rebus, quas figurare satagit, non tamen ego, qui ex lignis coclearia et scutellas et ollas ex luto educo. Tales enim formae cocleares, scutellares et ollares sola humana arte perficiuntur. Un-

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Hans Körner

Was der Kusaner zur Sprache bringt, ist zunächst eine aktualisierte Fassung der platonischen Ideenlehre, und sie mündet in eine Theorie der Erkenntnis und der Begriffsbildung. Die Löffelherstellung hat in diesem Zusammenhang symbolischen Charakter. Aber es ist die Akzentuierung dieses ›Symbols‹, die für die neuzeitliche Vorstellung vom künstlerischen Schöpfungsakt von Belang ist. Anders als Platon in seiner Kritik an den nachahmenden Künsten gelangte Nicolaus Cusanus zu einer Apologie des Artefaktes und damit zu einer neuen Definition der menschlichen Kreativität. Mit der Schöpfung künstlicher Dinge werde der Mensch »zum zweiten Gott«. Diese Folgerung ließ der Brixener Bischof in seinem Dialog De Beryllo von Hermes Trismegistos formulieren: Denn so wie Gott der Schöpfer der wirklich seienden und der natürlichen Formen ist, ist der Mensch der Schöpfer der Verstandesdinge und der künstlichen Formen (creator […] formarum artificialium). 4

Federico Zuccari stand seit 1593 der römischen Academia di San Luca vor. Sein kunsttheoretisches Hauptwerk, die Idea de’ pittori, scultori, et architetti von 1607, betont die Nähe des künstlerischen Ingeniums zum Schöpfergott. 5 Indem Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe, habe er ihm auch die Fähigkeit verliehen, in sich selbst eine innere intellektuelle Vorstellung zu bilden, auf daß er […] kraft dieser inneren Vorstellung, es gleichsam Gott nachtuend und mit der Natur wetteifernd, unendliche künstlerische, aber der Natur ähnliche Dinge hervorbringen […] könne. 6

Die Umsetzung des inneren Bildes (»disegno interno«) in das ausgeführte Werk (»disegno esterno«) kann Zuccari zufolge auf drei Arten erfolgen. Die erste ist die Nachahmung des von Gott Geschaffenen; die zweite Art ist die Erfindung von Historien und Poesien, wobei der Künstler sich vom Prinzip der »Wahrscheinlichkeit« leiten lässt. Als dritte Spezies des »disegno esterno« führte Zuccari in diesem Kapitel seines Traktats »diejenige [an], die all das darstellt, was der menschliche Geist, die Phantasie und das Capriccio welcher Kunst auch immer erfinden kann.« 7 Auf sich selbst bezogen und abgekehrt von der Außenwelt erschaffe der Künstler hier Unwirkliches, Phantastisches. Obgleich Zuccari diesen Hervorbringungen einer frei schweifenden, vom Regelwerk entpflichteten Kunst nicht die Vollkommenheit attes_____________ 4 5 6

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de ars mea est magis perfectoria quam imitatoria figurarum creatarum, et in hoc infinitae arti similior.« Nikolaus von Kues, Idiota, 492 f. Vgl. Pochat (1986), 221. »Quarta adverte Hermetem Trismegistum dicere hominem esse secundum Deum. Nam sicut Deus est creator entium realium et naturalium formarum, ita homo rationalium entium et formarum artificialium.« Nikolaus von Kues, De beryllo, 9. Vgl. Pochat (1986), 220. Zu Zuccaris Theorie der künstlerischen Erfindung v. a. Kanz (2002), 182–194. »Iddio […] avendo per la sua bontà, e per mostrare in picciolo ritratto l’eccellenza dell’arte sua divina, creato l’uomo ad imagine e similitudine sua, […] volle anco darli facoltà di formare in se medesimo un Disegno interno intellettivo, acciocchè col mezzo di questo conosce tutte le creature e formasse in se stesso un nuovo Mondo […]; ed inoltre acciocchè con questo Disegno, quasi imitando Dio ed emulando la Natura, potesse produrre infinite cose artificiali simili alle naturali […].« Zit. n. Panofsky (1924), 108. »Questa terza specie é quella, che rappresenta tutto quello, che la mente humana, la fantasia, & il capriccio di qual si voglia arte può inuentare.« Zuccari, Idea, 17.

Handlungen im Ornament und handelnde Ornamente

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tierte, die die Naturnachahmung und die Erfindung von Historien und Poesien erreichen können, legte er doch eindringlich ihre kunsttheoretische Relevanz dar, denn in den regellosen, naturfernen Werken der Kunst sprächen sich »der menschliche Geist, die Phantasie und das Capriccio« am reinsten aus. Man darf die Aufwertung der Erschaffung künstlicher Dinge bei Nicolaus Cusanus mit Zuccaris Plädoyer für die künstlerische Schöpfung phantastischer, imaginärer Dinge nicht zu eng zusammenführen. Die Dialoge des Kusaners sind keine kunsttheoretischen Traktate, und Löffel und Töpferware haben nichts Bizarres und Phantastisches an sich. Zudem betonte Zuccari die Teilhabe des Künstlers am »göttlichen Funken« gerade bezüglich der der Naturnachahmung verpflichteten künstlerischen Schöpfungen. Doch trotz aller Unterschiedlichkeit, was Kontext, Intention und Adressatenkreis anbelangt, kommen die »künstlichen Formen«, die Nicolaus Cusanus einer »vollkommeneren« Kunst zuschrieb, und die phantastischen Erfindungen, in denen sich Federico Zuccaris »Disegno esterno artificiale fantastico« manifestiert, doch darin überein, dass jeweils die Abkehr vom Naturvorbild mit einem höheren Begriff von Kreativität (Nicolaus Cusanus) oder mit einem gesteigerten Grad an individueller Kreativität (Federico Zuccari) verknüpft wird. Die »Grillen« (ghiribizzi), an die Federico Zuccari bei der Definition des Aufgabenfeldes einer aus sich selbst unter Absehen vom Wirklichen und Wahrscheinlichen wirkenden künstlerischen Phantasie dachte, waren wohl in erster Linie Ornamentgrotesken. Sein frühverstorbener Bruder Taddeo hatte mit den Groteskenmalereien des Palazzo Farnese in Caprarola sein Hauptwerk hinterlassen: Dekorationsarbeiten, an denen der junge Federico beteiligt war (Abb. 1). An solchen Malereien schieden sich im 16. Jahrhundert die Geister. Daniele Barbaro bezeichnete die Ornamentgrotesken als Ausgeburten von Träumen, als »sogni della pittura«. 8 Damit die »monströsen Dinge« von der Phantasie erzeugt werden können, müssen »unsere Sinne durch den Traum verschlossen werden«. 9 Das so begründete negative Urteil Barbaros deckt sich mit dem Urteil des antiken Architekturtheoretikers Vitruv, dessen Zehn Bücher über Architektur Barbaro 1556 ediert und kommentiert hatte. Vitruv müssen Beispiele des sogenannten »Dritten Stils« der römischen Wandmalerei (Abb. 2, 3) vor Augen gestanden haben, als er klagte, dass man »statt dem eigentlichen Geschäft der Malerei«, der »Nachbildung von wirklichen Dingen« sich zu widmen, »lieber Ungeheuerlichkeiten« male: An Stelle von Säulen setzt man kannelierte Rohrstengel, an Stelle von Dachgiebeln appagineculi (geriefelte Häklein 10) mit gekräuselten Blättern und Voluten, ferner Lampenständer (candelabra), die die Gebilde kleiner Tempel tragen, über deren Giebel sich zarte Blumen aus Wurzeln mit Voluten erheben, auf denen sinnlos kleine Figuren sitzen, ferner Pflanzenstengel mit Halbfiguren, von denen die einen Menschen-, andere Tierköpfe haben. So etwas aber gibt es nicht, kann es nicht geben, hat es nicht gegeben. Wie kann nämlich ein Rohr, ein Dach oder ein Lampenständer den Schmuck eines Giebels

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Daniele Barbaro, »De ratione pingendi in aedificiis«, 2634. »[…] cose mostruose e tali, quali ci rappresenta la fantasia, quandi i nostri sentimenti sono chiusi dal sonno.« Ebd., 2635. Übers. n. Chastel (1997), 33.

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Hans Körner oder ein so zarter und biegsamer Stengel ein darauf sitzendes Figürchen tragen, oder wie können aus Wurzeln und Stengeln bald Blumen, bald Halbfiguren hervorsprießen? 11

Die zitierte Passage aus den Zehn Büchern über Architektur war in der frühen Neuzeit allgemein bekannt, ebenso der Spott des Horaz über die Laune des Malers, der ein Menschenhaupt auf den Nacken eines Pferdes setze oder eine schöne Frau male, die »zuunterst […] als hässlicher grauer Fisch« endigt. Horaz stellte diese Abwertung des grotesken Dekorationssystems seiner Poetik voran, um mit diesem Beispiel die Literaten davor zu warnen, »wie ein Kranker im Fiebertraum unwirkliche Einzelglieder« zu reihen. 12 Es ist, wie eine Anspielung im Architekturtraktat Albertis nahe legt, mehr als wahrscheinlich, dass Reste antik-römischer Dekorationsmalereien schon vor dem späten 15. Jahrhundert bekannt waren. 13 Doch erst als um 1480 unter den Ruinen der Trajansthermen der Palast Neros, das sogenannte Goldene Haus, gefunden wurde – Räumlichkeiten, die man, weil sie schon unter Trajan mit Bauschutt angefüllt und als Fundamente für die Thermen genutzt wurden, als »Grotten« bezeichnete –, und erst als allmählich die Decken- und Wanddekorationen dieser vermeintlichen Grotten sichtbar wurden, die man dem unterirdischen Fundort gemäß als »Grotesken« bezeichnete, erst dann hatten die »Ungeheuerlichkeiten« und die Fieberträume in den Schriften des Vitruv und des Horaz eine veritable anschauliche Entsprechung gefunden (Abb. 4, 5). Vitruvs Kritik und der Spott des Horaz blieben im kunstliterarischen Diskurs der Neuzeit präsent, doch andererseits kam die von beiden antiken Autoritäten angeprangerte Unwirklichkeit der Verbindung von heterogenen Teilen zu Mischwesen und die Unwirklichkeit der Verknüpfung der Teile zum Ganzen dieses Dekorationssystems auch wieder einem frühneuzeitlichen Künstlerbegriff entgegen, dem die freischweifende Phantasie nicht Gefährdung der Ordnung, sondern ein genuin schöpferisches Vermögen war. Die »Träume« der Kunst konnten eben auch als Ausweis einer vollständig unabhängigen Kreativität gefeiert werden, einer Kreativität, die losgelöst von der Verpflichtung zur Naturnachahmung befähigt ist, Dinge hervorzubringen, »die keine Wirklichkeit außerhalb des Geistes« haben (Gregorio Comanini, 1591). 14 In Antonfrancesco Donis Traktat über den Disegno von 1549 treten Kunst und Natur in einen Dialog ein. Die Natura muss sich dabei von ihrer _____________ 11

12 13 14

»Nam pinguntur tectoriis monstra potius quam ex rebus finitis imagines certae: pro columnis enim struuntur calami striati, pro fastigiis appagineculi cum crispis foliis et volutis, item candelabra aedicularum sustinentia figuras, supra fastigia eorum surgentes ex radicibus cum volutis teneri flores habentes in se sine ratione sedentia sigilla, non minus coliculi dimidiata habentes sigilla alia humanis, alia bestiarum capitibus. Haec autem nec sunt nec fieri possunt nec fuerunt Quemadmodum enim potest calamus vere sustinere tectum aut candelabrum ornamenta fastigii, seu coliculus tam tenuis et mollis sustinere sedens sigillum, aut de radicibus et coliculis ex parte flores dimidiataque sigilla procreari?« Vitruv, de architectura, 332–335. »Humano capiti cervicem pictor equinam / iungere si velit […]«. »[…] undique conlatis membris, ut turpiter atrum / desinat in piscem mulier formosa superne […].« Horaz, De Arte poetica, 538 f. Dacos (1969), 4. »[…] cose che non hanno l’essere fuor della menta«. Gregorio Comanini. Zit. n. Maiorino (1991), 43. Vgl. Kanz (2002), 212. Dazu vor allem Kanz (1998) u. Kanz (2002). Vgl. Körner (2010), 49.

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Gesprächspartnerin, der Kunst, den Lobpreis dieser »tausend Bizarrerien und andere(r) Konfusionen, die keinerlei Ding sind«, dieser »Phantasien, Luftschlösser und Träume« anhören. 15 Ob positiv wie bei Doni oder negativ konnotiert wie bei Barbaro und seinen antiken Gewährsmännern – es waren monströse Geschöpfe, die die Träume der Kunst gebaren. Die Kunst in Donis Dialog beantwortet schließlich die Frage der Natura nach dem Namen der grotesken Erfindungen: »(W)eißt du nicht, wie man sie nennt? Chimären.« 16 Die Gleichsetzung des Grotesken mit dem Monströsen wird auch in der Autobiographie des Benvenuto Cellini (1568) ausdrücklich gemacht: Solche Dekorationen unter die Erde geratener Gebäude würden von den Unkundigen fälschlicherweise Grotesken genannt. 17 Cellini schlug vor, statt von Grotesken von Monstren zu sprechen: Denn wie die Alten sich vergnügten, Monstra zusammenzusetzen, indem sie die Gestalten der Ziege, Kühe und Stuten verbanden, so sollten auch diese Verbindungen verschiedener Pflanzen und Blätterarten Monstra und nicht Grottesken genannt werden. 18

Die Erfindung von ›Kunst-Stoffen‹ Von Monströsem als dem Korrelat der ungebundenen künstlerischen Kreativität sei auch im weiteren Fortgang dieses Beitrags die Rede, doch im Zentrum steht ein Modus des Grotesken, der weiterreichend oder wenn man will: fundamentaler ist, als die von Doni und Cellini mit dem grotesken Dekorationssystem gleich gesetzten Mischwesen. Wenn Grotesken hervorzubringen bedeutet, neue Dinge zu erschaffen, phantastische Dinge, Dinge, die, um noch einmal den Gelehrten Comanini zu zitieren, »keine Wirklichkeit außerhalb des Geistes« haben, ist dann nicht auch der Versuch der Mühe wert, eine nichtwirkliche Substanz zu erfinden, also nicht allein künstliche Dinge zu erschaffen, sondern zudem noch den künstlichen Stoff einer künstlichen Welt. Die neuzeitliche Ornamentgeschichte wird in der Tat (bis zum Ausgang des Rokoko) immer auch die Geschichte der Schöpfung phantastischer Materialqualitäten sein. Rosso Fiorentino und Francesco Primaticcio waren von Franz I. nach Frankreich berufen worden, um das zur königlichen Residenz umgebaute Jagdschloss im Wald von Fontainebleau auszustatten. Spätestens 1534 19 nahm Rosso Fiorentino die Ausstattung der Galerie Franz’ I. in Angriff. In der Dekoration der Wände der Galerie kommt Rollwerk erstmals in monumentaler Form zum Einsatz (Abb. 6, 7). Dieses bereits um 1600 so bezeichnete Rollwerk-Ornament 20 ist der erste neuzeitliche Or_____________ 15

16 17 18 19 20

»[…] mille bizarrerie, & altretanti confusioni nel capo, che non sono cosa alcuna, come dicon costoro fantasie, castelli in aria, & sogni«. Doni. Zit. n. Kanz (2002), 94. »[…] non sai tu come le si dicono Chimere in mal hora.« Doni. Zit. n. Kanz (2002), 94. Chastel (1997), 13 f. Zit. n. Chastel (1997), 44 f. Einen möglichen früheren Beginn der Ausstattungsarbeiten erwägt Pressouyre (1972). Krammer, Schweiff Buchlein.

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Hans Körner

namentstil, der weitgehend unabhängig von antiken Voraussetzungen entwickelt wurde. Rollwerk ist zugleich der erste Ornamentstil, der sich vorzüglich als Erfindung neuer ›Substanzen‹ manifestiert. Charakteristikum von Rollwerk sind eben nicht allein gewisse Formungen oder Verformungen – Einrollungen, Einschnitte, Durchdringungen usw. –, sondern auch eine fiktive Stofflichkeit, die bestimmte Materialeigenschaften – Ledernes, Steinernes, Blechernes, Hölzernes usw. – suggerieren kann, die in dieser Suggestion aber immer schon ausdrücklich macht, dass diese diversen Materialqualitäten jeweils nur momentane Anmutungen des Betrachters und flüchtige Metamorphosen eines künstlichen Stoffes sind. Phantastische ›Kunst-Stoffe‹ werden geschaffen, ›Kunst-Stoffe‹, die auf Materialien der Wirklichkeit anspielen, diese Anspielung aber immer wieder unterlaufen. Auf diesen ›Kunst-Stoff lassen sich die großen Stuckfiguren der Galerie Franz’ I. ebenso ein wie die nackten Frauen des Zimmers der Herzogin von Étampes. Sie werden von ihm eingesperrt, spielen mit ihm und gegen ihn. 21 Rollwerkornament in Verbindung mit der ebenfalls in Fontainebleau geleisteten Aufwertung des Rand- oder Rahmenbereichs ermöglichte in neuer Weise die Interaktion mit dem materiellen Ornamentträger – der Wand, dem Gefäß, der Rüstung usw. In seiner eigentümlichen bestimmt-unbestimmten Materialität konnte das Rollwerk als ›Kunst-Stoff‹ die Realität des Ornamentträgers in die eigene fiktive Materialität einfließen lassen und vice versa. Die Geschichte des neuzeitlichen Ornaments muss immer auch eine Geschichte der Evolution und der Erfindung von Materialqualitäten oder Materialanmutungen, kurz: von Materialitäten sein, und das wiederum schließt die Aufgabe ein, die komplexen Phänomene zu beschreiben, die sich ergeben, wenn in ausgeführten Dekorationen die Materialität des Kunststoffs einem konkreten Material begegnet.

Ornamentfiguren aus dem ›Kunst-Stoff‹ des Schotenwerks Ein Ornamentstil des frühen 17. Jahrhunderts ist im Corpus der ornamentalen Vorlageblätter nur mit ca. 40 Einzelblättern oder Folgen vertreten. 22 Geographisch konzentriert sich der Ornamentstil auf Paris. Von Interesse im Rahmen dieses Beitrags ist dieser Ornamentstil vor allem deshalb, weil wir hier das Phänomen beobachten können, dass aus dem ›Kunst-Stoff‹ des neuzeitlichen Ornaments ›Kunst-StoffFiguren‹ geformt werden können; Monstren sind auch sie, doch Monstren, deren Monstrosität nicht der grotesken Vermischung von Heterogenem verdankt ist, sondern der Erschaffung aus einer homogenen artifiziellen Substanz. 23 _____________ 21 22 23

Dazu ausführlicher: Körner (2008). Fuhring/Bimbenet-Privat (2002), 10. Voraussetzungen liegen bereits in der spätgotischen Druckgraphik. Zu nennen wäre ein Blatt mit dem Lanzenstechen zweier wilder Männer des Hausbuchmeisters, das sowohl in der Druckgraphik als auch in der Buchmalerei paraphrasiert wurde. Die Reiter tragen phantastische Kostüme, die Pferde phantastische Satteldecken, die jeweils aus dem ›Stoff‹ des charakteristischen spätgotischen Blattwerks gebildet sind. Vgl. Ausst.-Kat. Ornemanistes du XVe au XVIIIe siècle (1987), 13, 47.

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Dieser Ornamentstil bleibt in vielem seinem Vorgänger, dem sogenannten Schweifwerk verwandt, weist signifikante Unterschiede aber vor allem hinsichtlich der fingierten Materialität des ornamentalen ›Kunst-Stoffs‹ auf. Zu den frühesten Beispielen gehört eine Stichfolge des aus Straßburg stammenden Goldschmieds Wendel Dietterlin d. J. (Abb. 8). 24 Sie ist 1614 in Lyon unter dem Titel Bouquet d’orfèvrerie (Strauß aus Goldschmiedewerk) erschienen. Diejenigen, die ornamentale Vorlageblätter in diesem Stil schufen, waren im Übrigen, soweit man es überprüfen kann, allesamt Goldschmiede, und auf Gegenstände der Goldschmiedekunst beschränkt sich im Wesentlichen auch die materielle Konkretisierung solcher Ornamentformen. Auffällig ist, dass sich in den oder auf den Blattformen häufig kleine Kugeln reihen. So wie diese Kügelchen an manchen Stellen angebracht sind, erinnern sie an Erbsen in einer Schote. Man spricht bei diesem Ornamentstil, der in der Goldschmiedekunst ab ca. 1600, im Ornamentstich ab ca. 1610 seine Rolle spielt, deshalb vom Schotenwerk. Im Französischen ist der Begriff ›Cosse de pois‹ (Erbsenschoten) bereits in einem Inventar aus dem Jahr 1641 nachgewiesen, 25 was vermuten lässt, dass in diesem Fall der ornamentgeschichtliche Terminus eine historische Basis hat. Bestandteile von Wendel Dietterlins Strauß werden wir in keinem botanischen Handbuch finden. Unmöglich ist die botanische Bestimmung, unmöglich ist aber auch die Materialität dieser Pflanzen. Die Materialität ist eine ganz und gar künstliche, eben, wie wiederholt gesagt, ein ›Kunst-Stoff‹. Und dieser ›Kunst-Stoff‹ ist in seiner Wirklichkeit nicht festgelegt; er kann sich verwandeln. Wie leicht das ›Material‹ des so genannten Schotenwerks beispielsweise von der pseudo-pflanzlichen Wirklichkeit in Pseudo-Organisches umschlagen kann, zeigt ein Ornamentstich des Nicasius Rousseel von 1623 (Abb. 9). Die kraftvoll gezogenen Schweifen entlassen an ihren Endungen vor allem im linken unteren Blattviertel Pflanzliches aus sich, was den Kugelreihen den Anschein von Erbsen belässt. Doch auch ein Drachen- und ein Satyrkopf erwachsen den Ranken. Die prominenteste Figur des Blattes ist eine geflügelte nackte Frau, deren Kopf als bizarrer Bestandteil der Frisur ein Zweig mit kugeligen Gebilden schmückt und deren Unterkörper – abgetrennt durch einen Rollwerkgürtel bzw. eine Rollwerkfessel – sich in einen aus einer Kugelreihe bestehenden Schwanz fortsetzt, Kugeln, die jetzt nicht mehr an Erbsen erinnern, sondern an Knorpeln eines phantastischen Leibes. Die Ranke, mit der die Hüftklammer dieser Gestalt verbunden ist, schwingt in weitem Bogen nach unten und mündet in den bereits genannten Drachenkopf. Diesen Kopf bereitet eine Reihe von vier Kugeln vor, auch sie sind Andeutungen von Organischem, hier eines Reptilienkörpers. Dank der Verwandlungsfähigkeit des ›Kunst-Stoffs‹ Ornament konnten im Ornamentstich sogar Geschichten erzählt werden. Es entstanden erzählende Bilder, organisiert nach den Bild-Möglichkeiten, die die Groteske geschaffen hatte. Notwendig musste es dabei zu hybriden Bildern kommen, zu monströsen Bildern, wobei das Monströse sich zuerst und zunächst auf die Vermischung von Ornament und Bild bezieht. _____________ 24 25

Irmscher (2005), 103. Irmscher (2005), 102.

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Auf einem Blatt Le Mersiers (Abb. 10) kommt ein Ornamentstrauß aus dem Maul eines Drachen, der sich am Ufer eines Gewässers und in der Nähe einer Ruine niedergelassen hat. Soll man das Schotenwerkornament als vom Drachen ausgespieen sehen? In Hinblick auf den bildhaften Charakter des Blattes ja. Doch das Schotenwerk ist in erster Linie ein Ornament und als Ornament selbstbezüglich. Das straußförmige Ornament und der Drache in der Landschaft, allgemeiner: Ornament und Bild geraten in eine nicht auflösbare Spannung zueinander. Diese Spannung ist anders inszeniert als in den antiken und antikisierenden Grotesken, aber letztlich ist es immer noch die charakteristische groteske Spannung. 26 Diese Spannung, die hier wie der surreale Einbruch eines Anderen, Fremden in die Bildwirklichkeit vom Betrachter erfahren wird, verleiht diesem Blatt und zahlreichen anderen Blättern dieses Ornamentstils seinen zwiespältigen Charakter, eben damit aber auch seinen spezifischen Reiz und seinen Witz. Ein Blatt aus einer Blattfolge Jean Toutins von 1619 (Abb. 11) hat die Funktion einer Vorlage für die Dekoration des Stichblattes eines Schwertes. Doch diese Vorlage wird bildhaft zu einem Holzbalken umdefiniert, den zwei Handwerker gerade zersägen. Eine absurde und witzige Verbindung von Nicht-Zusammengehörigem, so witzig und absurd, dass man sich gar nicht erst wundert, dass da rechts oben auch noch ein Insekt heranfliegt. Wie groß ist dieses Tier? Vergleichen wir es mit den beiden Handwerkern, müsste es sich um ein gigantisches handeln, und wir müssten uns fragen, weshalb die beiden Männer angesichts des nahenden Ungeheuers so seelenruhig weiterarbeiten. Bringen wir hingegen das Insekt mit der Realitätsebene des Schotenwerkornaments zusammen, dann schrumpft es sofort wieder auf die Normalgröße eines solchen Insekts zusammen, eben weil die Selbstbezüglichkeit des Ornaments, das so groß erscheint, wie es auf dem Blatt ist, auf das Tier zurückschlägt. Dieses Insekt ist im Übrigen eine Grille; dass dies nicht zufällig so ist, wird später deutlicher werden. 27 Es ist nicht leicht zu sagen, was wir auf diesem kleinen Blatt überhaupt sehen. Seiner Funktion als Vorlagenstich entsprechend wird uns der reich gemusterte Handschutz zwischen Griff und Klinge eines Schwertes vor Augen gestellt. Diese kunsthandwerkliche Vorlage wird bildlich in die Erzählung vom Zersägen eines Balkens eingebunden, also in einen Balken verwandelt. Schotenwerk ziert nach der bildlichen Verwandlung einen Balken, was höchst irreal wirkt, oder, was noch irrealer erscheint, der Balken ist ein Geschöpf aus dem ›Kunst-Stoff‹ des Schotenwerks. Dass letztere Sichtweise eine mögliche ist, bestätigen die nachfolgenden Beispiele. Eine Ornamentstichfolge, für die Heinrich van den Bruckh 1626 als Erfinder und Zeichner firmierte, verbindet wie viele Ornamentstiche des Schotenwerk-Stils Figuren mit einem strauß-förmigen Schoten-Ornament. In Blatt 6 (Abb. 12) verfügt das Ornament auch über die Figuren. Van den Bruckh variierte in den seitlich einer Vase tanzenden Figuren die »Tanzenden Hanswurste« aus Jacques Callots »Capric_____________ 26 27

Zur grotesken Spannung v. a. Bauer (1962), Piel (1962). Den Hinweis verdanke ich einem Diskussionsbeitrag im Anschluss an einen Vortrag zum Thema dieses Beitrags am Institut für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart.

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ci« 28 (Abb. 13), baute sie aber aus einer veränderten ›Substanz‹ auf. Der ›Kunst-Stoff‹ des Schotenwerk-Ornaments verkörpert sich. Von Blatt 6 dieser Ornamentstichfolge Heinrich van den Bruckhs ließ sich der Erfinder einer Serie von sechs Ornamentstichen anregen, die 1628 in Augsburg erschien. 29 Nur die ersten drei Buchstaben des Namens und jeweils die beiden ersten Buchstaben seiner zwei Vornamen: Ph. Ia. Har …. sind auf dem Titelblatt angegeben. Auf einem der Blätter (Abb. 14) schreitet ein Mann weit aus, wendet sich aber in einer graziösen Körper- und Kopfwendung zurück. Mit den Händen greift er an eine lange und dünne Lanze oder fasst einen dann allerdings überlängten Wanderstab; der Stab oder die Lanze stößt am Boden dicht neben einer phantastischen Blume auf. Wie die Tanzenden des Heinrich van den Bruckh besteht auch diese Figur, von ihrem Kopf abgesehen, aus Motiven des Schotenwerk-Ornaments. Blätter formen Unterschenkel, Oberschenkel, Rücken und Arme, und die für das Schotenwerk charakteristischen kleinen, gelegentlich mit Erbsen assoziierten Kugeln verwandeln sich zu Knöpfen des Wamses, bzw. sie markieren Arm- und Beingelenke. In der bizarren Blume zwischen den Beinen des Ausschreitenden bezeichnen die Kügelchen dagegen wieder Vegetabilisches. In weiteren Blättern dieser von Custodis in Augsburg gestochenen Blattfolge schreiten beispielsweise eine Ornamentfrau, die sich zu einem Ornamentvogel umblickt (Abb. 15), oder ein Ornamentmann, der, wie der Dreizack mutmaßen lässt, vielleicht ein in die Ornamentwelt versetzter Neptun ist, dessen Herrschaft über das Element Wasser wenig respektvoll durch das Attribut der Gießkanne ausgedrückt wird (Abb. 16).

Ornamentfiguren aus dem ›Kunst-Stoff‹ des Akanthuswerks Die Gegenreformation hatte in Italien die antikisierende Ornamentgroteske entweder abgelehnt oder zumindest den Bereich, innerhalb dessen die Anwendung des Groteskenornaments noch schicklich war, stark eingeengt. Diese Krise der antikisierenden Groteske beförderte den Wiederaufstieg von Ghirlande und Akanthus für die Innenraumdekoration. Selbst sehr reiche Stuckdekorationen konnten sich in Italien schon seit dem frühen 17. Jahrhundert auf diese beiden Motive beschränken. Mit Verspätung begann das Akanthusornament, das in der italienischen Kunst nie aufgehört hatte eine Rolle zu spielen, auch ab ca. 1680 nördlich der Alpen den Ornamentstich, die architektonischen Dekorationen und das gesamte Kunsthandwerk zu beherrschen. Akanthus, genauer: ein akanthisierendes Blatt- und Blattrankenornament wird zum neuen ubiquitären ›Kunst-Stoff‹. _____________ 28 29

Warncke, II (1979), 112. Hämmerle (1931). Zur Abhängigkeit dieser Stichfolge von Heinrich van den Bruckh: Warncke, II (1979), 113 f.

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Um 1690 erschienen erstmals die Neu ersonnene(n) Gold-Schmieds Grillen des Wolfgang Hieronymus von Bömmel. 30 Bömmel formte in dieser und einer zweiten Folge aus diesem ›Kunst-Stoff‹ Figuren und kleine Erzählungen. Ein Reiter mit Säbel wird von zwei Fußsoldaten angegriffen; der eine hat den Säbel gezückt, während sein Begleiter bereits aus der Flinte einen Schuss auf den Reiter abgibt (Abb. 17). Körper und Kleidung der Krieger und des Pferdes sind aus Akanthusranken auf schwarzem Grund gebildet. Aus dieser Substanz bestehen auch ein löwenähnliches Tier, ein Hund, der einen Ziegenbock verfolgt oder zwei kämpfende Stiere (Abb. 18, 19, 20). Den letztgenannten Tieren sieht ein Schäfer zu, der in aller Ruhe sein Geschäft verrichtet und dabei eine Pfeife raucht. Nicht nur der Schäfer ist gleich seinen kämpfenden Tieren eine Akanthusfigur; es sind ebenfalls Ornamente, die als Rauch aus seiner Pfeife und seinem Mund aufsteigen, und das Resultat seiner momentanen Beschäftigung fällt als Akanthusblatt auf die Erde. Solche Ornamentfiguren in Ornamentgeschichten haben Voraussetzungen und historische Entsprechungen in der Tradition des ›Figurengedichts‹, 31 einer text- und bildgeschichtlichen Tradition, für die als Beispiele genannt seien: eine Seite aus dem Lob des Heiligen Kreuzes des Hrabanus Maurus in einer Handschrift des späteren 11. Jahrhunderts (Abb. 21), und aus der um 830 miniierten Handschrift der Himmelserscheinungen des Aratos das Blatt mit Perseus, dessen Körper, wie die der übrigen von Aratos beschriebenen »Himmelserscheinungen«, aus dem »Fleisch« des Textes ist (Abb. 22). 32 Zeitlich und anschaulich näher kommen wir den Bömmelschen Ornamentfiguren mit einem kalligraphischen Blatt, das oben, gerahmt von dekorativen Schnörkeln, Putten sowie eine Hirschjagd und unten, jetzt mit Schreibschnörkeln als Bodenzone, ein Degenduell zeigt (Abb. 23). Die Schreibschnörkel, die Rahmen und Standfläche ausbilden, fügen sich auch zu den Körpern und den Gewändern der Putten, der Tiere und der Fechtenden. Im Unterschied zu den genannten mittelalterlichen Figurengedichten ergeben die Schriftzüge dieser Graphik, wie auf vielen Kalligraphien des 17. Jahrhunderts, keinen Text, es sind Schnörkel, und Schnörkel sind das Ornament der Schrift. Peter Fuhring wies auf Ähnlichkeiten zwischen Darstellungen auf diesem Blatt und den Erfindungen Bömmels hin; Ähnlichkeiten, die vielleicht dem Verleger und Stecher Antonis de Winter verdankt sind, der eine Folge Bömmels in Amsterdam neu publizierte und der vielleicht auch die gezeigte Kalligraphie verantwortete. 33 Gemeinsam sind Bömmels Vorlageblättern für Goldschmiede und der kalligraphischen Vorlage, dass sie das Ornament verkörperlichen bzw., was auf das Gleiche hinausläuft, dass sie Körper ornamentalisieren. _____________ 30

31 32 33

Zu Bömmels Stichfolgen Berliner/Egger I (1981), 89. Ausst.-Kat. Hanebutt-Benz (1983), 111 f. Ausst.-Kat. Ornemanistes du XVe au XVIIe siècle (1987), 47. Ausst.-Kat. Völkel (2001), 30 f., Fuhring, II (2004), 220 f. Zum Gattungsbegriff des Figurengedichts Ausst.-Kat. Text als Figur (1987), 9. Dazu v. a. Ernst (1991), 222–304, 583–599. Fuhring, II (2004), 297 f.

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Material und Materialität – Handwerk und Erfindung Ergebnis der Verkörperung des Ornaments bzw. der Ornamentwerdung des Körpers sind jeweils sich als solche darstellende Artefakte: unwirkliche Dinge aus einer unwirklichen Substanz. Es sind Schöpfungen der selbstbezogenen Phantasie, es sind bizarre ›Grillen‹. So, als Neu ersonnene Gold-Schmieds Grillen werden die Darstellungen auf dem Titelblatt der Stichfolge Bömmels (Abb. 24) auch angekündigt. Der Begriff ›Grillen‹, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts für groteske Bildungen üblich wurde, bezeichnete bereits in der Antike eine Gattung der Malerei, die Plinius zufolge der Maler Antiphilus mit dem Porträt des Gryllos, eines Mannes »von lächerlichem Aussehen« begründet habe. 34 Quintilian brachte diese Gattung der Malerei mit dem Begriff der facilitas zusammen. 35 Ihre Leichtigkeit und Unbeschwertheit setzen solche Erfindungen dem Regelwerk der hohen Kunst und ihrem Sinnbedarf entgegen. Unbedeutend sind solche ›Grillen‹, unbedeutend sowohl was ihren semantischen Anspruch als auch was ihren Rang innerhalb der Hierarchie der Künste anbelangt. Doch – wie Zuccari 1607 dargelegt hat – die niedrige Gattung der »Bizarrerien, Capricci, Erfindungen, Phantasien und Grillen (ghiribizzi)« 36 ist zugleich diejenige, in der die künstlerische Kreativität sich am freiesten aussprechen kann, in der die künstlerische Schöpfung am unabhängigsten bleibt. Der Leichtigkeit und Freiheit der ›Grillen‹ auf der Objektseite entspricht die Leichtigkeit auf Seiten des Produzenten. Famulus, den Plinius der Ältere als den Schöpfer der Dekorationsmalereien im Goldenen Haus Neros überlieferte, »malte nur wenige Stunden am Tag, auch dies nur mit Feierlichkeit, weil er stets, sogar bei seinen Staffeleien, eine Toga trug.« 37 So malt man nicht, wenn einem die künstlerische Produktion Mühe bereitet. Eben diesen Eindruck von handwerklicher Bemühtheit wollte Famulus mit seinem Habitus auf keinen Fall aufkommen lassen. Har…, der Schöpfer der Schotenwerkfiguren stellt seine Erfindungen unter das Motto, das er als Inschrift dem Titelblatt (Abb. 25) mitgab: »Più tosto sprezato che fato«. Die sprezzatura, ein Begriff, den man mit Nachlässigkeit, Unbekümmertheit, Leichtigkeit übersetzen kann, ist Baldassare Castigliones Buch über den Hofmann von 1528 zufolge die Eigenschaft des vollkommenen Hofmannes, die Quelle seiner Anmut. Man müsse, so Castiglione, eine gewisse Nachlässigkeit (sprezzatura) zur Schau tragen, die die angewandte Mühe verbirgt und alles, was man tut und spricht, als ohne die geringste Kunst und gleichsam absichtslos hervorgebracht scheinen lässt. […] Daher kann man sagen, dort sei die wahre Kunst, wo man die Kunst nicht sieht. 38

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»[…] deridiculi habitus […]«. Plinius, Naturalis historiae […], Liber XXXV, 86 f. Zur Begriffsgeschichte von ›Grille‹ und den Synonymen: Irmscher (1996), 490. Irmscher (1996), 490. Zuccari, Idea, 225. Vgl. Kanz (2002), 185. »[…] paucis diei horis pingebat, id quoque cum gravitate, quod semper togatus.« Plinius, Naturalis historiae […], Liber XXXV, 88 f. Zit. n. Tatarkiewicz, III (1987), 142.

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Mit dieser ›sprezzatura‹ kokettierte Har…: »Più tosto sprezato che fato«. Viel eher eine nachlässige, leichte, unbekümmerte Arbeit als eine mit Mühe gemachte, führte er dem Käufer seiner Stichfolge vor Augen. In eigentümlicher Weise kollidiert diese Distanzierung vom Hand-Werk scheinbar mit der Funktion solcher Ornamentstiche. Sie dienten als Vorlagen für ausführende Künstler, im Falle der Schotenwerk-Ornamentstiche und der Ornamentstiche Bömmels konkret als Vorlagen für Goldschmiede. Der Distanz zu dem (auch dem eigenen) materiellen Produktionsprozess entspricht der Bildanspruch vieler solcher Blätter, der gerade im Schotenwerkornament immer auch zu kleinen Erzählungen in der Ornamentwelt und bisweilen, wie bei van den Bruckh, Har… und Bömmel zur Schilderung von Ornamentfiguren in ihrer Ornamentwelt führte. Distanz zur materiellen Produktion hielt das ornamentale Vorlagenblatt bereits insofern, als es gewöhnlich nicht auf eine getreue und vollständige Umsetzung in ausgeführte Dekoration oder ausgeführtes Kunsthandwerk angelegt war und mit dem die Ausführenden deshalb so umgingen, dass sie, wenn sie sich nicht überhaupt nur allgemeine Anregungen holten, dann entweder nur Teile kopierten oder Motive übernahmen und neu kombinierten. Es gibt kein schlichtes Vorbild-Abbild-Verhältnis zwischen ornamentalem Vorlagenblatt und ausgeführtem Werk. Dies schließlich auch deshalb, weil der Anspruch solcher Vorlageblätter gemeinhin höher war als der von reiner Gebrauchsgraphik. Es waren schließlich, worauf viele Titel solcher Stichfolgen stolz hinweisen, Inventionen, und anders als heute, wo man den Begriff der Erfindung eher dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich zuweist, war in der frühen Neuzeit der Begriff der ›Invention‹ ein zentraler kunsttheoretischer Begriff und eine zentrale künstlerische Qualität, die Qualität, die dem Künstler den Status eines veritablen Schöpfers sichert. Eingedenk der Differenz, die die Erfindung solcher ›Grillen‹ zum ausgeführten dekorativen Gegenstand einhält, muss es zuerst verwundern, dass Bömmel seine ›Grillen‹ mit Abbildungen von Werkzeugen des Goldschmiedegewerbes ergänzte. Auf dem Titelblatt der von Weigel in Nürnberg verlegten Ausgabe (Abb. 24) raucht ein Akanthushase eine Pfeife, aus der Akanthus-Rauch aufsteigt. Auf dem Rücken trägt der Ornamenthase einen Korb, angefüllt mit Feile, Blasebalg und anderen Werkzeugen. Zwei der Teile sind gerade dabei, aus dem Korb auf die Standfläche zu fallen, die bereits mit Werkzeugen übersät ist. Blatt f dieser Edition (Abb. 26) enthält dann, säuberlich angeordnet, die Werkzeuge, die der Goldschmied benötigt. Diese Verbindung von grotesken Ornamentvorlagen und der Illustration des Handwerkszeugs ist ebenso ungewöhnlich wie signifikant. In dieser eigentümlichen und eigenwilligen Kombination steigern sich ›Grillen‹ und Handwerk wechselseitig, und sie interferieren. Der ›Kunst-Stoff‹, aus dem die ›Grillen‹ sind, materialisiert sich; der materiellen Produktion auf der anderen Seite wächst der Zauber des Imaginären zu. Im Witz wird etwas von der Würde des Dinges, des Artefakts spürbar, die dem hölzernen Löffel im Dialog des Nicolaus Cusanus eigen ist, und über die sich der »Schöpfer […] der künstlichen Formen (creator […] formarum artificialium)« als gottähnlich ausweist.

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Diese Würde des Dinges und vice versa die Dinglichkeit des Imaginären konnte zumindest retrospektiv auch beunruhigen: Sigmar Polke, den das historische Ornament mehr beeindruckte und mehr beunruhigte als jeden anderen zeitgenössischen Künstler, importierte Har…s ausschreitenden Mann mit Lanze oder Wanderstab (Abb. 14) in eines seiner allerdings nun fast 3 qm großen Bilder (Abb. 27). 39 Das bringt uns noch nicht zu einem abschließenden Ergebnis, aber es gibt zu denken.

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_____________ 39

Fuhring/Bimbenet-Privat (2002), 94.

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Forschungsliteratur Ausst.-Kat. Ornament und Entwurf. Ornamentstiche und Vorzeichnungen für das Kunsthandwerk vom 16. bis zum 19. Jahrhundert aus der Linel Sammlung für Buch- und Schriftkunst (Ausstellung aus den Beständen der Buch- und Graphikabteilung des Museums für Kunsthandwerk Frankfurt am Main), hg. v. Maria Hanebutt-Benz, Frankfurt a. M. 1983. Ausst.-Kat. Ornemanistes du XVe au XVIIe siècle. Gravures et dessins, XIVe Exposition de la Collection Edmond de Rothschild (Katalog der Ausstellung, Paris, Musée du Louvre 1987), Paris 1987. Ausst.-Kat. Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne (Katalog der Ausstellung, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, 1. September 1987–17. April 1988) hg. v. Jeremy Adler/Ulrich Ernst, Wolfenbüttel 1987. Ausst.-Kat. Kunst für das Gewerbe (Katalog der Ausstellung, Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe 2001), hg. v. Michaela Völkel, Hamburg 2001. Bauer, Hermann, Rocaille. Zur Herkunft und zum Wesen eines Ornament-Motivs, Berlin 1962, (= Neue Münchner Beiträge zur Kunstgeschichte, 4). Berliner, Rudolf/Egger, Gerhart, Ornamentale Vorlageblätter des 15. bis 19. Jahrhunderts, 1. Textteil, 2. erw. Aufl. München 1981. Chastel, André, La grotesque, Paris 1988. Dacos, Nicole, La découverte de la Domus aurea et la formation des grotesques à la Renaissance, London/Leiden 1969. Ernst, Ulrich, Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters, Köln/Weimar/Wien 1991. Fuhring, Peter/Bimbenet-Privat, Michèle, »Le style ›Cosses de pois‹. L’orfèvrerie et la gravure à Paris sous Louis XIII«, in: Gazette des Beaux-Arts, Bd. 139, 144e année (2002), 1–224. Fuhring, Peter, Ornament Prints in the Rijksmuseum. The Seventeenth Century, Bd. II, Amsterdam 2004 (= Studies in Prints and Printmaking, 5, 2). Hämmerle, Albert, »Ein Goldschmiedebüchlein vom Jahre 1628«, in: Das schwäbische Museum. Zeitschrift für Kultur, Kunst und Geschichte Schwabens, Augsburg 1931, 195–197. Irmscher, Günter, »Modern oder altfränckisch? Zur ›Nachgotik‹ bei Hans Vredeman de Vries und Christoph Jamnitzer«, in: Barockberichte 13 (1996), 475–494. Irmscher, Günter, Ornament in Europa 1450–2000. Eine Einführung, Köln 2005. Kanz, Roland, »Capriccio und Grotteske«, in: Kunstform Capriccio. Von der Groteske zur Spieltheorie der Moderne hg. v. Ekkehard Mai/Joachim Rees, Köln 1998, (= Kunstwissenschaftliche Bibliothek, hg. v. Christian Posthofen, 6), 13–32. Kanz, Roland, Die Kunst des Capriccio. Kreativer Eigensinn in Renaissance und Barock, München/ Berlin 2002. Körner, Hans, »Die Kunst des Löffelschnitzens. Albrecht Dürers Holzschnitte und die Thematisierung von Material und Technik in der Kunst des 15. und frühen 16. Jahrhunderts«, in: Ausst.-Kat. Der deutsche Holzschnitt der Reformationszeit aus dem Besitz des Schloßmuseums/Museen der Stadt Gotha (Ausstellung im Museum für Westliche Kunst, Tokio 1995), 106–114. Körner, Hans, »Rahmen und Verschlingen«, in: Rahmen – Zwischen Innen und Außen. Beiträge zur Geschichte und Theorie, hg. v. Hans Körner/Karl Möseneder, Berlin 2010, 41–62.

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5. Drama

Vergegenwärtigung der Antike. Lucretia in der Kaiserchronik und in den Römerdramen von Hans Sachs und Jacob Ayrer JULIA WEITBRECHT »Es gibt keine Lucretia, keine Penelope mehr […]«, heißt es in einem Hieronymus zugeschriebenen Brief, in dem davor gewarnt wird, zu heiraten: »Fürchte sie alle!« 1 Die positive Besetzung Lucretias vor dem Hintergrund allgemeinen Misstrauens gegenüber dem weiblichen Geschlecht wird in diesem Diktum ebenso deutlich wie das Lob vergangener Zeiten. Was im knappen Verweis auf Lucretia als allgemein bekannt vorausgesetzt wird, ist die Erzählung von der tugendhaften Ehefrau des Römers Tarquinius Collatinus, die auf ihre Vergewaltigung durch den Königssohn Sextus Tarquinius mit ihrer öffentlichen Selbsttötung reagiert. Den sagenhafthistorischen Kontext bilden die Vertreibung der Tarquinier aus Rom und der Übergang von der Königsherrschaft zur Republik im Jahr 509 v. Chr. 2 In der Folge hat sich eine Erzähltradition ausgebildet, in der unterschiedliche Konfliktkonstellationen (hier: eheliche Keuschheit und Schändung einerseits, Vertreibung der Könige und neue Regierungsform andererseits) zu einem sinnstiftenden Handlungszusammenhang verbunden werden: Es geht um Ehe und Herrschaft. Trotz dieser Handlungskonstanten sind Form und Medium des Erzählten in der antiken wie nachantiken Rezeption keineswegs festgelegt: In und seit der Antike wird von Lucretia sehr unterschiedlich wieder- und weitererzählt, sie erscheint in Prosa und Ode, Bild und Skulptur, in der Epigrammatik und in der Predigt, im Kommentar, in der Allegorie eines Schachzabelbuches oder schließlich in der Dramatisierung etwa auf den städtischen Bühnen der Frühen Neuzeit. Als außerordentlich wirkmächtig für die gesamte Rezeption erscheint die Lucretia-Bearbeitung des Livius im ersten Buch seines Geschichtswerks Ab urbe condita, das gegen Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts entstanden ist. 3 Diese fällt zum einen durch die spannungserzeugende dramatische Gestaltung auf: Am Beginn steht ein Streit der Königssöhne darüber, wer die tugendhafteste Ehefrau habe, die sogenannte ›Frauenwette‹; in der Vergewaltigungsszene wird die Zudringlichkeit des _____________ 1 2

3

»Amice, nulla est Lucretia, nulla est Penelope, nulla est Sabina. Time omnes.« Valerius Rufino ne ducat uxorem, 256A. Einen umfassenden Überblick über die Lucretia-Tradition bietet Galinsky (1932) mit ergänzenden Belegen bei Ohly (1940), 88, Anm. 1. S. auch Donaldson (1982), Frenzel (2005), Klesczewski (1983). Zum Kontext der römischen Historiographie vgl. Kowalewski (2002). Die Bildtradition beleuchtet Weidmann (1994). Livius, Ab urbe condita I,57–60; 170–181.

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Sextus dreifach gesteigert, bis schließlich die Drohung mit der öffentlichen Schande Lucretias Gegenwehr erstickt; erst dann folgt die Schändung. 4 Neben diesen literarischen Besonderheiten der Erzählung selbst ist zum anderen die Art und Weise ihrer Integration in das Geschichtswerk von Bedeutung: Das private Geschehen im Schlafgemach wird bei Livius primär in seiner politischen Bedeutung gezeigt, denn die Selbsttötung Lucretias vor den Augen ihrer Angehörigen führt zur Rachehandlung und Vertreibung der Tarquinier aus Rom. Livius inszeniert die historische Zäsur am Übergang zur Republik als »weibliches Gründungsopfer« 5: Mithilfe der Erzählung vom Übergriff auf die Ehefrau eines anderen, von heroischer Selbsttötung und Gegenwehr stiftet er in der politisch-dynastischen Diskontinuität somit eine narrative Kontinuität von stoischer Tugendhaftigkeit und standhaft republikanischem Geist. Während nun die Handlungselemente von Frauenwette, Schändung und Selbsttötung in der Rezeption weitgehend stabil bleiben, ist es gerade diese politisch-historische Dimension des Geschehens, oder vielmehr der intrikate Zusammenhang von Geschlecht und Politik, von Öffentlichkeit und Privatheit, von Familie und Gemeinwesen im politischen Umbruch, der im Wiedererzählen immer wieder neu und anders aktualisiert wird. 6 Im Folgenden soll daher – jenseits einer Motivgeschichte – der Frage nach dem konstruktiven Gehalt der zahlreichen Umdeutungen und Rekontextualisierungen nachgegangen werden. Anhand unterschiedlicher Adaptationen der Lucretia-Erzählung in Mittelalter und Früher Neuzeit lässt sich zeigen, wie mit der Veränderung der Personenkonstellation und der Motivierungsstrategien in der Erzählung immer auch eine Modifikation ihrer Deutungsangebote und ihre Assimilierung an die jeweiligen Interessen der Zeit einhergeht. Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich somit mit den je spezifischen Sinnstiftungsstrategien einiger ausgewählter Beispiele, die einerseits auf den jeweiligen historischen Kontext, andererseits aber auch auf das darin wirksame Interesse an der Antike verweisen. In den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Transformationszeugnissen, die im Folgenden vorgestellt werden, setzt man sich selbst erzählend in eine Kontinuität oder behauptet eine Verbindung zur Antike. Beginnend bereits mit der christlichen Ausdeutung durch Augustinus wandelt sich die Lucretia-Erzählung dabei zunehmend von einer Erzählung aus der Antike und über Antike zu einer Erzählung über das Eigene unter Zuhilfenahme von Antike(m). Dieser Umdeutungsprozess vollzieht sich im Drama der Frühen Neuzeit insbesondere in Bezug auf Fragen der Herrschaft _____________ 4 5 6

Vgl. dagegen die Darstellung bei Dionysius von Halikarnass (Antiquitates Romanae 4,69–76), Diodorus Siculus (Bibliotheca Historica 10,20–22) und Valerius Maximus (Facta et dicta memorabilia 6,1), Nachweise bei Galinsky (1932), 11 f. und Sallmann (2010), 44, Anm. 1. Lüdemann (2007), zu Lucretia 39–41. Vgl. auch Fögen (2002). Vgl. Ohly (1940), 88–90. Dieses Interesse steht allerdings nicht immer im Vordergrund: Die Bearbeitung in Ovids Fasti (2,725–852) etwa zeigt, wie unterschiedlich adaptibel die Erzählung ist. Galinsky unterscheidet dabei »eine erotische und eine sozial-politische Komponente« des Stoffes; Galinsky (1932), 9; zur Fassung Ovids vgl. ebda. 14–16; Holzberg (1992), 536–538. Im Folgenden wird diese »erotische Komponente«, die von Ovid betont wird, allerdings ausgeblendet. Stattdessen werden Beispiele untersucht, die sich primär mit dem Verhältnis von Ehe und Herrschaft beschäftigen.

Vergegenwärtigung der Antike

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und des richtigen regiments in Zeiten des politischen Umbruchs. Da die Frage nach den innerhalb einer solchen Transformationsgeschichte spezifischen Modifikationen die Perspektive auf langwellige Prozesse erfordert, werden im Folgenden zunächst die Bedingungen der Lucretia-Rezeption im christlichen Mittelalter skizziert. Darauf ruht nicht zuletzt auch das Nürnberger Drama des 16. Jahrhunderts auf, das dann anhand der Lucretia-Bearbeitungen von Hans Sachs und Jacob Ayrer untersucht werden soll.

I. Anders als in der gesamten pagan-antiken Tradition wird Lucretia von Augustinus als problematisch und nur bedingt vorbildlich angesehen. Augustinus stellt, stärker noch als Livius, ein Prisma dar, das die gesamte nachfolgende mittelalterlichchristliche Wahrnehmung antiker Figuren und Narrative lenkt und bestimmt. Für den Kirchenvater scheint die Selbsttötung Lucretias – die ja bei Livius dadurch motiviert ist, dass sie einem Ehrverlust zu entgehen sucht – gleichsam ihre antike Widerständigkeit auszumachen, denn sie macht ihm eine unproblematische Überführung ins Christentum unmöglich. Augustinus argumentiert, dass Lucretias Selbsttötung entweder einen Mord darstelle oder aber das implizite Schuldeingeständnis berge, dass sie an der Schändung eben doch Gefallen gefunden haben muss: »So kommt man bei dieser Sachlage um eins von zweien nicht herum: Entschuldigt man den Mord, so bestätigt man den Ehebruch, bestreitet man den Ehebruch, so häuft man Schuld auf den Mord.« 7 Lucretia wird also nicht ausgeblendet, auch nicht gänzlich verfemt und diskreditiert, aber die ihr von Augustinus zugeschriebene Ambivalenz bleibt ihr fortan erhalten: Geht es um Monogamie und eheliche pudicitia, dann erscheint Lucretia als leuchtendes Vorbild. Geht es jedoch im Kontext des frühen Christentums darum, sich den Verfolgungen durch die Heiden, insbesondere Vergewaltigungen, durch den Suizid zu entziehen und sich obendrein mit dem Signum des Martyriums zu schmükken, dann wird Lucretias Selbsttötung auch als ein Beispiel dafür herangeführt, wie die Ruhmessucht zu falschen Entscheidungen führen kann. 8 Die heroische Lucretia der römischen Antike wird im Christentum zur dilemmatischen, zur uneindeutigen Figur, was in der Kommentar- und allegorischen Auslegungstradition immer wieder zum Ausdruck kommt. 9 _____________ 7 8

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Augustinus, Gottesstaat, I,19; 36. So auch schon vor Augustinus, vgl. Tertullian (De monogamia 17; Ad martyrem 4); Belege bei Galinsky (1932), 17–19; für die mittelalterliche Tradition 34–39. Vergleichsweise selten ist in mittelalterlichen Zusammenhängen daher auch die Lektüre der Lucretia als Martyriumsbericht bzw. ihre Stilisierung zur Heiligen. Anders argumentiert Holenstein Weidmann (1994), 11, doch sind die hier angeführten Belege aus Galinsky (1932), 17, keine mittelalterlichen, sondern voraugustinische (Epigrammatik, Tertullian). Strukturelle Analogien zwischen der Lucretia-Erzählung und der Legendarik sind durchaus vorhanden, ebenso wie der Vergleich mit den frühchristlichen Märtyrerinnen ja selbst von Augustinus gezogen wird. Das christliche Narrativ

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In diesem Spannungsfeld bewegt sich die weitere Rezeption, doch während in der Moraldidaxe die politische Dimension der Lucretia-Erzählung meist ausgeblendet bleibt, wird sie in der erzählenden Literatur in Verbindung mit aktuellen herrschaftspolitischen Themen immer wieder aufgenommen und in den Kontext zeitgenössischer Ehe- und Herrschaftskonzepte gestellt. Dabei hat sich allerdings gegenüber der antiken Historiographie etwas grundlegend verändert: In ihrer neuen, christlich geprägten Ambivalenz erhält Lucretia neues Gestaltungspotential, denn die Mehrdeutigkeit der Figur kommt offenbar auch dann zum Tragen, wenn die christliche Kritik an Lucretias Selbsttötung zwar auf der Ebene des Diskursiven ausgeblendet, diese Problematik in der Figurenzeichnung aber mittransportiert wird. 10 Das kann sehr unterschiedlich umgesetzt werden, so wird etwa in der frühmittelhochdeutschen Kaiserchronik 11 das Irritierende und Fremde der Lucretia-Figur in hohem Maße von eigenen Deutungsmustern überschrieben und insbesondere im starken Kontrast mit der Frau ihres Widersachers weitgehend aufgehoben. 12 Wie bei Livius erscheint Lucretia hier im Rahmen einer Geschichtsdarstellung, 13 als Teil einer Chronik der Päpste und Könige von der Gründung Roms bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt ist die Kaiserchronik wohl auch entstanden. Für ihren Aufbau spielt die exemplarische Darstellung guter und schlechter Herrschaft und Hofhaltung eine entscheidende konzeptionelle Rolle, und dies steht auch im Zentrum der Lucretia-Episode. 14 Auffällig im Vergleich mit den zahlreichen historischen Akteuren bei Livius erscheint die Reduktion des Geschehens und der handelnden _____________

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der verfolgten Unschuld sieht jedoch im Allgemeinen die wundersame Errettung vor der Schändung vor, wie sie sich in zahlreichen Legenden heiliger Jungfrauen findet. So scheint es nicht nur der Suizid zu sein, der eine Umdeutung der Lucretia zur Märtyrerin der Keuschheit verhindert, sondern nicht zuletzt auch die vollzogene Schändung. Auch Konrad von Ammenhausen stellt in seinem Schachzabelbuch im Tugendkatalog der Schachkönigin Lucretia zunächst als Exempel der kiusche vor, kontrastiert sie dann aber mit der heiligen Lucia, die, wie er sagt, mehr Standhaftigkeit bewiesen habe, weil sie sich den Verfolgungen nicht durch Selbstmord entzogen habe: »swie gar due kuesche ze loben was, / doch tet si [sc. Lucretia] gar unrehte, das / si ir selber tet an den tôt: / es ist kein sô grôssue nôt / darumb ieman sülle toeten sich. / man sol das wissen sicherlich, / das kein wîb ir kueschekeit / verlieren mag, ob ist ir leit / von rehtem herzen due geschicht, / und schadet es ir gen got niht.« Konrad von Ammenhausen, Schachzabelbuch, Sp. 145,23–146,62. Aus dieser historischen Perspektive erscheint daher auch ein Verständnis der livianischen Lucretia als Proto-Märtyrerin als nachträgliche Stilisierung. S. Weigel (2007) und Weigel (2012). Vgl. Sasse (2008), 96 f. Ein ähnliches Oszillieren zwischen Polyvalenz und Vereindeutigungsversuchen weist etwa die mittelalterliche Alexanderrezeption auf, vgl. den Beitrag von Markus Stock in diesem Band sowie Rombach (2008). Die mittelalterliche Apuleius-Rezeption andererseits zeigt (wohl aufgrund der problematischen Verwandlungsgeschichte) eine starke Vereindeutigung und Einschränkung des antiken Deutungspotentials, vgl. Weitbrecht (2011). Kaiserchronik (im Folgenden unter der Sigle KC), 4305–4834. Zu Entstehung und Konzeption s. Müller (1999) und Nellmann (1983). Sasse (2008), 97. Trotz der Quellenberufung auf Ovid (»si stât in Ovîdîo gescriben dâ«; KC, 4338) wird eine Abhängigkeit von den Fasti mittlerweile als unwahrscheinlich betrachtet, vgl. Winter (1999), 217 f.; Mohr (1954), 334 f.; s. auch Ohly (1968), 91–93, der eine mögliche Abhängigkeit von den Fasti diskutiert. Vgl. Ohly (1968), zur Lucretia 88–99.

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Personen auf zwei Ehepaare: Nachdem der Trierer Exilant Conlatînus sich bereits eine Weile am römischen Hof aufgehalten hat und in gutem Einvernehmen mit dem Kaiser Tarquinius steht, kommt es zu einer Wette zwischen den beiden, wer die tugendhafteste Ehefrau besäße. Die Gegenüberstellung der Ehefrauen wird im Vergleich zur antiken Vorlage plastisch ausgestaltet: Als Tarquinius und Conlatînus spät nachts im Hause ankommen, quält sich Lucretia aus dem Bett, tischt dem hohen Gast reichlich auf und nimmt es sogar klaglos hin, dass Conlatînus sie, um ihre aussergewöhnliche Duldsamkeit zu beweisen, mit Wein begießt – sie wechselt lediglich das Gewand. Dagegen ist die Königin, die Frau des Tarquinius, nicht einmal bereit, für die Gäste aufzustehen und sagt zu ihrem Ehemann: ich enpin weder truhsæze noh schenke, kamerâre noh koch uber allen diesen hof. ih enwaiz waz dû mir wîzest: ich enruoch ob dû iemer ihtes enbîzest (KC, 4546–4550)

Diese Konzentration auf die beiden ungleichen Paare führt zu einer Verschiebung des Konflikts, und in dieser direkten Konkurrenzsituation rückt die Königin als handelnde Figur in den Vordergrund: Nachdem sie von der Wette erfahren hat, stiftet sie Tarquinius dazu an, ihre gekränkte êre durch die Schändung Lucretias wiederherzustellen: »si tet im manicvalte mane: er gewunne ir wider ir êre« (KC, 4658 f.). Die Vergewaltigung wird hier als Restitutionshandlung dargestellt, die im Kontext feudaler Machtausübung primär herrschaftsstabilisierende Gründe hat: 15 Die eigene defizitäre Hofführung wird ausgeglichen, indem die êre der Konkurrentin geschwächt wird. Folglich geht es auch im Nachspiel der Schändung letztlich um die Gefährdung und Rekonstituierung von êre vor einer höfischen Öffentlichkeit und nicht um die Abschaffung der Königsherrschaft: Tarquinius wird hier unhistorisch in der Kaiserzeit, zwischen Nero und Galba, platziert. Sein Vergehen hat seine Vertreibung und schließlich Ermordung durch Conlatînus zur Folge, nicht aber die Unterbrechung der Königsreihe. 16 Im Zusammenhang mit dieser Umdeutung wandelt sich auch die theologisch fragwürdige Selbsttötung hier zur heroisch gezeichneten Akzeptanz eines unabwendbaren Todes, wie er – auch bei Frauen – aus der germanischen Heldendichtung bekannt ist. Lucretias Selbsttötung wird nur kurz benannt und nicht verurteilt, vielmehr wird die Demonstration dessen, wie sie sich ins Unvermeidbare schickt, mit der Ausstellung ihrer Tugendhaftigkeit vor einer höfischen Öffentlichkeit verbunden. _____________ 15

16

Nur andeutungsweise wird der Vorgang emotional konturiert: »vil frôlich« reitet der König zu Lucretia (KC, 4696), und es wird darauf hingewiesen, dass er hauptsächlich dem Willen seiner Frau folgt: »er hête wol gefrumet ir willen« (KC, 4726), weil diese ihm damit droht, ihn andernfalls nicht mehr zu erhören. Vgl. Galinsky (1932), 24; Winter (2000); Winter (1999), 117 f. In diesem Zusammenhang entfällt auch der gemeinsame Schwur, Lucretia zu rächen.

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Julia Weitbrecht

Dies wird in zwei aufwendigen Bewirtungsszenen dargestellt, 17 in denen Lucretias Fähigkeit zur gelungenen höfischen Interaktion in jeder Lebenslage zum Ausdruck kommt: erst in der bereits geschilderten Inszenierung der Frauenprobe (die Lucretia bravourös besteht), dann in ihrem ehrenhaften Abgang, der nicht wie bei Livius im Schlafgemach stattfindet, sondern den sie im Rahmen eines Gastmahls inszeniert und sich dabei erneut als perfekte Gastgeberin erweist, bevor sie sich ersticht: ja nemähte niemen getrûwen, daz iz alsô bôsen ende nam. die frowen lobete manic frum man (KC, 4758–4760)

Gegenüber der livianischen Geschichtsdarstellung wird die Lucretia-Erzählung im Rahmen der Chronik zum Exempel schlechter Herrschaft und guter Hofführung. Wolfgang Mohr hat angeregt, dass man darin eine Überschreibung oder Hybridisierung der antiken politischen Erzählung mit Konfliktkonstellationen der germanischen Heldensage, insbesondere der Siegfriedsage, sehen könnte – freilich ohne einen direkten textuellen Zusammenhang zu unterstellen: Ein Fremder kommt an einen Hof, lässt sich dort nieder und heiratet, doch die gute Beziehung zum Herrscher wird durch eine Herausforderung und anschließende Rachehandlung zerstört. 18 Zu einer direkten Konfrontation der Kontrahentinnen (also einem Königinnenstreit wie zwischen Kriemhild und Brünhild), kommt es nicht, doch sind der Konflikt und die Personenkonstellation zweifellos ähnlich gelagert wie in der Heldendichtung. Auch die Rache des Conlatînus erfolgt außerhalb der Stadt und nach der Vertreibung des Tarquinius, sie trägt somit eher archaische als Züge von römischer ›Zivilcourage‹: vil harte rach er [sc. Conlatînus] sînen zorn, mit grimme huop er sih dar. des enwart niemen gewar, unz er durh in [sc. Tarquinius] stach, daz er niemer mêr wort ersprach (KC, 4818–4822)

Es findet – zu einem relativ frühen Zeitpunkt in der Geschichte der volkssprachigen Literatur – somit eine radikale Anpassung der Lucretia-Erzählung an das eigene Werteystem statt: Die zentralen Handlungselemente bleiben zwar erhalten, doch werden im Medium der Volkssprache vergleichsweise neue, höfische Werte wie êre, minne und zuht formuliert, dabei aber mit der archaisch-heroischen Rache und dem paganantiken Konzept der Selbsttötung als tugendhaftem Handeln zur Verhandlung gebracht. 19 Das geht im Rahmen der Lucretia-Episode erzählerisch nicht immer glatt _____________ 17 18 19

Diese versteht Mohr (1952), 436, eher aus dem »alten Motivbestande des Heldenliedes« heraus, doch zeigt sich hier evtl. auch und noch eher die Assimilierungskunst des Chronisten. Mohr (1952), 337 f. Vgl. auch Ohly (1968), 97 f. »Die Lucretiageschichte der Kaiserchronik ist nicht nur dadurch interessant, daß in ihr höfische Gesittung zum erstenmal zu Wort kommt. Wichtiger ist, daß diese Gesittung sich als etwas Neues fühlt und eine ältere Wertordnung anscheinend zu überwinden trachtet.« Mohr (1952), 442.

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auf, 20 doch ließe sich unter Berufung auf Max Wehrli die Hypothese formulieren, dass sich die beginnende volkssprachige Erzählliteratur gerade der ›fremden‹ antiken Narrative bedienen muss, um ein geeignetes »Vehikel« 21 für die feudal-herrschaftlichen Konfliktkonstellationen der Zeit zu finden, das etwa die Heldendichtung nicht zur Verfügung stellt. Die zahlreichen in die Kaiserchronik eingestreuten Exempla und Legenden machen jedenfalls deutlich, dass mit unterschiedlichen Erzählformen, pagan-antiken und christlichen, experimentiert wird. Ein reflektiertes Verhältnis zur Antike spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle. Auf der Organisationsebene der Chronik wird vielmehr eine Kontinuität zur römischen Antike über die Herrscherreihe behauptet, und so erscheint die Lucretia-Erzählung hier auch nicht als Gründungsgeschichte, sondern werden darin neue Deutungsangebote erprobt und die Suche nach einem eigenen Wertesystem artikuliert. In diesem Zusammenhang erscheint die heroische Selbsttötung – Augustinus zum Trotz – offenbar weit weniger problematisch als die Tatsache, dass der König sich von seiner Frau zur Rache anstiften lässt und damit êre und Herrschaft gefährdet.

II. Wie sich gezeigt hat, erfährt, sobald die Selbsttötung aus christlicher Sicht zum Problem wird, die Tugendhaftigkeit Lucretias eine Brechung. Zugleich verschiebt sich in der mittelalterlichen Adaptation die Motivation zur Schändung im Hinblick auf das feudale Ehrsystem. Diese Aspekte sind auch für die folgenden politischen Deutungen der Lucretia zentral, und werden, nun allerdings auf die städtische Gesellschaft bezogen, insbesondere auch auf den Bühnen der Frühen Neuzeit realisiert. Dabei scheinen die oben dargestellten spätantik-mittelalterlichen Modifikationen subkutan weiter mitzulaufen, obwohl das antike Referenzmaterial, also das Geschichtswerk des Livius, nun wieder stärker unter den antiquarisch-philologischen Prämissen der Zeit behandelt wird und ein allgemeiner Konsens über die normative Verbindlichkeit der antiken Textvorlage vorausgesetzt werden darf. 22 Lucretia wird im städtischen _____________ 20 21

22

So wird etwa die Diskussion höfischer Tugenden nicht in die Handlung integriert, sondern im Rahmen eines Dialogs zwischen zwei Nebenfiguren in der Viterbo-Passage ausgelagert, vgl. Ohly (1968), 96; Mohr (1952), 439–442. Wehrli (1961), 432. Während Wehrli über Strukturanalogien eine literarische Reihe von der Spätantike bis ins hohe Mittelalter festzumachen versucht, geht es hier um die zahlreichen Umdeutungen im Umfeld der Lucretia-Figur, die als antike Gestalt ihre eigene Normativität (in der Affirmation wie in der Kritik an ihr) in diesen Prozess einträgt. Als für die Dramen relevante Zwischenstufe sei auf Bernhard Schöfferlins Römische Historie (Mainz 1505) verwiesen, eine Bearbeitung des Livianischen Geschichtswerks, die sowohl dem ersten bürgerlichen Lucretia-Drama Heinrich Bullingers (1526; gedr. 1533) wie auch Hans Sachs und Jacob Ayrer als Vorlage gedient hat; vgl. Winter (1999), 136–139; s. auch Holzberg (1992), 540 f. Ich verzichte an dieser Stelle auf die Diskussion der Lucretia-Bearbeitung durch Bullinger, da diese bereits recht gut erforscht ist und zudem in einem ganz eigenen, dezidiert schweizerisch-reformatorischen

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Kontext des 16. Jahrhunderts durch ihre antike Provenienz zusätzlich aufgewertet, dabei aber weiterhin umgedeutet und im Kontext des eigenen Wertesystems funktionalisiert. Einen besonderen Freiraum für einen solchen produktiven, nicht ausschließlich konservierenden Umgang mit historischen Stoffen der Antike (man könnte auch sagen: wieder historisch gewordenen Stoffen) bieten nicht zuletzt die zahlreichen Spiele und Dramen des 16. Jahrhunderts, in denen die Lucretia-Erzählung für eine bürgerliche Öffentlichkeit didaktisiert, gesellschaftspolitisch aktualisiert und performativ umgesetzt wird. 23 Auch diese Modifikationen und Umbesetzungen scheinen mehr über die eigenen Intentionen als über das Interesse an der Antike zu verraten, und auch hier ist es nicht primär das Begehren des Sextus, das zum Übergriff auf Lucretia führt, sondern seine gekränkte Ehre. Erneut bietet die Frage, wer die beste Ehefrau hat, den Anlass für einen Sittenspiegel und die Ausstellung zeitgenössischer weiblicher Tugenden, daneben aber werden in den Dramen auch die Bedingungen guten Regierens reflektiert. Dabei wird nun allerdings auf ein städtisches Ordnungsgefüge rekurriert, das durch eine enge funktionale Verbindung von kleiner und großer Haushaltung, also dem Einzelhaushalt und der städtischen Gemeinschaft, gekennzeichnet ist: Nur wo der einzelne Haushalt funktioniert (und das ist primär vom guten Zusammenleben der Eheleute abhängig), da funktioniert auch das Gemeinwesen. 24 Im Zuge dieser Fokussierung auf die Ehe erscheint die Frage, ob Lucretia als Ehefrau und Haushälterin tugendhaft handelt, viel zentraler als ihre Selbsttötung und die politischen Konsequenzen. Dabei wird auch der spätestens seit den Kirchenvätern präsente misogyne Hintergrund, vor dem sich Lucretia mal mehr, mal weniger stark abhebt, wieder stärker konturiert und in den Kontext zeitgenössischer Ehedidaxe gestellt. Obwohl man sich also stets auf die Autorität des Livius beruft, geht es in den Lucretia-Dramen letztlich weniger um die Vermittlung von (antiker) Geschichte als vielmehr um die kulturelle Assimilierung und gesellschaftspolitische Aktualisierung von antiken Geschichten. In einer allelopoietischen Konstruktion von Antike und Gegenwart 25 entsteht so die livianische Lucretia als Nürnberger Bürgerin auf der Bühne neu. Dieser Prozess soll im Folgenden an zwei Beispielen deutlich gemacht werden, der Tragedia. Von der Lucretia von Hans Sachs sowie Jacob Ayrers Tragedi von Servij Tullij Regiment vnd Sterben, darinnen der schönen Lucretia Hystori begriffen. Diese gehen formal sehr unterschiedlich mit der Vorlage um, nehmen dabei aber beide eine spezifische Funktionalisierung für die städtische Öffentlichkeit vor, für die sie schreiben. _____________ 23 24 25

Zusammenhang steht. Vgl. Sasse (2008), 98; Buckenberger (2006) und Charbon (1998) sowie Hartmann (1973), 10–14. Dieser letzte Punkt lässt sich im Fall der beiden Lucretia-Dramen von Hans Sachs und Jacob Ayrer nur schwer rekonstruieren, weshalb ich auf Überlegungen zu den Wirkungsmöglichkeiten der Aufführungszusammenhänge verzichte und mich auf eine Analyse der Dramentexte beschränke. Vgl. Raitz/Röcke/Seitz (2004). Vgl. Bergemann u. a. (2011).

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Hans Sachs (1494–1576) verfasst seine Tragedia, die vollständig den Titel Von der Lucretia / auß der beschreybung Liuij / hat 1. Actus vnd 10 Person trägt, wohl um 1527. Sie steht am Beginn seines eigenen dramatischen Werks wie auch einer allgemeinen deutschsprachigen Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Drama. Es verwundert deshalb nicht, dass sich in der Lucretia strukturelle Bezüge zum Fastnachtsspiel wie die formale Kürze, die einfach strukturierte Handlung sowie die moral-didaktisierende Intention finden. 26 Experimentierend erscheint das Drama auch in Bezug auf den Inhalt: Sachs beruft sich zwar sowohl auf die antike Vorlage des Livius wie auch auf die antike Form der Tragedia, doch entkleidet er das Drama weitgehend seiner antiken Bezüge und stimmt es ganz auf das Nürnberger Bürgertum des 16. Jahrhunderts ab. 27 Die Konzentration liegt dabei auf weiblichen Tugendidealen, während in politischer Hinsicht die herrschende Ordnung, das regiment, eher bestätigt als in Frage gestellt wird – eine inhaltliche Wendung gegenüber Livius, die mit einer formalen Reduktion einhergeht: Die Handlung ist bei Hans Sachs um die politische Dimension weitgehend reduziert, die Frauenprobe fehlt, und das Spiel setzt unmittelbar mit einem Boten ein, der Lucretia davon in Kenntnis setzt, dass Sextus bei ihr Herberge zu suchen gedenkt. Lucretia ist ganz arglos, und dies, obwohl ihr klassisch gebildeter Haußknecht sie warnt: 28 Fraw schaut das jhr euch nit vergecht An diesem gast als Helena Die Pariß auch herbergt alda Der sie fueret auß Griechenlandt Hin gehn Troya in laster schandt Darauß entstund gar groß vnrat. (Sachs, Lucretia, 100,13–18)

Auch hier zeigt sich eine Reduktion der antiken Vorbilder auf die Zusammenhänge des städtischen Gemeinwesens: Nach Hans Sachs wird der Trojanische Krieg letztlich dadurch ausgelöst, dass Helena den Fremden Paris herbergt. Lucretia sind aber trotz dieser Warnung die Hände gebunden: Als gute Hausfrau muss sie natürlich den hochstehenden Gast bewirten. Es kommt daher, wie es kommen muss: Tarquinius schleicht sich mit Hilfe der Magd Lucretias in ihre Schlafkammer. Die Begründung dafür wird jedoch erst im zweiten Teil des Dramas nachgereicht, wenn ihr Vater Lucretia nach der Schändung zu trösten versucht: _____________ 26

27 28

Vgl. Stuplich (1998), 243 und Blamires (1995), 108. Stuplich (1998), 248, und Holzberg (1992), 522 belegen auch am Dramentext, dass er für die Simultanbühne gedacht ist. Stuplich (1998, 251, Anm. 19) widerlegt jedoch, dass Sachs mit der Lucretia letztlich ein Fastnachtspiel geschaffen habe, das auch in der Fastnachtszeit zur Aufführung gekommen sei; vgl. Hartmann (1973), 30. Vgl. zur weitgehend unspezifischen Verwendung antiker Gattungsbezeichnungen neben der des spiels Stuplich (1998), 38–54; s. auch Holzberg (1976). Dieser ist, ebenso wie die Magd mit dem sprechenden Namen Ancilla, eine wohl von Schöfferlin eingeführte Figur, vgl. Sasse (2008), 100 f. Gesinde in Sprechrollen kennt auch Heinrich Bullinger, in dessen Lucretia-Drama sich die Magd Cloelia die Schuld an Lucretias Tod gibt; Bullinger, Lucretia, 54. Der Haußknecht erhält in der Figur des Dieners Jodel bei Jacob Ayrer schließlich eine tragende Rolle, vgl. Blamires (1995), 109–111.

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Julia Weitbrecht Des Koengs Son hat das zugericht Von neid wegen vnd anderst nicht Vmb das er dir der Ehr nit gan So dir nachsaget jederman Von anfang deiner zarten Iugent Zucht / scham / demut vnd alle tugent Fuer all Frawen in Rohm der Stat. (Sachs, Lucretia, 105,11–17)

Die Schändung wird also zunächst gar nicht motiviert und lediglich als Konsequenz dessen vorgeführt, dass man in Abwesenheit des Ehemannes fremde Männer ins Haus lässt und sich nicht auf sein Gesinde verlassen kann. 29 Nachträglich wird sie dann aus einem Ehrkonflikt heraus motiviert, der aber recht vage bleibt. Angesichts dieser Konzentration auf die Haushaltsführung erscheint auch die historischpolitische Dimension der Lucretia-Erzählung geschwächt: Zwar zieht der Ehrnholt zum Schluss der Tragedia noch einmal kurz die Verbindung zur römischen Geschichte, aber lediglich, um sie direkt wieder auf die Gegenwart zu beziehen: Also noch heut zu diesem tag / Vnrechter gwalt nicht bleiben mag (Sachs, Lucretia, 109,35 f.). Gerade in der expliziten Berufung auf die Antike scheint hier vielmehr die Lizenz zu liegen, die eigenen Problemstellungen vorzuführen und die antike Heldin die eigenen Ordnungsvorstellungen artikulieren zu lassen: O wie hat mich verlassen Got / O Vesta wie hast mich verlan / Das ich ward Venus vnterthan / Nun verdreust mich auff erd zu leben (Sachs, Lucretia, 104,15–18). Anders als Sachs verfährt der Nürnberger Jacob Ayrer (1543–1605) in seiner Lucretia-Bearbeitung nicht formal reduktionistisch, sondern kreativ umstrukturierend. 30 Ayrer hat eine Fülle von Dramen und Fastnachtspielen verfasst, große Teile seines Werks sind posthum 1618 als Opus Theatricum. Dreissig aussbündtige schöne Comedien vnd Tragedien vonn allerhand denckwürdigen alten römischen Historien vnd anderen politischen Geschichten und Gedichten [...] erschienen. Die Forschung hat sich primär mit seinen Fastnachtspielen befasst und sich neben Fragen zur städtischen Fastnachtkultur in neuerer Zeit auch auf den Einfluss des englischen Theaters und der römischen Komödie auf Ayrers dramatisches Schaffen konzentriert. 31 Im Kontext dieser unterschiedlichen dramatischen Traditionen erscheint die Gattungsbezeichnung der tragedi ebenso auffällig wie die Berufung auf die alten römischen Historien: Ayrers historische Dramen stehen einerseits für eine humanistisch geprägte Orientierung an den Wissensbeständen der Antike, andererseits nutzt er wie Sachs das Medium des Dramas, um die zeitgenössische Gesellschaft vorzuführen und sich dabei die Antike produktiv anzuverwandeln, indem er die in der antiken Vorlage angelegten Konfliktkonstellationen von Ehe und Herrschaft umdeutet und transformiert. Somit erscheint _____________ 29 30

31

Vgl. Holzberg (1992), 541. Die bisher weitgehend unerkannte Leistung Ayrers in seinen Geschichtsdramen hängt wohl mit der primären Konzentration auf seine Fastnachtspiele zusammen, die zudem meist als epigonales Phänomen gegenüber dem Werk von Hans Sachs dargestellt werden. Vgl. Bock (1971), Catholy (1966), 62 f. Vgl. Röcke (2008) und (2009).

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Ayrers Interesse an der römischen Geschichte als ein zweifaches: Seine Berufung auf die historischen Quellen (auß dem Tito Livio) verweist auf den antiquarischen Ansatz, zu erhalten und weiterzutragen, was drinnen lob- vnd denckwürdigs der posteritet zu guten beschrieben vnnd gleichsam zu einem Schatz eingewickelt ist (so die Vorrede des Herausgebers an den christlichen guthertzigen Leser; Ayrer, Dramen, 4). Ebenso zeigt der Kontext seiner Lucretia-Bearbeitung ein historisches Interesse an der römischen Gesamtgeschichte: Sie ist Teil eines Großprojekts, in dem Ayrer die Geschichte der Anfänge Roms in fünf Teilen dramatisiert. Andererseits, und das steht in einer gewissen Spannung zu diesem historisierenden Ansatz, soll in der Dramatisierung die Antike mit Leben erfüllt und dem zeitgenössischen Rezipienten vergegenwärtigt werden. Ayrer hat, so die Vorrede, alles nach dem Leben angestellt vnd dahin gerichtet, das mans [...] alles Persönlich Agirn vnd Spilen kann, auch so lieblich vnd begierig den Agenten zuzusehen ist, als hette sich alles erst [...] heuer verloffen vnd zugetragen (Vorrede, 6). Im Gegensatz zur dramatischen Bearbeitung des Hans Sachs liegt hier also keine Reduktion und Assimilierung der Lucretia-Erzählung vor, sondern, was den formalen Anspruch betrifft, vielmehr eine monumentale dramatische Vergegenwärtigung der römischen Geschichte. 32 Dabei erscheint insbesondere die Umgestaltung der Agenten, also der Personenkonstellationen, auffällig: Die dramatis personae sind mit Ausnahme einiger Nebenfiguren historische Persönlichkeiten aus dem ersten Buch des Livius. Sie stehen aber nicht historisch-chronologisch miteinander in Beziehung, sondern werden von Ayrer dramatisch-handlungstechnisch aufeinander bezogen. Die Protagonisten sind zunächst auch ganz andere als Lucretia und Sextus, vielmehr wird die Frage nach dem guten regiment anhand des exemplarisch guten Königs Servius Tullius und des ebenso exemplarisch schlechten Herrschers Tarquinius Superbus verhandelt. Diese politische Konstellation spiegelt sich im privaten Bereich in drei Ehepaaren, und hier macht Ayrer etwas ganz Neues und Eigenständiges mit dem antiken Material: Die Bedeutung der guten Ehe für die Herrschaft und die fatalen Konsequenzen einer schlechten Verbindung für die ganze Gemeinschaft werden hier am Beispiel der beiden Töchter des Servius Tullius demonstriert, 33 die mit den einflussreichen Söhnen der Königin Tanaquilla (also der Witwe des Tarquinius Priscus) verheiratet werden. Es sind höchst ungleiche Schwestern: Die brave Servia interessiert sich für Religion, »kunst vnd Tugent«« (Ayrer, Tragedi, 283,36), während die ehrgeizige Tullia »Gelt, Gut vnd Pracht« (Ayrer, Tragedi, 285,3) erlangen will – etwa durch die Hochzeit mit einem der Königssöhne. Nun wird Servia mit Lucius Tarquinius, Tullia mit Tarquinius Arnus verheiratet, und der doppelte Brautvater Servius Tullius gibt ihnen mit auf den Weg, dass sie alles mitbringen, um erfolgreich die Herrschaft zu übernehmen: Ihr habet Tugent, zucht vnd ehr, Reichthumb, gewalt vnd anders mehr, Damit euch theten die Göter zirn,

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Sasse (2008), 108. Bei Livius heißen die Schwestern Tullia maior und Tullia minor, bei Ayrer Servia und Tullia.

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Julia Weitbrecht Ihr köndtz auch herrschen vnd regirn. Wenn jhr recht thut zusammen setzn, Köndt jhr euch als vnglücks ergötzn. (Ayrer, Tragedi, 287,17–22)

Fatalerweise aber haben die Königssöhne ebenso komplementäre Charaktere und gerät jeweils der Falsche an die Falsche: Die tugendhafte Frau hat den ehrgeizigen Mann bekommen und umgekehrt. Tullia und Lucius finden so auch schnell heraus, dass sie ihre Gatten falsch gewählt haben: »Sie ist langweilig, schlecht vnd still, / Begert auch Gelts vnd Guts nicht vil« (Ayrer, Tragedi, 292,18 f.), wie Lucius über seine Ehefrau Servia befindet. Tullia und Lucius stellen fest, dass sie füreinander gemacht sind, und kommen überein, ihre Ehepartner umzubringen und gemeinsam die Königsherrschaft zu erlangen. Auch das geht im Kern auf die antike Vorlage zurück, doch bei Livius heißt es über die merkwürdigen Todesfälle lediglich: »Als Arruns Tarquinius und Tullia die Ältere durch ihren fast gleichzeitig erfolgenden Tod die Häuser für neue Heirat freigemacht hatten, verbinden sie [sc. Lucius Tarquinius Superbus und Tullia minor] diese« (Livius, Titus, De urbe condita I,46,9; 141). Was bei Livius Andeutung bleibt, wird in Ayrers Imagination zum dramatischen Schlusspunkt des ersten Aktes: Lucius ersticht Servia im Schlaf, während Tullia Tarquinius Arnus vergiftet. Kontrastiert wird dieses Geschehen mit einer dritten Brautwerbung, die dagegen unter den günstigsten Vorzeichen steht: Collatinus schildert seine Auserkorene Lucretia mit lobenden Worten: »Das ist das schönste Frauen Bild, / Lieblicher Gstalt, reich, fromm vnd mildt« (Ayrer, Tragedi, 288,6 f.). Ebenso rühmen die Werbungshelfer Valerius und Brutus den Collatinus: »Er ist einer hie auß dem Rath, / Ist Edel, jung und auch zugleich / Ehrnwürdig, tugent frumm vnd reich« (Ayrer, Tragedi, 288,33–35). Gegenüber den traurigen Mesalliancen der Königskinder verspricht die Verbindung von Collatinus und Lucretia eine gute und zukunftsweisende Haushaltung. Auch bei Ayrer fungiert die böse Königin Tullia (denn Lucius Tarquinius hat mittlerweile die Königsmacht an sich gerissen) als Gegenbild zur tugendfrommen Lucretia. Tullia wird aber anders als die cuniginne der Kaiserchronik systematisch als exemplarisch böse Frau aufgebaut, wobei Ayrer die lakonisch-knappe antike Vorlage großzügig ausmalt: Sie ist ehrgeizig, skrupellos und ehrt die Alten nicht. Nachdem Servius Tullius von den Handlangern des Lucius Tarquinius zusammengeschlagen wurde und tot in der Schandgassn liegt, überfährt ihn Tullia noch zusätzlich mit ihrer Kutsche, weil er ihr im Weg liegt – dies wird (wohl auch aus medienhistorischen Gründen) nicht szenisch dargestellt, sondern in einem Dialog mit ihrem Diener Jodel thematisiert, der einfach nicht glauben mag, dass sie dazu fähig ist und immer wieder nachfragt, ob sie wirklich ihren Vater überfahren will. Wie auch an anderen Stellen fungiert der Spaßmacher Jodel 34 zusätzlich als Kommentator des Geschehens und fasst anschließend Tullias Untaten zusammen: _____________ 34

Eine originäre Figur Ayrers, die an den »engellendischen« Jann seiner Fastnachtsspiele erinnert, einen »komischen, etwas beschränkten, häufig in größte Konfusionen geratenden Diener«, und da-

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Besser wers, es zug einer ein Sau, Als ein solchs Kindt, wie die Frau, Denn ein sau die köndt man stechen, Sie fressn vnd jrn hochmuth brechen, Die Frau abr ist so vil nit nutz, Sie thut jr lebenlang nichts guts. [...] Was gelts, man wird nach tausent Jahrn Von dieses Weibs boßheit wissen? Der Teuffel hat vns mit jr bschissen. (Ayrer, Tragedi, 311,9–22)

Ayrers Werk ist von einem grundlegenden Misstrauen gegenüber dem intriganten weiblichen Geschlecht geprägt, wie es auch schon bei Hans Sachs durchscheint: »Drumb ists war, das den Frauen / Gar nit oder wenig zutrauen« (Ayrer, Tragedi, 298,14–17) – und um dies zu demonstrieren ist Ayrer jeder Anlass recht. Wird Lucretia dabei zunächst zur leuchtenden Ausnahme stilisiert, so ändert sich dies im dritten Akt, in dem seit der Machtübernahme einige Zeit vergangen ist. Lucius Tarquinius »ist nun zimblich alt« (Ayrer, Tragedi, 313), sein Sohn Sextus ein »junger Helt, kühn vnd gedürst« (Ayrer, Tragedi, 312,8). Während der Belagerung von Gabia unterhalten sich Collatinus und Tarquinius Egerius über ihre schönen Frauen und loben auch die Frau des Sextus. Als der zufällig dazukommt, sprechen sie darüber, wer von ihnen die tugendhafteste und keuscheste Frau habe. In dieser Frage ist sich Collatinus seiner Lucretia sehr sicher: »Wenn ich es hett vnd gelten solt, / So verwett ich ein Tonnen Golt, / Mein Frau gieng vor den andern alln« (Ayrer, Tragedi, 326,17– 19). Sextus nimmt die implizite Herausforderung des Collatinus sofort an und kündigt seinen Besuch bei den Frauen der beiden anderen an. Eigentlich wittern fast alle Beteiligten hier bereits Unrat: Lucretia fragt sich angesichts der Nachricht, dass der König sie besuchen will, warum er nicht in seinem eigenen Palast absteigt. Auch Egerius ist besorgt wegen Sextus’ Ansinnen, seine Frau und Lucretia zu besuchen, denn: Die Weiber haben leichten muth, Seinnd bald zornig vnd auch bald gut, Vergessen auch der Männer gschwind, Verheissung vnd schenck macht sie blindt. (Ayrer, Tragedi, 333,11–14)

Collatinus dagegen sorgt sich nicht, »weil ich wol weiß, dass meiner Frauen/ Ehrenthalb wol ist zu vertrauen« (Ayrer, Tragedi, 333,28 f.). Lucretia hingegen ist realistischer: Als ihre Magd sie auffordert, sich ein wenig auf der Straße zu ergehen, erwidert sie, dass schon andere Frauen aus solchen Gründen ihren Ruf verloren hätten: Ein ehrliche Frau soll allein, Wenn jhr Mann thut ahwesent sein,

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mit möglicherweise aus dem englischen Theater entlehnt ist, vgl. Röcke (2008), 101; Röcke (2009), 286; Catholy (1966), 62 f.

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Julia Weitbrecht Sich still vnd eingezogen halten, All ander ding Gott lassen walten, Nicht vil spaciren auß dem Hauß, Daß jhr nicht entsteh nachred darauß, Die jhr verletzen jhre ehr. (Ayrer, Tragedi, 335,6–12)

Zu Lucretias Tugendensemble gehört bei Ayrer, dem Ideal der Zeit entsprechend, offenbar auch eine gute Portion Misstrauen gegenüber der Außenwelt. Sehr zu Recht, wie sich zeigt, denn Sextus ist sehr zornig über seine Frau, die er zu Hause beim Feiern angetroffen hat, und erblickt daraufhin Lucretia. Ayrer folgt bei der Motivation des Sextus einerseits dem antiken Vorbild, denn dieser verliebt sich auf den ersten Blick. Ebenso bedeutsam jedoch ist ein Motiv, das mit den mittelalterlichen Bearbeitungen ins Spiel gekommen ist, nämlich dass er in seiner Ehre gekränkt ist, weil Collatinus sich über ihn erhoben hat. Diese Ehre will Sextus wiederherstellen, indem er Lucretia überkomt: »Vnd sie nicht sey ohn tadl allein / Vnd mein weib neben jhr besteht« (Ayrer, Tragedi, 339,2 f.). Bei dieser Verschränkung unterschiedlicher Motivierungstraditionen aber belässt Ayrer es nicht, denn seine Lucretia wird nicht nur Opfer eines Ehrkonflikts, sondern erliegt zusätzlich einer Schwachstelle in ihrer eigenen Haushaltsführung: Bei all ihrer eigenen Vorsicht ist es die Magd Ancilla, die Sextus den Weg zu ihrem Schlafgemach weist. Dieses letztlich auch ehedidaktische Element, dass leichtfertiges Gesinde die Haushaltung gefährdet, findet sich auch in anderen Lucretia-Bearbeitungen der Zeit. Hier verschiebt sich die intrikate Schuldfrage der ganzen Angelegenheit erneut, und Lucretia wirft sich nach der vollzogenen Schändung selbst vor, dass sie auch nicht ganz unbeteiligt an der Sache gewesen ist: 35 Doch ist der schendlich Leibe mein Auß bedrohung vnd todes forcht Dahin gebracht, dass er hat ghorcht Sexti begern vnd übl gethan An meinem frommen Herrn vnd Mann, Vnd was ich than, hab ich thun müssn, Will es auch selbst straffen vnd büssn Vnd in mein Leib stechen das Messer, Dann die Warheit kan ich nicht besser, Als mit dem zeitlichn Tod, bewehrn. (Ayrer, Tragedi, 343,35–344,7)

Indem hier (ähnlich wie bei Sachs) der Vorwurf des Augustinus aufgerufen wird, dass Lucretia an der Schändung selbst nicht unbeteiligt war, 36 geht sie nicht unverdächtig und über jeden Zweifel erhaben aus der Angelegenheit hervor. Auch in der abschließenden moralisatio durch den Ehrnholdt wird sie nicht rehabilitiert. Wie man _____________ 35 36

Vgl. Sasse (2008), 110. Vgl. Anm. 7 sowie Augustinus, Gottesstaat, 1,18; 33 f.

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aus der Figur des Collatinus ersehen kann, dass man seine Frau niemals öffentlich loben soll, so lernt man von Lucretia, dass man niemanden ins Haus lassen soll, wenn der Mann nicht da ist: 37 Auff das, wenn sie schon nichts böß thet, Ir dennoch drauß wachs kein nachredt Oder umb jr zucht vnd ehr kumb Vnd man jr vbel redt darumb! Dann Feur vnd Stro, sagt man allzeit, Geht balt an, wenns beysammen leidt, Wie jr dann habt gesehen heit. (Ayrer, Tragedi, 354,16–22)

Die von Livius geschilderten Begebenheiten montiert Ayrer somit zu einem Sittendrama, in dem sein gesellschaftlicher Pessimismus und die Misogynie überdeutlich werden. Obwohl er sich im Titel darauf beruft, die antike Geschichte darzustellen, entwirft er in seinem Drama seine eigene Welt: Der Beginn zeigt ein für Intrigen anfälliges Gemeinwesen, wobei vor allen Dingen die Verbindung von kleiner und großer Haushaltung im Vordergrund steht – ist das regiment ungerecht und auch die Ehefrau ehrgeizig und bösartig, dann wird das Gemeinwesen kontaminiert und zerbricht. Die Serie von Eheschließungen zeigt, dass die unbedachte, falsche Gattenwahl zur Katastrophe führt, denn aus der Verbindung von Tullia und Lucius Tarquinius resultieren Usurpation und Unrechtszustand. Neben zahlreichen weiteren Figuren, auf die hier nicht eingegangen werden konnte, ist diesem heillosen System insbesondere Lucretia – durch den Übergriff des Sohnes der beiden – ausgeliefert und fällt ihm zum Opfer. Damit wird das einzige Paar, dessen Ehe aus den richtigen Erwägungen heraus geschlossen wurde, gerade aufgrund seiner Vorbildhaftigkeit zum Opfer der Verkommenheit. Das Ende des Dramas zeigt zwar die Tarquinier vertrieben, aber auch die Gemeinschaft in Auflösung und auf der Suche nach dem richtigen regiment. Und nicht einmal Lucretia geht unverdächtig aus der Angelegenheit hervor, denn bei Ayrer wird sie nicht anders aufgefasst als in dem anfangs erwähnten Brief Ne ducat uxorem: als mahnendes Beispiel für alle. Selbst Lucretia steht letztlich für ein Geschlecht, dem man insgesamt mit Misstrauen zu begegnen hat: time omnes bzw. »Frauen ist nit zutrauen«!

III. Wie die vorgestellten Beispiele gezeigt haben, zeichnet sich die Lucretia-Erzählung bereits bei Livius durch eine kunstvolle Verknüpfung von Privatheit und Öffentlichkeit, von Geschlecht und Politik, von Ehe und Herrschaft aus, die sie anschlussfähig für die unterschiedlichsten Aktualisierungen macht. Diese Anschlussfähigkeit macht wohl nicht zuletzt auch die anhaltende Faszination der Lucretia aus: Anders als viele _____________ 37

Vgl. Frenzel (2005), 550.

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populäre antike Narrative und Sujets scheint es nicht die ›statische‹ antike Idealität, sondern gerade die adaptible ›Verwendbarkeit‹ der Erzählung zu sein, die sie zu einem für vielfältige Transformationen geeigneten Objekt macht. Zugleich aber hat sich gezeigt, dass die christliche Problematisierung der Figur für ihre Fortschreibung nicht weniger bedeutsam ist, da erst diese sie in ein spezifisches Dilemma treibt, und ihr damit eine zusätzliche tragische Konturierung verleiht. Während der Rahmen der Kaiserchronik des 12. Jahrhunderts noch Historizität und eine Kontinuität zur antiken Vergangenheit suggeriert, geht es Sachs wie Ayrer mit ihren Dramen um die Vergegenwärtigung von Antike, um ihre Übersetzung in Zusammenhänge, die einer zeitgenössischen städtischen Öffentlichkeit verständlich sind und diese moralisch bilden. Im Medienwechsel zum Drama scheint zudem eher als in den historiographischen Bearbeitungen der Zeit, die an bestimmte Vorstellungen von Faktizität gebunden sind, eine Möglichkeit zu liegen, Lucretia zu einer Figur der Gegenwart zu machen, die ganz eigene Problemstellungen artikuliert. 38 In Jacob Ayrers Drama erscheint sie zuletzt als ein allelopoietisches Mischwesen des 16. Jahrhunderts, in das die livianische Darstellung als Opfer der politischen Umstände ebenso einfließt wie die augustinische Deutung als potentiell triebhafte Frauensperson, sie integriert aber auch die mittelalterliche Perspektive der Kaiserchronik, die Lucretia im Mittelpunkt eines Ehrkonflikts sieht, und schafft mit den zeitgenössischen Figuren Jodel und Ancilla zusätzliche Spannungspunkte. Im neuen Medium des Römerdramas 39 scheint Ayrer alle zur Verfügung stehenden Deutungsangebote zu verschmelzen und steht damit wiederum am Beginn neuer Transformationen.

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_____________ 38 39

Auf die in diesem Kontext ebenfalls aufschlussreiche Entwicklung der Lucretia zum populären Sujet der Renaissance-Kunst kann ich hier nicht näher eingehen, vgl. dazu Jed (1989). Vgl. allgemein zum Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit Niefanger (2005), zu Sachs und Ayrer 95–112.

Vergegenwärtigung der Antike

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Die tragédie à sujet moderne in Frankreich (1550–1715) Modernität und Aktualität als Transformationsfaktor antiker mythologischer Narrative KIRSTEN POSTERT »[…] C’est une pensée bien ridicule d’aller au théâtre pour apprendre l’Histoire« 1, konstatiert D’Aubignac in seinem Werk La Pratique du théâtre (1657) im Kapitel »Du sujet«, in welchem er sich mit der Wahl und der Bearbeitung von Tragödienstoffen auseinandersetzt. Mit der Äußerung, es sei lächerlich zu glauben, dass man ins Theater ginge, um dort Geschichte zu lernen, wirft er eines der zentralen Probleme der tragischen Gattung auf: ihr Verhältnis zur Geschichte bzw. zum bearbeiteten historischen Stoff. In Anknüpfung an Aristoteles, den ›Stammvater‹ der französischen Regelpoetik (doctrine classique), der im neunten Kapitel seiner Poetik deutlich die Aufgabe des Historikers von der des Dichters unterschied und so die damit verbundene Differenz von Geschichte und Literatur, von ›Geschichte‹ und ›Geschichten‹, hervorhob, 2 setzt D’Aubignac neben anderen Zeitgenossen nun die Diskussion um die Bedeutung und Verarbeitung des historischen Tragödienstoffes fort. Dass ein historischer Stoff dazu beitrage, die Glaubwürdigkeit der auf der Bühne dargestellten Handlung zu erhöhen, hatte Pierre Corneille in seinem Discours du poème dramatique besonders hervorgehoben. Als Vertreter der tragédie historique par excellence, misst er dem historischen Stoff eine elementare Bedeutung bei, die ihn nicht nur zum Garanten für die Wahrscheinlichkeit (le vraisemblable), sondern auch für die Glaubwürdigkeit (le croyable) 3 der dramatischen Handlungselemente macht: […] les grands sujets qui remuent fortement les passions, et en opposent l‘impétuosité aux lois du devoir, ou aux tendresses du sang, doivent toujours aller au-delà du vraisemblable, et ne trouveraient aucune croyance parmi les auditeurs, s’ils n’étaient soutenus, ou par l’autorité de l’histoire qui persuade avec empire, ou par la préoccupation de l’opinion commune qui nous donne ces mêmes auditeurs déjà tous persuadés. 4

Die Frage der dramatischen Umsetzung von Geschichte beschäftigte alle französischen Theaterschreiber gleichermaßen seit dem Erscheinen der ersten französischen Tragödie, Abraham sacrifiant (1550) von Théodore de Bèze, wenn sie ihre antiken mythologischen bzw. biblischen Stoffe in eine dramatische Form zu bringen such_____________ 1 2 3 4

D’Aubignac, Pratique du théâtre, 113. Aristoteles, Poetik, 1451a–1451b. Vgl. Forestier (1998), 7. Corneille, Discours du poème dramatique, 118.

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ten, die nicht nur ›gefallen‹, sondern das Publikum auch emotional berühren sollte. Die Herausforderung als solche blieb durch die Zeit hindurch bestehen, auch wenn die dramatische Form und ihre ästhetischen Prinzipien dem Wandel des Publikumsgeschmacks und den Forderungen der sog. doctes, der Theoretiker der klassischen Regelpoetik, unterworfen waren. Doch am meisten stellte sich das Problem der dramatischen Umsetzung für diejenigen Autoren, die aktuelle, politische Ereignisse der Zeit oder Themen der näheren Vergangenheit aufgriffen und zu einer Tragödie transformierten: Wie kann ein aktuelles politisches Ereignis im Drama umgesetzt werden, wenn die Repräsentanten der betreffenden Herrscherdynastie noch am Leben sind? Besitzt ein solch ›moderner‹ Stoff dieselbe Berechtigung in den Augen der Zeitgenossen wie ein antiker mythologischer? Wie wird mit der mangelnden zeitlichen Distanz umgegangen? Werden bestimmte Stoffe favorisiert? Diese Fragestellungen rücken mit den sogenannten tragédie à sujet moderne ein (im Gegensatz zur klassischen französischen Tragödie mit antiken Stoffen) auf formalen und Gattungsvorgaben beruhendes Verhältnis zur Antike in den Mittelpunkt des Interesses, das in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zu den aktuellen, ›modernen‹ Stoffen steht. Der vorliegende Beitrag setzt sich daher zum Ziel, dem Wesen der tragédie à sujet moderne näherzukommen, die Verarbeitung ihrer ›modernen‹ Stoffe zu kategorisieren und der Bedeutung des geschichtlichen Moments dieser Tragödienform nachzuspüren, welche das Verhältnis von Geschichte und Literatur, von Geschichte und Tragödie im Vergleich zu den antiken Vorbildern neu zu definieren scheint, sich dabei aber implizit auch in ein Verhältnis zu den antiken Vorbildern setzt. 5 Ein gattungsspezifischer ›Sonderweg‹ einiger eher unbedeutender, französischer Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts – so fragt man sich –, die sich bewusst von antiken mythologischen Denkschemata lösten, um sich von den großen französischen Tragödiendichtern der Zeit wie Corneille oder Racine abzuheben? Doch wie erklärt sich dann die Stoffwahl eines Jean de Racine, der diesen ›Sonderweg‹ ebenfalls wählte, indem er mit seiner Tragödie Bajazet (1672) zu einem ›modernen‹ Stoff griff?

I. Der Forschungsgegenstand: Die tragédie à sujet moderne Der Terminus der tragédie à sujet moderne bezeichnet einen französischen Tragödientypus, der im Unterschied zur tragédie antique/mythologique seine Stoffe nicht aus der griechisch-römischen Antike oder Mythologie schöpft, sondern wie bereits erwähnt, aktuelle politische Ereignisse der Zeit oder Themen der näheren Vergangenheit aufgreift und zum dramatischen Stoff verarbeitet. Diese Abgrenzung ist insofern bedeutsam, als die beiden Tragödientypen in der Forschung bislang nicht in einer festen Begrifflichkeit nebeneinander stehen bzw. bestehen konnten, heißt es doch in _____________ 5

Die folgenden Ausführungen basieren auf Forschungsergebnissen, die im Rahmen eines bilateralen Dissertationsprojekts (Cotutelle) der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und der Université de Paris IV-Sorbonne entstanden und in französischer Sprache erschienen sind. Vgl. Postert (2010).

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einem der Referenzwerke zur französischen Tragödie aus dem Jahr 1996 bezüglich des Tragödienstoffs: […] le sujet [de la tragédie] […] pour revêtir une pleine dignité[…] doit avoir la garantie de l’histoire ou de la légende antiques [….] Le recours à l’histoire moderne est exceptionnel, sauf au XVIIIe siècle. 6

Der Tragödienstoff solle also, um seine ganze Würde zu entfalten, aus der antiken Geschichte oder Mythologie stammen. Die Bezugnahme auf Stoffe der näheren Vergangenheit, auf die histoire moderne sei mit Ausnahme des 18. Jahrhunderts außergewöhnlich (»exceptionnel«), wie Rohou hier erklärt. Besonders die französische Renaissancetragödie – Vorläufer des französischen Dramas der Klassik – lebte von der Nachahmung italienischer Vorbilder (z. B. Trissino, Sofonisba, 1524), insbesondere jedoch von der Nachahmung antiker Modelle, wie das eines Seneca. So ist es verständlich, dass eine Tragödienform das französische Theater beherrschte, welche sich in formal-struktureller (Fünf-Akte-Schema, Prinzip der imitatio naturae, Umsetzung des Prinzips der vraisemblance) sowie in thematischer Hinsicht auf die Autorität der Antike berufen konnte, stellte doch die Darstellung menschlicher Leidenschaften und ihrer Folgen sowie die politische Dimension der Tragödiengattung, deren Gegenstand seit der Antike niemals nur von privaten Schicksalen und Schuldfragen dominiert war, sondern ebenso politische, das öffentliche und allgemeine Interesse betreffende Fragen diskutierte, das Fundament der französischen Tragödie dar. Vor diesem Hintergrund erscheint die Aussage Rohous als durchaus legitim und ist es nachvollziehbar, dass das Phänomen der tragédie à sujet moderne in der französischen Tragödienforschung marginalisiert wurde. Bis dato fand diese Tragödienform in den Standardwerken zum französischen Drama, wie z. B. von Jacques Morel, Jacques Truchet oder Christian Delmas, erstaunlicherweise keinerlei Erwähnung. 7 Die neueren Forschungen haben jedoch ergeben, dass zwischen 1550 und 1715 insgesamt 32 Tragödien nachweisbar sind, die ihre Stoffe aus aktuellen, politischen Ereignissen der Zeit bzw. aus der näheren Vergangenheit schöpfen. 8 Es wird also deutlich, dass das Phänomen der tragédie à sujet moderne durchaus existiert und seinen Platz in der Forschung einfordert, auch wenn wir es im 16. und 17. Jahrhundert in Frankreich mit einer insgesamt sehr reichen Theaterproduktion zu tun haben. Der Begriff ›modern‹ bzw. der Begriff der histoire moderne, wie er im Folgenden verwendet wird, basiert auf der Definition der Encyclopaedia Universalis, welche – der communis opinio folgend – den Beginn der Moderne im Jahr 1492 (mit der Entdeckung Amerikas) ansetzt. 9 Die Zusammenstellung des Tragödienkorpus folgte im Wesentlichen dieser Periodisierung. 10 _____________ 6 7 8 9 10

Rohou (1996), 127. Vgl. Delmas (1994), Morel (1964), Truchet (1997). Postert (2010). Vgl. Artikel »modernité« der Encyclopaedia Universalis (1994), corpus 15, 552. Die Tragödie Anne de Bretagne (1678) von Louis Ferrier de la Martinière weicht geringfügig von dieser zeitlichen Schablone ab, da die Hochzeit Annes im Jahre 1491 stattfand. Da dieses Stück je-

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Kirsten Postert

Was den Stand der Forschung betrifft, so sollen hier nur einige wenige Werke Erwähnung finden, die für den Untersuchungsgegenstand von besonderer Bedeutung sind. 11 Wie bereits erwähnt existiert bis dato keine Studie, die die Tragödienform der tragédie à sujet moderne in seiner Gesamtheit in den Blick nimmt. Es wurde zunächst zur tragédie nationale geforscht, d. h. zu Dramen, die ihre Stoffe aus der Geschichte Frankreichs schöpfen. Diese Untersuchungen primär diachronischer Prägung wiesen eher die Form eines ›Inventars‹ als einer literaturwissenschaftlichen, gattungsspezifischen Untersuchung auf. 12 Ein nennenswertes Werk für das 16. Jahrhundert stellt hingegen die Dissertation von Louis-Georges Tin (2003) dar, welche sich mit einer besonderen Tragödienart beschäftigt, die sich die französischen Religionskriege zum Thema macht. Es handelt sich dabei um Stücke, die zu Vehikeln propagandistischen Gedankenguts wurden und somit in literaturwissenschaftlicher Hinsicht eher einem politischen Pamphlet als einer Tragödie antiker Tradition glichen. Ein zweiter Forschungsbereich wird vor allem von Jane Conroy (1999) repräsentiert. In ihrer Studie Terres tragiques greift sie die Ergebnisse Ascolis (1930) auf – ein bis heute geltendes Referenzwerk zum Thema – und bezieht sie in ihre eigenen Ausführungen zur französischen Tragödie mit englischen Stoffen ein. Die dritte Kategorie von Untersuchungen widmet sich türkischen Stoffen der französischen Tragödie. Es existiert bislang jedoch keine umfassende Studie zu diesem Teilbereich. 13 Das Werk Longinos mit dem Titel Orientalism in French Classical Drama lässt zwar zunächst vermuten, es handle sich dabei um eine exhaustive Studie. Allerdings werden hier nur wenige, bereits bekannte Stücke wie z. B. Racines Bajazet exemplarisch untersucht. 14 Wie der kurze Abriss der einschlägigen Forschungsliteratur sowie die Zusammenstellung des Tragödienkorpus zeigen, favorisiert die tragédie à sujet moderne insgesamt drei stoffliche Kategorien: die französischen, englischen und türkischen Stoffe.

II. Geschichte und Tragödie – Dramatische Transformationen ›nationaler‹ Ereignisse Wenn Aristoteles im neunten Kapitel seiner Poetik Geschichte und Geschichtsschreibung deutlich von der Dichtkunst abgrenzt und dies von französischen Theoretikern wie D’Aubignac, in ähnlicher Manier fortgeführt wird, so sollte die Rolle der tragédie à sujet moderne in ihrer Beziehung zur Geschichte einer eingehenden Reflexion unterzogen werden, geht es doch bei diesem Tragödientypus nicht nur um ein Dra_____________ 11 12 13 14

doch ein bedeutendes Préface des Autors besitzt, in dem die ›Modernität‹ des gewählten Stoffs explizit erwähnt wird, wurde es in das Korpus aufgenommen. Für detailliertere bibliographische Hinweise vgl. Postert (2010). Brenner (1929/30), Breitholtz (1952), Daniel (1964). Eine Dissertation (Les Tragédies à sujet turc des XVIe-XVIIe siècles) von David Chataignier ist an der Université de Paris IV-Sorbonne in Vorbereitung. Vgl. auch Chataignier (2009). Longino (2002).

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ma, dessen Handlung sich in einer bestimmten Epoche abspielt, sondern um ein Drama, das politische Ereignisse – d. h. Geschichte selbst – erst hat entstehen lassen, wie dies in besonderem Maße die französischen Religions- und Bürgerkriege des 16. Jahrhunderts verdeutlichen. Wie eine Chronik reihen sich die Tragödien zu diesem dunklen Kapitel der französischen Geschichte aneinander, wobei zu bemerken ist, dass eine Vielzahl der Werke mit geringer zeitlicher Distanz zum Geschehenen entstanden sind, so z. B. die von einem anonymen Verfasser stammende Tragédie du sac de Cabrières – vermutlich verfasst um 1566/68 –, welche das Massaker an den Waldensern im Lubéron (1545) zum Thema hat, oder die Tragédie de feu Gaspard de Coligny von François de Chantelouve (wahrscheinlich vor 1574 verfasst und 1575 publiziert), die die Ermordung Colignys vor dem Hintergrund der Bartholomäusnacht (1572) dramatisch transformiert. Es folgen einige Dramen-Umsetzungen politischer Morde, wie z. B. die Ermordung Heinrichs III. durch Jacques Clément in der Tragödie Cléophon (1600) von Jacques de Fonteny, in der die Akteure unter einem onomastischen Deckmantel agieren, oder die Ermordung Heinrichs IV., welche Claude Billard de Courgenay noch im selben Jahr des Ereignisses den geeigneten Stoff für seine Tragédie sur la Mort du Roi Henri le Grand (1612 publiziert) lieferte. 15 Die Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und Literatur wird so in einer neuen Form aufgeworfen, welche an den Grundfesten der in Frankreich vorherrschenden Regelpoetik gewaltig zu rütteln beginnt. Die mangelnde zeitliche Distanz zum behandelten, noch nicht ›historisch‹ gewordenen Stoff, d. h. die Modernität und Aktualität der Tragödien, im Gegensatz zu den klassischen Werken antiker mythologischer Prägung spielt dabei eine wesentliche Rolle. Die folgende Gegenüberstellung einer aus dem neunten Kapitel der aristotelischen Poetik stammenden Passage mit der sog. Fin de l’Auteur Richard Jean de Nérées aus Le Triomphe de la Ligue (1607) soll die Problematik veranschaulichen. So schreibt Aristoteles : […] Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, dass sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt […]; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, dass der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. 16

Der griechische Philosoph differenziert hier deutlich zwischen Geschichte bzw. Geschichtsschreibung und Dichtung, sage doch der Historiker, was real stattgefunden habe, und der Dichter, was sich ereignen könnte. Das ›Einzelne‹, Spezielle, gehöre dann in den Bereich der Geschichte, das ›Allgemeine‹ in den Bereich der Dichtung. Dementgegen steht die Fin de l’Auteur Nérée, die Hinweise zur Intention seines Werkes gibt: Mon dessein n’a pas esté En ce mien petit ouvrage,

_____________ 15 16

Vgl. die weiteren, hier nicht aufgeführten Stücke des Tragödienkorpus, in: Postert (2010), 95–104. Aristoteles, Poetik, 1451a–1451b.

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Kirsten Postert D’habiller la vérité D’un magnifique langage: Mais bien de dire à nos fils, Ce que nos Peres en France Ont dit, fait, souffert iadis Pour en eviter l’offense. 17

Nérée sieht es nicht als seine Aufgabe an, die »vérité« (»historische Wahrheit«) – gemeint sind die historischen Ereignisse – in eine »wunderbare Sprache« zu kleiden, was darauf hindeutet, dass es ihm bei seinem Werk nicht um reine Dichtung geht. Vielmehr stehen bei ihm die historischen Ereignisse selbst im Vordergrund und damit auch der Wunsch, diese für die Nachwelt festzuhalten (»Mais bien de dire à nos fils […]«). Man könnte von historiographischen Intentionen sprechen, die nicht nur Nérée, sondern auch andere seiner Zeitgenossen verfolgten. Denn nicht nur in den Paratexten finden sich derartige Hinweise, sondern auch im dramatischen Text selbst, einigen Figuren in geschickter Art in den Mund gelegt: Geschichte und Literatur, Geschichte und Tragödie werden eng miteinander verwoben, bisweilen sogar gleichgesetzt, so dass Geschichte zur Tragödie wird oder Tragödien Geschichte werden. 18 Dies spiegelte sich bereits in der Tragödie La Guisiade (1589) von Pierre Matthieu wider, welche die Ermordung des Herzogs von Guise am 22.12.1588 zum Thema hat. Im Vorwort heißt es: »Le Poète dresse le théâtre de cette histoire«, 19 ein erneuter Verweis auf die Verbindung zwischen dem für uns historischen Ereignis und dessen dramatischer Umsetzung. Dieses Stück hat im Vergleich zu den anderen Tragödien unseres Korpus noch eine weitere Besonderheit: eine jeder Szene vorgeschaltete Beschreibung der historischen Vorgänge in Prosa. Die Funktion eines solchen argument wird bei der Lektüre des Stücks sofort deutlich: Es betont den historischen Charakter des Werks, indem Details vorgeschaltet werden, die in einer klassischen Tragödie keinen Platz fänden. Auf diese Weise wird das Vorgehen des Autors transparent. Er führt dem Rezipienten zunächst die historischen Ereignisse in komprimierter Prosa-Form vor Augen, bevor er diese dann in die Form des Dramas einpasst. So werden Ereignisse nicht nur dramatisch, also mimetisch, sondern auch, im engeren Sinn ›vermittelnd‹, ›erzählt‹. 20 Die französische Renaissance-Tragödie mit ihrer linearen Struktur musste sich für Matthieu dabei besonders angeboten haben, da er ähnlich einem Geschichtsschreiber die Chronologie der Ereignisse bei der Verteilung auf Szenen beibehalten konnte. Geschichte wurde so in eine Dramen-›Schablone‹ eingepasst. In dieser Hinsicht überrascht es auch nicht, wenn die Zeit im Drama sich über mehrere Monate erstreckt und die Einheit der Zeit, wie in der französischen Regelpoetik gefordert, nicht eingehalten _____________ 17 18 19 20

Nérée, Triomphe de la Ligue (Fin de l’Auteur). Vgl. hierzu die Passage aus Charles Regnaults Marie Stuard (V, 4): »On fait d’une Princesse un spectacle d’horreur,/ Une exécution sacrilège et funeste / Un autel de Buzire, un repas de Thyeste […] / Et cette Isle a servy par nostre perfidie, / De Theatre sanglant à cette Tragedie.« Mathieu, Vorwort zu La Guisiade. Nünning/Sommer (2002), 105 f.

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wird. Einmal mehr hinterlässt dies bei uns den Eindruck, es eher mit einem Geschichtswerk als mit Dichtung zu tun zu haben. Aber vielleicht ist dies nicht allzu verwunderlich, wenn man bedenkt, dass wir es bei dem Tragödienschreiber Matthieu mit einem späteren Historiker zu tun haben, dem offiziellen Historiographen Heinrichs IV. Betrachtet man aus heutiger Sicht die Tragödienproduktion in ihrer Gesamtheit, so wurde das Frankreich der Religions- und Bürgerkriege des 16. und des beginnenden 17. Jahrhunderts in einer Chronik der besonderen Art, einer »chronique théâtralisée« 21 festgehalten – einer Chronik also, in der Geschichte in Form eines oder mehrerer Dramen erzählt wurde.

III. England und der Orient – fremde Welten zeitlich nah […] Combien que les piteux desastres advenus nagueres en la France par nos Guerres civiles, fussent si grands […] qu’il ne faudrait ja d’autre chose pour faire des Tragedies: ce neantmoins pour n’en estre du tout le propre subject, et pour ne remuer nos vieilles et nouvelles douleurs, volontiers je m’en deporte, aimant trop mieux descrire le malheur d’autruy que le nostre […]. 22

Auch wenn Jean de La Taille sich in seiner Schrift De l’Art de la tragédie bewusst von der Wahl nationaler Stoffe, wie sie die Ereignisse der französischen Bürgerkriege zuhauf lieferten, distanzierte, hatten sich nichtsdestotrotz einige Autoren – wie eben beschrieben – auf die Herausforderung eingelassen, die eigene Vergangenheit dramatisch umzusetzen. Um den Forderungen der sog. bienséance (Angemessenheit), einer der wichtigsten Richtlinien der französischen Regelpoetik, Genüge zu tun, hatten sich manche Theaterschreiber entschieden, die Hauptakteure der dargestellten Ereignisse onomastisch zu verfremden, um einer etwaigen Brüskierung bedeutsamer Persönlichkeiten der betreffenden Herrscherdynastie vorzubeugen; so etwa der bereits erwähnte Jacques de Fonteny, der die Namen der Figuren in seinem Stück Cléophon hellenisierte, was der tragédie moderne ein gewisses Maß an antiker Couleur beschied. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass es dem gebildeten Publikum eine besondere Freude war, hinter den hellenisierten Namen die wahren Akteure der historischen Ereignisse entlarven zu können. 23 Allerdings zeigten die Forschungen auch, dass es eine größere Anzahl von Autoren vorzog, im Sinne La Tailles lieber »das Leid anderer« als das eigene darzustellen (»[…] aimant trop mieux descrire le malheur d’autruy que le nostre […]«). Aus welchem Grund jedoch – so fragt man sich – schöpften die Autoren ihre Stoffe gerade aus der näheren Vergangenheit Englands und des Osmanischen Reiches? Hätten nicht auch die Ereignisse anderer Staaten ausreichendes historisches Material für eine Tragödie liefern können? _____________ 21 22 23

Postert (2010), 95. La Taille, De L’Art de la tragédie, 2 f. Vgl. Biet (2006), 884 f.

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Bei den englischen Stoffen übte die Dynastie der Tudors eine ganz besondere Faszination aus, vor allem wenn es um das Schicksal der Maria Stuart ging. Ihre lange Gefangenschaft und ihre Enthauptung im Jahre 1587 erhitzten die Gemüter nicht nur in England, sondern auch in Frankreich. 24 Von den insgesamt acht Tragödien mit englischen Sujets sind drei zu Maria Stuart entstanden (Anthoine de Montchrestien, L’Escossoise ou le Désastre 1601/1604; Charles Regnault, Marie Stuard, Reyne d’Ecosse 1637; Edme Boursault, Marie Stuard, Reyne d’Ecosse 1683), drei zu einer weiteren Themenserie, dem Grafen von Essex (La Calprenède, Le Comte d’Essex 1637/38; Thomas Corneille, Le Comte d’Essex 1678; Claude Boyer, Le Comte d’Essex 1678), sowie ein historischer Stoff zu Jane Grey, Königin für nur 9 Tage im Jahr 1553 und Rivalin von Mary Tudor – ein Stoff, der in der Tragödie La Calprenèdes mit dem Titel Jeanne, reyne d’Angleterre (1636/37) verarbeitet wurde. Eine Sonderstellung besitzt das Werk von Jean Puget de la Serre, Thomas Morus (1641/42), da es zwischen politischer und religiöser Thematik oszilliert. Allerdings ist der blutig grausame Grundtenor aller Stücke nicht zu leugnen, da die Enthauptung der historischen Personen zum Bühnenszenario verarbeitet wurde. Bei den türkischen Stoffen war es in erster Linie die Regierungszeit Süleymans I. »des Prächtigen«, »des Großen«, die eine gewisse Anziehungskraft ausübte. Es entstanden Werke von Gabriel Bounin, La Soltane 1553; Pierre Mainfray, La Rhodienne ou la cruauté de Soliman 1621; Jean Mairet, Le Grand et dernier Solyman ou la mort de Mustapha 1637/38. Es wurden jedoch auch andere Herrscherpersönlichkeiten auf die Bühne gebracht, wie z. B. Osman (1646), von Tristan L’Hermite (Ermordung des Sultans Osman II. im Jahre 1622). Das bekannteste Stück ist wohl Bajazet (1672) von Jean de Racine, das eine Episode aus der Regierungszeit Murads IV. (1623–40) behandelt. Die modernen Stoffe aus der Geschichte Englands oder gar des fernen Orients erscheinen so neben den traditionellen antiken oder mythologischen Stoffen der französischen Theaterproduktion. An die Stelle eines Caesar oder Augustus treten nun andere Persönlichkeiten wie die einer Maria Stuart, einer Königin Elisabeth oder die eines osmanischen Herrschers wie Osman. Blutige Feindseligkeiten innerhalb der eigenen Familie, Brudermorde, exzessive Leidenschaften, die zur Tötung des eigenen Geliebten führten sowie politische Machtkämpfe, welche von persönlichen Interessen geleitet ein tragisches Ende fanden, gehörten ebenso wie bei den antiken oder mythologischen Tragödien zur stofflichen Basis der tragédie à sujet moderne . Die Problematik der mangelnden zeitlichen Distanz, die ein neueres Sujet mit sich brachte, und die damit verbundene Sorge der Theaterschreiber, mit ihrem modernen Stoff eventuell den Misserfolg ihres Stückes zu provozieren, blieb jedoch bestehen. Louis Ferrier de la Martinière hatte dies im Vorwort zu seiner Tragödie nationaler Prägung Anne de Bretagne (1678) wie folgt reflektiert: […] La nouveauté du sujet lui a attiré bien des censeurs, et j’ai été surpris de voir qu’elle n’ait point plû à de certains gens, par l’endroit même où je croyais qu’elle devait plaire le plus. Ils ont dit que notre Histoire était mal propre à nous fournir des sujets de Tragédie,

_____________ 24

1548 verlobt sie sich mit dem Dauphin, 1558 heiratet sie ihn, und im Jahre 1559 wird sie französische Königin.

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qu’il fallait mener le spectateur dans un pays éloigné, remplir son oreille par des noms plus pompeux, lui imposer et éblouir en quelque façon […]. 25

So habe der neue Stoff dem Stück viel Kritik eingebracht, denn – so einige Kritiker – es wäre besser gewesen, den Zuschauer in ein fernes Land zu führen und sein Ohr mit allerlei »kunstvollen Namen« zu erfreuen, anstatt die Geschichte des eigenen Landes erzählt zu bekommen. Ziehen wir noch Racines Vorwort zu seiner Tragödie Bajazet hinzu, so wird klar, worin für die französischen Autoren der Reiz des Fremden und Andersartigen bestand, und wie schließlich ein türkischer Herrscher an Stelle eines Caesar oder Augustus in einer französischen Tragödie gerechtfertigt wurde: […] L’éloignement des pays répare en quelque sorte la trop grande proximité des temps. Car le Peuple ne met guère de différence entre ce qui est, si j’ose ainsi parler, à mille ans de lui, et ce qui en est à mille lieues. C’est ce qui fait par exemple que les personnages Turcs quelque modernes qu’ils soient ont de la dignité sur notre Théâtre. On les regarde de bonne heure comme Anciens. 26

Man kompensierte also die mangelnde zeitliche Distanz mit einer größeren räumlichen Entfernung, da, so Racine, die Zuschauer keinen Unterschied sähen, ob sich etwas vor 1000 Jahren oder aber 1000 Meilen von ihnen entfernt abspielte. In diesem Sinne seien also auch türkische Figuren der französischen Tragödie würdig. Denn man betrachte sie sehr schnell als Figuren aus längst vergangenen Zeiten. Die drückende Enge des Serails sowie die grausamen Machenschaften der osmanischen Herrscherfamilien mit ihren skrupellosen Intrigen und Machtspielen stellten für die französischen Theaterschreiber den Inbegriff des Tragischen dar. Aus heutiger Sicht könnte man sicherlich einwenden, dass die räumliche Distanz auf den Orient zutreffe, jedoch in keinster Weise auf Frankreichs Nachbarn England, das nicht annähernd so weit entfernt ist wie das Osmanische Reich. Doch aus der damaligen Perspektive der Franzosen besaß auch England diesen fremdartigen Charakter, nicht nur durch sein ›seltsam anmutendes‹ politisches System des ›king in parliament‹, welches zudem von weiblichen Personen dominiert wurde, sondern auch durch die Bewohner des Landes, die sogenannten ›insulaires‹ (Inselbewohner), die von viel Wasser umgeben und abgeschottet von der übrigen Welt ihren Leidenschaften ausgeliefert seien. 27 Der geschlossene Raum des Serails in den türkischen Tragödien oder der des Kerkers in den englischen lieferten den Autoren den tragischen Ort par excellence, dem keiner der Figuren entfliehen kann. Hinter der Fassade großer Machtpolitik, der ›offiziellen Geschichte‹, und eingebettet in die tragische Sphäre dieses räumlichen Vakuums wurden kleinere Geschichten erzählt, in denen es um menschliche Leidenschaften und Abgründe ging. Geschichte und Geschichten vermischen sich so zu einem tragischen Bild, transformieren sich zu einer tragischen Idee: fremd, anders, fern – aber zeitlich nah. _____________ 25 26 27

Ferrier, Vorwort zu Anne de Bretagne. Racine, Vorwort zu Bajazet. »Les insulaires, séparez du reste des hommes […]«, Rapin, Réflexion sur la poétique, S. 103.

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Diese gegenseitige Durchdringung von Geschichte und Geschichten in der französischen Theaterproduktion des 17. Jahrhunderts deutet auf einen entscheidenden Wandel in der Stoffwahl des 17. im Vergleich zum ausgehenden 16. Jahrhundert hin. Die politische Brisanz, die sich in noch recht unverhüllter Manier in den propagandistischen tragédies d’actualité widerspiegelte, sucht man im 17. Jahrhundert vergeblich. Stattdessen stehen tragische Liebesgeschichten im Vordergrund. Man interessierte sich mehr für die Histoire secrète, d. h. für die Geschichte, die sich hinter den großen politischen Ereignissen abspielte, die jedoch gleichzeitig mit eben diesen unzertrennbar verwoben war. 28 Die Schwerpunktverlagerung hin zu Geschichten ist jedoch kein reines Phänomen der Dichtung. Ein Blick in die Geschichtswerke des 17. Jahrhunderts genügt (z. B. Mézeray), um sich darüber klar zu werden, dass auch die französische Historiographie dieser Epoche ein Sammelsurium von Geschichten darstellt. Nicht umsonst wählte man in der Forschung dafür den Begriff der histoire romancée (d. i. Geschichte, die einem Roman gleicht). Aus heutiger Sicht und im Kontext dieses Bandes kann diese histoire romancée als frühes Zeugnis eines transgenerischen Narrativitätsbegriffs aufgefasst werden, 29 denn im 17. Jahrhundert wurden in Geschichtswerken, in historischen Novellen als auch in Dramen Geschichten erzählt. Was die Umsetzung des modernen Stoffs angeht, so wurde bereits erwähnt, dass die tragédie à sujet moderne formal stark von antiken mythologischen Narrativen beeinflusst blieb: Das Schema der fünf Akte blieb weitgehend erhalten, Prolog und Epilog als narratives, das historische Ereignis nochmals reflektierendes Element fanden sich ebenso in der tragédie à sujet moderne wie in der klassischen Renaissance-Tragödie des 16. Jahrhunderts. Die Abhängigkeit der dramatischen Figuren von göttlichen bzw. schicksalhaften Mächten, die durch konkrete Prophezeiungen oder kleinere Vorausdeutungen das Schicksal der Menschen zu beeinflussen suchten, blieb ebenfalls formal angelegt, transformierte sich jedoch zu einer Abhängigkeit der dramatischen Figuren vom unabänderlichen Lauf der Historie, auch wenn diese durch einen Traum – wie beispielsweise im Falle der Ermordung Osmans (Tristan L’Hermite, Osman, 1646/47?) – von Beginn des Stücks an in unverhüllter Manier vorausgesagt wurde. So wenden sich die Figuren der Tragödie nicht an Götter, Propheten oder an eine göttliche Macht, um ihr Schicksal zu rechtfertigen, sondern blicken beinahe rational auf die Geschichte selbst, deren handelnde Subjekte sie sind. Dies verdeutlicht die Schwester des Sultans in der ersten Szene des fünften Akts: »[…]L’Histoire te conseille et si tu la contemples, / Beaucoup de tes aїeux te fourniront d’exemples / Qui, s’étant mal conduits ou s’étant mal gardés, / Par ces soldats mutins ont été dégradés […].« 30 Wie dieses Beispiel zeigt, entstehen – ohne vollständige Aufgabe antiker Traditionen – Transformationen innerhalb der Tragödiengattung, die dem gewählten historischen Stoff verpflichtet sind. _____________ 28 29 30

Vgl. die historischen Novellen der Mme de Villedieu und das Genre der Memoiren, wie z. B. die Memoiren des Cardinal de Retz. Vgl. Nünning/Nünning (2002). Tristan L’Hermite, Osman (V, 1).

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Sicherlich war es diese formale ›Schablone‹, die mit dazu beigetragen hat, dass es in der französischen Theaterproduktion des 16. und 17. Jahrhunderts immerhin 32 Tragödien dieser Art gegeben hat. Die Autoren bewegten sich trotz stofflicher Neuheit innerhalb eines fest etablierten, von der Allgemeinheit anerkannten Rahmens. Ein Schema der Dichtung, das, wie Aristoteles im neunten Kapitel seiner Poetik sagte, vor allem der philosophischeren Ebene des »Allgemeinen« und nicht so sehr des ›Besonderen‹, verschrieben war. Betrachtet man jedoch die Texte etwas näher, so fällt auf, dass Dichtung und Geschichtsschreibung bei dieser Tragödienart eben nicht eindeutig zu trennen sind. Denn um die zeitliche Nähe des Erzählten mit einem gewissen Maß an ferner Exotik, Fremdheit und Andersartigkeit zu kompensieren, sind Bilder nötig, die aufgrund von Sprache in den Köpfen des Publikums entstehen. So kann man in den Stücken mit englischen und türkischen Stoffen ein dem jeweiligen tragischen Ort entsprechendes Vokabular ausmachen (Diamanten, Prunk, Dolche, besondere Personen mit ihren Funktionen am Hof des Sultans in den türkischen Tragödien, eine verstärkte Bearbeitung der insulären Isolation in den englischen Tragödien 31), welches eine für das Publikum ferne und fremde Welt evoziert. Es entsteht ein Kommunikationsmodell, das das ›Allgemeine‹ mit dem ›Besonderen‹ zu vereinen sucht. Neben sprachlich-literarischen Gemeinplätzen einer Tragödie antik-mythologischer Couleur finden sich somit Passagen eines eindeutigen Lokalkolorits. Kennt man die Quellen, aus denen die Autoren ihre Stoffe schöpften, so verwundert es nicht, wenn man teilweise den Eindruck hat, Passagen eines großen Geschichtswerkes in Versform vor sich zu haben oder Informationen der Reiseberichte aus dem Orient in der Tragödie verarbeitet zu sehen. Dass bei dieser Verschmelzung teilweise Geschichte neu erzählt oder entsprechend einer bestimmten Kommunikationsabsicht auch umerzählt wird, dass dabei ein anderer, neuer Sinn entsteht, macht das Besondere dieser Tragödien aus. Je nach Ziel und Intention der Autoren, finden sich mal mehr, mal weniger starke Umdeutungen der vérité der sogenannten ›historischen Wahrheit‹. Wie dehnbar und relativ dieser Begriff insbesondere vor dem Hintergrund der histoire romancée ist, muss an dieser Stelle nicht mehr weiter ausgeführt werden.

IV. Versuch einer Bilanz Paradoxerweise bildeten antike mythologische Vorbilder die Basis für die thematisch-stoffliche Ausdifferenzierung der literarischen Gattung Tragödie. Modernität und Aktualität entspringen hier der Transformation von Antike(m), ein Prozess, der die Entwicklung einer eigenen dramatischen Untergattung der Tragödie – der tragédie à sujet moderne – bedingt. Aus der mangelnden zeitlichen Distanz zum Geschehenen konnten fremde und andersartige Geschichten im 17. Jahrhundert überhaupt erst entstehen und ihre eigene Sinnhaftigkeit entfalten. Je aktueller der Stoff, desto _____________ 31

Topos der ›île fatale‹.

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schwieriger und problematischer waren die Kompensationsversuche und Mediationsprozesse der zeitlichen Nähe. Je nach Intention der Autoren und je nach Publikumsgeschmack wechselten die ästhetischen Schwerpunkte der Gattung von stark politisch-propagandistisch, über blutig-grausam bis hin zu romanhaft-sentimental. So unterschiedlich die tragédie à sujet moderne sich auch präsentierte, eines ist allen Ausprägungen gemeinsam: die gegenseitige Durchdringung von ›Allgemeinem‹ und ›Besonderem‹, von Dichtung und Geschichtsschreibung, von Geschichte und Geschichten.

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Autorenverzeichnis PATRICK BAKER is the 2012–2013 Lily Auchincloss Post-Doctoral Fellow in Renaissance and Early Modern Italian Studies at the American Academy in Rome and a Senior Research Associate in History at the Humboldt-Universität zu Berlin. His primary research interests include Renaissance humanism, the reception of the classical tradition, and historiography. A revision of his 2009 dissertation »Illustrious Men: Italian Renaissance Humanists on Humanism« will appear in 2014 under the title Humanism through the Looking Glass. TATJANA BARTSCH: 1997–2000 Projektassistentin an der Bundeskunsthalle Bonn. 2000–2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am »Census of Antique Works of Art and Architecture Known in the Renaissance« und 2005–2008 am SFB 644 »Transformationen der Antike«. 2009 wissenschaftliche Koordinatorin am Excellence Cluster 264 »TOPOI – The Formation and Transformation of Space and Knowledge in Ancient Civilizations«. Promotion 2010 (Die römischen Studien Maarten van Heemskercks zwischen Sachlichkeit und Imagination, Humboldt-Universität zu Berlin). 2009–2011 Leiterin der Mediathek am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit Mai 2011 stellvertretende Leiterin der Fotothek der Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte Rom. Forschungsschwerpunkte und Publikationen zur Antikenrezeption in Mittelalter und Renaissance, zu italienischen und niederländischen Zeichnungen des 16. Jahrhunderts sowie Bildarchiven und geisteswissenschaftlichen Forschungsdatenbanken ASAPH BEN-TOV: Studium der Geschichte und Altphilologie an der der Hebräischen Universität, Jerusalem. 2007 Promotion. Seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Ausgewählte Publikationen: Lutheran Humanists and Greek Antiquity (2009), Knowledge and Religion in Early Modern Europe: Studies in Honor of Michael Heyd, hg. mit Yaacov Deutsch und Tamar Herzig (2013). MARTIN CLAUSS lehrt als akademischer Oberrat auf Zeit Mittelalterliche Geschichte an der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem auf der mittelalterlichen Historiographie und dem mittelalterlichen Krieg. Zu seinen Werken zählen: Kriegsniederlagen im Mittelalter. Darstellung – Deutung – Bewältigung (2010) und Die Untervogtei. Studien zur Stellvertretung in der Kirchenvogtei im Rahmen der deutschen Verfassungsgeschichte des 11. und 12. Jahrhunderts (2002).

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BIRGIT FRANKE: Magister 1991, Promotion 1995 (Assuerus und Esther am Burgunderhof. Zur Rezeption des Buches Esther in den Niederlanden 1450–1530, 1998). Zahlreiche weitere Veröffentlichungen zur niederländischen und deutschen Kunst des 15.–17. Jahrhunderts, besonders Tapisserie. BENT GEBERT: 2001–2007 Studium der neueren deutschen Literaturgeschichte, älteren deutschen Literatur und Sprache sowie der Philosophie in Freiburg i. Br. und Oxford. 2007–2012 Assistent am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. 2011 Promotion (Mythos als Wissensform. Studien zur Epistemik und Poetik des Trojanerkriegs Konrads von Würzburg, 2013). Seit 2012 Juniorprofessor für deutsche Literatur mit Schwerpunkt Mittelalter an der Universität Konstanz. ANNA HEINZE studierte Kunstgeschichte, mittelalterliche Geschichte und Kommunikationswissenschaften in Bamberg und Berlin. Seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 644 »Transformationen der Antike« an der Humboldt-Universität zu Berlin. Promotion zur Genese des liegenden Frauenaktes in der Malerei der Renaissance. RONNY KAISER hat Lateinische Philologie und Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und arbeitet seit 2009 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 644 »Transformationen der Antike«. In diesem Rahmen schreibt er seine Dissertation zur humanistischen Kommentarliteratur zur Germania des Tacitus. HANS KÖRNER: 1977 Promotion und 1986 Habilitation an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Seit 1992 Lehrstuhlinhaber am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Mittelalterliche Grabmalskunst, spätmittelalterliche Druckgraphik, Malerei der italienischen Frührenaissance, französische Malerei und Kunstliteratur des 17. bis 20. Jahrhunderts, deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts, die Kunstgeschichte des Tastsinns, Ornamentgeschichte, Grenzbereiche der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, moderne Sakralkunst. KIRSTEN POSTERT studierte Romanistik und Geschichte an der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg und der Université de Paris IV-Sorbonne, promovierte im Rahmen eines bilateralen Dissertationsprojekts (Cotutelle Paris IV–Heidelberg) im Bereich des französischen Theaters des 16. und 17. Jahrhunderts. Titel der Dissertation: Tragédie historique ou Histoire en Tragédie? Les sujets d’histoire moderne dans la tragédie française (1550–1715) (2010). Freie Mitarbeiterin des Centre de Recherche sur L’Histoire du Théâtre (CRHT, Paris IV-Sorbonne) im Rahmen des Projekts »Molière 21«. Studienrätin an einem Gymnasium mit bilingualem Zweig in Bad Homburg. ALBERT SCHIRRMEISTER war nach einem Germanistik- und Geschichtsstudium an den Universitäten Freiburg/Br. und Bielefeld wiss. Mitarbeiter am Zentrum zur Er-

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forschung der Frühen Neuzeit der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. Anschließend Forschungsstipendien an der Universität Bielefeld, der »Maison des Sciences de l’Homme« in Paris und am MPIWG in Berlin. 2005–2012 wiss. Mitarbeiter am SFB 644 »Transformationen der Antike«. Seit März 2013 Senior Research-Fellowship M4HUMAN (Gerda-Henkel-Stiftung) an der EHESS Paris. Publikationen u. a.: Triumph des Dichters – Gekrönte Intellektuelle in der Frühen Neuzeit (2003). (Hg.) Zergliederungen – Anatomie und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit (2005); Medien und Sprachen humanistischer Geschichtsschreibung, hg. mit J. Helmrath und S. Schlelein (2009); Humanisten edieren. Gelehrte Praxis im Südwesten in Renaissance und Gegenwart, hg. mit S. Holtz und S. Schlelein (2013). MARKUS STOCK ist Associate Professor für Germanistik und Mittelalterstudien an der University of Toronto. Er ist der Verfasser eines Buches und zahlreicher Beiträge zur historischen Narratologie und zur Antikenrezeption in mittelalterlichen Alexanderepen sowie zur deutschen Liebeslyrik des Mittelalters. Seit 2010 leitet er ein vom kanadischen Social Sciences and Humanities Research Council gefördertes Projekt zu Spatial Practices in German Literature, 1150–1300. JULIA WEITBRECHT hat Skandinavistik, Ältere deutsche Literatur (HU Berlin) und Religionswissenschaft (FU Berlin) studiert. 2005–2012 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Berliner SFB 644 »Transformationen der Antike«. 2009 Promotion (HU). Seit 2013 Postdoc am Zentrum für Mittelalter- und Frühneuzeitstudien der Georg-August-Universität Göttingen. Veröffentlichungen: Askese und Identität (hg. mit Werner Röcke, 2010), Aus der Welt. Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters (2011), Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels (hg. m. Hartmut Böhme u. a., 2011).

Register Achill 31, 34, 36, 37, 57, 58, 117, 124, 153, 154, 155, 156, 157, 166, 168, 169, 199, 200, 201, 202, 204, 205, 207, 211, 212 Adalbert von Bremen, Ebf. 60 Adam von Bremen Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum 60 Adonis 184, 191 Aeneas 57, 58, 63, 66, 67, 146, 157, 199, 201, 202, 207, 209 Aëtion 208 Agamemnon 53, 57, 59, 68, 117, 153, 156 Ahasverus 161 Ajax 156, 157 Alberic Alexander 12, 13 Alberti, Leon Battista De pictura 198 Alexander II., Papst 57 Alexander III. der Große, Kg. v. Makedonien 129, 155, 169, 197, 199, 207 Alexanderroman Siehe Basler Alexander Siehe Historia de preliis Alexandri Magni Siehe Leo von Neapel, Archipresbyter Siehe Rudolf von Ems Siehe Straßburger Alexander Siehe Vorauer Alexander Siehe Walter von Châtillon Alexios Vranas 119 Amon 12, 13, 14, 16, 20 Amor 189, 190, 201, 202, 203, 205, 209, 210, 211, 212 Andromache 147, 154 Antaeus 147 Antenor 151, 157 Antilochos 156, 204 Antiope 181, 189 Antiphilus 235

Apollodor 206 Apollon 156 Aratos Himmelserscheinungen 234 Archipresbyter Leo Siehe Leo von Neapel Ariadne 187, 188, 189, 193 Aristoteles 158, 263 Nikomachische Ethik 148 Poetik 266, 267 Artaxerxes 130 Artus 147 Athene 204, 213 Atlas 127, 128, 135 Atticus, Titus Pomponius Liber annalis 88 Aubignac, Abbé d’ (François Hédelin) 266 La Pratique du théâtre 263 Augustinus v. Hippo 55, 244, 245, 249, 256 Augustus, Gaius Octavius, röm. Kaiser 57, 100, 101, 105, 106, 270, 271 Avellis, Francesco Xanto 203 Bacchus 184, 188 Barbaro, Daniele 227, 229 Barbaro, Francesco 86 Barberi, Jacopo de’ De ecelentia della pittura 198 Basler Alexander 13 Bebel, Heinrich Epitome laudum Sueuorum 95 Oratio ad regem Maximilianum 95 Benoît de Sainte-Maure 37, 154 Roman de Troie 36, 150, 162 Bèze, Théodore de Abraham sacrifiant 263 Bibbiena, Bernardo Dovizi da 206, 211 Billard de Courgenay, Claude Tragédie sur la Mort du Roi Henri le Grand 267 Birk, Xist (Sixt) 133, 134, 135, 138

282 Boccaccio, Giovanni 82 Bömmel, Wolfgang Hieronymus von 234, 236 Neu ersonnene Gold-Schmieds Grillen 234, 235 Bonnus, Hermann 122 Bonsignori, Giovanni 200 Borghini, Vincenzo 212, 213 Borgio, Cesare 159 Botticelli, Sandro 154 Bounin, Gabriel La Soltane 270 Boursault, Edme Marie Stuard, Reyne d’Ecosse 270 Boyer, Claude Le Comte d’Essex 270 Bruckh, Heinrich van den 232, 233 Brüder von Limburg 163 Brunelleschi, Filippo 158, 160 Bruni, Leonardo 75, 82, 84 Historia del popolo fiorentino 88 Caesar, Gaius Iulius 155, 270, 271 Bellum Gallicum 61 Calcagnini, Celio 184 Callot, Jacques 232 Calpurnius (Lucius C. Piso Frugi) 79 Candida, Giovanni 159 Canens 181 Caraglio, Jacopo 197, 208 Carion (Johann Nägelis) 121, 122, 123, 130 Carpi, Girolamo da 201 Casaubon, Isaac 134 Castellio, Sebastian 134 Castiglione, Baldassare Il libro del Cortegiano 235 Castor 36 Cato d. Ä. (Marcus Porcius C. Censorius) 79 Caxton, John 150 Cellini, Benvenuto 229 Celtis, Conrad Oratio in gymnasio Ingolstadio 94 Chantelouve, François de Tragédie de feu Gaspard de Coligny 267 Chastellain, Georges Complainte d’Hector 168 Chloris 188 Chrysoloras, Manuel 82, 83, 85

Register Chyträus, David 127, 129, 138 Cicero, Marcus Tullius 55, 57, 58, 69, 70 Brutus 79, 80, 87, 88 De finibus bonorum et malorum 60 De oratore 77, 81 Tusculanae disputationes 88 Clemens VIII., Papst 206 Clément, Jacques 267 Cochlaeus, Johannes Brevis Germaniae Descriptio 95 Coëvity, Meister von 150 Colombe, Jean 163 Colonna, Francesco Hypnerotomachia Poliphili 186, 189, 210 Comanini, Gregori 228, 229 Contarini, Gasparo 186 Corneille, Pierre 264 Discours du poème dramatique 263 Corneille, Thomas Le Comte d’Essex 270 Corpus Hermeticum 134 Correggio, Antonio da 189 Cortesi, Paolo 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88 De hominibus doctis 75, 76, 78, 80, 81, 82, 85, 87, 88 Crusius, Martin 118, 119, 120, 138, 139 Cupido Siehe Amor Curtius Rufus, Quintus Historia Alexandri Magni 12, 15, 16, 17, 19, 20 Custodis, Jakob 233 Cyriacus Pizzecolli (Cyriacus von Ancona) 158, 160, 162 Dante Alighieri 82, 85, 87 Dares Phrygius 118, 119 Darius III., pers. Großkg. 10, 11, 14, 15, 16, 17, 18, 22 David 133 Dente, Marco 186, 203, 211 Dietterlin d. J., Wendel 231 Diomedes 153, 157 Dionysos 204 Discordia 30, 31, 32 Dolce, Lodovico 198, 201, 207 Dialogo dei colori 191 Dialogo della pittura intitolato l’Aretino 197 Donatello 158

Register Doni, Antonfrancesco 229 Disegno 228, 229 Dossi, Dosso 179, 180, 181, 183, 185, 191 Dresser, Matthäus Isagoge historica 130 Drusus, Nero Claudius 103 Duchesne, André 64 Dürer, Albrecht 166 Ebstorfer Weltkarte 39, 146 Echo 181 Elisabeth I., Kgin. v. England 270 Endymion 188 Epistula Morbisani 119 Erechtheus 126 Este, Alfonso d’ 184 Este, Isabella d’, Mkgfin. v. Mantua 159 Este, Leonello d’ 158 Eugen IV., Papst 158 Eyck, Jan van 160, 166, 169 Fabius Pictor 79 Federigo da Montefeltro, Hz. v. Urbino 149, 159 Ferdinand I, Kg. v. Aragon u. Sizilien 149 Ficino, Marsilio 209 Filelfo, Francesco 86 Fiorentino, Rosso 229 Flavio, Biondo 75 Flavius Iosephus Siehe Josephus Floris, Frans 202 Florus, Lucius Annaeus 101, 102, 103, 104, 105, 106, 111 Epitome 101 Fonteny, Jacques de Cléophon 267, 269 Francesco II. Gonzaga, Mkgf. v. Mantua 159 Franz I., Kg. v. Frankreich 229 Funck, Johann 130 Chronologia 130 Galba, röm. Kaiser 247 Gaza, Theodoros 83, 86 Georg der Fromme, Mkgf. v. Brandenburg-Ansbach 92, 93 Georg von Trapezunt (Georgios Trapezuntios) 82 Ghiberti, Lorenzo 158 Giorgione 190

283 Giovio, Paolo Dialogus de viris et foeminis aetate nostra florentibus 88 Giraldi, Lilio De poetis nostrorum temporum 88 Giustiniani, Leonardo 83 Gottfried von Bouillon 145 Gottfried von Straßburg Tristan 43 Grenier, Jean 148 Grenier, Pasquier 148, 149 Guarino von Verona 82, 84 Gui von Amiens Carmen de Hastingae Proelio 51, 70 Guicciardini, Francesco 75 Guido delle Colonne Historiae destructionis Troiae 150 Hadrian, röm. Kaiser 158, 162 Harald II., Kg. v. England 52, 56, 57 Heemskerck, Maarten van 205, 210 Heinrich III., Kg. v. Frankreich 267 Heinrich IV., Kg. v. Frankreich 267, 269 Heinrich VII., Kg. v. England 149 Hektor 34, 36, 57, 58, 147, 153, 154, 155, 166, 168, 169 Hekuba 30, 31, 153, 154, 156, 157 Helena 36, 42, 43, 44, 151, 152, 153, 154, 251 Helmschmidt, Kolman 166 Hephaistos 198, 208 Heraclianus 60 Herakles/Herkules 37, 117, 118, 128, 147, 151, 166, 186 Herodot 79, 129 Hesiod 124, 127, 128, 135, 206 Werke und Tage 120 Hesione 151 Hieronymus 243 De viris illustribus 80 Historia de preliis Alexandri Magni 12, 18 Hobbes, Thomas Behemoth, or the Long Parliament 89 Holbein d. J., Hans 118 Homer 117, 118, 119, 127, 128, 132, 135, 139, 151, 158, 206, 207 Hymnen 199 Ilias 117, 118, 139, 150, 207 Odyssee 117, 118, 119, 120, 138, 139, 201, 207

284 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 197, 228 Hrabanus Maurus De laudibus sanctae crucis 234 Hupon le Grand 154 Hutten, Ulrich von 109 Panegyricus 108 Irenicus, Franciscus Germaniae Exegesis 95 Isabeau (Elisabeth) von Bayern 145 Jakob IV., Kg. v. Schottland 149 Janus Pannonius 83 Japheth 125, 126, 136 Jason 32, 147, 151 Jawan (Ion) 126 Jean Froissart Chroniques de France 145 Jeremias II., Patriarch v. Konstantinopel 138 Jeremias, Prophet 134 Jesaja, Pophet 134 Jesus 147 Johann von Valois, Hz. v. Berry (Jean le Magnifique) 147, 155, 162, 163 Johannes VIII. Palaeologus, byzant. Kaiser 158 John Mandeville 147, 161 Josephus (Flavius Iosephus) 125 Jugurtha 68 Jupiter 13, 16, 17, 20, 181, 189, 199, 202, 205, 211 Justin (Marcus Iuninus Iustinus) 55 Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis) 55 Satiren 55 Karl der Große, frk. Kg., Kaiser 122, 147 Karl I. der Kühne, Hz. v. Burgund 146, 149, 155, 159, 168 Karl IV., röm.-dt. Kaiser 145 Karl V., Kg. v. Frankreich 145 Karl V., röm.-dt. Kaiser 122 Karl VI., Kg. v. Frankreich 145 Karl VIII., Kg. v. Frankreich 149 Karl, Hz. v. Orléans 168 Kassandra 37, 157 Kleisthenes 129 Konrad von Ammenhausen Schachzabelbuch 243 Kosrau 161 Kreusa 126

Register Kublai Khan 161 La Calprenède, Gautier de Costes, sieur de Jeanne, reyne d’Angleterre 270 Le Comte d’Essex 270 La Taille, Jean de 269 De l’Art de la tragédie 269 Laktanz (Lucius Caelius Firmianus Lactantius) 133, 134, 135 Divinae institutiones 132 Landolfus Sagax Historia Romana 60 Lanzelot 147 Le Mersier 232 Lefèvre, Raoul Recueil des histoires de Troie 150 Leo von Neapel, Archipresbyter 14 Alexanderroman 11, 13, 14, 18 Leone Ebreo Dialoghi d’Amore 183 Leto, Pomponio 76, 82 Linos 128 Livius, Titus 79, 80, 245, 246, 248, 249, 250, 251, 253, 254, 257 Ab urbe condita 79, 243 Lomazzo, Giovanni Paolo 190 Longos Daphnis und Chloe 181 Lotto, Lorenzo 185 Lucan (Marcus Annaeus Lucanus) 55 Lucretia 168 Ludwig, Hz. v. Anjou 146, 147, 151 Lukian 197, 206, 207, 208 Luther, Martin 94, 118, 139 Machiavelli, Niccolò 75 Mainfray, Pierre La Rhodienne ou la cruauté de Soliman 270 Mairet, Jean Le Grand et dernier Solyman ou la mort de Mustapha 270 Mandrubatius, Kg. der Trinovanten 61 Manetti, Giannozzo 84 Mantegna, Andrea 166 Marco Polo 161 Margarete von Mâle 151 Margarete von York 150, 168 Maria Stuart, Kgin. v. Schottland 270 Marius, Gaius 53, 57, 68

Register Mars 166, 188, 199, 200, 201, 202, 207, 211 Marsuppini, Carlo 86 Matthias Corvinus, Kg. v. Ungarn 149 Matthieu, Pierre 268 La Guisiade 268 Maximilian I., röm.-dt. Kaiser 167 Medea 44 Medici, Cosimo de’ 158 Medici, Francesco de’ 212 Mehmet II., osman. Sultan 138, 147 Meister von 1515 189 Melanchthon, Philipp 120, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 135, 136, 137, 138 Chronicon Carionis 121, 123, 124, 125, 127, 128, 130 Commentarius in Genesin 124 Menelaus 36 Merkur 199, 210 Minerva 212 Missaglia, Francesco 165 Mithridates 68 Modena, Nicoletto da 201, 202, 209 Molinet, Jean 146 Montano, Cola 84 Montchrestien, Anthoine de L’Escossoise ou le Désastre 270 Morbisanus der Große 119 Murad IV., osman. Sultan 270 Nägelis, Johann Siehe Carion Neander, Michael 127, 128, 129, 130, 136, 137, 138 Nektanabus 12, 13 Neptun 201, 211 Nérée, Richard Jean de 267 Le Triomphe de la Ligue 267 Nero, röm. Kaiser 247 Nicolaus Cusanus 225, 226, 227, 236 De Beryllo 226 Idiota de mente 225 Niketas Choniates 119, 138 Noah 125, 136 Nonnos 181 Odo von Bayeux 65, 66 Odysseus 117, 153, 157 Oertel, Veit 132 Olympias 12, 14 Opsopoaeus, Johann 134

285 Ordericus Vitalis 54, 65, 69, 70 Orion 128 Orosius 60 Orpheus 127, 128, 135 Osiander, Andreas 130 Osman II., osman. Sultan 270 Otto von Freising 59 Ovid (Publius Ovidius Naso) 39, 128, 181, 206 Ars Amatoria 154 Metamorphosen 182, 200, 207 Pallas Siehe Athene Pan 181, 183 Pandora 199 Panofsky, Erwin 191 Paris 30, 36, 44, 151, 156, 251 Patroklos 153 Paulus Diaconus 60 Pausanias 206 Peleus 31 Penni, Giovanfrancesco 207 Penthesilea 147, 155, 156, 157, 165 Perseus 234 Peruzzi, Baldassare 204, 205, 207, 211 Petrarca, Francesco 82, 84, 85, 86, 87 Peucer, Caspar 122, 126, 136 Philibert von Savoyen 149 Philipp II. der Kühne, Hz. v. Burgund 151, 155 Philipp II., Kg. v. Makedonien 14 Philipp III. der Gute, Hz. v. Burgund 150, 165, 168 Philostrat Eikones 208 Piccolomini, Enea Silvio Siehe Pius II. Picus, myth. Kg. v. Laurentum 181 Pisanello 164 Pitys 181 Pius II. (Enea Silvio Piccolomini), Papst 82, 119 Platina, Bartolomeo 76 Platon 226 Plinius d. Ä. (Gaius P. Secundus) 154, 158, 235 Historia naturalis 162, 184 Plutarch 55 Polke, Sigmar 237 Pollux 36 Polybius 75

286 Polyxena 147, 155, 156, 157 Pomona 181, 182 Pompeius Magnus, Gnaeus 53, 57, 59, 68 Porcelio (Giannantonio de Pandoni) 86 Porta, Guglielmo della 201 Priamus 37, 147, 151, 152, 156, 157, 162, 163 Primaticcio, Francesco 208, 229 Proteus 31 Puget de la Serre, Jean Thomas Morus 270 Pyrrhus 57, 62, 156, 157 Quintilian, Marcus Fabius 206 Racine, Jean de Bajazet 264, 266, 270, 271 Raffael 197, 203, 207, 208, 209 Raimondi, Marcantonio 186, 202 Regnault, Charles Marie Stuard, Reyne d’Ecosse 270 René II., Hz. v. Lothringen 155 Rhea Silvia 188 Rhodomann, Lorenz 134 Robert I., Hz. d. Normandie 66 Romano, Giulio 200, 209 Rossi, Bernardo de’ 185 Rousseel, Nicasius 231 Roxane 197, 207 Rudolf von Ems 13, 18, 21, 22 Alexanderroman 16, 19, 22 Rusconi, Antonio 201 Sabellico, Marcantonio De latinae linguae reparatione 88 Sallust (Gaius Sallustius Crispus) 55, 69, 70, 79, 80 Salomon 133 Salutati, Coluccio 82 Sam 136 Sambethe 136 Samson 124 Sannazaro, Jacopo Arcadia 192 Savonarola, Girolamo 209 Schedel, Hartmann Liber Chronicarum 127, 133 Scipio (P. Cornelius Scipio Africanus) 57 Selene 188 Seneca (Lucius Annaeus S. d. J.) 265 Sforza, Galeazzo, Hz. v. Mailand 84

Register Sforza, Lodovico, il Moro, Hz. v. Mailand 149 Sibylle(n) 120, 128, 132, 133, 134, 135, 136, 137 Sigismund, röm.-dt. Kaiser 158 Sleidan, Johann 118, 122, 123 Sodoma 201 Sodoma Giovanni Antonio Bazzi 200 Sokrates 209 Phaidros 209 Solon 129, 138 Spengler, Lazarus 92 Statius, Publius Papinius 55, 58, 70 Achilleis 37 Thebais 55 Strabo 158 Straßburger Alexander 12, 13, 14, 22 Strozzi, Palla 86 Sueton (Gaius Suetonius Tranquillus) 55, 59, 105, 106, 111 Süleyman I., osman. Sultan 270 Syrinx 181 Tacitus, Publius Cornelius Agricola 55 Terra 181 Tetzel, Johann 118 Thelamon 36 Theseus 56, 68, 187 Thetis 31, 200, 202, 204, 205, 207, 211, 212, 213 Thukydides 79, 129, 130 Titus, röm. Kaiser 59 Tizian 190, 191, 192, 208 Toutin, Jean 232 Tragédie du sac de Cabrières 267 Trajan, röm. Kaiser 158 Trissino, Gian Giorgio Sofonisba 265 Tristan L’Hermite Osman 270, 272 Troilus 36, 156 Turnus 57, 58 Tydeus 57 Ulrich von Etzenbach 13, 16 Alexander 17 Valeriano, Pierio De infelicitate litteratorum 88 Valla, Lorenzo 75, 82, 86

Register Varus, Publius Quinctilius 101, 102, 104, 110, 111 Vasari, Giorgio 198, 200, 201, 206, 208, 212, 213 Vegetius (Publius Flavius V. Renatus) 55 Vegio, Maffeo 83 Velleius Paterculus 101 Veneziano, Agostino 209 Venus 151, 199, 200, 201, 202, 203, 205, 207, 209, 211, 212 Vergerio, Pier Paolo De ingenuis moribus 84 Vergil (Publius Vergilius Maro) 55, 57, 58, 63, 67, 69, 70, 139, 158, 206, 207, 209 Aeneis 63, 64, 83, 202 Eklogen 202 Vergilius Vaticanus 203 Vertumnus 181, 182 Vinci, Leonardo da 166 Vitruv (Gaius Vitruvius Pollio) 228

287 De architectura 227, 228 Volcanus 198 Vorauer Alexander 12, 13, 19, 22 Voß, Johann Heinrich 117 Vulcop, Henry 150 Walter von Châtillon Alexandreis 12, 13, 16, 17 Warburg, Aby 159 Weigel, Christoph d. Ä. 236 Wenzel IV., Kg. v. Böhmen 145 Wimpfeling, Jakob Epitome Rerum Germanicarum 94 Winter, Antonis de 234 Wolf, Hieronymus 119, 138 Xerxes I., pers. Großkg. 53, 57, 59, 60, 68 Zeno, Carlo 83 Zuccari, Federico 226, 227, 235 Idea de’ pittori, scultori, et architetti 226 Zuccari, Taddeo 227

Abbildungen

Abbildungen Franke

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Abb. 1: Paul Limburg und seine Brüder: Miniatur zum Monat Januar, Très Riches Heures, Stundenbuch des Herzogs Jean de Berry, ca. 1413-1416, Chantilly, Musée Condé, Ms. 65, fol. 2r

Abb. 2: Die Entsendung des Paris, der Raub Helenas und ihre Ankunft vor Troja, zweiter Teppich eines Troja-Zyklus, flämisch, ca. 1470-1495, Zamora, Museo Catedralicio

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Abbildungen Franke

Abbildungen Franke

Abb. 3: Parisurteil, petit patron (Entwurfszeichnung) des ersten Troja-Teppichs, Detail, Paris, Musée du Louvre, Cabinet des Dessins, R.F. 2140

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Abbildungen Franke

Abb. 4: Plünderung des Venus-Tempels und Entführung Helenas durch Paris auf der Insel Kythera, zweiter Troja-Teppich, Ausschnitt, Zamora, Museo Catedralicio

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Abbildungen Franke

Abb. 5: Trojanischer Krieger in einer Rüstung all’antiqua, zweiter TrojaTeppich, Detail

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Abb. 6: Die vierte Schlacht vor den Toren Trojas, petit patron des fünften Teppichs, Paris, Musée du Louvre, Cabinet des Dessins, R.F. 2142

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Abbildungen Franke

Abb. 7: Hektors Totenfeier, siebter Troja-Teppich, Fragment, Glasgow, The Burrell Collection

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Abb. 8: Achill, der Troilus geköpft hat, schleift dessen Leichnam über das Schlachtfeld, achter TrojaTeppich, Ausschnitt, Zamora, Museo Catedralicio

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Abbildungen Franke

Abb. 9: Ermordung Achills durch Paris im Tempel des Apoll, achter TrojaTeppich, zentrale Episode, Zamora, Museo Catedralicio

Abb. 10: Die kriegerischen Heldentaten Penthesileas und ihrer Amazonen sowie die Rüstung des Pyrrhus für den Kampf, petit patron des neunten Troja-Teppichs, Detail, Paris, Musée du Louvre, Cabinet des Dessins, R.F. 2145

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Abb. 11: Zentralasiatischer Seidenstoff mit arabischen Schriftzügen von einem liturgischen Gewand in Danzig, 14. Jahrhundert, Lübeck, St.-Annen-Museum

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Abbildungen Franke Abb. 12: Die Zerstörung Trojas, elfter Troja-Teppich, Zamora, Museo Catedralicio

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! Abb. 13a und b: Ermordung des Priamus durch Pyrrhus im Tempel des Apoll und Tötung Polyxenias durch Pyrrhus auf dem Grab seines Vaters Achill, elfter TrojaTeppich, Details

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Abbildungen Franke

Abb. 14: Jean Colombe: Wiederaufbau Trojas nach dessen erster Zerstörung, Miniatur einer verlorenen Hystoire de Troie, nach 1490, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett

Abbildungen Franke

Abb. 15: Rüstung Hektors für die zehnte Schlacht, petit patron des sechsten Troja-Teppichs, Fragment, Paris, Musée du Louvre, Cabinet des Dessins, R.F. 2143

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Abb. 16: Antike Münze mit behelmter Roma, Römische Republik, 3. bis 2. Jahrhundert v. Chr.

Abbildungen Franke

Abb. 17: Süddeutsch (Augsburg? Kolman Helmschmidt?), Maskenhelm aus dunkel gebläutem Stahl mit vergoldetem Schmuckteilen, Besitz des Hauses Burgund-Habsburg-Spanien, ca. 1515-1525, Madrid, Real Amería

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Abbildungen Heinze

Abb. 1: Dosso Dossi: Mythologische Szene, Los Angeles, J. Paul Getty Museum

Abbildungen Heinze

Abb. 2: Venezianisch: Allegorie, Washington, National Gallery of Art

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Abb. 3: Lorenzo Lotto: Allegorie von Tugend und Laster, Washington, National Gallery of Art

Abbildungen Heinze

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Abb. 4: Holzschnitt aus: Francesco Colonna, Hypnerotomachia Poliphili, Venedig 1499

Abb. 5: Marco Dente oder Marcantonio Raimondi (?): Ein Satyr enthüllt eine schlafende Nymphe, New York, Metropolitan Museum

Abbildungen Heinze

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Abb. 6: Fragment eines Sarkophagreliefs, Wien, Kunsthistorisches Museum

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Abb. 7: Schlafende Ariadne, Rom, Musei Vaticani

Abbildungen Heinze

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Abb. 8: Dionysos-Sarkophag, römisch, Baltimore, Walters Art Museum

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Abb. 9: Meister von 1515: Satyr, schlafende Nymphe und Putto, New York, Metropolitan Museum

Abbildungen Heinze

Abb. 10: Correggio: Venus, Satyr und Cupido, Paris, Musée du Louvre

Abb. 11: Tizian: Pardo-Venus, Paris, Musée du Louvre

Abbildungen Heinze

Abbildungen Bartsch

Abb. 1: Jacopo Caraglio: Die Hochzeit von Alexander und Roxane, um 1520–1539, Kupferstich

Abb. 2: Giovanni Antonio Bazzi, gen. Sodoma: Vulkan in der Schmiede, ca. 1509, Fresko, Vatikanpalast, Stanza della Segnatura, Deckengewölbe

Abbildungen Bartsch

Abb. 3: Battista Agnolo Moro: Vulkan schmiedet einen Pfeil für Amor, zwischen 1515 und 1573, Radierung

Abb. 4: Nicoletto da Modena: Vulkan schmiedet die Waffen des Achill, ca. 1507, Kupferstich

Abbildungen Bartsch

Abb. 5: Orazio Sammacchini: Vulkan und zwei Eroten in der Schmiede, ca. 1560, Fresko, auf Leinwand übertragen, Rom, Privatsammlung

Abb. 6: Nicoletto da Modena: Vulkan schmiedet einen Flügel für Amor, ca. 1500– 1510, Kupferstich

Abbildungen Bartsch

Abb. 7: Marco Dente da Ravenna: Vulkan, Venus und drei Eroten in der Schmiede, ca. 1515–1527, Kupferstich

Abb. 8: Francesco Xanto Avelli: Vulkan, Venus und drei Eroten in der Schmiede, 1539, Majolika, London, The British Museum

Abbildungen Bartsch

Abb. 9: Römisch: Die Neubewaffnung des Achill, ca. 160–170 n.Chr., Sarkophagdeckelfragment, Marmor, Rom, Musei Capitolini, Stanza del Fauno

Abb. 10: Baldassare Peruzzi: Vulkan, Kyklopen und Amor in der Schmiede, 1519, Fresko, Rom, Villa Farnesina, Sala delle Prospettive

Abbildungen Bartsch

Abb. 11: Maarten van Heemskerck: Vulkan und Kyklopen in der Schmiede, 1532–1536/1537, Federzeichnung, Kopenhagen, Statens Museum for Kunst

Abb. 12: Anonymus Escurialensis: Kindersarkophag mit schmiedenden und Waffen tragenden Eroten, 1506–1508, Federzeichnung, Real Monasterio El Escorial, Codex Escurialensis (Detail)

Abbildungen Bartsch

Abb. 13: Maarten van Heemskerck: Vulkan, Venus, Amor und Kyklopen in der Schmiede, 1532–1536/1537, Öl auf Leinwand, Prag, Národní Galerie

Abb. 14: Maarten van Heemskerck: Thetis empfängt von Vulkan den Schild für Achill, um 1540, Öl auf Holz, Wien, Kunsthistorisches Museum

Abbildungen Bartsch

Abb. 15: Maarten van Heemskerck: Vulkan zeigt den Göttern die in seinem Netz gefangenen Venus und Mars, um 1540, Öl auf Holz, Wien, Kunsthistorisches Museum

Abbildungen Bartsch

Abb. 16: Giorgio Vasari: Minerva in der Schmiede des Vulkan, 1565–1567, Öl auf Kupfer, Florenz, Galleria degli Uffizi

Abbildungen Körner

Abb. 1: Taddeo Zuccari: Caprarola, Palazzo Farnese, Groteskendekoration in der Sala di Lanifici, 1560–1569

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Abbildungen Körner

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Abb. 2: Boscotrease, Villa des Agrippa Postumus, Wandmalerei, um 10 v. Chr., 3. Stil, New York, Metropolitan Museum

Abbildungen Körner

Abb. 3: Rom, Villa Farnesina, Cubiculum B, Rückwand des Alkovens (Detail), letztes Viertel 1. Jh. v. Chr., Rom, Museo Nazionale Romano

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Abbildungen Körner

Abb. 4: Rom, Domus Aurea Neronis, Raum 78, um 64–68

Abb. 5: Rom, Domus Aurea, 64 ff., Volta delle civette (Detail), kolorierter Stich von Ludovico Mirri, nach 1774, Paris, Musée du Louvre

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Abbildungen Körner

Abb. 6: Fontainebleau, Schloss, Galerie Franz I., Travée I an der Nordwand, (Detail), 1534 f.

Abbildungen Körner

Abb. 7: Fontainebleau, Schloss, Chambre de la Duchesse d’Etampes (Detail), 1541 ff.

Abb. 8: Wendel Dietterlin d. J.: Bouquet d’orfèvrerie en forme de cartouche, 1614, Titelblatt

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Abbildungen Körner

Abb. 9: Nicasius Rousseel: Ornamentgroteske, 1623

Abb. 10: B. Le Mersier: Ornamentgroteske, 1626

Abbildungen Körner

Abb. 11: Jean Toutin: Vorlagenstich für das Stichblatt eines Schwertes, Stich, 1619

Abb. 12: Heinrich van den Bruckh (Stecher: Vitus Reichart): Ornamentstich, 1626, Blatt 6

Abbildungen Körner

Abb. 13: Jacques Callot: Tanzende Hanswurste, aus: Capricci di varie figure, zuerst 1617

Abb. 14: Har..., Ph. Ia., (Stecher: Jacques Custos (Custodis): Ornamentgroteske, 1628, Blatt 6

Abbildungen Körner

Abb. 15: Har..., Ph. Ia., (Stecher: Jacques Custos (Custodis): Ornamentgroteske, 1628, Blatt 2

Abb. 16: Har..., Ph. Ia., (Stecher: Jacques Custos (Custodis): Ornamentgroteske, 1628, Blatt 4

Abbildungen Körner

Abb. 17: Wolfgang Hieronymus Bömmel: Neu ersonnene Gold-Schmieds Grillen Anderer Theil (Reiter m. schießendem Fußvolk), o. J. erstm. vor 1695

Abb. 18: Wolfgang Hieronymus Bömmel: Neu ersonnene Gold-Schmieds Grillen Anderer Theil, (Löwe). o. J. erstm. um 1695

Abbildungen Körner

Abb. 19: Wolfgang Hieronymus Bömmel: Neu ersonnene Gold-Schmieds Grillen, Blatt 2 (von Hund verfolgter Ziegenbock), um 1700

Abb. 20: Wolfgang Hieronymus Bömmel: Neu ersonnene Gold-Schmieds Grillen (Detail) (Schäfer mit Rindern), um 1700

Abbildungen Körner

Abb. 21: Hrabanus Maurus: De laudibus sanctis crucis, fol. 3v (Kaiser Ludwig der Fromme), zweite Hälfte 11. Jh., Wien, Österreichische Nationalbibliothek

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Abb. 22: Aratos, Himmelserscheinungen, Cod. Harl., 647, fol. 4r, um 830, London, British Library

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Abbildungen Körner

Abb. 23: Anonym: Kalligraphie, Amsterdam, Rijksmuseum

Abb. 24: Wolfgang Hieronymus Bömmel: Neu ersonnene Gold-Schmieds Grillen Anderer Theil (Titelblatt), o. J. erstm. vor 1695

Abbildungen Körner

Abb. 25: Har..., Ph. Ia., (Stecher: Jacques Custos (Custodis): Titelblatt, 1628

Abb. 26: Wolfgang Hieronymus Bömmel: Neu ersonnene Gold-Schmieds Grillen Anderer Theil (Goldschmiedewerkzeug), o. J. erstm. vor 1695

Abbildungen Körner

! Abb. 27: Sigmar Polke: Gärtner, 1992, Düsseldorf, Privatsammlung